123 2 6MB
German Pages [398] Year 2016
Alexander Kluge-Jahrbuch
Band 3 j 2016
Herausgegeben von Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann
Advisory Board: Leslie Adelson, Gr8gory Cormann, Astrid Deuber-Mankowsky, Devin Fore, Tara Forrest, Jeremy Hamers, Karin Harrasser, Stefanie Harris, Michael Jennings, Gertrud Koch, C8line Letawe, Helmut Lethen, Susanne Marten, Christopher Pavsek, Mark Potocnik, Eric Rentschler, Winfried Siebers, Ruth Sonderegger, Ulrike Sprenger, Georg Stanitzek, Joseph Vogl
Christian Schulte / Winfried Siebers / Valentin Mertes / Stefanie Schmitt (Hg.)
Formenwelt des Dialogs
Mit 45 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-7782 ISBN 978-3-7370-0636-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Grandville, »Le pont de plantes«, in: Grandville, Un autre monde, Paris 1844, S. 139. Digitale Edition der UniversitÐtsbibliothek Heidelberg. [http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ grandville1844/0165].
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Jens Birkmeyer Nahe Fernwirkungen des Vergangenen. Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde . . . . . . . . . . .
13
Ten to Eleven vom 18. Juli 2016 (Kluge / Sprenger) Schiffbruch mit Zuschauer. Ulrike Sprenger über die Costa Concordia und ein Buch des Philosophen Hans Blumenberg . . . . . . . . . . . . .
33
Rolf G. Renner Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Alexander Kluge Wettersturz im Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Herbert Achternbusch Zu Alexander Kluges Die Patriotin
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Alexander Kluge Expos8 eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz. Arbeitstitel: Der Sohn des Blitzmädels, Spielfilm: 90 Minuten . . . . . . . . . . . . . .
69
Thomas Combrink Zeitfäden durch die Geschichte. Über Edgar Reitz und Alexander Kluge .
79
News & Stories vom 4. September 2011 (Kluge / Reitz) Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an! Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat . . . . . . . .
91
6
Inhalt
Andreas Becker Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 10 vor 11 vom 4. Juli 2016 (Kluge / Didi-Huberman) Nachleben des Politischen. »Die Zukunft wird in Idomeni gemacht, nicht in Silicon Valley!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Alexander Kluge »Zärtlichste Mole des Monds am nächtlichen Himmel« . . . . . . . . . . 123
DIE GESPRÄCHSKUNST ALEXANDER KLUGES Barbara Potthast Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Rainer Stollmann Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . 131 Alexander Kluge Die schöne Krähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 News & Stories vom 30. September 2015 (Kluge / Jennings) »Neugierig wie ein Biber«. Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Valentin Mertes Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
. . . . . . . . . . . . . . . 161
Alexander Kluge et al. Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht. Ein Film von Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Dirk Baecker Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss . . . . . . . . . 199 News & Stories vom 5. Oktober 2014 (Kluge / Stiegler) Der Philosoph als fliegender Fisch. Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert? Bernard Stiegler, führender Philosoph in London und Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
7
Inhalt
Matthias Uecker Sprechen und/oder Schreiben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Florian Wobser Kluges Kulturmagazine mit Gästen. TV-Gespräche im Off zwischen Dialog und Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger) »Romantiker ist, wer die Welt persönlich nimmt«. Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad . . . . . . . . . . 253 Barbara Potthast Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau
. . . . . . . . . . . . . . . . 263
Alexander Kluge Warzenkäfer, genannt »Doktor« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Dorothea Walzer Ästhetische Verfahren, eingemacht
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Julia Haugeneder Alexander Kluge und die Poesie des Wunsches: Ich wünsche mir den Optativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Alexander Kluge / Vincent Pauval »Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka. Ein Gespräch mit Alexander Kluge am 3. Dezember 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Lisa Kammann (Un-)sichtbare Hieroglyphen. Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Nils Plath ›Bemerkenswertes Ereignis‹ und ›geschichtliche Gegenwartslektüren‹: Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11 . . 321 Alexander Kluge »Armer Hirnhund, schwer von Gott behangen«. 5 Geschichten . . . . . . 347
8
Inhalt
REZENSIONEN Jean-Pierre Dubost Eine neue Ära für die Rezeption Kluges in Frankreich: Chronique des sentiments – Livre I – Histoires de base, Paris: P.O.L., 2016. . . . . . . . . 355 Valentin Mertes Kathrin Lämmle, Televisuelle Intellektualität. Möglichkeitsräume in Alexander Kluges Fernsehmagazinen, Konstanz: UVK, 2013. . . . . . . . 361
BIBLIOGRAPHIE Bibliographie zu Alexander Kluge 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
VIDEOGRAPHIE Verzeichnis der Kulturmagazine 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Siglen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
Vorwort
»Es gibt nichts in der Geschichte des Kinos, das sich Menschen nicht auch, ohne Filme gesehen zu haben, vorstellen könnten. Aber dadurch, daß solche Erfahrungen in Form öffentlicher Bilder an einem bestimmten Ort (›Lichtspielhaus‹) zu sehen sind, während ich bemerke, daß noch andere als ich Zuschauer sind, erhalten die Erfahrungen ein anderes Selbstbewußtsein, eine zusätzliche Sprache, zusätzlich zu der täglich entmutigten meines bloßen Inneren. […] Nichts davon ähnelt mehr dem Prinzip des Dialogs, der Entstehung des Gedankens, als diese Wechselbilder, dieser ›innere Film‹: ich spüre etwas, mache mir eine Perspektive, indem ich es vom Standpunkt eines anderen Menschen ansehe, und ich könnte es jetzt (obwohl nur meine Nerven genau sagen können, was ich fühle) sogar Dritten mitteilen.«
Als Alexander Kluge 1995 seine Fernsehgespräche mit dem russischen Diplomaten Valentin Falin in Buchform veröffentlichte, gab er dieser Publikation den Titel »Interview mit dem Jahrhundert«. Mit dieser Bezeichnung entwendete er nicht nur einer geläufigen journalistischen Praxis der Befragung den Gattungsnamen, er adressierte mit seinem »Interview« zugleich den größeren Zusammenhang, für den der Name Falins einstand: die Zeugenschaft mit der Zeitgeschichte, an der Falin in einer Zeit des Umbruchs, der zunächst das Ende des kalten Krieges markieren sollte, maßgeblich beteiligt war. Kluge interessiert sich in seinen TV-Gesprächen denn auch weniger für Daten und Fakten, die man in jedem Geschichtsbuch finden würde, sondern vielmehr für den Erfahrungshorizont seines jeweiligen Gegenübers, für die spezifische Beziehung seiner GesprächspartnerInnen zu ihrem Thema. Deren Expertise ist eher Anlass für eine Orientierung im Ungefähren, der Vektor eines unvorhersehbaren Prozesses. Der informationelle Mehrwert entsteht dabei eher intrinsisch, wie nebenbei. Immer geht es um das Maß an leidenschaftlicher Involvierung in ein Wissensgebiet oder einen Erfahrungskomplex, um die libidinösen Wurzeln und Motive, die einer hochspezialisierten Tätigkeit zugrunde liegen, und um die im Privaten wurzelnden Affektökonomien, die sich in individuellen Tönungen des Sprechens ausdrücken. »Ich glaube, dass nicht die Inhalte, die ja in meinen Sendungen eher kompliziert sind, sondern die Echtheit der Sprache
10
Vorwort
von den Zuschauern nachgeprüft wird. Dass das wirkliche Menschen sind, die da berichten. Das ist es, was in Erinnerung bleibt.« Diese Erfahrungskerne in der medialen Öffentlichkeit freizulegen und den Prozess dieser Freilegung zu dokumentieren – darauf zielen die intimen Tonlagen und rhapsodischen, abrupt die Perspektive wechselnden Sprechweisen Kluges, die darin eben nicht mehr der Praxis des geschulten Interviewers entsprechen, sondern eher der des neugierigen Stichwortgebers und aufmerksamen Zuhörers, der jederzeit auf die Rolle des Respondenten umschalten kann. Kluges Gesprächsführung ist Teil einer Mäeutik, die auf spielerische Weise Antworten evoziert, die auch für den jeweiligen Sprecher überraschend sein können. In dem Maße, in dem es gelingt, das eigene Ego zu depotenzieren, vollzieht sich dieses Sprechen als eine »Kommunikation unterhalb der Ich-Schranke«, als ein graduell selbstvergessenes, nicht-identitäres Sprechen, durch das hindurch sich weniger die Einheit einer Person zu erkennen gibt, als vielmehr deren lebensbestimmende, handlungsleitende Prägungen und Aktionspotentiale. Diese Potentiale kommen besonders in jenen Gesprächen zum Tragen, in denen Peter Berling oder Helge Schneider fiktive Rollen annehmen und ebenso fiktive Expertisen performen, etwa als Charakterdarsteller oder Zeitdiagnostiker. In diesen – der surrealistischen ecriture automatique verwandten – Fake-Dialogen, die der Maxime »Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns« folgen, werden die Vorstellungskraft des Gegenübers und dessen spontane Reaktionsfähigkeit herausgefordert und als dialogisches Ereignis öffentlich ausgestellt. Diese Exposition von Ausdrucksvermögen korrespondiert eng mit Kluges Konzept von Autorschaft – einer dezentrierten, verminderten Autorschaft, die nicht mehr von der Illusion, einen Stoff kontrollieren zu können, angetrieben wird. In Bezug auf seine filmische Tätigkeit sagte Kluge einmal: Ich halte das Formprinzip, das Formen durch einen Autor, eigentlich für einen Fehler. Ich bin der Meinung, dass die wirkliche Qualität eines Autors in der Aufmerksamkeit liegt, durch die er aus der Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene ein Bild herauswählt, das dann wie ein Kristallgitter funktioniert. […] Film ist nicht eine Sache der Autoren, sondern ein Dialog zwischen den Zuschauern und dem Autor. […] Und der Film realisiert sich für mich im Kopf des Zuschauers, nicht auf der Leinwand. Er darf auf der Leinwand zum Beispiel porös, schwach, brüchig sein; dann wird der Zuschauer aktiv, dann kann seine Phantasie eindringen.
Kluges Autorentätigkeit reklamiert keinen Überlegenheitsstandpunkt; geprägt von der Subjektkritik der Frankfurter Schule navigiert sie eher auf einer potentiellen Augenhöhe mit ihren Adressaten. Ihre Formeln lauten: »Ich schreibe, weil ich davon absehen kann, dass ich es bin, der schreibt.« / »Die Geschichten kommen aus der Spitze des Bleistifts.« / Der Autor ist nur »Bote der Nachricht.« Das heißt, Autorschaft wird bei Kluge nicht als Emanation innerer Prozesse
Vorwort
11
stilisiert, sondern vielmehr als Resonanz gedacht, als Echo der eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen, die sich lediglich in Ausdruck transformieren. Dieser Ausdruck ist nichts Erstes, keine creatio ex nihilo, sondern immer schon Reaktualisierung geschichtlicher Mitteilungsketten und Response innerhalb dialogischer Beziehungen, in die zukünftige Autorschaften, d. h. eigensinnige Rekonfigurationen durch Zuschauer und Leser von Beginn an gefügeartig einbezogen sind. Kluges auf Teilhabe angelegtes Konzept von Autorschaft changiert zwischen Individuation und Dividuation und manifestiert sich in flexiblen dialogischen Anordnungen. Alle Segmente des Werks befinden sich in einem virtuellen Gespräch miteinander. Dies gilt für kleinste sequenzielle Zusammenhänge, für Motive und Sujets, die über die Mediengrenzen hinweg weiterverfolgt und neu perspektiviert werden, ebenso wie für größere thematische Komplexe und Narrative (Krieg, Liebe etc.), wie schließlich für die medial gebundenen Ausdrucks- und Darstellungsformen von Buch, Film, Fernsehen und Internet, die sich in einem variablen Verhältnis hybrider Konnektivität bewegen. Statt sich medien- oder gattungslogisch gegeneinander abzugrenzen, bildet jedes Segment ein Potential, ein Intermedium, das anschlussfähig bleibt für die unwahrscheinlichsten Verknüpfungen. Montage als »Formenwelt des Zusammenhangs« ist nur ein anderer Name für die »Formenwelt des Dialogs« – die relationale Vielgestaltigkeit eines stetig sich neu verzweigenden Œuvres ohne Ursprung und Finalität, das – selbst ein Dazwischen – nichts weniger konfiguriert als das heterotopische Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit. Das »Prinzip des Dialogs« steht denn auch im Zentrum des dritten Alexander Kluge-Jahrbuchs. Anlass für diese Schwerpunktsetzung war die Tagung »Die Gesprächskunst Alexander Kluges«, die – unter der Leitung von Barbara Potthast – am 16. und 17. Januar an der Universität Stuttgart stattfand und deren Beiträge vollständig in diesem Band abgedruckt sind. Andere Texte beziehen sich auf Kluges letzten großen Erzählband Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs sowie auf den im Frühjahr 2016 erschienenen ersten Band der französischen, von Vincent Pauval verantworteten Gesamtausgabe des literarischen Werks, die unter dem Titel Chronique des sentiments auf fünf Bände angelegt ist. Die Herausgeber sind folgenden Personen zu großem Dank verpflichtet: Alexander Kluge für die Freigabe neuer Texte und Fernsehgespräche, die von Gudrun Baltissen transkribiert wurden; den AutorInnen für ihre Beiträge, Beata Wiggen für das Verzeichnis der Kulturmagazine 2015 und schließlich Thomas Combrink und Vincent Pauval für Hilfen verschiedenster Art. Christian Schulte Winfried Siebers, Valentin Mertes, Stefanie Schmitt
12
Alexander Kluge und Oskar Negt während der Arbeit an Geschichte und Eigensinn
Vorwort
Jens Birkmeyer
Nahe Fernwirkungen des Vergangenen. Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde »Was wir einen ›Lebenslauf‹ oder ›Wirklichkeit‹ nennen, sind Kokons der Wahrnehmung, die uns schützen. Ob sie etwas Reales sind, dürfen wir bezweifeln.« (Alexander Kluge)
Über autobiographische Erzählungen Alexander Kluges zu sprechen bedeutet weder, einer vermeintlichen stofflichen Lebenschronologie zu folgen noch zu unterstellen, diese punktuellen Episoden enthielten so etwas wie eine ego-halluzinatorische Gewissheit des Selbst. Im folgenden werden hingegen Thesen über ein implizites Autobiographienarrativ entwickelt, das nie ungebrochen erinnerte Lebensereignisse zu einer teleologischen und linearen Gesamtschau des eigenen Lebenslaufs verknüpft und verdichtet. Vielmehr werden durch dieses Narrativ (1.) Quellen des vielfachen Selbst, der nahen Fernwirkungen des Vergangenen und der kooperativen Selbstregulierung freigelegt, während (2.) Emotionen und Eigenschaften die unsichtbaren Helden der Lebensläufe sind, die in allen Menschen wirksam, im Einzelnen jedoch nicht immer sichtbar sind, und die hierin sichtbare Subjektperspektive fußt (3.) auf einer physiognomischen Lesart der Morphologie von Erfahrungsweisen und Aggregatzuständen der Gefühle. Ein knapper Hinweis auf Walter Benjamins literarische Erinnerungspraxis sei den Überlegungen zu Alexander Kluge vorangestellt, um aus der Differenz beider Konzepte einen ersten Rückschluss auf die Eigenheit des hier zu behandelnden Autobiographischen zu ziehen. Im Vorwort zur Berliner Kindheit um 1900 erläutert Benjamin präzise sein Verständnis des autobiographischen Gehalts dieser Erzählungen als eine vor allem antisentimentale Schutzimpfung, die es mit sich bringt, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten. […] Dagegen habe ich mich bemüht, der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem
14
Jens Birkmeyer
Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt. Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist.1
Offenkundig wird auf diese Weise eine chronologisch biographische Seite von einer erfahrungshaltigen autobiographischen unterschieden, denn während die biographische Perspektive temporär angelegt ist, handelt die genuin autobiographische hier von einem autonomen Bildmaterial der Kindheitsvergangenheit, das es zu rehabilitieren, reanimieren und in bewahrender Absicht zu retten gilt. Der Weg zu dieser Rettung verläuft durch eine erweiternde Gegenwartsimagination hindurch, deren genuine Leistung vor allem darin besteht, den verborgenen Innenraum des vergangenen Selbst erneut aufsuchen und betreten zu können.2
Eigenlogik der Lebensläufe Bei Kluge findet sich ebenfalls eine analoge Abspaltung, die es erlaubt, die begrenzte autobiographische Sphäre in einem antiillusionistischen und nichttrivialen Sinne zu konzipieren. Anders jedoch als bei Benjamins anästhetischem Motiv der Selbstimmunisierung gegenüber bedrohlichen Sehnsuchtsschüben im Erinnerungsgelände speisen sich Kluges autobiographische Offerten aus dem Interesse an mobilisierbaren Erfahrungskernen punktueller Episoden. Ihm geht es generell ebenso nicht um ein illusorisches Unterfangen, Erlebnischronologie in narrative Kontinuitäten zu übersetzen, sondern vor allem darum, in einer spartanischen Episodenkasuistik Grundmuster des Selbst freizulegen. »Wir haben eine lange Erinnerungsfähigkeit, das sind wirklich die Gefühle«, heißt es diesbezüglich in einem Interview.3 Aus einer evolutionären Perspektive betrachtet verfügen Menschen über zweierlei humanspezifische Gedächtnisfunktionen: über die autopoetische, die ein sich seiner selbst bewusst werdendes Erinnern ermöglicht, und das ausgelagerte Gedächtnis, das an Personen, Institutionen und Medien übertragen wird. Streng genommen wäre sodann literaturgestütztes Erinnern als ein Produktionsprozess zu beschreiben, dessen Rohstoff Erfahrung in geschichtlichen Zusammenhängen ist, wobei die Produktion dann emanzipatorischen Zielen folgt, wenn eine Umproduktion von 1 Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1987, S. 9. 2 Vgl. Jens Birkmeyer, »Augen-Blicke und Einbildungen. Kritik der Achtsamkeit in Walter Benjamins ›Berliner Kindheit um neunzehnhundert‹«, in: Zeitschrift für kritische Theorie 18/34 (2012), S. 104–125. 3 Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 45.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
15
Erfahrung und Erinnerung in Richtung humanes Gemeinwesen erfolgt.4 Hierzu müssen alle Grundsituationen menschlicher Gefühle, alle Tugenden und Untugenden (gewissermaßen in einer virtuellen Gesamtoper) auf ihre Konsequenzen für Emanzipationsprozesse hin betrachtet, untersucht und bewertet werden, zumal Gefühle sich als angereicherte geschichtsmächtige Kräfte in den unterschiedlichen Aggregatzuständen und unterscheidbaren Zusammenhängen auch ganz verschieden auswirken können.5 Auch wenn Kluge keine autobiographische Prosa im konventionellen Sinne verfasst hat, so enthalten doch die sechs großen Erzählsammlungen der letzten 15 Jahre zahlreiche Prosastücke mit autobiographischem Gehalt. Konzeptuell gemeinsam ist den hunderten Erzählungen dieser Bände die narrative Orientierung am Paradigma divergierender Lebensläufe. »Jeder Mensch besitzt Erinnerung und stammt aus einer Vergangenheit; ohne Horizonte, d. h. Zukunft, wäre er nicht lebendig«, heißt es in der Büchner-Preis-Rede von 2003. »Seine Phantasie, die kein Befehl anzuhalten vermag, verbindet ihn mit dem Konjunktiv und dem Optativ, also mit der Möglichkeitsform und der Wunschform.«6 Im jüngsten Erzählband Kongs große Stunde (KgS) finden sich nun auffälligerweise jedoch gleich drei Abschnitte, die sich dezidiert mit autobiographischen Episoden und Betrachtungen befassen: »›Stimme der Liebsten, widerhallt mir im Herzen‹«, »Totenbuch für etwas, das ich liebe sowie ›Ich‹«.7 Auf einige Erzählungen aus diesem Konvolut soll hier näher eingegangen werden, und es soll gleichsam deutlich werden, dass die »Halberstädter Trauerarbeit« nicht mehr alleiniges Zentrum autobiographischer Einsammlungen darstellt.8 Im Abschnitt über »Selbstregulierung« ihres Gemeinschaftswerkes Geschichte und Eigensinn unternehmen Oskar Negt und Alexander Kluge den Versuch, menschliches Erinnern und Vergessen als eine spezifische Art der Selbstregulierung zu formulieren. Regulierung wird hierbei verstanden als eine tätige »Auseinandersetzung der lebendigen Arbeit mit sich selbst«, eine letztlich unbewusste Ordnung, die sich in ein subjektives, autonomes System eingenistet habe.9 »Nicht der bewusste Wille entscheidet über Vergessen und Erinnern, 4 Vgl. Jens Birkmeyer, »Das Gedächtnis der Emotionen. Alexander Kluges ›Chronik der Gefühle‹ als verborgene Erinnerungstheorie«, in: Judith Klinger/Gerhard Wolf (Hg.), Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen, Berlin 2009, S. 257–276. 5 Eine grundlegende Anregung zur Phänomenologie der Gefühle findet sich etwa bei Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. 6 Alexander Kluge, Rede zum Büchner-Preis 2003, zit. n.: www.kluge-alexander.de/zur-person/ reden/2003-buechner-preis.html (Stand: 20. 03. 2016). 7 Alexander Kluge, Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Berlin 2015. 8 Rainer Stollmann, Alexander Kluge zur Einführung, Hamburg 1998, S. 141. 9 Oskar Negt/Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Bd. II. Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 2001, S. 60.
16
Jens Birkmeyer
sondern diese menschlichen Vermögen regulieren sich nach eigenen Gesetzen«.10 Entscheidend dürfte hierbei die Annahme der Autoren sein, die als unbewusste Ordnung gedachte Erinnerungs-Vergessens-Praxis folge weder natürlichen, bewussten noch unbewussten Kräften, sondern kooperativen Absichten. Gerade weil die geschichtlichen Gründe dieser Vorgänge aber, sowohl hinsichtlich des kollektiven wie, unter ganz anderen Bedingungen, des individuellen Erinnerns ins »Unbewusste abgezogen wurden«, stellt sich hieran anschließend die Frage, wie die dialektische Konstellation von Geschichte und Emotionen im Modus des Erinnerns überhaupt beschrieben oder vorgestellt werden könne.11 Da jedoch Wahrnehmungen von Wirklichkeit ebenso wie die Erinnerungen unmittelbar immer auch an die individuellen Wünsche der Menschen gekoppelt sind, lässt sich die subjektive Phantasietätigkeit der Individuen stets auch als Reflex gegen die jeweils herrschende Wirklichkeit verstehen. Für Kluge ist dieser Fluss als ein unkontrollierbarer Bewusstseinsstrom vorzustellen, dessen inhärentes Montageprinzip keinen bewussten Entscheidungen unterliegt, sondern einen komprimierten, historisch langwährenden Prozess repräsentiert: »[…] seit einigen zehntausend Jahren gibt es Film in den menschlichen Köpfen – Assoziationsstrom, Tagtraum, Erfahrung, Sinnlichkeit, Bewußtsein.«12 Aus diesen Abläufen innerer wie äußerer Natur ergeben sich nun emotionale Situationen, die in historischen Kontexten beheimatet sind, ohne mit ihnen jedoch auf einer faktischen Ebene identisch zu sein. Mich interessiert an den Gefühlen, was ist davon völlig gleichbleibend, stur, unbeeinflussbar, was ist da konstant und was ist metamorphosefähig, flexibel. Beide Arten des Gefühls gibt es. Und was ist davon unentdeckt? Mich interessieren sehr die Gefühle, die man nicht sofort als Gefühle erkennt, die also eingebaut sind in den Institutionen, die überhaupt erst in Erscheinung treten im Ernstfall durch Selbstvergessenheit, also im Einsatz, wie man so sagt.13
In diesem Erzählprojekt geht es um »Konstellationen, um Zusammenhänge zwischen den subjektiven Gefühlslandschaften, die als individuelle Glückssuche in jedem Lebenslauf eine andere Gestalt annehmen, und der harten geschichtlichen Faktizität, an der sich die menschlichen Motive abarbeiten müssen, wenn sie nicht vor ihr kapitulieren wollen.«14 Gefühle (Wünsche, Sehnsüchte, Affekte, Eigensinn, Urvertrauen, Selbstbehauptung usw.) sind zwar in individuellen 10 Ebd., S. 60. 11 Ebd. 12 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M., S. 208. 13 Kluge, Verdeckte Ermittlung, S. 43. 14 Christian Schulte, »Die Lust aufs Unwahrscheinliche. Alexander Kluges ›Chronik der Gefühle‹«, in: Merkur 55/624 (2001), S. 344–350, hier S. 345.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
17
Biographien beheimatet und trivialerweise auch an diese gebunden, doch verfügen sie zugleich über eine ungewusste historische Genese, an der Kluge in besonderem Maße interessiert ist. Entscheidend ist hierbei, dass Gefühle ihrerseits auch Ausdruck und Ort der Berührungspunkte von Vergangenem, Vergangenheit und gegenwärtigem Erleben repräsentieren. Gefühle sind gewissermaßen Erinnerungen an jenen Umstand, dass diese Gefühle nicht in den historischen Konstellationen, ihren Vergegenständlichungen und Institutionen aufgehen. Wenn Erinnerungen nun als historisch aufgestaute Räume beschädigter und zugerichteter, doch niemals unabgegoltener und vollständig domestizierbarer Gefühle der Menschen gedacht werden, dann lassen sich die Geschichten Kluges als ihr Narrativ lesen und deuten. Ein wesentliches Merkmal autobiographischer Texte Kluges besteht nun im gegenchronologischen Montagecharakter einzelner Segmente des eigenen Lebenslaufs. Die Mehrdimensionalität unterschiedlicher Diskursarten wird hierbei ebenso unvermittelt kontrastiv herausgestellt wie die unvermittelte Koexistenz der jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereiche in ihrer eigenen Terminologie. Die Montagen führen uns vor Augen, daß sich ein Lebens(ver)lauf in sehr heterogenen, schroff gegeneinander abgegrenzten Teil-Realitäten bewegt. Damit wird nicht nur die Fiktion von einem einheitlichen, harmonisch verlaufenden Leben deutlich, sondern auch die Schwierigkeit der Menschen, in modernen Gesellschaften, in denen die Realitätsbereiche so unvermittelt nebeneinander stehen, so etwas wie eine integrierte personale Identität auszubilden.15
Ein jedes Leben, so ließe sich die vereinfachte Hypothese formulieren, besteht aus mehreren Lebensläufen gleichzeitig, und ein Ich besteht aus vielen diskontinuierlichen und kontingenten Ichs, die in allen Teilen immer auch – antiteleologisch und antientelechisch perspektiviert – hätten anders verlaufen können. Was Walter Benjamin als »Zeitkern der Wahrheit« bezeichnet, spitzt sich bei Kluge auf die Phänomenologie divergierender Zeitmaße paralleler und gleichzeitiger Wirklichkeiten zu, wobei es im Besonderen darum geht, den Zeitkern von Geschehnissen auch auf die verborgenen Möglichkeiten auszudehnen, die jedem Geschehen inhärent sind. Dieses Erzählen ist einem grammatisch ausgerichteten Wirklichkeitsbegriff und einem Realismusverständnis verpflichtet, das den Indikativ, den Optativ und den Konjunktiv gleichermaßen im Blick behält und parallelisiert. Die temporäre Grundstruktur dieses chronistischen Narrativs entfaltet und kombiniert divergierende, doch parallel auftretende 15 Ludgera Vogt, »Der montierte Lebenslauf. Soziologische Reflexionen über den Zusammenhang von Kluges ›Lebensläufen‹ und der Form des Biographischen in der Moderne«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Göttingen 2012, S. 161–178, hier S. 172f.
18
Jens Birkmeyer
Zeitebenen und stoffliche Momente hierarchielos nebeneinander aus, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugleich als Realitätsbestand und Realitätsillusion erzählbar zu machen. Insofern kann durchaus von einem multiperspektivischen Zeitkern der Ereignisse gesprochen werden, die fragmentarisch durch eine erzählerische Mimesis aus dem Steinbruch der noch unerzählten Wirklichkeitsmassen herausgebrochen und montiert werden.16 Diese Parallelwirklichkeiten werden als Erzählungen verstanden, mit denen Kluge so in Kontakt tritt, dass die spontane emotionale Seite des Erzählens sich mit der dokumentarisch-fiktionalen zu einer Heuristik der Möglichkeiten und des Wünschenswerten verbindet. Zur theoretischen Sichtweise auf die räumliche und zeitliche Polyphonie der Lebensläufe führt Kluge in einem Interview aus: Normalerweise sagt man, ein Lebenslauf ist das, was man bei einer Bewerbung vorlegt. Das sind die äußeren Fakten. So schauen Menschen von außen auf die Lebensläufe anderer Menschen. Aber diese Lebensläufe schauen zurück. Und sie schauen mit den Augen all ihrer Erfahrungen und aller Lebenszeiten des jeweiligen Lebensläufers. Ein Lebenslauf hat viele Zimmer, viele Zeiten. Mein Lebenslauf enthält auch das, was die Großeltern erzählt haben. Erfahrung gelangt in Brocken, in Fragmenten an die jungen Menschen. Es gehört auch dazu, was die eigenen Kinder erleben. Vier Generationen hängen zusammen als ein Erzählraum. In dem ersten Buch, das ich 1962 geschrieben habe, ging es um Lebensläufe, die durch das Jahr 1945 zerrissen wurden. Mich hat erstaunt, wie anders Lebensläufe von 2012 sich erzählen. Heute fällt mir auf, dass auch Gegenstände und Landschaften Lebensläufe haben. Das Ruhrgebiet besteht aus acht Generationen. […] Für mich sind die Bilder von damals Gegenwart. Ich stand im letzten Waggon des Zuges und war dort als »Zugschaffner« tätig. In der U-Bahn gibt es, wenn man hinten auf die Schienen hinaussieht, jenen schnellen Wandel von Hell und Dunkel. Diese »bewegten Bilder«: Das war mein erster Film, wenn Sie so wollen. Der Geruch ist mir unvergesslich. Die Dichte, die Berlin für mich hatte, kann man sich heute kaum vorstellen. Für dieses Provinzkind aus Halberstadt war in der Großstadt alles sehr überraschend. Das Berlin von 1936 ist für mich stärker als jeder Gegenwartseindruck. Ich verwechsle das Berlin des Jahres 2012 nicht mit dem Berlin von 1936. Ich bin ein nüchterner Mensch. Aber ich glaube, dass wir – jeder anders – eine ganze Menge von diesen Wirklichkeiten mit uns herumtragen. Verblüffend ist, dass diese Eindrücke sich untereinander vertragen. Das ist kein romantischer Irrationalismus, sondern eine Beobachtung. Diese unterschiedlichen Wirklichkeiten in uns befinden sich in einem Austauschverhältnis. Das trägt uns. Das 21. Jahrhundert ist überkomplex. Eine Masse von Objektivität stürmt auf uns ein, von Problemen und nicht bearbeiteten Konflikten. Deshalb sollte man sich so stark verankern, wie man nur kann. Deshalb beschäftigten mich jetzt auch meine Vorfahren sehr stark. […] An diesen Geschichten ist fast nichts erfunden. Jeder von uns hat 16 Urgroßeltern. Meine 16 Vgl. Jens Birkmeyer, »Kürze als Kritik der Zeit. Verdichtung und Verknappung in Alexander Kluges Erzählungen«, in: Sabiene Autsch u. a. (Hg.), Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Kunst, Literatur und Medien, Paderborn 2014, S. 101–117.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
19
sind offenkundig äußerst verschieden. Sie kommen aus unterschiedlichsten Regionen. Ein Familienzweig kommt aus Mittelengland nach Köpenick und errichtet dort eine Fabrik. Ein anderer kommt aus dem Eulengebirge, in der Nähe ist Karl May geboren, dort waren auch die Aufstände der schlesischen Weber. Dieser Urgroßvater kommt nach Berlin, meldet sich zum Landsturm, der 1848 die Revolution bekämpft, und darf zur Belohnung eine Eckkneipe in Berlin eröffnen. Ein anderer Familienzweig kommt aus Eisleben, Luther-Stadt. Aus Frankreich kommt die Tochter eines Jakobiners, sie heiratet in Deutschland. Eigentlich müssten solche unvereinbaren Gegensätze miteinander Krieg führen, aber das tun sie nicht. Ich finde es zauberhaft, dass in uns, in unseren Körpern, in unseren Kindern, solche Verschiedenheiten existieren. Sie bilden dort ein Gemeinwesen.17
Es sind vor allem die Aspekte der Organisationsform verschiedener Gleichzeitigkeiten in Lebensläufen, für die Kluge sich hier interessiert. Da Subjekte im Modus autobiographischer Selbstentwürfe als durch realitätsformatierte programmierte Programmierer sich grundsätzlich nicht vollständig zum konstruktivistischen Designer des eigenen Bewusstsein machen können und ihre Selbsterzählungen nicht revisionsresistent als Wahrheiten ausgeben können, entfaltet Kluge einen antimetaphysischen Narrationstyp. Antimetaphysisch deshalb, weil erst gar nicht der Versuch unternommen wird, das vollständige Leben unter der Prämisse der Vollständigkeit zu lesen. So wie in Hegels Subjekttheorie das um sich selbst wissende Subjekt sich immer schon dadurch verdoppelt hat, weil es seine einfache und ungeteilte Einheit negiert und zu einer Zweiheit Ich=Ich erweitert, also sich von sich selbst unterscheiden muss, um sich als Ich zu identifizieren, so ist bei Kluge der autobiographische Modus dadurch gekennzeichnet, dass das autobiographische Ich sich als ein Wir versteht, das durch die Genealogie der Vergangenheit betrachtet wird.18 Erst durch die tätige Auseinandersetzung mit dem, was anders ist als es selbst, vermag das autobiographische Selbst im Fremden das eigene Gemeinte auszumachen.
Aggregatzustände der Gefühle Der jüngste Erzählband Kongs große Stunde – Chronik des Zusammenhangs enthält interessanterweise einen Abschnitt mit der lakonischen Bezeichnung »›Ich‹«. In 38 Geschichten und Episoden werden gleichermaßen Lebenserinnerungen mitgeteilt und auch diverse Facetten des Autobiographischen reflektiert. 17 Alexander Kluge, »Wir sind Glückssucher«, zit. nach: www.tagesspiegel.de/kultur/ge spraech-mit-alexander-kluge-wir-sind-glueckssucher/6201290.html (Stand: 20. 03. 2016). 18 Vgl. Slavoj Zˇizˇek, Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S. 522ff.
20
Jens Birkmeyer
Eingegangen werden soll hier nun vor allem auf diese metaautobigraphischen Betrachtungen, um zu einem theoriehaltigen Befund darüber zu kommen, worin denn ein originärer Beitrag Kluges für den derzeit revitalisierten philologischen Diskurs über life writing bestehen könnte.19 Zunächst ist auffällig, dass die einzelnen Episoden für sich stehen wollen, nicht in jedoch einem autobiographischen Konstrukt der Ereignischronologie, und dass mit dem Episodengehalt der jeweiligen histoire ein Grundgedanke zum Autobiographiekomplex sichtbar wird. Zunächst werde ich auf die Reflexionen zum Ich-Verständnis in der Miniatur »Durch Armut reich: das Ich« eingehen, die in Kongs große Stunde enthalten ist: ›Unser Gehirn ist 100 000mal mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Verarbeitung von Sinneseindrücken und des Außen.‹ Es ›arbeitet‹ nur nebenher, urteilte Wolf Singer, der Hirnforscher, im Gespräch mit mir. Es sind unterhalb des Bewußtseins Millionen von Aktivitäten im Gange, fuhr der Wissenschaftler fort, die alle von sich als ›Ich‹ sprechen und zu mir gehören. Würde mein Bewußtsein, wie die Kontroller in den Firmen, dem nachspüren, was es tut, würden die Teile, die es produzieren, sich verstellen, tarnen. Sie würden ihre Informationen fälschen oder schönen (wie es die Abteilungen mit ihren Abrechnungen tun). Sie wären, forscht man ihnen nach, rasch derangiert und würden in ihrem Konzert der Kräfte zu stottern beginnen. So fand es die Evolution besser, diese Agenten im Dunkel der Nacht zu belassen, ein Dunkel, das so hell in den Körpern und im Witz des Geistes leuchtet. Sie, DIE UNSICHTBAREN AKTIVEN, sind der reale Boden des Ichs, so wie ein Quadratmeter Erde von Milliarden Milben bevölkert wird. Das Ich, das sich als Bewußtsein kostümiert, ist ihr Echo, eine dünne Haut aus Schwingungen und Konstellationen. Etwas Ähnliches existiert über mir, fuhr der Wissenschaftler fort, soweit sich sagen läßt, daß die Gesellschaft, die uns durchfließt, vermutlich sind es viele (parallel), als ein OBEN und nicht als ein ÜBERALL zu verstehen ist. Ein Himmel oder Sternenzelt ist das Bewußtsein jedenfalls nicht. Eher ein vom stürmischen Wind gepeitschtes Herbstlaub. Was soll dann, fragte ich Wolf Singer, MEIN ICH heißen, wenn doch dessen Elemente und die gewaltigen, inzwischen dem Zufall überantworteten Verwandten meiner IchFragmente, die Dinge, mir kaum noch gehören? Oft sind es Fremde, die ich nicht ganz verstehe, die mich stupsen. Denn meine Diamantmischmaschine, die Härtestes und Loses stündlich zu einer Kette schmiedet, die, sobald man sie sich um den Hals legt, schon »imperfekt« meldet und zergeht, ist mein Eigentum, die Eigensinnigkeit meiner Milliarden Innerlichkeiten. Sie empfinden sich nicht als Vasallen, leben nicht wie Untertanen, aber sie gehören zu mir. Täten sie das nicht, wäre ich tot. Sagen Sie mir, lieber Herr Singer, was soll ich von einer solchen VERFASSUNG DES ICHS halten? (KgS 527f.)
Die Armut knapper kontingenter Ich-Fragmente und die Eigensinnigkeit reichhaltiger multipler Innerlichkeiten als Schlagworte einer neurowissen19 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Autobiography/Autofiction. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2017.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
21
schaftlich versachlichten Sicht auf den Komplex Subjekt-Ich-Bewusstsein führen Kluge in der Miniatur »Mein sogenanntes Bewußtsein« zu folgenden weiterführenden Beobachtungen: Ich schließe die Augen, konzentriere mich darauf, was ich INNEN sehe. Was ist das für ein Raum dort? Ich kann dort nichts »sehen«, höre nichts. Gerade, daß ich das AUSSEN ausgeschlossen habe. Wenn ich mich konzentriere, kann ich das, was ich um mich herum höre, wenn ich mit geschlossenen Augen dasitze, ausgrenzen. Es stürmen Bilder auf mich ein; ich sehe sie nicht in dem Dunkel, das ich INNEN nenne, sie sind auch nicht draußen, stehen nicht vor Augen. Sie sind nirgends GEGENWÄRTIG. Gewaltig rauschen die Assoziationen, die Selbsttätigkeit dessen, was – das ist eine Vermutung – meine Hirnareale veranstalten. (KgS 528)
Mit der Frage nach der innersubjektiven Repräsentation von Wirklichkeit und den unüberschaubaren Ausmaßen an Vernetzungen, an die es nur behutsame Annäherungen geben kann, ist zugleich die Frage nach dem autobiographischen Kontext selbst angesprochen. Der Widerspruch zwischen der Skepsis gegenüber autobiographischen Kalkülen und dennoch gehäuften autobiographischen Selbsterkundungen lässt sich durch Kluges Grundsatz erklären, dass ihn offenkundig nur biographische Selbstthematisierungen im Zusammenspiel mit anderen Menschen, also im Kontext von Konstellationen und Kooperationen interessieren. Kluges »unsichtbare Helden«, von denen er in diesem Zusammenhang in einem Spiegel-Interview spricht, sind erklärtermaßen »Eigenschaften, die in allen Menschen wirksam sind, aber sich im Einzelnen nicht immer zeigen: Empfindungen, Mentalitäten, Ressentiments, der gute Wille. Sie marschieren getrennt und schlagen vereint. Im Verhältnis zu uns Menschen sind sie Riesen.«20 Was eine antiautobiographisch-autobiographische Perspektive demzufolge hervorzuheben hätte, wäre offenkundig eine Heldengeschichte stets wirksamer, nicht aber stets offenkundiger Aggregatzustände menschlicher Emotionen, die den Wirklichkeitsbezug der Augenblicke herstellen und zugleich die lange Evolutionsgeschichte der Gattung beinhalten. Nicht die Realitätsfiktion einer Person, die, wie auch immer geartet, über Emotionen verfügt, wäre aus dieser Sicht genuiner Gegenstand einer Lebenserzählung, sondern die Fiktionsrealität der Emotionskonstellationen selbst, die sich eines Subjekts bemächtigt haben. Während in epistemischer Hinsicht die neurowissenschaftlichen Befunde das Paradigma einer selbstreferentiellen Hirnautopoesis nahelegen, geht es in Kluges Poetik um die anthropologische Metaphorik der Lebensläufe und ihres Stimmenparlamentarismus der Gefühle. In den Quellcode der kritischen Theorie, die subjekttheoretisch von der Nichtidentität des Identischen ausgeht, 20 Alexander Kluge, »Ich liebe das Lakonische«, zit. nach: www.spiegel.de/spiegel/print/d-17 757645.html (Stand: 20. 03. 2016).
22
Jens Birkmeyer
sollen die historischen und naturwissenschaftlichen Wissensbestände integriert, nicht jedoch durch positivistische oder dekonstruktive Motive außer Kraft gesetzt werden. »Ich habe mir nicht zugesehen, während ich seit 1932 gelebt habe. Das, was man LEBEN nennt, ist nichts Kontinuierliches, hat Pausen und wechselt die Aggregatzustände.« (KgS 544) Die beiden Stichworte des Notats »Mir fremd« lassen sich durchaus wörtlich nehmen: Diskontinuität und Aggregatzustände markieren eine Sichtweise auf sich selbst, die vor allem plurale zeitgleiche Wirklichkeiten und Aggregatzustände des Lebendigen im Blick haben, von denen bereits ausführlich in der Theoriearbeit Geschichte und Eigensinn die Rede ist. Dort bezeichnet Selbstregulierung »die spezifischen Prozesse des subjektiven Anteils: das was in den Bewegungen das Lebendige ausmacht. Praktisch: den Eigensinn der lebendigen Arbeit. […] Es genügt die Beobachtung, daß etwas einen Zusammenhang bildet, sich auch als ein solcher Zusammenhang anzuwenden versucht.«21 Auch der autobiographische Modus folgt bei Kluge einem Konzept kooperativer Selbstregulierung, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen umfasst, nämlich die Kooperation divergierender Wirklichkeitssphären, die getrennt und doch gleichzeitig präsent sind und in ihrer Kooperation Selbstregulierung der Erinnerung an eine Kindheitsepisode ausmachen. Dazu zitiere ich den Beispieltext »Was heißt Aufmerksamkeit?«. Als Kind hatte ich Absencen. Ich habe sie heute noch. Deshalb bin ich als Autofahrer nicht absolut verläßlich. Einmal schickte mich mein Vater zur Kolonialwarenhandlung unserem Haus gegenüber an der Straßenkreuzung. Ich sollte eine Flasche Gilka besorgen, einen Kümmelschnaps, der von den Erwachsenen nach dem zweiten Frühstück eingenommen wird. Er hilft der Verdauung. Als ich die Straße überquerte, sah ich mechanisch nach links und rechts, wie es sich gehört, ob Fahrzeuge kämen. Ich war aber ganz in Gedanken, nämlich mit der Aufstellung von Zinnsoldaten im Garten beschäftigt, die für diesen Vormittag anstand. Mein Vater, der vom offenen Fenster seines Sprechzimmers im zweiten Stock mich kommen sah, rief mich mit meinem Namen an: ›Axel!‹ Aus meiner Abwesenheit gerissen, ließ meine Hand die Flasche fallen. Wie wollte ich auch, hin- und hergerissen zwischen zwei Wirklichkeiten, von denen die eine gestört wurde, mit festem Griff die richtige fassen? Das Getränk zerschellte. Meinem Vater war der Spaß den Verlust wert. Ich wurde auch nicht erneut losgeschickt, einen Ersatz zu holen. Es waren drei Wirklichkeiten im Raum, an deren Nahtstelle mein Griff versagte: der Auftrag, beim Überqueren der Straße auf Fahrzeuge zu achten (Vergangenheit), das Gespür für den schon von Sonne erwärmten Boden, auf dessen Staubhügeln bald meine Soldaten stehen würden (Zukunft), der scharfe Anruf meines Vaters (Imperativ). Bei
21 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 55f.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
23
Nennung meines damaligen Namenskürzels ›Axel‹ zucke ich noch heute zusammen, weil ich vermute, etwas verpatzt zu haben. (KgS 544f.)
Die autobiographische Sphäre wird ihrerseits in ihre elementaren Einzelteile zerlegt, deren wirkungsmächtiger kooperativer Zusammenschluss durchschaut werden soll, auch deshalb, um die Wirkungszusammenhänge und Resonanzen historischer Kontexte transparent zu machen. Die Erinnerung an eine Lesung vor der Gruppe 47 und die damit verbundene Erläuterung seiner realistischen Poetik der subjektiv-objektiven »Mitteilung mit fiktiven Einschüben« (KgS 552), führt Kluge auf die pragmatisch-realistische Eigenschaft der Großmutter mütterlicherseits und die realistisch-poetische Dimension einer fiktional erweiterten und gebrochenen Dokumentaristik auf die Linie väterlicherseits zurück. »Lebenslänglich schon laboriere ich am Gleichgewicht zwischen den beiden Fronten in mir.« (KgS 552) Auch diese genealogische Perspektive lässt sich im Zusammenhang einer grundlegenden kooperativen Selbstregulation verstehen. Denn so wie das Heute als Ensemble »durcheinanderlaufende[r] Wirklichkeiten« (KgS 554) aufgefasst wird, so speist sich das Gegenwärtige stets auch aus den nahen Fernwirkungen des Vergangenen. Immer geht es in seinem Werk darum, gesammelte Erfahrungen in einem Rhizom aus Bruchstücken zu vernetzen, damit der Zwischenraum von Verstand und Empfindung ausgeleuchtet wird. Ich möchte an dieser Stelle die These formulieren, dass das subjekttheoretische Fundament dieses autobiographischen Feldes sich vor allem auf die Konstellation von Gefühlen des Eigensinns und eine Morphologie an Erfahrungsweisen stützt, d. h. auf ein Ensemble aus Zeitmaßen, in denen Menschen immer mittelbar verzögert und nicht unmittelbar synchron auf äußere Jetzt-Ereignisse reagieren. »Das Heute sind ›durcheinanderlaufende Wirklichkeiten‹. Die Gefühle nehmen, als wären sie Eisenspäne, über die ein Magnet hingeht, eine Richtung an. Ändert der Magnet seine Richtung, wechseln sie die Positionen.« (KgS 554) Hierdurch entsteht eine Kumulation an Emotionen aus der »inneren Republik des Leibes« (KgS 538) und eine Schatzbildung an Erfahrungsmaterial und möglichen Lernprozessen, auch in profaner Hinsicht: »Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Warum mußte ich die schlafenden Geister im Fuß so willkürlich wecken? Jetzt fordern sie ihren gerechten Anteil am Sinnenkonzert, während ich längst schlafen will. Zuviel Plan und Absicht im Urlaub. So läßt sich in der inneren Republik des Leibes keine Regeneration erzielen!« (KgS 538). Banal aber durchaus grundsätzlich ist die Rede von einer ungewohnten und wirkungsmächtigen Unterwasserfußmassage in einem Tagungshotel, die die Fußnerven in Aufwallung bringen, sodass diese sich auch nicht mehr rechtzeitig beruhigen wollen. Autorität der Nerven und Eigensinn der Gefühle, die nicht bloß in einem Subjekt tätig sind, sondern dieses erst ausmachen. Individuen
24
Jens Birkmeyer
werden Subjekte aber in historischer Dimension erst dann, wenn die »feste Bindung an Jahresläufe, an Generationsfolgen, an die Bodenbearbeitung und an die Götter gelöst« wird. »Das sind Hohltiere.« (KgS 542) Kluge rekurriert in der Geschichte »Die Folgen der Epochen«, die von seiner Zusammenarbeit mit Oskar Negt berichtet, auf ein Theorem der Kritischen Theorie, bei dem es um die Frage geht, wer oder was diese Hohlräume besetzt. »Geister, Gespenster, Fremde? Was setzt sich in dem frei werdenden Raum fest? Die Summe an Eigenschaften, die in diesem Areopag Platz nimmt, auf Rängen, im Parterre, gegenüber eine Bühne, auf der die Betrachter einander nochmals zusehen, das ist die zweite, die bürgerliche Natur.« (KgS 542) Autobiographietheoretisch ist an dieser doppelten Metaphorik von Gefäß und Parlament das Konzept der Auffüllung interessant. Es geht um die Chronik des Zusammenhangs, also um Erinnerungen und Rekonstruktionen als Maßnahmen der Bewahrung und Rettung: »Die nachträgliche Fülle kann ein ursprüngliches Leiden nicht verschwinden machen.« (KgS 560) Wird Individuation sozio-psychologisch als eine räumliche Substitution gedacht, dann ist das autobiographische Paradigma von Kluges Texten tatsächlich durch das Bild der Hohlraumfüllung geprägt.
Nahe Echos ferner Zeiten Überlegungen dieses Typs zielen nicht auf die Metaphysik einer vollständigen Autobiographieillusion und damit nicht auf die Idee eines hinreichend überschaubaren Selbstnarrativs. Zentral sind vielmehr partikulare Ich-Einsichten und Selbstbeobachtungen, die für sich stehen dürfen und deren Einbindung in konnektive Konstellationen erst einen Zusammenhang herstellt. Mit anderen Worten: Alexander Kluges Lebensbeschreibungen speisen sich nicht aus der Halluzination einer choreographierten Lebensgesamtschau, in der ein mit und um sich selbst ringendes Subjekt in einem Ich-Narrativ zentriert ist, sondern sie vertrauen dem episodischen Erfahrungsmomentum selbst. »Bei Lebensgeschichten gibt es wenig Typik. Regelmäßigkeiten beobachtet man, aber zusammengesetzt sind sie aus purer Einzelheit« (DfB 118), heißt es in der Episode »Ein Erforscher von Lebensgeschichten«. Kluges Autofiktionsmuster geht es stets um die Morphologie von Lebensgeschichten, wobei mit einer physiognomischen und einer genealogischen hierbei zwei Stoßrichtungen zu unterscheiden sind.22 22 Vgl. Serge Doubrovsky, »Nah am Text«, in: Kultur & Gespenster. Autofiktion 7 (2008), S. 123–133; Martina Wagner-Egelhaaf, »Autofiktion & Gespenster«, in: Kultur & Gespenster. Autofiktion 7 (2008), S. 135–149; Frank Zipfel, »Autofiktion. Zwischen den Grenzen von
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
25
Meine Voreltern aus dem Südharz haben sich nicht träumen lassen, mit welchen fremden Genen sie heute in ihren Nachkommen zusammenleben würden, ja auch wir, die Gegenwärtigen, wüßten nicht (und haben keinen Einfluß darauf), wie sich in Zukunft die glücklichen Umstände (oder unglücklichen) in unseren Kindern verschaukeln. Die vor dem Terrorregime in Frankreich 1793 geflüchtete Französin Caroline Louise Granier prägte mit energischem »hugenottischen«, tatsächlich jakobinischen THYMOS einen Zweig der Familie. Diese Linie hatte keine Ahnung, daß sie sich später mit Genen aus dem Eulengebirge verknüpft finden würde. Nichts ahnten die Vorfahren vom Eulengebirge und die vom Südharz von den Zuflüssen aus Mittelengland und aus der Mark Brandenburg. Die sprachlichen, die genetischen und die kulturellen Gewohnheiten wirken unvereinbar. Daß solche Gegensätzlichkeiten keinen Bürgerkrieg in den Seelen und Körpern hervorrufen, sondern sich in jedem Pulsschlag, in jedem Herzschlag von Minute zu Minute einigen, ist das Abbild einer generösen, toleranten, das Menschenrecht erweiternden Verfassung, welche die Gene schreiben (auf ihren Inseln), anders als die Staatswesen. Insofern enthält ein Körper, zusammengesetzt aus der Vielfalt so gegensätzlicher Vorfahren, eine Art Zauberbuch. Keine Enzyklopädie kommt der Macht dieser Inschriften gleich, welche die Zukunft bestimmen. (DfB 116)
Die Rede ist hier von einer unsichtbaren Schrift und den Kräften für nahe Fernwirkungen des Vergangenen. Zahllose Lesarten physiognomischer Diagnosen dieser Art verdichten sich in den Genealogie-Geschichten zu einem Ensemble an mentalen Dispositionen, Charakterzügen, Erfahrungsmodellen und Gefühlsarchitekturen, die tradiert werden und verlässliche Fernwirkungen garantieren und denen eine konstellative Erzählweise Rechnung zu tragen hat. Für meinen Großvater mütterlicherseits, den Sohn des militärfromm gewordenen zornigen Vaters, war charakteristisch, daß er nicht lügen konnte, ja wenn er nur schwindelte, etwas verbarg oder übertrieb, mußte er grinsen. Das hat meine Mutter von ihm geerbt. Es ist das Zeichen dafür, daß der Clan ursprünglich einmal nicht die wahren Gefühle und Solidaritäten nach außen zeigte und jetzt dauerhaft die Fähigkeit verloren hat, die Unwahrheit zu sagen. (DfB 29)
Wenn Kluge die familiäre Menschenkette wie ein Ahnenforscher zurückverfolgt, um die zahlreichen genetischen, habituellen, charaktertypologischen Einträge in das »Zauberbuch« zukunftsweisender Inschriften zu sichern, dann folgt er der Überzeugung, dass äußere Realitäten sich im Inneren der subjektiven Seite wiederholen. Der theoretische Grundrahmen hierfür, in Geschichte und Eigensinn ausführlich dargelegt, findet sich in der Geschichte »Verinnerlichung von Arbeitseigenschaften« wieder : Alle äußerlichen Formen der Arbeit und vor allem die Werkzeuge wiederholen sich auf der subjektiven Seite der Menschen. Sie nehmen dabei – als Echos, als Transformationen – im Inneren der Menschen fast stets eine neue Gestalt an. […] So mag das Faktualität, Fiktionalität und Literarität?«, in: Simone Winko u. a. (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin u. a. 2009, S. 284–314.
26
Jens Birkmeyer
öffentliche Bild der klassischen Industrie aus der Wirklichkeit verschwunden sein, es wird sich – in höchst lebendiger Weise – im Inneren der Menschen fortsetzen, ja, man kann die Regel beobachten, daß drei Generationen oder hundert Jahre nach dem Untergang einer gesellschaftlich vorherrschenden Praxis diese auf der subjektiven Seite der Menschen wieder auftaucht. So findet sich z. B. in jedem Städter der »Bauer in uns«. […] Es zeigen sich immer die gleichen Elemente und Grundrisse; man beobachtet den EIGENSINN und die geschichtlichen Wurzeln sowohl dieser besonderen Form, in der sich die menschlichen Wesenskräfte entwickeln, als auch das allgemeine Resultat, zu dem sie sich in der Moderne zusammenfügen. (DfB 176)
Ebenso lässt sich in den Erzählungen eine subjektive Verinnerlichung vergangener aber nicht verschwundener Arbeitseigenschaften genealogischer Traditionsbestände in transformierter Gestalt ausmachen. So wie sich die lebendige Arbeitskraft über Trennungen herstellt, so lässt sich der Erfahrungsschatz der Menschen nur über die Rekonstruktion der Lebensläufe für die Gegenwart retten und verfügbar machen, und hieraus resultiert das Interesse an den »Echos ferner Zeiten« (DfB 336) und die damit verbundene Intuition, dass Gefühle nicht allein aus Gegenwart bestehen. Glaubte Kluge etwa noch als Hitlerjunge daran, dass »der Transport von Zauberkräften unserer Vorfahren in die Gegenwart zur besonderen Ausstattung vor allem von Jugendlichen« (DfB 472) das geheime Elixier des Nationalsozialismus ausmache, so geht es dem Erwachsenen vor allem darum, die Zersetzung der Wahrnehmung durch gegenwärtige Beschleunigungs- und Verkürzungsvorgänge zu entpathologisieren, indem die Anamnese der Lebensläufe das Material für Wahrnehmungschärfung gegen Mythisierungen liefert. Eingebettet ist dieses Unterfangen in ein dialogisch-chorisches Selbstbild, in dem vom »Schwarm meiner inneren Stimmen, dem Vorratslager dessen, was ich wirklich bin«, die Rede ist. Als Subjekt denken, heißt es in der Geschichte »Das einfache Ich«, ist »ein Areopag, eine Versammlung meiner (in entscheidenden Fragen weiblichen) Gefährten und Vorbilder. Manchmal sind es auch Schriften. Dieses Subjekt ist nichts Einfaches. Es ist ein Gesumm. Eine lange Folge solcher VOLKSVERSAMMLUNGEN MIT MIR SELBST« (KgS 455). Albrecht Koschorke bemerkt in seiner profunden Erzählstudie Wahrheit und Erfindung über Genealogien, sie hätten vornehmlich »den Lebenden Vergangenheitsfiktionen zu liefern, die von Nutzen sind, um praktische Zwecke in der Gegenwart zu verfolgen.«23 Demgegenüber verweist der genealogische Vektor autobiographischer Bekundungen Kluges noch auf eine andere Dimension, die ich als republikanisches Gravitationszentrum des Selbst bezeichnen möchte. Wenn das Individuum hier etwa als »unteilbares Ganzes« und »unteilbare Re23 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2012, S. 229.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
27
publik« bezeichnet wird, dann eben in stetem Bezug darauf, »daß bestimmte Personen seine Vorfahren waren, individuell bis zum Kosmos hin« (TaT 576), wie es in einer entsprechenden Episode in Tür an Tür mit einem anderen Leben lautet. Damit ist ein subjekttheoretischer Aggregatzustand angesprochen, der nicht aufgeht in einer Repräsentationslogik oder Intentionalität der genealogischen Sphäre. Kluge betreibt eine quasi philologische, an der Schriftsammlung und Schriftdeutung vergangener verblasster, jedoch nicht paralysierter Spuren ausgerichtete Kasuistik der Filiationsströme. Dieses Unterfangen ist primär daran interessiert, dem dominierenden »Post-Passeismus« als anti-genealogischen »Zustand der synchronisierten Kulturen« in der Moderne, wie es Peter Sloterdijk in Die schrecklichen Kinder der Neuzeit formuliert, einen erfahrungsoffenen Quellcode entgegenzustellen.24 Immer geht es um die Lesbarkeit einer unsichtbaren Schrift als Fernwirkung im Nahen, mithin um eine »Eine Kette von Vorfahren«: 1715 ist einer geboren, der nächste 1742, ein dritter Vorfahr 1818, dann eine Geburt im Jahre 1864 – das ist schon mein Großvater mütterlicherseits. Jeder von diesen Männern ist charakterisiert durch eine Anfälligkeit der Schleimhäute in Lunge und Nase, viermal jährlich. Mein Großvater ist an einem solchen Katarrh am 21. Februar 1936 gestorben. Auch haben sie alle einen Einriß im rechten Daumennagel. Ein genetischer Defekt verhindert die gleichmäßige Versorgung der durchscheinenden Keratinplatte, der Einriß ist geringer als der Bruchteil eines Millimeters. Das Kind, das ein Jahr nach 1715 über einen Holzboden krabbelt, bewegt sich zur gleichen Zeit, in der Karl XII. von Schweden, nach Konstantinopel geflohen, sein Schicksal noch zu wenden versucht. Das Pferd, das ihn ins Exil trägt, bricht noch in der Nacht der Ankunft im Stall zusammen. Das männliche Baby, das 1742 in dem Ort Wüstewaltersdorf bei Waldenburg seine Muskel- und Darmkräfte erprobt, tut das zeitgleich mit den Reisen der Agenten und Diplomaten Venedigs, deren Wege die Landschaften Europas verbinden. Das Kleinkind, das sich 1818 zu bewegen beginnt, besitzt eine große Zahl von Zellen und Genen, die auch ich jeden Tag mit mir führe. Der Schmerz, wenn es gegen die Wand rennt, die Enttäuschung, wenn es umfällt, nach keinem Index genau meßbar ; die Müdigkeit abends kenne ich auch. Bis zum Revolutionsjahr 1848 ist die Familie in kein Kriegsgeschehen verwickelt. Das Kind von 1818 hat seine Landsturmzeit absolviert. Ein etwas nervöser, wie gesagt, erkältungsgefährdeter Mann. Er hilft in Berlin, die Revolutionäre von den Barrikaden zu verjagen. Königstreue Leute wie er horchen an den Massen, die in seinem Beobachtungsraum (der Eckkneipe) essen, trinken und sich freimütig äußern. Mein Großvater mütterlicherseits, vierter Sohn, gehorcht diesem Vater in nichts. Sein älterer Bruder, sportlich und dem Vater gehorchend, verunglückt tödlich am Reck. Die beiden anderen älteren Brüder arbeiten sich in der väterlichen Gastwirtschaft ab. Viel Trinkgeld! Davon will 24 Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014, S. 487.
28
Jens Birkmeyer
mein Großvater mütterlicherseits nichts wissen. Er besitzt einen Instinkt für glückliche Umstände. Einen sagenhaften Sinn für die BIOLOGIE DER LUST. Ausweis seiner Abkunft, wie erwähnt, daß der rechte Daumennagel ein Defizit aufweist. Das läßt sich mit der Nagelschere zurechtschneiden und behindert keine Laufbahn. (DfB 30)
Was auf den ersten Blick wie eine simple genealogische Auflistung erscheint, lässt sich aus einer kontextualisierenden Frageperspektive, die dem Kapitel »Warum stehen Menschen neben ihrer Geschichte« vorangestellt ist, fruchtbar machen: Der politischen Ökonomie des Kapitals stehen die Menschen gegenüber, die in vom Kapital strukturierten Gesellschaften leben. Sie gehören aber mit großen Teilen ihrer Subjektivität, mit ihren Vorfahren und ›Wesenskräften‹ gesellschaftlichen Verhältnissen an, die nicht vom Kapital strukturiert sind. Für diese vollständigere Ökonomie (welche beide ›Aggregatzustände, in denen Menschen leben‹, die persönlichen und die beruflichen, abbildet) ist die Frage relevant: Wer ist Subjekt der Geschichte? Zugleich geht es um die weiterführende Frage: Was ist wirklich? Sind Menschen wirklich, die sich wie Zuschauer ihres Lebens verhalten? Oder müßten sie dafür Produzenten ihres Lebens sein? (DfB 188)
In Kluges Erzählkosmos hat vor allem eine physiognomische Lesart solcher Trennungsvorgänge ihre Beobachtungen und Einsichten in das autobiographische Logbuch einer Chronik der Zusammenhänge einzuspeisen. Vor allem die Erinnerungen an die eigenen Eltern, charakterisiert durch eine »bestimmte ›Selbstbehauptung‹, einen Mangel an Selbstzweifeln« (KgS 107), folgen einer doppelten physiognomischen Anamnese, die sowohl auf Personenportraits als auch auf die mimetischen Resonanzzonen eigener Gefühlslagen ausgerichtet sind: Wechselwetter. In den Augen meiner Mutter, graublau wie sie sind, ist stets nur ein Teil dessen zu sehen, was in ihr vorgeht. Leicht kommen ihr die Tränen. In Armen und Schultern, auch in den kräftigen Beinen steckt aber so viel muskulärer adrenalinhaltiger Übermut, daß die Traurigkeit rasch wieder versiegt; tritt jemand zu ihr, winkt etwas Neues. So zieht durch die Augen ein Wetter. Statistisch gesehen: primär HEITERES LICHT. Traurig bleibt sie, wenn sie allein ist, lebhaft und zugewandt, sobald sie sich in Gesellschaft befindet. ›Unruhiger Garten der Seele‹ Dasselbe Augenpaar kann auch »taxieren«. Es urteilt. Als lebten in ihr zwei Personen, haben diese Augen eine britische Härte, den Realismus der väterlichen Seite meiner Großmutter. Das Augenblaugrau wirkt dann distanzierend. Dabei beißen die Augen unerbittlich zu. Sie trennen scharf zwischen Akzeptanz und Ablehnung, zwischen Zuwendung und Kühle. Scharfe Messer sind die Augen. […] Meine Augen, die anders sind, sowohl als die meines Vaters als auch die meiner Mutter, nehmen die rechte Gelegenheit nicht wahr. Ich will die Aufmerksamkeit meiner Mutter
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
29
auf mich ziehen, aber nicht zu ihren Bedingungen. Es herrscht ein Kampf. Bis heute nicht zu Ende. […] Bis heute werbe ich (mit allen Mitteln) offensiv um ein Stück zusätzliche Aufmerksamkeit der lebhaften, verträumten, gelegentlich depressiv verhangenen, scharfsichtigen Feuer. Defensiv bin ich, daß mich kein kritischer Blick erreicht. So rasch kann sie gar nicht reagieren, wie ich diesem Blick (meinem Vorgesetzten) entronnen bin. Ich kenne keine Obrigkeit. Sie hat nie eine gekannt. Frische des Vormittags. Alle schlafen noch. Ich schon unterwegs. Die Augen meiner Mutter haben Flügel. (KgS 70f.)
Demgegenüber geben die Augen meines Vaters […] wieder, in welcher Stimmung er sich befindet. Sie reagieren auf die Augen des Anderen, beurteilen ihn aber nicht. Sein Auge ist monologisch. Er muß es gesondert einstellen, wenn er den ›Blick des Arztes‹ annimmt. Dann äugt er spezifisch, das ist das ›untersuchende Auge‹. Er schaltet es gleich wieder ab, wenn er auf eine kurze Pause in den Garten geht. Kehrt er zurück, bleibt es bei dem Auge, das niemanden zurückweist und durch das, wie durch ein offenes Fenster, ein Blick in seine derzeitige Gemütsverfassung möglich ist. Kein Fließwasser, ein ruhiger Teich. (KgS 70)
Indirekt werden auf diese Weise auch Kluges Charaktereigenschaften, Anlagen und Selbstwahrnehmungen psycho-genealogisch fokussiert, indem autobiographische Spiegelungen dieser Art morphologische Fernwirkungen ebenso wie auratische Nähebeziehungen autofiktional plausibel machen sollen. »Ich selbst habe offenbar lange Zeit das Glücksvertrauen meiner Mutter kopiert. Eingebettet in eine Masse von Egozentrismus.« (KgS 79) Kluge öffnet den autobiographischen Erzählraum in Richtung einer Studie über die Organisationsformen und Aggregatszustände lebendiger Gefühle. Und es wäre methodologisch hier danach zu fragen, ob nicht ein Anschluss der zeitgenössischen Autobiographieforschung an eine gegenwärtig aktuelle Philosophie der Emotionen aussichtsreich wäre. In Ihrem Forschungsbericht Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft hat Martina Wagner-Egelhaaf 2010 präzise »drei systematische Aspekte der gegenwa¨ rtigen Autobiographieforschung« unterschieden: »(1.) das Verha¨ ltnis von Autobiographie und Erinnerung/Geda¨ chtnis, (2.) die Rolle des Raums in der Autobiographie und (3.) das Konzept der Autofiktion.«25 In Aussicht stünde nach meinem Dafürhalten sodann weiterführend der systematische Aspekt einer dezidiert emotionstheoretisch ausgerichteten Autobiographieforschung literarischer und künstlerischer 25 Martina Wagner-Egelhaaf, »Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft«, in: BIOS – Zeitschrift fu¨ r Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23/2 (2010), S. 188–200, zit. nach: www.ssoar.info/ssoar/ bitstream/handle/document/35569/ssoar-bioszeit-2010-2-wagner-egelhaaf-Zum_Stand_und_ zu_den.pdf ?sequence=1 (Stand: 20. 03. 2016).
30
Jens Birkmeyer
Repräsentationen, bei der dezidiert die Transformationen von Gefühlen im Zentrum der Theoriearbeit zu stehen hätte.26 Paradigmatischer Fokus dieser Sichtweise könnte die Immunologiemetapher sein, um von der Annahme auszugehen, dass Lebewesen stets nur in der Geschlossenheit ihres Immunsystems existieren können. Auszuformulieren wäre insofern eine emotions-autoimmunologische Perspektive der Autobigraphieforschung, die nicht allein kognitionsepistemische und textmorphologische Fragen in den Mittelpunkt stellt. Aussichtsreiche Ansätze hierzu scheinen mir bereits in den Arbeiten zur Affektpoetik vorzuliegen.27 In Kluges Paradigma etwa, hierzu wäre auf die wundervolle Erzählung »Oder mit sparsamer Locke die Sehnsucht« zu verweisen, begleiten Emotionen nicht bloß Lebensläufe, sondern Gefühle besitzen selbst ihre Lebensläufe: Sehnsucht, mein stattliches Tier. Mit mir groß geworden. […] Oft ist sie unsichtbar, magnetisch wirksam, verschränkt, unangreifbar, nicht beeinflußbar. So lauert sie, um zuzuschlagen. Sie macht krank. Sie treibt an. Sie ist tückisch. Sie bewahrt mich vor falschen Entscheidungen. Sobald sie auftritt, gibt sie an (eine strenge Richterin), was gleichgültig ist und was nicht. Das tut sie mit Gewalt. […] Das Alter dessen, den sie besetzt hält, ändert oder mindert sie nicht. Der Umgang mit ihr wird praktikabler wie bei bewährten Eheleuten, aber nie praktisch. Sie zerschlägt jedes Konzept, facht den Bürgerkrieg im Herzen an, wann es ihr beliebt. Sie hat ihre Unabhängigkeitserklärung mir gegenüber schon manches Mal verkündet. Die Idee, ich sei ihr Erzeuger oder gar ihr Besitzer, hält sie für verrückt. Sie nimmt von mir Besitz, wann sie will. Sie, meine Herrin. Werde ich schwächer oder alt, jubelt sie und wird aggressiver. (KgS 77)
Ich möchte diese poetische Anthropologie mitsamt ihrer metaphorischen Anthropomorphisierung als eine Emotionsphysiognomie der zweiten Ordnung bezeichnen. Aus ihr emergiert eine Metaphernflut, die die »Innere Republik« des unteilbaren und abgeschotteten Individuums in Szene setzt: Über solcher Haut bildet die Kleidung eine zweite Grenze. Darüber die Haut der Gewohnheiten, eingebettet in Haus und Garten sowie den beruflichen Alltag. Sie umhüllt wie eine Festung die inneren Außengrenzen. Die Tagesabläufe wie Uhren. So besteht die Person aus SPHÄREN, die sich erweitern zum »eigenen Land« und zur »Welt«. Die äußeren Schalen sind schon luftige »Schutzwesten der Phantasie«, Wunschhorizonte. (KgS 89)
Kluges originäre Autobiographieperspektive ließe sich insofern zusammenfassend als ein emotions-autoimmunologischer Typus verstehen. Kennzeichen dieses Typus ist die Überzeugung, Gefühle hätten ihre eigenen Lebensläufe und 26 Vgl. hierzu die Online-Sammelrezension von Thomas Anz, »Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung« in: literaturkritik, www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=10267 (Stand: 21. 03. 2016). 27 Burkhard Meyer-Sickendiek, Affektpoetik: Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005.
Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde
31
Selbstregulierungen, die allein mittels eines mimetisch-physiognomischen Vermögens in Erzählungen überführt werden können. Walter Benjamin wollte noch der Bilder habhaft werden, »in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt«, weil er es für möglich hielt »daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist.«28 Demgegenüber beabsichtigt Kluge unmelancholisch dem Fundament der Lebensläufe von Gefühlen habhaft werden, und mit ihnen auch der Metaphern jener Zusammenhänge von nahen Fernwirkungen des Vergangenen.29 Entgegen einer Metaphysik des mit sich selbst identischen Lebenslaufes kommen in dieser Selbst-Optik die vielen kontingenten und disparaten Stimmen der simultanen Lebensläufer zu ihrem Ausdruck und bilden eine autobiographische Chronik des Zusammenhangs, wie der Untertitel von Kongs großer Stunde programmatisch lautet. Und all das ist erzählt für das immer weiterzuführende, für uns alle so überlebenswichtige Archiv des Unwahrscheinlichen, des Abseitigen und des Apokryphen.
28 Benjamin, Berliner Kindheit, S. 9. 29 Vgl. Herbert Holl, »Die Gewalt des Zusammenhangs. Kortex und Oberschenkelhalsknochen«, in: Christian Schulte/Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 131–152.
Ten to Eleven vom 18. Juli 2016 (Kluge / Sprenger)
Schiffbruch mit Zuschauer. Ulrike Sprenger über die Costa Concordia und ein Buch des Philosophen Hans Blumenberg
ALEXANDER KLUGE: Ich sehe einen Hotelpalast, der sich in gefährlicher Nähe zum Land auf See bewegt. Das ist die Costa Concordia. ULRIKE SPRENGER: Die Costa Concordia ist eines der größten Kreuzfahrtschiffe mit einer ungeheuren Ausstattung an Bord, eine schwimmende Mall. Es gibt Läden, einen Formel-1-Simulator, einen Wellness-Bereich. Es ist ein schwimmendes Vergnügungs-Resort. KLUGE: Fast schon ein Raumschiff. SPRENGER: Der Kapitän kann von seiner Brücke aus nichts sehen. Gerade bei diesem riesigen Schiff ist die Navigation auf Sicht fast nicht mehr möglich. Es muss ständig Kontrolle erfolgen. Umso reizvoller erscheint es dem Kapitän dieses riesigen Kreuzfahrtmonsters, sein Schiff so nahe wie möglich an Land vorbeizusteuern. KLUGE: Er will einen Kollegen grüßen, der in Pension ist. SPRENGER: Er will einen »inchino« machen. Auf Italienisch bedeutet das »Verbeugung«. Es entspricht einer Tradition und ist beeindruckend für die Menschen an Land, zumal es eine kleine Insel ist. Schiff und Land begegnen sich fast auf gleicher Höhe. Es ist eine heikle Route zwischen der Insel und dem Festland durch, wo die Wassertiefe nicht groß ist und durch den Kapitän mehr oder weniger geschätzt, also nicht berechnet wird. Es hat sich herausgestellt, dass keine Karte dieses Gebiets an Bord war. Das ist vertretbar, wenn man vorgeschriebene Routen einhält. Die Navigation kann durch Radar oder Funk erfolgen, aber in dem Moment, wo man eine eigene Route einschlagen will, muss man eine Karte haben und sich genauestens über die Verhältnisse vor Ort informieren. Das hat der Kapitän versäumt. In diesem Fall ist es dann tatsächlich zu einer massiven Grundberührung gekommen. Das Schiff ist auf einen Felsen aufgefahren, welcher der Insel vorgelagert war, hat von diesem Felsen ein großes Stück abgerissen, das im Rumpf steckengeblieben ist und einen Riss von etwa siebzig Metern Länge in der Hülle des Schiffes erzeugte. KLUGE: Es geschieht hundert Jahre nach der Titanic, ohne Eisberg, ohne Natureinwirkung in nennenswertem Umfang.
34
Ten to Eleven vom 18. Juli 2016 (Kluge / Sprenger)
SPRENGER: Durch einen angeberischen Akt mit einem riesigen Schiff, auf dem 4.000 Menschen sind. Auf der Insel gibt es 1.400 Bewohner. KLUGE: Diese Katastrophe dauert eine Zeit lang. Da gibt es Funkverkehr und zunächst ist der Kapitän noch vor Ort. SPRENGER: Zunächst gibt es eine gewisse Ratlosigkeit. Aber man erkennt später aus den Mitschriften und den Berichten über die Reaktion auf der Brücke, dass sich die Dramatik des Unglücks nicht der Mannschaft mitteilt. Die wollen das nicht glauben, obwohl nach 15 Minuten spätestens klar gewesen sein muss, dass viele Abteilungen bereits voll Wasser gelaufen sind zwischen den Schotten, so dass das Schiff nicht stabil bleiben kann. In dieser Situation hätte SOS gefunkt werden müssen. Wenn ein bestimmter Teil des Schiffes voll Wasser ist, riskiert das Schiff den Untergang, das Kentern. Dann muss Hilfe gerufen werden. Der Kapitän entscheidet sich also zunächst dafür, das Ganze auf die leichte Schulter zu nehmen und einen Stromausfall zu melden, aber auch erst auf Anfrage. Es haben Passagiere, die den Stoß und eine leichte Krängung, also eine leichte Schieflage des Schiffes, bereits bemerkten, per Handy bei Bekannten angerufen, die wiederum den nächstgelegenen Hafen kontaktiert hatten. Der Hafen wusste durch Passagiere davon, dass auf dem Schiff etwas nicht stimmt und hat von sich aus beim Schiff angefragt. Auf diese Nachfrage hin wurden Probleme zugegeben, aber zunächst nur ein Stromausfall. Der Strom fiel aus, weil bereits die gesamte Technik geflutet war. Das Schiff war nicht mehr manövrierfähig, es gab keine Maschinenkraft mehr. KLUGE: Wie konnte das Schiff in die Nähe des Hafens gelangen? SPRENGER: Das waren Glück, Zufall, Strömung, Wind. Ein Schiff hat eine gewisse Schubkraft. Wenn die Maschinen ausfallen, wird es sich weiter bewegen durch die Trägheit. Wind und Wellen haben es zum Glück zurückgelenkt zur Insel. KLUGE: Es war kein Steuermanöver? SPRENGER: Das hat der Kapitän behauptet. Er hat eine Reihe von Selbstrechtfertigungsstrategien entwickelt. Er hat behauptet, er habe willentlich in dem Moment, wo das Ausmaß des Schadens bewusst war, das Schiff zurück zur Insel gesteuert. Es hat sich aber herausgestellt, dass das Schiff schon wenige Minuten nach dem Aufprall vollständig manövrierunfähig war. Der Kapitän verlässt das Schiff relativ schnell. Für alle, die nachher das Unglück aufarbeiten, ist es schlimm, dass von Anfang an der Wille des Leugnens da war. Auch Passagiere, die von sich aus gespürt haben, dass ein Notfall herrschen könnte, welche die Signale wie kompletter Stromausfall, Krängung des Schiffes, richtig gedeutet haben und bereits in Schwimmwesten an Bord sind, sich an den vorgeschriebenen Sammelplätzen bereitstellten für die Rettung, wurden aufgefordert, ihre Schwimmwesten wieder auszuziehen und in die Kabinen zurückzukehren. Man hat alle Energie dahinein gesetzt, das zu vertuschen.
Ulrike Sprenger über die Costa Concordia und ein Buch von Hans Blumenberg
35
KLUGE: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. SPRENGER: Das Schiff neigt sich in dem Moment, wo es zum Stillstand gekommen ist, dem Land zu. Die Rettungsmaßnahmen kommen schleppend in Gang, auf Initiative einzelner Offiziere, nicht koordiniert durch den Kapitän, der keine klaren Anweisungen gibt. Sie kommen nur durch Einzelinitiativen zustande. Abgeschlossen ist die Evakuierung des Schiffes etwa nachts um vier Uhr. Der Kapitän verlässt das Schiff bereits kurz nach Mitternacht. Es gibt ein Telefonat zwischen Capitano Schettino, der bereits in einem Rettungsboot sitzt oder schon am Strand ist (er hat mit dem Mobiltelefon telefoniert), und dem Hafenkapitän in Livorno, der zugleich zuständiger Koordinator der Rettungsmaßnahmen an Land ist. KLUGE: Er ist Überkapitän. SPRENGER: Das ist die Stelle, die auch die Flüchtlinge anrufen können, wenn sie in Seenot sind. Dieser Capitano de Falco und Schettino führen ein hitziges Telefonat, in dem de Falco versucht, sich einen Überblick zu verschaffen, wie viele Menschen noch an Bord sind, wie viele bereits von Bord gegangen sind, wie viele oben stehen und wie viele sich vielleicht noch im Inneren des Schiffes befinden. Schettino kann keine Antwort geben. Es stellt sich heraus, dass er nicht mehr an Bord des Schiffes ist. Das Gespräch gipfelt in dem Ausruf des Hafenkapitäns »vada a bordo, cazzo«, »geh’ an Bord, Arschloch«. Dieses Gespräch war ein Beweis dafür, dass der Kapitän nicht mehr an Bord war. Aber es wurde zum Symbol der Katastrophe, eines Kapitäns, der sich fürchtet und sich weigert, zurück an Bord zu gehen und eines Hafenkapitäns, der das als den zentralen Punkt dessen erkennt, was schief läuft. Er vertritt die Ehre der Seefahrer vom Land aus. Blumenberg würde sagen, er war der Zuschauer beim Schiffbruch, hatte also eine bequeme Situation, aber zugleich fungiert er als Anwalt der Passagiere und der Menschen auf dem Schiff. KLUGE: Sie nannten eben Blumenberg. Der hat auch über den Schiffsuntergang geschrieben. SPRENGER: Schiffbruch mit Zuschauer heißt der Text. Der Schiffbruch ist für Blumenberg eine absolute Metapher, also kein Bild, was man in allen Einzelteilen in seine symbolischen Bedeutungen auflösen könnte, sondern eine Daseinsmetapher, etwas was die großen Fragen des Menschen: Treue, Ehre, Schuldhaftigkeit, Sinn des Lebens, praktischer Verstand, Handgreiflichkeit, Festigkeit, Auseinandersetzung, Krieg, Konkurrenz, Not mit enthält. KLUGE: Als ob die ganze Menschheit in einem Schiff fährt. SPRENGER: Er sieht verschiedene Etappen in der Art, wie der Schiffbruch und diejenigen, die beim Schiffbruch zusehen, in der Kunst verarbeitet oder als Metaphern präsentiert werden. Die Antike macht für ihn eine relativ klare Gegenüberstellung. Das Meer ist der Ort, wo die Ungeheuer warten, im Meer lauern ungewisse Gefahren. Das Meer ist der Ort, wo der Gott herrscht, der am leich-
36
Ten to Eleven vom 18. Juli 2016 (Kluge / Sprenger)
testen zu erzürnen ist, Poseidon, der ein unberechenbarer und wütender Gott ist und sofort mit Sturm reagiert, wenn ihm Unrecht getan wird. Über den Schiffbruch und über das Meer lernt man, wie gut man es an Land hat, wenn man zurückkehrt nach Hause als Odysseus. KLUGE: Man hat auch Ballast verloren, wenn man vom Schiff nichts als sein Leben rettet. Das ist wie 1945 eine Stunde Null. SPRENGER: Man lernt für das Land in der Antike, sagt Blumenberg. Das Land ist das Sichere, wohin man unbedingt zurück möchte. Vielleicht hat man nach dem überstandenen Schiffbruch ein besseres Leben an Land. Es ist eine Gefahr, die das Leben an Land schätzen und bewältigen lehrt. Es kann auch eine Strafe dafür geben, dass man das Meer herausgefordert hat und zu viel Handel treiben, zu weit zu reisen wollte. KLUGE: Diese menschliche Maßlosigkeit wird durch Poseidon gestraft. Wenn die Seele arm geworden ist, wird Odysseus gerettet. SPRENGER: Eine Umdeutung dieses Bildes der Schifffahrt und des Schiffbruchs sieht Blumenberg in der Aufklärung, also ab Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, wo der Wagemut als Preis für ein besseres Leben und für eine bessere Erkenntnis belohnt wird. Wirf Dich ins Meer, reise, erfahre, experimentiere, erforsche das Unbekannte. KLUGE: Entkomme dem Moloch Land. SPRENGER: Das wäre die umgekehrte Richtung. Die Aufklärung erleidet ihren Schiffbruch in der Französischen Revolution. Den Aufklärern wird nachgewinkt von denen am Strand, für die sie aufbrechen und ein besseres Leben erforschen. Blumenberg hat ein Pascal-Zitat an den Anfang seines Essays gesetzt: »Vous Þtes embarqu8«, »Sie sind eingeschifft«. Man ist immer schon eingeschifft, auch wenn man sich einbildet, an Land zuzuschauen. KLUGE: Friedrich Schiller hatte für den Silvestertag von 1799 auf 1800 ein Stück vor: Das Theater wird umgebaut in ein Schiff. Die Zuschauer und die Schauspieler beladen das Schiff. Der Ursprung der Vernunft kommt aus der Beladung eines Schiffes. SPRENGER: Alles muss festgebunden werden auf einem Schiff. Was macht man aus den Trümmern eines Schiffbruchs? Werden die an Land aufgelesen oder gibt es dort niemanden mehr und man muss auf See aus den Trümmern des eigenen Schiffes versuchen, etwas Neues zu bauen. Das ist für Blumenberg das Bild der nachrevolutionären Moderne. Wie können wir aus den Trümmern ein seetüchtiges Schiff bauen? KLUGE: Das wäre dann ein Floß. SPRENGER: Das ist ein Bild, an dem Blumenberg sein Modell glaubhaft machen kann. Es gibt ein Bild von 1819 von G8ricault, welches die Medusa darstellt. Das ist für Blumenberg das Bild dieser nachrevolutionären Gesellschaft, die sich haltlos auf einem Floß treibend sieht.
Ulrike Sprenger über die Costa Concordia und ein Buch von Hans Blumenberg
37
KLUGE: Ein Kriegsschiff ist untergegangen und eines der Rettungsfahrzeuge ist das Floß der Medusa. Da bricht Kannibalismus aus. SPRENGER: Die Medusa hat eine interessante Geschichte, insofern es sich auch um eine Kriegs- und Kolonialgeschichte handelt. Die Medusa ist ein Schiff, das nach den napoleonischen Kriegen, also 1816, die erneute Übernahme des Senegal durch die Franzosen bewerkstelligen soll. Es befinden sich auf diesem Schiff Soldaten der Afrika-Truppe, auch einige Frauen, die ihre Männer begleiten. Es befindet sich der zukünftige Statthalter dort. Es ist ein Schiff, das schon als kleine Kolonie aufbricht und im Zeichen der Kolonialisierung etwas Neues stiften soll. Der Kapitän ist eine fragwürdige Gestalt, weil er ein Karrierist der Restauration ist. Man hat die unter Napoleon hervorragend ausgebildeten Marineoffiziere entlassen. Der Kapitän hört nicht auf die Warnungen seiner erfahreneren Besatzung. SPRENGER: Die Besatzung sieht plötzlich Algen und Fische im Wasser, alles Zeichen dafür, dass das Land zu nahe ist. Der Kapitän reagiert aber nicht, sondern setzt seinen Kurs durch und das Schiff strandet. Es gab einige Rettungsboote, aber eben nicht genügend für die gesamte Besatzung, so dass etwa 200 Leute keinen Platz auf den Rettungsbooten fanden. Da macht der Kapitän abermals eine ständisch gedachte Entscheidung. Er schickt vor allem die Soldaten auf das Floß. Es wird ein Floß zusammengezimmert aus Materialien, die auf dem Schiff zu finden sind, vor allem Planken und Masten. KLUGE: Für Blumenberg ist das eine Metapher für ein Staatswesen, ein Staatsschiff. SPRENGER: Die Führung setzt sich ab in den wenigen Booten. Sie erreichen die Küste, man hat Angst vor afrikanischen Stämmen. Auf der einen Seite das Meer, auf der anderen Seite ein unbekanntes Afrika. KLUGE: Wohin navigieren die jetzt? SPRENGER: Die Soldaten werden auf dieses Floß gesetzt. Zunächst ist der Plan, dass das Floß von drei bis vier Rettungsbooten geschleppt wird. Das Floß ist riesig groß, aus schwerem Holz und es hat keine Auftriebskörper. Daran hatte man nicht gedacht. KLUGE: Das musste öfter vorkommen, damit man Erfahrung gewinnt. SPRENGER: Es fing schon an zu sinken, als die ersten das Floß betraten. Sie standen schon bis zum Bauch im Wasser, als das Floß noch nicht losgefahren war. Manche weigerten sich, das Floß zu betreten. Die wurden getötet, hatten keine Chance, in die Rettungsboote zu kommen. KLUGE: Die Boote zogen das Floß. SPRENGER: Als es aber schwerer wurde und die Boote aufgrund der Nähe bei dem Abschleppvorgang zu kollidieren drohten, entschied man sich, die Leinen zu kappen. KLUGE: Da ist aber kein besonderer Sturm?
38
Ten to Eleven vom 18. Juli 2016 (Kluge / Sprenger)
SPRENGER: Nachdem eine Leine gekappt war und man nicht wusste, wie man die Verbindung zu diesem Floß technisch wiederherstellen soll, so dass es in die richtige Richtung gezogen werden konnte, gab der Kapitän den Befehl zum Kappen der Leinen. Es waren zuletzt 150 Menschen auf dem Floß. 15 haben die folgende Irrfahrt die Küste entlang und das Stranden an der Küste überlebt. Es ist eine Handvoll von den 150 Leuten übrig geblieben, die noch berichten konnte.
Rolf G. Renner
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau*
»Die Eroberung des Weltraums brachte der Menschheit wenig Glück« heißt es lapidar im Vorspann zu Alexander Kluges Der große Verhau.1 Offensichtlich weist diese Formel darauf, dass es diesem Film keineswegs darum geht, die Erwartungen des zeitgenössischen Publikums an die Gattung des Science-Fiction-Films zu erfüllen, nicht zuletzt deshalb hat Kluge einen Selbstkommentar vorgelegt, der sich wie ein Bauplan und eine Rezeptionsanleitung zugleich für sein Filmprojekt liest.2 Schon formal fällt auf, dass er diese »Informationen« nicht nur mit einer Inhaltsangabe seines Films verbindet, sondern ihnen zugleich zwei theoretische Texte an die Seite stellt.3 Es handelt sich um einen Auszug aus Baran/Sweezys Schrift Monopolkapital von 1967 und um eine Textpassage mit dem Titel Was ist Wissenschaft? aus Alexander Bogdanows Publikation Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse, deren Erstauflage 1920 erscheint. Wenn Kluge in einem ebenfalls veröffentlichten Interview davon spricht, dass er zwar nichts über die Technik des Jahres 2034 wisse, wohl aber ein »gesellschaftliches Modell« entwickeln könne, bezieht er sich nicht nur ausdrücklich auf den Text von Baran und Sweezy ; er deutet auch an, dass eine Parallele zwischen dem Modellcharakter gesellschaftlicher Theorien und dem fiktionaler Texte und Filme besteht. Bei den Theoretikern des Monopolkapitals ist die Möglichkeit dieses Transfers bereits angedacht, dort heißt es: »Ein Modell ist notwendigerweise unrealistisch, wenn man das Wort so versteht, wie es all* Der Aufsatz folgt den Argumentationslinien eines Vortrags von Kaspar Renner, der unter dem Titel »Zum Verhältnis von Science-Fiction und ökonomischer Modellbildung in Alexander Kluges ›Der große Verhau‹ (1971)« im Rahmen der Tagung »Poetiken des Unwahrscheinlichen. Alexander Kluges Geschichte(n)« an der Humboldt-Universität Berlin vom 14.–15. 12. 2012 gehalten wurde. Kaspar Renner danke ich für viele Hinweise und eine intensive Diskussion zum Thema. 1 Der große Verhau, R.: Alexander Kluge, BRD 1971, edition filmmuseum 22, München 2007. Im Folgenden: Verhau, DVD. 2 Alexander Kluge, »Informationen«, in: internationales forum des jungen films, berlin 27.6.–04. 07. 1971, o.S.; der Text wurde von mir in Spalten eingeteilt, hier Sp. 1–5. 3 Ebd., Sp. 5–7.
40
Rolf G. Renner
gemein gebraucht wird. Trotzdem, wenn das Modell gut ist, liefert es in einem widersprüchlichen Sinne den Schlüssel, der zum Verständnis der Realität nötig ist.«4 Vieles spricht dafür, dass Kluge diesen Überlegungen folgend das ökonomische Modell der Theoretiker weniger als Beschreibung der Wirklichkeit ernst genommen, sondern es vielmehr als Script seines Science-Fiction-Films benutzt hat. Bevor ich mich dieser zentralen Thematik zuwende, sollen einige allgemeine Überlegungen vorangestellt werden, die sich auf Entstehungszeit und Präsentationsstrategie von Kluges Film beziehen. Wenn man sich klar macht, in welcher historischen Situation dieser Film entsteht, wird verständlich, warum es dem Autor notwendig schien, die Voraussetzungen und die Besonderheit seines eigenen Umgangs mit der Gattung Science Fiction ausführlich zu erläutern. Berücksichtigt man, dass Der große Verhau 1969 produziert und 1970 uraufgeführt wird, steht der pessimistische Satz, der ihn einleitet, nicht nur quer zu einer realen Aufbruchsstimmung, die sich zu dieser Zeit eröffnet, sondern auch zu den fiktionalen Konzepten, die jene vorbereiten, begleiten und zugleich schon überholen. 1969 gelingen den Amerikanern zwei bemannte Mondlandungen und die von der NASA vorformulierte und nur vermeintlich spontan geäußerte Formel des Astronauten Neil Armstrong, der als erster den Mond betritt, »ein kleiner Schritt für mich und ein großer für die Menschheit« wird zur Signatur einer neuen Zeit, die ungeahnte Perspektiven zu eröffnen scheint. Dabei korrespondiert das Ereignis, dessen mediale Präsentation Millionen in Echtzeit verfolgen, zeitlich der Entstehung eines ganz anderen Echtzeit-Projekts, es ist die Geburt des ARPANET, der Vorform des heutigen Internets. Die Dimensionen von Raum und Zeit scheinen in eine neue Beziehung zu treten, die Bewegung im Raum eröffnet eine Perspektive der Zukunft im Bezirk des Unerforschten; im neuen Kommunikationsmedium dagegen erschließt die Erfahrung der Gleichzeitigkeit eine neue Wahrnehmung der eigenen Gegenwart. Vergleichbares geschieht fast zeitgleich im Raum der ästhetischen Fiktion. 1968 präsentiert Stanley Kubrick mit 2001: A Space Odyssey einen Blick in die Zukunft der Menschheit, der sich der Idee des technischen Fortschritts ebenso unterstellt wie dem Glauben an eine unendliche Evolution.5 In diesem Film sind die Bilder der Vergangenheit und der Zukunft zudem mit filmischen Strategien verbunden, die unterschiedliche Raum- und Zeitsegmente randscharf voneinander abtrennen, aber zugleich innerhalb eines klar entzifferbaren Raum-ZeitKontinuums operieren. Die Gattungsgeschichte der Science Fiction ist seit ihren Vorformen in den 4 Ebd., Sp. 5. 5 2001: A Space Odyssey (1968), R.: Stanley Kubrick, UK/US 2001.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
41
klassischen Utopien mit einer vergleichbaren Koppelung von Raum und Zeit verbunden, Kluges Filmprojekt bezieht sich zwar auf diese, bestimmt sie aber zugleich neu. Mit dem Bildervorrat der Science Fiction präsentiert und subvertiert er deren Leitvorstellungen in einer eigentümlichen Doppelbewegung. Seine eingangs genannte Überschrift simuliert einen Rückblick auf die seinen Zeitgenossen noch bevorstehende Zukunft und zerstört die Vorstellung, dass die Bewegung in den Weltraum der menschlichen Gesellschaft eine sinnvolle Perspektive eröffnen könne. Sinnfällig wird dies einerseits am Beispiel von Kluges Umgang mit den Registern der Gattung Science Fiction und ihrer filmischen Präsentation, andererseits bei seinem Blick auf die Geschichte moderner Gesellschaften und ihre Vergangenheit. Zugleich eröffnet sich ein werkgeschichtlicher Aspekt, denn Kluges experimenteller Umgang mit der Gattung Science Fiction erschließt zunächst vor allem eine Querbeziehung zu anderen Projekten des Autors und Filmemachers. Dabei wäre nicht nur der offenkundige Bezug zum Text der Schlachtbeschreibung von 1964,6 zum Film Willy Tobler und der Untergang der 6. Flotte von 19727 zu nennen, sondern auch der zum vorangehenden Film Die Artisten unter der Zirkuskuppel: ratlos8 mit seiner verunglückten Astronautennummer. Zum Teil agieren dort auch dieselben Schauspieler wie im Großen Verhau. Manfred Peickert aus der Zirkuskuppel begegnet uns beispielsweise auch als Raumfahrer Douglas,9 in diesem erkennt der Zuschauer den Zirkusartisten wieder, in seinem Prokurator den Impresario und die gesamte Belegschaft des Reformzirkusunternehmens kommt mit den Angehörigen der »JointGalactical-Transport-Gesellschaft« der Zukunftswelt zurück. Solche verfremdenden werkgeschichtlichen Wechselbezüge zwischen Texten und Filmen scheinen zunächst wichtiger zu sein als die Orientierung an Grundmustern der Gattung Science Fiction, denen Kluge zunächst mit auffälliger Indifferenz begegnet; lediglich Perry Rhodan und Alexander Bogdanow, der als eine der Leitfiguren des sogenannten »Proletkult«, seine ökonomische Theorie der sozialistischen Utopie dem Film Der rote Planet anverwandelt,10 werden in seinen eigenen Überlegungen kursorisch genannt.11 Später wird sich diese Einschätzung ändern, im werkgeschichtlichen Rückblick der Geschichten vom Kino bezeichnet Kluge den nachfolgen Text der Lernprozesse mit tödlichem
6 Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Frankfurt/M. 1964. 7 Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte. R.: Alexander Kluge, BRD 1972, edition filmmuseum 22, München 2007. 8 Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. R.: Alexander Kluge, BRD 1968. 9 Verhau, DVD, 42:10. 10 Alexander Bogdanov, Der rote Stern, Bremen 2010. 11 Kluge, »Informationen«, Sp. 2.
42
Rolf G. Renner
Ausgang von 1973, dessen Konstellationen in manchen Geschichten des Großen Verhau vorgezeichnet sind, als »Reinschrift [seiner] Science-fiction-Filme«.12
Destruktion der Gattung und filmische Präsentation Kubricks Zukunftsfilm findet seinen beeindruckenden Skopus in einer spektakulären Kamerafahrt, deren fast psychedelische Bewegungsbilder »Jenseits des Sternentors« in eine andere Dimension des Raums und zugleich zurück in eine Zukunft des Protagonisten führen, die mit Bildern der Vergangenheit durchsetzt ist, in eine Zeitschleife also. Dagegen operieren die Bilder von Kluges Großem Verhau von Anfang an auf der Ebene einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In einer fast absurden Vermischung von Bildern und Geschichten einer zukünftigen Welt mit solchen der Gegenwart eröffnen sie auch einen Bezirk des Unwahrscheinlichen. Zum einen sind die gezeigten technischen Objekte der zukünftigen Welt, die Raumschiffe und Raumstationen ebenso wenig wie die Waffen keineswegs futuristisch oder innovativ, weder folgen sie der Ästhetik einer neuen Technik, wie sie im Handbuch der Perry-Rhodan-Welt verzeichnet und bei Kubrick dargestellt ist, noch unterstellen sie sich der bourgeoisen Wohnzimmer-Ästhetik von Raumschiff Orion. Vielmehr ähneln Kluges technische Maschinen der Zukunft eher Schrottinstallationen, die aus Elementen der vordigitalen Welt, aus Transistoren, Röhren, Zylindern oder Kolben zusammengefügt scheinen.13 Das Innere der Raumschiffe erinnert an alte Fabriken oder U-Boote des Zweiten Weltkriegs14 und im »Hirnteil« des großen »Angriffsschlachters« stapeln sich alte Büromöbel und Aktenordner.15 Die Rettungsboote schließlich, in die sich die havarierten Raumfahrer begeben, sind sogar einfache Holzkisten, die einer vorindustriellen Zeit anzugehören scheinen.16 Überdies erinnert der Sound, welcher der Bewegung einiger Raumfahrzeuge unterlegt ist, an einen unrund laufenden Verbrennungsmotor, an ein permanentes »Triebwerk-Husten«, wie es Kluge in einem Kurzfilm der neunziger Jahre beschreiben wird.17 Zum anderen wird im Großen Verhau wie in dem genannten späten Film nicht nur die Idee innovativer Technik systematisch destruiert, konterkariert wird durch die Kameraführung auch die Darstellung der Bewegung, ein zentrales 12 Alexander Kluge, »Roßkur«, in: ders., Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007, S. 276–277, hier S. 277, Anm. 7. 13 Vgl. Verhau, DVD, z. B. 1:29. 14 Ebd., 30:11. 15 Ebd., 22:40. 16 Vgl. ebd., DVD, 1:19. 17 Triebwerk-Husten, R.: Alexander Kluge, DE 1996, edition filmmuseum 22, München 2007.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
43
Abb. 1: Raketen
Register aller Raumfahrtgeschichten. Der Blick des Betrachters wird nicht eins mit der Bewegung der Raumschiffe wie in Kubricks suggestiven Bildern, vielmehr werden diese auffällig häufig wie stillstehende Objekte in starrer Formation gezeigt, hinter denen sich der Weltraum mit seinen Sternen wie ein Laufband zu bewegen scheint. Dem korrespondiert, dass seine Raumfahrer den Raum nur durch die engen Sehschlitze ihrer Schiffe wahrnehmen und dass die Bewohner der bombardierten Zukunftsstadt diesen nur aus dem begrenzten Sichtfeld wahrnehmen, das ihre Bunker ermöglichen.18 Auch die dem Filmzuschauer selten eröffneten Blicke in die Tiefe des Raums bleiben auffällig statisch. Zweifellos eröffnet sich von hier auch ein ironischer Querbezug auf das Medium des Films selbst. Dieser verbindet eine kinematographische Strategie mit der Rekonstruktion einer historischen Präsentationstechnik. Kinematographisch interessant ist die permanente Unterbrechung der fiktionalen Narration durch Textinserts. Weil diese auf einer gedehnten Aufblende in Schwarz erscheinen, inszenieren sie einerseits durch Illusionsbruch ein intellektuelles, andererseits durch die typographische Strategie ein ästhetisches Spiel. Ein vergleichbarer Einsatz der Aufblende lässt sich in vielen experimentellen Filmen, aber auch in Kubricks Odyssey beobachten. Bei Kluge erhält er eine zusätzliche Bedeutung durch ein weiteres Verfahren der Verfremdung, durch die Kombination von theoretischem Text, Gespräch und Szene. Filmgeschichtlich interessant ist, dass Kluges Bildermischung von Industriezeit, Raumfahrt und sozialem Leben andererseits an die Ästhetik von M8liHs’ Mondfahrt erinnert, die sich als Urmuster des Illusionskinos vom dokumentarischen Gestus des Kinos der LumiHres zu lösen beginnt.19 Auf die damit verbundene filmhistorische Diskussion wird Kluge später ausführlich eingehen.20 18 Kluge, »Informationen«, Sp. 3. 19 Le voyage dans la lune, R.: Georges M8liHs, FR 1902.
44
Rolf G. Renner
Dieser Inversion von Raum, Zeit und Bewegung korrespondieren die Situationen, die Kluges Bildsequenzen erzählen. Im Raum der Zukunft erscheinen Szenen der Gegenwart wie der Vergangenheit, es sind nicht nie gesehene Bildwelten der Zukunft, sondern Konstellationen, die sich aus der Verschränkung von individuellen und kollektiven menschlichen Erfahrungen ergeben, zudem handelt es sich meist um eingeschobene Studioaufnahmen, die ebenfalls einen Illusionsbruch innerhalb des fiktionalen filmischen Szenarios darstellen. Dem korrespondiert die kinematographische Strategie des Soundtracks. Die freie elektronische Komposition der Gruppe Amon Düül II, die im Film überdies als sie selbst auftritt, steht in Kontrast zu musikalischen Versatzstücken aus unterschiedlichen Epochen und Gattungen der Musikgeschichte, die zumeist die Tonqualität alter Aufnahmen der dreißiger Jahre nachstellen.21 Von Nationalhymnen bis zu Opernarien, von der Marschmusik bis zur Tanzmusik ist hier alles vertreten. Zudem wechselt die Musik zwischen dem kontrapunktischen, die gezeigte Handlung verfremdenden Einsatz, und der sogenannten mood-Musik, die visuelle und akustische Ebene parallelisiert. In diesem Wechselspiel wiederholt sich die den gesamten Film durchziehende Spannung zwischen Abbildung und Verfremdung, visueller Überwältigung und reflexiver Distanznahme. Aus solchen Spannungen konstruiert Kluge eine »Archäologie der Zukunft«, die zugleich die Vorstellung einer linearen Entwicklung konterkariert. Stattdessen präsentiert sich das Szenario der Zukunftswelt, in einer anderen etymologischen Lesart als der von Kluge nahegelegten wortwörtlichen, als »Großer Verhau«, als eine Überlagerung unterschiedlicher Szenarien und Entwicklungen, die zum Hindernis für jede Zukunft wird, die sich auf Fortschritt gründen will. Kluges Zeitschleife zeigt damit nicht nur eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der harten Fügung unterschiedlicher Zeitebenen, sie markiert auch eine Kippfigur zwischen den Bezirken der Utopie und der Dystopie, die durch Bilder einer sich ins Unendliche verlängernden Gegenwart bestimmt ist.
Archäologie der Zukunft Zentriert wird dieses Verfahren der spielerischen Subversion des Historischen, des Realen und zugleich der Gattung Science Fiction durch eine andere Strategie des Films. Sie zielt darauf, ein Modell zu entfalten, welches ein ökonomisches Funktionsgesetz der Gesellschaft sinnfällig werden lässt. Dabei fällt allerdings auf, dass sich dieser in den Weltraum projizierte Gesellschaftsentwurf ganz 20 Vgl. den Hinweis auf die Theoretikerin Miriam Hansen und ihr Urteil über die Inflation fiktionaler Themen im Film nach den LumiHre. Dazu: Kluge, Geschichten vom Kino, S. 39. 21 Verhau, DVD, 1:18:03; 1:22,41.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
45
entschieden allein auf die Fortdauer und nicht die Entwicklung sozialer und ökonomischer Systeme konzentriert, nicht zuletzt dadurch wird deutlich, dass er sich auch dem politischen Fortschrittsglauben der Achtundsechziger verweigert. Doch das Deutungsmuster, das Kluge der Aufbruchsstimmung am Ende der sechziger Jahre entgegensetzt, erscheint seinen Zeitgenossen keineswegs als reaktionär, obwohl es wie eine »Nachricht aus der ideologischen Antike« anmutet.22 Kluge entnimmt es einer Diskussion seiner Zeit, die in die Anfänge marxistischer Theoriebildung zurückweist. Mit seinem Verweis auf die Macht der Monopole bezieht sich sein Film auf Überlegungen zum Monopolkapitalismus, den Karl Marx als eine historische Phase des Kapitalismus vor allem im dritten Band des Kapitals beschreibt und den Lenin als Merkmal des Imperialismus benennt.23 Die amerikanischen Theoretiker Paul A. Baran und Paul M. Sweezy haben dieses ökonomische Konzept in Übereinstimmung mit einer aktuellen Theoriediskussion kurz vor Kluges Filmprojekt zusammengefasst.24 Dass Kluge ausgerechnet auf dieses Modell zurückgreift, hat gewiss nicht nur darin seinen Grund, dass er seine Bilder und Szenen einem identifizierbaren Szenario zuordnen will. Von größerer Bedeutung dürfte sein, dass er Parallelen zwischen der ökonomischen Modellbildung und der dem Science-Fiction-Film innewohnenden Strategie des Erkenntnisgewinns erschließen und bewusst machen möchte. Denn die Theorie des Monopolkapitalismus erhebt als Element des wissenschaftlichen Marxismus einen Deutungsanspruch, der sich in der Gattung Science Fiction mit der Koppelung der Begriffe von Wissenschaft und Fiktion zunächst durchaus wiederholt. Beide Textgattungen sind damit im Innersten miteinander verwandt, doch in ihrer Reichweite zugleich unterschieden. Während sich die ökonomische Modellbildung als wissenschaftliche Beschreibung einer Wirklichkeit versteht, deren Entwicklung gesetzmäßig verläuft, verwendet die Textsorte Science Fiction, sofern sie die bloße Erfindung imaginärer Welten überschreitet, den Term Wissenschaft in einem eingeschränkten Sinn. Diese dient ihr als Möglichkeit, zunächst technische, dann aber auch gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen zu extrapolieren. Damit zielt die avancierte, wesentlich von Darko Suvin und Stanisław Lem geprägte Variante der Gattung auf die Entfaltung eines »cognitive estrangement«, einer »er22 Vgl. dazu später das Projekt einer Verfilmung des Kapitals: Nachrichten aus der Ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital, R.: Alexander Kluge, DE 2008. 23 Vgl. dazu Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 25, Berlin (DDR) 1976, S. 429–450. Vgl. auch Lenins Definition des Monopolkapitalismus in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« von 1916/17, in: ders., Werke, Bd. 23, Berlin (DDR) 1973, S. 271. 24 Paul A. Baran/Paul Sweezy, Monopolkapital: Ein Essay über die amerikanische Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung, Frankfurt/M. 1967, S. 23, 37, 58f.
46
Rolf G. Renner
kenntnisbezogenen Verfremdung«, die sich daraus ergibt, dass bestehende Elemente und Entwicklungen des Realen in die Zukunft weitergedacht und verlängert werden.25 Allerdings erschöpft sich das erkenntnisleitende Potential dieses Verfahrens für Kluges Variante des Science-Fiction-Films nicht in der einfachen Parallelisierung von ökonomischem und fiktionalen Modell, vielmehr werden beim Versuch der Übertragung auch Inkohärenzen offenkundig, welche die Stimmigkeit des ökonomischen und des fiktionalen Abbildungsmodells ebenso infrage stellen wie das Funktionsgesetz der Wirklichkeit, die beide auf unterschiedliche Weise abzubilden versuchen. Gerade darauf weisen die Illusionsbrüche und Verfremdungsstrategien in Kluges Bild-Text-Kombinationen, die der wissenschaftlichen wie der fiktionalen Konstruktion von in sich schlüssigen Zusammenhängen Elemente des Unwahrscheinlichen implantieren. Lenkt man den Blick dagegen auf das innere Gesetz der Modellbildung selbst, so ergibt sich, unabhängig von der Bewertung des jeweiligen Realitätsgehalts, eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der ökonomischen Theorie und der ästhetischen Fiktion, die es Kluge erlaubt, die Versatzstücke der bei Baran und Sweezy entwickelten Theorie in eine Filmerzählung zu übersetzen, deren Figuren die bei den Theoretikern der Ökonomie benannten Akteure des ökonomischen Felds repräsentieren. Weil, wie schon eingangs erläutert, wissenschaftliche Modellbildung und ästhetische Fiktion darin koinzidieren, dass sie mögliche Welten konstruieren, kann Kluge den ökonomischen Text als »Bauplan« seiner fiktionalen Welt lesen. Sein Modell ist die Welt von Krüger 60, ironisch setzt er sein eigenes kreatives Verfahren ins Bild, wenn er am Beispiel des Zusammenstoßes zweier Planeten eine Kosmogonie visualisiert, oder ein Planetensystem mit einem »unwirtlichen«, einem »eisigen« und einem »künstlichen« Planeten beschreibt.26
25 Darko Suvin, Metamorphoses of Science Fiction: On the Poetics and History of a Literary Genre, New Haven 1979. Vgl. »Basically, SF is a developed oxymoron, a realistic unreality, the space of a potent estrangement, validated by the pathos and prestige of the basic cognitive norms of our times« (p. viii) und »a literary genre whose necessary and sufficient conditions are the presence and interaction of estrangement and cognition, and whose main formal device is an imaginative framework alternative to the author’s empirical environment« (S. 8f.). Stanisław Lem hat diesen erkenntnistheoretischen Ansatz paradigmatisch in einigen seiner Science-Fiction-Stories verwirklicht, etwa in: Test. Phantastische Erzählungen, Frankfurt/M. 1975 [1964], aber auch in Die vollkommene Leere, einem Buch mit Rezensionen fiktiver Werke (Frankfurt/M. 1971). 26 Verhau, DVD, 1:50–2:20.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
47
Der Raum der Fiktion Die oben am Beispiel der Ökonomie dargestellte Interaktion von wissenschaftlichem Modell und Fiktion praktiziert Kluge in verdeckter Form noch an anderer Stelle. Dabei lässt sich sehen, dass das ökonomische Modell, ohne dass dies zur Entstehungszeit des Großen Verhau explizit gemacht würde, von Anfang an mit einem zweiten wissenschaftlichen Modell, diesmal einem astrophysikalischen, konkurriert, das im Nachhinein den medientheoretischen Subtext erklärt, der den Großen Verhau offensichtlich von Anfang an als Denkmodell prägt. Manches spricht dafür, dass Kluge Jahre später in seinem Essay »Der Kosmos als Film«, den er in seine Geschichten vom Kino aufnimmt, das theoretische Modell für die Strategie seines frühen Science-Fiction-Films nachzuliefern versucht und damit eine werkgeschichtliche Linie offenlegt. Er zitiert dort eine 1846 publizierte Studie von Felix Eberty, die unter dem Titel Die Gestirne und die Weltgeschichte die These vertritt, dass auf Lichtjahre von der Erde entfernten Himmelskörpern Blicke in die ferne vergangene Geschichtszeit der Erde möglich seien. Die Weltgeschichte sei deshalb als eine »bewegte Bilderfolge« im Kosmos unterwegs, der Weltraum sei, so Eberty, »ein ›ewig unverwüstliches und unbestechliches Archiv der Bilder des Vergangenen‹«.27 Kluge geht zwar auch darauf ein, dass Albert Einstein 1923 in seiner Einleitung zur Neuauflage des Buches von Eberty darauf hinweist, dass selbst ein Zeitreisender infolge der konstanten Lichtgeschwindigkeit dieses »kosmische Universalkino« nie wahrnehmen könne, ein Sachverhalt, der natürlich auch für die Bewohner von Krüger 60 gilt. Doch Einsteins Kritik stellt Kluge die physikalische Annahme der »negativen Energie« entgegen, die in der Lage ist, eine Information entgegengesetzt zur Richtung des Lichtstrahls zurückzutragen.28 Diese zugleich eigenwillige und spielerische Lesart einer wissenschaftlichen Theorie wiederholt Kluges Umgang mit dem ökonomischen Modell von Baran/ Sweezy und dem bolschewistischen Theoriekonzept von Bogdanow. Es zeigt sich, dass er das theoretische Modell der Astrophysiker nicht nur berichtet, sondern dass er es im gleichen Zug, nicht anders als zuvor die ökonomischen Modelle, einer metaphorologischen Lesart unterzieht. Keine Frage, dass für ihn nicht der Kosmos, sondern das Kino das Archiv historischer Bilder bereitstellt und kein Zufall, dass er über Flammarions Idee eines Sterns mit einer lichtempfindlichen Oberfläche zur Aufzeichnung von Bildern der Geschichte vor allem deshalb berichtet, weil er diese zugleich als Metapher für die filmische
27 Kluge, »Der Kosmos als Kino«, in: ders., Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007, S. 44–47, hier S. 44. 28 Ebd., S. 45f.
48
Rolf G. Renner
Aufzeichnung liest.29 So wird auch hier im Zusammenspiel von wissenschaftlichem Essay und filmischer Fiktion deutlich, dass das Szenario des ScienceFiction-Films die Möglichkeit gibt, eine poetologische Grundfigur als Geschichte darzustellen.
Abb. 2: Krüger 60
Im Rückblick erscheint es deshalb keineswegs zufällig, dass Kluge als Handlungsort des frühen Zukunftsfilms die Planetenkonstellation von Krüger 60 wählt, in der Astronomie auch als DO Cephei bekannt, die sich 13,15 Lichtjahre von der Sonne entfernt befindet. Im Umfeld von zwei Sonnen, die als Krüger A und B bezeichnet werden und die mit der im Film dargestellten Raumfahrttechnik für den Menschen gewiss unerreichbar wären, präsentiert Kluge Bilder, die einer vergangenen Zeit anzugehören scheinen und in der Konfrontation mit dem Zukunftsszenario dem Rezipienten zunächst unwahrscheinlich anmuten. Es ist ein inszenierter Fernblick durch Raum und Zeit zugleich, der durchaus einem geläufigen Thema der Science Fiction korrespondiert und gleichzeitig deutlich macht, wie sich das Medium Film die Bilder der Geschichte anverwandeln kann. Für alle diese Querbezüge zwischen wissenschaftlicher Modellbildung und Fiktion gilt: es ist kennzeichnend für Kluges filmische Strategie, dass er den theoretischen Diskurs nicht allein aufnimmt und funktionalisiert, sondern dass er ihn zugleich transformiert und überzeichnet. Sowohl das ökonomische als auch das astrophysikalische Modell sind nichts anderes als ›herabgesunkene Welterklärungsmaschinen‹, welche die Realität nicht angemessen beschreiben können. Nicht zuletzt dadurch wird auch der Fiktion ein neuer Raum eröffnet; am Ende einer Fahrt durch Raum, Zeit und Theorie hat nichts anderes Bestand als deren Fähigkeit der Subversion. Jetzt wird deutlich, dass Kluges bewusste 29 Ebd., S. 47.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
49
Nonchalance im Umgang mit den Registern der Gattung konsequent auf die Befreiung eines »Eigensinns« des Privaten ebenso zielt wie auf die sinnliche Erfahrung, die immer »die von einzelnen Menschen« ist.30 Zugleich geht es ihm um die Vermittlung »zwischen unmittelbarer, sinnlicher Erfahrung, die das einzige ist, was wir haben, und der gesellschaftlichen Erfahrung, die dasjenige ist, was wir brauchen«. Diese Vermittlung ist für Kluge »das eigentlich aktuelle Thema der heutigen ästhetischen Produktion«, die er als »organisierte menschliche Erfahrung« bezeichnet.31 Statt ein moralisches oder politisches Urteil abzugeben oder sich im freien Spiel der Fiktion von der Realität zu entfernen, soll der Zuschauer »mit Hilfe des Films seine eigenen Erfahrungen reicher machen.«32
Der Widerstand des Systems Es wurde bereits deutlich gemacht, dass selbst die realistisch erscheinenden Bilder und Szenen in Kluges Film niemals voraussetzungslos sind, vielmehr fungieren sie zumeist auch als Illustrationen des theoretischen Modells des Monopolkapitalismus, das die Abbildung und Wahrnehmung von Wirklichkeit bestimmt. Dabei lässt sich sehen, dass Kluge die bei Baran/Sweezy als »Räuberbarone«, »Moguln« oder »Tycoons« benannten Akteure in eigene Figuren verwandelt und damit den im theoretischen Modell zentralen Widerspruch zwischen dem Reichtum der Ressourcen und der real existierenden Armut, der sich in den Lebens- und Arbeitsbedingungen zeigt, seiner erfundenen Zukunftswelt einschreibt. Kluges Sternenraum ist schon deshalb kein Raum der freien Expansion, weil er bereits zu einem geschlossenen Verwertungsraum geworden ist, zum Verfügungsraum einer Monopolgesellschaft, die das gesamte Transportwesen kontrolliert und die Sterne allein nach ihrem möglichen Ertrag bei der Ausbeutung klassifiziert. Zudem lebt sie von der Ausbeutung »lebendiger Arbeit«, der Tätigkeit von Kleinunternehmern. Kluge nennt dieses Monopol die Suez-KanalGesellschaft und zitiert dabei jene historische Phase des Kapitalismus im 19. Jahrhundert, die zur Herausbildung großer Monopole geführt hat.33 Es ist
30 Kluge, »Zwei Bayern im Weltraum. Fragen von Florian Hopf«, in: internationales forum des jungen films, Berlin 27.6.– 04. 07. 1971, H. 12, Sp. 7–9. 31 Ebd., Sp. 7. 32 Ebd., Sp. 9. 33 Bei der Compagnie universelle du canal maritime de Suez, die durch Ferdinand de Lesseps gegründet und vom ägyptischen Vizekönig Muhammad Said lizenziert wurde, handelte es sich um eine Aktiengesellschaft, die den Suezkanal von 1859 bis 1869 baute und bis zu seiner
50
Rolf G. Renner
charakteristisch, dass er damit eine Zukunft darstellt, die als Fortschreibung der Vergangenheit seine eigene Gegenwart in den sechziger Jahren überdauert, indem sie unter den Bedingungen des Spätkapitalismus eine Konstellation des Frühkapitalismus weiterführt. Über die Suez-Kanal-Gesellschaft heißt es, dass sie nach sieben Revolutionen und sechs galaktischen Kriegen entstanden sei und zynisch genug hat ausgerechnet dieser Gewinner einer ökonomischen Auseinandersetzung, die nicht gewaltfrei von statten ging, jetzt sogar die »Ressorts Friedensforschung, Frieden, Fortschritt, Reform, Revolution in Monopolregie übernommen«.34 Raumfahrt kann unter diesen Voraussetzungen nicht mehr Aufbruch zu Neuem sein, vielmehr ist sie ein Fluchtversuch, der aussichtslos scheint, weil sich der freie Raum zu schließen beginnt. Ausdrücklich heißt es, dass sich das Band der Industrie so schnell ausdehne, dass es niemandem gelinge, ihm zu entkommen.35 Der Mensch lebt auch in der Weite des Raums in der Enge der ökonomischen Zwänge. Thema des Films ist deshalb, so formuliert es Kluge selbst, »der Widerspruch zwischen ungeheurer Weite und großem Reichtum des Weltalls und der besonderen Enge der Verwertungsformen, in denen die Menschen leben müssen«.36 Gleichzeitig zeigt der Film, wie sich neben dem Monopol der Suez-KanalGesellschaft alternative Organisationen und Bewegungen formieren. Da ist zum einen die Gesellschaft der »Joint Galactical Transports«, die mit billigen und schlechten Raumschiffen unterhalb der Rentabilitätsgrenze der Suez-KanalGesellschaft als noch selbständiges Unternehmen operiert. Sie widersetzt sich dem Monopol unter anderem dadurch, dass sie versucht, in den Besitz seiner Geheimunterlagen zu kommen.37 Zugleich wird am Beispiel dieser Gesellschaft deutlich, dass die Dynamik des Kapitalismus aus einer Risikoverteilung hervorgeht, die vor allem die Kleinunternehmer gefährdet; diese gehen entweder unter oder sie werden am Ende aufgekauft, ihr Freiraum besteht nur innerhalb eines begrenzten Zeitfensters der ökonomischen Entwicklung. Gerade sie unterliegen dem Gesetz der »kreativen Zerstörung«, das Kluge an Schumpeters Überlegungen fasziniert. Nach dem ökonomischen Scheitern dieser Gesellschaft werden ihre Schiffe eingestampft und aus ihrem Material neue Schiffe gebaut.38 Nichts anderes geschieht im militärischen Bereich: Schon beim Bau des großen »Angriffschlachters« ist auf der Werft der Vertreter einer Schrottfirma dabei und
34 35 36 37 38
Nationalisierung durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser am 26. Juli 1956 betrieb. Verhau, DVD, 1:12:09. Ebd., 3:31. Kluge, »Informationen«, Sp. 3. Verhau, DVD, 1:19. Ebd., 1:14:50.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
51
auf die Aufklärung der Ursachen der Havarie des Raumschlachters wird wegen der Verwertungsinteressen dieser Firma verzichtet.39
Der Eigensinn des Einzelnen40 Daneben zeigt der Film auch Einzelne, die versuchen, sich dem »System der Lohnabhängigkeit auf Krüger« zu entziehen.41 Allerdings können sie die Macht der Monopole ebenfalls nicht brechen, nie stellen sie das Gesamtsystem in Frage, vielmehr stabilisieren sie dieses sogar durch ihr egoistisches Handeln. Ausdrücklich formuliert Kluge in einem Interview, dass die Kleinunternehmer die »Pioniere für die Weiterentwicklung der Monopole« seien. Aus dieser Dialektik ergibt sich zugleich, dass sie zwar für die Monopole nichts anderes sind als die Objekte einer »Verwertungsgesellschaft Mensch«,42 doch zugleich praktizieren sie selbst eine Strategie der Verwertung, die andere Menschen nicht respektiert. Zu nennen sind hier vor allem Vinzenz und Maria Sterr, die als »Akkumulateure« ein eigenes System der Ausbeutung entwickelt haben. Sie bringen durch falsche Signale Raumschiffe zum Absturz und schlachten sie aus, einen Teil des Beuteguts treten sie an die Banken, einen anderen an die Rebellen ab, um sich vor deren Zugriff zu schützen, den Rest der Beute lagern sie auf einem Asteroiden.43 Es ist gewiss kein Zufall, dass sie mit dem marxistischen Terminus der »Akkumulateure« zunächst auch als Einzelne dem System der Ausbeutung zugerechnet werden. Als Flüchtlinge vor dem Monopol zeigen sie die gleiche Härte, die dieses anderen zumutet; ihre psychische und moralische Disposition scheint das erkenntnistheoretische Grundaxiom des Marxismus zu bestätigen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Auch für sie gilt der defaitistische Satz der Bewohner in der Hauptstadt der Galaxis: »Wir wollen das an sich nicht mitmachen, aber wir kennen nichts anderes seit wir leben.«44 Doch obwohl die Sterrs die ökonomische Ordnung, der sie sich zu entziehen versuchen, letztlich stabilisieren, lenkt Kluge an ihrem Beispiel auch den Blick darauf, dass der »Zaun des Systems« nicht ganz bis zum Boden reicht.45 Durch ihre Präsentation als bayerisch sprechende Laiendarsteller, deren Sprachduktus an Karl Valentin erinnert, möchte man Vinzenz und Maria keineswegs zutrauen, 39 40 41 42 43 44 45
Ebd., 11:27, 12:32. Vgl. dazu Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 765–767. Verhau, DVD, 38:17. Kluge, »Zwei Bayern im Weltraum«, Sp. 7. Verhau, DVD, 27:38–36:00; 39:00; 1:01:20. Ebd., 1:21:20. Kluge, »Zwei Bayern im Weltraum«, Sp. 8.
52
Rolf G. Renner
dass sie sich mit einem gekauften Raumschiff im ökonomischen Verteilungskampf mit den herrschenden Monopolen behaupten können. Gekleidet wie Kleinbürger gehen sie zwischen Kaffeemühlen und Einmachgläsern, bisweilen auch in einem Wohnzimmer mit dem Design der sechziger Jahre46 ihrer kriminellen Tätigkeit nach, sie bereiten ihre »Ware« für den Hehler vor, erörtern ihr Verhalten innerhalb des Systems und fälschen dabei mit größter Selbstverständlichkeit Urkunden und Pässe.47 Doch nicht allein äußerlich erscheinen die Figuren der Sterrs irritierend sowohl im Kontext des ökonomischen Modells als auch in der fiktionalen Zukunftswelt. Ihre eigentliche Störung der Kohärenz beider Weltentwürfe beruht darauf, dass sie im Innern der Systeme zugleich deren Inversion einfordern. Den fiktionalen Weltentwurf stören sie dadurch, dass sie durch Figurenzeichnung und Sprache wie aus der Zeit gefallen erscheinen und als »Trickster« fungieren. Den ökonomischen Entwurf stellen sie dadurch infrage, dass sie in seinem Innern zugleich eine Gegenkraft entfalten. Selbst da, wo sie mit ihm kompatibel erscheinen, fordern sie explizit ein, was diese Ordnung dem Menschen verweigert. Sie weisen darauf hin, dass sie sich in einem »dem System der Lohnarbeit entsprechenden System« befinden und »jetzt noch verpflichtet [sind] zu arbeiten«. Ihre Tätigkeit bezeichnen sie als einen Kampf »für die Gerechtigkeit«, sie wollen »als Menschen leben und behandelt werden«,48 es scheint als verkörperten sie das Prinzip »lebendiger Arbeit«.49
Abb. 3: Die Sterrs
46 47 48 49
Verhau, DVD, 37:37. Ebd., 35:42; 51:25. Ebd., 38:30. Ebd., 43:30. Vgl. auch: Alexander Kluge/Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981, S. 198, 465.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
53
Allerdings ist diese Position in Kluges Film eigentümlich gebrochen. Denn zugleich muss festgehalten werden, dass der Widerstand gegen die Macht des Systems, den die Sterrs leisten, eben keine neue gesellschaftliche oder moralische Ordnung hervorzubringen vermag, sondern nur eine Gegenbewegung innerhalb des bestehenden Systems darstellt. Im Verhör bei der Raumpolizei zeigen die beiden kein Schuldbewusstsein; hält man ihnen vor, dass ihre Pässe gefälscht sind, so antworten sie nur lapidar, dass sie ja auch noch andere hätten und weisen darauf hin, dass es »da droben« ohnehin »kein Gesetz« gebe.50 Sie fordern ihren Freispruch und schreiben in einer Protestnote an den Präsidenten der Republik, dass ihre Tätigkeit als Akkumulateure dem allgemeinen Gesetz der Akkumulation entgegenarbeite, dass sie dem herrschenden Elend, der Arbeitsqual und Sklaverei »Anti-Elend, Anti-Arbeitsqual und Anti-Sklaverei« entgegenzusetzen versuchten.51 Doch gerade so zeigt sich noch im individuellen Widerstand gegen das System dessen durchgreifende Gewalt. Während im »Eigensinn« einzelner die Möglichkeit seiner Überwindung aufscheint, bleibt es von diesem doch in letzter Konsequenz unberührt. Die marxistische Gewissheit vom dialektischen Bewegungsgesetz der Geschichte wird ebenso enttäuscht wie das Vertrauen auf die Selbstbestimmung des einzelnen. Offensichtlich zielt Kluge darauf, gerade diesen Sachverhalt »sinnlich erfahrbar« zu machen; ausgehend von dieser Konstellation soll der Zuschauer seine eigene Situation »politisieren« und deuten können. Auch andere Figuren, die sich an den Rändern des großen Konflikts zwischen Monopol und Kleinunternehmen dem System zu entziehen suchen, unterstehen dieser Dialektik. Neben den Siedlern, die auf der Suche nach »familienfreundlicher Arbeit«52 erkennen müssen, dass Industrie und Monopolgesellschaft selbst in die »Randzonen der Galaxis«53 vorgedrungen sind, erfährt dies vor allem der Raumfahrer Douglas. Sein individueller Widerstand gegen das Monopol der Suez-Kanal-Gesellschaft besteht zunächst darin, dass er für die JointGalactical-Transport-Gesellschaft fliegt, allerdings findet er sich dort selbstentfremdet in einem Arbeitsverhältnis wieder, das ihm nach neun Monaten Arbeit lediglich »7 Tage konzentrierte Freizeit«54 gewährt. Er will diese Zeit zusammen mit Fräulein Silvie Szeliga in der engen Kapsel eines Luxusraumboots genießen. Doch die bunten Bilder des Fräuleins werden von Anfang von der Musik von Marieta no seas coqueta begleitet, einem der berühmtesten Volkslieder mexikanischen Revolution, das bei aller Heiterkeit vor allem von der 50 51 52 53 54
Verhau, DVD, 57:20. Ebd., 56:00; 1:01:59. Ebd., 3:02. Ebd., 51:09. Ebd., 1:06:40.
54
Rolf G. Renner
Schlechtigkeit der Männer handelt, und am Ende verwandelt sich das erotische rencontre in ein regressives Zerstörungsspiel. Nicht lange zuvor hatte Douglas, gelangweilt von seinem langen Flug, eine Bodenstation »beleuchtet«,55 mit Bomben zerstört, und ein anderes Handelsschiff abgeschossen.56 Sein individueller »Eigensinn« äußert sich allein noch in einer eigentümlichen Mischung von Aggression und Regression. Auffällig dabei ist, dass beide als ebenso grundlos wie ziellos erscheinen. Die Zerstörung der Bodenstation erfolgt »Weihnachten im Mandelsystem« und kurz nachdem dort die Klänge von Stille Nacht, heilige Nacht zu hören waren. Das regressive Spiel, bei dem eine Porzellanfigur zerstört und Einmachgläser über Daunenfedern gekippt werden, geht unmittelbar aus einer erotischen Szene hervor. Der Widerstand des Piloten kann die Entfremdung, die er in seiner besonderen Form von Lohnarbeit erfährt, nicht überwinden, sondern in der Ziellosigkeit seines Verhaltens nur reproduzieren. Ohne klare Vorstellung von dem, was er eigentlich will, ist er allein davon geleitet, dass er »mehr Wut im Bauch« hat, »als man nach Krüger 60 importieren darf«;57 zur Konstruktion einer privaten Alternativwelt, wie die Sterrs sie sich schaffen, fehlt ihm die Perspektive, selbst für eine private Utopie bleibt kein Raum.
Das Ende der Utopie Eine ganz andere Alternative jenseits des Systems der Ausbeutung eröffnet der Raumfahrer Hunter, der nach seinem Abschuss durch die Krügerflotte als der »letzte Amerikaner« bezeichnet und verewigt wird.58 Sein Flug im Weltraum steht offensichtlich ganz im Zeichen der Selbstbestimmung, er folgt dem modernen Science-Fiction-Thema einer Fahrt in das Neue und die Zukunft und schließt sich dabei an ein traditionelles historisches Muster an. Seine Bewegung in den »outer space« korrespondiert dem alten Schema »exploring the West«, das mit der Expansion und Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert verbunden war.59 Es scheint kein Zufall, dass es Hunter selbst ist, der diesen Zusammenhang als linear verlaufende Geschichte erzählt. Dabei deutet er seinen Raumflug als konsequente Fortführung der »Go West«-Bewegung des amerikanischen settlement, die einst durch den »great desert« nach Kalifornien führte.60 Mit der Formel »so it continues« glaubt er diese Bewegung 55 56 57 58 59 60
Ebd., 49:15. Ebd., 1:03:20. Ebd., 46:53. Ebd., 1:26:31. Ebd., 1:23:46. Ebd., 1:22:41.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
55
in den Weltraum verlängern zu können.61 Doch dass auch diese Figur eigentümlich aus der Zeit gefallen ist, allerdings auf ganz andere Weise als die Sterrs, zeigt sich daran, dass sie auf eine Ordnung vertraut, die längst nicht mehr gilt. Die Landeerlaubnis, die Hunter auf Krüger 60 erbittet, erfolgt im Vertrauen darauf, dass seine Neutralitätserklärung akzeptiert wird62 und seine multilingual übermittelte Anweisung an den Chefkoch des Staatspräsidenten für die Speisenfolge zu seinem Empfang beschwört eine längst untergegangene bürgerliche Weltordnung.63 Es verwundert wenig, dass dieser letzte Zukunftsgläubige beim friedlichen Anflug auf die galaktische Hauptstadt vernichtet wird, und es ist wohl kein Zufall, dass diese Katastrophe auf den 18. Brumaire 2041 datiert wird. Denn das Datum des 18. Brumaire eröffnet einen Doppelbezug, der zwei bedeutende Wendepunkte der französischen Geschichte markiert, die entscheidende Bedeutung auch für die europäische Geschichte haben. Zum einen erinnert dieses Datum an den Staatsstreich Napoleons, der am 9. November 1799 die Herrschaft des Direktoriums und mithin das Ende der Französischen Revolution zur Folge hatte. Zum andern weist es auf Karl Marx’ Schrift Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte hin, die am Beispiel des Putsches von Louis Bonaparte, der 1851 das zweite Kaiserreich begründete, alle Revolutionen als das Ergebnis von Klassenkämpfen bestimmt.64 Marx’ berühmte Formel aus der Vorrede zur dritten Auflage – »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce«65 – ließe sich deshalb auch auf den Modus der Präsentation von Ereignissen und geschichtlichen Bezügen in Kluges Filmprojekt beziehen. Denn was sich in seinem Weltraum vollzieht, eröffnet immer zugleich einen Geschichtsraum, der einer ökonomischen oder politischen Analyse zugänglich gemacht wird. Seine Besonderheit besteht allerdings darin, dass er Raum der Wirklichkeit und ihrer spielerischen Vernichtung zugleich ist, dass er sich auf historische Figuren, Ereignisse und Konstellationen bezieht und diese zugleich ironisch subvertiert. Der gemeinsame Nenner zwischen beiden Bereichen aber ist, dass sie sich auf katastrophische Entwicklungen beziehen. Das Kino hat, so wird es Kluge später in den
61 62 63 64
Ebd. Ebd., 1:25:50. Ebd., 1:12:58. Karl Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: ders./Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 8, Berlin (DDR) 1974, S. 115–123. 65 Ebd., S. 115.
56
Rolf G. Renner
Geschichten vom Kino formulieren, »alle Unglücke des 20. Jahrhunderts beharrlich begleitet«, es ist »ein Verzeichnis aller Katastrophen«.66 Die besondere Katastrophe von Kluges Krüger-System hat ihren Grund in der engen Verbindung von ökonomischer und militärischer Ordnung. Die 43. Kreuzer-Division schützt die öffentliche Ordnung, Zoll und kleine Banken. Die 44. dagegen ist Schutzmacht der Justiz, Schutzstaffeln sichern die Handelsflotte. Die galaktische Hauptstadt nennt sich »Reichshauptstadt« Eisenstadt und auch der 83. Gardekreuzer, der die Suez-Kanal-Gesellschaft schützt, repräsentiert ein militärisches System, das als Zeit überdauernd erscheint,67 nicht zufällig trägt der Oberbefehlshaber der Flotte den Namen des mittelalterlichen Heroen Dietrich von Bern.68 Ihm entgegen stehen die Aufständischenflotte und die Nomadenflotte;69 es sind Akteure, die wie die Kleinunternehmer Sterr im ökonomischen Modell keine Entsprechung haben, von Kluge aber mit der gleichen Selbstverständlichkeit behandelt werden wie dessen Elemente. Die spannungsvolle Beziehung zwischen dem Rekurs auf ein theoretisches Modell und seiner metaphorologischen Umdeutung wiederholt sich im Bild des »Angriffsschlachters«, von dem es heißt, dass er die »Schutzmacht von Forschung, Lehre und Rüstungswirtschaft« sei. In ironischer Verfremdung spielt Kluge damit auf eine zeitgenössische Diskussion an, die ins unmittelbare Umfeld der Diskussion über den Monopolkapitalismus gehört: die These über die Herausbildung eines industriell-militärischen Komplexes in der Spätphase des Kapitalismus. Geprägt wurde dieser Begriff durch den US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower, der in seiner Abschiedsrede vom 17. Januar 1961 ausdrücklich vor den Verflechtungen und Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes in den USAwarnte.70 Als früherer Generalstabschef der Armee sah Eisenhower in diesem eine Gefahr für die Demokratie, weil seine bloße Existenz die politische Führung dazu bringen könnte, Konflikte eher militärisch als politisch zu lösen. Kluge folgt offensichtlich dieser Überlegung, wenn er eine Zukunftswelt des permanenten Krieges imaginiert, doch andererseits führt er eine neue Perspektive ein. Während die Theoretiker des Monopolkapitalismus die politische und ökonomische Entwicklung als Ergebnis eines Klassenkampfes ansehen, bezieht er sich auf die weniger scharf kodierte Kategorie des Bürgerkriegs. Er ersetzt damit die ökonomische durch eine systemtheoretische Bewertung: »Die Kehrseite einer totalen Beherrschung ist der Bürgerkrieg […]. Das ist ein ge-
66 67 68 69 70
Kluge, Geschichten vom Kino, S. 209. Verhau, DVD, 10:11. Ebd., 10:45. Ebd., 10:11–21. Vgl. Manfred Berg, »Wer ist Herr im Weißen Haus?«, in: Die Zeit, 05. 09. 2008, http:// www.zeit.de/2008/37/Milit-r_-Industriell_-Komplex (Stand: 27. 04. 2016).
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
57
sellschaftliches Gesetz […]. Es enthält aber mehr Erfahrung als George Orwells ›1984‹ […]«.71 Diese Umcodierung zentraler Elemente des ökonomischen Modells des Monopolkapitalismus in der Fiktion wird nicht zuletzt dadurch möglich, dass diese die ihr zur Verfügung stehenden Bildwelten nicht nur abbildet, sondern dass sie diese zugleich reorganisiert. Weil diese Reorganisation aleatorisch verfährt, erhalten die Bilder des Realen einen Doppelsinn, der konservativ und subversiv zugleich ist. Kluge verdichtet diese Doppelbewegung, die dem Medium zur Verfügung steht, im Bild des »Geschichtszerstörers«, einem militärischen Verband, der seinen filmischen Kosmos durchkreuzt.72 Sein Name verweist metaphorisch auf das ästhetische Verfahren des Films selbst, der alle historischen Zeiten seiner »Eigenzeit« anverwandelt. Allerdings zielt diese Anverwandlung keineswegs auf ein unverbindliches ästhetisches Spiel, vielmehr entfaltet sie eine bewusste Negation jeder auf linearen Fortschrittsglauben gründenden Sicht der Geschichte. Dargestellt wird vielmehr eine geschlossene Welt, deren Funktionsgesetz in der »Galaktischen Enzyklopädie« bereits so kodifiziert ist, dass auch ihr »Gegner« lexikalisch definiert werden kann.73 Der Darstellung einer zukünftigen Welt mit der Bilderwelt einer vergangenen Zeit korrespondiert eine andere Strategie von Kluges Film, die noch weiter reicht. Im Zukunftsraum kreuzt die 6. Flotte, zweifellos ein Element, das auf den Tobler-Film vorausdeutet und auf Kluges obsessive Auseinandersetzung mit der Katastrophe von Stalingrad weist. Zudem finden sich in zentralen Szenen Bildsequenzen, die wie Einschlüsse historischer Bilder und Filme erscheinen; gerade sie verleihen den schon oben angesprochenen Bezügen auf die deutsche Geschichte eine noch schärfere Kontur. Kurz bevor die Sterrs aus dem Gefängnis fliehen, sehen sie durch einen Sehschlitz Bilder, die an eine Filmsequenz mit Panzerangriffen aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern. Auf der Tonspur ist gleichzeitig Maschinengewehrfeuer zu hören74 und auch beim Angriff auf die »Reichshauptstadt« Eisenstadt hört man MG-Feuer und die Bombeneinschläge eines vergangenen Krieges,75 der viele Szenen begleitende Funkverkehr entspricht ebenfalls der Technik dieser Zeit.76 In Douglas’ Kampf mit dem Werksschutz sind die Bilder eines Panzers eingefügt, der einen einzelnen Soldaten verfolgt, eine Kriegsszene, die in Berichten aus Stalingrad überliefert wird.77 Rekonstruiert werden zudem ästhetische und 71 72 73 74 75 76 77
Kluge, »Zwei Bayern im Weltraum«, Sp. 8. Verhau, DVD, 11:07. Ebd., 10:58. Ebd., 56:00. Ebd., 1:17:43. Ebd., 40:00. Ebd., 1:15:26, vgl. auch 2:40; 1:16.
58
Rolf G. Renner
ideologische Elemente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Kartenbilder erinnern an taktische Karten78 des Weltkriegs, ein Bild des Oberbefehlshabers an eine Radierung, die faschistischer Ästhetik folgt.79 Nach einem Attentat sind Soldaten in Uniformen des Zweiten Weltkriegs zu sehen und das Zeremoniell für einen getöteten Offizier ist mit einem Trauermarsch und Marschmusik dieser Zeit unterlegt, während sich die Raumschiffe zu einer militärischen Ordnung formieren.80 Schließlich aber wird eine Serie von Bildern hingerichteter Aufständischer gezeigt, die als hingerichtete »Kameraden« bezeichnet werden.81
Rückkehr zum Realen und Fortdauer der Vergangenheit Dass im Zukunftsraum die Bilder der Vergangenheit wiederkehren, bestätigt sich auch im nur ein Jahr später produzierten Film über Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte, der zentrale Motive des Großen Verhaus aufnimmt und weiterführt. Immer noch kreuzt die Geschichtstöterflotte im Raum, kämpft die Flotte von Krüger 60 gegen die Raumschiffe der Aufständischen, ist der gesamte Raum der Zukunft ein Kriegsgebiet.82 Allerdings konzentriert sich dieser Film weniger auf die Beschreibung einer ökonomischen Situation als vielmehr auf eine Darstellung des Raumkriegs, die noch deutlicher als im Großen Verhau durch Hinweise, Parallelen, aber auch authentische Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg strukturiert ist. Diese Zuspitzung hat eine doppelte Richtung. Zum einen verrät sich eine Tendenz zur historischen Konkretion und zur Parallelisierung unterschiedlicher militärischer Abläufe, viele Handlungselemente des Raumkriegs, an dem Tobler beteiligt ist, zitieren Elemente der Stalingrad-Schlacht. So werden, immer wieder unterstützt durch Gefechtskarten, strategische Manöver der »Einkesselung«,83 des »Flankenangriffs«84 und des »Durchbruchs« aus dem Kessel heraus beschrieben.85 Vor allem der Angriff auf Feodor Liedke scheint sich dabei an das historische Ereignis aus dem 2. Weltkrieg anzuschließen.86 Dieses Szenario präsentiert zugleich Bilder, die der Zeit dieses Krieges angehören: Soldaten in 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Ebd., 38:42. Ebd., 10:26. Ebd., 7:00; 7:19. Ebd., 41:30. Vgl. dazu Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 860: »Krieg als Spezialfall von Öffentlichkeit«. Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte, R.: Alexander Kluge, BDR 1972, edition filmmuseum 22, München 2007, 28:27; 38:50. Ebd., 48:08. Ebd., 40:03. Ebd., 50:38–52:38.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
59
den Schneehemden des Heeres,87 ein Volksempfänger,88 Flakgeschütze und ihre Suchscheinwerfer sind zu sehen,89 auch die Fanfaren des Wehrmachtsberichts sind zu hören.90 Präsent ist die Vergangenheit aber auch in anderer Hinsicht, der Film zeigt »Spezialeinheiten«, die Erschießungen und Folter praktizieren91 und er präsentiert Originalfotos von Hingerichteten.92 Zum anderen lässt sich neben der historisch genauen optischen Präsentation die gegenläufige Strategie einer Typisierung von Handlungsabläufen beobachten. Sie schildert Grundsituationen wie »Angriff«, »Durchbruch«, »Verrat«, »Sieg« und »Untergang« so als ereigneten sich diese, ohne dem Entschluss oder der Verfügungsmacht einzelner zu entspringen. Dies ist kein Zufall. Einerseits entwirft Kluges Film dadurch ein entschiedenes Gegenmodell zum heroisierenden Kriegsfilm der nationalsozialistischen Zeit und zugleich zu den im deutschen Film bis in die sechziger Jahre vorherrschenden affirmativen Darstellungen Deutschlands im Krieg. In den Bildern der Zukunft erscheint die deutsche Vergangenheit in anderer Weise und zugleich wird deutlich, wie sehr die Gegenwart von dieser bestimmt ist. Andererseits entzieht sich der Film auch dieser Kontextualisierung. Die Szenen, die er schildert, lassen sich zwar als historische Versatzstücke erkennen, doch sie fungieren immer weniger als Bestandteile einer linear entfalteten Geschichte, die es abzubilden gilt. Vielmehr werden sie im Film zu standardisierten Handlungsfiguren, zu einem konstellativ eingesetzten Spielmaterial, aus dem sich nicht nur andere Geschichten, sondern auch andere Wirklichkeiten zusammensetzen ließen. Diese Doppelstrategie teilt sich auch der Darstellung des Protagonisten Tobler mit. Als Akteur einer Geschichte erscheint dieser zunächst wie ein Mitläufer und Opportunist, der von nichts anderem als eigenen Interessen gelenkt ist. »In extremen Gefahrensituationen ziehe ich mich zurück«93 und »Ich entscheide mich für die Seite der Macht«94 sind die beiden Sätze, die ihn am klarsten zu charakterisieren scheinen. Nach einem Betrug erhält er die Chance, sich militärisch zu bewähren, was ihm auch gelingt. Zum Kommandeur der 6. Zerstörerflottille ernannt, zieht er sich zuerst in einen »Frontbogen« zurück, wo er »von Freund und Feind gleich unerreichbar ist«,95 um dann schließlich zu den 87 88 89 90 91 92 93 94 95
Ebd., 1:06. Ebd., 1:09:31. Ebd., 45:02. Ebd., 48:08. Ebd., 45:30. Ebd., 58:24. Ebd., 1:09:17. Ebd., 1:09:31. Ebd., 37:45.
60
Rolf G. Renner
Aufständischen überzulaufen.96 Nach dem Krieg übersteht er einen Kriegsverbrecherprozess und wird von den Siegern, weil er »im Zentrum bleiben« will, als Pressesprecher übernommen.97 Doch die Sieger ziehen nach hundert Tagen ab, Tobler versucht noch, die ihn belastenden Akten zu vernichten, wird aber gleichwohl wegen Kollaboration angeklagt.98 Allerdings wäre es verkürzt, die Kohärenz dieser Geschichte, die der Film wie einen Lückentext überliefert, überzubetonen. Vielmehr zeigt sich, dass Tobler nicht anders als im Großen Verhau die Sterrs in einem Film, der sich immer mehr in nur noch lose verknüpfte Szenen aufsplittert, zunehmend seine Funktion als Orientierungsfigur verliert und sich in einen »shifter« verwandelt. Zum einen wird er zum Transporteur eines Vokabulars, das dem »Wörterbuch des Unmenschen« entstammen könnte. Prinzipienloses Verhalten bezeichnet er als »Ballast abwerfen«;99 er spricht davon, mit »der Zärtlichkeit des Masseurs Truppen auf dem Gefechtsfeld [zu] bewegen« und lobt die »Kreativität der Kriegskunst«.100 Zum anderen hat man den Eindruck, dass an der Stelle der Figur Tobler immer mehr dessen Darsteller Alfred Edel in den Vordergrund tritt, der sich teilweise aus der Rolle heraus unmittelbar dem Zuschauer zuwendet und dessen immer monomanischere Sprache sich jedem Skript zu entziehen scheint. Was also bleibt? Am Ende eines Wegs, der durch den Weltraum in die Vergangenheit führte und dabei unterschiedliche Elemente der Fiktionalisierung wie der historischen Recodierung benutzte, entfaltet Kluges Film einen spielerischen Umgang mit Elementen der Fiktion und des Realen zugleich, der jede fiktionale Form sprengt und dabei eine neue Gegenwart erzwingt. Was als Scheitern am Muster der Gattung Science Fiction erscheinen mag, ist in Wahrheit eine Freisetzung des Realen, wie sie nur im Spiel oder als eine Satire möglich ist, die tödlichen Ernst entfaltet. Als Tobler »verstehen« zu beginnen glaubt und den einer ganzen Generation eingängigen Satz formuliert »Sadismus wird zu Faschismus«, sieht man nicht nur eine kastrierte Puppe und das Kinderspielzeug eines Blechpanzers; dieser trägt auch die Zahl 62, die Ordnungszahl jener russischen Armee, welche die deutsche Niederlage in Stalingrad vollendete.101 Allein solche spielerischen Verknüpfungen entfalten für Kluge eine Evidenz, die sich auch jenseits der Fiktion, aber niemals allein im Feld der ratio entfaltet. Zugleich eliminieren sie auf radikale Weise alle Orientierungen in Raum und Zeit. »Uns an die Spitze des Feindes setzend kämpfen wir uns
96 97 98 99 100 101
Ebd., 1:00:13. Ebd., 1:10:43. Ebd., 1:13:28–1:14:30. Ebd., 1:08:22. Ebd., 48:50. Ebd., 1:15:33.
Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau
61
rückwärts fechtend vorwärts nach rückwärts«102 ist eine militärische Bewegungsfigur, die auch das Funktionsgesetz von Kluges Film kennzeichnet. Vieles spricht dafür, dass dessen Ziellosigkeit zugleich selbstkritisch der Intelligenz zugeschrieben wird, die ihn hervorbringt. »Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke«103 formuliert Tobler im Film und am Ende erscheint nicht nur ein Raumschiff mit Antennen, die wie Fühler aussehen, sondern auch die eingeblendete Botschaft: »Weiter«. Ein Ende dieser katastrophischen Reise durch die Zeit ist nicht absehbar und eine Zukunft jenseits dieser von Vergangenheit durchwobenen Gegenwart scheint es nicht zu geben.
102 Ebd., 54:15. 103 Ebd., 1:15:52.
Alexander Kluge
Wettersturz im Amt
In der Zeit, als wir Filmemacher uns zu den Dreharbeiten für den Kollektivfilm Deutschland im Herbst aufmachten, veränderten sich (was wir zwar ahnten, aber nicht wußten, unsichtbar für die Öffentlichkeit) in den Justiz-VollstreckungsPolizei- und Überwachungsapparaten putschartig die Verhältnisse. Man kann nicht sagen, daß die Behörden nach »rechts« rückten (sie waren nie links gewesen). Sie trennten sich aber von denjenigen innovativen Gliedern, die in den Jahren nach 1962, also nach Ende der sogenannten Adenauer-Jahre, in Planstellen der Ordnungsmacht eingewandert waren, als eine neue Generation, als Quereinsteiger aus dem liberalen Lager, aus verfassungspatriotischem Elan. Eine Minderheit. Das hatte im Bildungsbereich und in den Parlamenten erst später Folgen. In den Bereichen Justiz und in denen des Innenressorts ereignete sich ein Riß, vergleichbar dem Abstoßungsreflex, den die biologischen Körper gegen fremdes Gewebe ausüben. Gnadenlos. Die Regierungsdirektorin und Chefin einer Vollzugsanstalt für Frauen, die dem genannten Reformflügel angehörte, fuhr in ihrem Privatwagen von Frankfurt am Main zum Justizministerium nach Wiesbaden. Sie mußte warten. Als sie in den Sitzungsraum geführt wurde, sah sie sich einer unerwarteten Gruppierung gegenüber. An der Seite des Referenten, der sie einbestellt hatte, saßen dort der Ministerialdirektor, ein Beamter des BKA, ein ihr unbekannter Dritter, der sich weder mit Namen noch Amtsbezeichnung vorstellte, sowie der Sicherheitsbeauftragte des Ministeriums, der seit einem Monat, ohne mit ihr viel zu sprechen, das von ihr verwaltete Gefängnis inspiziert hatte. Die Kommission konfrontiert sie mit Vorwürfen. Sie habe den Sonderausgang einer Strafgefangenen, die dem Terrorbereich zuzurechnen sei, ohne Fühlungnahme mit dem Ministerium genehmigt. Sie antwortete, die Strafgefangene habe kurz vor ihrer Entlassung gestanden, sie sei nach der Ausführung von dem sie begleitenden Betreuer ordnungsgemäß in die Zelle zurückgebracht worden, das Vertrauen sei berechtigt gewesen. Der Gefängnisleiterin wurde vorgehalten, sie habe nicht bedacht, daß fremde Vollzugsorgane, also Polizisten in der Stadt, die ausgeführte Gefangene hätten erkennen und daraus auf einen Kurs der Auflockerung der
64
Alexander Kluge
Sicherheitsbestimmungen schließen können. Nach etwa zwei Stunden eines solchen Austauschs von Vorhaltungen und Erwiderungen waren die Nerven der Regierungsdirektorin erschöpft. Schon die Tatsache lähmte sie, daß ihr fünf stämmige Männer gegenübersaßen, die sich im Reden abwechselten, während sie stets nur einzeln entgegnen konnte. Nur der Ministerialdirektor und der unbekannte Dritte schwiegen beharrlich (im Werte einer exzessiven Lärmquelle, einem Schrillton). Die »Beschuldigte« saß auf sich gestellt, inzwischen war sie auch hungrig. Die Runde, und jetzt erst äußerte sich auch der Ministerialdirektor, verlangte von ihr die »Zustimmung zur Umsetzung in ein anderes Amt, zum Beispiel zur Staatsanwaltschaft, unter Verzicht auf die Leitung der Frauenstrafanstalt«. Das wollte die Beamtin nicht einräumen. Sie sah, daß die Rotte dieser Putschisten sie dienstrechtlich aus ihrer Planstelle nicht vertreiben konnte. Keiner der Vorwürfe enthielt ein Dienstvergehen, aufgrund dessen eine Dienststrafkammer die Entfernung aus dem Amt bestätigt hätte. Nein, ein Dienstvergehen werde ihr nicht vorgeworfen, jedoch sei sie ein Sicherheitsrisiko. Es ging in jenen Tagen nicht um Rechtsfragen, sondern um einen STAATSNOTSTAND, einen Ausnahmezustand, ausgerufen im informellen Ton der amtsinternen stillen Post, des »stillschweigenden Einvernehmens«, das sich mehrheitlich in den Apparaten ausbreitete. Zerrüttet kam die Gefängnisdirektorin in ihr Amtszimmer zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, daß der Wechsel ihres langjährigen Vorgesetzten im Ministerium ihrer Vorladung vorausgegangen war. Ihm war der Referent gefolgt, der sie herbeitelefoniert hatte; der frühere Chef, der zum Reformflügel in der hessischen Justizverwaltung gehört hatte, war zur Bereitschaftspolizei versetzt und verwaltete dort Decken und Ausrüstungsgegenstände. Die Beamtin schloß die Tür hinter sich, sie drehte den Schlüssel dreifach. Sie wollte auf nichts hören, als auf ihre beunruhigten inneren Stimmen. Den Nachmittag über reagierte sie auf kein Klopfen. In der Abendsitzung der Abteilungsleiterinnen sah sie, als sie hereintrat, ihren Stellvertreter die Leitung der Verhandlung führen. Er sei, sagte er, vom Ministerium direkt autorisiert. Sie setzte sich neben ihn in die Runde. Sie erkannte die Strategie, sie in diesem Hause lahmzulegen: Wenn nur alle Mitarbeiter lange genug beobachteten, daß keine ihrer Anordnungen künftig Deckung durch das Ministerium haben würde, daß durch Direkteingriff alle Zuständigkeiten unterhalb ihrer »Leitungsebene« durch Beauftragte ausgeübt würden, wäre es um ihre Autorität geschehen. Ich sitze als Zuschauerin hier, sagte sie sich. Rat holte sie bei einer Vertrauten, der Frau des früheren Oberlandesgerichtspräsidenten, zugehörig der inzwischen historisch gewordenen Reformclique des Bundeslandes. Wie mitgliederstark und einflußreich war der Freundeskreis noch vor fünfzehn Jahren gewesen! Fritz Bauer, der Vorgesetzte aller Staatsanwälte des Landes, Kultusminister Schütte, Max Horkheimer, Th. W.
Wettersturz im Amt
65
Adorno, Iring Fetscher, ihre Vorgängerin im Amt Helga Einsele – ein Chor der Empörung hätte sich erhoben, eine Sturmbrigade an den Telefonen, sobald eines der Mitglieder des Reformkreises aus dem Apparat angegriffen worden wäre. Das war dahin. Die sich in ihrem Büro eingeschlossen hatte, auf ihr Telefon angewiesen, dachte daran, zu prozessieren. Ilse, so hieß die Vertraute, die sie fragte, riet ihr davon ab. Sie solle sich um ihre Einstufung im Dienstrang kümmern, damit die Versetzung zur Staatsanwaltschaft nicht mit einer Schlechterstellung endete. Warum keinen Widerstand leisten? Will sie das allein bewerkstelligen? Wo ist die Entsatztruppe, welche die »Belagerung der Burg« aufhebt, ehe sie ausgehungert sein wird? Die »Burg« bestand noch aus ihrem Schlüsselbund mit dem Universalschlüssel, einem abschließbaren Direktorenzimmer und der Grußpflicht der Bediensteten. Auch verfügte sie über einige Stempel, die sich auf ihrem Schreibtisch gesammelt hatten und eine Unterschriftsmappe, in der Vorgefertigtes zu unterzeichnen war. Diese Machtbasis war nichts, was sie auf Dauer zu verteidigen gedachte. Nach vier Wochen versuchten Widerstands ließ sie sich ummelden zur Staatsanwaltschaft. Ein heftiges Fieber. Ausschläge an weichen Teilen der Haut. Lange Rekonvaleszenz. In die neue Amtsstelle, das Drogenreferat, gewöhnte sie sich nicht ein. Am Ende verließ sie den Justizdienst überhaupt. Aus dem emanzipatorisch gesinnten Freundeskreis, der sich nie wieder erneuerte, waren Ärzte übrig. Sie bescheinigten ihr Amtsunfähigkeit wegen eines nervösen Leidens, dessen Ursache zwei Jahrzehnte zurücklag. So behielt sie trotz vollständigen Siegs der Putschisten eine Pension, aufgestockt mit Zustimmung des Ministeriums, das sie um jeden Preis loswerden wollte und immer noch eine von ihr ausgehende juristische Intervention fürchtete.
Herbert Achternbusch
Zu Alexander Kluges Die Patriotin
An dieser Stelle mußte ich gestern aufhören, weil wir nach Starnberg fuhren, Alexander Kluges neuen Film Die Patriotin zu sehen. Er läuft sonst noch nirgends. Ich habe selten so einen guten Film gesehen und in seiner Art unvergleichbar. Eine Geschichtslehrerin nimmt die Geschichte wortwörtlich, sie begreift sich als geschichtlichen Ausdruck, von Geschichte bestimmt und selber Geschichte machend, da reicht ihr natürlich nicht das Angebot der staatsrationalen Geschichte. Sie gräbt, sie gräbt auf einem SPD-Parteitag, indem sie die einzelnen Politiker fragt, die sie ja vertreten, sie sagt auch »mein Bundeskanzler«. Auch Kluge gräbt, indem er diesen Parteitag nicht inszeniert, sondern seine Schauspielerin wirklich die Politiker fragen läßt und das live dreht. Sie gräbt in der Geschichte, die auch ihre Geschichte ist, das Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie als Mädchen mit ihrer Mutter im Keller saß. Das Kriegerische entdeckt sie, das Gewalttätige, Zerstörerische, die Macht, den Staat, der allein die Geschichte machen möchte. Daneben findet sie aber das Ohnmächtige, das Märchenhafte, ein ehemaliger Staatsbeamter im hessischen Kultusministerium spricht vom juristischen Standpunkt aus über die Grimmschen Märchen (ich weiß nicht, ob in live), die Brüder Grimm sieht man, wie sie nach den Märchen graben, sie graben wie verrückt in einem Feld danach, die Märchen sind ja Ausdruck des geschichtslosen Volkes, seiner Wünsche, die die Macht vergraben hat, oder die es vor der Macht vergraben hat in Märchen, in den unangreifbaren Traum. Man sieht wunderbare runde Bilder der Laterna Magica und dreckige politische Wirklichkeit, nach dem Sieg der Amis die Erschießung von jugendlichen Wehrwölfen. Zwischen diesen beiden Welten sucht sie, gräbt sie, sie gräbt auch an der Seite des Hauses, in dem sie wohnt, wo sie keltische, römische und Krüge jüngeren Datums finden kann und auch findet. Sie wehrt sich gegen die rein verstandesmäßige Aneignung von Geschichte, indem sie ein Geschichtsbuch zersägt. Verzweiflungstaten mit höchster Lächerlichkeit, was eine Sehnsucht nach sinnlicher Erfahrung wachruft, die man eigentlich schon totgestorben meint, die Sehnsucht. Die Träume müssen doch nicht ein Ersatz sein für eine unmündige Wirklichkeit. Die Wiederverbindung dieser beiden Welten ist eine
68
Herbert Achternbusch
individuelle Leistung. Die letzten Australneger, die in diesem verbundenen Zustand waren, sterben. In uns taucht diese Sehnsucht wieder ganz stark auf, aber die Geschichte ist dazwischen, der Staat ist dazwischen, zwingt zum Imperialismus der Rationalität. Einmal fährt diese Lehrerin durch ihre Großstadt, die filmtechnisch wunderbar gezeigt wird, und weint. Sicher, wenn sie nicht in dieser Geschichte leben müßte, dann gäbe es eine andere, aber in der wäre es vielleicht nicht so hart, ein Individuum zu sein. Aber vielleicht wäre man in einer anderen Geschichte noch trostlos weit davon entfernt, wie heutzutage der normale Mensch, zu merken, zu verstehen, zu spüren, daran zu arbeiten, daß man ein Individuum sein muß. Sie weint. Denn das Individuum ist der Sinn der Geschichte und ihr Ende zugleich. Sie weint. Aber wie diese Frau weint, da bleibt, was ich als Damenfilme bezeichnen möchte, meilenweit zurück. Vielleicht kommt das, weil Kluge mit der Schauspielerin so gut zusammengearbeitet hat, was eben doch mehr ist als ein emanzipatorischer Gestus, der Damenfilme entstehen läßt, die diese Macherdamen eben doch als der rein Märchen erzählenden Sippschaft angehören läßt, eben diesem Erzählkino, wo dir alles vorgemacht wird und du weit davon entfernt bleibst, ein Individuum zu sein. Kluge meinte, daß man 30 Schnittvariationen dieses Filmes machen könnte und der Zuschauer würde es nicht merken, aber er hat mit seiner Schnitterin eben diese Version gewählt, weil sie ihnen am stärksten erschien, ohne genau sagen zu können, warum. Man könnte, meinte er, diesen Film fünf oder sechsmal sehen, er ist wie eine Platte mit Musik, die man mag. Ich mag diesen Film wahnsinnig gern, weil diese Gabi Teichert (Hannelore Hoger) nicht vorweint und nicht für mich weint, sondern weil ich mitweinte, als Individuum und nicht als einer gerade vom traurigen Teil eines Filmgeschichtchens Erpreßter. »Apocalypse now« ist dagegen ein elektronisch ausgestatteter Hinterlader, ah Vorderlader. Als ich das Kluge alles irgendwie sagen wollte, merkte ich, daß ich mich erst vorstellen muß. Da umarmte er mich und seine Klugheit war Wärme. (Er kam mir auch wie ein Oberlehrerchristus vor.) Er kenne zwar meine Filme, nicht aber mich aus der Nähe. (Ich dachte mir, er kennt mich nicht, also spiele ich gut.) In meiner Art sagte ich, daß ich mich auch nicht aus der Nähe kenne. Aber der Film hat mir Mut gegeben, entschlossener an mein nächstes Filmprojekt ranzugehen, wieder mich kennenzulernen nicht eigensüchtig sondern individuell, was ja sehr verständlich sein kann. (Die Schüler des Starnberger Gymnasiums konnte Kluge nicht ansprechen – verständlich, wenn man die Lehrer sah, die dazwischenhockten. Auch Habermas hockte dazwischen. Mein Schülerbedürfnis sprach Kluge an. Der Filosof schüttelte seine Wörter und wehrte sich der Einsicht.) Aus: Herbert Achternbusch, Es ist ein Leichtes, beim Gehen den Boden zu berühren, Frankfurt/M. 1980, S. 151–153.
Alexander Kluge
Exposé eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz. Arbeitstitel: Der Sohn des Blitzmädels, Spielfilm: 90 Minuten La recherche de la paternit8 est interdite. Code Napoleon
Kriegszeit, Herbst 1943/44. In Simmern/Hunsrück ist der praktische Arzt und Geburtshelfer Dr. med. Hugbert Schniewind (Berti) tätig. Jahrgang 1892, Reserveoffizier, Versaillegegner, selbst völlig unmilitärischer Arzt, aber gesinnungsmäßig überzeugter Militarist, emsig wie eine Biene und in der Arbeit selbstvergessen, dabei aufstiegsgierig, anlehnungsbedürftig an Autoritäten (z. B. das alte Offizierskorps). Auf diese Autoritäten ist er jedoch in keinem praktischen Fall angewiesen, sie nützen ihm nichts und wissen vielleicht gar nicht, daß er ihr Anhänger ist; es spricht vieles dafür, daß das, was er verehrt, zur Zeit auch gar keine Autorität mehr hat. Schniewind ist »altes Eisen« und deshalb bisher auch nicht zum Kriegsdienst eingerückt. In der Krise des Krieges wird auch Dr. Schniewind als Stabsarzt der Reserve eingezogen. In einem Schnellkurs (sog. Osttagung) in einem Birkenwäldchen in der Nähe der Reichshauptstadt werden Reserve-Mediziner des letzten Aufgebots in modernster Kriegsmedizin geschult. Die deutsche Militärmedizin war auf die Kriegslage im Osten, zum Beispiel auf die katastrophalen Erfrierungen im Kriegswinter 1941 nicht vorbereitet: Erfahrungen des Ersten Weltkrieges lagen vor, ansonsten die Berichte über den russischen Winter von Baron Larrey, dem Kriegschirurgen Napoleons. Jetzt im Kriegswinter 1944 haben Wissenschaft und pharmazeutische Industrie voll aufgeholt. Modernste Bekämpfungsmethoden für Gasbrand, Flecktyphus, die Beherrschung von Erfrierungsschäden; »die Schäden entstehen nicht durch das Erfrieren, sondern sind Erwärmungsschäden beim Auftauen. Man muss durch Fiebermittel von innen tauen«. Durchbrüche auf dem Gebiet der Aneurysmen, der krankhaften Aussackung einer Schlagader durch Verwundung, in der Massenversorgung von Schußbrüchen sind gelungen. Dr. Schniewind, einer der deutschnationalen Dinosaurier, wird hier geschult zu einem der modernsten und heilkräftigsten Instrumente einer kämpfenden Industrie. Wie sieht er aus? Auf den ersten Blick wie eine Karikatur : Monokel, Breeches mit Lederansatz hinten und an den Oberschenkeln, Lederhandschuhe, braunes Offizierskoppel
70
Alexander Kluge
mit schwarzer Revolvertasche und so buntscheckig und nicht zueinanderpassend wie es die historischen Eigenschaften sind, aus denen er besteht. Er ist eher kleinwüchsig, Beine in den Breeches etwas zu kurz. Gleichzeitig eitel (Einlegesohlen in den Lackschuhen). Der Zuschauer wird ihn mit Sicherheit unterschätzen. Ein Konflikt während der Osttagung mit sogenannten »zeitgenössischen« Forschern, die Filme über Lebendversuche an Menschen (Phasen des Erfrierungstodes) vorführen. Verantwortlich: ein junger »angeblich idealistischer« Oberarzt, dessen Verankerung im ärztlichen Stand zweifelhaft ist und dessen Vorgesetzte, einer in diesem Kreis abgelehnten hoheitlichen Organisation, zu seinem Schutz nicht anwesend sind. Die zum Teil altbackenen, aber auf sicherem ständischen Boden stehenden Kursteilnehmer lehnen das ab. Berti mag konservativ sein, aber er ist nicht unmenschlich. Zur Zeit allerdings ist er nur »äußerlich« konservativ, innerlich angefüllt mit besonders eleganten, stark zeitgenössischen, fortgeschrittensten Lerninhalten der Kriegschirurgie, eine höchst wirksame letzte Waffe zur Eindämmung des Verwundetenstroms, den der Ostkrieg in ungeheurem Ausmaß produziert. Mit einem Spezialköfferchen von ausgesuchten, besonders fein konstruierten Instrumenten reist er nach der Schulung in Richtung Heeresgruppe Nord, 16. Armee XLII. Korps, Adresse Hauptverbandsplatz, als Feldpostnummer eine Zahl, als Ortsname. Für Deutsche unaussprechbar. Ortschaft trägt daher die Bezeichnung »Doppelname«. Der Reformer Schniewind gerät mitsamt seinen Vorsätzen und neuen Erkenntnissen mitten in das Chaos des Rückzugs, wie es sich auf der Ebene der Verbandsplätze auswirkt; er kommt kaum dazu, eine Neuerung anzuwenden; es geht um die Routine der Not. Im Milieu der improvisierten Sammelstellen und Verwundeten-Stellen: Verwundete auf Panjeschlitten, die auf dem Weg zu immer besserer Versorgung erfrieren, Vernichtung von Einrichtungsgegenständen und Vorräten eines Lazaretts, damit sie dem Gegner nicht in die Hände fallen, Beschaffung von Nachschub an Zelten und Medikamenten; Massenproduktion von Versorgung von Schußbrüchen der Extremitäten, die Vorverlegung des Gros der Verwundeten, die auf Transport gebracht werden müssen, Einrichten von Schußbrüchen (von Gipsen). Auftritt eines Sauerbruch-Schülers, der als beratender Chirurg eingeflogen wird und zur Hebung des wissenschaftlichen Standards einerseits und als Nothilfe eine besonders schwierige Operation vornimmt; hier steht Schniewind direkt neben dem verehrten Experten, der wie ein Gastdirigent anschließend den wirren Schauplatz verläßt; Ingangsetzen eines Röntgenapparates unter
Exposé eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz
71
Kältebedingungen, da das einfachste Zusatzgerät den Stromgenerator ausfallen läßt. Höchstes industrielles Ausrüstungsgut, daneben Konfrontation mit Naturgewalten wie in der Steinzeit; Verwundete, die in Schneemulden gegen die übergreifende Kälte gesichert werden müssen; Besuch eines PK-Berichterstatters, der auf der Suche nach der nicht mehr vorhandenen Front zum Verbandsplatz verschlagen wird, dort nur Motive findet, die für die Wochenschau nicht passen Ein Intendanturrat, ein ganz junger NSKK-Fan, hervorragender Organisator auf Durchfahrt mit Vorräten in einem Kraftfahrzeug, das für die Wegverhältnisse in Rußland ganz ungeeignet, für die Reichsautobahnen dagegen geeignet war. Erneute Rückwärtsverlegung der Verwundeten und der Einrichtung – in diesem Augenblick Neuzugänge, während noch operiert wird, dann Transportchaos, einige Ruhetage; Antransport von 300 Verwundeten auf Seebetten, wird von Truppenverbandsplatz vorangemeldet; die Verwundeten treffen nie ein, Absuchen der Wegstrecke nach beiden Richtungen: Der Transport bleibt unauffindbar. In diesem Zusammenhang authentische Operationspraxis, Dr. Schniewinds Erlebnisse, Eintreffen der Kabaretttruppe »Der Knobelbecher«, am gleichen Tag trifft der später abgelöste, unbeliebte Generalarzt Dr. med. Taikner ein, ehemals Gynäkologe, hundertachtzigprozentiger Überzeugungstreuer, ziemlich unsachgemäße Visite nach Empfinden der Frontärzte; abends der »Knobelbecher«: sehr unvorsichtig karikieren sie den Auftritt des inzwischen weitergereisten Generalarztes; Schwestern, Verwundete, ärztliches Personal vergattern einander zum Stillschweigen, um die geliebten Kabarettisten nicht zu gefährden. Es geht darum – in völliger Gegenbewegung zur Nostalgiewelle und unverwechselbar damit – wirkliche, geschichtliche Komponenten der Expansion des Dritten Reichs im Osten aus dem Ausschnitt eines Arztschicksals und des Verwundetenrücktransports, eines Arztschicksals und der Verwundetenversorgung sichtbar zu machen; Trümmer einer verspäteten Generation, erst aufgebrochen, jetzt im Rückzug; beladen mit Tradition, Dekadenz und ständischen Merkmalen der Geschichte, hautnah in Berührung mit wirklicher Not, die erfinderisch macht; für Erfindung ist aber keine Zeit. Situationen bis zur Steinzeit hin, in denen es ums nackte Überleben geht, bewältigt von Menschen, die aus der heimatlichen deutschen Provinz kommen, in einem Krieg, der von modernen Industrienationen geführt wird, aber in einer Umgebung des Ostens, in dem die unmittelbare Auslieferung an Natur und Winter so aussieht, wie in den härtesten Western. Der Film endet konsequent nicht 1945, weil dies weder für die Personen des Films, noch für unsere Nation ein Ende war. MITTEN IN DEN WIRREN DES RÜCKZUGS, DER SICH BIS FRÜHJAHR
72
Alexander Kluge
1945 HINZIEHT, WIRD EIN KIND GEZEUGT: DER SOHN DES BLITZMÄDELS. ZUR LAZARETTAUSSTATTUNG GEHÖRTE NÄMLICH EINE FUNKERIN. WER GENAU DER VATER DES KINDES IST, LIEß SICH NICHT FESTSTELLEN. Dieses im Jahr 1945 geborene Kind wird später eine medizinische Kapazität an der Universität Konstanz: Genetiker (seinen Ursprung kann er trotzdem nicht erforschen, vielleicht wäre er besser Historiker geworden). Im Jahre 1968 ist dieser Erwin G. Verlobter der Studentin Gudrun Rückert, deren Familie, eine Vertriebenenfamilie aus der Provinz Posen, das Gut Kaltenborn im Hunsrück verwaltet. Familienfeier. Der inzwischen 76-jährige Dr. Schniewind ist als Hausarzt geladen. Es geht um Folgendes: Vor ihrer Flucht aus der Gegend von Posen hat die Familie Rückert Wertobjekte vergraben. Sie wartet auf die Ostverträge, um diesen Schatz heimzuholen. Schniewind bittet, eine in fünfzig Kilometern Entfernung dieses Fundortes vergrabene Arzttasche mit besonders elegant geformten Instrumenten mitzubringen. Einige Jahre später : Der Sohn des Blitzmädels ist habilitiert, die Ostverträge sind zustande gekommen. Zwei Töchter der Familie Rückert begeben sich nach Volksposen und graben einen Teil des Schatzes aus. Sie sichern auch die Arzttasche Schniewinds. Die Zollbehörde Volksposens nimmt ihnen die Wertsachen ab. Lediglich mit der Arzttasche bewaffnet, die aber dem 35-jährigen Arzt auch nicht mehr viel nützt, kehren sie zurück nach Kaltenborn. Familienfeier 1974. Es weihnachtet.
Oberarzt Oberarzt Dr. Gunter Schiffahrt kann über die Geheimorganisation, der er angehört, keinerlei Auskunft geben. Er ist beauftragt, diesen Film »Fassen des Erfrierungstodes« auf der Tagung vorzuführen und evtl. anfallende Fragen entweder zu beantworten oder nicht zu beantworten. Auch über die Frage, was er beantworten wird oder nicht, darf er keine Auskunft geben. Er selbst ist überzeugt: Diese Forschungen sind notwendig. Wenn es darum geht, Erfrierungen von rund 30.000 deutschen Soldaten wirksam zu heilen, dann kann es auf 60–80, ohnehin dem Tod verfallene Gefangenen, die bei Lebendversuchen verbraucht werden (entweder im Flugzeug in große Höhen gezogen oder in Schneelandschaft gekältet und wiederaufgetaut, oder in speziellen Apparaten dem Kältetod zugeführt, eventuell vor dem Eintritt des Todes herausgeholt und untersucht, dann wieder reingesteckt und aufgetaut, Spitzname der Untersuchungsmethode »Hexenhäuschen«) nicht ankommen. Diese Begründung darf er aber gemäß Auftrag ebenfalls nicht vortragen.
Exposé eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz
73
Während der Vorführung des Films verlassen die Mehrzahl der Kursusteilnehmer, alles ältere Ärzte, die schon am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, den Raum. In der Kantine erregte Debatte: Das ist standeswidrig, widerspricht dem hypokratischen Eid. Kollege, Sie müssen den hypokratischen Eid mit Kriegsklausel nachsprechen. Ich glaube auch nicht, daß ein Protest wirksam wäre. Der Mann wird gedeckt. DR. SCHNIEWIND: Das wäre ja noch schöner. KOLLEGE: Wir müssen realistisch bleiben. ÄLTERER KOLLEGE: Was ist denn hier noch realistisch? Das ist eine fantastische Sache, eine Ausgeburt der Fantasie. ANDERER KOLLEGE: Ne, ne, was ich gesehen habe, scheint mir schon zu stimmen. KOLLEGE: Ich meine ja nicht Fantasie in dem Sinne, daß Sie nichts gesehen haben, sondern, das, was wir gesehen haben, ist im Sinne der Fantasie unmöglich. ANDERER KOLLEGE: Eine Beschwerde hat keinen Sinn.
Die Debatte zieht sich hin. Die Kollegen kehren in den Vorführsaal zurück. Die Vorführung des Films ist soeben beendet. Die Kursteilnehmer haben beschlossen, keine Fragen zu stellen, den Oberarzt zu »schneiden«. Einer von ihnen, Oberarzt der Reserve, ist beauftragt, den Oberarzt mit Handschuhen zu ohrfeigen, »weil man diesen Kerl nicht mal anfaßt«. Am Abend der Tagung. Der Oberarzt hat mit seinen Vorgesetzten telefoniert. Er erhält von dort aus keine Deckung. Vorgesetzter : Sie Schafskopf haben sicher alles falsch angefaßt. Ich bin morgen gegen 16 Uhr mit dem D-Zug da. Vor einer Gruppe von Kursusteilnehmern distanziert sich der Vorgesetzte des Oberarztes von dem Film und den Lebendversuchen, macht gleichzeitig darauf aufmerksam, daß jede Weitergabe des daraus folgenden Wissens als Geheimnisverrat bestraft wird. In seinem Zimmer hat der Oberarzt an seinen Pulsadern manipuliert. Berti Schniewind und ein Kollege, die von einer der bedienenden Küchenhelferinnen alarmiert worden sind, verbinden die Wunde, geben eine Schlafspritze. DR. SCHNIEWIND: Man muß das nicht so weinerlich auffassen. Sie können noch immer den Beruf wechseln. KOLLEGE: Lieber Schniewind, in der Situation müssen Sie ihm was Aufmunterndes sagen. Das ist ja sicherlich hier kein Kollege, aber das kann man ihm ja noch übermorgen beibringen. SCHNIEWIND: Wenn Sie schon was Wildes sagen wollen, dann sagen Sie doch sowas nicht so laut, er hört das doch. KOLLEGE: Nein, Schniewind, der hört überhaupt nichts, er schläft doch schon. SCHNIEWIND: Wenn sie sich nur nicht täuschen. Der macht die Augen zu aus Verzweiflung. KOLLEGE: Ne, ne, der schläft. SCHNIEWIND: Glaub ich nicht, er tut so.
74
Alexander Kluge
Der Kollege zieht mit dem Daumen das Augenoberlid des Oberarztes hoch. KOLLEGE: Ganz ruhige Pupille. Er schläft. Davon wacht der Oberarzt auf. SCHNIEWIND: Sehen Sie Kollege, jetzt haben Sie ihn geweckt. KOLLEGE: Also hat er vorher geschlafen und das, was ich gesagt habe, kann er also nicht gehört haben. SCHNIEWIND: Aber jetzt rätselt er, was er denn nicht gehört hat und kombiniert. Sie sind einfach nicht diskret, Kollege. KOLLEGE: Seien Sie unbesorgt, er schläft jetzt wieder. SCHNIEWIND: An sich würde ich den ja nicht mal anfassen. KOLLEGE: Das haben wir ja nun, entgegen unserem Gewissen, gemacht. Sie decken den Oberarzt sorgfältig zu, machen eine »Rolle«, indem sie das Federbett fest seitlich unter den Körper des jungen Mannes stopfen.
Maria Auf dem Waldweg nähert sich dem Verbandsplatz ein »Heldenklau-Kommando«: vorneweg ein General, zwölf Feldgendarmen, dahinter fünf Lastwagen, zum Teil besetzt mit Soldaten, die bereits vereinnahmt sind. Im Lazarett haben vier Sanitätssoldaten und der Funker die Nacht über gearbeitet; der Funker hat sich den arbeitenden Sanitätern angeschlossen. Jetzt nehmen sie eine kurze Brotzeit ein. Der General, der diese Freizeit, nicht aber die vorangegangenen 20 Stunden Arbeitszeit sieht, kassiert die fünf ein und läßt sie auf den Lastwagen aufsitzen. Jetzt ist Schniewind ohne Funker. Als Ersatz erhält er einige Wochen später eine Funkhelferin, das BLITZMÄDEL. Das junge Mädchen, aus guter litauischer Familie, Maria Lefka, ist in den ersten zwei Tagen von ihren Eindrücken im Lazarett erschüttert. Sie möchte unbedingt helfen. In einem separaten Zimmer einer Baracke liegt der Kopfschuß Scheuermann, seit Wochen ohne Bewußtsein. In dieser Not greift Maria, da schon die Ärzte offenbar versagen, zu einem Hausmittel. Sie versucht, eine Hirnreaktion herbeizuführen, indem sie den Mann sexuell stimuliert. Dies erscheint ihr wie eine heilige Handlung. Das gewonnene Gut, das ihr auf die Finger getropft ist, mag sie nicht wegwaschen. Sie führt es in ihr Geschlechtsteil ein »Auf-Teufel-Komm’-Raus«. Sie ist in erster Linie entschlossen, aber irgendwie bleibt sie trostbedürftig, weil ihr Trost dem Bewußtlosen auch so wenig nützt. So gibt sie einige Stunden später dem Werben des Arztes Dr. Schelling nach und wird seine Geliebte.
Exposé eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz
75
Tags darauf, Rückzug auf die Verwundeten-Sammelstelle. Der Transportschlitten, der die Funkstelle transportiert, wird von Rotarmisten überfallen. Drei Rotarmisten halten die verzweifelt sich wehrende Maria fest, die von anderen Rotarmisten mehrfach vergewaltigt wird. Schüsse – ein deutscher Gegenstoß bereinigt die Lage, Maria wird weinend vorgefunden. AUF GRUND DER NÄHEREN UMSTÄNDE KONNTE SIE SPÄTER NIE ANGEBEN, WER DER VATER IHRES IM SEPTEMBER 1944 GEBORENEN KINDES ERWIN WAR, DEM SIE SICH IN ZUKUNFT GANZ WIDMETE. Höchster Stolz (als Madonna wie als Hure) war für sie, daß der Junge erstklassige Zensuren nach Hause brachte, sich schon als Student wissenschaftlich qualifizierte und neuerdings die wissenschaftliche Laufbahn einschlug. Es könnte sein, daß er der jüngste Professor der Bundesrepublik wird.
Installation eines Röntgengerätes unter Eiszeitverhältnissen Operationen oder Einrichtung von Schußbrüchen setzen Röntgenaufnahmen in mehreren Schichten voraus, um die Bruchlage und die Splitter zu lokalisieren. Ein Röntgengerät ist herbeigeschafft worden, aber sämtliche Zelte sind zur Zeit verloren. Bei eisigem Nordwind würde zwar das Röntgengerät funktionieren, aber nicht der zugehörige Stromgenerator. Berti Schniewinds Physikkenntnisse datieren aus der Zeit vor dem Physikum. Da er als Arzt eine Autorität ist, vertraut ihm das Personal jedoch auch auf physikalischem Gebiet und erwartet Abhilfe von ihm. Schniewind läßt Kupferdraht bringen und verbindet vierzehn Leichtverwundete und Sanitätssoldaten, indem er die Drähte zunächst an ihren Handgelenken, später an der Kopfhaut befestigt und mit dem Röntgengerät verbindet. Er erhofft eine Kumulation menschlicher Elektrizität. Vielleicht gelingt es ihm, wenn er die Mannschaft anschreit und sie sich erregen. Einen Moment auf dem Gerät ein scheues Flackern, war das nun die menschliche Elektrizität? Im Grunde ein Fehlschlag. Schniewind geht schlafen. In der Nacht finden die Männer von der Fahrbereitschaft eine Lösung. Sie verbinden die Lichtmaschinen sämtlicher vorhandener LKWs miteinander und dann mit dem Röntgengerät, das erst funktioniert, wenn alle Motoren auf Vollgas laufen. Unter beträchtlichem Lärm und enormem Benzinverbrauch wird dem gerade erwachten, ungefrühstückten Schniewind ein funktionierendes Röntgengerät vorgeführt. Schniewind: Beachtlich, beachtlich! Nach kurzem Frühstück: Alarm. Die Einheit wird wegen Panzerdurchbruchs rückverlegt, und im Eiltempo reparieren die Fahrer die Wagen. Zwei davon müssen zurückgelassen und gesprengt werden.
76
Alexander Kluge
Der Pathologenpapst an der Front. Einen solchen Anfall an »Material« hat es noch nicht gegeben Drei Wohnwagen: einer für extreme Kühlung, für die Leichen. Ein mitteltemperierter hat Labor und Sektionsraum, man kann sich gerade noch darin aufhalten. Ein schön durch Kanonenöfchen geheizter zum Leben für den Pathologen. Der Armeepathologe im Umherziehen, ähnlich einer Zirkuskarawane, mit Traktoren, Zubehör, bestens ausgerüstet. Ihm kann nichts weggenommen werden, weil diese Pathologenausrüstung im Feld für nichts sonst nützlich ist. Oberarzt von Hildesheimer. Das Studierlabor des Armeehygienikers, ein berühmter Histologe und Giftkenner (Toxikologe). Hier in Frontnähe abschließende Entwicklung eines Gasbrandimpfschutzstoffes; von dieser fahrbaren Studierstube gehen die Weisungen an riesige chemische Kombinate im Reich, wo die Erkenntnisse dieses Spitzenmannes in Massenproduktion umgesetzt werden. Im Gasbrandimpfstoff, der serienmäßig hergestellt wird, ist 0,5 g Phenol pro Ampulle enthalten. Zur Sterilisierung der Ampulle: Wenn statt einer Ampulle eine Schocktherapie von 30–50 ccm gegeben wird, addiert sich diese Phenol-Beimischung und vergiftet den Mann. Der »Unbestechliche« findet dies heraus, verheimlicht seine Beteiligung an diesem Fehler nicht und veranlaßt, daß die gesamte Massenproduktion vernichtet und das Serum neu aufgelegt wird. Engere Umgebung: Hütte auf ausrangiertem Eisenbahnwaggon gebaut (»Gelehrtenklause«), leider kann man nur auf den festen Bahnstrecken fahren. Zur Zeit Übersicht über einen Bahndamm, sieben Tannen, Schneefläche, Waldrand, einige Konservendosen in improvisierter Küche mitten unter chemischen Geräten und außerdem – die ganz wirkliche Welt, die man durch das Mikroskop sieht. Ein PK-Berichterstatter muß noch 30.000 Meter verfilmen.1 In den Stäben hat er schon gedreht, an die Front kann er nicht, weil niemand weiß, wo die Front ist. Er wird verschlagen zum Hauptverbandsplatz. Hier aber überhaupt keine Motive, die für Wochenschauen geeignet sind. Er möchte, daß für ihn ein »Türke« gebaut wird: erfolgreiche Operation, aber der Verwundete darf nur unwesentlich verwundet aussehen, aber großer medizinischer Erfolg nur bei extrem starker Verwundung; mögliche Totalresektion sichtbar zu machen. Einen »Türken« zu bauen wird von den Ärzten abgelehnt, als standeswidrig.
1 Er kommt mit Material und Kameraausrüstung mit Panjeschlitten an.
Exposé eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz
77
Künstlerischer Einsatz PK-Berichterstatter hat Bestechungsmittel da: Würste, einige Flaschen. In einer Schneemulde improvisiert er mit Leichtverwundeten. Kampfszenen (»Front«), Schwierigkeiten, die Aufnahme so total zu halten, daß erwundete ohne Hände MGs bedienen können, die zum Teil Attrappen sind. PK-Berichterstatter stürzt hierbei unglücklich, bricht sich ein Bein und wird selber zum Verwundeten. Genau für solche Zivilverwundung ist aber der Hauptverbandsplatz nicht eingerichtet. Komplizierte Schußbrüche können behandelt werden, ein einfacher Beinbruch kann nur mit den Wort »Hals- und Beinbruch« beantwortet werden. Das Knie wächst schief an. 1. Kontakt mit Lotar Olias und den Überlebenden der Kabarett-Truppe »Der Knobelbecher«. Originalaufnahmen. 2. Verwendung von Erfahrungen von Prof. Hans Kilian und teilweise Verwendung von Situationen aus dessen Buch: Im Schatten der Siege: Chirurg am Ilmensee, Heyne Verlag, 2. Auflage, 1973. 3. Konsequente Recherchen bei Militärärzten, Operationen authentisch durchgeführt durch Ärztedouble. Die Darsteller für die Großaufnahmen und Totale, wirkliche Ärzte für die Handgriffe, Nahaufnahmen. Kriegsroman – Arztroman bilden hier auf authentischer Ebene eine Einheit.
Thomas Combrink
Zeitfäden durch die Geschichte. Über Edgar Reitz und Alexander Kluge
Edgar Reitz und Alexander Kluge kennen sich seit Anfang der sechziger Jahre. Beide sind Unterzeichner des Oberhausener Manifestes von 1962, beide haben in den sechziger Jahren als Dozenten am Ulmer Institut für Filmgestaltung gearbeitet. Reitz ist vor allem durch seine Heimat-Tetralogie bekannt geworden. Er erzählt darin die Geschichte seiner Herkunft aus dem Hunsrück. Durch diese Art des persönlichen Erzählens entlang der Frage, »wie sich Wirklichkeit aus der Perspektive des eigenen Lebenszusammenhangs heraus darstellen lasse – also nach Maßgabe der eigenen Erfahrungen«,1 unterscheidet er sich von dem Filmemacher Kluge. Reitz’ Beschäftigung mit seiner Autobiographie beginnt mit dem Film Die Reise nach Wien von 1973, bei dem Alexander Kluge am Drehbuch mitgearbeitet hat. Die Hinwendung zu Themen der eigenen Herkunft ist ebenfalls ein Phänomen in der Literatur der siebziger Jahre, dort als »Neue Innerlichkeit« oder »Neue Subjektivität« bezeichnet. Die Zusammenarbeit ist bis Mitte der siebziger Jahre eng. Edgar Reitz ist Kameramann bei Kluges erstem Film Abschied von gestern. Gemeinsame Mitarbeiter sind unter anderem die Cutterin Beate Mainka-Jellinghaus und der Kameramann Thomas Mauch. Bei den ersten Filmen teilen die beiden auch das Material, zum Beispiel die Kamera oder den Schneidetisch. Alexander Kluge ehrt Edgar Reitz’ Fähigkeiten hinter der Kamera mit der Geschichte »18 Sekunden Vorsprung«. Dort heißt es: Der Mann an der Kamera (es gibt kein besseres Auge in der Welt als seines) ›ahnt‹, 18 Sekunden bevor die Darstellerin einen nicht inszenierten, tatsächlichen ›Zusammenbruch‹ erlebt (die Tagesanspannung, die Situation der Heldin, die sie spielt, durchfährt ihre Nerven), daß sich etwas an der Aufnahmesituation verändert hat, und wechselt mit der Optik auf Großaufnahme.2 1 Christian Schulte, »Vorwort«, in: Edgar Reitz, Zeitkino, hg. von Christian Schulte, Berlin 2015, S. 10. 2 Alexander Kluge, »18 Sekunden Vorsprung«, in: ders., Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007, S. 270.
80
Thomas Combrink
Kluge ist Reitz dankbar für seine Hilfe bei Abschied von gestern. Der zweite Kameramann bei diesem Film war Thomas Mauch. Kluge konnte noch 2012 in Frankfurt bei einer Ausstellung, bei welcher der Film auf einem Bildschirm zu sehen war, unterscheiden, welche Szenen von Reitz und welche von Mauch gedreht wurden. In den siebziger Jahren entstehen die filmischen Kooperationen der beiden Regisseure. Die Zusammenarbeit beim Drehbuch von Die Reise nach Wien, der Film In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod – der allerdings eher wie ein Film von Kluge wirkt –, die gescheiterte Kooperation bei Der starke Ferdinand, die dazu führt, daß Kluge den Film allein dreht. Und schließlich noch die Zusammenarbeit bei dem Kollektivfilm Deutschland im Herbst. Als Regisseure arbeiten die beiden danach nicht mehr miteinander. Es kommt später zu Gesprächen im Rahmen von Kluges Kulturmagazinen. Alexander Kluge berichtet, daß er mit Edgar Reitz in den Hunsrück gefahren ist, zu der Zeit, als Reitz den Dokumentarfilm Geschichten aus den Hunsrückdörfern drehte. Reitz hatte die Idee einer Kooperation, bei der es um Geschichten aus der Heimat gehen sollte: Ein Autor erzählt vom Hunsrück, der andere vom Harz. Obwohl Hunderte von Kilometern zwischen diesen beiden Orten liegen, finden sich Ähnlichkeiten. Das Dorf Klein Quenstedt in der Nähe von Halberstadt unterscheidet sich im Aufbau und der landschaftlichen Umgebung kaum von einem Ort im Hunsrück. Ästhetisch gehen die Wege zwischen Edgar Reitz und Alexander Kluge Mitte der siebziger Jahre auseinander. Für Edgar Reitz spielt ab diesem Zeitpunkt die Kategorie des Zusammenhangs eine größere Rolle. Er orientiert sich an seiner eigenen Biographie, aber auch an den Personen, mit denen er aufgewachsen ist, die ihn in späteren Jahren begleitet haben. Der Blick richtet sich ebenso zurück, auf Zeitpunkte vor seiner Geburt. Die erste Heimat setzt 1919 ein. Der letzte Teil spielt Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum von Heimat stehen Lebensläufe, »teils erfunden, teils nicht erfunden«,3 um es mit Worten von Alexander Kluge zu sagen, die dem Vorwort seines Buches Lebensläufe entnommen sind. Im Unterschied zu Kluges Arbeiten gibt es Figuren, wie zum Beispiel Hermann Simon, die den Erzählfluss über weite Strecken bestimmen. Die Protagonisten von Kluges Lebensläufen treten in den folgenden Büchern nur noch am Rande in Erscheinung. Kluge wechselt zwischen Abbruch und Neuanfang. Manche Geschichten kann man mit angehaltenem Atem lesen, so kurz sind sie. Einzelne Texte können wahrgenommen werden, ohne dass man die Struktur des Buches kennen muss. Es handelt sich um Konstellationen, die Geschichten kommentieren sich gegenseitig, die Bücher wirken wie herrschaftsfreie Räume – die Struktur ist nicht hierarchisch, sondern rhizomatisch, jeder Text hat eine eigene Anziehungskraft. Die Geschichten ähneln Fotografien, es sind Momentaufnah3 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. 2000, S. 675.
Über Edgar Reitz und Alexander Kluge
81
men, Standbilder. Zwischen den Fotos können sich Beziehungen ergeben, aber die Einheit des einzelnen Bildes bleibt erkennbar. Reitz bietet den Zuschauern von Heimat die Möglichkeit, sich mit den Protagonisten zu identifizieren, ihre Erfahrungen zu teilen, sich einzufühlen in Hoffnungen und Enttäuschungen. Auch für Kluge ist der Ausdruck Empathie wichtig. Er ist der Meinung, dass die Einfühlung eine der wesentlichen Eigenschaften des Schriftstellers ist. Bei der Darstellung von Menschen ist es von Bedeutung, dass der Autor die Emotionen und Gedanken der von ihm geschilderten Personen nachvollziehen, sich in den Menschen hineinversetzen kann. Kluge geht es um Analyse, um einen Befund. Was steht hinter den Emotionen? Was setzt Menschen in Bewegung? Wenn er sein Werk Chronik der Gefühle nennt, steht die geschichtliche Dimension der Emotionen im Vordergrund. Die Frage richtet sich auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Umgebung, in der er sich befindet. Auch wenn die Erzählungen keine moralischen Untertöne aufweisen, es nicht um Bewertungen von Verhalten geht, so merkt man an der Auswahl der Themen die Beziehung des Autors zum Stoff. Ungefähr dreißig Jahre nach dem Luftangriff auf Halberstadt beginnt Kluge, darüber zu schreiben. Sein Buch über das Ende des Dritten Reichs, 30. April 1945, erscheint 69 Jahre nach dem Ereignis. Die Sachlichkeit, die sich in den Geschichten von Kluge zeigt, deutet auf den Abstand, den der Autor zum Geschehen hat. Es gibt Gegenbeispiele wie das Kapitel über Fukushima in Das fünfte Buch, das er kurz nach der Katastrophe geschrieben hat. Unterschiede zwischen Reitz und Kluge ergeben sich in der Arbeit mit Schauspielern. Nimmt man in Abschied von gestern den Streit zwischen Anita G. und der Zimmervermieterin, der damit endet, daß Anita aus dem Haus geschmissen wird, so wirkt diese Szene authentisch. Die Auseinandersetzung unterscheidet sich nicht von den Kontroversen, die wir täglich erleben. Man hat den Eindruck, als würden beide Frauen Teile ihrer Persönlichkeit in das Geschehen integrieren. Die dargestellte Person, in diesem Fall Anita G., ist eine Kunstfigur ; die Differenzen zwischen den inszenierten und den authentischen Eigenschaften von Alexandra Kluge verschwimmen. (In den meisten Spielfilmen hingegen ist sich der Zuschauer der Illusion bewusst. Es handelt sich dort um ein Eintauchen in fremde Welten, eine Wirklichkeit neben der alltäglichen Realität.) Kluge möchte, dass ein Darsteller Teile seiner Persönlichkeit aktiviert, die er oder sie bisher nicht kannte. Die professionellen Aspekte der Schauspielerei, die für Edgar Reitz wichtig sind, werden dabei bewusst vernachlässigt. Kluge geht von der dokumentarischen Arbeit, vom Rohmaterial aus. In dem Film Die Patriotin besucht Gabi Teichert, gespielt von Hannelore Hoger, einen Parteitag der SPD. Sie tritt an die Politiker heran mit der Forderung, dass sie die Geschichte verändern will, damit das Material in den Schulbüchern positiver wird. Der Zuschauer hat den Eindruck, dass es sich um einen
82
Thomas Combrink
filmischen Versuch handelt, in dem dokumentarische und inszenierte Elemente sich überschneiden. Dennoch bleibt die Einheit der Person gewahrt. Es spielt keine Rolle, ob die Person Gabi Teichert oder Hannelore Hoger heißt. Die Darstellerin wird mit Situationen in der Wirklichkeit konfrontiert, auf die sie spontan reagieren muss. Man könnte das Konzept der doppelten Kontingenz von Niklas Luhmann heranziehen. Danach würde man bei einem Spielfilm oder Theaterstück mit vorgefertigten Dialogen nicht von Kommunikation sprechen, denn diese setzt Offenheit voraus, also Situationen, in denen etwas Unerwartetes geschehen kann. Doppelte Kontingenz bedeutet, dass beide Gesprächspartner in ihren Äußerungen nicht festgelegt sind. Erst das ermöglicht Kommunikation. Die Möglichkeit des Unwahrscheinlichen ist dabei zentral. Die meisten Spielfilme oder Theaterstücke hingegen setzen vorgegebene Inhalte um. Die Filme von Alexander Kluge stellen Mischformen dar aus Absicht und Improvisation. Der Dialog in Die Macht der Gefühle im Gericht zwischen der Angeklagten und dem Richter ist inszeniert. Der Wechsel zwischen Frage und Antwort, die Diskussion um Tathergang und Motivation, führt zu keiner Auflösung. Der Reiz an dieser Szene liegt in der Rhetorik des Widerspruchs, dem Gegeneinander der Argumente. Inszeniert wirkt der Dialog durch die Sachlichkeit, mit der die Angeklagte über die Vergewaltigung ihrer Tochter durch ihren Mann spricht. Scheinbar ist in erster Linie nicht Schuld zentral, sondern das Zurückweisen von Vorwürfen, das Korrigieren von Sachverhalten. Die Suche nach der Wahrheit unterdrückt die Emotion. Alexander Kluge und Edgar Reitz sind Chronisten. Während die HeimatTetralogie einen Zeitraum von ungefähr 170 Jahren umfasst, sind im literarischen Werk Alexander Kluges größere Distanzen von Bedeutung, zum Beispiel die zeitliche Spanne von Pangäa (vor etwa 300 Millionen Jahren) bis heute. Edgar Reitz hat sich in Heimat auf seine eigene Lebensgeschichte (geboren 1932) und die seiner Vorfahren eingelassen. Er beschreibt damit einen Erfahrungszusammenhang, den die Zuschauer ebenso bei ihrer Familie nachvollziehen können. Auch Reitz geht es um die Frage der Identität, um die gesammelten Hoffnungen, die gemeinsamen Niederlagen und Träume, die in den Familien zu finden sind und an die folgenden Generationen weitergeben werden. Das Ensemble der Figuren ist überschaubar und angelehnt an den eigenen Erlebnisbereich. Bei Alexander Kluge ist die Anzahl der Personen deutlich höher. Der Leser muss sich im Laufe eines Buches auf immer neue Figuren einstellen. Es sind Schicksale einzelner Menschen, aber die sachliche Erzählweise bringt die Personen auf Distanz. Sie wirken wie Fische in einem Aquarium. Man schaut ihnen zu, ist aber durch eine Glasscheibe von ihnen getrennt. Reitz hingegen möchte, dass der Zuschauer zu einem Teil des Geschehens wird. Heimat ist auch die Chronik uneingelöster Hoffnungen. Die Menschen träumen, sie glauben an die Zukunft – dadurch wirken sie verletzlich. In dieser
Über Edgar Reitz und Alexander Kluge
83
Verletzlichkeit erscheinen sie den Zuschauenden sympathisch, denn es handelt sich um Träume, die nachvollziehbar sind, die wir uns selbst nicht getraut haben auszuleben. Genauso ist Heimat ein filmischer Ort für ambivalente Figuren. Denn die Träume des eher unsympathischen Hunsrücker Bürgermeisters Alois Wiegand (oder auch von dessen Sohn Wilfried, der bei der SS Karriere macht) sind für die meisten Zuschauer wohl nicht erstrebenswert. Bei Alexander Kluge geht es weniger um die Träume einzelner Individuen. Viel eher steht der Satz von Jules Michelet »chaque 8poque rÞve la suivante«, also »jede Epoche träumt die folgende«, den Walter Benjamin in seinem PassagenWerk zitiert,4 im Vordergrund. Wie kann man diese Aussage verstehen? Träume sind doch an einzelne Subjekte gebunden. Wie kann eine Gruppe von Menschen gemeinsam träumen? Für Alexander Kluge gehört jede Person zum Kollektiv, niemand befindet sich außerhalb der Gesellschaft. Es ist das Prinzip pars pro toto: Die von Kluge beschriebenen Personen stehen für eine gesellschaftliche Richtung. Reitz hingegen sucht eher die Individualität des Menschen. Die Figur des Eduard Simon im ersten Teil von Heimat wirkt idiosynkratisch; er ist zwar eingebettet in eine Zeit und eine gesellschaftliche Situation, aber er repräsentiert keine soziale Schicht. Es sind die Methoden der Deduktion und der Induktion, die Alexander Kluge und Reitz trennen. Alexander Kluge geht von einem gesellschaftlichen Zusammenhang aus, von dem aus er Menschen beschreibt. Edgar Reitz schildert den individuellen Charakter in der Hoffnung, daß dadurch Aussagen über den Charakter der Zeit möglich werden. Der Vergleich der Arbeiten von Edgar Reitz und Alexander Kluge, besonders ab Mitte der siebziger Jahre (seit dem Film Stunde Null, in dem Reitz erstmals die Methode von Heimat anwendet), ist aufschlußreich, weil sich die Verfahren der beiden Filmemacher komplementär zueinander verhalten. Sie ergänzen sich, wie an dem Beispiel mit den induktiven und deduktiven Herangehensweisen gezeigt wurde. Edgar Reitz setzt auf eine Dramaturgie des Zusammenhangs, bei der über einen längeren Zeitraum ein Ensemble von Personen beobachtet wird. Diese Menschen sind verbunden durch familiäre, freundschaftliche oder berufliche Kontexte. Private und kollektive Schicksale vermischen sich. Ist das Hunsrückdorf Schabbach ein eher isoliertes gesellschaftliches Biotop, in das die Geschehnisse der Zeitgeschichte vor allem in Form von Erzählungen dringen, so ist München der Schauplatz der zweiten Heimat, wo politische Entwicklungen, wie die Schwabinger Krawalle, direkt spürbar sind. Alexander Kluge setzt im Gegensatz zu Edgar Reitz als Filmemacher auf die Verwendung vorgefundenen Materials. Kluges Referenzen an die Geschichte des Films sind sowohl direkt als auch indirekt. So montiert er zwischen dokumen4 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften. VI, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M., stw 1991, S. 46.
84
Thomas Combrink
tarische Passagen und Szenen mit Darstellern ebenso Materialien aus Stummfilmen. Bei Edgar Reitz besteht der Film aus von seinem Team gedrehten Einstellungen. Bei dieser Art einer zusammenhängenden, in sich geschlossenen Handlung wäre es schwierig, fremdes Filmmaterial zu integrieren. Kluge unterscheidet sich außerdem von Reitz in der Verwendung eines Kommentars, meist von ihm selbst gesprochen. Diese Kommentierung von Bildsequenzen kann ebenfalls auf die Ästhetik des Stummfilms zurückgeführt werden, wo mit Zwischentiteln gearbeitet wird. Die Schrifttafeln haben dort die Funktion, die visuelle Ebene zu erweitern, den Bildern eine zum Verständnis des Geschehens notwendige zusätzliche Information zu geben. Im Unterschied zum Stummfilm, wo Schrift und Bild nicht gleichzeitig erscheinen, bringt Kluge Bild und Wort zusammen. Diese Verbindung zwischen Wort und Bild ist Thema eines Textes, den Edgar Reitz, Alexander Kluge und Wilfried Reinke zusammen verfaßt haben. Unter dem Stichwort »Kommentar« heißt es dort: Die Verwendung des Kommentars ist nicht auf den Dokumentarfilm beschränkt, sondern kann gerade auch im Spielfilm interessant sein. Die Wahrnehmung von Handlung ist jeweils anders, ob man sie durch Kommentar oder im Bild beschreibt. Durch die doppelspurige Beschreibung kann eine Intensivierung und wechselseitige Verfremdung erreicht werden, die sowohl den sprachlichen wie den bildlichen Ausdruck erst bemerkbar macht. Dabei ist es gleichgültig, ob die hörbare Stimme zu den in der Handlung vorkommenden Personen gehört und sich gedanklich mit diesen verbindet, oder aber eine überhaupt fremde Stimme ist.5
Mit diesen Worten ist eine Methode gekennzeichnet, die für Filme von Alexander Kluge relevant ist. Die Rede ist von einer »doppelspurigen Beschreibung«, was sich auf den Zusammenhang von Bild und Ton bezieht. In welchem Verhältnis stehen die beiden Parameter zueinander? Mit dem Ausdruck »wechselseitige Verfremdung« ist gemeint, dass der Kommentar dem Bildgeschehen nicht untergeordnet ist, das Bewegtbild auf den Kommentar antwortet. Hingewiesen wird damit auch auf den Verfremdungseffekt von Brecht, eine Methode, die sich gegen die Illusion richtet. Es handelt sich um ein Wechselspiel zwischen Inszenierung und Dokumentation, es geht um die Differenz zwischen Information und Erzählung. Auf die Frage, warum meistens seine Stimme zu hören ist, die das Bildgeschehen in den Filmen dokumentiert, sagte Alexander Kluge während einer Tagung in Stuttgart, dass die Stimme subjektiv wirken müsse. Es könne genauso gut die Stimme seiner Schwester oder die von Hannelore Hoger sein. Subjektiv bedeutet, dass es sich um einen Menschen handelt, mit dem Kluge in einem emotionalen Verhältnis steht. 5 Alexander Kluge/Edgar Reitz/Wilfried Reinke, »Wort und Film«, in: Christian Schulte (Hg.), In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, Berlin 2002, S. 21–40, hier S. 33.
Über Edgar Reitz und Alexander Kluge
85
Auch für Edgar Reitz spielt die Differenz zwischen Information und Erzählung eine Rolle. Im Gegensatz zu Kluge stellt es für ihn aber eher eine Einheit dar. Wenn er für Die andere Heimat ein Hunsrückdorf aus der Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts rekonstruieren lässt, geht er dokumentarisch vor. Er richtet sich nach historischen Quellen, was zum Beispiel den Bau der Häuser, die Kleidung oder auch das Essen anbelangt. Die historische Rekonstruktion gehorcht den Prinzipien der Information; das hängt mit der Nachprüfbarkeit der Fakten zusammen. Was nicht überprüft werden kann, sind die Gespräche, sind die Handlungen der Menschen. Hier besitzt Reitz die Freiheit der Erzählung. Auch wenn man Kirchenbüchern die Namen, die Geburts- und Sterbedaten, die Angaben zu Eltern, Kindern und Ehepartnern entnehmen kann, so ist doch nichts über die Beziehungen der Personen untereinander gesagt, über deren Gefühle, über Sympathie und Abneigung. Die historische Überlieferung bildet die Grundlage für die Verlängerung in das Reich der Phantasie. Will man das Projekt Heimat als Traum bezeichnen, so handelt es sich um eine Einbildung, die der Realität entnommen ist. Das Ausgedachte ist abgeleitet von der Wirklichkeit. Die Grenze zwischen den tatsächlichen Verhältnissen und den erfundenen Geschehnissen ist durchlässig. Der Traum drückt eine Hoffnung aus, eine unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Wunschvorstellung. Er ist also nicht auf etwas Unmögliches gerichtet. Die Menschen in den Filmen von Edgar Reitz sind Träumer, wie zum Beispiel der »Schneider von Ulm«, der fliegen möchte. In einem Gespräch mit Alexander Kluge unter dem Titel »Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an!«, das am 4. September 2011 als News & Stories auf Sat.1 gesendet wurde, spricht Edgar Reitz über das Projekt Die andere Heimat, in dem es um die Auswanderung von Menschen aus dem Hunsrück, Mitte des 19. Jahrhunderts, nach Brasilien geht. Reitz stellt die These auf, dass weniger Armut und Hunger der Grund für die Emigration waren, sondern vielmehr die Phantasietätigkeit – gemeint ist die nach dem Wiener Kongress auch im Hunsrück, infolge der preußischen Herrschaft, einsetzende allgemeine Schulpflicht, die Alphabetisierung der Menschen. Reitz will sagen, dass es nicht in erster Linie die Not war, welche die Menschen auswandern ließ, vielmehr wurde ihre Phantasie durch die Möglichkeit des Lesens angeregt. Die Lektüre von Reiseliteratur zum Beispiel, die Kenntnis anderer Länder – es war auch die Neugier, welche die Menschen in Bewegung setzte. Für Edgar Reitz sind die Hunsrücker Träumer, mit der Vorstellung einer besseren Welt. Werner Barg nennt sie in seiner Untersuchung Erzählkino und Autorenfilm. Zur Theorie und Praxis filmischen Erzählens bei Alexander Kluge und Edgar Reitz auch »Glückssucher«.6 6 Werner Barg, Erzählkino und Autorenfilm. Zur Theorie und Praxis filmischen Erzählens bei Alexander Kluge und Edgar Reitz, München 1996, S. 300.
86
Thomas Combrink
Den Zusammenhang von Not und Phantasie entwickelt Alexander Kluge in der Geschichte »Eruptivkraft Phantasie«. Er schreibt: Die Phantasie ist ein Fluchttier. Wie aber das Fluchttier Pferd zur Attacke zu gewinnen ist, also zur Flucht nach vorn, und dann so spontan voranrennt, daß kein einzelner Reiter die Tiermasse zum Halten bringen könnte (führungslos hockt der Reiter auf dem Roß und muß darauf achten, nicht abgeworfen zu werden), stürmt die Phantasie alle Berge der Realität und alle Mauern mit Leitern und Bündeln aus Feuer, so heißt es bei Fontane.7
Die Aussage wird Theodor Fontane zugeschrieben, wahrscheinlich hat er diesen Gedanken nie geäußert. Hier geht es um die Kraft der Phantasie, die als »Fluchttier« bezeichnet wird. Ähnlich wie bei Edgar Reitz wird die Verbindung zwischen gedanklicher Tätigkeit und fliehender Bewegung gezogen. Der Ausdruck »Fluchttier« verdeutlicht, daß das Motiv zur Imagination in der Abkehr liegt. Ein Ort, der bedrohlich ist, wird verlassen. Die Tätigkeit der Phantasie hängt mit dem Protest zusammen. Die Wirklichkeit wird als unzureichend empfunden. An die Stelle der tatsächlichen Erlebnisse tritt die Welt der Möglichkeiten. In seinen »Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963« spricht Helmut Heißenbüttel bezüglich dieser Realität vom »Halluzinatorischen«.8 Die Halluzination wird aktiviert, wenn die Welt den Ansprüchen des Subjekts nicht mehr genügt. Sicherlich sind hierbei die Abstufungen relevant. Ein jugendlicher Träumer, der sich vorstellt, ein Rockstar zu sein, ist weniger in Not, als ein syrischer Familienvater, der ein Bild vom Zusammenleben mit seinen Angehörigen in Deutschland hat. »Die wichtigste Produktionsstätte der Phantasie, behauptet Theodor W. Adorno, sei das Leid. Phantasie entstehe aus einer Verletzung«,9 heißt es weiter in der Geschichte von Alexander Kluge. Der Vergleich mit dem Pferd am Anfang des Textes ist hier schwierig. Die Flucht des Tieres hängt mit der unmittelbaren Bedrohung zusammen. Das Leid und die Verletzung, von der Adorno spricht, beziehen sich auf die Erfahrungswelt des Menschen. Alexander Kluge hat erst dreißig Jahre nach der Erfahrung des Luftangriffes auf Halberstadt darüber geschrieben. Die gerade geschilderte Form von Phantasie hängt mit einer Vorstellung zusammen, die Kluge als »gestapeltes Leid« bezeichnen würde, also eine Ansammlung von Verletzungen in mehreren Generationen, die zu einem späteren Zeitpunkt zur Artikulation oder zu einer anderen Reaktion führt. 7 Alexander Kluge, »Eruptivkraft Phantasie«, in: ders., Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Berlin 2015, S. 253. 8 Helmut Heißenbüttel, Über Literatur, unveränd. Nachdruck der Erstausg. von 1966, Stuttgart 1996, S. 211–224. 9 Alexander Kluge, »Eruptivkraft Phantasie«, in: ders., Kongs große Stunde, S. 253.
Über Edgar Reitz und Alexander Kluge
87
Kluge ist sich seit Anfang der sechziger Jahre treu geblieben, was die Form der Erzählung anbelangt. Er bedient sich einer »konstellativen« Methode. Es entspricht einem Probierverhalten, der Technik des Experiments. Gemeint ist der Gegensatz zwischen Zusammenhang und Zersplitterung, zwischen geschlossener Form und offener Dramaturgie, zwischen Stringenz und Assoziation. Während sich in den einzelnen Geschichten von Alexander Kluge eine innere Logik zeigt, abgeleitet von den Regeln des täglichen Lebens, so sind die Beziehungen der Geschichten untereinander frei. Die Verbindungen entstehen durch die Interessen der Lesenden. Stringent wirken die einzelnen Geschichten in der Form der Paraphrase oder des Kommentars. Sie orientieren sich an der Realität, korrespondieren mit den Erfahrungen der Menschen. Wenn Alexander Kluge erzählt, dann ähnelt der Charakter der Mitteilung einem mündlichen Prinzip. Kluge will in seinen Texten Erfahrungen mitteilen; in diesem Drang unterscheidet er sich nicht von einem Jungen in der Schulpause oder einem Arzt nach dem Besuch der Oper. Er übernimmt die Form des mündlichen Berichts, variiert die Inhalte, verkürzt die Erzählweise. Seine Geschichten sind luzide, man kann sie nacherzählen. Aber die Paraphrase sättigt nicht den Verstand. Es bleiben Fragen offen. Während Alexander Kluge die Form des Erzählens beibehält, hat sich bei Edgar Reitz das Verhältnis dazu verändert. Reitz sagt: »Wirklich zu mir selbst gefunden habe ich erst in Heimat. Da entdeckte ich in mir das Geheimnis des Narrativen. Bis dahin war ich ein Anti-Erzähler.«10 Mit dem Ausdruck »AntiErzähler« meint Reitz nicht den Verzicht auf Narration. Vielmehr geht es ihm um die Offenheit der Geschichten. Zwar finden sich Parallelen zwischen der Reise nach Wien und dem Schneider von Ulm, aber die Erzählungen grenzen sich voneinander ab. Wenn Reitz davon spricht, dass er zu sich selbst gefunden hat mit Heimat, dann meint er die Gestaltung umfangreicher narrativer Zusammenhänge. Er hat einen archimedischen Punkt entdeckt, von dem aus er das Material seiner Erinnerung (und die Erweiterungen in den Bereich der Fiktion) in eine eigene Welt bringen konnte. Bei Heimat ist die Erzählweise organisch. Die Darstellung zerfällt zwar in Geschichten, diese einzelnen Elemente reagieren aber aufeinander, befinden sich in stetiger Kommunikation. Es ähnelt dem Zustand von tektonischen Platten, die sich nicht unabhängig voneinander bewegen. Die Themen der eigenen Herkunft spielen in Alexander Kluges Literatur in den letzten Jahren eine wichtige Rolle. In Kongs große Stunde aus dem Jahre 2015 findet sich ein Kapitel über die Mutter (»›Stimme der Liebsten, widerhallt mir im Herzen‹«), eines über den Vater (»Totenbuch für etwas, das ich liebe«) und ein Abschnitt mit direkten autobiographischen Bezügen (»›Ich‹«). Im Unterschied 10 Zit. in: Schulte, »Vorwort«, S. 11.
88
Thomas Combrink
zu Edgar Reitz, der mit Hermann Simon eine Figur in Heimat geschaffen hat, an deren Darstellung entlang er größere Teile seiner eigenen Biographie erzählen konnte, sieht Alexander Kluge sich eher als Spiegel seiner Umwelt. Seine Person entfaltet sich in der Darstellung fremder Lebensläufe. Kluge ist bei der direkten Beschreibung seiner eigenen Erfahrungen manchmal zögerlich, weil ihm nicht klar ist, warum sein individuelles Erlebnis relevant sein könnte für die Allgemeinheit. Er stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen seinem privaten Erlebnis und den Erfahrungen anderer Menschen. Edgar Reitz hat mit der Figur des Hermann Simon ein Medium entwickelt, in dem sich tatsächliche und hypothetische Erfahrungen des Filmautors mitteilen. Reitz projiziert Elemente seiner Lebensgeschichte in den Protagonisten, gleichzeitig verlängert er seine Biographie in Richtungen, in die sein Weg hätte gehen können.
Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder und Edgar Reitz
News & Stories vom 4. September 2011 (Kluge / Reitz)
Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an! Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat
EDGAR REITZ: Die Leute im Hunsrück sind Mitte des 19. Jahrhunderts massenhaft ausgewandert und zwar hauptsächlich nach Brasilien. Die brasilianische Regierung hatte zu der Zeit einen Werbefeldzug gestartet, vor allem in den Teilen Deutschlands, wo es eine bäuerliche Bevölkerung mit handwerklichen Erfahrungen gibt. Diese Mischung von Bauerntum und Handwerkertum findet sich nur dort, wo die Höfe nicht so große Unternehmen sind, von denen man leben konnte. Alles haben diese Hunsrück-Bauern selber gemacht. Sie haben zum Beispiel Flachs angebaut, um ihre eigene Kleidung zu machen. Die Frauen haben gesponnen, die Männer haben gewebt. Sie haben ihre Häuser mit Methoden gebaut, die sie beherrschten, vom Fachwerkbau bis zum Schieferdach. Sie haben ihr Brot gebacken. Es gab fast in jedem Haus einen Brotbackofen. Dann gab es speziell ausgebildete Handwerker, die in jedem Dorf vorhanden waren, zum Beispiel die Schmiede. ALEXANDER KLUGE: Du kommst aus einer Schmiedefamilie. Aber die Skala geht bis zum Uhrmacher. REITZ: Das passierte erst bei meinem Vater. Mein Großvater hat das Schmiedehandwerk noch ausgeübt. Das brachte aber nicht mehr genug ein. Er ging zum Landmaschinenhandel über. Mein Vater wiederum blieb am Handwerk haften und suchte das immer feinere, metallbezogene Handwerk. Die Arbeit mit Metall hat eine Jahrtausend-Tradition. Man hat behauptet, dass die Ursachen für die große Auswanderungswelle Not und Hunger waren. Aber das hat es seit Jahrtausenden gegeben. Immerzu haben Menschen Missernten und Hunger erlebt. Die Kinder sind gestorben, es hat Seuchen gegeben. Warum kommt jetzt diese Auswanderungswelle? Ich führe das darauf zurück, dass die allgemeine Schulpflicht nach dem Wiener Kongress in Deutschland eingeführt wurde. Das Rheinland wurde preußisch, auch der Hunsrück, der bis dahin französisch war – seit der Französischen Revolution. In Preußen wurde die Allgemeine Schulpflicht um 1815 eingeführt. Es fand eine Alphabetisierungswelle statt. Die Bauernkinder waren die ersten in der Weltgeschichte, die Lesen und Schreiben konnten.
92
News & Stories vom 4. September 2011 (Kluge / Reitz)
KLUGE: Jetzt kann ich in die Welt gehen und werde Weltbürger. REITZ: Es wurde viel, zum Teil auf Tatsachen, zum Teil auf Phantasien beruhende Reiseliteratur veröffentlicht. Das war große Mode. Es entstanden auch die ersten Zeitungen in dieser Zeit, so dass man diese Blättchen lesen konnte. Die Generation ist ausgewandert. Das waren die, die zum ersten Mal wussten, dass die Erde rund ist. KLUGE: Sie wagten das Leben. REITZ: Von diesem Augenblick an ist die Erdoberfläche ein Ort der Phantasie. Das ist für mich als Filmemacher eine unserer Grunderfahrungen: Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an. Man hat ein Projekt, das noch Hirngespinst ist. Oder der Junge wird komisch angeguckt von seinen Eltern, weil sie sagen, dass er ein Träumer ist. Aber eines Tages verwirklicht er seine Träume und die Welt verändert sich. Jedes Gebäude, jede Straße, jeder Gegenstand, alles, was wir sehen, war erst im Kopf von Leuten eine Idee. Bei Schiller heißt es, dass der Geist die Welt schafft. So idealistisch, wie es gemeint war, ist es nicht zutreffend. Er konnte seinen Gesundheitszustand vom Geiste her nicht ändern. Dennoch haben diese Leute, die des Lesens und des Schreibens kundig waren, sich ein neues Paradies ausgedacht. Das Brasilien, in das sie wanderten, war eine Phantasielandschaft. Sie machten sich auf den Weg, mit unglaublichen Abenteuern und Entbehrungen. KLUGE: Die fahren zu Schiff ? REITZ: Vom Hunsrück aus geht das so: Man lädt alles, was man glaubt mitnehmen zu müssen, auf einen Wagen mit Pferden. Diese Pferdewagen konnte man mieten, es sind Fuhrknechtunternehmen. Dafür hat man Geld sparen müssen. Man verabredet sich mit anderen, die ebenfalls auswandern aus demselben oder einem anderen Ort. Auf der Landstraße bildet sich ein Treck. Sie fahren an den Rhein, da geht es den Berg runter. An diesen Rheinorten konnte man ein Schiff mieten. Das hat man vorher gemeinschaftlich getan. Häufig war es auch nur ein Floß. Damit ging es flussabwärts nach Holland. In den Niederlanden, sagen wir in Rotterdam, konnte man durch Agenturen eine Schiffspassage mieten. Es ist häufig vorgekommen, dass man Betrügern anheim gefallen war. Man hat eine Schiffspassage bezahlt, und es gab das Schiff nicht. KLUGE: Das sind Parasiten auf die Sehnsucht. REITZ: Da gab es haufenweise Parasiten, die diese Leute mit ihrer Sehnsucht ausgebeutet und betrogen haben. Es gab vor allem englische, aber auch deutsche und französische Reedereien, die sogenannte Paketschiffe – das waren große Segelschiffe, die nur für den Warentransport gebaut waren – in Passagierschiffe umgebaut haben, indem sie ein Zwischendeck einzogen. Da wurden diese Leute zu Hunderten zusammengepfercht. Es gab keine Toiletten, kein Licht, nichts zu essen. Die Überfahrt nach Brasilien dauerte neunzig Tage. Drei Monate sind die Leute auf dem Meer. Es konnte noch mal so lange dauern, wenn sie in die
Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat
93
Rossbreiten kamen, wo es keinen Wind gab. Unterwegs starben nach der Statistik etwa zwanzig Prozent. Tausende sind unterwegs gestorben, ältere Leute, Kinder, aber auch solche, die einfach abgesoffen sind mit ihrem Schiff. Und Seuchen brachen aus, die Reedereien haben jegliche Hygiene an den Schiffen eingespart, um Geschäfte zu machen. Diese Auswanderungswellen waren ein großes Geschäft. Die meisten Schiffe fuhren nach Rio de Janeiro, was damals eine mittelgroße Stadt war. Dort saß die Regierung. Man wollte die Grundstücke zugewiesen bekommen, was vorher in den Auswanderungsverträgen festgelegt war. Man sollte Land in einem Maße bekommen, wie sich ein Hunsrücker das nicht vorstellen konnte. Die hatten Zuhause drei, vier Hektar, ein oder zwei Kühe. Dort waren ihnen dreihundert Hektar Land versprochen worden. Die meisten waren geschockt, dass es zwar endlos viel Land gab, es sich aber um Urwald handelte. Da konnte man nicht eine Kartoffel pflanzen. Man musste erst riesige Bäume fällen und das Land fruchtbar machen. Häufig gab es auch Betrüger, die Land verkauft haben, das es nicht gab. KLUGE: Jetzt geht es nach Süden. REITZ: Man fährt nach Porto Alegre. Das ist der südlichste Bundesstaat Brasiliens, Rio Grande do Sul. Dort und auch in der weiter nördlich gelegenen Region, Santa Catarina, wurde für diese Auswanderer Land angeboten. Sie bildeten sogenannte Kolonien. Man hatte es so aufgeteilt, dass vorausgegangene Auswanderer von der Regierung angeheuert worden waren, Schneisen in den Wald zu schlagen, meist von einem Gewässer, von einem Fluss oder von einem größeren Bach ausgehend. An diesen Schneisen hat man die Grundstücke vergeben. Da bauten die meist eine Blockhütte und von dort aus versuchten sie hinter ihrer Blockhütte das Land zu roden und fruchtbar zu machen. Bis heute heißen diese Gegenden noch »die Schneis«. Die Kolonien haben nach wie vor die Namen von damals. Es bildeten sich Ortschaften, weitgehend isoliert vom übrigen Land. Bis heute leben dort Hunderttausende von Nachkommen dieser Hunsrücker, die sprechen nach wie vor Hunsrücker Platt. KLUGE: Als wäre es auf dem Mars. REITZ: Dieser Hunsrücker Dialekt ist eine Art Umgangssprache geworden für die Siedler in diesen Landesteilen. Da gibt es auch Leute, die sagen: Wir sind Brasilianer, aber wir sprechen Hunsrückisch. Der Hunsrück ist unsere ehemalige Heimat. Wenn man fragt, wo ihre Familie herkommt, sagen sie: Aus Hamburg, das ist auch im Hunsrück. Es sind nur wenige zurückgekehrt, weil niemand die Kraft aufbringt, noch einmal sein Leben zu riskieren für eine solche Reise zurück in das Land, in dem man unglücklich war. Man verabschiedet sich für immer. Wenn man diesen Wagen geladen hat, fängt an irgendeinem Morgen ein neues Leben an. In den Beschreibungen und Bildern wird es auch als ein feierlicher, ernster Moment beschrieben. Die Auswanderer zogen an dem Tag
94
News & Stories vom 4. September 2011 (Kluge / Reitz)
ihre Sonntagskleidung an. Sie haben sich diesem endgültigen Schritt entsprechend würdig kleiden und zeigen wollen. KLUGE: Hier beginnt der Ernst des Lebens. REITZ: Man drückt dem Vater zum letzten Mal die Hand. Dieser Händedruck muss für alle Zeiten reichen. Man zieht aus in eine Heimat, die man in seinem Kopf trägt. Wo immer man hinkommt, wird man alles messen an dem, was man in seinem Kopf hat. KLUGE: Die Engländer verbreiten sich auch über den Planeten, aber sie sind Handelsposten. Sie wollen wieder zurück auf ihre grünen Wiesen. REITZ: Sie wollen möglichst viel Reichtum mitbringen. Die Auswanderer aus dem Hunsrück wollen ihr Lebensglück finden. Das ist auch in den Liedern, die gesungen werden. Es geht um das Glück, das man in der Fremde sucht. KLUGE: Je weiter sie weggezogen werden von ihrer ursprünglichen Heimat, wo sie geboren und aufgewachsen sind, desto mehr fangen sie an, sich daraus eine Vorstellung zu machen und die zu lieben, sagt Immanuel Kant. Die Deutschen lieben ihr eigenes Land nur, wenn sie in der Fremde endgültig untergebracht sind. REITZ: Die Erinnerung an das eigene Land verklärt vieles. In Auswandererbriefen, die an die Familien zurückgeschrieben wurden, heißt es: Hier herrscht keine Ordnung. Wir sind aus einem schlimmen Land weggezogen, wo die Ordnung, sofern sie vom Staat verkörpert wurde, böse war. Was hat der Preußische Staat gemacht? Er hat die Wälder verstaatlicht. Von diesem Moment an durfte kein Hunsrücker Bauer sein Brennholz aus dem Wald holen – was sie Jahrtausende gemacht haben. Wir leben im Wald und erfrieren im Winter, weil die preußischen Behörden überall Forstbeamte hinsetzen, die aufpassen, dass kein Knüppel rausgeholt wird. KLUGE: Mühselig werden die Gesetze, welche die Franzosen gegeben haben, aufrechterhalten. REITZ: Die Preußen haben von dem Schematismus der Franzosen gelernt. Die Französische Revolution schafft Eigentum. Jetzt heißt es, dass der Bauer Eigentümer seines Landes ist. Er ist frei. Er darf es verkaufen, darf es vererben. Jetzt vererbt er das an seine zwölf Kinder. Das Land wird in lauter kleine Parzellen zerteilt. Keiner von denen kann davon leben. Die verhungern auf ihrem Eigentum. KLUGE: Nummer 10, 11 und 12 müssen Soldaten werden. REITZ: Die Söhne müssen alle zum Militär, aber sie können sich freikaufen. Da kassiert der preußische Staat nochmals von den armen Leuten, indem er die Ernährer, welche die Eltern ernähren müssen, zur Kasse bittet. KLUGE: Davon ist man frei in Südbrasilien. Man ist auf einer Robinson-Insel, allerdings zu mehreren.
Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat
95
REITZ: Die Wege sind auf einmal entsetzlich weit. Der Nachbar, den man im Hunsrück direkt in Greifnähe und Hörnähe hatte, ist eine oder zwei Tagesreisen entfernt. Die Nachbarschaftskontakte, die man gewohnt war, verlieren sich in einer endlosen, nicht erschlossenen Landschaft. Das ist ein schreckliches Schicksal für diese Leute, die so auf Nähe angelegt waren. Noch im Schiff waren sie so eng beieinander, wie es noch nie im Leben war. KLUGE: Portugal, das durch die Nelkenrevolution genascht hat an der Moderne, ein an sich mittelalterliches Land mit Kolonien und das auf seine Weise auch ins 21. Jahrhundert hätte kommen können, ist in den Kapitalismus geraten und aus Brüssel und von der Weltbank kommen die Kontroller. Nun müssen sie nicht nur mehr arbeiten, sondern sind auch auf Dauer arm. Sie müssen alles zurückzahlen, was andere für sie falsch investiert haben. Sie müssen auswandern. Bei den Griechen nicht anders. Die Iren haben auch eine Auswanderungswelle vor sich. Wo würde man heute hinwandern? REITZ: Man kann heute nicht mehr in dem Sinne auswandern. In Übersee ist es voll. Man hat die Urbevölkerung nicht ernst genommen. Man sagte, das Land gehört keinem. Dann hat man Indianer totgeschlagen. Heute gibt es keine verborgenen Paradiese mehr. Auswandern heute heißt wahrscheinlich, in die Ballungszentren ziehen, in die Gegenden, wo der Arbeitsmarkt floriert. KLUGE: An der Spitze der Gesellschaft sind Leerräume? Westafrika marschiert nach Lagos. Aus Sibirien geht es nach Moskau, wo man auch nicht leben kann. Aber da gibt es Lücken. REITZ: Die Landschaften können wieder zu dem werden, was sie mal waren. KLUGE: Es sind stapelbare Äcker, bestehend aus Menschen. Es sind Hochbauten, ein neues Mesopotamien. REITZ: Man spricht heute von den Planeten, die man besiedeln will. KLUGE: Wenn man beim nächsten Fixstern-System ankommen will, sind das drei Generationen. REITZ: Der Blick in die Zukunft und die Gestaltung der Zukunft ist einer der größten Irrtümer der Menschheit. Es wird immer ein Kredit aufgenommen und die Zukunft muss das bezahlen. KLUGE: Deswegen möchte ich den Cousin der Zukunft heiraten, also seitlich an der Zukunft vorbei in ein neues Land gehen. Das Volk Israel war in Ägypten nicht glücklich und hat sich seinen Weg gebahnt. REITZ: Welche Eigenschaften nehme ich mit, wenn ich in die Zukunft gehe oder wenn ich Leute beschreibe, die ihr Leben planen, die ein Projekt haben und anfangen, das durchzuführen? KLUGE: Was zu Hause eine Speisekammer mit Würsten, ein Handwerkskasten oder die Schmiede war, das nehme ich im Kopf mit. REITZ: Alles, was sie mitnehmen, ihre Eigenschaften, ihre Leidenschaften, ihre Abneigungen, ihre Gewohnheiten, ihre instinktiven Interessen, die sich an allem
96
News & Stories vom 4. September 2011 (Kluge / Reitz)
Möglichen festmachen können, kommen woanders her. Sie stammen nicht aus den Bedürfnissen der Gegenwart und der Zukunft, sondern sind zum Teil Jahrhunderte oder Jahrtausende alt. Mit wem kann ich kooperieren? Mit wem vertrage ich mich? Wo entsteht eine Zusammenarbeit? Das kommt aus dieser Vergangenheit, die jeder von uns in sich trägt. Unsere Biographien beginnen nicht mit unserer Geburt, unsere Erinnerungen fangen nicht mit dem fünften oder sechsten Lebensjahr an, es kommt etwas viel Älteres durch. Es gibt auch den Vorgang der Wiedererkennung: Auf einmal steht ein Mann einer Frau gegenüber und empfindet eine tiefe Zuneigung zu ihr, als hätte er sie immer schon gekannt. Vielleicht ist das Bild seiner Urururgroßmutter in ihm. Man kann auch sagen, dass man in jeder Frau, die man liebt, alle Frauen findet, die man je geliebt hat. Es ist ein inneres Prinzip in einem, das zu dem führt. was wir Liebe nennen. KLUGE: Wir nehmen es auf jede Insel mit, wo wir uns neu ansiedeln. Es gibt einen zweiten Themenkomplex in dem Film. Das ist der Mann, der zu Hause bleibt. Der hat die Welt auch begangen, aber in Gedanken, in seinen Büchern. Man kann mit der Welt auch zu tun haben, wenn man zu Hause bleibt. REITZ: Diese Auswanderer, von denen wir sprechen, bilden in sich eine Welt. Vermutlich kommt man aber dort nicht an, wo man hinreist. Wenn das Land Brasilien heißt, dann trägt man ein Brasilien in sich. Je näher man dem Land kommt, umso weniger ist es das. Man hat keinen Namen mehr für das Land, muss es nach wie vor Brasilien nennen. Ich glaube, dass die ersten Siedler damals nicht in dem Land angekommen sind. Sie sind nicht da in Wirklichkeit. Sie kapseln sich ab, versuchen das, was sie gemeint haben, anzutreffen. Erst ihre Kindeskinder kommen allmählich an. Es gibt heute noch Familien, die gerade dort ankommen, nach 150 Jahren. Die anderen, die zu Hause bleiben, sind nicht freiwillig zu Hause. Sie arrangieren sich auf eine andere Weise mit der Tatsache, dass es eine Reise ohne Anzukommen wäre. Karl May, der sich hineinträumt, hat ein Bild des freien, edlen Indianerlebens in sich getragen. KLUGE: Jede Wirklichkeit würde stören. Eine Erfindung wie der Häuptling der Apachen und dessen Schwester sind wunderbare Geschichten aus dem Eulengebirge. REITZ: Dieses Bild des edlen Wilden ist eine große deutsche Spezialität. Natürlich habe ich ein mobileres Leben geführt als meine Vorfahren, aber ich bin kein Reisender und auch kein Auswanderer geworden. Ich bin einer geblieben, der an den Produktionsbedingungen dieses Landes hängengeblieben ist. Den Preis habe ich in Kauf genommen, weil man das uminterpretieren kann. Auch das Land, in dem ich geboren bin, ist ein unbekanntes Land. Auch das Land in dem ich gerade bin, ist Terra inkognita. Man muss seine Phantasie implantieren, dann geschieht das Gleiche, vielleicht sogar mit besseren Voraussetzungen, weil man die Spielregeln besser kennt. Wenn ich nach Hollywood gelangt wäre als Filmemacher, würde ich wahrscheinlich bis heute die Spielregeln nicht kennen.
Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat
97
Das Kantische Prinzip, über das wir früher nachgedacht haben, zeigt uns, was die Aufklärung mit sich gebracht hat, dass man mit Absichten und Analysen, mit Wissen und Definitionen an die Welt herangeht, dass man den Dingen einen Namen gibt, noch bevor man sie in die Hand nimmt. In diesem Vorgang steckt ein unbewusster Herrschaftsanspruch, der aber nicht real werden kann. So weit reicht die Macht des Menschen nicht, wir können die Natur nicht beherrschen. KLUGE: Wenn Kant sich eine Erdkugel vorstellt, stellt er sie sich wie eine Kugel aus Blei vor und sagt: Das Gastrecht ist dadurch bedingt, dass man sich auf einer Kugel immer begegnen muss. Dies soll man höflich tun. Deswegen ist das Gastrecht das primäre Menschenrecht. Aber in Wirklichkeit besteht unsere Erdkugel aus Höhlen, aus Tälern, aus dem Mariannengraben und aus lauter Buckeln. Eigentlich ist es eine Kartoffel. Wenn man die Menschen noch hinzunimmt und sagt, sie haben ebenfalls eine Gravitation, dann ist das noch weniger eine runde Kugel. Kant ist abstrakt. Wie würdest Du das Wort Geist übersetzen? REITZ: Der Geist ist nicht das eigene Denken, das durchaus aufgeregt und interessant sein kann. Was wir Geist nennen, ist die Berührung des eigenen Denkens mit dem Denken aller. Das, was je gedacht wurde, kann in meinem eigenen Denken vorkommen. Deswegen sind Gedanken auch nicht folgenlos. Es gibt eine Welt des Denkens, wobei man auch den Begriff des Denkens weiter fassen muss. Ich meine nicht nur das intellektuelle, deduktive Denken, sondern alles, was wir an Zusammenhängen verstehen und abwägen. Da gehören auch diese vielen undenkbaren Dinge dazu, zum Beispiel Bilder, die wir gesehen haben. Ein Bild ist nie deutbar, immer vieldeutig. Wörter können besser interpretiert werden, weil die Sprache an sich schon eine Abstraktionsstufe hinter sich hat. Das haben die Bilder nicht. Die Kultur der Menschen würde ich Geist nennen, an dem kann man teilhaben oder nicht. KLUGE: Man könnte sagen, dass es materialisierten Geist gibt. Unsere Vorfahren, die keine Kaltblütler sind, sehen diese Riesensaurier, sitzen in Büschen und haben Wärme in sich. Sie bringen ihre Jungen lebend hervor. Dass ich 37 Grad Wärme garantieren kann in einer kalten Welt, ist auch ein Gedanke, der sich materialisiert und der plötzlich aus Zellen, aus Kreisläufen zwischen Leben und Tod entsteht. REITZ: Vielleicht gibt es Erinnerungen an diese Werdegänge. Möglicherweise spielen diese Erinnerungen in unseren Eigenschaften noch eine Rolle. KLUGE: Wenn Du einen Grenadier Napoleons beschreiben musst, der in Russland umher irrt in der Kälte, allein ist, abgekommen von seiner Truppe, dann müsste dieses Gefühl stark ausgedrückt werden. Eine russische Bäuerin hat ihn aufgenommen. Er ist schwer verwundet. Er nannte sie Mon chou, Mon ch8rie, mein Kohlköpfchen, meine Liebe. Die Familie hat ihn aufgenommen, anstatt ihn zu erschlagen. Sie fand ihn einen guten Knecht, sie haben jetzt 1.200
98
News & Stories vom 4. September 2011 (Kluge / Reitz)
Nachfahren, die alle Mon chou, Menscheff, heißen. Die nehmen an den Beratungen über die Agrar-Reform in der EU, in Frankreich und Weißrussland teil. REITZ: Da fließt etwas Geistiges durch die Menschheit. Meines Erachtens würde ein Bildungsideal davon herleitbar sein. Die Teilnahme am Geistesleben der Menschen ist Bildung. Das ist eigentlich die Öffnung, die Fähigkeit, das zu wissen, zu spüren und auch zu pflegen. Das Mittel ist die Erzählung, viel mehr als zum Beispiel die Philosophie oder die Religion, die nur verallgemeinern und Urteile bilden, während die Geschichten, die man erzählt, Punkte schaffen, an denen man sich niederlassen kann. Die Geisteswelt ist eine bewohnbare Welt. KLUGE: Im Hunsrückischen gibt es ein Wort, das Du gern magst, das Geheimnis und Geschichte miteinander vermischt. Das ist das Geheischnis. REITZ: Das ist ein Dialektwort, das aus der Landwirtschaft kommt und dessen Wortstamm mit dem Verb hegen verwandt ist. Ein Gehege dient dazu, dass Tiere geschützt sind und nicht davonlaufen. Auch Menschen empfinden ihren Lebensraum als Gehege. Daraus hat sich das Wort Geheischnis gebildet. Es bedeutet Geborgenheit, Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit, auch Verlässlichkeit. KLUGE: Eine unwirtliche Wirklichkeit, die angriffslustig und gefährlich ist, bringe ich durch Erzählung in eine Ruhe. Deswegen ist Odysseus ein guter Erzähler, weil er das als Gast macht. Dafür bekommt er etwas zu essen und wird beschützt. Das ist die Grundform des Erzählens. REITZ: Ich habe mich oft gefragt, wo das Geschichtenerzählen angefangen hat. Da habe ich mir das Feuer vorgestellt. Sobald irgendwo ein Feuer brennt, setzen sich alle rundum und schauen hinein. Das Flackern der Flamme erzeugt in unseren Hirnen eine innere Ruhe, aber auch eine Aufmerksamkeit. KLUGE: Wenn es im Kino eine 48stel-Sekunde lang dunkel und eine 48stelSekunde lang belichtet ist, ist das ein Flackereffekt. REITZ: Ich glaube, dass zum Beispiel das Fernsehgerät und auch der Computer in den Wohnungen den Ort einnehmen, den das Herdfeuer hatte. Der Fernseher ist der Ersatz für den Ofen. KLUGE: So sieht es zu Adventszeiten auch aus. Man sieht das Flackern von einem Fernseher hinter den Scheiben. REITZ: Indem wir unser Leben erzählen, erfinden wir es neu. KLUGE: Wir haben einen Antirealismus des Gefühls. Das Gefühl ist nicht zufrieden mit der bloßen Wirklichkeit. REITZ: Der Erzähler ist nie zufrieden mit den bloßen Tatsachen. Er sucht immer zwischen den Ereignissen neue Verbindungen. In der Erzählung werden diese Verbindungen sichtbar gemacht, aber sie sind Wunschgebilde oder auch die Wiedergabe des Bildes, das wir von uns selbst entwerfen. Woher beziehen wir Sinn oder Sinngebung? Was haben wir überhaupt noch, wenn wir nicht mehr
Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat
99
religiös sind und nicht mehr eine Rechtfertigung unseres Lebens in der ewigen Gerechtigkeit erwarten können? Dann tritt an diese Stelle die Biographie. KLUGE: In dem Lebenslauf sind die Dämonen, Geister, Buschnymphen. Da ist eine animistische Welt, die wir in uns tragen. Die ist religiös. REITZ: Beim Entwurf des eigenen Lebens, beim Bild, in dem man sich gespiegelt haben möchte, profitiert man von der Magie des Erzählens. Die erzählten Geschichten, vor allem die mit künstlerischer Qualität, schaffen, so wie jedes Kunstwerk, eine Parallelwelt zum Leben, von der ich das Leben richtig sehen kann. Wenn hinterher Fragen auftauchen, befragt man nicht mehr die Realität, sondern das Abbild. Von dort aus entsteht eine neue Realität. KLUGE: Wie bei Alice im Wunderland sind es komplexe, prismatische Spiegelungen, nicht ein Spiegel, sondern tausende. REITZ: Leute, die ein hochentwickeltes künstlerisches oder erzählerisches Talent haben, entwickeln in der Fiktionalisierung des eigenen Lebens, die da stattfindet, unter Umständen einen Reichtum, der größer ist als das Leben selbst es war. KLUGE: Den anderen Menschen können sie nutzen, weil sie in den Spiegeln auch sich sehen. Das sind keine Landkarten, sondern sie sind Licht. REITZ: Meine Filmarbeit ist in dieser Form über weite Bereiche eine Autobiographie. Da sind mir komische Dinge passiert. Zum Beispiel die Geschichte meiner ersten Liebe, die ich in Heimat 1 beschrieben habe und die sich später durch die zweite Heimat zieht. Das ist mit viel Fiktionalem durchsetzt, weil die Erzählungen, vor allem wenn man sie mit filmischen Mitteln macht, noch mal mit eigenen Gesetzen daherkommen. Man ist gut beraten, wenn man das Filmische vielleicht stärker beachtet als das Leben. Ich wäre manchmal froh, wenn ich diese Filme wegschmeißen könnte und wieder wüsste, wie meine erste Liebe war. Ich weiß es nicht mehr. KLUGE: Du sprachst vorhin von Bildung. Eruditio, aus dem Rohen eine Welt schaffen, heißt das auf Lateinisch. Das macht man nach Rousseau von dem Ort, an dem man geboren ist, an dem man eine zweite Haut hat, die Wirklichkeit. Wo man sich das Bein bricht, hat man eine unmittelbare Erfahrung. In die Summe unmittelbarer Erfahrungen hüllt man sich ein wie in das Lindwurmblut.
Andreas Becker
Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle »Sie sind überall, man sieht sie nur nicht.« Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle (MdG, S. 44)
Mediale Distanz und emphatische Nähe Am Heiligabend 2009 erscheint unter dem Titel »Der Angriff der 13. Fee« in der Zeitung der Freitag die Transkription eines Skype-Interviews mit Alexander Kluge.1 Das Gespräch selbst wurde mit mehreren Kameras aufgezeichnet und als Auswege aus der Gegenwart im Portal von dctp.tv veröffentlicht.2 Anders als in den eigenen Produktionen, wo Kluge gewöhnlich einen einzigen Gast hat und mit diesem am Tisch sitzt, die Kamera auf den Gast gerichtet, sieht er sich hier gleichzeitig mit den Fragen von vier Redakteuren konfrontiert: Michael Angele, Ingo Arend, Jakob Augstein und Philip Grassmann. Die Konstellation dieses Interviews ist derart vielschichtig und für das Thema ›Gefühle‹ und den Umgang mit ihnen so aufschlussreich, dass diese hier zumindest skizzenhaft beschrieben werden soll. Interessant ist zunächst die räumliche Distanz. Das Interview wird als Skype-Videoübertragung geführt, die Sprechenden nehmen einander daher nur medial wahr. Da sitzen zum einen die Redakteure, wohl in Berlin, vor ihrem Rechner. Dieser zeigt nicht nur ein Bild von Kluge, d. h. das Bild der Webcam seines Apple-Computers, sondern auch ein Miniaturbild der Webcam des PCs der Redakteure als Bild im Bild. Im Raum liegt eine Kamera vor dem PC, deren Bild später in der Endproduktion immer mal wieder hinein montiert wird. Dazu nehmen zwei weitere Kameras, eine auf einem Stativ fixierte sowie eine Handkamera, das Geschehen auf. Eine Fotografin im Hintergrund schießt dazu Fotos 1 Alexander Kluge/Michael Angele/Ingo Arend/Jakob Augstein/Philip Grassmann, »Der Angriff der 13. Fee«, in: der Freitag, 24. 12. 2009, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/derangriff-der-13-fee, Internet-Dok. (Stand: 19. 04. 2015). 2 Alexander Kluge/Michael Angele/Ingo Arend/Jakob Augstein/Philip Grassmann, Auswege aus der Gegenwart (2010), http://www.dctp.tv/#/filme/auswege-aus-der-gegenwart/ (Stand: 19. 04. 2015).
102
Andreas Becker
der Freitag-Redakteure bei der Arbeit. In Kluges Raum ist hingegen nur noch eine weitere Stativ-Kamera aufgestellt, die Kluge, am PC sitzend, wahrscheinlich in den DCTP-Redaktionsräumen in München, zeigt. Im Hintergrund huschen immer mal wieder Mitarbeiter vorbei. Die im Druck homogen erscheinende Transkription des Gesprächs wurde daher zunächst in mehrere Videoaufnahmen multiperspektivisch zerlegt und diese Partialsichten montierte man dann synchron wieder zusammen. Sie bilden für den Zuschauer eine Quasi-Situation. Dieser nimmt also eine ›auktoriale‹ Sicht auf das Gespräch ein, die keiner der Beteiligten hatte. Der Zuschauer wird zu einer Art Supervisor. Das erleichtert es, zu analysieren, was während des Gesprächs auf der Ebene der Gefühle passierte. Die Idee, das Interview auch zu filmen, wird gleich zu Beginn angesprochen, sie stammt von Kluge (ebenda): der Freitag: Herr Kluge, dies ist unser erstes Skype-Interview. Alexander Kluge: Meins auch! Sie haben uns ein Kamerateam ins Büro geschickt und lassen sich selbst in München auch filmen. Was haben Sie mit den Bändern denn vor? Oh, mal sehen. Wir werden das in dctp.tv aufstellen. Sie sind ein Sammler. Ja, wir müssen es machen wie die Gebrüder Grimm. Denen gehört meine ganze Bewunderung.3
Wie die meisten menschlichen Gespräche handelt auch dieses Interview einerseits von einem Gegenstand, hier im Wesentlichen einer Analyse der politischen und medialen Bedingungen der Gegenwart, andererseits aber auch vom Fühlen und Gefühlt-Werden der Menschen. Das An- und Ausgesprochene ist notwendig intoniert, äußert sich und ist begleitet von Sprach- und Körpergesten, Reaktionen auf den Anderen usf., wenn auch diese Ebene oftmals unthematisch bleibt. Wenn »Fühlen heißt, in etwas involviert zu sein«,4 wie die Philosophin Agnes Heller in der Theorie der Gefühle schreibt, so stellt uns eben jedes Gespräch in eine Situation mit dem Anderen, erzeugt einen ›emphatischen Gegenwartsraum‹. Dies geschieht selbst dann, wenn Menschen, wie hier, räumlich weit voneinander entfernt sind und sich letztlich nur über eine akustisch-visuelle, mediale Übertragung verständigen. Wie schlecht die Übertragungsqualität immer auch sein mag, das Einander-Fühlen bleibt erstaunlicherweise – sogar bei 3 Das Interview wird in der gedruckten Transkription wiedergegeben. 4 Agnes Heller, Theorie der Gefühle, Hamburg 1980, S. 19.
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
103
rein akustischen Telefonaten – davon nahezu unberührt. ›Involviertsein‹ meint nicht nur, dass einen das Gesprächsthema etwas angeht; es meint ganz wesentlich, dass unser Fühlen Präsenzen herstellt, wir von dem Besprochenen somatisch affiziert werden. Jedes noch so banal erscheinende Gespräch erzeugt Resonanzen und Echos in unserem Leibsensorium. Auch hier gilt wieder, dass dieses Affiziertsein im thematischen Hintergrund des Gesprächs bleiben kann und mitunter vom Sprechenden selbst nicht als relevant erkannt wird. Dennoch wird die Affektion als solche vom Sprechenden immer leibsensorisch aufgefasst. Wenn Kluge das Interview aufzeichnen lässt, so geht es ihm eben um beide Perspektiven auf das Geschehen, den besprochenen Gegenstand wie auch den menschlichen Umgang miteinander. Ich möchte nun die These vertreten, dass zwischen den Redakteuren während des Interviews eine andere Grundhaltung in Bezug auf die Gefühle besteht als bei Alexander Kluge. Die Redakteure ›agieren‹ zwar vereinzelt, vertreten verschiedene Ansichten, möchten von Kluge jeweils ganz unterschiedliche Dinge wissen. Sie sind aber in dieser Hinsicht vereint, als dass sie nämlich so tun, als gehe es allein um dem angesprochenen Gegenstand und nicht um das Sprechen selbst, also dessen Stil, dessen Intonation usf. So umstellt die Redaktion von Medien ist, so wenig achten die vier Redakteure darauf, was durch diese mit ihren Gefühlen geschieht und wie vielschichtig die mediale Involviertheit hier ist. Sie transzendieren diese Situation und sprechen alle vier jeweils mit einer eigenen Imagination Kluges, haben bestimmte Erwartungen, dazu sind sie – im Vergleich zu ihrem Interviewpartner – recht unkonzentriert und in ihrem Sprachstil salopp. Sie erweisen sich dabei als belesen und kenntnisreich, gerade auch in Kluges umfangreichem Œuvre, übergehen aber die künstliche Gesprächssituation, in der sie stehen. Von Beginn an tendieren sie dazu, und dies wird später dann auch thematisch, zu polarisieren und gar nicht mit Kluge Möglichkeiten für Auswege zu suchen, sondern seine optimistische Grundhaltung in Frage zu stellen. Sie fordern, dass Kluge seine Ansichten expliziere, d. h. als Abstraktionen darlegt. Kluge erkennt aber seinerseits sehr schnell, dass eben dieser Anspruch der Redakteure sich rein sachlich gar nicht begründen lässt, sondern eben eine Haltung ist, und unterläuft diese bereits im Ton seines Sprechens. Gegenstandsthematisch also verfehlen die Freitag-Redakteure und Kluge einander, ›gefühlsthematisch‹ aber findet ein beständiger Austausch statt. So entsteht, gerade zum Ende hin, eine Art Patt-Situation: ein Erfolg für Kluge. Mehr kann er nicht erreichen, er spricht alleine gegen vier. Interessant ist das Verfahren Kluges. Es ist seine ruhige, sonore, leicht raunende Weise des Sprechens, seine Art, sprachliche Bilder mit sachlichen Aus-
104
Andreas Becker
sagen so frei zu kombinieren, dass in den Lücken die Phantasie des Hörers ›nisten‹ kann. Als ein Beispiel dafür kann bereits die erste Frage dienen:5 Lassen Sie uns über die Zukunft reden. »Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich als harmlos«, sagt Robert Jungk. Wo ist denn das Morgen im Heute vorhanden, und wie harmlos ist es? Die Zukunft ist in den Vergangenheiten vorhanden, und sie kommt auf uns zu. Man muss überlegen: Sind wir Menschen deswegen übrig geblieben, weil wir in unserem Erbe etwas haben, das klüger ist, als wir selbst. Dann wäre die Zukunft das Potential, das wir in uns tragen. Wir wären alle längst ausgerottet, wenn da nicht ein Schutzengel wäre. Es ist etwas kühn gesagt, aber es gibt in diesem Sinne nicht wirklich eine Zukunft isoliert von der Möglichkeitsform, von den Wünschen, dem Konjunktiv, und es gibt keine von der Vergangenheit gelöste Zukunft.
Kluge erklärt das Jungk-Zitat nicht, sondern differenziert es bald poetisch aus, bis hin zur Naturgeschichte des Menschen. Natürlich ist das Sprachbild, dass die Zukunft in den Vergangenheiten vorhanden sei, das Bild des (Schutz-)Engels, an Walter Benjamins »Thesen über den Begriff der Geschichte« orientiert.6 Es überlagern sich in dieser Antwort daher zahlreiche Allusionen und philosophische Spekulationen über das, was Zeit sei, mit der konkreten Frage eines Auswegs aus den Bedrohungen, die es in der Moderne gibt. Diese poetischen Bilder haben aber vor ihrer argumentativen Absicht den Sinn, ein Fühlen von Potentialen zu ermöglichen, zu zeigen, dass es sich lohnt, aktiv zu sein und an die Veränderung zu glauben, »[w]ir wären alle längst ausgerottet, wenn da nicht ein Schutzengel wäre«. Kluge betreibt Kooperationsarbeit, selbst dort, wo sein Gegenüber konfrontativ spricht. Die These, dass in allem ein Potential stecke, dass die Evolution intelligenter sei als unser Kopf, wird dann im restlichen Interview ausgeführt, sie mündet in eine Interpretation der digitalen Technik und des Kapitalismus. Man kann Kluges Sprechen (und auch seine medialen Arbeiten) als fortwährendes Angebot verstehen, weil es eine Vielfalt an Deutungshorizonten eröffnet und Kluge dann wiederum die (sprachlichen, gestischen) Spiegelungen im Anderen aufgreift (er nennt dies schon früh »Beziehungsarbeit«, GuE III: 914–922). Kluge versucht nicht, die Texte oder Aussagen zu interpretieren, als seien sie etwas vom Menschen und seinem Fühlen Abgelöstes.7 Indem er die 5 Kluge, »Der Angriff der 13. Fee«. 6 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1997, S. 693–704. 7 In seinem wegweisenden Text Die realistische Methode und das sog. ›Filmische‹ heißt es: »Normalerweise lernt man in unseren Bildungseinrichten die deduktive Methode. […] Wirklichkeit wird repräsentiert. Prinzip der Illustration: Die Abstraktion regelt die Konkretion, indem sie sie zerstört.« (Alexander Kluge, »Die realistische Methode und das sog. ›Filmische‹«, in: ders., Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 201–211, hier S. 201). An etwas späterer Stelle heißt es dann: »Im menschlichen Kopf
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
105
sachlichen Aussagen poetisch anreichert, entstehen mit den Antwortfeldern Resonanzräume zwischen ihm und den Fragenden. Deshalb stehen wir sehr leicht auf der Seite Kluges, empfinden Sympathie, aber eben nicht, weil dieser unsere Meinung trifft, oder weil er etwa rein kausal-logisch argumentieren würde, sondern weil seine Weise des Sprechens in sich eine große Offenheit hat und in Erwartung der Antwort des Anderen steht. Sie bindet den Anderen in ein gemeinsames Erzählgeschehen ein.
Unmittelbar autobiographische Arbeiten Dieses Bereiten einer sprachlich-bildlichen Offenheit, die Weise, einen Gegenstand gemeinsam mit dem Anderen zu durchdenken, übte Kluge bereits in einigen Filmen der späten sechziger Jahre ein. Diese dokumentieren die nächsten Verwandten. Es sind im besten Sinne amateurhafte Filme. Sie suchen die Stoffe nicht, sondern finden sie im allernächsten Umfeld. Sie folgen dem Alltag, bilden die Brüche und Irritationen desselben mit ab, anstatt dem Zuschauer ein arrangiertes Bild etwa eines bestimmten Konfliktes zu geben. Die Arbeiten sind auch deshalb so interessant, weil auch sie bereits die medialen Verzerrungen des emotionalen Involviertseins mit darstellen. Beispielhaft hierfür sind die Kurz-Dokumentarfilme Frau Blackburn, geb. 5. Jan. 1872, wird gefilmt (1967), in dem Kluge seine betagte Großmutter Martha Blackburn filmt, wie auch Ein Arzt aus Halberstadt (1970), in dem Kluge seinen Vater, den Arzt Dr. med. Ernst Kluge, porträtiert.8 Kluge zeigt die Großmutter Blackburn, mit wenig Schnitten, etwa beim Kaffeekochen. Die resolute Dame hat sichtlich Eigensinn, das merkt man an ihrem resoluten Sprechen. Die Weise, wie sie über ihre immer schlechter werdenden Augen, ihre Gicht, das Sterben, auch über ihre Frisur berichtet, lässt uns die Frau sehr nahe erscheinen, weil hier wenig inszeniert wird. Das scheinbar Banale wird aufgeraut durch die Einordnung der Passagen, in Blicke über den Innenhof des Wohnhauses, durch Zitate von Immanuel Kant, durch eingespielte Opernpassagen, Ansichten auf das Bücherregal. Dieses Eindringen in das Persönliche ist nur sind Tatsachen und Wünsche immer ungetrennt. Der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden.« (S. 204) Ich meine, dass Kluge in seinen darauffolgenden Arbeiten den Begriff des Realismus sukzessive durch den des Gefühls ersetzt. 8 Dieser ist im Internet auf dctp.tv abrufbar unter : http://www.dctp.tv/filme/frau-blackburnfrench/ (Stand: 17. 09. 2015). Beide Filme sind auf der bei Zweitausendeins erschienenen DVD-Box Alexander Kluge. Sämtliche Kinofilme, DVD 16, enthalten. Zu Kluges Vater und auch zur Geschichte der Scheidung der Eltern siehe Thomas Combrink, »›Ein Arzt aus Halberstadt‹. Über Alexander Kluges Vater«, in: Text + Kritik, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Heft Alexander Kluge, Bd. 85/86, 2011, S. 84f.
106
Andreas Becker
durch eine Vertrauensbeziehung wie die unter Verwandten möglich. Was Frau Blackburn mag, wie sie den Alltag gestaltet, erzählt sie eben nur ihrem Enkel. Wenn sie Kluge ihr teuerstes Porzellan zeigt, die Kamera über Meyers Konversations-Lexikon schwebt, so legt sie damit ganz nebenbei das Wertesystem einer ganzen Generation frei. Kluge, der mal als abwesender Kameramann angesprochen wird (»Die dürfen nicht dabei sprechen«, 1. Filmminute), dann doch wieder im Off mit ihr redet, auch die Weise, wie sie sich für die Kamera präsentiert, verleiht dem Film eine gewisse Komik und ihr eine Note von Humor.9 Es ist dies aber, eben weil die Beziehung zwischen den Menschen so nahe ist, kein Humor auf deren Kosten. Die Rollen können undefiniert (›performativ‹) bleiben, weil sie durch Vertrauen gesichert sind: Großmutter Blackburn ist damit einverstanden, dass sie in dieser Weise gefilmt wird und ihr Privates in die Öffentlichkeit gerückt wird. Man kann hier durchaus von einem existentiellen Humor sprechen, weil der Film nicht nur das Altern abbildet, sondern auch die Vergeblichkeit des Festhaltens von Vorgängen mit ausdrückt, indem er auch die Subjektivität von Werten und deren Vergänglichkeit mit verdeutlicht. Ich möchte diese Arbeit, wie auch die über Kluges Vater, als Übungsfilm verstehen. Hier wird ausprobiert, was später in den DCTP-Interviews Praxis ist, dass nämlich die Hierarchie und Distanz zwischen Filmendem und Gefilmtem durch Vertrauen (später dann auch zwischen fremden Menschen) überbrückt und durchlässig gemacht werden kann. Eben jene alltägliche Perspektive und deren Kenntnis erlaubt es Kluge, mit dem Interviewten in emotionaler Nähe zu stehen. Diese ist selbst dann noch überzeugend, als der Dokumentarfilm einen Einbruch bei Frau Blackburn inszeniert, also die Beziehung zwischen dem Filmemacher und den Menschen von der Fiktion durchdrungen wird. Man merkt nun am Timbre des Sprechens, dass Frau Blackburn spielt. Der wenige Jahre später entstandene Kurzfilm Ein Arzt aus Halberstadt zeigt auf eine noch subjektivere Weise den Alltag des Vaters im Gespräch. Im Kern erzählt Kluge die Geschichte der Begegnung des Vaters mit seinem Vetter, »ein Landgerichtsdirektor, reist von Tübingen heran« (3. Filmminute), wie OffStimme (Kluges Schwester Alexandra) mitteilt. Es entspinnt sich ein Gespräch zwischen Arzt und Richter und deren Rollen, das aus der Alltagspraxis entwickelt ist und von den Erfahrungen und den besonders spektakulären Gegebenheiten im Beruf handelt. Ernst Kluge bezeichnet sich selbst als Landarzt, als »Herr der Landstraße« (7. Filmminute), und erinnert damit an Kafkas Kurzge-
9 Siehe dazu Christian Schulte, »Cross-Mapping. Aspekte des Komischen«, in: ders./Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 219–232; dort heißt es: »Im Modus des Komischen ist die Schicksalsförmigkeit der Realität, ihr zwanghaftes So-und-nicht-anders, suspendiert« (S. 231).
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
107
schichte Ein Landarzt, was bis hin zu den Pferdeszenen reicht.10 Interessant ist, dass beide Gesprächspartner derart involviert sind (man beachte ihren gestischen Rapport), dass sie die Kamera gar nicht mehr zu bemerken scheinen. Kluge zeigt dabei, wieder auf die emotionale Resonanz bedacht, meistens die Gestik des Hörenden. Wieder zeichnet der Film so ein emotionales Relief der Verwandten und Freunde.
Geschichten. Sachverhalt und Gefühl Diese autobiographische Perspektive und die Frage der Kalibrierung, was real und was fiktiv sei, durchziehen Kluges gesamtes Werk. Wie die Kamera immer wieder eine dokumentarisch-authentische Haltung gegenüber dem Dargestellten einnimmt und dann in die Fiktion wechselt, so referieren die Geschichten sehr häufig auf historische Gegebenheiten, die aber von einem Nebel des Unbestimmten bzw. Fiktionalen umgeben werden. Weder geht es dabei darum, der Geschichte zu glauben noch sie als bloße Fiktion in Frage zu stellen, sondern darum, ein Gefühl für Möglichkeiten im historischen Raum auszubilden. Der Leser kann so ein Gespür für Wahrheiten eher entwickeln als dass er eine spannende Geschichte liest. In der Regel erzählt Kluge ohnehin nur in einzelnen Szenen, letztlich in Bildern. Das Moment der Resonanz zum Gesprächspartner kehrt hier bezogen auf den historischen Raum wieder. Frühe Geschichten der sechziger Jahre haben Lebensläufe (1962; Neue Geschichten. Hefte 1–18/Unheimlichkeit der Zeit, 1977),11 die Schlacht von Stalingrad (Schlachtbeschreibung, 1964), wie auch Kluges Erlebnisse aus seiner Kindheit in Halberstadt sowie deren Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zum Thema. Stilistisch verfährt Kluge hier bekanntermaßen ganz ähnlich wie Heinrich von Kleist, der seine Geschichten nicht poetisch ausschmückte, sondern stattdessen eine der Amtssprache verwandte Diktion wählte, die einen (vermeintlichen) Raum von Sachverhalten entwirft, der aber zwischen den Aussagen Tendenzen und Lücken aufweist, deren Potential eben narrativ genutzt wird. Diese Rasterung von Aussagenfeldern und vermeintlich objektiven Begebnissen erzeugt einen indirekten, konstellativen Erzählraum, in Form von potentiellen Geschichten. Der Leser wird damit nicht illusionistisch in das Geschehen einge10 Siehe zur Komik bei Kafka: Kentaro¯ Kawashima, »Komik des passiven Körpers. Ko¯ji Yamamuras Animationsfilm Kafka – Ein Landarzt (2007)«, in: Kayo Adachi-Rabe/Andreas Becker (Hg.), Körperinszenierungen im japanischen Film, Darmstadt 2016 (im Erscheinen). 11 Alexander Kluge, Lebensläufe, Stuttgart 1962, neu erschienen in: CdG II, S. 673–825; ders., Schlachtbeschreibung, Olten u. a. 1964, erneut erschienen in CdG I, S. 509–793; ders., Neue Geschichten. Hefte 1–18/Unheimlichkeit der Zeit, Frankfurt/M. 1977, erneut erschienen in CdG II, S. 7–453.
108
Andreas Becker
bunden und seine Gefühle werden auch nicht durch Worte evoziert, sondern stattdessen wird er in einen stetigen Modus der Bewertung der Geschichte verwickelt. Die Personen werden daher auch nicht ausgeschmückt, sondern oftmals nur so skizziert wie in den Unterlagen von Bürokratien und deren Akten, etwa durch Namen, oft auch nur durch Kürzel. Weil Kluge seine Geschichten oft an den Rändern der Realität, etwa im Krieg, in verzweifelten Situationen, spielen lässt, bleibt in vielen Fällen ohne Rückgriff auf andere Dokumente der Status des Erzählten unentscheidbar. Durch die Erzählungen bildet sich so ein Sensorium für Tatsachen aus. Es geht daher nicht um das Wiedererleben von Emotionen mittels der Literatur, sondern die Literatur (wie auch das Medium Film) wird zum Reflexionsort über die gesellschaftlichen Bedingungen und die Ökonomie von Gefühlen. Kluges spekulative Historiographie schreibt die Geschichte im Konjunktiv weiter und ist zugleich Übungsfeld auch für den Alltag, eben einzuschätzen, was im Schattenbereich der Gesellschaft geschehen mag. Kluge kehrt damit die Funktion von Literatur geradezu um, indem er Materialien, Listen und Fotos collagiert, deren Zusammenhang erst herzustellen und deren Ordnung keineswegs eindeutig ist. Es sind auch Geschichten nach Art der ›vermischten Meldungen‹ und der Kalendergeschichten. Oft sind Kluges Geschichten nachträgliche Refugien für Unerzähltes. Die Tragik der Realität wäre nicht zustande gekommen, hätte man denn rechtzeitig Zeit gehabt für das Erzählen. So berichtet die Geschichte »Ein Fall von Zeitdruck« (CdG I, S. 21ff.) von Ingmar, einem verheirateten Abteilungsleiter einer Bank, der sich in eine Prostituierte aus Afrika verliebt. Gerade vor Weihnachten, als Innenrevision im Geschäft ist, will er die Frau vor der Abschiebung retten und tötet unter ›Zeitdruck‹ den Zuhälter mit einer Pistole, die »sich Ingmar von einem Kriminalbeamten geliehen« hatte, »der ihm einen Gegendienst schuldete« (S. 23). Dann heißt es: Bei der Ausstellung des Totenscheins bemerkte der Gerichtsmediziner Dr. Fritzsche, daß die Zuständigkeit des toten Abteilungsleiters für Westafrika ausgereicht hätte, jenes Erdengelände in einen blühenden Landstrich zu verwandeln […]. Eigenartig, sagte er, daß eine Einwirkung aus jener Gegend, die er gewissermaßen regierte, ihn umbringt. (S. 23)
Die Perspektivwechsel, die Kluge hier einnimmt, erlauben es, Gefühle, die von den Protagonisten subjektiv erlebt werden, als Produkt einer vielschichtigen gesellschaftlichen Ordnung zu lesen und deren Zirkulation, d. h. ökonomische Struktur, zu verstehen. Die komplexesten Erzählungen Kluges betreffen den zwischenmenschlichen Umgang mit seinen Abgründen, ihren verschiedensten Aggregatzuständen von Liebe und auch von Gewalt. Das Erzählen dient dazu, mit Traumatisierungen umzugehen, und zwar indem die Geschichte das darstellt (vielleicht auch nur als Möglichkeit), was in der Situation hätte gesagt oder
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
109
gedacht werden können. Sie machen Realitätsschichten erstmals wahrnehmbar, indem sie den Fokus verschieben. Darin liegt das Partisanenhafte, Proletarische (MdG, S. 186), dass sie die Gefühle, die hier entstanden, narrativ rückbinden. Ein weiteres Beispiel für das Erzählen mit Auslassungen ist das Prosastück »Teestunde mit Akademikern« (DfB, S. 332ff.), in der die Geschichte einer Mehrfach-Vergewaltigung einer Betrunkenen erzählt wird. Hier wird mit Ausschmückungen, protokollartigen Phrasen, Perspektivwechseln das Verbrechen auf höchst indirekte Weise, als Absence geschildert. Rainer Stollmann merkt in einem Interview an, die Geschichte »könnte ja eher heißen: ›Schnaps mit Vergewaltigern‹«.12 Aber das würde eben das Changieren der Ebenen zerstören. Wenn es gleich im zweiten Satz heißt (und dann mehrfach wiederholt wird), der »Kerl, der ihr von der Straßenbahnhaltestelle bis hierher gefolgt war, stand in ihrem Rücken« (DfB, S. 332), so ist damit auch das Unbewusste der Frau bezeichnet, das die Vergewaltiger auf brutalste Art ausnutzen. Dazu markieren die sprachlichen Absencen und Lücken die Momente der Tat. Schon die Wendung, dass der Kerl in ihrem Rücken stand, nicht hinter ihrem Rücken oder ihr im Rücken, färbt den personalen Erzähler mit eben jener Subjektivität der Frau und ihrer Denkweise ein. Kluge durchmischt auf eine höchst subtile Weise ›Objektives‹ mit ›Subjektivem‹, fragmentiert die Beobachterperspektiven und lässt sie ineinander stürzen. Weil die Erinnerung der Frau die ihr noch kurz zuvor angetane Gewalt nahezu auslöscht, entstehen eigenartige und verstörende Momente. Irritierend ist auch, dass der einzige, dem gegenüber sich die Frau wehrt, als »Perser« (S. 334) beschrieben wird. Dieses Urteil der Frau bleibt jedoch ebenso ungeklärt wie deren Motive, sich nicht schon früher zu Wehr gesetzt zu haben. Wie Kluge im erwähnten Gespräch dann auflöst, handelt es sich hierbei um eine wahre Begebenheit: »Die meisten Geschichten sind wirklich passiert, wobei es so ist, dass sie manchmal versetzt werden, also in der Realität leicht versetzt sind. Hier in dem Fall nicht.«13 Es bleibt etwas Rätselhaftes und Unauflösbares in der Geschichte. Kluges zahlreiche Erzählungen bilden ein Netzwerk, einen Hypertext.14 In den jüngsten Texten bringt er am Ende der Kurzerzählungen gar selbst ›Hyperlinks‹ auf weitere Geschichten an. Das in Narration ›gekleidete‹ Fühlen bildet sich so 12 Alexander Kluge/Rainer Stollmann, »Nicht alles, was einen in Wallung bringt, ist ein Gefühl. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012, S. 181–191, hier S. 187. 13 Ebd., S. 189. 14 Ich folge hier Georg Stanitzek, der schreibt, es sei »sinnvoll, die Arbeiten Alexander Kluges im Kontext von Hypertext, von Phänomenen der Hypertextualität zu diskutieren« und wünschenswert, Kluges Arbeiten als solchen Hypertext verfügbar zu machen. Georg Stanitzek, »Autorität im Hypertext: ›Der Kommentar ist die Grundform der Texte‹ (Alexander Kluge)«, in: Verstärker, Internet-Dok. 1999, http://www.culture.hu-berlin.de/verstaerker/ (Stand: 25. 09. 2015), S. 7, siehe dazu auch S. 9.
110
Andreas Becker
auch in seiner assoziativen Ordnung ab. Freunde, Verwandte, Zeitgenossen Kluges bewohnen den narrativen Raum und führen ein Eigenleben. Die Geschichten interferieren und korrespondieren mit dem Alltag. Aber auch hier randen diese manchmal an das Groteske (wenn Heidegger auf die Krim gesetzt wird oder Kluge dessen Griechenland-Reise beschreibt),15 sie sind politisch (wenn das Weiße Haus vom Teufel besucht wird),16 philosophisch (wenn Walter Benjamin auftritt)17 oder schildern die letzten Monate Adornos und dessen Geliebter ›Eva‹ (»Sie mochten sich äußerlich wie Erwachsene aufführen, ganze Wochen lang, ein ganzes Arbeitsleben lang, kaum kamen sie zusammen, vereinigten sie sich als Kinder.« DfB, S. 209).18 In Das fünfte Buch rückt auch Kluges eigene Familiengeschichte in zahlreichen Erzählungen in den Vordergrund. Wie radikal Kluge dabei ist, zu dokumentieren, auch wenn man doch eher beschönigen möchte, zeigt sich, wenn er von Verstorbenen erzählt, die er selbst gekannt hat und die er durch seine zahlreichen Beiträge und Interviews auch uns vorgestellt hat. Wie im erwähnten Interview mit der Großmutter Blackburn oder dem mit dem Vater, so sind auch uns diese Menschen sehr nahe, obwohl wir sie nicht persönlich kennen. Einar Schleef,19 Heiner Müller, Rainer Werner Fassbinder,20 Andrej Tarkowskij21 und viele andere finden mit ihrem Denken in Kluges Geschichten einen Resonanzkörper in der Imagination. Die DCTP-Interviews mit Heiner Müller nach dessen Operation,22 danach die Trauerrede,23 dann die Ge15 Siehe hierzu die Geschichte »Heidegger auf der Krim«, CdG I, S. 413–507 sowie »In großer Ferne zum 5. Jahrhundert v. Chr.«, DfB, S. 90–95 und »Heidegger rechnet mit seiner Berufung zum Leiter der Führer-Lehrbegleitstaffel«, CdG I, S. 234ff. 16 So in »Der Teufel im Weißen Haus«, DL, S. 903ff. 17 Exemplarisch hierzu: »W. Benjamin, die Sterne und die Revolution«, DfB, S. 326–331; »Kinder des Lebens. Walter Benjamins Lieblingsfilm«, DL, S. 492f.; »Wird der Minotaurus mit einem ganz anderen Konstrukt des Daedalus verwechselt?«, DfB, S. 345–348. 18 Siehe dazu auch die Geschichte »Adornos Geliebte«, DL, S. 30f.; »Der Todeskandidat«, CdG I, S. 863f.; »Die Küche des Glücks«, DfB, S. 351–367. 19 Exemplarisch hierzu siehe: »Unterwegs zum Styx«, DL, S. 54f.; »Einar Schleefs Aufführung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz«, DL, S. 74f.; »Irrfahrt von Tugenden und Lastern im Endkampf«, DfB, S. 475ff. 20 Alexander Kluge, »Neun Geschichten für Rainer Werner Fassbinder«, in: Logbuch, InternetDok. 2015, http://www.logbuch-suhrkamp.de/alexander-kluge/neun-geschichten-fuer-rai ner-werner-fassbinder (Stand: 02. 10. 2015). 21 Siehe hierzu das Gespräch: Alexander Kluge/Gawan Fagard, »Die Fliege im Bernstein. Alexander Kluge über Rudolf Steiner und Andrei Tarkowski – Teil I«, in: all-over. Magazin für Kunst und Ästhetik, Ausgabe 6, März 2014, http://www.kluge-alexander.de/aktuelles/ details/artikel/die-fliege-im-bernstein-1.html (Stand: 02. 10. 2015). 22 Alexander Kluge/Heiner Müller, Ich bin ein Landvermesser : Gespräche; neue Folge, Hamburg 1996, hieraus insbes. das Gespräch Mein Rendezvous mit dem Tod, gesendet am 20. Februar 1995 auf RTL im DCTP-Magazin 10 vor 11, S. 11–24. 23 Diese ist abrufbar auf https://www.youtube.com/watch?v=OOl1WPNx9zQ (Stand: 25. 09. 2015).
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
111
schichten über Müller,24 das ist nie aus einer Haltung heraus gedacht, die das Vergangene als abgeschlossen betrachtet, sondern darin liegt die Gabe, mit Hilfe des Erzählens von Geschichten die Toten in der Phantasie weiter leben zu lassen (und dann innerhalb der Geschichten diese erneut zum Reden zu bringen, weiter zu spekulieren, Projekte fortzusetzen). Die eigene Trauer, den eigenen Schmerz, den Wunsch, der Andere möge doch nochmal verweilen, nimmt Kluge dann als Sensorium, als poetische Quelle. Darin liegt die Haltung, dass eine starke Emotion, höchste Subjektivität, aus der heraus gedichtet wird, sich unmittelbar auch auf den Leser überträgt und eine eigene Realität erzeugt. »Die Einheit von Öffentlichkeit und Intimität wäre eine starke Organisationsform«, schreibt Kluge gemeinsam mit Oskar Negt in Geschichte und Eigensinn (GuE I, S. 337). Als Kluge zur Universität Princeton eingeladen wird, stürzt er an einer Bordsteinkante, die »Kante ist dafür gebaut, aufzufallen. Ich habe sie nicht richtig eingeschätzt. Ich habe die müden Füße nicht genügend hoch gehoben.« (DfB, S. 394) Der glimpflich verlaufene Unfall wird zu einer Geschichte, die den Titel trägt »Sturz nach einem Tag mit zu vielen Eindrücken«.25 Und Kluge platziert dann ein Foto inmitten dieser Erzählung, das ihn mit krustiger Platzwunde acht Tage später zeigt, gefolgt von der Geschichte »Vor ihrem Alter graulte sie sich«. Wie weit das von einer rein persönlichen Schilderung entfernt ist, sieht man an einer kleinen Zwischenbegebenheit. Kluge sucht in New York den Bahnsteig: »Wie blind spreche ich einen Mann an, der in der Schlange von Leuten steht, die eine Fahrkarte kaufen. Wo geht es zum Zug nach Princeton? Dort lang, Herr Kluge, antwortet der Mann. Ich erkenne Richard Holbrooke. Mit ihm habe ich TV-Gespräche geführt.« (DfB, S. 393) Diese Koinzidenz, dass Kluge den hochrangigen US-Diplomaten eben auf dem Bahnsteig trifft, wie einen normalen Passanten (»Holbrooke rechnet mit dem Schutz der Anonymität, der Tarnmasse des Massenverkehrs.« S. 394), ist ein weiteres Motiv in Kluges polyphonem Erzählraum. Man nehme die Geschichte »Holbrookes Ende« hinzu, die eben von jenem Diplomaten handelt, der eine Hitze spürte »und danach 24 Hierzu exemplarisch: »Ein Dramenentwurf von Heiner Müller/Dido-Äneas«, DL, S. 39; »Gespräch mit Heiner Müller über Napoleon vor Madrid«, DL, S. 521f.; »Heiner Müller und ›Die Gestalt des Arbeiters‹«, CdG I, S. 56f.; »Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen«, CdG I, S. 58f.; »Die Götterdämmerung in Wien«, CdG I, S. 66–73; »Heiner Müllers letzte Worte über die Funktion des Theaters«, CdG I, S. 73–76; »Heiner Müller und das Projekt Quellwasser«, CdG II, S. 1008ff.; »Die Ärzte der Charit8 sahen keine Möglichkeit, den energischen Lebenskämpfer abzuwimmeln«, DfB, S. 119f.; »Ein Anschein von Kooperation«, DfB, S. 191; »Das sibirische Meer«, DfB, S. 380–383. 25 Siehe dazu: Claus Philipp, »Ein Kapitän soll aufpassen, wohin er fährt«, in: Falter, Wien 6/ 2012 vom 08. 02. 2012, S. 22, zit. auf: http://www.kluge-alexander.de/literarischer-autor/re zensionen/detailansicht/artikel/ein-kapitaen-soll-auf-passen-wohin-er-faehrt.html (Stand 11. 06. 2016).
112
Andreas Becker
einen unerträglichen Schmerz in der linken Brustseite« (DfB, S. 254). Holbrookes Aorta ist gerissen: »›Wir müssen den Krieg in Afghanistan jetzt unbedingt beenden.‹ Das war die vom Chefchirurgen durch eine witzige Bemerkung provozierte scherzhafte Antwort des Moriturus.« (DfB, S. 254) Von dieser Geschichte wiederum führt eine Assoziation zu »Die Stelle zwischen zwei Institutionen, an der die Schuld ungenau wird« (DfB, S. 392f.), die vor Kluges Unfallbericht gestellt ist. Kluge lesen, heißt »Beziehungen herstellen, heißt Hyperlinks realisieren zwischen textuellen und bildlichen und akustischen Einheiten«,26 es ist eben dies die Funktion der Chronik, diese Koinzidenzen aufzuzeigen. Mit dem Kontext werden die Gefühle in einen Zusammenhang gebracht, der notwendig ist, um diese zu realisieren: Die im Einzelmenschen leiseren Motivationen, die aber im Moment schwer zu versammeln und deshalb momentan nicht durchstoßkräftig scheinen, werden dabei in ihrem Zusammenhang zerstört, ihr Zusammenhang wird getötet. Der Widerspruch liegt darin, daß das Töten des Zusammenhangs die Gefühle selbst keineswegs umbringt. Ist aber der menschliche Zusammenhang, in dem sie entstanden sind und sich kombiniert haben, zerstört worden, so erkennt der Mensch seine eigenen Gefühle nicht wieder. Im buchstäblichen Sinn werden sie auf diese Weise unmenschlich.27
Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Theorie der Gefühle Walter Benjamin schrieb einmal, er richte sein »Teleskop durch den Blutnebel hindurch auf eine Luftspiegelung des neunzehnten Jahrhunderts«.28 Dieses Bild – selbst in sich allegorisch – lässt sich auch auf Kluges Geschichten-Kosmos anwenden. Seine kompakten Erzählungen sind so konzipiert, dass sie sich wie die Linsen in Benjamins Teleskop miteinander kombinieren lassen und so geschichtliche Zusammenhänge freigeben. Die Schwierigkeit, aus Kluges zahlreichen Darstellungen eine Theorie der Gefühle herauszuarbeiten, besteht darin, dass er die konventionelle Polarität von lyrischer und wissenschaftlicher Sprechweise selbst permanent unterläuft und das bereits erwähnte Moment des Humors und der Fröhlichkeit sein Denken durchzieht. Das Es-könnte-auch-anders-sein, die Freude an der Variation, gehört ebenso dazu. Kluge ist dort narrativ, wo er theoretisiert, und ist theoretisch auch 26 Stanitzek, »Autorität im Hypertext«, S. 32. 27 Alexander Kluge, »Die Utopie Film«, in: ders., In Gefahr und größter Not, S. 72–112, hier S. 97. 28 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.3, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 984.
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
113
dort, wo er erzählt. Er entwendet der Wissenschaft ihre poetischen Metaphern (selbst der Kosmologie und Genforschung) und entwickelt aus den Metaphern der Dichter ganze Theorien. Er definiert nicht, sondern fragt »wie sie organisiert werden«, die Gefühle (MdG, S. 213). Manchmal wird Kluge dann konkret, gerade dort, wo es um die grundlegende Frage geht, warum wir überhaupt fühlen. Kluge entwickelt schon in Geschichte und Eigensinn (gemeinsam mit Oskar Negt, GuE, S. 971f.), in Die Macht der Gefühle (1984), fortgesetzt in Das fünfte Buch die These, dass die ganz frühen Lebewesen erst dadurch fühlten, dass diese Unterscheidungen machten: »Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z. B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE.« (DfB, S. 224, siehe auch MdG, S. 201) Der Satz steht in der Einleitung eines Kapitels, das den Titel trägt: »Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd« und einen Gedanken Theodor W. Adornos ausführt, einen »Essay über die Kälte zu schreiben« (DfB, S. 223). Kluge verbindet damit die Theorien Sigmund Freuds (Triebökonomie, auch dessen Ausführungen aus »Notiz über den Wunderblock«, GuE, S. 1067–1071) mit der Evolutionstheorie Charles Darwins (GuE, S. 460ff.) und dem materialistischen Denken des frühen Karl Marx (Theorie der Bedürfnisse, Fetischismus der Ware, Ökonomisch-philosophische Manuskripte).29 Gefühle sind weder psychisch noch individuell.30 Es wird nicht neuzeitlich rekonstruiert, sondern antik, als mythopoetischer Zusammenhang von Mensch und Kosmos: »Gegenständlich und bestimmt ist der Umgang mit vier Milliarden Jahren Evolution, 2000 Jahren Geschichtszeit, gesamter Landschaft der Industrie und Gefühl des ganzen Körpers. Die Zellen wissen alles bis zu den Sternen hin, der Kopf hat so etwas nie erfahren oder vergessen« (GuE, S. 151).31 »Selbstregulierung als Natureigenschaft« (GuE, S. 45–86) lautet der Titel des zweiten Kapitels von Geschichte und Eigensinn. Ausgeführt wird dort, dass »die gesellschaftlichen Organe (lieben, wissen, usf.) relativ neueren Ursprungs« seien, »die originären 29 Siehe dazu auch meine Ausführungen zu Charles Chaplin: Andreas Becker, »Entäußerung als Schauspiel. Charles Chaplins Figur des Tramp und die Darstellung von Gefühlen in The Kid«, in: Heike Oehlschlägel u. a. (Hg.), Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse, Bielefeld 2006, S. 130–140. 30 So heißt es in Geschichte und Eigensinn: »Das seelische Geschehen hat seine Geschichte als gegenwärtig. Wir werden sehen, daß sich dabei nichts Physiologisches in Psychologie, nichts Individuelles in Gesellschaft oder Geschichte umwandelt. Eine Umwandlung existiert nicht, es sind verschiedene Verschlüsselungen, verschiedene Beobachtungsarten, nicht verschiedene Gegenstände« (GuE, S. 216). 31 Siehe dazu auch MdG, S. 200f. Dies ähnelt auch der sog. Gaia-Hypothese von William Golding. Siehe dazu etwa dessen Rede anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1983, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1983/golding-lecture. html (Stand: 25. 09. 2015).
114
Andreas Becker
Organe, bis zu den Zellen zurück, dagegen Produkte der gesamten Erd- und Gattungsgeschichte sind« (GuE, S. 46). Das Gefühl ist eine zu dem einzelnen Menschen quer liegende und bis in Tiefen der Naturgeschichte hinab reichende Entität, die niemals vergeht und die wie die alten Stätten der Antike ausgegraben werden kann, jederzeit sich aktualisieren und ganz verschiedene Formen annehmen kann (DfB, S. 243f.): Im Kosmos ist es für Warmblüter (und auch für Saurier, Fische und Schlangen) entweder zu heiß oder zu kalt. Daß es für das Leben geeignete, temperierte Orte gibt, gehört im Weltall zu den seltenen Fällen. Der Kältestrom, von dem Theodor W. Adornos Aufsatz »Erziehung nach Auschwitz« handelt, hat nichts mit in Celsius meßbaren Kältegraden zu tun, sondern mit einem GESELLSCHAFTLICHEN AGGREGATZUSTAND, der Kälte erzeugt: dem ABSTRAKTIONSPRINZIP. Das Befremdliche liegt darin, daß diese Art der Kälte in den Einzelpersonen nur mikroskopisch oder überhaupt nicht vorhanden ist. Sie entsteht zwischen den Menschen, so wie zuvor die Freundlichkeit, das Erzählen, die Geselligkeit und das Denken.
Die mikroskopischen ›Entitäten‹ (die Gefühle) in ihren geschichtlichen Aggregatzuständen, d. h. ihren wechselnden Formen, zu beschreiben, nimmt sich Kluge vor. Dabei gibt es einige stabile Ordnungen und Grundmuster, die er ausmacht, geschichtliche Bezüge, weniger Gesetze als variable Formen und Gefäße. Ein solches Gefäß ist der Mensch mit seinem Lebenslauf. So lässt sich der Satz verstehen, der im Vorwort der Chronik der Gefühle steht: »Die Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe« (CdG I, S. 7),32 »Menschen hausen in ihren Lebensläufen« (CdG I, S. 11). Aus dieser Prämisse heraus, vom Fühlen aus den Menschen zu denken, ergeben sich zahlreiche weitere Basisvorstellungen, etwa das vom ›Bauern in mir‹,33 also die Idee, dass vergangene Zivilisationsniveaus in uns und in der Moderne weiter wirken, obwohl wir dies vielleicht gar nicht realisieren. Eine weiteres solche Vorstellung ist das Haus (GuE II, S. 634f.): Der Körper hat die gleiche Grundform wie das Haus. Er ist aber etwas grenzsetzendes durch die Berührung mit anderen, das eigene Körpergefühl ist immer schon eine gesellschaftliche Erfahrung. […] Insofern ist eher das Haus zugleich mein Körper, mein Fühlen und mein Denken. Werde ich bedroht, ziehe ich mich in etwas zurück: Dies ist das Haus im übertragenen Sinn.
32 Und wieder ist das Sprachbild paradox, dass die Gefühle Einwohner seien, sei ein circulus vitiosus, mag ein Philosoph einwenden, den Dichter hat dies nicht zu kümmern. 33 Siehe dazu: Alexander Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal der Öffentlichkeit« (1985), in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. von Christian Schulte, Berlin 1999, S. 165–221, insbes. S. 198.
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
115
Diese ›Gefäße‹, die Verinnerlichungen der ganzen Erdgeschichte, sind nicht naturgegeben, sie entstehen als (dialektische) Reaktion bzw. ›Protest‹ auf die gegebenen Verhältnisse, auf Trennungen (GuE, S. 680): Wir können uns bei dem Gewicht des objektiven Geschichtseingriffs die konsequente Nichtverarbeitung dieser Erfahrung nur so deuten, daß eine Art zweites Leben, eine innere Geschichte, d. h. das, was als Trennungsenergie und Wunschproduktion in das Innere der Menschen und in ihren imaginären oikos, das Haus, zurückgebogen ist, für das Wirkliche gehalten wird, das Wirkliche jedoch für einen Alp (aus dem ich ja dann aufwache und er ist vorüber).
Man kann schon hieran sehen, dass Fühlen eine Korrespondenzbeziehung meint, aber nicht nur eine zwischenmenschliche, sondern auch eine zwischen den Zeiten und Orten, also hin zu den vergangenen Trennungen und Abspaltungen, die in der (gesellschaftlichen wie individuellen) kollektiven Erinnerung aufgehoben sind. Diese Perspektivwechsel in der Suche nach Ähnlichkeiten und Ordnungen bilden Kluges Prämissen; so heißt es in Geschichte und Eigensinn (GuE, S. 719): »Man stelle sich einen Beobachter vor, der 1000 Jahre so ansieht, wie das Alltagsauge eine Stunde überblickt.« Dieser Anspruch, dem Gesprächspartner aus einer solchen »Zeittotalen«34 zu begegnen wie jener Beobachter, erweckt Vertrautheit wie die zwischen Kluge und seiner Großmutter Blackburn auch unter scheinbar Unbekannten und mag auch der Grund für den Einsatz zahlreicher Zeitrafferaufnahmen in seinen Fernsehmagazinen sein. Das ›Innere‹ des Menschen durchfließt ein Strom von Gefühlen (GuE, S. 257): »die individuellen Leben […] sind außerdem Durchflußgelände der gesamten Produktions- und Gattungsgeschichte, als solche nicht bloß subjektive Lebensläufe; nicht hermetisch, sondern durchlässig für den Geschichtsfluß, der sich in ihnen vergegenständlicht.« An anderer Stelle heißt es, diesmal sich auch die Menschengeschichte beziehend: »Wir können sagen, daß einer von uns beiden entweder Koch oder Verwandter Karls des Großen war. Diese Rechnung enthält keinen Fehler. […] Jeder ist mit jedem verwandt. Er hat also den anderen und alle früheren Zeiten in sich. Alle Anfänge sind untereinander verwandt.« (GuE, S. 232) Der Mensch lebt in diesen verschiedenen Gefäßen der Gefühle. Sie sind ihm Schutz, Eigensinn, provisorische Hilfe, um sich orientieren zu können. Er versucht durch Wechsel, durch Erzählen usf., ein Gleichmaß in diesen Korrespondenzen herzustellen. Dieses Bestreben nennen Kluge/Negt Selbstregulierung (GuE, S. 55): »Selbstregulierung nennen wir die vollständige Anerkennung der verschiedenen Bewegungsgesetze der in einem Menschen zusammmen34 Alexander Kluge, »Die Utopie Film« (1983), in: ders., In Gefahr und größter Not, S. 73–112, insbes. S. 82f. sowie ders., »Interview mit Ulrich Gregor« (1976), in: Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 224–244, insbes. S. 237.
116
Andreas Becker
stoßenden Kräfte. Dies ist Selbstregulierung im weitesten Sinn. Ein darauf achtender Begriff ist materialistisch.« Diese Zuordnung zur materialistischen Theorie wird allerdings in den neueren Erzählbänden nicht mehr konsequent ausgeführt, allerdings auch nicht aufgegeben (siehe dazu etwa GuE, S. 873: »Der Lebenszusammenhang ist die primäre Produktion.«) In Geschichte und Eigensinn wird als These formuliert, was in Kluges Erzählungen auch oft – dann allerdings in tausendfach variierter, spielerischer Form – poetisch gedichtet wird, es ist dies das Konzept der drei einander beeinflussenden Ökonomien: der Produktion (Nationalökonomie), der Erfahrungsökonomie und der Beziehungsökonomie (GuE, S. 777). Man nehme hier etwa die kurze Geschichte vom Bankier Friedrichsen, der sich im November 1923 in seinem Haus erschießt und nicht bemerkt, dass sein eigentlicher und von Inflation unberührter Reichtum im Garten spielt, seine beiden Kinder (»November 1923«, DfB, S. 377). Zahlreich sind die Geschichten, die darstellen, wie starke Gefühle über die Generationen hinweg (den Genen nicht unähnlich) ›springen‹ und verspätet Katastrophen wie auch Glück erzeugen können.35 Diese Art der Zeitlosigkeit, der Zeitenthobenheit des Fühlens macht eben eine radikal assoziative Interpretation notwendig, ich »kann ein Gefühl, das ich mit 9 Jahren hatte, im 81. Lebensjahr noch in Bewegung bringen.« (MdG, S. 181) Dass es sich hierbei nicht um eine Täuschung handelt, wird ersichtlich, wenn eben das Erzählen einsetzt und sich ein (zunächst verborgener) Sinn aus der gefundenen Ordnung ergibt.36 Vielfach ist die Liebe das Hauptthema der Erzählungen, jenes Gefühl, bei dem ich – wie Negt/Kluge in Geschichte und Eigensinn Hegel zitieren – »keine selbständige Person für mich seyn will« und »ich mich in einer anderen Person gewinne, daß ich in ihr gelte, was sie wiederum in mir erreicht«.37 Es handelt sich hierbei um eine höchst alteropolare Konstellation, weshalb die Liebe sicherlich zu den vielschichtigsten Gefühlen zählen kann.
35 Als Beispiel möchte ich hier exemplarisch »Fräulein Clärli« (DfB, S. 19f.) und »Das verlorene Kind« (DfB, S. 22ff.) nennen. 36 So schreibt Jens Birkmeyer : »Kluges Geschichten sondieren die Produktionsweisen von Gefühlen, weil sie als autonome, weitgehend unbeherrschbare Speichermedien und Gedächtniskonstellationen aufgefasst werden. […] Die Geschichten sind als Ermittlung, Untersuchung und als Bilanz angelegt, um zu eruieren, welche Gefühle als Eigentum des Menschen überhaupt vorliegen und am Projekt der Emanzipation, am Widerstand gegen das Erkaltete, Fremdbestimmte, Verdinglichte und Lebensfeindliche mitwirken können.« Jens Birkmeyer, »Das Gedächtnis der Emotionen. Alexander Kluges Chronik der Gefühle als verborgene Erinnerungstheorie«, in: Judith Klinger u. a. (Hg.), Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen, Berlin 2009, S. 257–276, hier S. 263. 37 So in GuE, S. 911, zit. aus Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart-Bad Cannstadt 1964, S. 238.
Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle
117
Kraftwerk der Gefühle In Kluges Film Die Macht der Gefühle (1983) wird die Oper als Kraftwerk der Gefühle bezeichnet, »[m]an sagt von den Gefühlen, daß sie brennen, nicht, daß sie kühlen.« (MdG, S. 112), im Off des Films spricht Kluge (45. Filmminute): »Im 19. Jahrhundert entsteht das Projekt eines Kraftwerks der Gefühle: Das Opernhaus. Irgendetwas in der Anfangsphase des Projekts ging schief. Die Verkabelung ist in einem katastrophalen Zustand.« (siehe dazu auch MdG, S. 68) Damit ordnet Kluge die Oper in eine Geschichte der Industrialisierung ein. Wie die Kraftwerke der Industrie physikalische Energie liefern, so liefert die Oper emotionale Energie für die Menschen, könnte man die Allegorie lesen. Die Oper nutzt die ›emotionalen Verbrennungsvorgänge‹, die an anderer Stelle der Gesellschaft entstanden. Die Bilder von den korrodierten Kabeln, dann das von Frau Bärlamm (Hannelore Hoger), die die Röhrensysteme reparieren will, konkretisieren eben die Allegorie – und unterlaufen sie kafkaesk. Die Weiterleitung der (emotionalen) Energie funktioniert nicht mehr, die Oper als gesellschaftliche Institution vermag es nicht, ihrem Anspruch gerecht zu werden. Kluge unterlegt dieses Bild, das zunächst ein abstraktes ist, selbst mit Opernmusik, der Arie der Alceste von Gluck (MdG, S. 112). Im Band Facts & Fakes 2/3. Herzblut trifft Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer (2001) entwickelt Kluge diesen Gedanken weiter. Im Interview mit Christian Schulte heißt es: »Und sie ist also Kraftwerk der Gefühle in diesem etwas extremen Sinn, daß sie stellvertretend Entsorgung der Gefühle betreibt, aber sie ist nicht selber das Kraftwerk. Die Kraft wird woanders erzeugt.«38 Dieser industriellen Maschinerie stellt Kluge das Prinzip des Gartenbaus an die Seite: »Geringe Mengen an solchen zauberischen Orten schaffen die gewaltigsten Wirkungen in der Welt, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit.«39 Es sind diese Suchbilder, die Kluge wagt und die uns, ob in seinen Geschichten, theoretischen Arbeiten oder seinen Filmen, die Gefühle in ihren Schichten auffächern: »Schon das Kind, das sich wie ein Tiger und groß bis an die Decke fühlt gegenüber diesem objektiv größeren Erwachsenen, macht das mit dem Gefühl. Die Gefühle sind also ungeheure Ausgleichsbewegungen, die das Unmögliche können.« (MdG, S. 181)
38 Alexander Kluge/Christian Schulte, »Die Opernmaschine«, in: Facts & Fakes 2/3. Herzblut trifft Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer, Berlin 2001, S. 36–43, hier S. 37. 39 Alexander Kluge, »Gärten sind wie Brunnen«, in: Text + Kritik, Heft Alexander Kluge, S. 5–8; ders., »Gärten der Gefühle«, DfB, S. 320–334, hier S. 7.
10 vor 11 vom 4. Juli 2016 (Kluge / Didi-Huberman)
Nachleben des Politischen. »Die Zukunft wird in Idomeni gemacht, nicht in Silicon Valley!«
KLUGE: Sechs Bücher von Ihnen haben den Titel Das Auge der Geschichte. Es geht um das Auge, nicht das Ohr der Geschichte. DIDI-HUBERMAN: Im Französischen spricht man vom »Auge des Sturms«. Und der Abschluss dieses Projekts ist dieses Buch, Bilder trotz allem. Sonderkommandos hielten sich mit ihren Fotografien im Auge des Sturms auf. Andererseits ist auch das »Auge der Geschichte« die Umkehrung einer Erzählung, die mich stark beeinflusst hat. Es handelt sich um Die Geschichte des Auges von Georges Bataille. Es ist eine erotische Fiktion. KLUGE: In dem Buch Bilder trotz allem geht es um eine extreme Situation, ohne die man die Bilder nicht sehen kann. Man muss die Geschichte dazu erzählen. Das Sonderkommando hätte Rabelais nicht erfinden können. Diese Menschen werden doppelt selektiert, als Hilfshenker und Aufräumer noch mal gegen die eigenen Leute gesetzt und vernichtet, weil sie Zeugen sind. Diese Menschen haben den Mut, noch Fotos zu machen, Partisanen-Nachschub zu verlangen. Wir werden weiter Bilder machen, wir werden Zeugen sein. DIDI-HUBERMAN: Abershaben beschlossen, die Fotos zu machen. Zwischen dem Ohr und dem Auge der Geschichte sehe ich keinen Unterschied, insbesondere im Zusammenhang mit der Polemik, die dieses Buch ausgelöst hat. Man kritisierte, dass ich mich zu stark für das Ästhetische interessiert hätte. Aber es handelt sich um ein Buch, kein Schaufenster. Und als diejenigen, die diese Fotos gemacht haben, sie an die polnischen Widerstandskämpfer geschickt haben, war ein Brief dabei, ein Text dazugegeben. KLUGE: Die Fotos sollen weitergegeben werden. DIDI-HUBERMAN: Man sieht nichts, ohne das Wort, was dazu gehört. Man sieht nichts, ohne die Sätze (ich sage nicht die Wörter), und deshalb ist ihre Arbeit, das was sie schreiben, ausgehend von Dingen, die so eine optische Präsenz haben, wichtig. Das geht Hand in Hand. Und für diese Leute sind die Manuskripte, die Zeugnisse und die Fotos dieselbe anthropologische und auch politische Geste. Wenn wir schauen, kann man nie ein reines Auge ohne Sprache haben.
120
10 vor 11 vom 4. Juli 2016 (Kluge / Didi-Huberman)
KLUGE: Bei Kant heißt es »Sapere aude«, wage es, zu wissen, wage es, Dich Deines Verstandes zu bedienen. Hier ist eine Rebellion, die tiefer sitzt, im vollkommen Unwirklichen, in deplatzierter und unmenschlicher Lage. DIDI-HUBERMAN: Ich kannte dieses Konzept »Sapere aude« noch nicht, als ich mein erstes Buch zur Kunstgeschichte geschrieben habe. Es war mir jedenfalls nicht präsent. Mein Buch heißt Devant l’image, »Vor dem Bild«. Es gründete auf einer Dialektik zwischen Panofsky und Georges Bataille. Panofsky steht für das Prinzip, es zu wagen, es zu wissen. Und Bataille ist das Gegenteil: wagen, es nicht zu wissen. Man muss auch den Mut aufbringen oder keine Angst haben, etwas zu wissen oder wissen zu wollen. Viele Leute haben Angst, etwas wissen zu wollen. Aber man darf auch keine Angst davor haben, etwas nicht zu wissen. Inmitten all dessen, was man weiß, gibt es einen Kern des Nichtwissens. Dafür steht die Literatur. Das war die Grenze von Panofsky. Freud hat uns das beigebracht, diese Lektion hat weder Adorno noch Benjamin noch Eisenstein jemals vergessen. Es geht um unsere Leidenschaft, wissen zu wollen, in deren Mitte ein Kern des Nichtwissens ist. KLUGE: Das ist die Naivität bei Hölderlin, der blinde Sänger. Homer ist ja nicht blind. DIDI-HUBERMAN: Diese Naivität ist der Kindeszustand, naiv wie nativ. Das muss man immer wieder finden, sogar wenn man Panofsky oder Adorno heißt. Sie sprechen von der Dialektik, die auch etwas Schwerfälliges an sich haben kann. KLUGE: Sie kann zerbeult, sie kann zerstreut sein. DIDI-HUBERMAN: Aber die Dialektik selbst kann und muss auch naiv sein, wie Benjamin das im Hinblick auf Brecht sagt. Die Kinder sind perfekte Dialektiker. KLUGE: Sie haben in Ihrem Buch Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft die Unruhe, den Titel von Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft und die mächtigen Schultern eines Titanen, des Atlas’, zusammengebracht. DIDI-HUBERMAN: Die ersten Worte von Minima moralia beziehen sich auf die traurige Wissenschaft. Es gibt die fröhliche Wissenschaft, also Nietzsche, und die traurige Wissenschaft. Man muss mit beiden arbeiten, sonst bricht Verzweiflung aus. Eisenstein zeigt in Potemkin die Matrosen, die das große weiße Tuch hochheben, wobei man sie erschießen wird. Eisenstein sagt, der Ursprung dieser Szene sei das Bild von Delacroix Die Freiheit führt das Volk an, mit der Fahne, dem Kleid, dem kleinen Jungen; aber auch der Faltenwurf des Kleides ist wichtig. Das ist die Kraft des Durchbruchs, des Aufstehens, des sich Erhebens. Ich weiß genau, sagt er, dass diese figurative Strategie von Delacroix vom Floß der Medusa herstammt. Die Leute haben ihr Floß zusammengebaut, aber sie sind schon dabei, ein Zeichen zu setzen. Die Frage des Floßes, die Rettung im Hinblick auf den Aufstand gegen das, was uns in diese Situation, in dieses Malheur verbracht hat. Und Kant sagt zur Zeit der Französischen Revolution: »Ich weiß
Gespräch mit Georges Didi-Huberman
121
nicht, ob sie ein Erfolg oder ein Fehlschlag wird, aber selbst wenn sie ein Fehlschlag wird, dann wird sie in unserem Geist Enthusiasmus hinterlassen, ein Enthusiasmus, der unsterblich ist«. Das nenne ich die Politik des Nachlebens. KLUGE: Es sind Kräfte in der Vergangenheit und die sind die Fußspuren der Zukunft, die sich vorbereitet. Es gibt die Zukunft in dieser Form 1789 in Frankreich, 1905 in Russland und in Luigi Nonos Oper. Wenn man sich vorstellt, eine Revolution hätte 400 Jahre Zeit, wie die Bürgerliche Revolution, dann wäre das der Zeitbedarf der Revolution. DIDI-HUBERMAN: Marx erkennt das an, aber es gefällt ihm nicht, er nennt es einen Alptraum. Die Toten sind ein Alptraum. Aber seit Freud zum Beispiel oder seit Nietzsche kann man sich vorstellen, dass die Toten der Vergangenheit nicht unser Alptraum sind, sondern das Prinzip dessen, was wir anstreben, was wir begehren. Das nenne ich die Politik des Nachlebens. Ich mag Aby Warburg sehr, der die Pathos-Formeln der Spartakisten 1919 hätte untersuchen können oder die der Russischen Revolution. Er hat es nicht gemacht, er hatte Angst davor. Man muss Warburg mit Brecht zusammenbringen. KLUGE: Im ersten Kapitel entwickeln Sie einen theoretischen Gedanken. Im Kern des Buches aber, wenn das Buch eine Kugel wäre, in der Mitte, gibt es eine konkrete Situation. Warburg fasst 1924 den Plan zum Mnemosyne-Atlas. Darin zieht die Zeitgeschichte des Ersten Weltkriegs mit seinen Metamorphosen, die zwanziger Jahre, der aufkommende Faschismus vorbei. Warburg in Ataraxia, in einer unerschütterlichen Ruhe, sammelt wie die Brüder Grimm. Aber nicht systematisch, sondern combativ, die Gegenstände dürfen einander bekriegen. DIDI-HUBERMAN: Bei mir steht eine konkrete Situation im Zentrum, weil es eine konkrete Ausgangsposition gibt. Das macht den Unterschied aus zwischen dem Willen, einen Gedanken zu entwickeln auf axiomatische Weise und einer Vorgehensweise, die der Fiktion viel näher steht oder der Chronik oder dem Tagebuch, dem Journal, der Bemerkung zu einer Situation, die ganz konkreten Charakter hat. KLUGE: Das wiederholt sich bei Brecht. Sie portraitieren ihn mit dem Kernpunkt seiner Arbeit in Dänemark, wo er Berührung hat mit Benjamin. Da ist eine kleine Gruppe von Menschen, und um sie herum tobt der Zweite Weltkrieg und die Expansion. Bei Ihnen gibt es ein Bild, wie die Flugzeuge England bombardieren und überall Schiffe versinken, wie der letzte Kämpfer England zu unterliegen scheint. Da sind Brecht, Korsch, Benjamin eine verschwindende Minderheit. Man kann sie nicht zählen als Zielgruppe. Sie sind Protokollanten der Geschichte, haben aber auch eine Werkstatt errichtet und daraus entwickeln sie eine Fibel über die Anfänge des Wissens. Wie kann man mit einer Reinschrift der Geschichte beginnen? DIDI-HUBERMAN: Dieses Treffen zwischen Benjamin und Brecht, das für uns ein historischer Moment ist, geschieht zu einem Zeitpunkt, wo beide in einer
122
10 vor 11 vom 4. Juli 2016 (Kluge / Didi-Huberman)
ausgesprochen fragilen, anfälligen Situation sind. Sie sind im Exil, sie haben nur wenig Rechte, sie haben ihre Bibliothek nicht zur Verfügung und obwohl diese beiden Verlierer aufeinandertreffen, ist das für uns etwas Kostbares. Man müsste nach Idomeni gehen und sich dort umschauen, wie die Leute zusammentreffen, was sie erfinden trotz ihrer Situation des Verlustes. Die Zukunft wird in Idomeni gemacht, nicht in Silicon Valley.
Alexander Kluge
»Zärtlichste Mole des Monds am nächtlichen Himmel«
Er befand sich in seiner abstrakten Phase. Befragt, ob er abstrakt male, hätte er allerdings geantwortet, seine Bilder seien nie abstrakt, sondern realistisch. Nur gehe es um nicht-irdische Landschaften, die er ins Bild setze. Jetzt lief er am Ufergebüsch entlang. Oberhalb des Bodennebels, wolkenumhüllt, der helle Schatten des Mondes. Erinnerungen erfüllten den Maler. Ein Zaun. Jenseits des Zauns, der für ihn als Kind nicht überwindbar gewesen wäre: der nebelhafte Mond. Unerreichbar. Er hätte nicht zu ihm hinaufrennen können. Ganz anders der Mond, den er während der Flucht sah. Den erblickte er vor seinem inneren Auge. Der war aber nicht zärtlich. Und doch konnte er die »Mole des Mondes« bei allen drei Mondbildern gut vergleichen. Wenn er sie malt, wird nichts an das Bild erinnern, das er im Moment vor Augen hat. Es sind die zwei Augen hinter seinen Augen, welche die Bilder erzeugen, die auf den Auktionen dann so teuer sind.
124
Alexander Kluge
DIE GESPRÄCHSKUNST ALEXANDER KLUGES Stuttgarter Symposium (2016)
Barbara Potthast
Einführung »Viel hat von Morgen an Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander Erfahren der Mensch, bald aber sind wir Gesang.«
Mit diesen Versen aus der Hymne Friedensfeier (1802) formuliert Hölderlin hohe und höchste Erwartungen an das Gespräch. Die Menschen führen kein Gespräch, sie sind ein Gespräch – das Gespräch wird hier als menschliche Bestimmung gedeutet, als Ort der Orientierung, der Gemeinschaft, der Humanität. Diese Vorstellungen Hölderlins stehen im Kontext der aufklärerisch-idealistischen Gesprächskultur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts; Kant, Herder, Humboldt, Schleiermacher, Kleist und die Brüder Schlegel haben sich ähnlich enthusiastisch über das Gespräch geäußert. Zu einer solchen Konzeption von Gesprächskultur gehört die Utopie einer bürgerlichen Öffentlichkeit und einer sich selbst vervollkommnenden Menschheit. Gesprächskultur bedeutet das freie Spiel der Möglichkeiten des Gesprächs; Alltagsgespräche sind dabei ausdrücklich eingeschlossen. Der Aufbruch der Gesprächskultur im Idealismus steht für den Versuch, die individuelle Vielfalt von Perspektiven und Deutungen mit gemeinsamen Horizonten, Subjektivität mit der großen Menschheitsidee zu vermitteln, das Allgemeine nicht gelten zu lassen, ohne es auf das Individuelle hin zu überprüfen. »Der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat«, schrieb Wilhelm von Humboldt. Diese emphatische Konzeption von Gespräch und Öffentlichkeit endet im dynamischen Kapitalisierungs- und Industrialisierungsprozess Europas im 19. Jahrhundert. Heute stehen wir vor der Situation einer nachhaltigen Verdrängung von Gesprächen aus allen Lebensbereichen und ihrem Ersatz durch Bildschirme. Das freie Gespräch droht heute – unter der Übermacht der Funktionsmechanismen gesellschaftlicher Systeme – bedeutungslos zu werden. Die Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen erscheint uns wie eine längst überlebte Idee; an ihre Stelle sind Systemrationalitäten getreten, die das Gespräch instrumentalisieren – für kommerzielle, mediale, politische Zwecke. Es ist kein Zufall, dass die Gesprächstheorien des 20. Jahrhunderts, die über Dialog, Kommunikation und Diskurs reden, das Gespräch immer bereits einer durch Machtstrukturen korrumpierten gesellschaftlichen Praxis gegenüberstellen.
128
Barbara Potthast
»Wer die klassische Öffentlichkeit zerstört, ist ein Geschichtsverbrecher«, sagt Alexander Kluge, und an anderer Stelle: »Wenn die Öffentlichkeiten zerfallen, zerfällt auch etwas in uns. Es genügt nämlich nicht, daß ich etwas fühle oder etwas für mich denke; ich muß auch darüber erzählen hören: Das ist Öffentlichkeit«.
Seit seiner frühen Prägung durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule arbeitet Kluge an einem unterdessen unüberschaubaren und täglich sich weiter vergrößernden Werk in den verschiedenen Medien und Kunstformen, in Literatur, Film, Fernsehen, Theorie und Interview. Dieses Werk ist selbst bereits als ein »im großen Maßstab utopisches Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit« bezeichnet worden, als ein dialogischer Kosmos, der vielfältige Modelle lebendiger Kommunikation bereitstellt, über die wir hier sprechen wollen. In allen seinen Arbeiten, Text oder Film, arbeitet Kluge gegen Gattungskonventionen, gegen Sinnzwang und Spannungsdramaturgie, die bloß passive Konsumenten hervorbringen statt interessierte kritische Zuschauer und Leser. Alle Arbeiten Kluges, natürlich nicht zuletzt seine Fernseharbeiten seit den späten achtziger Jahren, wenden sich gegen die Kultur- und Bewusstseinsindustrie; sie gründen auf einem aufklärerisch-emanzipatorischen Verständnis von Öffentlichkeit. An ihrer Wiederherstellung arbeitet Kluge seit den frühen sechziger Jahren. Ihre Prinzipien sind Freiheit, Kreativität und Selbstbestimmung, ihre Grundformen sind das Gespräch und das Geschichtenerzählen. In seinem Essay »Die Macht der Bewußtseinsindustrie« schreibt Kluge: »Der Reichtum der Erfahrung und das Geschichtenerzählen sind die Grundlagen der klassischen Öffentlichkeit«. Als die Bundesregierung in den achtziger Jahren das sogenannte duale System einführte, also neben den öffentlich-rechtlichen auch private Sendeanstalten zuließ, schrieb Kluge: »In großem Maßstab geht es um das Projekt einer Industrialisierung des Bewußtseins.« Als einer der ersten wies er mit Nachdruck darauf hin, dass homogenisierte TV-Programmangebote drohten, die sich am kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikumsgeschmacks orientierten. Die Folgen würden Störungen der gesellschaftlichen Kommunikation und Erfahrungsbildung bis hin zu Persönlichkeitsverlust sein. Doch Kluge, seit dem Oberhausener Manifest von 1962 auch ein Medienpolitiker und Medienmacher, beließ es nicht beim Kommentieren und Warnen. Er begann 1987 mit seiner Fernsehproduktionsfirma dctp das Fernsehen von innen heraus zu verändern – durch seine verschiedenen Kulturmagazine mit festen Sendeplätzen auf RTL, Sat1 und Vox. Ich zitiere hier Christian Schulte: »Mit seiner ebenso umsichtigen wie beharrlich verfolgten medienpolitischen Strategie hat Kluge nicht nur eine breite Vielfalt an Themen und journalistischen Zugängen in einem von Profitinteressen bestimmten Programmumfeld ermöglicht, seine Produzenten- und
Einführung
129
Herausgebertätigkeit hat auch das Profil der Sender nachhaltig verändert und aufgewertet.« Kluges gesamte Arbeit steht im Dienst lebendiger Kommunikationsstrukturen und dem Glauben an die unendlichen Möglichkeiten, die Vielstimmigkeit und den kulturellen Reichtum der Wirklichkeit. Was nicht erwartbar und nicht konventionell ist, was auf ungewohnten Perspektiven und Verbindungen beruht, interessiert Alexander Kluge am Gespräch. In seinen TV-Kulturmagazinen, Erzählungen und Filmen kreiert er einzigartige Gesprächsverläufe, in denen Logik, Kausalität und Kohärenz ganz bewusst außer Kraft gesetzt werden. Brüche und unvorhersehbare Wendungen legen neue Perspektiven frei, Leser und Zuschauer werden in ungewohnter Weise gefordert – sie müssen neue Denkmöglichkeiten entwickeln, sie werden Dialogpartner. Angetrieben von einer Neugier auf Entdeckungen, liebt Kluge es, die Experten zu Problemen und Fragen jenseits ihres Fachgebietes zu führen; er fällt seinen Gesprächspartnern nicht selten ins Wort, fasst zusammen, konkretisiert oder abstrahiert, wechselt unmotiviert das Thema. Auch seine Erzählungen, Spielund Dokumentarfilme sind voller Gespräche, mehr noch: alle seine literarischen und filmischen Arbeiten sind in ihrer Tiefenstruktur dialogisch organisiert. In Text und Bild arbeitet Kluge Kohärenzen entgegen, um Leser und Zuschauer dazu zu bringen, Verbindungen herzustellen, Lücken zu schließen, selbst Bedeutungen zu produzieren. Immer geht es um einen Dialog mit dem Rezipienten, der zum Ko-Autor von Werken werden soll, die ihm durch ihre offene, vorläufige Form diese Rolle nahelegen. Die folgenden Beiträge gingen aus einem wissenschaftlichen Symposion hervor, das am 16. Januar im Rahmen der zweitägigen Veranstaltung »Die Gesprächskunst Alexander Kluges« an der Universität Stuttgart stattfand. Sie wurde realisiert von der Akademie für gesprochenes Wort / Stuttgart und dem IZKT (Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart). Unser Dank gilt den Herausgebern des Alexander Kluge-Jahrbuchs für die Publikation der Beiträge und vor allem Alexander Kluge selbst, der einen öffentlichen Abendvortrag mit dem Titel »›So erwachte das Ohr und damit die Sprache.‹ Das Prinzip Mündlichkeit« sowie den eigens für Stuttgart produzierten Film Über Unterschiede beim Sprechen. 20 Beispiele zu unserer Veranstaltung beitrug. Stuttgart, im Sommer 2016
Rainer Stollmann
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
Der Begriff »Artenkunde« bezieht sich darauf, dass Kluge gelegentlich Begriffe, aber auch die Sprache als Ganzes als »Lebewesen« bezeichnet. Man kann folgende Arten des Gesprächs unterscheiden: – die Fernsehgespräche – den literarischen oder filmischen Kurzdialog – das Gespräch als Fortsetzung des Inneren Monologs – das Streitgespräch – kein Liebesgeflüster – Totengespräche sowie facts & fakes – das Gespräch als Quelle der Theorie. Das ist sicher keine vollständige Aufzählung, und die letzten beiden »Arten« werden hier nicht behandelt werden.
1.
Autorenfernsehen, die Gespräche
Schätzungsweise 80 % der inzwischen etwa zweitausend Stunden Sendezeit von Kluges Kulturmagazinen sind Gespräche. Sie zeichnen sich durch folgende Charakteristika aus: Unabhängige Produktion, unbeschnittene Dauer, Vermittlung von Stoffen, die sonst keine Chance im Fernsehen hätten, Erfahrungshorizonte statt Fachwissen und Sendeformate, Gespräche zweier Autoren statt Personen- und Expertenkult, schließlich die Person Alexander Kluges, d. h. Wissen, Lebendigkeit und Musikalität. Es sind einige hundert, vielleicht sogar tausend Gesprächspartner in den DCTP-Kulturmagazinen zu Worte gekommen, weltberühmte und unbekannte, deren unterschiedliche Temperamente und höchst unterschiedliche Gegenstände zuerst den Charakter des jeweiligen Gesprächs bestimmen. Das Kriterium für ihren Auftritt heißt: Autor. »Autor seines Lebens ist schließlich jeder« heißt es bei Kluge einmal. Autor sein heißt, etwas selbständig arbeiten. Das
132
Rainer Stollmann
haben die lebendigen Menschen vor der Kamera mit den literarischen Figuren Kluges gemeinsam, es sind alles produzierende, etwas unternehmende, aktive Menschen. Einen Oblomow, einen ennui würde Kluge weder fiktional darstellen noch interviewen. Wenn ich Themen nennen müsste, die in Kluges Magazinen nicht vorkommen, so fiele mir spontan nur eines ein: Fußball. Es gibt Leute, die immer wieder einmal die DCTP-Magazine anschauen und die überrascht sind, wenn sie hören, dass Alexander Kluge, der ja im Bild fast nie zu sehen ist, sie produziert. Andererseits kann man aber auch sagen, dass alle Sendungen Kluges bei aller Unterschiedlichkeit der Themen und Personen mehr miteinander zu tun haben als mit ähnlichen Sendungen anderer Herkunft. Das liegt sowohl an der Konzeption des Autorenfernsehens als auch an der Person Kluges selbst. Alle Gespräche Kluges sind Dialoge zu zweit,1 meist über die ganze Dauer der Sendung mit einem Autor oder, etwa bei dem Thema Oper, nacheinander mit Sängern, Regisseur, Bühnenbildner, Korrepetitor, Intendant. Diese Zweisamkeit hat Oskar Negt veranlasst zu sagen, Kluge habe das »sokratische Gespräch« ins Fernsehen übertragen. Sokrates ist der Auffassung, dass einer allein die Wahrheit nicht wissen könne; um sie herauszufinden seien zwei nötig. Das war ein Grund, warum er kein Buch geschrieben hat, das doch immer ein Monolog bleibe. Warum es bei Sokrates nicht auch drei oder mehr Gesprächspartner wie bei einer Talkshow sein können, kann man nachempfinden, wenn man an die Mäeutik, die Hebammenkunst des Sokrates denkt. Eine Hebamme kann schlecht zwei oder mehr Kinder gleichzeitig zur Welt bringen. Nach Horkheimer kommt es bei einer Theorie nicht mehr in erster Linie auf Wahrheit an, weil jede Theorie sich nicht ganz vom produzierenden individuellen Subjekt und schon gar nicht von der Zeit, in der sie entstehe, lösen, also selbstverständlich nur begrenzt »wahr« sein könne. Sondern vor allem darauf, ob sie »lebendig« sei.2 »Es ist adäquater, eine Theorie als tot oder lebendig zu charakterisieren.« Damit zieht der Gegensatz von toter und lebendiger Arbeit, den Marx für den entscheidenden hält, auch in die geistige Arbeit ein. Das Autorenfernsehen zeigt lebendige Arbeit, das Programmfernsehen verlässt sich auf Verdinglichung, auf tote Arbeit. (Das sind: Formate, Stars, Programme, die drei Säulen des deutschen Fernsehens: Information, Bildung, Unterhaltung, das aufwendige Studioambiente usw.). Was den persönlichen Anteil Kluges an den Gesprächen betrifft, so könnte ich 1 Davon gibt es nur wenige Ausnahmen, etwa ein Gespräch zwischen Hoet, Müller und Kluge: »Der Kunst-Schnüffler«, News & Stories vom 01. 06. 1992; sowie die meisten Sendungen einer Staffel mit Detlef B. Linke, Hirnforscher, der Vorträge hält, bei denen Fragen störend erscheinen. 2 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt/M. 1988, S. 224: »Theorie ist Aggression«.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
133
niemanden anderen nennen, der sich mit den unterschiedlichsten Fachleuten aus allen Wissenschaften und Künsten so »auf Augenhöhe« (wenn einmal die Verwendung dieses abgegriffenen Ausdrucks gestattet ist) unterhalten kann wie er. Und ich bin davon überzeugt, dass Kluge diese Fähigkeit ausbilden konnte, weil er sein Leben lang in selbstbestimmten Zusammenhängen gelernt und gedacht hat. (Dazu gehört die Fernseharbeit natürlich auch: Wie könnte man sonst in so kurzer Zeit so viele intelligente Menschen kennenlernen und ausfragen?) Wenn Kluge z. B. in verständlichen Metaphern zusammenfasst, was ein Wissenschaftler nur in Begriffen sagen würde, so produziert das öfters ein von Heiterkeit begleitetes »Wenn Sie so wollen« des Interviewten. Es gibt einen gewissen sanften Zwang zur Lebendigkeit, den Kluge einfordert, und diese ist das wichtigste Kriterium im Unterschied zum Programmfernsehen. Es ist aber nicht einfach das Wissen eines Universalgenies, das hier entscheidend für das Besondere der Kulturmagazine ist, sondern eher noch die »Musikalität«. Adorno bestimmt Musik als »sprachähnlich«. Allerdings sei sie »intentionslose Sprache«.3 Zwar sei Musik in ihren Einzelheiten intentional, aber nicht das Werk oder die Musik an sich. In diesem Sinne sind Gespräche von Kluge musikalisch: Er fragt nicht mit Absichten, bestimmte Antworten zu erhalten. Das ist aber im Fernsehen eher die Ausnahme, oft sind Antworten vorabgesprochen. Adorno nennt einen weiteren Unterschied: »Interpretieren« ist bei Musik die »mimetische Praxis«, also etwa das Klavierspielen vom Blatt, nicht die Kommentierung einer Musik durch eine andere Musik, so wie eine Gedichtinterpretation Sprache neben andere Sprache legt. Auch dieses Moment ist in den Fernsehgesprächen Kluges stark vertreten: Sie haben in ihren besten Momenten etwas von einem Duett in Sprache, zwei, die zusammen laut in Sprache denken, so wie zwei andere zusammen singen. (Was übrigens sehr selten, etwa mit dem Vertrauten Peter Berling oder Helge Schneider, vorkommen kann.) Ein drittes Moment, das Adorno erwähnt, ist der Begriff »Zusammenhang«.4 Ihn hält er in der Zeitkunst Musik, wenn sie doch in den Tönen noch bedeutungsloseres Material vorfindet als Maler etwa in der Farbe und Dichter in den Worten, für elementar. Töne beziehen sich stärker aufeinander als Farben oder Wörter, die mehr nach außen gerichtet sind. »Intentionsloser Zusammenhang« ist das Ideal der Musik. Nun kann man fast sagen, dass »Zusammenhang« überhaupt der wichtigste Begriff im klugeschen Denken ist. »Kooperation« ist noch wichtiger, weil es lebendiger Zusammenhang ist. So dass man formulieren
3 Theodor W. Adorno, Musikalische Schriften I–III, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt/M. 2003, S. 252. 4 Ebd. S. 254f.
134
Rainer Stollmann
kann, dass intentionslose kooperative Kommunikation ein anderer Ausdruck ist für »selbstvergessen die Aufmerksamkeit auf das Gegenüber richten«.
2.
Der literarische / filmische Kurzdialog
Kurzdialoge (Stichomythien, Zeilenreden) sind vor allem aus dem Drama bekannt. Sie gehen alle ungefähr so:5 Hermann: Karl lebt noch! Amalia (schreiend): Unglücklicher! Hermann: Nicht anders – Nur noch ein Wort – euer Oheim – Amalia (gegen ihn herstürzend): Du lügst – Hermann: Euer Oheim – Amalia: Karl lebt noch? Hermann: Auch Euer Oheim – Verratet mich nicht (eilt hinaus). Amalia (steht lange wie versteinert. Dann fährt sie wild auf, eilt ihm nach): Karl lebt noch!
Schiller war der Erfinder des Cliffhangers! Sehen wir uns dagegen einen der bekanntesten Kurzdialoge aus einem Film Kluges an:
»Frau Pichota, eine Reporterin, mit dem Kammersänger B.«6 Frau Pichota: Herr Kammersänger, Sie sind berühmt für den leidenschaftlichen Ausdruck im ersten Akt. Man hat geschrieben, dass ein Funken Hoffnung in Ihrem Gesicht stünde. Wie bringen Sie das fertig, wenn Sie als vernünftiger Mensch den grässlichen Ausgang im fünften Akt doch kennen? Kammersänger : Das weiß ich im ersten Akt noch nicht. Frau Pichota: Vom letzten Mal her, Sie spielen das Stück zum 84.ten mal? Kammersänger : Ja, es ist ein sehr erfolgreiches Stück. Frau Pichota: Da müssten Sie den schrecklichen Ausgang doch allmählich kennen. Kammersänger : Kenne ich auch. Aber nicht im ersten Akt. Frau Pichota: Aber Sie sind doch nicht dumm! Kammersänger : Die Bezeichnung würde ich mir auch verbitten. Frau Pichota: Dann wissen Sie doch aus früheren Aufführungen, also um 20.10 h im ersten Akt, was um 22.30 h im fünften Akt passieren wird. Kammersänger : Ja. Frau Pichota: Ja wieso spielen Sie dann »mit einem Funken der Hoffnung im Gesicht«? Kammersänger : Weil ich im ersten Akt den fünften Akt nicht kennen kann. Frau Pichota: Sie meinen, dass die Oper auch ganz anders ausgehen könnte? 5 Zitat Friedrich Schiller, Die Räuber, III. Akt, 2. Szene, Schluss. 6 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M. 1984, S. 77ff.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
135
Kammersänger : Freilich. Frau Pichota: Sie geht doch aber nicht anders aus. 84 Mal schon nicht. Kammersänger : Ja, weil das ein erfolgreiches Stück ist. Frau Pichota: Ja, deshalb 84 Aufführungen. Aber es geht am Ende nicht gut aus. Kammersänger : Sind Sie gegen Erfolg? Frau Pichota: Nein, aber es geht im fünften Akt nicht gut aus. Kammersänger : Könnte doch aber!
Alle Gespräche Kluges, wie sein gesamtes Werk, sind antidramatisch. Es gibt bei Kluge z. B. nichts Novellenähnliches, schon eher Antinovellen in Kurzform. An Stelle der Dramatisierung steht in der modernen Literatur der Schock, das Katastrophale passiert plötzlich und oft nebenbei. Der Schock oder die unterkühlte Plötzlichkeit ist bei Kluge ein Strukturelement der Handlung. Danach kommen die reflexiven Gespräche. Dieses hier ist auch ein sokratisches Gespräch in Form des lakonischen Kurzdialogs. Ich habe schon öfters über diese Szene nachgegrübelt, aber dabei ist es mir ergangen wie den beiden Personen selbst: Bei aller Mühe und Leidenschaft war ich mit dem Ergebnis nie zufrieden. Praxis (Singen) und Theorie (Beobachtung) sind nicht in Harmonie zu bringen. Die Theorie neigt zur Trauer (»es geht nicht gut aus«) und damit zur Praxisfeindlichkeit, die Praxis neigt zum Opportunis-
136
Rainer Stollmann
mus (»Haben Sie etwas gegen Erfolg?«) Wenn man auf den Weltlauf schaut, endet tatsächlich alles immer in Katastrophen, normale Zeiten in Kriegen, Revolutionen in Terror und Diktatur. Wie Benjamin von Klees Engel schreibt: »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.«7 Andererseits hat der Opernsänger doch auch recht. Keine Praxis kann ernst genommen werden, die weiß, dass sie scheitert. Lernen kann man bloß aus einer Praxis, die mit Hingabe und Leidenschaft betrieben wird. Andernfalls wird es immer heißen, man müsse es noch mal versuchen, da es beim ersten Mal nicht richtig gemacht wurde. Wenn die beiden sich außerhalb der Kamera noch weiter unterhalten, müssen sie irgendwann damit aufhören, sich ihre gegensätzlichen Standpunkte um die Ohren zu hauen. Produktiv wäre, wenn die Journalistin den Sänger fragt, wo er denn im 2., 3. oder 4. Akt Möglichkeiten einer Wendung zum Guten sieht. Und wenn beide dieses Gespräch gründlich fortsetzen und noch andere hinzuziehen, dann könnte dabei eine Paralleloper ohne katastrophischen Ausgang entstehen. Die frappante Wirkung dieser Filmszene besteht nicht darin, dass sie etwas Neues sagt. Im Grunde ist es eine Inszenierung von Benjamins Satz, man müsse »die Geschichte gegen den Strich bürsten«. Nur muss man diesen abgegriffenen Satz übersetzen, denn das Bürsten ist nicht so einfach. Jeder trägt den Sänger und die Journalistin in sich. Die Kunst besteht darin, Erfahrungen zu machen (was ja wohl soviel heißt wie ganz oder partiell scheitern) und trotzdem nicht aufzugeben oder zu verzweifeln. Einer, der den 2., 3. und 4. Akt untersucht hat, war Robert Musil. Wenn er sich am Ende nicht entscheiden kann, ob der Inzest passieren soll oder nicht, dann ist das keine individuelle Unsicherheit, sondern Gründlichkeit. In der Metapher steckt genauso viel Befreiung und Autonomie wie Barbarei und Verbrechen. Im 19. Jahrhundert schlummert die Katastrophe (des Weltkrieges) ebenso wie die Revolution (obwohl Musil diesen Begriff vielleicht nicht verwendet hätte). Die Entscheidung, ob die Katastrophe notwendig aus der Vorgeschichte hervorgeht, ist nicht zu treffen, auch wenn wir alle wissen, dass der Erste Weltkrieg stattgefunden hat. Andere Möglichkeiten sind, wenn man sich nicht auf den fünften Akt fixiert, genauso objektiv wie die Barbarei.
7 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 697.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
3.
137
Der rätselhafte Kurzdialog als Fortsetzung des Inneren Monologs mit anderen Mitteln
»Bericht des Taxifahrers«8 Ich hätte nie gedacht, sagte der Taxifahrer, dass ich einmal eine schwarze Geliebte haben würde. Wir durchfuhren das Brandenburger Tor, Unter den Linden entlang, an der Schloßattrappe aus Tuch vorbei, die für 100 Tage drapiert war, auch der Weihnachtsmarkt war in Gang gesetzt. Wie haben Sie Ihre schwarze Freundin kennengelernt? Im Taxi hier. – Sie haben sie angesprochen? – Nein. Sie hat etwas gesagt. – Und Sie haben sie in ein Gespräch verwickelt? – Ganz so war es nicht. Man konnte die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz nicht so anfahren, wie der Taxifahrer das von früher gewohnt war. – Ich muß natürlich sagen (sagte er), wenn ich es so sagen darf, wie man es an sich nicht sagen kann: Es ist so, dass man manchmal denkt: da hast du einen Affen im Bett. – Wegen der Hautfarbe? Wo ist sie her? – Aus Zimbabwe. Es ist nicht wegen der Hautfarbe. Aber etwas Weißes hier (das bin ich), und da was Schwarzes (das ist sie), merkwürdig. – Nicht unangenehm? – Überhaupt nicht. Sie summt manchmal. – Wieso ist es merkwürdig? – Nicht, weil sie summt. Der Taxifahrer mußte sich auf die Verkehrslage konzentrieren. – Das Beste ist, dass sie in ihrer Wohnung ist und ich in meiner bleibe. Beide arbeiten wir. – Was ist daran so gut? – Man kann nicht steuern, wenn man in einer Wohnung zusammenlebt. Man kann die Beziehung steuern, solange man nicht zusammenlebt. Sonst ist es aus. – Ist es nun schön, was Sie erleben? – Umwerfend. Jetzt waren wir in der Straße angelangt, die auf das Theater führt, das wie ein Schlachtschiff oder ein großer Kreuzer seit den zwanziger Jahren auf diesem Platz stand, der nach einer Revolutionärin benannt war.
8 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 937f.
138
Rainer Stollmann
Üblicherweise ist ein »Bericht« kein Dialog. Ein Bericht ist sachlich und hat es mit Fakten und Informationen zu tun. Stattdessen redet dieser Taxifahrer in Rätseln und springt in Gedanken: »da hast du einen Affen im Bett« – »Es ist nicht wegen der Hautfarbe.« Aber weswegen denn dann? Oder er nennt den Unterschied zwischen den Hautfarben »merkwürdig«, überrascht den Leser aber dann mit dem Hinweis »Sie summt manchmal« und antwortet auf die Nachfrage nach der Merkwürdigkeit: »Nicht, weil sie summt.« Aber weshalb dann? Einerseits lässt er sich, wie man so sagt, die Würmer aus der Nase ziehen – wie hat er denn nun seine »schwarze Freundin« kennengelernt? -, andererseits platzt er mit zusammenhanglosen Informationen über sein Liebesverhältnis heraus. Dieser Text verbirgt mehr als er »berichtet«. An ganz anderer Stelle findet sich bei Kluge eine Bemerkung, die weiterhilft: Inzwischen kann ich keinen Sommerwolken zusehen, ohne an Sommer 1914, Sommer 1939 und das Trügerische von Sommern zu denken. Mit der Allergie gegen den Krieg (von der Sigmund Freud spricht) ist es nicht weit bis zur Verwechslung von »Urlaubsfrieden« und »Kriegsdrohung«. […] Wir haben Wahlkampfvorzeit, aber nirgends Kriegsgefahr. Und doch sehe ich, wenn ich auf dem Rücken meine zwölf Runden ziehe, eine Schrift am Himmel. Da ich nicht als Spinner gelten will, teile ich das niemandem mit.9
Diese Sätze enthalten den Hinweis darauf, was der gewagte Vergleich der schwarzen Geliebten mit einem Affen bedeutet: So wie die Sommerhitze Kluge »äfft«, d. h. ihn zwanghaft an den letzten friedlichen Sommer 1914 oder 1939 und damit an Krieg erinnert, so äfft ihn die schwarze Geliebte. Sie ist eine Metapher für Trauer. Jetzt liegt auch nahe, was der »Taxifahrer«, der sich auf der Nahtstelle von privat und öffentlich bewegt, bedeutet: Er ist eine Metapher für Erfahrung. Der Text reflektiert das widersprüchliche Verhältnis von Erfahrung und Trauerarbeit, er ist also nicht sehr weit entfernt von der eben gezeigten Filmszene. Der erste Kurzdialog hält fest, dass Trauer zwar eine Sache der Erfahrung ist (»im Taxi« kennengelernt), aber einen überfällt, niemand ist Herr seiner Trauer, man erleidet sie, kann sie nicht willentlich aktiv betreiben, sie ist autonom. Der zweite Kurzdialog verstärkt die Tatsache des Erleidens der Trauer mit dem Bild des »Affen im Bett«. Sie kann einen in den intimsten und schönsten Augenblicken bedrängen. Wenn Erfahrung doch Weltzugewandtheit, Öffnung heißt, so ist Trauerarbeit Weltabgewandtheit, Wendung nach Innen, Eingedenken. Dieser Gegensatz lässt sich so wenig vereinen wie Schwarz und Weiß. Das »Summen« verweist darauf, dass sich Trauer am besten musikalisch ausdrückt, ja vielleicht, dass Trauer überhaupt die wesentliche Quelle von Musik 9 Alexander Kluge, 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann, Berlin 2014, S. 305.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
139
ist.10 Das zweite Moment, das an der Trauerarbeit überrascht, ist das Angenehme der Trauer. Nicht die Ausdrucksweise der Trauer durch Musik ist »merkwürdig«, sondern dass aus der Trauer hervorgehende Musik glücklich machen kann. Mit »Zimbabwe« nennt der Text das ärmste Land der Erde mit der vielleicht schrecklichsten Kolonialgeschichte, dem Diamantengeschäft des größten Kolonialverbrechers, Sir Cecil Rhodes. Gleichzeitig ist es der Ort, an dem Afrika um 1000 v. Chr. in Gestalt der »Königin von Saba« sich dem Westen in Gestalt König Salomons unterwirft, also die früheste Stufe der Kolonialisierung – dem traurigsten Teil der Geschichte des Westens. Der dritte Kurzdialog beschreibt in der Metapher getrennter Wohnungen die Notwendigkeit, Trauerarbeit und Erfahrung in ein Verhältnis zu setzen: nicht völlig getrennt, nicht immer beieinander. Die letzte Antwort der Erfahrung über das Verhältnis zur Trauer ist ambivalent und entbehrt nicht der Komik: »Umwerfend.« Das kann heißen »umwerfend schön«, aber auch: starke Trauer besiegt Erfahrung, macht sie unmöglich. Was die Erfahrung betrifft, so gibt es einen Anfangs- und einen Endpunkt. Sie geht immer vom Brandenburger Tor zum Rosa-Luxemburg-Platz mit der »Volksbühne«, wenn auch je nach der Zeit auf unterschiedlichen Wegen. Das Brandenburger Tor ist im Ursprung und an den Wendepunkten deutscher Geschichte (besonders am »Tag von Potsdam« 1933) zuallererst eines: Denkmal des Krieges und Repräsentation von Staatsmacht. Der Name Rosa Luxemburgs steht dagegen für die verpasste Möglichkeit, das Entgleisen des 20. Jahrhunderts zu verhindern. Der Weg der historischen Erfahrung ist gleichzeitig der Weg der Trauer. Das Leben aller, oder wenigstens aller Deutschen, die im 20. Jahrhundert leben, sind von dem zwischen diesen beiden Gravitationszentren der Möglichkeit und der Wirklichkeit bestehendem Spannungsfeld geprägt. Das Problem des Verhältnisses von Trauer und Erfahrung betrifft einerseits jedes Menschen Leben, aber die Kritische Theorie als einer nichtakademischen Haltung, die sich selbst als Teil des gesellschaftlichen Prozesses begreift, ganz besonders. Und das gilt nicht nur für Kluge, sondern gewiss auch schon für Adorno – »Negative Dialektik«, »Ästhetische Theorie«: eher Trauerarbeit; »Dialektik der Aufklärung«, alle kleinen Schriften, Adornos Engagement für die Neue Musik, sein Verhalten in der politischen Öffentlichkeit: Erfahrungsarbeit. Durch Joyce und Proust wurde der Innere Monolog zur Methode Nummer 1 der modernen Weltliteratur gemacht, die seitdem viele andere Autoren anwenden. Ist es nicht verwunderlich, dass wir im ganzen 6.000 Seiten starken 10 »Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt.« Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1972, S. 56.
140
Rainer Stollmann
literarischen Werk Kluges davon nichts finden, obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Kluges Texte in jeder Hinsicht »modern« sind? Man darf Kluge einen extrovertierten Autor nennen, wenn man nur an die Zahl der auftretenden Personen, der Orte, an denen die Geschichten spielen11 oder an die Vielfalt der Situationen denkt, die sie beschreiben. Eine Reflexion über das Verhältnis von Trauer und Erfahrung kann man sich bei Proust ohne weiteres in Form des Inneren Monologs vorstellen, hier bei Kluge ist das Gespräch die Fortsetzung des Inneren Monologs mit anderen Mitteln.
4.
Das Streitgespräch
Das Streitgespräch hat im deutschen Fernsehen in den letzten fünfzehn Jahren eine enorme Karriere gemacht. Allerdings handelt es sich dabei meistens um Pseudo-Lebendigkeit. Menschen, die sich in der Regel persönlich gar nicht kennen, treten als Gegner gegeneinander an, wie Gladiatoren im Colosseum. Hier kommt es auf Sieg oder Niederlage, auch Schlagfertigkeit und Punkten beim Publikum an, mit Sokrates und Mäeutik hat das alles nichts zu tun. Daher gibt es bei Kluge in den TV-Magazinen keine Streitgespräche, wohl aber in den Geschichten und Spielfilmen, in denen es ja um wirklichen Lebenszusammenhang geht. In Kluges erstem Spielfilm Abschied von Gestern gibt es einen Streit zwischen der Protagonistin Anita und ihrer Vermieterin, Anita betritt das Wohnzimmer der Vermieterin:12 Anita: Wo ist mein Koffer, bitte? Den haben Sie wohl rausgenommen, was haben Sie sich dabei gedacht? Vermieterin: Das können Sie sich wohl vorstellen. Anita: Einfach ins Zimmer reingehen und einen Koffer rausholen, man kann einem Menschen doch nicht einfach was wegnehmen. Vermieterin: Tu ich ja auch. Das kann man in dem Fall, wenn man Schulden hat … [unverständlich, weil beide gleichzeitig reden] Anita: Wie eine Glucke hier sitzen und auf alles aufpassen und im Haus darf man nichts machen. Vermieterin: Erstens kommen Sie schon mal rein und klopfen nicht. Anita: Ich meine, wenn man den Koffer weggenommen kriegt, dann wird man ja nicht anklopfen und sagen, ach, wie schön, ja. Was haben Sie sich dabei gedacht? 11 Das hat sehr schön aufgelistet und reflektiert: Gunther Martens, »Distant(ly) Reading Alexander Kluge’s Distant Writing«, in: Christian Schulte u. a. (Hg.), Vermischte Nachrichten, Alexander Kluge-Jahrbuch 1, Göttingen 2014, S. 29–42. 12 Alexander Kluge, Abschied von gestern, in: ders., Sämtliche Kinofilme, Frankfurt/M. 2007, DVD 1, Kap. 5, 24:12.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
141
Vermieterin: Da habe ich mir bei gedacht, dass ich vielleicht die rückständige Miete ein bisschen zurückbekomme … Anita: Ach, die rückständige Miete. Ich habe drei Monate gesagt, dass ich die rückständige Miete in drei Monaten zahlen werde. Vermieterin: Nein, nein, das phantasieren Sie.
Wie viele andere Spielfilmsequenzen (nicht aber die Kurzdialoge, die im Wortlaut vorgegeben sind) kommt diese Streitsequenz nach folgender, von Kluge oft angewendeter Methode zustande: Die Situation (Streit zwischen Vermieterin und Mieter) ist von der Handlung des Films vorgegeben, nicht jedoch der sprachliche Ausdruck. Die Schauspieler werden gebeten, sich an einen realen Streit ihres Lebens zu erinnern. So kommen Inszenierung, reale Lebenserfahrung und Spontaneität des Spiels zusammen und bestimmen den Charakter der Bilder. Die Inszenierung steuert, wie oft bei Kluge, noch ein komisches Element bei (die nachgeworfenen Kleidungsstücke), vermutlich, um den Anschein von Naturalismus zu brechen, den jeder Spiel- oder Dokumentarfilm wie einen Pferdefuß mit sich schleppt. Gerade auf diese Weise entsteht Realismus, d. h. Darstellung einer widersprüchlichen Realität, motiviert vom Protest gegen diese Realität. Genrefilme pressen aus solchen Streitszenen noch den letzten Tropfen an Thrill, Suspense oder Komik heraus. Jeder von uns weiß, dass wirkliche Streitgespräche nicht so pointen- und anspielungsreich verlaufen wie im Genrefilm. Wenn man sich streitet, ist man im Zweifel, sagt Dinge, die man nachträglich bereut, und man weiß hinterher immer besser, wie man seine Worte hätte setzen sollen. Dieser Realismus (d. h. die Widersprüche in der
142
Rainer Stollmann
Realität, das Holprige, Ungelenke in Streitsituationen, der Selbstzweifel der Beteiligten) fehlt in der Glätte jedes Hollywood- oder Fernsehfilms. Die Bilderwelt des Autorenfilms (nicht nur Kluges) ist sowohl realistisch als auch antirealistisch, genau das ist Realismus. Er behauptet nicht, Realität so wie man sie sieht, abzufilmen, denn das meiste an der Realität kann man ja gar nicht sehen, er missbraucht realen Stoff aber auch nicht zum bloß voyeuristischen Genuss des Publikums.13
5.
Kein Liebesgeflüster
»›Fifi‹«14 – Liebst du mich? – Sie druckste. – Ich habe etwas gefragt …, beharrte er. – Ich hab’s gehört. – Und? Sie wollte nicht antworten. Nach einer Weile brachte Fred das Gespräch erneut auf das Thema. – Würdest du sagen, dass du mich liebst? – Was muß ich jetzt sagen? – Du sollst etwas dazu sagen. Wozu sind wir zusammen, wenn du zu dem Kern der Angelegenheit nicht beiträgst … – Aber sagen? – Liebst du mich oder nicht? – Dass ich dich nicht liebe, würde ich ja nicht zugeben, so wie wir hier zusammen sind … – Das ist keine Antwort. Ja oder nein? – Eine klare Antwort? Sie wollte Zeit gewinnen, schälte ihm einen Apfel und reichte ihm Stück für Stück. Die Frage lag ihr nicht. – Liebst du mich? Sag? Sie hätte ihn gern ironisch abgefertigt und überhörte die Frage, die durch Wiederholung zweifellos nicht gewann. Da er aber ernsthaft blieb, nach einer Antwort dringlich verlangte, äußerte sie sich so: 13 Andere Streitgespräche bei Kluge: »Streit in seiner wirklichen Unbeholfenheit« (Abschied von gestern, ebd., 1:23:30), »Streit im Lehrerzimmer über Berufsverbote« (Die Patriotin, ebd. DVD 10, Kap. 7), »Übergabe des Kindes« (Chronik der Gefühle, Bd. 1, Frankfurt/M. 2000, S. 321–326). 14 Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. I, S. 381f.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
143
– Ich kann sagen, dass ich es lieber habe, wenn du da bist, als wenn du weg bist. – Wo weg? – Aus meiner Umgebung weg. – Wie ein Hund? – Von dem würde ich das so nicht sagen. – Aber irgendwie anders? »Ich habe Fifi lieber da, als daß er weg wäre?« – So ähnlich. Fred war innerlich verletzt. Sie aber konnte sich nicht anders äußern. Auf eine Unwahrheit mehr oder weniger wäre es ihr in diesem Leben nicht angekommen. Aber das Wort Ich liebe dich hat eine magische Qualität. Man kann es im Leben, dachte sie, nur einmal sagen, und bei dieser Gelegenheit würde ich – da ich ja gar nicht »man« bin, – fügte sie hinzu – sicherlich aus Aberglauben gar nichts sagen, schon um das bißchen Liebe, das es gibt, nicht zu verscheuchen.
Auch ein reflexiver Kurzdialog, bei dem die Frau auf dem sokratischen Geist beharrt, der Mann aber nicht Lebendigkeit, sondern Sicherheit möchte und deshalb enttäuscht wird. Der Satz »Ich liebe dich« muss absolut freiwillig gesprochen werden und für den geliebten Menschen am besten überraschend kommen. Schon die zwischen Liebespaaren häufig geäußerte Antwort auf diesen Satz: »Ich dich auch« ist mit Zweifel behaftet, weil sie aus dem Zwang entstanden sein kann, dem andern nicht nachzustehen. Die absolute Unbedingtheit oder Freiheit, ohne die Liebe nicht auskommt, kann nicht schärfer ausgedrückt werden als in Mignons großer Geste: »Was geht es dich an, wenn ich dich liebe?« (So verhält sich Freds Partnerin hier.) Insofern kann die Frage »Liebst du mich?« kaum unschuldig gestellt werden, sie enthält den Zwang einer zustimmenden Antwort, weil sonst Verletzung oder Abkehr folgen. Diese Einsicht bestimmt das ausweichende Verhalten der Frau. Der »Fifi« in dem Text entspricht den nachgeworfenen Sachen in der eben gesehenen Filmszene: ein komisches Element, das, wenn der Mann es als komisches aufgegriffen hätte, einen Ausweg aus der Sackgasse geboten hätte. Es gibt eine Reihe von Geschichten bei Kluge, die diese romantische Utopie oder Heterotopie der Liebe thematisieren, welcher die Frau in dieser Geschichte in den letzten Sätzen anhängt. Der Grund ist zweifellos, dass diese Utopie im realen Leben der Gegenwart eine Rolle spielt. Die Vorstellung der meisten lebenden Menschen im Westen von der Liebe ist romantisch oder religiös, d. h. ich lasse darüber nicht mit mir reden. Dass Kluge selbst dieser Utopie anhängt, glaube ich nicht, denn sie ist auch gezeichnet von Illusion und Privatisierung. In der Oper Aida gibt es die große Liebe zwischen dem Königssohn Radames und der als Geisel gehaltenen Prinzessin Aida. In der Stummfilmversion von Fritz Lang interessiert sich das Liebespaar nur für sich selbst. Das führt dazu, dass es schließlich vom Volk gesteinigt wird, wenn doch der Prinz über der Liebe seine
144
Rainer Stollmann
Herrscherpflichten vergisst. Mehrfach hat Kluge Hegel zitiert,15 der von der »Hitzigkeit« der Liebe nach innen und ihrer »Frostigkeit« nach außen spricht. Diese Trennung, dass die Arbeit, also Leben in der Außenwelt, wenig Raum für libidinöse Besetzung hergibt, und dass in der Liebe nicht gearbeitet wird, setzt Koordinaten für die Darstellung der Liebe bei Kluge. So gibt es z. B. eine Geschichte, in der nur die menschliche Umgebung überzeugt ist, dass zwei ein gutes Liebespaar abgeben, während die beiden sich eher gleichgültig sind, aber aus Gutmütigkeit der Meinung der anderen nachgeben und mit den Jahren ein wirklich beneidenswertes Paar werden. Romantisch ist diese Geschichte nicht. Der Titel eines Fernsehmagazins im Oktober 2015, das sich mit Telemanns Oper Emma und Eginhard beschäftigte, war Liebe als Schwerstarbeit. Man findet auch unter den Prostituierten, die in Kluges Geschichten auftreten, nicht eine einzige unsympathische. Der Grund dafür ist aber nicht wie in Romantik und Naturalismus Mitleid, meist (wie noch in Pretty Woman) verbunden mit der Erlösung vom Schicksal der Prostitution durch Zweisamkeit, sondern das Interesse an der wenn auch in völlig falscher Gestalt doch vorhandenen Einheit von Arbeit und Liebe. Hier nun die Transkription einer Sequenz aus Kluges Eisenstein-Kapital-Film von 2007. Thema des Gesprächs ist ebenfalls ein noch lebendiger Karl.
»Marx-Latein«16 Weiblicher und männlicher Stasi-Unteroffiziersanwärter lesen gemeinsam vor : »Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgegründeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt: es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner ›reinen Tätigkeit‹ in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens. Wir sehen hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet, und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist. Wir
15 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1982, S. 910f. 16 Alexander Kluge, Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital, Frankfurt/M. 2008, DVD I, Kapitel 14.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
145
sehen zugleich, wie nur der Naturalismus fähig ist, den Akt der Weltgeschichte zu begreifen.«17 Er : OK, was verstehst du unter »Naturalismus« in dem Zusammenhang? Sie: Na, dass es natürlich ist. Also dass die Leute das eigentlich von ganz alleine verstehen sollten. Er : OK, ich les noch mal den Satz: Wir sehen hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet … Sie: Die Leute sollen nicht so viele Ideale haben und sie sollen nicht so materiell sein. Sie sollen natürlich sein und human. Oder? Er : Aber was heißt »natürlich sein«? Sie: Na, nicht nachdenken. Er : Nein, das glaub ich nicht. Sie: Aber was ist der »durchgeführte Naturalismus«? Oder? Er : Aber der besteht ja schon, der durchgeführte Naturalismus. Oder der Humanismus, also es geht um beides. Das unterscheidet sich ja gar nicht, es geht um beide Begriffe. Sie: Aber es unterscheidet sich ja nur von dem Idealismus und dem Materialismus. Er und sie: Also stehen die im Gegensatz: Naturalismus und Humanismus stehen im Gegensatz zu Idealismus und Materialismus. Sie: Human bedeutet also sozial sein, oder? Er : Hm, würde ich auch sagen, ja. Und naturalistisch sein heißt, so wie der Mensch ist, sein. Sie: Und Materialismus ist halt: nicht so viel einkaufen gehen, oder? Wert auf die Dinge legen. Er : Geld, klar. Aber wieso Idealismus? Idealismus ist uns doch wichtig. Sie: Das stimmt überhaupt. Das macht ja alles gar keinen Sinn. Er : Doch, das macht Sinn, bestimmt. Der Marx hat sich bestimmt was gedacht. Pass auf, es geht ja noch weiter : » … und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist … « Also: »Wir sehen hier« – das ist, glaube ich, der wichtigste Satz: »Wir sehen hier wie der durchgeführte – jetzt schon bestehende – Naturalismus oder Humanismus … « Sie: Also den Naturalismus, den gibt’s ja schon. Er : Genau. » … oder« … und … »oder« heißt, glaub ich, »und«, oder? Und »Humanismus … sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet.« Gut – böse. »Und zugleich ihre beide vereinigte Wahrheit ist.« – Das versteh ich nicht. Sie: Was ist die vereinigte Wahrheit? Vom Naturalismus und dem Humanismus oder dem Naturalismus und dem Materialismus? Ist das eine Wahrheit für alle vier? Warte … »Wir sehen zugleich, wie nur der Naturalismus fähig ist, den Akt der Weltgeschichte zu begreifen.« Sollen wir mal versuchen, den Anfang des Textes zu verstehen? Er : OK, OK. Sie: »Wenn der wirkliche … « »Wirklich« verstehen wir, oder? Er : Ja. Sie: »Leiblich« verstehen wir auch, oder? 17 Karl Marx, »Nationalökonomie und Philosophie«, in: Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1971, S. 273.
146
Rainer Stollmann
Er : Ja. Sie: » … auf der festen wohlgegründeten Erde stehende … « Er : »Vaterland« steckt darin, auf jeden Fall. Sie: Und der Planet, würde ich sagen. Er : Also ich meine, »wir« haben die Erde wohlgegründet. Sie: Ja, das stimmt. Er : Unser Vaterland hat die Erde wohlgegründet. Sie: »Wenn der wirkliche, leibliche …«, also, das ist alles sehr echt. »… auf der festen wohlgegründeten Erde stehende …« – Wer steht denn da? »… alle Naturkräfte ein- und ausatmende Mensch« – der Mensch steht da. Er : Und er hat alles in sich, alle Naturkräfte, Wind, Feuer, Erde … Sie: Wind … Wasser … »seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte …« – »seine Wesenskräfte«? Also halt, wie er ist. Aber eigentlich sind wir doch wirklich und leiblich und nicht gegenständlich? Er : Ja, das ist das Problem. Sie: Sollen wir nochmal von hinten anfangen? Ich les das mal … Den ersten Satz versuchen wir in die moderne Sprache zu übersetzen. Er : OK. Sie: »Wenn«? – wenn … Er : Wenn. Sie: … »der wirkliche«, also der echte, der natürliche, körperliche … Er : Auf der sozialistischen Erde stehende … Sie: … allen Winden … Er : Wind, Feuer, Wasser … Sie: Und der atmende Mensch, also wir. Er : Genau. Also ich glaube, der erste Absatz ist: Wenn der … sozialistische Mensch … ja. Sie: Ja, auf der sozialistischen Erde … Er : Seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt … Sie: »Dann ist nicht das Setzen Subjekt … wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung …« Die »Wesenskräfte« ist: was er ist und was er kann … »durch seine Entäußerung …« – ist die »Entäußerung« was er tut oder was er sagt, weil er »äußert« sich? »… als fremde Gegenstände setzt …« Er : Ich glaube ja, es geht einfach nur darum, man muss … Sie: Sollen wir das auswendig lernen? Er : Oder einen Spicker schreiben? Sie: Schreibst du einen Spicker? Er : Ja. Sie: OK. Wir können mal probieren, es auswendig zu lernen. Er : Ich hab eine Idee. … Wenn wir als sozialistische Menschen, gottgegebene Wahrheit tragende Menschen … versuchen die Natur zu manipulieren, funktioniert das nicht. Und diese Manipulation besteht im Materialismus einerseits, und im Idealismus … Idealwerte … Und deshalb muss sich der nackte sozialistische Mensch auf den Naturalismus und den Humanismus begründen.
Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge
147
Der Marx-Film enthält natürlich eine Reihe von Marx-Zitaten, er beginnt z. B. damit, dass Kluge selbst einige vorträgt, unterlegt von Klavierspiel. Fragt man sich, warum dieses Marx-Zitat vergleichsweise aufwendig inszeniert wird (obwohl es sich ja immer noch um arte povera handelt, in der zwei Mützen und Hemden die gesamte Staatsgewalt darstellen), dann ist die erste Antwort darauf, dass es sich ja wirklich um »Marx-Latein« handelt, mit dem man Zuschauer nicht unmittelbar konfrontieren kann, ohne eine ähnliche Reaktion hervorzurufen wie im Film gezeigt. Marx’ Text ist gegen Hegel-Latein gewendet, das Wort »gegenständlich« wird deshalb so häufig gebraucht, weil es gegen Hegels Idealismus standhalten soll. Der Gebrauch des Wortes »Naturalismus« im affirmativen Sinn ist verblüffend und nur deshalb möglich, weil Marx die »Natur« ebenfalls gegen die hegelsche »Vernunft« und den »Geist« in Stellung bringt. (Später wird er von Arbeitskraft und Produktion reden.) Der Begriff »Materie« oder »Materialismus« (mit dem Marx oder der Marxismus später identifiziert wird) wäre schwächer, weil »Materie« tote Natur, also schon mit Arbeit und »Vernunft« kontaminierte Natur ist. Trotzdem geht es in dieser Sequenz keineswegs darum, sich über Marx lustig zu machen und sich von dem Text abzuwenden. »Latein« ist nicht nur Metapher für Unverständliches, sondern es war auch die Universalsprache der Gelehrten im Mittelalter. In Geschichte und Eigensinn haben Kluge und Negt diesen MarxText auf drei Seiten sehr ernsthaft kommentiert. Marx konzipiert hier einen Prozess zwischen der »Natur« des Menschen und der äußeren Wirklichkeit
148
Rainer Stollmann
unterhalb von »Ich«, »Bewusstsein« oder »Person«. Man kann die Besonderheit dieses Ansatzes vielleicht besser nachvollziehen, wenn man zwei andere große Parolen mit hinzuzieht: Das biblische Gebot »Macht euch die Erde untertan«. Offenkundig ist das nicht dasselbe wie »Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen«, es ist noch nicht einmal die erste Hälfte davon. Und Rousseaus »Zurück zur Natur«, das wiederum nicht einmal der zweiten Hälfte der marxschen Losung entspricht.18 Wobei »Losung« ein falsches Wort ist: Marx empfiehlt oder fordert hier nichts, sondern ist überzeugt, dass es diesen Prozess gibt und dass man sich auf lange Sicht auf ihn verlassen kann, auch wenn in der geschichtlichen Welt viel dagegen spricht. Wenn man Marx fragte, was das Medium dieses Prozesses sei, so wäre die Antwort sehr wahrscheinlich: Die Arbeit vermittelt zwischen Natur und Mensch. Und hier kommt nun Kluges Inszenierung ins Spiel. Offenkundig mühen sich die beiden ab für eine Prüfung, sie arbeiten ernsthaft. Die Aktualität der Situation »Stasi 1989« steht dabei in komischem Gegensatz zu manchen Formulierungen von Marx: Auf »der festen, wohlbegründeten Erde« des Sozialismus stehen diese beiden objektiv längst nicht mehr, sie wissen nur nicht, dass es schon das Ende des vierten Aktes ist. Man wünscht ihnen, dass sie durch die Prüfung rasseln, weil ihnen das in Zukunft vielleicht nützlicher sein kann als eine bestandene Prüfung. Moment? Man wünscht zwei Stasi-Leuten eine glückliche Zukunft? Kein Gerichtsverfahren in der BRD? Unter allen Stasi-Figuren aus Kino- und Fernsehfilmen sind diese beiden einzigartig: Man hält sie doch für ein Liebespaar. Und das ist die ergänzende Interpretation des Marx-Textes durch den Autor : Die beiden verstehen nicht alles, was sie da lesen, manches interpretieren sie ziemlich falsch, sie haben keine Ahnung, was Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur bedeuten könnte, und doch verkörpern sie diesen Prozess praktisch – und zwar genauso blind für den fünften Akt wie der Opernsänger – in seinen beiden wesentlichen Elementen: Arbeit und Liebe können unter Umständen sogar bei der Staatssicherheit der DDR kooperieren. Das ist noch einmal ein Beitrag zum Problem von Theorie und Praxis oder Erfahrung und Trauerarbeit – denn die werden die beiden ein Jahr später ja auch noch leisten müssen.
18 Am nächsten kommt der marxschen Formulierung noch die Gartenmetapher. Von Goethe bis Musil drückt sie in der deutschen Literatur die Utopie von Naturalisierung und Humanisierung aus. Kluge selbst hängt ihr auch an, sein Vater noch im empirischen Garten, er selbst, indem er Oasen in der Medienwüste baut.
Alexander Kluge
Die schöne Krähe
Eine der Frauen, zu denen sich Walter Benjamin hingezogen fühlte, und mit der er eine unbestimmte, wechselvolle, aber stets unerfüllte Liebschaft über fast ein Jahrzehnt unterhielt, wir wollen das eine »Beziehung« nennen, hatte eine straffe Gestalt. Leinen stand ihr gut. Ein festes Gesäß. Scharfe, kluge Augen. Ein Jungengesicht auf einem Mädchenkörper. Sie konnte exakt und einfallsreich formulieren. Zugleich hatte sie jedoch eine etwas schrille, hohe Stimmführung, wenn sie sich erregte. In Erregung verfiel sie fast überall und immer. Die Kehllaute störten das Ohr der Anwesenden. Walter Benjamin hätte sich gern vor Dritten mit dieser Attraktion gezeigt, für die Stimme schämte er sich. Gretel, die Erfahrene, von der ich die Geschichte habe, riet ihm davon ab, das Beutemädchen in die Gesellschaft einzuführen. Er könne ja heimlich und privat mit ihr tun, was er wolle. Gretel war nicht ganz unparteiisch, teilte Benjamin nicht gern mit einer anderen. Von irgendwelcher Teilung konnte auch bei den »Beziehungen« Benjamins nicht die Rede sein, weil sie generell in einer gewissen Unbestimmtheit, die nicht zu unterteilen war, verharrten. In jedem der Gegenüber schienen die Vorzüge durch den Einbruch eines Nachteils von einer gangbaren Lebenspraxis abgeschnitten. Es mochte auch sein, daß die Zuwendung in der Form von MÖGLICHKEIT oder AHNUNG, sozusagen in der Zerstreuung, ihm besser gelang als in allzu dichter Konkretion. »Jede falsche Bewegung in großer Nähe bringt das Gebäude der Sympathie zum Einsturz.« Eine solche Gefahr darf gar nicht erst entstehen. Wie ein Reisender, der den Suez-Kanal durchfuhr, von einer Fata Morgana berichtete: Er habe vom Schiff aus eine blaugefärbte herrliche Stadt über einem der Salzseen in der Wüste dahinziehen sehen. Obwohl ein Boot vom Dampfer mitgezogen wurde, das ihn vom Schiff zum Ufer hätte bringen können, wagte der Mann keine Exkursion in der Furcht, daß sich die von ihm doch mit eigenen Augen beobachtete Stadt als Täuschung erwiesen hätte, wenn er sie auf einem der Seen (und vielleicht wären auch diese Seen verschwunden gewesen) gesucht hätte. Das durfte er auf keinen Fall riskieren. So stark ist die Dominanz des Verstandes und die Täuschung, die vom praktizierenden Realismus ausgeht, daß – so der Reisende zu Benjamin –
150
Alexander Kluge
wir uns verbieten, eine solche himmlische Stadt, wenn wir sie doch mit untäuschbaren Augen sehen und erhoffen, zu betreten. Wie aber sollten wir je auf ein Wunder stoßen, fügte er hinzu, wenn wir es schon ohne jede Probe leugnen. So blieb Walter Benjamin in mehreren Fällen Petent und resistent gegenüber der Praxis, während er in anderen Fällen, an denen ihm weniger lag, sich wie jeder andere Mann verhielt: »realistisch«, »ohne viel Sehnsucht«.
News & Stories vom 30. September 2015 (Kluge / Jennings)
»Neugierig wie ein Biber«. Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin
ALEXANDER KLUGE: Das erste Kapitel Ihres Buches handelt von der Berliner Kindheit, gleichzeitig ist das auch seine letzte Arbeit. Damit hat er sich lebenslänglich befasst. MICHAEL JENNINGS: Da gibt es die Kluft zwischen Fakt und Fiktion. Im Buch ist er ein Einzelkämpfer, auch wenn er Geschwister hat. Wir könnten ebenso mit dem Verhältnis zu den Eltern beginnen, aber das ist frei erfunden. Sonst wissen wir so gut wie nichts über seine Kindheit. Es gibt eine Erinnerung von der Frau des Bruders, aber sonst fast nichts. Bis er zehn oder zwölf Jahre alt ist. KLUGE: Benjamin erprobt alle seine Wahrnehmungen, alles, was das Ich vermag, an Beispielen seiner Kindheit. JENNINGS: Die eigenartige Mischung aus Kindheitserinnerungen und Ideen des Theoretikers am Ende des Lebens macht den Reiz des Buches aus. KLUGE: Schon im zweiten Kapitel geht es um die Jugendbewegung. Von 1912 bis 1914 datieren Sie das. Was ist das für ein Impuls? JENNINGS: Die Bewegung hat schon in den neunziger Jahren begonnen mit den ›Wandervögeln‹, die durch die freie Natur marschierten. Aber als Benjamin einen der Leiter, Gustav Wyneken, aus dem Landerziehungsheim Haubinda kennenlernte, gab es schon so etwas wie eine Ideologie. Das war nicht nationalistisch, sondern pazifistisch und bei Wyneken eine Mischung aus Ideen von Kant, Hegel und Nietzsche. Wenn wir sie heute lesen, ist es schwierig zu verstehen, wie ein Mensch wie Walter Benjamin dadurch beeinflusst wurde. 1914 brach er mit Wyneken, weil Wyneken zu einem Nationalisten wurde und den Krieg befürwortet hat. KLUGE: Benjamin emigrierte in die Schweiz. JENNINGS: Er emigrierte und lebte mit der neuen Frau Dora Kellner in der Schweiz auf Kosten der Eltern. Des Öfteren traf er sich mit dem Freund Gershom Scholem, den er schon aus Berlin kannte und der auch in der Schweiz war. Das waren epochale Gespräche zwischen Benjamin und Scholem. KLUGE: Scholem gründete später die Universität Jerusalem, er war einer der großen Kabbala-Forscher.
152
News & Stories vom 30. September 2015 (Kluge / Jennings)
JENNINGS: Damals noch nicht, damals war er nur ein junger Forscher, der sich für die kabbalistischen Texte interessierte. Aber später wurde er zu einem der größten Wissenschaftler des Jahrhunderts. KLUGE: Wie alt sind die beiden zu diesem Zeitpunkt, also 1917? JENNINGS: Benjamin war damals 25 und Scholem 20. KLUGE: Wenn man es so betrachtet, dass aus der Gefühlsintensität eines jungen bürgerlichen Menschen eine Art Kamera, ein Aufnahmegerät entsteht, dann sind das zwei der interessantesten Kameras, die wir für das 20. Jahrhundert besitzen. JENNINGS: Wir finden in dieser Zeit auch zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Ernst Bloch. Da waren die Gespräche anders. Benjamin hat schon ab 1912 Gespräche über den Zionismus geführt und nicht nur mit Scholem. Aber erst mit Bloch gab es eine ernstzunehmende Begegnung mit dem Marxismus und dem Sozialismus. KLUGE: Was sind Benjamins geistige Väter? Sie nannten eben Marx. Das ist ein eigenwilliger Marx, den er sich selektiert. Er sucht sich Stücke von Marx aus. JENNINGS: Der beste Titel von einem Artikel über Benjamin ist von dem großen Kunsthistoriker T. J. Clark und der Artikel heißt: »Should Benjamin have read Marx?«. In diesen Jahren war Benjamins geistiger Vater Friedrich Nietzsche, auch für das Leben. KLUGE: Auf der einen Seite beschreiben Sie ihn als einen bürgerlichen Menschen, verwurzelt im 19. Jahrhundert, der seine Seele vorauswirft, weit in die Zukunft hinaus. JENNINGS: Durch die Begegnung mit der Avantgarde in Berlin, um 1923 und dann ab 1924 durch die Herausforderungen der neuen Medien, Fotografie, Film, Radio, wurde Benjamin zu dem größten Theoretiker dieser Medien. KLUGE: Alles, was neu ist, erprobt er. Er ist neugierig wie ein Biber. JENNINGS: Wie sein Freund L#szlj Moholy-Nagy, auch ein wichtiger Einfluss. KLUGE: Die haben sich gekannt? JENNINGS: Sie haben sich 1923, vor dem Bauhaus, kennengelernt. MoholyNagy war Mitglied der Gruppe um Hans Richter. Wir sprechen heute von der GGruppe. Richter gab eine Zeitschrift heraus, die G – Zeitschrift für elementare Gestaltung hieß. In der Gruppe waren unter anderem Hans Richter, MoholyNagy, Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer. Benjamin, sein Freund Ernst Schön und seine Frau Dora waren am Rande dieser Gruppe. Dora erscheint in der Zeitschrift als »contributing editor« und Benjamin als Übersetzer von einem Artikel von Tristan Tzara. In diesen Ateliers in Berlin, hauptsächlich bei Richter und Moholy-Nagy, hat er zuerst Kontakt zu Moholy-Nagy. Später, als sie zusammen bei der avantgardistischen Zeitschrift I 10 arbeiteten, entstand eine wichtige Freundschaft. Das war aber erst Ende der zwanziger Jahre. Nach 1920 benötigte Benjamin ein Einkommen. Er versuchte sich als freier Schriftsteller zu etablieren, was schwierig war in diesen Zeiten. Er suchte aber auch, Fuß an der
Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin
153
Universität zu fassen und benötigte ein Thema zur Habilitation, das er schließlich in Frankfurt fand mit dem Buch über das deutsche Trauerspiel. Er hat die Habilitation eingereicht, und sie wurde nie abgewiesen, weil sein Betreuer Cornelius ihm geraten hat, die These zurückzuziehen. KLUGE: Warum? JENNINGS: Horkheimer hat es nicht verstanden. Horkheimer war Assistent von Cornelius, hat Benjamins Buch gelesen und Cornelius davon abgeraten. Das ist ein Kapitel der Geschichte der Kritischen Theorie. Das Thema der Habilitation ist das barocke Trauerspiel, eine dramatische Form, die damals vernachlässigt wurde. Auch die Literaturwissenschaft hat sich wenig damit befasst. KLUGE: Was entwickelte er? JENNINGS: Er findet eine Parallele zwischen dem 17. Jahrhundert, diesen barocken bizarren Formen und seiner Gegenwart. Am Ende der Vorrede spricht er von der Parallele zwischen Expressionismus auf der einen Seite, also Gegenwart – Expressionismus heißt damals Moderne –, und barocker Literatur. Das ist das erste Mal in seiner Karriere, dass er das für ihn typische Verfahren ausübte, die Gegenwart nur durch die Darstellung einer vergangenen Epoche zu erkunden. Direkte Erfahrung der Gegenwart war für ihn eher unmöglich. Da sah man nur Phantasmagorie. Wenn man aber eine synchrone Epoche in der Vergangenheit erforschte, war es möglich, dass die charakteristischen Züge der Gegenwart betont werden und dadurch ein Bild der Zukunft entspringen konnte. KLUGE: Es ist eigenartig, was Dialektik ist. Es gibt die »verbeulte Dialektik«, die eine Beobachtungsmethode ist. Diese Beobachtungsmethode sucht er in den Dingen selber. Dazu braucht er gelegentlich Abstände, vom Mond aus kann ich die Erde sehen. JENNINGS: Adorno hat treffend gesagt, dass bei Benjamin jede Kritik gleichzeitig eine Philosophie des Gegenstands ist. KLUGE: Sie nennen ihn einen akademischen Nomaden. Nomade ist nicht Wildbeuter. Die Jäger und Sammler sind etwas anderes. Ich muss erst Ackerbau betrieben haben und breche dann neu auf. JENNINGS: Er hat es zuerst in Heidelberg im Kreis um Marianne Weber versucht. Das scheiterte. Er hoffte auf eine Stelle, die dann Karl Mannheim bekam. Dann ging er nach Frankfurt, wo sein Onkel der ehemalige Rektor war. Er fand eine Stelle bei einem Germanisten, der ihn später fallen ließ. Cornelius sprang im letzten Augenblick ein und da scheiterte Benjamin auch. Es fällt schwer, sich Benjamin als Professor vorzustellen. Benjamin fiel es selbst schwer, sich als Professor vorzustellen. Er war zu eigenwillig. Er wollte sein Ding machen, und das konnte er nicht an der Universität. Das wusste er. KLUGE: Er spricht von dem »mobilen und widersprüchlichen Ganzen meines Denkens«. Es handelt sich um ein Ganzes. Man kann nicht halb denken, es ist mobil und es akzeptiert Widersprüche und Fragmente.
154
News & Stories vom 30. September 2015 (Kluge / Jennings)
JENNINGS: Darin liegt die Schwierigkeit, eine Biographie über Benjamin zu schreiben. Es gibt verschiedene Linien, die sich durch die Karriere ziehen. Man darf nicht allzu viel Gewicht darauf legen, weil das Denken auch immer fragmentarisch ist. Er fängt immer von neuem an, er geht dann eigenwillig und obsessiv auf ein Ziel in eine Richtung zu. In der nächsten Woche könnte es sein, dass er auf ein Ziel in der entgegengesetzten Richtung zugeht, genauso obsessiv und eigenwillig. Das ist sein Denken. KLUGE: Wenn man sich vorstellt, dass Denken verdichtetes Gefühl ist, ich also Impulse habe, die weit zurückgehen auf meine Kinderzeit, auf Texte, die ich auch erben kann, auf Idiosynkrasien, von denen ich nicht lasse. Wie eine Sonde bin ich das Geschoss meiner selbst. Die Summe meiner Reaktionen, das bin ich. JENNINGS: Es gab Schwierigkeiten in der Biographie. Uns wird manchmal vorgeworfen, wir hätten sein Leben durch eine lineare Erzählung wiedergegeben, und das bei einem Denker, der demgegenüber skeptisch war. Wir haben das gemacht, weil ein fragmentarisches thematisches Leben von Benjamin nur Benjamin selbst hätte schreiben können. KLUGE: Er ist ein prismatischer Charakter. JENNINGS: Ein Prisma ist eine Reihe von Masken. Ich denke an diesen BobDylan-Film mit den verschiedenen Darstellern, bei dem auch eine Frau dabei ist. Das ist Benjamin, mehrere Darsteller, mehrere Masken und dahinter etwas, aber wir wissen nicht was. KLUGE: Wann ist er in Moskau? JENNINGS: Das war 1926. KLUGE: Da ist noch kein Stalin allein an der Macht. Da sind noch Bucharin und Trotzki. Moskau ist ein lebendiger, von futuristischer, konstruktivistischer Tradition belebter Ort. Wie kommt er an, wie lebt er, wie fährt er ab? JENNINGS: Die junge lettische Schauspielerin und Regisseurin, Asja Lacis, die er auf Capri im Jahre 1924 kennengelernt hatte – sie waren Liebhaber –, wohnte derzeit in Moskau. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und er fuhr sofort nach Moskau. Bernhard Reich, auch Regisseur im Brecht-Kreis, war der Lebensgefährte von Lacis. Sie wohnten in diesen Wochen teilweise zusammen im selben Hotelzimmer, Benjamin und Reich. Moskau war unwahrscheinlich lebhaft. Benjamin konnte kein Russisch. Er brauchte immer wieder Dolmetscher oder war auf die Hilfe von Reich und anderen Deutschen angewiesen. Er hatte schon Eindrücke, aber man muss dann immer vorstellen, dass sie vermittelt waren. Direkte Eindrücke konnte er nicht sammeln. KLUGE: Sie schreiben vom »destruktiven Charakter«. Das ist die Gegenposition des Konstruktivismus, die Negativbezeichnung. JENNINGS: Es ist nicht negativ bei ihm. Für mich ist Benjamin ein Nihilist. Wenn das Neue entsteht, dann nur durch die Destruktion des Alten.
Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin
155
KLUGE: Das Vakuum ist das größte Potential im Kosmos. Die Reinschriften des Lebens kommen nur zustande, wenn irgendwo ein Nullpunkt ist. Der Durchgang durch Nullpunkte ist schon wieder konstruktivistisch. JENNINGS: Am Ende seines Lebens, in den letzten vier Jahren, wurde dieser Konstruktivismus dadurch komplizierter, dass er zyklisch zu denken begann. Wir haben früher von dieser Idee der Apokatastasis gesprochen, dieser zyklischen Erneuerung der Welt. Die Erneuerung kann nur entstehen, wenn es im Kosmos einen riesigen Brand gibt. Das war für ihn dann bezeichnend. KLUGE: Das ist eine barocke Vorstellung. JENNINGS: Bei der Vorbereitung auf das Trauerspielbuch hat er nicht nur Georg Luk#cs gelesen, sondern auch die dreibändige Dogmengeschichte von Adolf von Harnack zum zweiten Mal. KLUGE: Er ist ein Archäologe. Er sucht in den Religionen nach einem Subtext, der mit der Religion nicht identisch ist. Er selbst ist nicht religiös. JENNINGS: Er sucht immer Motive, die herausgegriffen werden können, er spielt damit und schiebt sie in eine neue Richtung. KLUGE: Es handelt sich um Werkzeuge im spirituellen Sinne. JENNINGS: Es sind theologische, politische Konzepte, die man in seinen Händen selten wiedererkennen kann. KLUGE: Was ist mit dem Satz »Der destruktive Charakter ist jung und heiter« gemeint? JENNINGS: Dieser Charakter ist kein Melancholiker. Er ist jung und heiter bei der Destruktion, weil im Hintergedanken immer die Idee des neu Entstandenen oder das Potential dabei eine Rolle spielt. Deswegen ist er immer heiter, auch in der tiefsten Depression. KLUGE: Sie sprachen vorhin von Nietzsche. Solche Gedanken sind sozusagen Zweige vom Busch Nietzsches, die er pflückt. JENNINGS: Der tanzende Stern. KLUGE: 1935/36? JENNINGS: Das war für Benjamin ein wichtiger Wendepunkt. Er hat sich hauptsächlich in den Jahren 1927 bis 1935 mit der »Passagen«-Arbeit, mit der großangelegten Kulturgeschichte des neuen Warenkapitalismus in den Großstädten beschäftigt. Im Jahre 1935 hat Horkheimer also ein Abstracto oder ein Prospectus verlangt, damit Benjamin subventioniert werden konnte vom Institut für Sozialforschung. KLUGE: Die wollten wissen, welches Objekt sie gekauft haben. JENNINGS: Innerhalb weniger Wochen ist dieses Expos8 entstanden, »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«. Das war ein Expos8 der »Passagen«-Arbeit, so wie Benjamin sie verstand. Gleich danach und mit Impulsen aus dem 19. Jahrhundert schrieb er den wichtigen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Es handelt sich um eine Theorie der Wahr-
156
News & Stories vom 30. September 2015 (Kluge / Jennings)
nehmung, dabei spielt Film eine führende Rolle. In dieser Theorie der Wahrnehmung gibt es wichtige Momente, die Miriam Hansen am besten herausgearbeitet hat. Er hat einmal geschrieben, dass man im Film das Ticken der Uhr des 19. Jahrhunderts hört. KLUGE: Wir erkennen die Gegenwart und ein Stück Zukunft, wenn wir die Vergangenheit nicht erst vergessen haben, sondern wir haben sie nie wahrgenommen. JENNINGS: Er ist nie wieder richtig zur »Passagen«-Arbeit zurückgekommen. 1937 ist aus der »Passagen«-Arbeit das große Buch über Baudelaire entstanden, das auch unvollendet blieb. Er hat den Mittelteil daraus, den Aufsatz »Das Paris des Second Empire bei Charles Baudelaire« geschrieben und nach New York gesandt. Er wurde abgewiesen. Adorno und Horkheimer haben dem größten Kritiker des 20. Jahrhundert gesagt: Das ist nicht gut genug, bitte neu schreiben. Er musste das machen, weil er das Geld brauchte. Daraus entsteht dann der zweite Aufsatz »Über einige Motive bei Baudelaire«. Das war eher in Adornos Sinn, voller abstrakter Theorie, ohne Beweismittel. Der frühere Aufsatz hatte vielleicht zu viele Beweismittel, aber die Spannungen zwischen diesen zwei Fassungen sind charakteristisch für die letzten Jahre. KLUGE: Er errichtet ein Riesenbergwerk, von A bis Z, dann noch mal in kleinen Buchstaben das Alphabet. Das ist ein Werk, von dem ich denke, dass man es niemals ausfüllen könnte, dass es aber eine ungeheure Lust macht, sich vorzustellen, wie man daran arbeiten könnte. JENNINGS: Im interessantesten Steinbruch der Welt herumwandern und Steine herausziehen. KLUGE: Das Wesentliche an der Ware ist, dass eingebaute Lebenszeit von Menschen drinsteckt. Das sind alles verzauberte Menschen. JENNINGS: Aber ein diskursiver Text ist das nicht. KLUGE: Es ist ein Atlas. Das Goldene Vlies, das Jason eroberte, war auf einem Schafsfell. Auf der Rückseite waren die Schätze verzeichnet, die im Mittelmeergebiet zu finden sind. Das haben die Griechen mit Betrug ergattert. Wenn Sie mir »Panorama« beschreiben, das ist Q. Der Anfang des zweiten Bandes fängt mit Q an. JENNINGS: Louis Daguerre war zuerst ein Panoramen-Maler. Benjamin war das bewusst, und er sah das Verhältnis des Panoramas zur Fotografie. Das ist in dem Fragment »Kaiser-Panorama« in der Berliner Kindheit durchgearbeitet. KLUGE: Ein Panorama ist eine Nachahmung von Wirklichkeiten, begehbare Geschichte. JENNINGS: Es gibt zwei Sorten. In der »Passagen«-Arbeit geht es um die großangelegten Panoramen. Eines existiert noch auf dem Schlachtfeld von Waterloo. Da steigt man eine Treppe herauf, ist in der Mitte, und ringsherum gibt es einen bemalten Hintergrund mit Soldaten, Kanonen, gefallenen Bäumen. In
Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin
157
der Berliner Kindheit geht es aber um ein fotografisches Panorama. Man sitzt und in der Mitte ist eine große runde Kammer, mit stereoskopischen Bullaugen. Man schaut hin, dann hört man eine Glocke und die Kammer bewegt sich nach rechts und man bekommt eine neue Sicht. KLUGE: Man sieht den Tod des Kaisers Maximilian von Mexiko. Man sieht wichtige Tatsachen, die mit Fiktionen verknüpft sind. JENNINGS: Für Benjamin hat dieses Panorama den Vorteil gegenüber dem Film, dass man die tote Stelle, das Schwarze zwischen den Rahmen, noch sehen kann. In dieser Sekunde kann vielleicht ein neues Bild entstehen. KLUGE: Dieses Bild, das zwischen zwei Bildern an der Schnittstelle entsteht, ist später in der Montage bei Jean-Luc Godard der entscheidende Punkt. Aber der Zuschauer käme nicht in Bewegung, wenn es nicht das eine Bild und dessen Gegensatz, das nächste Bild, gibt. JENNINGS: Der Spielraum entsteht nicht in den Bildern, sondern zwischen den Bildern. KLUGE: Nehmen wir das Wort Eisen. Was sammelt er da? JENNINGS: Das war das konstruktive Prinzip der Neuen Welt. Aber er interessierte sich weniger für die Bauten, die durch Eisen zuallererst möglich waren. Vielmehr interessierte er sich für die Formen, wo das Eisen noch verhüllt war, also einen Bahnhof, der noch wie ein Ch.teau aussieht. Deswegen gab es dieses große Interesse am Jugendstil. KLUGE: Die Materialien fangen an zu träumen. Das fasziniert ihn, weil da ein subjektives Element ist, das im Eisen selbst nicht steckt. Es kann nur von Menschen kommen. Wenn Sie im 21. Jahrhundert das »Passagenwerk« fortsetzen wollten, was stünde an der Stelle des Eisens? Seltene Erden? JENNINGS: Sand. KLUGE: Sand kann wie in der Wüste Sahara etwas sein, was nicht besonders zu beackern ist und verweht, aber es produziert die Oase. JENNINGS: Ohne diesen Sand gibt es die neue virtuelle Realität nicht. Über die größte Maschine der Welt, das CERN, hätte er sich gewundert. Indem man kleinste Teilchen mit hohen Kosten untersucht, erfährt man etwas über die fernsten Galaxien. Das ist keine besonders kommerzielle Maschine. Hier gibt es ein Kapitel im Passagen-Werk, das heißt »Traumstadt / Traumhaus«, ein verblüffend moderner Ausdruck. Was würde er sich darunter vorstellen? JENNINGS: Die »Passagen«-Arbeit, besonders das Expos8 »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, markiert das Ende einer besonderen Phase bei Benjamin. Man könnte das als die sozial-psychoanalytische Phase bezeichnen. Er interessiert sich für Träume, nicht von individuellen Menschen, sondern vom Kollektiv. Er sagt: »Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.«
158
News & Stories vom 30. September 2015 (Kluge / Jennings)
KLUGE: Das bestreitet Adorno, der aber möglicherweise einen Punkt nicht verstanden hat. An dem Traum träumen nicht Menschen, sondern verdinglichte Menschen, menschliche Arbeit, also Gegenstände träumen. JENNINGS: Adorno hat Einspruch eingelegt, zum Teil mit Recht. Er hat es teilweise nicht verstanden, aber diese Gedanken haben Benjamin dazu geführt, in einer utopischen Weise zu denken, was nicht passend war. Danach gab es dann die soziologische Phase des Projekts und die Träume des Kollektivs spielen nach 1935 so gut wie keine Rolle mehr. KLUGE: Das ist eine Zensurmaßnahme innerhalb der Kritischen Theorie. JENNINGS: Ja, danach spielt die Ware eine viel größere Rolle. KLUGE: Da ist etwas, was nicht nur eine Ware ist. Zum Beispiel konferieren alle Opern in den Opernhäusern nachts miteinander, vermischen sich und sind nicht mehr beherrschbar. Das wäre eine benjaminsche Vorstellung, so wie auch in den Tiefen unter der Oper ein See ist mit einem Gespenst darin. Horkheimer und Adorno sagen merkwürdigerweise, dass das aber doch Phantasie ist. Warum entsteht diese Phantasie und nicht ein andere. JENNINGS: Benjamin hat sechseinhalb Jahre im Exil gewohnt, fast ohne Mittel. Er hat gesagt: »Es gibt Orte, wo ich ein Minimum verdienen kann und es gibt Orte, wo ich aufgrund eines Minimums existieren kann, aber die zwei Orte koinzidieren nirgends«. Es gibt bei Benjamin Skurriles, Amoralisches, aber dass er unter diesen Umständen in den letzten sieben Jahren das Werk vollendet hat, das er vollendet hat, ist heroisch. Das letzte Jahr war ein Albtraum für ihn. KLUGE: Im Winter vor dem deutschen Angriff im Frühjahr arbeitet er in Paris. JENNINGS: Als die deutschen Truppen einmarschierten, wurden alle Juden, alle Deutschen in ein Lager in einem Stadion gebracht. Er hat mehrere Tage da verbracht, und seine Gesundheit war schon damals alles andere als erfreulich. Er hat an Malaria gelitten. Bedeutende französische Intellektuelle haben interveniert, und er wurde freigelassen. Er wurde entlassen, dann wieder verhaftet und in einem Lager bei Nevers interniert, wo er mehrere Wochen war. Er ging daraufhin zurück nach Paris, fand die Schwester und sie flohen gemeinsam nach Lourdes, wo die Schwester bis zum Anfang des Krieges wohnte. Sie kam dann in die Schweiz, wo sie im Krieg starb. Benjamin floh aus Lourdes nach Marseille, wo die anderen Flüchtlinge hauptsächlich waren. KLUGE: Alle warteten dort auf Pässe. JENNINGS: Er musste über die Pyrenäen fliehen, fand sich in dem kleinen Dorf an der Grenze Portbou. Aus Gründen, die wir nicht verstehen, war ausgerechnet an diesem Tag die Grenze geschlossen. Die spanischen Behörden wollten die Flüchtlinge zurück nach Frankreich schicken, in die Hände der Gestapo. Benjamin ging in ein Hotel und nahm einen Haufen Morphium zu sich und starb im Laufe des nächsten Tages. KLUGE: Er wurde am anderen Morgen gefunden, war aber schon von Sinnen.
Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin
159
JENNINGS: Er konnte nicht mehr sprechen. KLUGE: Ein spanischer Arzt, der aber nur interessiert daran war, dass es keinen Selbstmordfall gibt, der ihm Schwierigkeiten macht. Er hat Herzinfarkt bescheinigt, aber keine Behandlung vorgenommen. Man würde sagen, man versucht noch, Gegenmittel zu geben, damit er bricht. JENNINGS: Er hat nur die ärztliche Urkunde unterschrieben und eingereicht, während Benjamin noch lebte. Im Laufe des Tages starb er. Er war Jude, nahm sich das Leben und kam trotzdem auf den katholischen Friedhof. Aus zwei Gründen: Der Arzt attestierte nicht Selbstmord, sondern Herzinfarkt, und in der zivilen Urkunde stand nicht der Name Walter Benjamin, sondern der Name Benjamin Walter. Sie haben ihn nicht für einen Juden gehalten. KLUGE: Benjamin wurde Vorname. Walter ist ein deutscher Name, und jetzt konnte man ihn auf dem katholischen Friedhof beerdigen, weil er kein Jude ist. JENNINGS: Die Gruppe von Flüchtlingen, mit denen er geflohen war, hat eine Nische auf dem Friedhof gemietet. Mehr konnten sie nicht machen. Nach fünf Jahren wurde diese Nische wieder gemietet und sie haben die Leiche irgendwo ausgeschüttet. KLUGE: Die Toten liegen dort in einem Scheintrakt nach mediterraner Methode, wie in Schränken. JENNINGS: Wir wissen nicht, wo die Leiche begraben liegt.
Valentin Mertes
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
Das erste Bild von Abschied von gestern zeigt folgendes Zitat: »Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage«.1 Durch diesen Satz hindurch lässt sich nicht nur Alexander Kluges erster Langfilm von 1966 lesen, sondern es reflektiert sich in ihm, wie in einem Prisma das gesamte Spektrum seines Œuvres. So bezieht er sich einerseits auf das Ende des Zweiten Weltkrieges, indem er den Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht als Tabula rasa versteht, sondern als historische Zäsur, mit der gleichzeitig die sukzessive Entfaltung der gesellschaftlichen Freiheit zur Selbstbestimmung beginnt, aber eben auch die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen als gesellschaftliches Erbe und Menetekel. Andererseits verweist das Zitat auf Kluges Nähe zu Walter Benjamins Theorie der Geschichte, die davon ausgeht, dass Geschichte eben »keine Verfallszeit«2 hat, sondern – wie es im Buch zum Film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit heißt: »Die Vergangenheit aber ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.«3 In Bezug auf die Zeitgeschichte der sechziger Jahre und vor dem Hintergrund der Frankfurter Prozesse, die der Jurist Kluge mit größter Aufmerksamkeit verfolgt haben muss, sind diese Zitate Ausdruck einer politischen sowie ästhetischen Haltung. So finden die Auschwitzprozesse durch einen Auftritt des Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer4 in Abschied von gestern nicht nur ihr filmisches Echo, sondern Kluge zeigt durch seine utopische Konzeption einer alternativen Gerichtsbarkeit die Grenzen herkömmlicher juristischer Rechtsprechung auf. 1 Alexander Kluge, Abschied von gestern, Cinemathek. Ausgewählte Filmtexte 17, Frankfurt/M. o. J., S. 7. 2 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften 5, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 571. 3 Alexander Kluge, Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Das Drehbuch zum Film, Frankfurt/M. 1985, S. 107. 4 Vgl. auch Kluges Buch »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter« – 48 Geschichten für Fritz Bauer, Frankfurt/M. 2013.
162
Valentin Mertes
Sagen Sie mal, können Sie sich denken, daß wir eines Tages einmal einen Round Table machen? Wo der Staatsanwalt und der Verteidiger und der Angeklagte und das Gericht um den Tisch herumsitzen und gemeinschaftlich um die Wahrheit kämpfen und um das, was wir Recht nennen …5
Diese Figur des Round Table, an dem Ausgrenzung und Verschuldung durch die Suspendierung des Urteils zugunsten einer kollektiven Suche nach Gerechtigkeit aufgehoben sind, verweist auf eine Dialogizität, die durch einen emanzipativen Gebrauch medialer Verfahren lebendige Zusammenhänge zwischen den Menschen, aber auch zwischen Dingen und eben zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen vermag.6
Eine solche dialogische Gemeinschaft von Menschen, Dingen und Zeiten bringen Kluge und auch Benjamin als Utopie gegenüber unserer durch »Kommandogewalt«7 organisierten Gesellschaft in Stellung. In seinem Text Zur Kritik der Gewalt analysiert Benjamin als Beispiel einer durch Gewalt bestimmten Gesellschaftsstruktur vor allem die historischen Erscheinungsformen des positiven Rechts als Anwendungsgebiete rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt.8 Sein immanent kritisches Darstellungsverfahren desavouiert den Kern jeglicher Rechtsordnung als eine Mittel-Zweck-Logik zur Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt. Damit ist alle »Gewalt […] als Mittel entweder recht5 Kluge, Abschied, S. 74. 6 Vgl. Christian Schulte, »Kritik und Kairos. Essayismus zwischen den Medien bei Alexander Kluge«, in: Hermann Blume u. a. (Hg.), Inszenierung und Gedächtnis. Soziokulturelle und ästhetische Praxis, Bielefeld 2014, S. 243–260, hier S. 254ff. 7 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1993, S. 43 und 49. 8 Vgl. »Mit einem Wort: kann der Maßstab, den das positive Recht für die Rechtmäßigkeit der Gewalt aufstellt, nur nach seinem Sinn analysiert werden, so muß die Sphäre der Anwendung nach ihrem Wert kritisiert werden. Für diese Kritik gilt es dann den Standpunkt außerhalb der positiven Rechtsphilosophie, aber auch außerhalb des Naturrechts zu finden. Inwiefern allein die geschichtsphilosophische Rechtsbetrachtung ihn abgeben kann, wird sich herausstellen.« Walter Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 179–203, hier S. 181f.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
163
setzend oder rechtserhaltend«9 und hat als berechtigtes »Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke [innerhalb der Rechtsordnung] zu ›garantieren‹.«10 Ausgehend von seiner entlarvenden Kritik des Staatsrechts, der Todesstrafe oder des Streikrechts versucht Benjamin alternative Anwendungsformen von Gewalt und damit das Mittel-Gewalt-Verhältnis jenseits der schicksalhaften Kausallogik der Mittel-Zweck-Relation von Rechtsordnungen zu denken. Mit anderen Worten: »Ist überhaupt [eine] gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich?«11 Und welche »prinzipiell gewaltlose[n] Mittel politischer Übereinkunft«12 und damit Formen des gewaltfreien Dialogs gibt es? Benjamins Text lässt sich durchaus auf die These zuspitzen, dass »jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung menschlicher Aufgaben«13 mit der Darstellung ihrer Geschichte in einem engen Zusammenhang steht. Es ist diese intrinsische Verschränkung von Ethik und Epistemologie in der Darstellung, die auch den Aufsatz eröffnet, indem er die »Aufgabe einer Kritik der Gewalt […] als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit«14 umschreibt. Diese grundlegende Problematisierung der Modi und Möglichkeiten der Darstellung15 erfährt nicht erst seit dem Fragment gebliebenen Passagen-Werk eine Erweiterung zum triadischen System: Ethik, Epistemologie und eben Ästhetik. Dabei treten im Passagen-Werk die ästhetischen Verfahren der Darstellung wie zum Beispiel Zitation und Montage ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wäre nun zu fragen, ob sich die Analysen der verschiedenen Mittel der Gewalt im Text »Zur Kritik der Gewalt« zu einer produktiven Perspektive auf mediale Verfahren wie Zitation und Montage verwenden lassen. Dabei wird die Darstellungsweise, wie sie Kluge in der Erprobung verschiedener medialer Verfahren entwickelt, zum Angelpunkt von Dialogizität. Genau wie eine kritische Analyse der medialen Verfahren im Werk Kluges ist auch die Darstellungsweise der Gewalt bei Benjamin an »die Philosophie ihrer Geschichte« gebunden. Die ›Philosophie‹ dieser Geschichte deswegen, weil die Idee ihres Ausgangs allein eine kritische, scheidende und entscheidende Einstellung auf ihre zeitlichen Data ermöglicht. Ein nur aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf
9 10 11 12 13 14 15
Ebd., S. 190. Ebd., S. 180. Ebd., S. 191. Ebd. Ebd., S. 196. Ebd., S. 179. Vgl. »Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen.« Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 203–430, hier S. 207.
164
Valentin Mertes
und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtsetzender und rechtserhaltender zu gewähren.16
Es ist dieser beliebige und ohnmächtige Blick aus der Nähe, der die Dinge als eine kontingente Kette von Begebenheiten vor uns erscheinen lässt, die jedoch als ein geschichtlicher Gewaltzusammenhang dargestellt werden sollte. Eine kritische Verwendung medialer Verfahren könnte nun eine Darstellung ermöglichen, die die gewalttätige Funktionalität der Zweck-Mittel-Relation innerhalb einer Rechtsordnung als eine einzige Katastrophe entlarvt, die Trümmer auf Trümmer häuft.17 Es ist also die spezifische Darstellungsweise, die die Durchbrechung der ewigen Wiederkehr der Katastrophe erzwingen kann und den Schuldzusammenhang, auf den eine jede Rechtsordnung in ihrer Begründung und Erhaltung durch Gewalt notwendig verwiesen ist, zu suspendieren vermag. »Die Katastrophe als das Kontinuum der Geschichte«18 findet ihren Ausdruck unter anderem im Rechtsvertrag, der in der Setzung und Erhaltung der MittelZweck-Relation Gewalt vergesellschaftet. Eine die Gesellschaft organisierende Vertragsform konstituiert sich nach Benjamin als Zwangsverhältnis der MittelZweck-Relation, indem sie »jedem Teil das Recht [verleiht], gegen den anderen Gewalt in irgendeiner Art in Anspruch zu nehmen, falls dieser vertragsbrüchig werden sollte. Nicht allein das: wie der Ausgang, so verweist auch der Ursprung jeden Vertrages auf Gewalt.«19 Die Anwendung von Mitteln zur Garantie des Vertrages unterliegt demnach einem Zwang, »Ausweis über ihren historischen Ursprung [als] Bedingung für ihre Rechtmäßigkeit«20 abzugeben. Diese Zwangsverpflichtung zur Garantie einer verbürgten Notwendigkeit der angewendeten Mittel führt zu einer gleichzeitigen Abstraktion und Verallgemeinerung der Zwecke. Die Fixierung und Einschränkung bei der Auswahl der Mittel durch den Begründungszwang und die damit einhergehende Kontrolle in der instrumentellen Bestimmung der Handlungsmöglichkeiten ist mit der gleichzeitigen Verallgemeinerung und Abstraktion von Gerechtigkeit, also dem Entgleiten der Horizonte, an denen wir unser Handeln orientieren, gekoppelt. In diesem unversöhnlichen Widerstreit gegenläufiger Bewegungen innerhalb der MittelZweck-Relation sieht Benjamin den historischen »Verfall«21 von Rechtsordnungen gegeben. Katastrophaler Ausdruck dieses Erosionsprozesses sind die 16 Benjamin, »Kritik der Gewalt«, S. 202. 17 Vgl. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 691–704, S. 697f. 18 Ebd., S. 1244. 19 Benjamin, »Kritik der Gewalt«, S. 190. 20 Ebd., S. 182. 21 Ebd., S. 191.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
165
grassierenden Ausgrenzungsmechanismen, die das Lebendige auf das bloße Leben reduzieren.22 Benjamins Versuch liegt nun darin, die auf Gewalt begründete Organisationsstruktur unserer Gesellschaft aufzubrechen, indem er die konstitutive MittelZweck-Relation in ihrer kritischen Darstellung suspendiert. In der Suspendierung öffnet sich ein Raum für die Erprobung eines alternativen Verständnisses des Mittel-Begriffs, durch das »zugleich eine Gewalt anderer Art absehbar werden soll […], die dann freilich zu jenen Zwecken nicht das berechtigte noch das unberechtigte Mittel sein könnte, sondern überhaupt nicht als Mittel zu ihnen, vielmehr irgendwie anders, sich verhalten würde«.23 Mit der Befreiung aus ihrem zweckrationalen Zwangszusammenhang erlangen Mittel so eine Unbestimmtheit und Offenheit, die sie als mediale Verfahren dafür qualifiziert, überhaupt erst ein dialogisches Verhältnis zu Unbestimmtem, Verdrängtem oder Neuem zu ermöglichen. Eine solche auf Alterität gerichtete »Politik der reinen [oder gewaltlosen] Mittel«24 findet Benjamin im Streikrecht. Besonders der proletarische Generalstreik, der als Unterbrechung des kapitalistischen Produktionsprozesses einem grundsätzlichen »›Abbruch von Beziehungen‹ gleichkommt«,25 öffnet sich nach Benjamin durch die »Vernichtung der Staatsgewalt«26 dieser Unbestimmtheit. Die Proklamation einer notwendigen Destruktivität der reinen Mittel, ihre Recht und Grenzen vernichtende Gewalt verweist auf die reinigende Kraft des destruktiven Charakters, der nach Benjamins Konzeption vor allem Platz schafft: Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen. […] Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter [… legt er das] Bestehende […] in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.27
22 Vgl. »Denn Blut ist das Symbol des bloßen Lebens. Die Auslösung der Rechtsgewalt geht nun […] auf die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens zurück, welche den Lebenden unschuldig und unglücklich der Sühne überantwortet, die seine Verschuldung ›sühnt‹ – und auch wohl den Schuldigen entsühnt, nicht aber von der Schuld, sondern vom Recht. Denn mit dem bloßen Leben hört die Herrschaft des Rechts über den Lebendigen auf. Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst willen, die göttlich reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.« Ebd., S. 200. 23 Ebd., S. 196. 24 Ebd., S. 193. 25 Ebd., S. 184. 26 Ebd., S. 193. 27 Walter Benjamin, »Der destruktive Charakter«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 396–398, hier S. 397f.
166
Valentin Mertes
Erst mit der Destruktion des Bestehenden entsteht ein leerer Raum, der keinem der bisherigen Rechtsordnungen und Gesetze unterworfen ist. Ein Freiraum also, der seiner gewaltsamen Entstehung keine Rechenschaft schuldig ist, aber eben auch keinem vorgängigen oder zukünftigen Zweck verpflichtet scheint. Er ist Vollzug und Manifestation der »Entsetzung«28 des gewaltsamen MittelZweck-Verhältnisses, indem er der »Unzerstörbarkeit des höchsten Lebens in allen Dingen«,29 dem Lebendigen, der ziel- und zwecklosen, also intentionslosen lebendigen Bewegung einen Weg beziehungsweise Ausweg aus der Logik der rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt ermöglicht.
»Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es noch lange. Dann plötzlich brechen sie aus. Unerwartet und brutal.«30 Einleitend perspektiviert dieser Kommentar die Sequenz »Der Schuß« in Kluges Film Die Macht der Gefühle von 1983. Eine Frau muss sich vor Gericht für den Mord an ihrem Ehemann verantworten. Er, ein trunksüchtiger Garnisionsoffizier, vergewaltigt wiederholt die gemeinsame Tochter. Die Ehefrau, konfrontiert mit der Sprachlosigkeit ihres permanent alkoholisierten Ehemanns, versucht sich in ihrer Verzweiflung mit einem Schuss Gehör zu verschaffen. Das Gericht als Verhandlungsort von Gerechtigkeit dient Kluge zur Darstellung der Problematik von Rechtsprechung durch Gerichthalten und Entscheiden.31 Im Dialog zwischen der Angeklagten und dem Richter offenbart sich so die Schwierigkeit, die stummen Ereignisse und Dinge in eine »verhandelbare Sache«32 zu übersetzen. Die Sequenz stellt jedoch keine Diskreditierung der gerichtlichen Sprache dar, sondern verweist eher auf die Inkommensurabilität der rechtlichen Ord28 Benjamin, »Kritik der Gewalt«, S. 202 und vgl. Werner Hamacher, »Afformativ, Streik«, in: Christiaan L. Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«, Frankfurt/M. 1994, S. 340–370, hier S. 363f. 29 Benjamin, Passagen-Werk, S. 753. 30 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M. 1984, S. 80. 31 Vgl. Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt/M. 2011, S. 17. 32 Ebd., S. 20.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
167
nung gegenüber den kontingenten Ereignissen und Erfahrungen der Angeklagten. Das wiederholte Scheitern des Richters in seinem Bemühen, die Ereignisse und Aussagen in eine Mittel-Zweck-Relation zu übersetzen, manifestiert sich in den Versuchen psychologisch begründbare Absichten als vorgängige Zwecke in die Handlungen der Angeklagten zu implementieren: »Es mußte mit der Schwenkung doch eine Absicht verbunden sein, was haben Sie bezweckt?«33 Indem Kluge die Beantwortung dieser Frage offen lässt, »die Dinge also in der Schwebe«34 hält, vollzieht die filmische Darstellung der Gerichtsbarkeit eine erschütternde Entsetzung der »Funktionsweise der Justizmaschine«.35 Die ›Verwirrung‹ der Rechtsordnung sowie die »Verwirrung der Gefühle«36 liegt also in der Inkommensurabilität zwei verschiedener Erfahrungsweisen bzw. Sprechweisen und ihren widersprüchlichen Rekonstruktionsverfahren vergangener Ereignisse begründet. Lakonisch vertagt Kluge die endgültige Entschei-
33 34 35 36
Kluge, Macht der Gefühle, S. 84. Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 92.
168
Valentin Mertes
dung dieser Problematik: »Die Macht der Gefühle entlädt sich in einem Schuß. Ein Schuß, den die Gerichtsbarkeit in keines ihrer Raster fügen kann.«37 Die Gerichtssequenz38 zeigt sehr eindrucksvoll die gleichzeitige Ohnmacht und Gewalt der juristischen Sprache beim Versuch menschliche Handlungen und ihre Motive in ein rationales Mittel-Zweck-Verhältnis zu zwingen. Das Scheitern eines lebendigen Dialogs offenbart nicht die grundsätzliche Mangelhaftigkeit des Mediums Sprache, sondern die Gewaltsamkeit und Sinnlosigkeit der Anwendung des Mittels Sprache zum Zwecke der Entscheidung über Schuld durch die Bestimmung einer intendierten Absicht. Die Pluralität und Widersprüchlichkeit in der Darstellung von Ereignissen, Motiven und Erfahrungen im Medium dialogischen Sprechens dekonstruiert die instrumentelle Sprache des Gerichts. So wird die »entmutigende Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme«39 in Kluges Gerichtssequenz zu einem Zeugnis für die eigensinnige Widerständigkeit des Lebendigen, das sich gegen jegliche Vereinnahmung durch rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt zur Wehr setzt. Will man diesem Eigensinn des Lebendigen gerecht werden, wird die Revidierung von Urteilen in Permanenz zur Notwendigkeit. Das unaufhörliche Wieder-Neu-Hinsehen und Prüfen unter dem Maßstab des Lebendigen ist aber die Möglichkeitsbedingung von Dialogizität als Verfahren, das in jedem Augenblick durch die Anpassung der Perspektive an die Singularität der Situation eine neue Entscheidung trifft, die die Endgültigkeit aller vorherigen Entscheidungen und damit die Endgültigkeit von Entscheidung überhaupt außer Kraft setzen kann. Genau wie die Utopie des Round Table von Fritz Bauer suspendiert hier die im Medium der Sprache eingenistete lebendige Unbestimmtheit der Angeklagten das Urteil. Und mit der auf unbestimmte Zeit aufgeschobenen Exekution verliert auch die Gewalt des Zweck-Mittel-Verhältnisses ihre schicksalhafte Macht. Wie das Beispiel gezeigt hat, ermöglicht Sprache grundsätzlich noch keine lebendige Dialogizität. Sondern »gewaltlose Einigung findet sich überall [dort], wo die Kultur des Herzens den Menschen [die Anwendung der] reinen Mittel der Übereinkunft«40 diktiert. Herzenshöflichkeit, Neigung und Friedensliebe sind für Benjamin die affektiven Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Erscheinungsform von Dialogizität, die sich überall dort manifestiert, wo
37 Ebd., S. 67. 38 Vgl. Susanne Marten, »Leinwand und Richtertisch. Räumlichkeit und Theatralität im Film und vor Gericht in Alexander Kluges Abschied von gestern, in: Jörg Dünne u. a. (Hg.), Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg 2009, S. 176–194. 39 Benjamin, »Kritik der Gewalt«, S. 196. 40 Ebd., S. 191.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
169
reine Mittel niemals solche unmittelbarer, sondern stets mittelbarer Lösung sind. Sie beziehen sich daher niemals unmittelbar auf die Schlichtung der Konflikte zwischen Mensch und Mensch, sondern nur auf dem Wege über Sachen. In der sachlichsten Beziehung menschlicher Konflikte auf Güter eröffnet sich das Gebiet der reinen Mittel. Darum ist Technik im weitesten Sinne des Wortes deren eigenster Bereich. Ihr tiefgreifendstes Beispiel ist vielleicht die Unterredung als eine Technik ziviler Übereinkunft.«41
Mit Benjamin müssen wir eine dialogische Sprache also als Technik betrachten, im Sinne eines medialen Verfahrens, das zwischenmenschliche Beziehungen organisiert. Bei diesem Perspektivwechsel wird nicht nur die Sprache als ein Medium analysierbar, sondern sie reiht sich in ein graduell differenzierbares Mediengefüge ein, in dem auch das Gewehr und der Gerichtssaal zu Medien der Organisation von menschlichen Beziehungen werden. Die Frage, wie innerhalb dieser Gefüge die gewaltfreie Anwendung medialer Verfahren zur Geburtshelferin einer »kommunizierenden Öffentlichkeit«42 werden kann, bestimmt Kluges dialogische Medienpraxis. Diese Praxis orientiert sich an der Hebammenkunst, die »durch Anwendung von Gewalt« das Kind im Mutterleib in die richtige Steißlage bringt. Aber keineswegs durch Kraftgriff, sondern durch Feingriff; d. h. entsprechend der Feingliedrigkeit und Lebendigkeit ›des Gegenstandes‹ und mitten in dessen Situation. [Der Griff der Hebamme] provoziert die Eigenbewegung des Kindes. Solche Gewalt, wie sie die Hebamme professionell anwendet, unterscheidet sich von der Gewalt von Hämmern, Sicheln, Hacken oder Sägen.43
Das Kino wird von Kluge in seinem Film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit von 1985 als ein solcher Geburtshelfer von dialogischer Öffentlichkeit adressiert, indem der Film Zusammenhänge zwischen den ursprünglichen Formen klassischer Öffentlichkeit und den Formen des frühen Kinos konstruiert. Motiviert ist diese Konstruktion durch die Industrialisierung dieser klassischen Öffentlichkeit, wie sie Kluge anhand der Bedrohung des Kinos durch die ›Neuen Medien‹ in den achtziger Jahren reflektierte.44 Durch diese Erfahrung der Ausgrenzung von Diversität wurde der »Rückgang auf die Anfänge aller Öffentlichkeit«45 zum medienpolitischen Programm: 41 Ebd., S. 191f. 42 Christian Schulte, »Dialoge mit Zuschauern. Alexander Kluges Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit«, in: Irmela Schneider u. a. (Hg.), Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3, Wiesbaden 2004, S. 231–250, hier S. 231. 43 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 21f. 44 Vgl. Alexander Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, in: Klaus von Bismarck u. a., Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit den neuen Medien, München 1985, S. 51–129. 45 Ebd., S. 64.
170
Valentin Mertes
Wir müssen dieses Teilkapitel, ausgehend von 1802 (oder früher), reaktualisieren, revitalisieren: diesmal in Gang setzen. Was die bewegten Bilder des Films betrifft, geht die Reise nur zurück zu LumiHre und M8liHs, also wiederum zu den Anfängen. In jedem dieser Anfänge finden sich Cousins und Cousinen der tatsächlichen Entwicklung,46
die als aktualisierte Vergangenheit gegenwärtige Dialogizität stiften können. Es sind die Archive des Kinos, die diese alternativen Gegengeschichten47 der Cousins und Cousinen des Films beherbergen und die es aufzusuchen gilt. Jedoch verschwinden diese »vielen Geschichten des Kinos«48 nicht nur in den Tiefen der Archive, sondern – wie Kluge in der Sequenz vom Hausmeister Ehepaar Wronski unmissverständlich klarmacht – die Archive selber sind von Vernichtung bedroht. Im Kommentar heißt es: »Silvester 1939 in Warschau. Polen ist untergegangen. Die Filmstudios stehen leer. Das Hausmeisterehepaar Wronski bewacht die leeren Studios, die Filmnegative, die Restbestände der Filmproduktion.«49 Die historischen Ereignisse machen das Hausmeisterehepaar zu Wächtern eines Archivs des Kinos und fordern den »Schutz für die von ihnen gehüteten Schätze der Filmgeschichte«50 ein. Gleich den griechischen Archonten stellen sie nicht nur die physische Sicherheit des Depots und des Trägers sicher. Man erkennt ihnen auch das Recht und die Kompetenz der Auslegung zu. Sie haben die Macht, die Archive zu interpretieren. Denn die solchen Archonten als Depositum anvertrauten Dokumente behaupten das Gesetz: sie erinnern (an) das Gesetz.51
Die in den Archiven bewahrten Gesetzesdokumente – ließe sich im Sinne Benjamins sagen – sind »niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich eines der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist«.52 Diese Gewaltsamkeit der materiellen Kultur wie ihrer Tradierung ist »die Gewalt des Archivs selbst«.53 Durch die Sanktionierung des Zugangs zu den 46 Ebd. 47 Vgl. Miriam Hansen, »Reinventing the Nickelodeon: Notes on Kluge and Early Cinema«, in: October 46 (1988), S. 178–198. 48 Thomas Elsaesser, Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 24 und vgl. S. 23: »Es scheint, als müssten wir der Geschichte dessen, was ›tatsächlich‹ geschehen ist, die Geschichte dessen, was hätte geschehen können, hinzufügen oder zumindest ein Bewusstsein für die Sackgassen und nicht eingeschlagenen Wege, für die möglichen und parallelen Geschichten des Kinos entwickeln.« 49 Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, R.: Alexander Kluge, BRD 1985. 50 Ebd. 51 Jaques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 11 und vgl. dazu die Ausführungen von Knut Ebeling, »Die Asche des Archivs«, in: ders./Georges Didi-Huberman, Das Archiv brennt, Berlin 2007, S. 33–221, hier S. 78ff. 52 Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 696. 53 Derrida, Archiv, S. 18. »Darin liegt eine zugleich errichtende und bewahrende Funktion des
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
171
Archiven setzt und erhält diese Gewalt die Macht, »nicht nur über die Wirklichkeiten, sondern über die Steuerung dieser Wirklichkeit zu entscheiden«.54 Ist das Archiv so einerseits der »Name seiner Verwalter und Verwahrer«,55 benennt es andererseits als »Arche […] zugleich den Anfang und das Gebot«.56 In diesem Sinne birgt das Archiv die Splitter der Anfänge des Kinos, die für Kluge eine alternative Darstellung der Geschichte bzw. Wirklichkeit des Kinos ermöglicht. Wie ein filmisches »Negativ im Archiv«57 gebraucht Kluge diese Splitter, um durch sie hindurch die Vielgestaltigkeit der Vergangenheit zu illuminieren. Als Zitate transportieren sie die Utopien des frühen Films und finden so ihre Verwendung in der Konstruktion dieser alternativen Geschichten des Kinos.
Mit einer solchen Konstruktion schließt Kluge an die Sequenz vom Hausmeisterehepaar Wronski an, indem er nicht nur Zitate aus der Filmgeschichte wie in einer »an-archäologischen«58 Schichtung anordnet, sondern auf der Tonebene durch die Zitation einer Rede zum fünfzigjährigen Jubiläum das Kino in seiner kulturgeschichtlichen Position nach 1945 politisch verortet.
54 55 56 57
58
Exergums: die Gewalt, die das Recht zugleich setzt und erhält, hieß es beim Benjamin von Zur Kritik der Gewalt. Es geht hierbei, vom Exergum an, um die Gewalt des Archivs selbst, als Archiv, als archivarische Gewalt. Dies ist die erste Figur des Archivs, denn jedes Archiv […] ist zugleich errichtend und erhaltend.« Ebeling, »Asche des Archivs«, S. 52. Ebd., S. 79. Derrida, Archiv, S. 9. Kluge, »Bewußtseinsindustrie«, S. 101f. Die Erzählung des Archivs, könnte man sagen, »hat eine visuelle Erinnerung fabriziert, eine Nachbildung, die mit Hilfe der konstruktiven Fähigkeit unseres Vorstellungsvermögens zu einer vollständigen Szene entwickelt werden kann, so als läge ein Negativ im Archiv. Es sind nur Splitter notwendig, um diese generative Eigentätigkeit der Phantasie in Gang zu setzen.« Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Hamburg 2002, S. 41.
172
Valentin Mertes
Das Kino ist geboren, es wird nun leben, wachsen, sich technisch vervollkommnen, alle Arten von Tricks erfinden, den Ton und die Farbe. Aber der moderne Film, der heute 50 Jahre alt ist, vergisst nicht die Pioniere aller Länder, denen der Mensch die Verwirklichung seines uralten Traumes verdankt, das lebende Bild der Bewegung.59
Vierzig Jahre später – der zeitgenössische Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit – inszeniert Kluge die aktuelle Bedrohung der Lebendigkeit des bewegten Bildes im Kino: »Unter dem Gesichtspunkt der Neuen Medien ist die Vorgeschichte überflüssig. Als überflüssig gilt auch das Kino. Wir schreiben neunzig Jahre Kino. Das sind für Menschen drei Generationen.«60 Dieser Kommentar findet jedoch in der abermaligen Schichtung von Zitaten aus der Geschichte des Films seine Widerlegung bzw. Suspendierung. Denn von »diesem fremden Material geht […], wie in der Zitatkunst überhaupt, jeweils eine notwendige Provokation aus.«61 Die Provokation einer fixierten Wirklichkeit wie sie aber nur aufgrund einer monopolisierten Interpretation der Archive entstehen kann. Die 59 Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, R.: Kluge. 60 Ebd. 61 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 1249.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
173
lebendige Bewegung in den Zitaten und Verweisen zerstreut und öffnet jedoch die Endgültigkeit einer dermaßen fixierten Wirklichkeit zu einer responsiven Vielschichtigkeit zwischen dem Geburtsjahr62 des Kinos 1895 und seinem fünfzigjährigen Jubiläum zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945; dem »lebenden Bild der Bewegung« des frühen Kinos und der verhärteten Situation des Kinos Anfang der achtziger Jahre. Aber auch zwischen Found-Footage-Materialien, Spielfilmzitaten und dokumentarischen Aufnahmen. Mit dem Verfahren der Zitation bringt Kluge die verschiedenen Zeiten, die der Film- und Zeitgeschichte und die von Vergangenheit und Gegenwart, in einen vielschichtigen Dialog. In diesem Sinne heißt das frühe Kino zitieren, es bei seinem ursprünglichen Namen zu rufen.63 Es heißt, entgegen der in den zehner Jahren einsetzenden Industrialisierung des Kinos und der Homogenisierung seiner
62 Vgl. »Das Kino beziehungsweise der Film sind ›Erfindungen‹ ohne Ursprung oder Teleologie […].« Elsaesser, Filmgeschichte, S. 47. 63 Vgl. »Ein Wort zitieren, heißt es beim Namen rufen.« Walter Benjamin, »Karl Kraus«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 334–367, hier S. 362.
174
Valentin Mertes
Formenvielfalt, auf die verlorenen plebejischen Qualitäten64 des frühen Films, seine experimentelle und avantgardistische Linie sowie die naive Neugierde und klassenübergreifende Popularität zurückzugreifen.65
Beispielhaft für diesen Dialog mit dem frühen Kino ist wohl die Zitation des Films Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat der Brüder LumiHre. Eingebettet in eine Montagesequenz wird das Zitat als historisches Produkt des Kinematographen LumiHre einer aus einem Gebrauchsfilm zitierten Darstellung der technischen Bedingungen zur Erzeugung und Wiedergabe dieser lebendigen filmischen Bewegung gegenübergestellt. Damit bricht Kluge nicht nur eine teleologische Darstellung der Filmgeschichte anhand der filmischen Endprodukte auf, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die Produktions- und Verwertungsverfahren des frühen Films bzw. die Rezeptionssituation in den Variet8s und Vaudevilles.66 Dieser »polymorphe Erlebnisort«67 mit seiner multimedialen »Nummern-Dramaturgie«68 war bestimmend für das »Kinos der Attraktionen«.69 Die »raffinierte Künstlichkeit«70 des LumiHre-Films, sein Ausstellungscharakter und Zeigegestus71 sind Merkmale dieses Kinos der Attraktionen, das »nur wenig 64 Vgl. »The working-class profile of early audiences, however, became one of the most powerful founding myths of Hollywood, a persistent clich8 in the legitimiation of film as ›democratic‹ art and ›popular‹ culture.« Hansen, »Nickelodeon«, S. 188. 65 Vgl. Kluge, Bestandsaufnahme, S. 668f. 66 Vgl. Elsaesser, Filmgeschichte, S. 53ff. und S. 98. 67 Ebd., S. 75. 68 Kluge, Bestandsaufnahme, S. 105. »Nummern-Dramaturgie entspricht insofern nicht einer Geschmacksfrage, sondern enthält aufgrund der Abgeschlossenheit und Kleinheit der einzelnen Akte ein Höchstmaß an Berührungsfläche innerhalb der einzelnen Nummern und ein Höchstmaß an Kontrast zwischen den Nummern. Kontrast und Berührungsfläche als das Gesetz des Variationsprinzips = Einheit von Kontinuität und Abwechslung, Einheit von Berechenbarkeit und Überraschung.« 69 Tom Gunning, »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«, in: Meteor Nr. 4 (1996), S. 25–34, hier S. 27. 70 Elsaesser, Filmgeschichte, S. 57. 71 Vgl. »Genau diese Nutzbarmachung des Visuellen, dieser Akt des Zeigens und Ausstellens,
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
175
Energie darauf [verwendete], Figuren mit psychologischer Motivation […] auszustatten«.72 Wird diese Psychologie der Figuren später zur treibenden Kraft des »klassischen narrativen Films«,73 suspendiert Kluge in der vielschichtigen Zitation des Kinos der Attraktionen eine solche »Bedeutungsdramaturgie«74 – und zwar auch – indem er die in der Gerichtssequenz dargestellte Psychologisierung der Angeklagten durch die gewaltsame Mittel-Zweck-Logik der juristischen Narration scheitern lässt. Diese Öffnung der Bedeutungsdramaturgie findet ihre Entsprechung in der Unterbrechung der kontemplativen Rezeptionshaltung durch die Zitation des »konspirativen Blicks in die Kamera«,75 der das Publikum durch direkte Ansprache aus der individuellen Isolation76 herausreißt, um die RezipientInnen als eine kommunizierende Kinoöffentlichkeit im Sinne des frühen Kinos zu adressieren. So schreibt Miriam Hansen, dass in »terms of its stylistic traits, early cinema could indeed be theorized as a public sphere in Kluge’s sense, a formal structure which enables an interaction both between film and viewer and among viewers of specific social and cultural backround«.77 Das Kino der Attraktionen mit seiner »einfachen Vielfalt«78 hat für Kluge mehr »mit Liebesfähigkeit zu tun, mit Überrascht-Werden-Können als mit großen Absichten. Es ist nicht der ganze Mensch, der hier reagiert, sondern hier reagieren Teile des Menschen. Der Film ist auch aus Teilen zusammengesetzt, und diese Partikularisierung des Mediums macht es möglich«,79 einen Dialog zwischen den vielstimmigen Einzelteilen des Films und den zerstreuten Erfahrungen und Wünschen der Menschen zu evozieren, wodurch eine »gravitative Verbindung zwischen dem, was den Menschen bewegt, und dem Medium«80 entstehen kann. So lässt sich das medienästhetische Verfahren der Zitation, wie es Kluge praktiziert, als eine Form der Dialogizität verstehen, die zwischen
72 73 74 75 76
77 78 79 80
ist für mich das deutlichste Kennzeichen des Kinos vor 1906.« Gunning, »Kino der Attraktionen«, S. 25. Ebd., S. 30. Ebd., S. 26. Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 209. Elsaesser, Filmgeschichte, S. 79. Elsaesser beschreibt – anhand der Etablierung des klassischen Hollywoodkinos in den zehner Jahren – diesen »Prozess der allmählichen Isolation des Zuschauers sowohl von seinem kulturellen Vorwissen als auch von seiner räumlichen Platzierung innerhalb des Vorführorts« (ebd., S. 118.) als einen »Prozess der Verinnerlichung, Subjektivierung und Psychologisierung der Zuschauerperspektive« (ebd., S. 85). Hansen, »Nickelodeon«, S. 187. Alexander Kluge/Christian Schulte, »Primitive Diversity«, in: Christian Schulte u. a. (Hg.), Facts & Fakes 4. Fernsehnachschriften: Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau, Berlin 2002, S. 26–31, hier S. 26. Ebd. Ebd.
176
Valentin Mertes
verschiedenen Zeiten und Dingen und auch zwischen Film und ZuschauerInnen eine lebendige Bewegung ermöglicht. Mit den technischen Reproduktionsverfahren des Films wurde diese »gesichtete und fixierte Zeit […] nunmehr für lange (theologisch sogar unendlich lange)«81 archivierbar und damit eben auch zitierbar. So archiviert für Kluge der »Film (von Auguste LumiHre), Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat, […] eine verschwundene Zeit [und] unterstützt [in seiner Zitation] unser Bewußtsein bei seinen Versuchen, den Zeitstrom […] reversibel zu halten«.82 In diesem Sinne ist es auch eine rettende Zitation83 – wie Benjamin schreibt –, die der unterdrückten Pluralität der kinematographischen Anfänge entgegen der kulturindustriellen Institutionalisierung der Ware Film in der Gegenwart zur Entfaltung verhilft. Aus dieser politischen Perspektive heißt Kinogeschichte »schreiben […] also Geschichte zitieren«84 und damit Geschichte in Bewegung setzen, zu beleben – sie in einer Gegenwart lesbar machen. Zitieren – von lateinisch citare – heißt ja auch in Bewegung85 setzen und entstammt der juristischen Sprache für ›vor Gericht laden‹ oder eben ›vor Gericht zitieren‹.86 Zu diesem Verfahren der Zitation »gehört der feste, scheinbar brutale Zugriff«87 der reinen Mittel. Dieses destruktive und kritische Moment sprengt die historische Kontinuität auf und bricht das Zitat aus seinem Zusammenhang heraus, indem es die unerfüllten Utopien und uneingelösten Möglichkeiten des frühen Kinos »vor das Tribunal der Geschichte zitiert«88 und so in einer gegenwärtigen Öffentlichkeit zu ihrem Recht kommen lässt.Dieser »Tigersprung ins Vergangene«,89 den die Zitation 81 Kluge, »Bewußtseinsindustrie«, S. 106f. 82 Ebd. 83 Vgl. »Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und ausdruckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche – Ursprung so wie Zerstörung – im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen – im Zitat – ist sie vollendet.« Benjamin, »Kraus«, S. 363. 84 Benjamin, Passagen-Werk, S. 595. 85 »Das Interesse das der materialistische Historiker am Gewesenen nimmt, ist an einem Teil stets ein brennendes Interesse an dessen Verflossensein, an seinem Aufgehörthaben und gründlich Totsein. Dessen im Großen und fürs Ganzen versichert zu sein, ist für jede Zitierung (Belebung) von Teilen dieses Phänomens die unerlässliche Voraussetzung. Mit einem Wort: zu dem bestimmt historischen Interesse, über dessen Recht sich auszuweisen das Eigenste des materialistischen Geschichtsschreibers ist, gehört der geglückte Nachweis, es mit einem Gegenstand zu tun zu haben, der im Ganzen wirklich und unwiderruflich ›der Geschichte angehört‹« Ebd., S. 459. 86 Vgl. Hanno Möbius, Montage und Collage. Literatur, bildende Kunst, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933, München 2000, S. 54. 87 Benjamin, Passagen-Werk, S. 592. 88 Ebd., S. 459. 89 Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 701.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
177
vollzieht, verdeutlicht einmal mehr die intrinsische Verschränkung von Ethik, Epistemologie und Ästhetik in der Anwendung medialer Verfahren. Einerseits zeichnet sich ein solches dialogisches Zitationsverfahren also durch die destruktive Öffnung etablierter Ordnungen aus, indem das Zitierte seinem ursprünglichen Ort qua einem »ewigen Gesetz« der Exzitation90 entrissen wird,91 um andererseits eine Verwendungsweise zu markieren, die sich der Inventarisierung widersetzt, indem sie nach Maßgabe der »Jetztzeit«92 diese zitierte Geschichte in die Gegenwart einmontiert. Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.93
Die Verwendungsweisen des Zitierten nach dem konstruktiven Prinzip der Montage produzieren Reibungsflächen94 zwischen einer gegenwärtigen Situation und den »verschwundenen Zeiten« – um auf das Beispiel der Zitation des LumiHrefilms zurückzukommen. Im einleitenden Kommentar zu dieser Montagesequenz über das frühe Kino macht Kluge aber unmissverständlich klar, dass die Maßgabe der »Jetztzeit«, also das Maßverhältnis und die Messbarkeit der gegenwärtigen Situation sich niemals auf Abstraktionen wie Vergangenheit oder Zukunft beziehen kann, sondern allein »in der sachlichsten Beziehung […] der reinen Mittel«95 auf die lebendige Vergänglichkeit der »physischen Realität«96 besteht. Zeit ist das, was man mit einer Uhr messen kann: Ein Kind, eine Stadt, eine Liebe, der Tod. Das sind Uhren. Dagegen kann man nicht messen, was als Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart gilt. Menschen, denen ja das Schicksal zusetzt, deuten sich den 90 Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt/M. 1991, S. 140–157, hier S. 153. Und vgl. Christian Schulte, Ursprung ist das Ziel. Walter Benjamin über Karl Kraus, Würzburg 2002, S. 42 sowie Hamacher, »Afformativ«, S. 369ff. 91 »Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert – weil man es nämlich aus ihm herausschlug.« Benjamin, »Kraus«, S. 365. 92 Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 703. 93 Benjamin, Passagen-Werk, S. 574. 94 Vgl. Eder/Kluge, Ulmer Dramaturgien, S. 84. 95 Benjamin, »Kritik der Gewalt«, S. 191f. 96 »Wie sehr diese Propositionen sich ihrem Inhalt nach unterscheiden mögen, sie durchdringen die vergängliche physische Realität, brennen durch sie hindurch. Doch um es nochmals zu sagen: ihr Bestimmungsziel gehört nicht mehr zu den Gegenständen dieser Untersuchung.« Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 402.
178
Valentin Mertes
Zeitraum, in denen noch etwas zu entscheiden ist, als Gegenwart. Der Zeitraum soll lang sein. Das ist die Quelle der Illusion.97
Indem Kluge aber Abstraktionen wie die Zukunft oder aber die juristische Sprache nicht ausgrenzend verurteilt, sondern in ihrer gewaltsamen Wirkung in seine Medienpraxis mit einbezieht, entsteht ein kritisches ›Einverständnis‹ damit,98 dass die Quelle der Illusion und damit die Phantasietätigkeit des Menschen in der Gewaltsamkeit des Abstraktionsprozesses der Mittel-ZweckRelation liegt. Mit den Mitteln der Montage kann diese Wirkung der setzenden und erhaltenden Gewalt durch die Dehnung bzw. Unterbrechung der Zeit suspendiert – das Urteil aufgeschoben werden. Am Rand der herausgebrochenen Bildzitate aktualisieren sich so ungeahnte Alternativen und Auswege, die in einer »großen Konstruktion aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern«99 zu ihrem Recht kommen.
Die Uhr auf Schwarzbild – Metapher der Montage – markiert diese Dehnung der Zeit als eine Pause der sinnlichen Wahrnehmung, die sich nun zwischen den audiovisuellen Kaskaden des Films auf die innere und äußere Vielstimmigkeit richten kann. Die Wirkung der Filmmontage ist durch diese Pausen erst möglich. Die Information steckt bei Montagewirkungen weder in der ersten noch in der folgenden Abbildung, sondern beruht auf nachwirkenden Bildern, im Idealfall auf ›ungesehenen‹ Bildern, die aufgrund der Differenz, der Lücke in der Information kontrastreicher Bilder als Epiphanie entstehen. Dies ist das hohe Ideal in der Filmgeschichte – die Darstellung
97 Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, R.: Kluge. 98 Brechts Lehrstücke handeln von der Ohnmacht, die im Einverständnis mit unserer epistemologischen, ethischen und ästhetischen Situation liegt. Vgl. Valentin Mertes, »Die Alterität des Eigensinns. Hegel, Negt, Kluge, Brecht«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen, 31. Jg., Heft 67, Theater – Pädagogik. Ereignis, S. 16ff. 99 Benjamin, Passagen-Werk, S. 575.
Dialogizität als medienästhetisches Verfahren
179
›unsichtbarer Bilder‹. Dafür braucht man das bewegte Bild; dieses existiert nicht ohne die Pause […].100
Mit der Unterbrechung des Bilderflusses schafft der Schnitt – wie der destruktive Charakter der reinen Mittel – Platz für einen Dialog zwischen solchen unsichtbaren Bildern, aber auch zwischen den Utopien der Filmgeschichte und dem ›inneren Film‹ der Menschen – einen Freiraum also für die ungehinderte Bewegung der lebendigen Phantasie der ZuschauerInnen. Nichts […] ähnelt mehr dem Prinzip des Dialogs, der Entstehung des Gedankens, als diese Wechselbilder, dieser ›innere Film‹: ich spüre etwas, mache mir eine Perspektive, indem ich es vom Standpunkt eines anderen Menschen ansehe, und ich könnte es jetzt (obwohl nur meine Nerven genau sagen können, was ich fühle) sogar Dritten mitteilen.101
Diese Mitteilbarkeit kann sich dort zur Dialogizität entfalten, wo die Fixierungen des Mittel-Zweck-Verhältnisses aufgebrochen werden und die Verfahren der Zitation und Montage Reibungsflächen für die ZuschauerInnen konstruieren. Die in der Reibung entstehende Lebendigkeit bei der »Auflösung von etwas in der Wirklichkeit Fixiertem in Kinobewegung«102 korrespondiert mit der Wirkung der einfachen Robustheit des »Kaspertheaters: Kasper irrt und die Zuschauer haben ihre innere Bewegung offen, rufen ihm das Richtige zu. Im Kern geht es also bei der Vermeidung der Fixierung, und der Produktion von Kino = Bewegung, um das Prinzip des Dialogs. Einer muß schweigen, damit der andere antwortet.«103 Das, was vor allem zum Schweigen gebracht werden muss, um Dialogizität zu ermöglichen, ist die Gewaltsamkeit der Mittel-Zweck-Relation als bestimmendes gesellschaftliches Organisationsprinzip. Erst in dieser Entsetzung findet an den Reibungsflächen die Berührung mit Fremdem, Unbekanntem und Neuem statt. Dialogizität als Verfahren ist der permanente Versuch, trotz der Gefahren und Ängste durch die Herstellung von Öffnungen und Lücken mit Alterität in Berührung zu kommen. Jeder Mensch trägt in sich nochmals das Publikum seiner Sinne, Erfahrungen, Lüste lebenslänglich mit sich herum. Eigenschaften, von denen er selber nichts weiß, haben zu ihm, sofern er nur einen Moment lang entspannt ist, freien Zugang; sie bilden in ihm eine Öffentlichkeit. Diese Einzelspuren, weit unterhalb des Ichs und seiner Kontrollen, sind dasjenige, was mit den Einzelheiten des Films korrespondiert. Das liegt weit unterhalb der Ebene der sog. kritischen Urteile, der Selbstkritik, der sog. Persönlichkeit. Diese unterschwellige Konspiration vom Einzelnen im Menschen und Einzelnen in den Filmen ist das Gefährliche und sensationell Günstige für alle utopischen Horizonte.104 100 101 102 103 104
Kluge, »Bewußtseinsindustrie«, S. 106. Ebd., S. 68. Kluge, Bestandsaufnahme, S. 294. Ebd., S. 295. Ebd., S. 95.
Alexander Kluge et al.
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht. Ein Film von Alexander Kluge
ALEXANDER KLUGE: Wenn Sie das Lebewesen Mensch betrachten: Die DNA – ich rede vom Potential – eines einzelnen Menschen aneinander geknüpft, würde 200 Mal zwischen Sonne und Erde hin und her als Faden reichen. Das ist doch viel Potential – wahrscheinlich das meiste ungenutzt. Es ist aber gewaltig, was an Arbeit der Evolution in einem Menschenwesen steckt. DIRK BAECKER (Soziologe): Das Stichwort Potential gefällt mir, weil ich Anhänger einer minoritären DNA-Theorie bin, die darauf hinausläuft zu sagen: Die Genetik eines Menschen wird abgerufen und programmiert, nicht etwa das Verhalten, das Aussehen, die Möglichkeiten eines Menschen qua dem bereits vorhandenen Programm. Es ist viel mehr da, aber es muss eben abgerufen werden. Das gibt mir die Möglichkeit, diese enorme Adaptibilität oder Plastizität des Menschen zu beschreiben als eine, die sich auf erstaunlich arme Situationen mit derselben Stringenz, Leidenschaft und Findigkeit einlassen kann, wie ein Mensch in einem Gefängnis für eine gewisse Zeit von Jahren, wie auf eine erstaunlich reiche Situation. Es muss jeweils »dieselbe DNA«, »dasselbe Gehirn« antworten auf die körperliche, die psychische und die soziale Frage. Wie halte ich das hier aus? Wie springe ich von einem Moment in den nächsten, in meinem beruflichen Leben, wie komme ich von einem Jahr ins nächste Jahr, ins übernächste, in das vierte Jahr, in einem Gefängnis? KLUGE: Es muss sich einrichten darauf, sonst werde ich verrückt. BAECKER: Es muss eingerichtet, abgefragt und durchgehalten werden. Und dies in einem dann doch im Sekundentakt gelebten Leben. Ich lebe ja nicht wie eine Wanze monatelang gar nicht und dann wieder, sondern ich lebe dauernd. Wie der preußische Bürokrat, über den wir gesprochen haben, der eben nicht nur diese statische Figur ist, sondern der dauernd höchstlebendig zeigen muss, wie diese statische Figur geht und wie sie aufrechterhalten werden kann. Die Kombination von Fluidität auf dem quasi biologischen Niveau unseres Lebens und auch unseres Gehirns und Stabilität auf der oberflächlichen Ebene muss ja von Genen bedient werden.
182
Alexander Kluge et al.
KLUGE: Das Gehirn hat schon längst geahnt, was geschieht und deutet das, was geschehen ist, auf etwas, das es vorher schon wusste. BAECKER: Wenn wir nicht dauernd neue Situationen zurückbeziehen könnten auf etwas, das wir schon kennen, dann wären wir hilflos in fast jeder Situation. KLUGE: Der Mensch ist so komplex, dass er auch für Gehorsam und bloßes Einhalten von Regeln schwer geeignet ist, dass es also Arbeit kostet, diesen Überfluss an Möglichkeiten zurückzuführen auf das Konkrete, das ich jetzt als Arbeit im Alltag tun muss. ***
KLUGE: Wenn Sie das Wort Gewissen, wie die Brüder Grimm es täten in ihrem Wörterbuch, variieren … ECKART VOLAND (Soziobiologe): Interessant ist die Herleitung des »Ge«. Wissen ist klar, was das heißt. »Ge« kommt von »Gemein« oder »Gemeine«, heißt also Mitwissen, genau wie im Lateinischen auch. Conscientia ist das Mitwissen, das wird im deutschen Ausdruck gespiegelt. KLUGE: Ich vergleiche mein Wissen mit dem der anderen, dabei ergibt sich diese erpresserische Differenz der Gewissensbisse. VOLAND: Ich vergleiche mein Wissen mit dem Wissen des Beobachters im Kopf. Das ist die entscheidende Instanz. Es müssen nicht die anderen sein. KLUGE: Ich habe andere verinnerlicht in meinem Kopf. VOLAND: Ja, und sie haben Anteil an meinem Erleben. KLUGE: Ich bin ein geselliges Wesen. Das ist der Grund dafür, dass ich Gewissen habe. VOLAND: Ich habe nicht einen Moment einen Zustand, den man als intim bezeichnen kann, weil der Beobachter immer da ist. Und wenn ich es selbst bin, der die Projektion komplex macht. Das Gewissen kann tödlich sein, aber nicht im Sinne eines Mordes, sondern im Sinne einer Selbsttötung. Das ist eines der vielen ungeklärten Phänomene, die in einer evolutionären Verhaltenstheorie an sich keinen Platz haben. KLUGE: Das schlechte Gewissen bringt mich um. VOLAND: Das muss nicht, kann aber sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Leute die fahrlässig schuldig geworden sind, ein Leben lang mit dieser Schuld nicht fertig werden, trotz psychotherapeutischer Begleitung, trotz intensivsten Bemühungen aller wohlwollenden Menschen ihrer Umgebung und sie letztlich doch in den Suizid laufen. Das sind Phänomene, welche die ungeheure Wirkmacht dieser Instanz zeigen. Eines ist sicher : Der moderne Mensch Homo sapiens sapiens ist als Art wesentlich älter als 70.000 Jahre. Er muss vorher auch schon kooperiert haben, er hat Fähigkeiten gehabt, die es ihm ermöglicht haben, in Sozialverbänden zu leben.
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
183
KLUGE: Man hatte bei Verrat, bei Unechtheit, bei Lügen, bei Gründen misstrauisch zu sein, ein schlechtes Gefühl, gleich ob man es bei anderen erlebt oder selber tut. VOLAND: Wenn wir die These ernst nehmen von den kooperativen Fortpflanzungsgemeinschaften, können wir als Datum annehmen, wie es einige Kollegen tun, dass das schon auf dem Niveau des Homo erectus’, also einer Vorläuferart von Homo sapiens, passiert sein könnte. Auch das ist letztlich nicht sicher. Aber Homo erectus ist entwickelter, als es die anderen Menschenaffen sind. Irgendetwas muss dafür gesorgt haben, dass er diesen Weg eingeschlagen hat. Möglicherweise ist es diese besondere Form der Kooperation innerhalb von Familienverbänden. Wenn das der Fall sein sollte, wäre das historisch gesehen das Szenario, in dem das Gewissen evolutionär entstanden ist. KLUGE: Aber in den Familien als einem Kokon, einer Pflanzstätte, entwickelt sich der Mensch. Er entwickelt sich nicht individuell. Das Individuum ist ein Kunstprodukt, das später kommt. VOLAND: Gesellschaften dieser Art sind kollektivistisch oder eher individualistisch aufgestellt. Die eher individualistische Lebensweise, wie wir sie kennen und wie wir sie schätzen, ist historisch absolut neu. Das Gewissen ist eine regulative Instanz, Teil unserer Verhaltenssteuerung, die psychologisch in unserer Auffassung nicht gut verstanden ist. Sie ist auch wenig erforscht in letzter Zeit. Seit Freud und dem Über-Ich ist kaum etwas passiert auf dem Gebiet. Gleichwohl ist sie für die Mehrzahl der Menschen in der Alltagspraxis spürbar. Sie wird erlebt, man kann darüber reden. Von daher ist sie manifest und präsent, also keine reine Konstruktion, sondern valide darstellbar. Das Gewissen ist zuständig für die Regulation bestimmter Verhaltenstendenzen, die wir unter Berücksichtigung eigener Belange so nicht spontan ausführen würden. Wären wir reine Egoisten im Sinne von Homo oeconomicus oder von Selfish Genes, würde dieses Verhalten nicht gezeigt werden können, weil das systematisch keinen Vorteil verspricht. Das ist die Leistung des Gewissens. ***
KLUGE: Wie würden Sie als Althistoriker das Wort »Integrität« definieren? MARTIN ZIMMERMANN (Althistoriker): Integrität bedeutet, dass ein Mensch sein Handeln erkennbar nach moralischen Werten ausrichtet. Sowohl in der griechischen als auch in der römischen Antike wurde gefordert, dass das erkennbar ist. Nur die moralischen Eigenschaften, die gefordert wurden, sind unterschiedlich und teilweise auch blass. Erfolg ist zum Beispiel ein wichtiges Element von Integrität. Ruhm, Erfolg also Schlachtenerfolg, der Erwerb von großen Reichtümern und ähnliches spielen eine wichtige Rolle bei der Signatur einer Person.
184
Alexander Kluge et al.
KLUGE: Diese Ehrenhalle, dieses Theater oder diese Börse moralischer Qualitäten – Mannesqualitäten und Frauenqualitäten – hat eine Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert reicht. ZIMMERMANN: Diese Geschichten sind so holzschnittartig und so prägnant, dass man sie abrufen und auch den eigenen Bedürfnissen anpassen kann. Wenn es darum geht, sich mit dem absolutistischen Hof auseinanderzusetzen oder die Emanzipation des Bürgertums zu verstärken und diesen Prozess der Eigenbestimmung in die Reflektion mit einzubringen, dann hat man diese republikanischen Ideale der Römer zu aktivieren. Während man in früheren Zeiten vielleicht eher etwas aus der römischen Kaiserzeit nimmt und das interessanter findet. KLUGE: Es ist interessant, dass ein solcher öffentlicher Umzug sämtlicher Exempla und Vergangenheiten, Vorfahren und Tugenden stattfindet, so wie es in der Französischen Revolution den Umzug auch der Tugenden, der Reichtümer, der Fruchtbarkeit, der Weisheit, der Brüderlichkeit mit großen Wagen wie bei einem Karneval gibt. So ist es eigentlich bei allen öffentlichen Ereignissen. ZIMMERMANN: Das kann man sich heute schwer vorstellen. Denken Sie an ein Leichenbegräbnis: Da ziehen tatsächlich Schauspieler in den Kleidern und auch in den äußeren Konturen dieser Helden auf das Forum, nehmen dann auf den Sesseln oben auf der Rednertribüne Platz, sitzen da für alle sichtbar nebeneinander, und der Leichenredner fängt hinten rechts an, erinnert und erzählt die Geschichten, die mit diesen einzelnen Personen verbunden sind, die auch leibhaft sozusagen vergegenwärtigt sind, ruft das in Erinnerung und perpetuiert damit das historische Gedächtnis der Exempla, der Tugenden, dessen, was von einem Senator zu verlangen ist. Das ist ein Diskurs, der innerhalb der Führungsschichten läuft, aber so gut funktioniert, dass es für die Römer selbstverständlich ist, dass sie an Entscheidungsprozessen nicht beteiligt sind, sondern dass diese Männer das alles richten. Wir haben keine Demokratie, wir haben Volksversammlungen, aber die sind so organisiert, dass die Senatoren immer die Mehrheit haben und immer die Entscheidungen treffen. Die größten Probleme gibt es immer dann, zumindest in Rom in den Zeiten der Republik, wenn ein Feldherr die Beute nicht korrekt abrechnet. Der hat die Verfügungsgewalt über die Beute. Aber man muss sich vorstellen, dass ein Mann wie Scipio nach seinem Sieg über den großen Antiochos bei Magnesia am Mäander, als Multimilliardär zurückkommt, und ein Teil geht an die Soldaten, ein Teil geht in den Staatsschatz. Man wirft ihm vor, er hätte es nicht korrekt abgerechnet. Es gibt keine Listen. Die möchten das gerne überprüfen. Da sind vierzig Schiffe mit Geld gekommen, aber keiner weiß, wo das geblieben ist. Das sind Fälle, in denen man sieht, dass das System kollabiert. Genauso in der römischen Kaiserzeit, als das Delatorenunwesen zu stark wird und man sieht, dass einzelne Senatoren sich zu stark bereichern durch diese Prozessflut. Die Korruption ist ein Problem, das
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
185
wir für die römische Welt, auch für die griechische, nicht richtig überschauen können. Man muss sich vorstellen, das ist ein politisches System, das davon lebt, dass alle Investitionen, also gerade auch in der griechischen Welt, von der Führungsschicht getätigt werden. Wenn Sie Amtsträger sind, müssen Sie Ihr Privatvermögen einsetzen, um zu bauen. Die Stadt, die Straßen werden gebaut mit dem privaten Geld der Führungsschichten. Da ist im System schon implementiert, dass sie versuchen – wenn sie einen Bruder haben, der Bauunternehmer ist –, dass das Geld in der Familie bleibt. Genauso ist das in Rom. Es handelt sich um ein System, das stark darauf aufbaut, dass die Führungsschicht ihre immensen Reichtümer zum Wohl des Staates oder der Gemeinschaft einsetzt. Dann sieht man ihnen auch nach, dass einiges in Taschen verschwindet, in denen es nicht verschwinden soll. Das hätte man gar nicht als Korruption begriffen. KLUGE: Es ist eine Frage des Maßes. ZIMMERMANN: Ich bin viel in der Türkei, habe mit einigen Türken gesprochen und gesagt: Wieso könnt Ihr einen Regierungschef dulden, bei dem offensichtlich ist, dass viele Millionen in den privaten Taschen seiner Söhne verschwinden. Dann sagen die einfach: Das ist das System, das würde ich auch so machen, wenn ich da oben wäre. Das Positive an ihm ist, dass er trotzdem noch anderes tut, Brücken baut und Geld ausgibt. Man hat den Eindruck, das System ist so austariert, dass die Bevölkerung den Eindruck hat, dass es in einem bis dahin nicht dagewesenen Umfang Zuwendungen gibt, was man unter den alten Regimen nicht kannte. Bis in das letzte Dorf werden Asphaltstraßen gebaut, gehen der Strom und das Wasser. Das alles hat dieser Mann in zehn Jahren gemacht, dafür darf er sich auch bereichern und seine Kinder reich werden lassen. KLUGE: Woher kommt der Ausdruck »Persona«? ZIMMERMANN: »Persona« kommt eigentlich vom Theater, bedeutet das Tragen einer Maske – und personare: durchklingen. Man hat diese schweren Theatermasken auf und muss laut sprechen, damit der Ton persona durchklingt. KLUGE: Aber das Theater, die Maske und das Spielen stecken schon in diesem Begriff »Persona«? ZIMMERMANN: In der römischen Kaiserzeit nennt man das »Imago«, also die Imago des Kaisers. Das ist nicht die Persona des Kaisers, sondern das ist eine Imago, die konstruiert wird. Das ist ein Bild, das bestimmte Konturen hat. Das fängt beim Portrait an, das man anfertigt. Kein Kaiser sieht so aus wie seine Portraits. Bei Augustus zum Beispiel – es gab die großartige Ausstellung in Rom, die habe ich mir angeschaut, da sind die Frühportraits des jungen Octavian alle nebeneinander gestellt worden – sehen Sie drei verschiedene Menschen, die alle in der Physiognomie nichts miteinander zu tun haben. Dann entscheidet man
186
Alexander Kluge et al.
sich für eins. Das hat mit dem wahren Gesicht nichts zu tun. Und dieses Gesicht bleibt dann aber kanonisch bis ins hohe Alter. KLUGE: Wie ist es bei Tiberius? ZIMMERMANN: Da ist das auch. Das sind wenige bestimmte Typen, die da gewählt werden. KLUGE: Es kann aber auch ein König in Nordafrika sein, nach dem er sich stilisiert? ZIMMERMANN: Es gibt auffällige Portraits. Vespasian zum Beispiel, der Kaiser, der nach Nero auf den Thron kam, sieht aus oder will so aussehen wie einer der übelsten Schurken. Der will wie ein Fleischermeister aussehen und nicht dieses weiche, leicht aufgeschwemmte Künstlergesicht eines Neros haben. Wir brauchen jetzt einen Mann, der zupacken kann. Das ist Vespasian mit einer großen Hakennase und dem Gesicht voller Falten und Furchen. Das ist auch eine Inszenierung. Wir wissen nicht, wie der in Wirklichkeit aussah. Vielleicht hatte der ein schwabbeliges kleines Gesicht, aufgeschwemmt und keine Falten wie seine Söhne. Der Titus und später der Domitian knüpfen an frühere Portraittraditionen an. Da ist es nicht mehr notwendig, viel Zeit, Verhalten und Erfahrungen im Gesicht zu spiegeln. Man muss sich vor Augen führen, dass wir kein Bild von denen haben. Es gibt einen schönen Brief, den Pronto an Marc Aurel schreibt. Dort heißt es: Ich bin hier im Osten unterwegs gewesen mit Lucius Verus auf dem Feldzug. Ich war in einer Amtsstube und habe Dein Bild dort hängen sehen. Das hatte mit Dir nichts zu tun. KLUGE: Was würde ein Römer von dem Satz »edel sei der Mensch, hilfreich und gut« halten? Wie würde er ihn auslegen? Ist edel senatorisch? ZIMMERMANN: Edel ist sicherlich senatorisch, ausgerichtet an den altrömischen Tugenden, die im Senat konzentriert sind. Was wir hier reden, gehört zum Senatsdiskurs, dem Diskurs einer kleinen Elite, weil andere sich schriftlich dazu nicht äußern in der römischen Zeit. Mit »edel« würde das Selbstverständnis des Senats, seine Tradition, seine Geschichte, das Einstehen für die res publica verbunden sein. KLUGE: Die Einigung auf eine stillschweigende Verfassung, das Regelwerk, das alle zusammenhält, wo die Bestechlichkeit auf einem niedrigem Niveau noch möglich wäre, aber jeder Exzess verboten ist. Dieses Regelwerk ist stärker als jede individuelle Moral, weil das Gesamtunternehmen Rom Geltung hat. ZIMMERMANN: Das wird zumindest behauptet und ist der Bezugspunkt, an dem man sich ausrichten muss. Das geht sogar über Diokletian hinaus, wenn Sie im 4. Jahrhundert in ein christliches Kaisertum schauen, in dem der Senat keine große Rolle mehr spielt und die Militärs wichtig sind. Da ist es immer noch der Senatorenstand, in den man möchte. Das ist ein kulturelles Gedächtnis von Distinktion und Zentrum, das mit politischer Realität nichts mehr zu tun hat, aber der Höhepunkt einer Biographie ist in dieser Zeit.
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
187
KLUGE: »Hilfreich« käme auf »beneficium« hinaus. Man muss spenden und später Spiele machen. ZIMMERMANN: Man muss Spiele machen, spenden und geben. Das hat aber nichts mit sozialem Denken zu tun. Wenn Sie an die Getreideverteilung in Rom denken: Jedes Jahr kommen Hunderttausende von Römern in den Genuss kostenlosen Getreides. Das wird verlost unter allen. Da ist nicht eine arme Schicht, die ihr Getreide abholen darf, sondern der Senat kann seine Sklaven schicken, wenn er zufällig ausgelost wurde und auch die kostenlose Ration abholen. ***
KLUGE: Das Brett des Karneades wird von Cicero erwähnt. Was ist das? BAECKER: Das ist das Brett eines Schiffbrüchigen, an dem er sich festklammert und das nur ihn trägt. Ein zweiter nähert sich diesem Brett schwimmend und wird von dem Schiffbrüchigen weggestoßen, weil das Brett zwei Schiffbrüchige nicht aushalten würde. Der erste tötet den zweiten, um sich selbst zu retten. KLUGE: Ist das rechtens? Ein Sophist, ein griechischer Redner, entwickelt diese Fragestellung und Cicero erwähnt sie. BAECKER: Das Interessante an diesem Fall ist in meinen Augen, dass der Jurist herausgefordert wird, eine unterschiedlich konstruierte Situation auf die Zurechenbarkeit einer Person mit einem Willen zu reduzieren. Wir haben es mit einem Organismus und einem Bewusstsein zu tun. Der Schiffbrüchige, der sich bereits gerettet hat, liegt dort als moralisches, vollwertiges Subjekt auf diesem Brett, kann und muss sich überlegen, was er tut. Andererseits hat dieser Schiffbrüchige einen Organismus, einen Körper, der leben will, der in der Lage ist, spontan zu reagieren und unabhängig von dem moralischen Selbstbewusstsein festzustellen, was geht und was nicht. Im Fall der juristischen Einschätzung der Situation müsste man sich fragen, ob es nicht eine Regel der Unzumutbarkeit von Strafe, der Unverantwortlichkeit für die Handlung gibt, weil der Körper sich ausklinkt aus der Kontrollierbarkeit durch das Bewusstsein. KLUGE: Das moralische Wesen kann sagen: Ich ertrinke zugunsten des anderen. Der Körper sagt das nicht. BAECKER: Es gibt diese Geschichten, die ich nie überprüfen konnte und wollte, dass jemand, der sich aus dem Fenster stürzen will, von seinem eigenen Körper daran gehindert wird, es zu tun. Der Wille zum Selbstmord ist da, aber der Körper, so lange bestimmte Fähigkeiten noch vorhanden sind, so lange ein bestimmter Lebenswille noch da ist, wehrt sich dagegen. KLUGE: Gäbe es den Gegenpol, also die spontane, besinnungslose Hilfsbereitschaft? BAECKER: Das wäre jemand, der sich in einen kalten reißenden Bach stürzt, um ein Kind zu retten, aber selbst nicht schwimmen kann? Ist das von einer ähn-
188
Alexander Kluge et al.
lichen Spontaneität? Kann man sagen, dass der Körper dort ähnlich unbewusst gesteuert reagiert wie im Fall des sich selbst Wehrens gegen den Selbstmord? KLUGE: Es ist etwas in uns, von dem wir selber nicht wissen, dass es in uns ist aus früheren Zeiten. BAECKER: Oder es ist die Form der Bearbeitung eines moralischen Dilemmas. Ich könnte mit mir nicht leben, wenn ich wüsste, dass mir im Anschluss vorgeworfen werden kann, dieses Kind ertrinken lassen zu haben. KLUGE: Nun ist gerade die Annahme in unserem Fall, dass es besinnungslos und spontan schneller geschieht, als der Gedanke folgen kann. Ich habe es schon getan und anschließend im Wasser fällt mir auf, dass ich es getan habe. BAECKER: Wer hat es getan? Hat es mein Bewusstsein, hat es mein Körper getan, hat es meine Spontaneität getan? Zurechenbarkeit fällt da wieder schwer. KLUGE: Er will auch nicht belohnt werden. Ich möchte nur erklärt haben, wie es kommt, dass so etwas beobachtbar ist und eine menschliche Eigenschaft zu sein scheint bei einer großen Mehrheit von Menschen. BAECKER: Der Evolutionstheoretiker, der sich die Gattungsgeschichte des Menschen anschaut, sagt: Der Mensch ist ein nesthockendes Wesen, ein später Nestflüchter. Viel später als andere Tiere. Er wächst mit der Fähigkeit auf, sich wechselseitig zu helfen. KLUGE: Das ist das Prinzip der Familie. BAECKER: Es gibt in der ersten Phase des Lebens keine andere Wahrnehmung als die des anderen. Das Füchslein, das anfängt im Wald zu spielen, macht eine Fülle von Erfahrungen, die nichts mit den Geschwistern und der Mutter zu tun hat. Aber ein Menschenkind, das in seiner Krippe liegt, macht nur Erfahrungen mit der Krippe. Es gibt Lichtgeflimmer und die Mutter. Das Erste, was es körperlich, psychisch und sozial erfährt, ist die Präsenz eines anderen und damit auch die Reaktion darauf, wie der andere ist. KLUGE: Ein Echo davon, dass ihm geholfen wird, dass es getröstet wird, wird von der besinnungslosen Rettungstat zurückgeworfen. BAECKER: Es wird abgerufen: Du kannst gar nicht anders, als Dich mir entgegen zu stürzen, weil Du versuchen musst, zu helfen. Diese Spontaneität ist schneller als der Gedanke. Man muss von einem evolutionären Erbe sprechen, das uns belastet. Ungefähr so, wie wir, wenn wir gefragt werden, wo die Sterne sind, alle nach oben zeigen, obwohl sie unten sind, rechts und links und oben auch. Ich finde, solche Geschichten sind wunderbare Belege dafür, dass unsere Reflexion bis zu einem bestimmten Punkt kommt, dass wir danach über unseren Körper nachdenken und dass wir, wenn wir über den Körper nachgedacht haben, über die Evolutionsgeschichte des Menschen nachdenken müssen. KLUGE: In dieser Evolutionsgeschichte stecken Anker der Gutartigkeit, möglicherweise auch solche der Bösartigkeit.
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
189
BAECKER: Zumindest sind wir lange genug so aufgewachsen, dass wir aufeinander angewiesen und von daher auch mit Gutartigkeit vertraut sind. ***
VOLAND: Wir haben im Tierreich viele Beispiele dafür, dass sich einzelne Individuen uneigennützig verhalten können. Sie können anderen zu Diensten sein. Zugleich haben wir aber auch viele Modelle, die erklären, wie eine solche Form von Altruismus, wie man sagt: evolutionsstabil sein kann. Von daher ist Altruismus allein nicht das erklärungsbedürftige Phänomen, um das es geht. Das Gewissen reguliert zwar auch Altruismus, aber es kommt noch ein Punkt hinzu, den wir im Tierreich vermutlich nicht finden werden, nämlich ein moralisches Urteil, das wir selbst in uns fällen. Dieses Urteil beißt, weil es gegebenenfalls zwei Emotionen gibt, die hier regulierend einwirken. Es beißt über Schuldgefühle und es beißt über Schamgefühle. KLUGE: Wie unterscheiden sich die Gefühle? VOLAND: Schuldgefühle stellen sich ein, wenn man etwas getan oder unterlassen hat und man anders hätte handeln sollen. Scham stellt sich ein, wenn man mit sich selbst als Person nicht zufrieden ist. Wegen des eigenen So-Seins schämt man sich, sei es bei einem öffentlichen Auftritt oder wie auch immer. KLUGE: Die Scham treibt der Schuld zu und die Schuld treibt der Scham zu. VOLAND: Das hat ein kluger Mensch geschrieben, und es scheint der Fall zu sein. KLUGE: Wenn Sie diese beiden Elemente des Gewissens beschreiben, die quälen können. Man kann daran krank werden, daran sterben. Diese starke Kraft gibt es aber nur, wenn man Grund hat, ein schlechtes Gewissen zu haben. Das schlechte Gewissen peinigt, während das gute Gewissen ein Gleichgewichtszustand in Ruhe ist. VOLAND: Es ist ein Ruhezustand. Deswegen erleben wir das Gewissen auch nur in dem einen Modus, nämlich als peinigendes Gewissen. Das Ruhegewissen ist das peinigende Gewissen im Stand-by-Modus. Es ist im Moment nicht aktiv. Das Gewissen läuft immer mit, aber wenn wir es nicht spüren, reden wir vom guten Gewissen. Streng genommen ist das nicht richtig bezeichnet. Wir haben keine emotionale Unterfütterung für das gute Gewissen. Wir haben in dem Moment, wenn wir was Gutes tun, ein gutes Gefühl, aber das ist nicht besonders nachhaltig. ***
KLUGE: Es gibt den Ausdruck »moral luck«, moralisches Glück. Ich hatte mehr Glück als Verstand, habe mich aber als verlässlich erwiesen. BAECKER: Die Umstände spielten mehr mit, als ich es voraussetzen konnte. KLUGE: Mein Körper hat mich festgehalten. Gibt es da Fälle für?
190
Alexander Kluge et al.
BAECKER: Da gibt es die berühmten Fälle der Untersuchung von Fox, der Schlägereien in irischen Kneipen beobachtet hat, in denen es ritualmäßig dazu gehört, dass man sich ab und zu schlägt. Offensichtlich weiß die Kneipe, wann das sinnvoll ist und wann nicht. Deswegen gibt es auch oft einen Schläger, der am Rande sitzt und von dem alle wissen, dass er bisher alle besiegt hat, der aber nichts mehr tut, sondern nur da sitzt. Und die Situation, von der ich rede, ist folgende: Jemand regt sich fürchterlich über jemand anderen auf, steigert das, bedroht ihn dabei. Der andere reagiert, und das Spiel wird so lange hingezogen, bis aus den Augenwinkeln beobachtbar klar ist, dass die von Dritten geholten Mütter und Schwestern des Angreifers dort sind, um einzugreifen. In dem Moment sagt der Aggressor : »Hold me back or I’ll kill him«, haltet mich zurück oder ich töte ihn. KLUGE: Er sagt das aber erst zu dem Zeitpunkt, an dem er festgehalten ist. BAECKER: Das ist Ritualisierung und gleichzeitig Anerkennung von Männlichkeit, wo man sie braucht, wie sie besser gar nicht passieren kann. […] ***
KLUGE: Sie schreiben, das Gehirn ist ein Organ, das von seiner Arbeit selbst nichts weiß. BAECKER: Wir wüssten zumindest nicht, wo wir hinschauen wollten, wenn wir überprüfen wollten, ob das Gehirn von seiner Arbeit etwas weiß. Was wir natürlich wissen ist, dass das Bewusstsein nichts von der Arbeit des Gehirns weiß. Es sei denn, es treten Kopfschmerzen auf. Dann merkt man, irgendetwas stimmt nicht, was normalerweise stimmen sollte. Wir wissen aber mittlerweile, und das ist für diese Frage der Verlässlichkeit entscheidend, dass das Gehirn eine Gedächtnisaufbau- und Gedächtnisüberprüfungsmaschine ist. Es ist laufend damit beschäftigt, das Gewöhnliche und schon mal Gesehene vom Ungewöhnlichen, noch nicht Gesehenen, zu unterscheiden. KLUGE: Bei Aristoteles heißt es, das Gehirn ist kühl. Das Herz ist heiß und die Leidenschaften auch. Aber das Denken und das Gehirn sind kühl. BAECKER: Wenn man die Finger auf die graue Masse des Gehirns legt, ist es kühl. Aristoteles nahm an, dass das Gehirn deswegen so groß sei, weil es das Kühlorgan für den Blutkreislauf ist. KLUGE: Es ist, wie Sie schreiben, nicht reiz- sondern vorhersagegesteuert. Dieses schlaue Tier weiß alles, was geschehen wird. Wie eine Kassandra schnattert es Voraussagen. Kann man das so sagen? BAECKER: Das kann man so sagen, das muss man auch so sagen. Ohne dass man daraus dummerweise die Möglichkeit ableiten könnte, diesen Vorhersagen auf die Spur zu kommen, weil auch das wieder vorhergesagt wird. Das Bewusstsein
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
191
hängt diesen Vorhersagen immer hinterher. Nachträglichkeit des Bewusstseins gegenüber den neuronalen Vorgängen. KLUGE: Das Hirn tut etwas als Vortrapp. Dem folgt zwar dieses Monstrum Bewusstsein langsam und begleitet es auch, aber es tut noch etwas anderes. BAECKER: Das Bewusstsein kann dem Gehirn ja nicht in 1:1-Zuständen folgen. Die Fülle der Sinneseindrücke bewusst wahrzunehmen, hätte einen sofortigen Overload zur Folge. Also kann es nur selektiv folgen und kann bei diesem selektiven Befolgen der Ergebnisse des Gehirns – nicht des Gehirns selber, also der wenigen Gedanken, die ins Bewusstsein steigen und dann dort gesehen werden können – das eine oder andere markieren, aber muss sich, während es das tut, darauf verlassen, dass vieles andere wiederum auf dieser unbewussten Ebene vorhersagemäßig passiert. ***
KLUGE: Herr Doktor Mabuse, Sie sind ein Spieler, immer noch geheimnisvoll, man fürchtet Sie. Was ist Ihr Los im Zeitalter der Finanzkrise? Kommen Sie überhaupt mit Zählen nach? Zählen der Verluste und der Gewinne? MABUSE (Helge Schneider, spielt und singt): Ich bin Doktor Mabuse. KLUGE: Das ist aber ein Trauermarsch. MABUSE: Ja, noch gibt’s mich ja. KLUGE: Man nimmt langsam Abschied. MABUSE: Ja, ich bin schon elf Mal auferstanden, elf Mal, stell Dir mal vor, elf Mal, in elf verschiedenen Filmen. KLUGE: Jedes Mal glaubte die Polizei, Du wärst erlegt. MABUSE: Ja. KLUGE: Pustekuchen. MABUSE: Wenn man sich selbst ins Leben hineinhypnotisiert, ist man eigentlich unschlagbar. KLUGE: Unschlagbar aber durch diese globalisierende Tendenz, die jetzt von keinem Menschen mehr beherrschbar ist. MABUSE: Es hat sich einiges ereignet, von dem auch ich sage: Da komme ich nicht mehr mit. Wo früher mein wunderschön gesponnenes Netz der Untaten über die ganze Erde gespannt war, China, Brasilien, Honolulu, Kasachstan, überall hatte ich meine Finger drin. Aber heute … KLUGE: Wie hast Du’s gemacht, als plötzlich alles digitalisiert wurde, als plötzlich das Internet aufkam. Man kann doch gar keine Briefe mehr schreiben, Telefonate macht keiner mehr. MABUSE: Ja, das tut weh, das tut weh, das tut einfach weh. KLUGE: Da muss man einen Volkshochschulkurs Erwachsenenbildung machen und am Ende seines Lebens noch mal alles neu lernen.
192
Alexander Kluge et al.
MABUSE: Ja, man muss sich auch mit diesem Computerzeug da befassen. Es ist ein Wust von Neuheiten, der auf einen konventionellen Verbrecher einströmt. Da muss man fast schon seinen Beruf aufgeben. Ich hab’s noch nicht gemacht, ich hab’s immer noch geschafft, sagen wir mal ganz nahe … KLUGE: … eine Lücke zu finden. MABUSE: Genau, richtig, die Lücke zu finden, am Ball zu bleiben. Die Sanduhr der Verhältnisse und des Geschehens auf der Welt … KLUGE: … umzudrehen, aber man kann gar nicht mehr schlafen gehen, weil man die Sanduhr immerzu umdrehen muss. Immer ist sie gleich voll. MABUSE: Ich habe einfach viel zu viel zu tun. Wo ich mich früher noch einfach in der Uhr an die engste Stelle gestellt und den Sand aufgehalten habe … KLUGE: Das geht gar nicht mehr. Dann heißt es plötzlich: Die Sanduhr gilt nicht, die daneben gilt. Da ist der Sand schon wieder hochgeklettert. Mabuse (spielt und singt): Ich bin Doktor Mabuse. Man muss sich ständig neu erfinden, das ist das Debakel unserer heutigen Zeit. Ja, ich hatte ein Netz gespannt um die ganze Welt, damit der Rubel rollt, sage ich mal, und damit auch hier, sagen wir mal, das Böse so ein bisschen auch weiterlebt. Das muss gepflegt werden, das muss man auch ab und zu mal rauskitzeln das Böse. KLUGE: Jedes Raubtier hat seinen Zoo, aber das Böse nicht. MABUSE: Ja, richtig. Die Menschen verkennen das. Die wissen gar nicht, was sie Schönes haben am Bösen. Ich meine, wenn es nur das Gute gibt, dann schlagen sie sich die Köppe ein. Das ist so. KLUGE: Das Böse ist die Würze des Guten, so schrieben Sie. MABUSE: Ja, und dann tun die sich nichts. ***
KLUGE: Das ist Doktor Mabuse. Hätte der heute eine Chance? BAECKER: Nein. So eine Figur ist das Produkt einer Mythologie in einer etwas einfacher und übersichtlicher gestrickten Welt. Der Kriminelle, auch der Doktor Mabuse, ist in der Regel jemand, der dieselben Ziele verfolgt, wie alle anderen auch: reich werden, anderen ein gutes Leben ermöglichen, sei es der eigenen Bande oder Gang, sei es in dem Fall von Doktor Mabuse, den Bewohnern der brasilianischen Siedlungen. Aber er wählt die falschen Mittel. Wenn man das als Widerspruch wahrnimmt, wie es offensichtlich in den zwanziger, dreißiger Jahren im letzten Jahrhundert der Fall war, dann muss man die Figur, die einen solchen Widerspruch lebt, möglichst groß machen, um sie außergewöhnlich darzustellen, um den Eindruck zu erwecken, dass das ein Vorbild für andere sei. Deswegen wird der Verbrecher schrecklich, wird abschreckend. Diese Abschreckung ist eine Strategie des Unsichtbarmachens des Umstandes, dass der doch »bloß« mit den falschen Mitteln auch das Richtige will. Wir sind heute wesentlich unsicherer in der Unterscheidung von falsch und richtig und zwar
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
193
sowohl, was die Zwecke und Ziele betrifft, als auch, was die Mittel betrifft. Wir sind deswegen mit einer Vielzahl von menschlichen Figuren vertraut, die leicht abweichende Mittel mit nicht abweichenden Zielen verbinden. Beispielsweise werden auch bedeutende Wissenschaftler vielleicht mal die eine oder andere empirische Forschung fälschen oder vielleicht das eine oder andere Paradigma anzweifeln. Wir sind es gewohnt, mit Leuten zu tun zu haben, die dieselben Mittel verwenden, um andere Ziele zu erreichen. Die Beobachtung dieser Mischungsverhältnisse hält das Unsichtbarmachen des Verhältnisses von Mittelverfolgung und Zielverfolgung oder Mittelverwendung und Zielverfolgung so weitgehend aus, dass man keine Kriminalisierung dieser Bilder mehr braucht. Wir haben Horrorfiguren von Kriminellen, die weder die richtigen Mittel noch die richtigen Ziele verfolgen, bei Kindesmisshandlung zum Beispiel. Wir haben Bilder von gewöhnlich organisierten Verbrechern wie der Mafia, die eigentlich sowohl auf der Mittelebene, es geht um den Erhalt des Gruppenzusammenhalts, wie auch auf der Zielebene, es geht darum, für alle Beteiligten ein vernünftiges Leben sicherzustellen, akzeptabel sind. Nur in bestimmten Dimensionen ihrer Handlungen, Handel mit Rauschgift oder Ermordung von Konkurrenten, greifen sie dann zu Mitteln, die man nicht akzeptiert. KLUGE: Wenn Sie die Wörter Regeltreue, Compliance, Regelkonformität hören. Wie würden Sie das ausformulieren? BAECKER: Da kann ich auch nur ambivalent reagieren. Die Regeltreue ist, wenn ich den Akzent auf Treue setze, sicherlich ein positiver Wert der Sicherung von Erwartbarkeit des Verhaltens. Wenn ich mich aber gleichzeitig frage, welche Regeln sollen das denn sein, gegenüber denen man treu ist und ich mir dann anschaue, dass eine Reihe dieser Regeln gerade in Unternehmen aufgeschrieben sind und vor allem aufgeschrieben werden, weil sie meistens nicht befolgt werden können im aktuellen Tagesgeschäft, dann ist Regeltreue fast identisch mit Starrsinn, mit der Fähigkeit, sich zu verweigern gegenüber den kleinen Regeluntreuigkeiten, die den Betrieb in Gang halten. Das ist das, was Luhmann die konzedierte Illegalität genannt hat, die hilfreichen kleinen Abweichungen, die einen Betrieb erst aufrechterhalten. Compliance ist auch ein Begriff, den man nur vorsichtig mit Regeltreue übersetzen kann. Man sollte ihn eher als eine Treue gegenüber Erwartungen von Regeltreue auf eine Metaebene heben. Compliant ist derjenige, der in der Lage ist, die jeweilige Situation mit der erwarteten Regel so abzugleichen, dass er im Interesse der Organisation eine Antwort findet. Das wendet sich wiederum an eine intellektuelle, kluge Verhaltensweise von Individuen und nicht an sklavische Befolgung von festgeschriebenen oder auch nur nicht festgeschriebenen Regeln. ***
194
Alexander Kluge et al.
KLUGE: Gewissensdruck erfordert Handeln. VOLAND: Ich habe neulich in einer Zeitung gelesen – habe leider versäumt, die Quelle aufzubewahren –, dass ein Posträuber, ich meine, es sei im Raum Braunschweig gewesen, dreißig Jahre nach seiner Tat die Beute wieder verteilt hat. Er hat gespendet an Kindertagesstätten, an den Tierschutzverein, an Bedürftige. Offenbar konnte er selbst nach dreißig Jahren seine Schandtat nicht vergessen. Er konnte sich nicht verzeihen. KLUGE: Keine Justiz war in der Lage, ihn zu etwas zu zwingen. VOLAND: Er ist nach wie vor bei den Lügen geblieben. Man weiß nicht, wer es war. Er hat sich selbst gerichtet. KLUGE: Moralische Urteile sind nicht kognitivistisch, sie entstehen nicht durch das Werkzeug der Verstandestätigkeit: Indem ich anderes ausschließe, werde ich gewissenhaft. VOLAND: Damit sprechen wir eine sehr alte Debatte der Philosophiegeschichte an. Wie verhalten sich Vernunft und Gefühl zueinander, wenn sie Moral produzieren oder wenn wir über Ethik fachsimpeln? Und es scheint so zu sein, dass in der Tat die Ethik nicht ohne Vernunft auskommen kann. Ethik ist keine Gefühlssache. Es ist eine rationale Suche nach den besten Formen des Zusammenlebens. Aber Ethik ist eine relativ neue Errungenschaft der Menschheit. Moral ist wesentlich älter. In der Moral spielt größtenteils die Vernunft keine Rolle. Im Volksmund heißt es, das Moralische versteht sich von selbst. Damit will ich nicht sagen, dass Vernunft überflüssig wäre. Vernunft brauchen wir, um moralische Probleme als solche zu erkennen. Das geht nicht nur gefühlsmäßig. KLUGE: Vernunft wäre meine Vorstellung davon, was mir in einer allgemeinen Gesetzgebung als Mensch angemessen ist. Wie kann ich mich durchsetzen, ohne andere Menschen zu verletzen? VOLAND: Wir sollten vielleicht ein bisschen anspruchsloser formulieren und vom Verstand reden, der auch empirisch gefüllt ist. Aber den Verstand brauche ich, um Probleme als solche zu erkennen. Ich habe auch in meiner Lebenspraxis eine Reihe von Problemen vor mir, die ich per Verstand lösen muss. Die Frage, ob man Atomkraftwerke laufen lassen oder abschalten soll, ist eine Verständnisfrage. Wäre sie eine Gewissensfrage, würde der Verstand wahrscheinlich keine große Rolle spielen. ***
KLUGE: Da gibt es Cato, einen moralischen Fundamentalisten, nicht mehrheitsfähig. ZIMMERMANN: Cato gehört zu den Figuren, die in dem Augenblick den Mund auftun und über die man Geschichten erzählt, wenn eine Gesellschaft stark im Wandel ist und sich schon in eine andere Richtung entwickelt. Da hat man plötzlich einen alten Mann, der sagt: Das ist alles ganz schlecht, die Philosophen
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
195
müssen aus der Stadt raus. Karneades, der von der Akademie nach Rom gekommen ist und die Jugend begeistert mit seinen tollen Vorträgen, muss weg, der verdirbt die Jugend. Die sollen sich auf Politik konzentrieren und nicht nachdenken. Da sieht man aber die Umbruchzeit, eine Zeit, in der das alles schon in Auflösung begriffen ist. Und deshalb kann er / la longue auch keinen Erfolg haben. Aber man erzählt Jahrhunderte später noch immer diese Geschichten, wie er seine Kinder erzieht, die in kaltem Wasser schwimmen müssen, damit sie abgehärtet sind. Er selbst unterrichtet sie, gibt sie nicht zu irgendwelchen windigen griechischen Lehrern, sondern bringt denen das Lesen und Schreiben bei. Dann geht es um die Frage, ob man die Frau prügeln darf oder nicht. Das wird alles an dieser Figur festgemacht, das Grundrepertoire häuslicher Erziehung und der Bewahrung altrömischer Tugenden. Diese altrömischen Tugenden sind so etwas wie die heutige Leitkultur, das hat es so nie gegeben. ***
KLUGE: Wenn Sie die Worte Charakter, Realismus, Gleichgewicht hören und sie anwenden auf das Gebiet Integrität, Regeltreue, Verlässlichkeit … BAECKER: Das ist keine leichte Aufgabe. Beim Charakter geht es vornehmlich um die Wiedererkennbarkeit einer Person, egal in welchen Umständen sie gerade beobachtet wird. Ich denke an so manche Unternehmen, die sich zumindest früher sogenannte Frühstücksdirektoren geleistet haben. Man wurde aus dem Vorstand entlassen, hat aber so viel geleistet und war auch so geschätzt, dass man nicht ganz entlassen wurde, sondern ein eigenes Zimmer mit eigener Sekretärin zugewiesen bekam. Ein Frühstücksdirektor hatte aber eigentlich keinerlei Einflüsse auf das Unternehmen. Das waren meistens Leute mit Charakter. KLUGE: In gesellschaftlichen Stürmen ist Charakter ein Grad der Festigkeit. Ich habe einen Anker im Charakter. Das wäre die positive Seite. Und Cato, der große Quengler, den keiner ertragen kann, der, was auch immer kommt, nur schimpft, wäre die unangenehme Seite. BAECKER: Wir reden von Charakter in diesem Sinne nur dann, wenn es darum geht, die Fähigkeit von jemandem zu beschreiben, auf eine Verführung, eine Versuchung, eher unangenehmer, eher negativer Art und Weise zu reagieren. Würden wir auch von Charakter sprechen, wenn jemand sich weigert, etwas Neues, Reizvolles, Interessantes, Anerkanntes auszuprobieren? KLUGE: Eigentlich nein. Und wenn Sie den Realisten nehmen? BAECKER: Realismus ist ein wunderbar schillerndes Wort, weil ich mich dann, wenn ich mich frage, um welche Realität es jeweils geht, an verschiedenste Dinge wenden kann. Reell ist die aktuelle Herausforderung, die Frage, was passiert mit mir, wenn ich auf diese aktuelle Herausforderung so oder so reagiere. Reell ist aber auch die Frage, wie ich wohl von Dritten beurteilt werde, wenn ich dieses oder jenes mache. Ein Realist ist streng genommen jemand, der überhaupt nicht
196
Alexander Kluge et al.
kalkuliert werden kann. Die Wirklichkeit kann hochgradig selektiv von ihm oder von ihr danach ausgesucht werden, welche ihr oder ihm gerade passt. Unsere Überschätzung von Realismus liegt daran, dass wir immer noch glauben, es gäbe nur eine Wirklichkeit. KLUGE: Zwischen Charakter und Realist in diesem Sinne muss ein Gleichgewicht bestehen. Wenn der Charakter zu unbeweglich wäre, nicht flexibel genug, nicht änderbar ist, passt er nicht in die Situation. Wenn der Realist zu sehr in den Situationen springen kann, ist er auch nicht verlässlich. Deswegen ist es ein Gleichgewichtsproblem. BAECKER: Worauf bezieht sich denn dieses Gleichgewicht? Ist es ein psychisches, ein soziales, ein gesamtgesellschaftliches? Ich würde sagen, es ist tatsächlich so etwas wie ein gesamtgesellschaftliches, weil ich von Gleichgewicht nur dann reden würde, wenn, egal in welcher Art und Weise gegenwärtig gehandelt wird, ich im nächsten Schritt in der Lage sein muss, die Ressourcen dafür zu erkennen und anzuerkennen. Da hat jemand etwas gesehen, was ich jetzt noch nicht gesehen habe. Ich habe die Reaktion zwar für komplett überzogen gehalten, aber wenn ich den zweiten Umstand hinzuziehe in meiner Einschätzung, dann sehe ich, in welchem Gleichgewicht sich diese Person gehalten hat. Gleichgewicht wäre dann ein Abstraktionsschritt über Realität hinaus, eine Fähigkeit, eine Art Differentialkalkül aufzubauen zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsansprüchen und daraus die eine Antwort so zu destillieren, dass sie passt, auch noch zum eigenen Standing. Da würde man sagen: Der hat sich aber im Gleichgewicht gehalten. Wie oft das vorkommt, kann man sich an diesen Anforderungen ungefähr ausrechnen. Es handelt sich um eine Integrationsleistung einer hochgradig differenzierten Komplexität, die wir intuitiv, habituell immer wieder zustande bekommen und bei der wir ins Stolpern und Stottern geraten, wenn wir über sie nachdenken. KLUGE: Sie kennen den Satz: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Kann man den umkehren? BAECKER: Nicht edel sei der Mensch, nicht hilfreich und gut. KLUGE: Nein, das ginge nicht. Aber Sie könnten sagen: Nicht edel sei der Mensch, konzentriert auf das Fortleben von sich und seinen Nachkommen und in dieser Frage hart. BAECKER: Das könnte man sicherlich sagen und würde sich dann von einer Welt des Tugendkanons in eine Welt des Darwinismus im positiven Sinne des Wortes, also einer offenen Bemühung um evolutionäre Erfolge bewegen. KLUGE: Wie würden Sie das Wort »edel« ausdeuten? BAECKER: »Edel« ist ein aristokratischer Ausdruck und kommt aus einer Welt, die noch daran geglaubt hat, dass man Perfektionswerte erreichen kann, dass der Mensch also an der Veredelung seiner selbst arbeiten sollte, genauso wie ein Gärtner an der Veredelung seiner Pflanzen, seiner Rebstöcke beispielsweise,
Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht
197
arbeitet und dass es dafür einen Endpunkt gibt. Das Schlimme an der Moderne ist ja, dass man irgendwann von der Idee der Perfektion auf die Idee der Perfektibilität als des nicht endenden Fortschritts umgestellt hat. Und wenn Sie sich jetzt vorstellen, diesen Satz umzuformulieren und zu sagen, laufend veredelbar sei der Mensch, dann wäre da eine Steigerungslogik drin, die ans Unerträgliche grenzt, obwohl natürlich unser Qualitätsmanagement vieler Organisationen genau das will. KLUGE: Und jetzt nehmen Sie das Wort »gut«. Kann man besser sein als gut? BAECKER: Nicht im aristotelischen, aber im modernen Sinne schon. KLUGE: Man kann gütig sein. Aber gütiger als gut? BAECKER: Wenn der Mensch gut ist, dann ist eben dieser Perfektionswert erreicht. KLUGE: Man könnte konkurrenzmäßig sagen: Es gibt einen Besten. Das wäre aber nicht dasselbe wie gut sein. BAECKER: Wenn man sagt, der Mensch ist gut, dann ist nicht an eine Leistungsskala gedacht auf der gleichsam verschiedene Werte rauskommen könnten. Eher ein Ausgleich, ein inneres Gleichgewicht, eine Wesenseigenschaft steht im Vordergrund. Eine Wesenseigenschaft kann man nicht steigern. KLUGE: Wenn Sie hören: unedel sei der Mensch, nicht hilfreich und böse. BAECKER: Dann würde man an Nietzsche oder besser noch an Pmile Durkheim denken. Unedel seien einige Menschen, nicht hilfreich und böse seien einige Menschen, damit die anderen Menschen am schlechten Beispiel lernen, was ein schlechtes Beispiel ist, also das Gute erlernen. Wenn ich Nietzsche nehme, dann wäre das eine Herausforderungslogik der Abweichung, um die bisherigen moralischen Vorurteile zu überwinden, also dadurch überhaupt erst das moralische Vorurteil erkennen zu können. Mit offenem Ausgang würde ich sagen. KLUGE: Auf dem Theater führe ich das provokativ vor : einen Unedlen, einen nicht Hilfreichen und einen Bösen. Die Zuschauer können jetzt vergleichen, und es wäre eine durchaus interessante Konfrontation. BAECKER: Zum einen kann man natürlich davon lernen, der der sich bereits böse weiß, kann lernen, wie man noch böser werden kann. Böse lässt sich steigern, im Unterschied zu gut offensichtlich. Natürlich hat man wieder diese schöne Funktion von all diesen Spiegeln. Man ist doch letztendlich besser als der Böse, den man gerade auf der Bühne gesehen hat. Also ganz so böse kann man selber nicht sein. Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht. Film von Alexander Kluge, DE 2014. Vorgestellt anlässlich der Verleihung des HeinrichHeine-Preises der Landeshauptstadt Düsseldorf am 14. Dezember 2014 im Filmmuseum Düsseldorf.
Dirk Baecker
Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss
Zwischen Bielefeld und Frankfurt am Main, so Alexander Kluge, gelte es eine Versöhnung herbeizuführen. Die Systemtheorie sei gut »auf der Autobahn«, die Kritische Theorie jedoch besser »im Gebüsch«.1 In der gegenwärtigen Situation der Gesellschaft benötigen wir beide Kompetenzen.
Szene 1, Autobahn Niklas Luhmann arbeitete an einer Theorie der Gesellschaft, die die Soziologie seit ihrer Gründung durch Auguste Comte schuldig geblieben ist, obwohl kaum ein Zweifel daran besteht, dass sie ihr vornehmster Untersuchungsgegenstand ist. Ohne diese Theorie der Gesellschaft ist die Soziologie jedoch noch nicht einmal davor gefeit, von nationalen Gesellschaften zu sprechen, wie es zum Beispiel Talcott Parsons tat. Die wichtigsten Formationen der Gesellschaft, seien es Schichten und Klassen oder Funktionssysteme wie die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Religion, die Kunst, die Familie, der Sport oder die Medizin, werden durch nationale Grenzen zwar beeinflusst, reichen in ihrer Struktur und in ihren Operationen jedoch jeweils weit über sie hinaus. Für Politik und Recht sind nationale Grenzen bedeutsam, aber dies sind nur zwei Funktionssysteme unter anderen, nicht wichtiger oder unwichtiger als die anderen. Früher brauchte man Grenzen, um Kriege anzetteln zu können, aber das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass es gute Gründe gibt, nationale Grenzen nicht als irgendwie primäre soziale Fakten anzunehmen. Emile Durkheim sprach nicht von der Gesellschaft, sondern von der Teilung sozialer Arbeit zwischen eigenständigen, wenn auch in jedem ihrer Züge aufeinander bezogenen sozialen Tatsachen aller Art. Gabriel Tarde sprach ebenfalls nicht von der Gesellschaft, sondern von sozialen Monaden beim fehlerhaften Spiel der wechselseitigen Imitation, von fluktuierenden Meinungen in hoch1 Siehe Dirk Baecker/Alexander Kluge, Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003.
200
Dirk Baecker
gradig differenzierten Öffentlichkeiten (im Plural, ohne eine Chance auf eine Übereinkunft in Vernunft). Max Weber und Georg Simmel sprachen beide nicht von einer Gesellschaft, sondern von Prozessen der Vergesellschaftung, um jeden Anschein der Substantialisierung zu vermeiden und stattdessen auf offene Prozesse der laufenden Neuverhandlung brauchbarer sozialer Formationen zu verweisen. Weber unterschied zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, um Prozesse »subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit« von solchen eines »rational motivierten Interessenausgleichs« zu unterscheiden.2 Und Simmel legte großen Wert darauf, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als eines zu beschreiben, in dem das »Vergesellschaftet-Werden« eines Individuums grundsätzlich »durch die Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins« mitbestimmt wird.3 Eine Substantialisierung der Gesellschaft musste ausgeschlossen werden, weil rechte wie linke Ideologien zu schnell bereit waren, diese Gesellschaft als Adresse für Forderungen an den Menschen auszuflaggen und für ebenso utopische wie extremistische Projekte zu missbrauchen. Ein ›totaler‹ Begriff der Gesellschaft läuft Gefahr, nichts außer ihr anzuerkennen. Luhmann plädiert deswegen für einen ›universellen‹ Begriff der Gesellschaft: Man könne »Gesellschaft […] beweisen«, so Luhmann, wenn es gelingt, im Falle der Analyse von Funktionssystemen, trotz aller ihrer Unterschiede, »mit demselben Satz von Kategorien« zu arbeiten.4 Im Unterschied zu einem ›totalen‹ Begriff, der alles einschließt und nichts anderes zulässt, ist ein ›universeller‹ Begriff überall anwendbar, gleichsam mitten im Gemenge (einschließlich des Handgemenges). Dieser Begriff bedeutet nichts anderes als den Hinweis darauf, dass in jeder sozialen Situation eine Referenz darauf mitschwingt, dass man andernorts das eigene Interesse an Handlung und Kommunikation anders und unter Umständen auch ähnlich fortsetzen kann.5 ›Gesellschaft‹ ist der Horizont möglicher Kommunikation, abhängig von der Vorstellungskraft der Beteiligten an einer Situation und endlos im Hinblick auf die Frage, was geht und was nicht. Diese Gesellschaft ist nicht zu greifen und nicht zu adressieren. Sie ist ›da‹ in der Form des Vergleichs aktueller Wirklichkeit mit potentiellen Möglichkeiten. Man kann sie jedoch nicht erreichen, ohne sofort wieder in einer neuen Situation zu stecken, für die dieselbe Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit gilt. Das heißt nicht, dass man laufend aufbrechen möchte, so wie Jean-Paul Sartre bei seinen Spaziergängen durch Venedig das Gefühl beschrieb, auf einem anderen 2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß einer verstehenden Soziologie, 1990, S. 21f. 3 Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 1992, S. 51. 4 Niklas Luhmann, »Die Systemtheorie zwischen Involution und Normativität: Ein Interview von Gerald Breyer und Niels Werber«, in: Symptome: Zeitschrift für epistemologische Baustellen 10, Dezember 1992, S. 45–56, hier S. 55f. 5 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 78–92.
Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss
201
Kanalufer sei es immer spannender als auf dem, auf dem er sich gerade befindet.6 Man kann in einer Situation feiern, dass sie das Potential der Gesellschaft erfüllt, sei es durch Arbeit, durch Liebe oder ein geselliges Fest. Aber so oder so wird man sie nicht los. Die Gesellschaft ist ein Interferenzfaktor, der jede Situation mit einer mindestens minimalen Unruhe ansteckt. Und in dieser Form ist sie eine großartige soziologische Hypothese, weil sie es ermöglicht, den Aufbau von Strukturen zu analysieren, mit denen Situationen versuchen, diesen Unruhefaktor sowohl zu nutzen als auch zu bändigen. Zur systemischen Vorstellung einer ›Autobahn‹ wird all dies in dem Moment, in dem Luhmann nach der Differenzierungsform dieser Gesellschaft fragt und zwei verschiedene Achsen dieser Differenzierung beschreibt. Die erste Achse ist die Differenzierung in Interaktion (unter Anwesenden), Organisation (von Mitgliedern) und Gesellschaft (der Abwesenden) und die zweite Achse ist die Differenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Religion, Recht, Kunst, Wissenschaft und Erziehung.7 Nimmt man hinzu, dass Luhmann zumindest für die moderne Gesellschaft annehmen konnte, dass Organisationen fast immer mit einer Primärreferenz für bestimmte Funktionssysteme arbeiten, also als Behörden und Parteien, Gerichte, Unternehmen, Kirchen, Museen und Theater, Institute und Universitäten, Schulen und Kindergärten immer recht eindeutig ganz bestimmten Funktionssystemen zugeordnet sind, ergibt sich ein letztlich erstaunlich wohlgeordnetes, ja ›vernünftiges‹ Bild. Ausnahmen bestätigen die Regel. So sind Notenbanken und Gewerkschaften auf eine dezidiert unentschiedene Art und Weise ›zwischen‹ Politik und Wirtschaft aufgehängt, Universitäten ›zwischen‹ Wissenschaft und Erziehung. Nicht zuletzt ist es der Vorteil dieser Ordnung, dass Interaktionen als ›einfache‹ Sozialsysteme unter Anwesenden weitgehend dem Spiel ihrer Möglichkeiten, aber auch einer gewissen Folgenlosigkeit überlassen werden können.8 Luhmanns Formulierung hierfür weist darauf hin, dass Interaktion massenhaft Material für die soziokulturelle Evolution liefert, letztlich aber Organisationen und Funktionssysteme entscheiden, welche dieser Variationen positiv selegiert und in Struktur übersetzt werden. Eindrücklich zeigt dies Luhmanns Studie zur »Interaktion in Oberschichten«, in der er nachgezeichnet hat, wie die Illusion des Adels, Gesellschaft durch Interaktion steuern zu können, in den Städten und
6 Jean-Paul Sartre, »Venise, de man fenÞtre«, in: ders., Situations IV, Paris 1964, S. 444–459, hier S. 447f. 7 Niklas Luhmann, »Interaktion, Organisation und Gesellschaft: Anwendungen der Systemtheorie«, in: ders., Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1982, S. 9–20. 8 Niklas Luhmann, »Einfache Sozialsysteme«, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, S. 21–38.
202
Dirk Baecker
an den Höfen der Neuzeit aufgerieben und in den Revolutionen Englands, Amerikas und Frankreichs endgültig zu den Akten gelegt wurde.9 Nicht so ganz zum Bild der Autobahn passt dann allerdings, dass Luhmann in seinem Spätwerk die frühere Annahme, Organisationen seien Teilsysteme der Funktionssysteme, aufgegeben hat und ihr Verhältnis auch im Fall der Betonung von Primärreferenzen als bestenfalls ›orthogonal‹, also querzueinanderstehend, beschrieb. Funktionssysteme regeln je für sich nichts anderes als die Ordnung gesellschaftlicher Möglichkeiten im Spiegel binärer Codes wie Zahlung/NichtZahlung, Macht/Opposition, Glauben/Unglauben, Recht/Unrecht, Wahrheit/ Falschheit, Versetzung/Nichtversetzung. Wie man die positiven Werte dieser Codes realisiert und die negativen vermeidet, regeln sie nicht. Dies herauszufinden, bleibt den Organisationen überlassen, die auf ihre Programme zurückgreifen, um das eine auszuprobieren und das andere zu lassen, Erfahrungen zu sammeln, Strategien zu entwickeln, untereinander zu konkurrieren und zu imitieren, zu scheitern und sich neu zu gründen. Im Zentrum der Gesellschaft stehen keine Macht- und Unterdrückungsapparate, kein militärisch-industrieller Komplex, keine Herrschaftsformationen, kein Kapital als Herr über alle Formen der Arbeit, sondern eine unauflösbare und letztlich unversöhnliche Differenz: die Differenz von Codierung und Programmierung.10 Die Codierung verlässt sich auf Medien wie Geld, Macht, Wahrheit, Glauben, Recht und Schönheit; die Programmierung erprobt in diesen Medien alternative Formen: Investitionsprogramme, Wahlprogramme, Forschungsprogramme (Theorien und Methoden), Konfessionen, Rechtsverfahren und Stile. Die Programme können scheitern, reproduzieren aber selbst dann, mit ihrem Abfall, die Medien, aus denen sie gewonnen wurden. Die Medien bleiben außerhalb der jeweiligen Formen ungreifbar, konstituieren jedoch den Horizont gesellschaftlicher Möglichkeiten ineins mit der Notwendigkeit einer doppelten Entscheidung: einer Entscheidung für dieses oder jenes Medium und einer Entscheidung für diesen oder jenen Wert des binären Codes.
9 Niklas Luhmann, »Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, S. 72–161. 10 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, S. 90f.
Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss
203
Szene 2, Gebüsch Theodor W. Adorno hatte kein Problem damit, von der Soziologie als einer Wissenschaft von den Gesetzen und Funktionen der Gesellschaft in jenem Singular zu sprechen, an den sich auch Luhmann gehalten hat.11 Der Singular signalisiert ›Theorie‹, Theorie der Differenzierung in Luhmanns Fall, Theorie der Vermittlung aller dazugehörenden, statischen und dynamischen Momente in Adornos Fall. Keine Differenz gibt es zwischen diesen beiden Theorien, sobald man die so oder so von keinem Soziologen geteilte Auffassung aufgibt, dass die Differenzierung sich an irgendwelche funktionalen Regeln der Arbeitsteilung hält. Seit Durkheim ist die Arbeitsteilung selber laufend im Fluss. Und seit Comte formuliert der Begriff der Statik nicht etwa die festen Bestände der Gesellschaft, sondern das die Soziologie als Wissenschaft auf den Plan rufende und sie im Kern definierende Phänomen, dass jedes einzelne soziale Phänomen ein Phänomen unter anderen und daher mit diesen anderen Phänomenen im Medium des Einklangs oder des Konflikts abgestimmt ist.12 Um zu wissen, wie eine Familie funktioniert, fragt daher später Durkheim, muss ich wissen, wie ein Arbeitsmarkt funktioniert.13 Wenn ich wissen will, wie ein Dinner unter Intellektuellen in New York funktioniert, fragt noch später Harrison C. White, muss ich wissen, wie der Markt für Einfluss und Prestige an amerikanischen Universitäten, in Galerien, Museen und Verlagen funktioniert.14 Das eine Phänomen wird in Begriffen des anderen Phänomens beobachtet, beschrieben und erklärt. Adorno hat diese Dimension des Begriffs der Statik bei Comte interessanterweise überlesen und daher jenes Moment der Vermittlung geglaubt, nachtragen zu müssen, dass bei Comte längst mitgedacht ist.15 Der Begriff der Dynamik war hingegen schon fast so etwas wie eine Konzession an den Zeitgeist. Für die Entwicklung vom theologischen zum metaphysischen zum wissenschaftlichen Zeitalter würde sich vor allem das Publikum interessieren, meinte Comte. Die eigentliche wissenschaftliche Herausforderung stecke im Begriff der Statik. Da dieser Begriff der Statik dominiert und da die Gesellschaft immer komplizierter und komplexer werde (vielfältiger und uneinheitlicher), könne man von der Dynamik so oder so nichts anderes erwarten 11 Theodor W. Adorno, »Gesellschaft: Erste Fassung eines Soziologischen Exkurses« (1954), in: Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurter Adorno Blätter VIII, München 2003, S. 143–150. 12 Auguste Comte, Die Soziologie: Die positive Philosophie im Auszug, hg. von Friedrich Blaschke, Leipzig 1933, S. 83f. 13 Emile Durkheim, »La famille conjugale« (1892), in: Revue philosophique 90, 1921, S. 2–14. 14 Harrison C. White, Identity and Control: A Structural Theory of Action, Princeton, NJ 1992, S. 30. 15 Theodor W. Adorno, »Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien« (1961), in: ders., Gesammelte Schriften 8: Soziologische Schriften 1, Frankfurt/M. 1972, S. 217–237.
204
Dirk Baecker
als die Entwicklung zu einer »Ordnung gemäß ihrer zunehmenden Unvollkommenheit«.16 Noch in der Zueignung der Minima Moralia an Max Horkheimer betont Adorno, beide seien nur daran interessiert, die gesellschaftliche Substanz in der Erfahrung des Individuellen aufzuweisen.17 Die gesamte Dialektik der Aufklärung verfolgt kein anderes Ziel, als die Dialektik nachzuweisen, der jeder Prozess der Subjektivierung unterworfen ist.18 In der Odyssee gewinnt sich ein Subjekt, das umso distanzierter wird, je realitätsgerechter es wird, und schließlich ein Selbst gewinnt, das darin gipfelt, sich sich unterwerfen zu können. Im Verführungskalkül des Marquis de Sade kann das Vertrauen in den Menschen nur noch dadurch bewahrt werden, dass jedes Mitleid verneint und somit jede Zustimmung zu den Verhältnissen abgelehnt wird. Die Kulturindustrie, deren Schematismus den kantschen Schematismus selber übernimmt, zwingt dazu, den Versuch unternehmen zu müssen, wie die Kritik der reinen Vernunft zurückzunehmen wäre. Aber wohin wäre auszuweichen, wenn die Mimesis an die Verhältnisse nur in der Form des Faschismus zu praktizieren ist? Rein begrifflich unterscheidet sich diese Analyse von der luhmannschen nur dadurch, dass dort, wo bei Luhmann von einem Unruhefaktor die Rede ist, die realen historischen Verhältnisse beim Namen genannt werden: als Verhältnisse, unter denen jedes System auf eine Schikane hinausläuft und jede Unruhe die einer längst verwalteten Welt ist.19 Im ›Gebüsch‹ bewegt sich, wer sich mit minimaler Distanz von der sinnlichen Mannigfaltigkeit, die von Kant fast erschrocken den Regularien von Raum, Zeit und Gemeinsinn unterworfen wird, an die Hand nehmen lässt und jeden Schritt ins Offene, in die Übersicht, in den Zusammenhang vermeidet, weil genau hier die Schematismen zuschlagen, denen dann nicht mehr zu entkommen ist. Das Bild ist überzeichnet und es unterschlägt, dass mit den Regularien von Raum, Zeit und Gemeinsinn bei Kant nichts geregelt, sondern nur abgesteckt ist, auf welche Regeln man sich einlassen muss, um über alle Regeln verhandeln zu können. Aber das Bild trifft eine Form der Aufmerksamkeit, die immer dort, wo Schlussfolgerungen auf der Hand zu liegen scheinen, ein Zögern einbaut, das es erlaubt, den Mechanismen zu misstrauen, auf die man sich mit jeder Schlussfolgerung einlässt.
16 Comte, Die Soziologie, S. 87. 17 Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1969, S. 10. 18 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1969. 19 Theodor W. Adorno, »Graeculus (II): Notizen zu Philosophie und Gesellschaft 1943–1969«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurter Adorno Blätter VIII, München 2003, S. 9–41.
Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss
205
An die Interaktion glaubt im Übrigen auch Adorno nicht. Die Zeit der Konversation sei vorbei, heißt es in den Minima Moralia.20
Szene 3, Im Fluss Die Autobahnversion einer Theorie der Gesellschaft hat ihren Gravitationspunkt in der Differenz von Mediencodes und Organisationsprogrammen. Der Eindruck einer Autobahn, auf der man sich mit dieser Theorie bewegt, stammt daher, dass bereits sehr viel passiert sein muss, sehr viel Struktur ausprobiert worden sein muss, wenn von binären Codes und organisierten Entscheidungsprozessen redundant, also wiederholbar, die Rede sein kann. In Codes und Programmen tritt die Gesellschaft bereits strukturmächtig auf, so beweglich die Differenz der Codes untereinander und die Austauschbarkeit der Programme auch gehalten ist. Alles kann sich ändern, könnte man in Anspielung auf eine Lieblingsformel Luhmanns sagen, nur die Differenz zwischen Code und Programmen nicht, eine Differenz immerhin, die es mit dem Blick auf die Medien, denen die Codierung gilt, jederzeit zur Konkurrenz der Programme aufruft. Man beobachtet eine Wahlaussage – und kommt auf die Idee einer besseren. Man beobachtet die Markteinführung eines Produkts – und denkt an ein besseres Produkt. Man liest von einer Theorie – und denkt an eine andere. Man wird verurteilt – und sucht nach einem neuen Rechtsanwalt. Die Gebüschversion der Gesellschaftstheorie hat ihren Gravitationspunkt in der Differenz von Individuum und Gesellschaft. Diese Differenz ist umso unauflöslicher, je deutlicher sich beide Seiten der Differenz auf der jeweils anderen Seite abtragen und einzeichnen. In jedem Zug seiner Individualisierung misstraut das Individuum der Gesellschaft, die ihr dafür Anlass und Material geliefert hat. Und in jeder Schikane der Gesellschaft versteckt oder offenbart sich ein Individuum, das in ihr ausagiert, was ihm selber angetan wird. Und von einem Gebüsch darf hier die Rede sein, weil es keine Idiosynkrasie, keinen Wildwuchs gibt, in dem ein Individuum sich nicht prekär oder charakteristisch beheimaten könnte, keinen Kniff und keinen Trick, in dem nicht die Verwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse gegen deren Vermittlung gewendet werden könnte. In diesem Gebüsch bewegt sich das Gespräch, wie Alexander Kluge es praktiziert, dem Code ausweichend, das Ungefähre suchend, auf Gefühlen bestehend, Zeit gewinnend, möglichst einmalig und so auch unwiederholbar.21 In diesem Ge-
20 Adorno, Minima Moralia, S. 9. 21 Alexander Kluge, »Deutsches Kino«, in: ders. (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film: Zwanzig Jahre deutscher Film/Mitte 1983, Frankfurt/M. 1983, S. 141–191.
206
Dirk Baecker
büsch bewegt sich jedoch auch jede Geschichte, deren Pointe immer wieder die ist, dass sie keine hat, zumindest nicht da, wo man sie erwarten würde. Worin kann unter diesen Umständen eine Versöhnung der beiden Gesellschaftstheorien bestehen? Sicherlich bereits darin, dass man ihre Stärken herausarbeitet und sie nebeneinander bestehen lässt, sodass man die eine nutzen kann, wenn man auf der Autobahn unterwegs ist, und die andere, wenn es einen ins Gebüsch verschlagen hat. Unversöhnt bliebe unter diesen Umständen jedoch, dass Gespräche und Geschichten für Luhmann vernachlässigbar sind, so spannend es auch sein mag, mit Erving Goffman oder Harvey Sacks ihre Volten, ihr Rollenspiel, ihre sprachlichen Wendungen zu untersuchen.22 Letztlich übt man sich hier nur im Umgang mit jener doppelten Kontingenz, die in größeren Strukturen zu mächtigerer, vielfach jedoch auch undurchschaubarer Geltung kommen. Und unversöhnt bliebe, dass für Adorno eine noch so vermittelte Differenz von Codierung und Programmierung noch immer nur ein Name für das Falsche wäre, so sehr es sich mit Marx und Freud, mit Schönberg und Beckett auch lohnt, der Form und Subversion dieser Vermittlung auf die Spur zu kommen. Luhmann interessiert sich sehr dafür, wie es der Evolution von Mediencodes (beschränkt, wie sie sind, auf zwei und nur zwei Werte), aber auch der Arbeitswelt in Organisationen gelingen kann, individuellen Irritationen ihr Geheimnis abzulauschen und vielleicht zunächst Dichtung und Roman, dann aber Liebesgeschichte und Teamideologie zu werden. Und Adorno hat nicht nur Sinn für die Spuren des Falschen im Individuum, sondern auch für den Nachweis gesellschaftlicher oder besser geschichtlicher Ressourcen in individuellen Strategien, diesen Spuren auf die Spur zu kommen. Man konnte also miteinander reden, wie Kluge gezeigt hat,23 wenn auch sicherlich nicht so, dass eine Freundschaft gesucht worden wäre. Wie also, so müssen wir fragen, können die beiden Gravitationszentren zu einer dann möglicherweise elliptischen Gesellschaftstheorie versöhnt werden? Die Antwort auf diese Frage liegt nach dem Gesagten schon fast auf der Hand. Wenn es gelänge, Adorno davon zu überzeugen, dass sein und Horkheimers Verdacht gegenüber einer verwalteten Welt es nicht mit dem singulären Programm eines kapitalistischen oder, mit Max Weber, durchbürokratisierten Apparats, sondern mit dem Plural untereinander konkurrierender Programme zu tun hat, und wenn es gleichzeitig gelänge, Luhmann davon zu überzeugen, dass Interaktionen es nicht nur mit primär folgenloser Kommunikation, sondern mit einem für Mediencodes und Organisationsprogramme unverzichtba22 Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959; Harvey Sacks, Lectures, 1964–1965, hg. von Gail Jefferson, Amsterdam 1990. 23 Alexander Kluge, Das Labyrinth der zärtlichen Kraft: 166 Liebesgeschichten, Frankfurt/M. 2009, S. 513–517.
Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss
207
ren Gegenhalt in Wahrnehmungswelten zu tun haben, dann könnte man zwei blinde Flecken wechselseitig ausleuchten. Nimmt man hinzu, dass die Programme der Organisationen in einer Gesellschaft, in denen die Eindeutigkeit und Dominanz der funktionalen Differenzierung in Subsysteme der Gesellschaft zugunsten hybrider und heterogener Netzwerke verblasst, ihrerseits ein sehr viel größeres Spiel haben, als die Vernunft der geordneten Moderne es annahm (und die Katastrophen der Geschichte es immer wieder durchkreuzt haben), und zugleich die Interaktion in den längst nicht mehr auf Einbahnstraßen festgelegten Massenmedien unserer Tage einen sprachlichen, bildlichen, tonalen, emotionalen und intellektuellen Gehalt bekommt, der ganze Milieus, soziale Umwelten, Blasen und Sphären sichtbar und definierbar (sowie nicht zuletzt: algorithmisch durchsuchbar) macht – dann ist eigentlich längst deutlich, dass die elliptische Gesellschaftstheorie, nach der wir versöhnungshalber suchen, nicht zwei, sondern drei Achsen hat: die Codierung, die Programmierung und die Kritik. Der entscheidende Eingriff in beide Theorien ist die Auf- und Abwertung der Kritik. Gegenüber Luhmanns Gesellschaftstheorie wird die Kritik aufgewertet, indem darauf verwiesen wird, dass jede Interaktion, die Individuen, also zur Abweichung fähige, unabhängige Lebewesen aufweist, eine kritische Komponente nicht nur haben kann, sondern haben muss. Ein Individuum, das erweist sich in jeder Philosophie des Bewusstseins von Ren8 Descartes bis Jean-Paul Sartre, ist identisch mit seiner Fähigkeit zur Negation, worin auch immer weitere seiner Fähigkeiten bestehen mögen. Eine Interaktion zwischen Individuen, so eng die Rollen ausgelegt sein mögen und so wenig Spielraum ein Thema zu geben scheint, ist daher immer eine gegenüber Vorgaben aller Art kritische Interaktion. In Begriffen eines ›logischen Raums‹ / la Ludwig Wittgenstein kann man sagen, dass die Entweder/Oder-Operationen der Mediencodes und die Sowohl/ Als-auch-Operationen der Programme auf der Ebene einer kritischen Interaktion durch Weder/Noch-Operationen ergänzt, supplementiert und abgerundet werden. Die Interaktion bewegt sich strukturell in einem durch die Kritik alles Bestehenden, Überlieferten und Kommenden geöffneten Schweberaum der Negation. Diese Negation ist keine binäre, sondern eine generalisierte; sie fällt nicht bei nächstbester Gelegenheit in die Affirmation zurück, sondern öffnet einen Reflexionshorizont, in dem sich vom Ernsten über das Komische und Ironische bis zum Albernen alles nur Denkbare ereignen kann. Diese kritische Interaktion ist es, die den Mediencodes und Organisationsprogrammen ihre Fähigkeit zum Switch eröffnet. Anders käme man gar nicht von einer Möglichkeit zur nächsten. Gegenüber Adornos Gesellschaftstheorie wird dieselbe Kritik abgewertet. Sie ist nicht mehr nur das vornehme Geschäft darauf spezialisierter Intellektueller, die dank eines biographischen Zufalls, dank ihrer Bildungsprivilegien oder dank
208
Dirk Baecker
einer sublimen Fähigkeit zum Durchblick die Kritik für sich gepachtet haben. Und sie ist erst recht nicht mehr abhängig von der Fähigkeit, an einer Alternative zur Gesellschaft, und sei es in der Form der Utopie, festhalten zu können. Sondern diese Weder/Noch-Operation ist erste Willensäußerung des Kleinkinds, Trotz genannt, ebenso wie Begleitmusik zu jeder Pubertät, Quelle äußersten Vergnügens an jedem Stammtisch, mitlaufende Bedenkenträgerei in jeder Interaktion und erst dann auch jenes Unbehagen an Gesellschaft, das sich in Macht-, Geld-, Religions-, Wissenschafts- und Ideologiekritik äußert. Wäre der Alltag nicht ebenso unkritisch wie kritisch, gäbe es keine Gesellschaftskritik. Kritik ist ›demokratisch‹, wenn ich hier einmal mit einem beliebten Kategorienfehler von der Politik auf die Gesellschaft schließen darf. Sie steht nicht nur allen zur Verfügung, sondern sie wird allen abverlangt. Wer sich nur zustimmend zur Gesellschaft verhält, fällt raus. Und man glaube nicht, dass sich dies in totalitären Gesellschaften anders verhielte. Hier ist die Kritik verhaltener, subtiler, nur mit geschultem Auge (das sich gerade daran freut) zu erkennen, aber sie ist deswegen nicht abwesend. Es gilt also, an einer Gesellschaftstheorie zu arbeiten, die sich im Fluss befindet und auch das letzte Vorurteil gegenüber der Notwendigkeit gesellschaftlicher Strukturen aufgibt. Funktional notwendig ist nur die doppelte Differenz von Codierung, Programmierung und Kritik, jedoch keine einzige der Formen, in denen diese drei Ebenen der gesellschaftlichen Differenzierung miteinander vermittelt werden. Und da die Differenz eine Differenz im echten Sinne des Wortes ist, dass heißt jeden unterschiedenen Term in jedem der beiden anderen wieder auftauchen lässt, in ihn wieder eintreten lässt, wie mit George SpencerBrown zu formulieren wäre,24 eröffnet sich der Gesellschaftstheorie, endlich versöhnt, ein unendliches Feld des Studiums fraktaler Geschichten, Pläne, Formate, Rebellionen und Projekte.
24 George Spencer-Brown, Laws of Form (1969), Leipzig 2008.
News & Stories vom 5. Oktober 2014 (Kluge / Stiegler)
Der Philosoph als fliegender Fisch. Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert? Bernard Stiegler, führender Philosoph in London und Paris
ALEXANDER KLUGE: Die Logik der Sorge heißt Ihr Buch. Gemeint ist nicht die Angst der Sorge, sondern die Konzentration, die aufgrund von Sorge entsteht, die Hingabefähigkeit und die Restitutionsfähigkeit. Wir arbeiten seit 20.000 Jahren an einer Reinschrift, die heute notwendig ist. Was ist die Libido? BERNARD STIEGLER: Nach der ersten freudschen Analyse ist die Libido dasselbe wie der Sexualtrieb. Ab 1920 verändert Freud seine Definition und sagt, die Libido ist die »Triebwirtschaft«. Man muss einen Trieb auch nicht befriedigen. Man spart etwas ein. Es geht also nicht nur um den Sexualtrieb, sondern auch um die Veränderung, die Transformation des Triebs der Aggressivität, der Sexualität, des Lebenstrieb in jeglicher Form. Man formt es um in eine Art Investition. KLUGE: In den Menschen existiert eine innere Republik, die ihre Citoyens hat. Diese kleinen an Symbole ankristallisierten Wesenheiten bilden diesen Chor, aus dem die anderen Menschen, die Umgebung, die Umstände und das Begehren werden. Die rohen Triebe existieren nicht wirklich, sie sterben früh. Beim Säugling sind sie vorhanden, aber sie überstehen die Latenzzeit nicht. Sie kristallisieren sich neu, werden innere Bürger und eine Arbeitskraft. Was das Kapital ansaugt, besteht zum Teil aus diesen Steuerungen. Diese Mikroben sind kein Ich. Das Ich lebt nicht ohne sie. Das Ich ist eine Fiktion wie die Nation. Die Libido sind die Menschen in uns, die kleinen Männer im Ohr. STIEGLER: Die Libido ist eine Verinnerlichung der Libido der anderen, insbesondere zunächst der Libido der Eltern. In der freudschen Analyse gibt es den Text Das Ich und das Es. Wo Freud seine Analyse zusammenfasst, macht er eine Psychogenese des kindlichen Parapsychischen. Er sagt, das alles wird aufgebaut durch die Verinnerlichung des idealen Ichs der Eltern. Diese Verinnerlichung spukt im Inneren des parapsychischen Seins in diesem Ich des Einzelnen herum. Das geht einher mit der Erziehung, aber während der Erziehung wird der Bezug zum Trieb geändert. Ein Säugling, der zur Welt gekommen ist, ist ein Knäuel von Trieben. Es besteht aus allen möglichen Trieben, die sein Verhalten steuern, auch die Mutter, die Erzieherin oder den Erzieher, wer auch immer in der Lage ist,
210
News & Stories vom 5. Oktober 2014 (Kluge / Stiegler)
über die Primäridentifizierung, wie Freud sagt, dafür zu sorgen, dass das Kind lernt, diese Triebe nicht zu befriedigen, denn der Trieb verzehrt das Objekt. KLUGE: Sie stecken alles in den Mund, um es kennen zu lernen. Ich lerne durch die Eltern, durch den Widerstand, der mir geboten wird, dass ich unterscheide: Gift soll draußen bleiben. Das andere darf ich essen. Nach unten hin noch einmal: Ich darf nicht in das Bett machen, muss mich täglich entleeren. So sind überall, in der Nase, in den Ohren, eine Grenze und ein Trieb. Dies erst ist Motivation. Sie ist selber schon ein Kunstprodukt von mehreren Generationen, von Gesellschaften und dem Einzelnen. STIEGLER: Das ist Sorge tragen. Dieses Sorge tragen wird von einer therapeia eingeführt. Das ist eine Art und Weise, das pharmakon in der Gesellschaft von Gift zur Kur, zum Heilmittel, zum Sorgemittel umzufunktionieren. Die Eltern müssen dem Kind beibringen, etwas zurückzuhalten, nicht sofort Pipi zu machen. Diese Art des Zurückhaltens ist eine Art und Weise des Einsparens. Es erlaubt, ein gesellschaftliches Verhalten zu lernen, wodurch der Trieb zu einer Investition wird. Was ist eine Investition letztlich? Man behält Mittel zurück, um Projekte zu entwickeln, um etwas Höheres damit zu machen. KLUGE: Schon die Entstehung der Libido ist Unterscheidungsvermögen. In Grimms Märchen sehen Sie die Tür. Der Wolf hat Kreide gefressen und seine Pfote mit Kreide bestrichen. Ist er die Mutter, darf man ihn hereinlassen. Oder ist es Hitler? Die Märchen handeln von Türen, manchmal drei, manchmal zehn. Die Frage der Eingänge und Ausgänge ist das Dominium der Sorge. STIEGLER: Besorgen ist ein wichtiges Wort bei Heidegger. Im Französischen hat man das mit preoccupation übersetzt. Preoccupation ist nicht Sorge, sondern bei Heidegger ein Verfallen der Sorge, das Besorgen. Also preoccupation im Französischen ist »sich Sorgen machen«. Damit wird ein technischer Automatismus ausgelöst. Man weiß nicht mehr, warum man die Dinge tut. Letztlich geht der Sinn verloren. Diesen Punkt betone ich, weil wir im 21. Jahrhundert erleben, wie der Kredit zusammenbricht und zwar in jeglicher Form. Bildung und Erziehung werden von jungen Leuten nicht mehr als etwas absolut Notwendiges gesehen. In Frankreich hat es soziologische Studien gegeben, in denen gezeigt wird, dass die jungen Leute nicht mehr an die Liebe glauben. Was ist die Liebe? Es ist der Umbau oder die Veränderung eines Objekts des sexuellen Konsums in ein Objekt der Idealisierung, der Investition, der Unendlichkeit. Es ist schlimm und traurig, wenn man heute junge Leute hört, die fünfzehn, zwanzig Jahre alt sind und sagen: Liebe gibt es nicht. Es geht nur um den sexuellen Aspekt und nicht darum, dass man sich jemandem zuwendet und bei ihm bleibt. Paul Val8ry hatte bereits 1919, zum Ende des Ersten Weltkrieges, etwas Ähnliches festgestellt. Der Erste Weltkrieg bedeutet für Deutschland und Frankreich die Investition von riesigen Mitteln. Die größten Errungenschaften der Zivilisation, Mathematik, ethische
Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert?
211
Werte, wie Val8ry sagt, die Selbstaufopferung, der Mut, sind alle in den Dienst der Zerstörung gestellt worden. Millionen von Toten, Verletzten, Versehrten, Amputierten, Hunderttausende von Städten und Dörfern, die zerstört wurden, auf industrielle Weise mit riesigen Mitteln. 1919, sagt Paul Val8ry, entdecken wir, dass Zivilisationen sterblich sind. Was er beschreibt, ist dieser pharmakologische Charakter der Wissenschaft, der Moral, der Sittlichkeit. Wir entdecken also heute, sagt er, dass sich alles in sein Gegenteil verkehren kann. KLUGE: Karl Marx spricht von der ursprünglichen Akkumulation. Weil die Wolle in Amsterdam gute Preise bringt, werden die Bauern von ihren Cottages vertrieben, die Häuser verbrannt, Wiesen angelegt und Schafe darauf gesetzt. Wo Menschen ackerten weiden Schafe. Das ist die erste Stufe der Ausbeutung. Der Fleiß von Menschen, die Geschicklichkeit, die Arbeitskraft wird ausgebeutet. Sie entfaltet sich dadurch auch, wird einerseits besser und gehört anderseits nicht mehr den Menschen. Es ist nicht gefährlich, sagen Sie, dass die NSA unsere Handys mitliest, sondern dass unsere Libido okkupiert wird. Unserem Ich, dem Individuum, das nur mit anderen zusammen ein Individuum sein kann, wird die Basis entzogen, so wie der Westen die Köpfe in der Ukraine durch einen Markt besticht. Diesen Kampf kann man nicht vermeiden. Wir werden endgültig entfremdete Menschen sein, wenn wir unsere Libido an der Ladenkasse abgegeben haben. STIEGLER: Er sagt zwei wichtige Dinge, die zu verstehen geben, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Er zeigt, dass der Industriekapitalismus eine neue Beziehung zwischen Wissen und Wirtschaft schafft. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das akademische Wissen unabhängig von der Wirtschaft. Das war das symbolische Wissen, das der Macht der Kirche und dem Adel zur Verfügung stand. Ab dem 19. Jahrhundert wird dieses Wissen in die wirtschaftliche Entwicklung gesteckt und in die Akkumulierung von Kapital. Das verändert auch den Status des Wissens. Marx zeigt vor allem in den Grundrissen, dass dem Menschen sein Wissen entzogen wird und dass das Wissen mehr und mehr auf die Maschine, auf den Automatismus, übertragen wird. Schon 1848 hat er das Proletariat definiert als diejenigen Menschen, die ihr Know-how verloren haben. Die Proletarisierung der Arbeiter bedeutet, sagt er, dass man ihnen das Wissen, die Herstellungsfähigkeiten, nimmt. KLUGE: Von den Produktionsmitteln, von ihrem Wissen werden sie getrennt. Sie können in den Waren das eigene Produkt nicht wiedererkennen. Soweit ist das richtig, aber Sie sagen, es ist nicht vollständig. STIEGLER: Marx sagt das auch selbst. Das wird alle Produkte betreffen, sagt er, die ganze Industriewelt. Ich versuche zu zeigen, dass diese Proletarisierung im 20. Jahrhundert weitergegangen ist mit der Zerstörung des Savoir-vivre der Staatsbürger – das schreibt auch Adorno. Der Markt mit der Werbung, mit dem Marketing wird die Bürger um ihr Savoir-vivre bringen, wird ihnen vorschrei-
212
News & Stories vom 5. Oktober 2014 (Kluge / Stiegler)
ben, wie sie zu leben haben. Nicht der Einzelne findet, was er möchte, sondern es gibt Industrienormen, wie man Ferien zu machen hat, wie man seine Kinder zu erziehen hat, wie man zu essen hat. Das zerstört auch die Unterschiede zwischen den Kulturen. Im 21. Jahrhundert geht diese Proletarisierung weiter. Chris Anderson ist ein amerikanischer Industrieboss. 2008 wird er in einem Artikel mit der Aussage zitiert, dass wir mit der Digitaltechnologie keinen Wissenschaftler mehr brauchen, denn die Automaten der angewandten Mathematik sind in der Lage, mit Lichtgeschwindigkeit hundert Milliarden von Daten gleichzeitig zu bearbeiten. Damit kann man alle Probleme lösen, die der Sprache, des Gesundheitswesens, der Demographie. Wir brauchen keine Linguisten mehr. Wenn Sie sich mal anschauen wie Google automatische Übersetzungen erzeugt, dann sind das nur Statistiken, Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die angewandt werden, um die Verhaltensweisen der Menschen in Lichtgeschwindigkeit zu analysieren. Ich habe diesem Diskurs etwas gegenübergehalten, was sechs Monate später von Alan Greenspan gesagt wurde. Er war damals der Präsident der Federal Reserve und wurde vom Kongress der Vereinigten Staaten herbeizitiert. Die haben ihn gefragt: Wieso haben Sie die Subprimes gestattet? Wieso haben sie Madoff an der Spitze des NASDAQ, also der amerikanischen Börse, genehmigt? Sie haben nicht beschlossen, die Lehman Brothers Bank zu schützen. Damit ist eine Wirtschaftskatastrophe über uns hereingebrochen. Darauf hat Alan Greenspan gesagt, dass alles automatisch ist. Der Wirtschaftsnobelpreisträger hat erklärt, dass mit der Mathematisierung der Wirtschaft in der Tat eine Finanzwirtschaft, eine Industriewirtschaft geschaffen werden könne, die sich selbst reguliert. KLUGE: Sie sagen, dies ist für die Art des Menschen unrealistisch. Ich kann alles durch Wikipedia und durch Automatik ersetzen und habe eine weitere Prothese. Die Stimme einer Mutter für ihr Kind, die Kontakte in den ersten drei Tagen sind anders. Sie möchten die Welt von Derrida radikalisieren. Man muss an jedem einzelnen Punkt unseres Sinnensystems, bei den Augen anders als bei den Fußsohlen, bei den Ohren anders als beim Lesen, bei der Kooperation anders als in der Diskussion, jeweils eine Gegenbewegung – Lebenszeit gegen System – in Gang setzen. Wir müssen den Kapitalismus neu erfinden. Er ist nicht endgültig entstanden. STIEGLER: In Wirklichkeit geht es darum, eine libidinöse Ökonomie wiederzuerfinden. Diese Libido ist vom zeitgenössischen Kapitalismus zerstört worden. Auch wenn Max Weber gezeigt hat, dass der Anfangskapitalismus im 17. Jahrhundert eine Art neue Libido ist. Aber der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, um eben den Menschen mehr und mehr zum Konsum anzustacheln, hat eine Art Kurzschluss erzeugt bei der Veränderung der Libido in Investitionen durch Erziehung, durch Sublimierung. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben wir ein reines Triebfernsehen gesehen, also einen Indu-
Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert?
213
striepopulismus. Das stützt sich auf die Zerstörung der Libido, der Investition. Der Kapitalismus selbst ist auch ein Triebhaftes geworden. Der zeitgenössische Kapitalismus investiert nicht mehr, er spekuliert nur noch. Spekulation ist der Gewinntrieb. Man kann in der Tat eine Libido neu bauen mit der zeitgenössischen Pharmakologie und insbesondere mit der Digitaltechnologie. Ich behandele diese Fragen, indem ich mich nicht nur auf Freud und Lacan beziehe, sondern auch auf Donald Winnicott, der ein englischer Psychiater war und gezeigt hat, dass die Voraussetzung dafür, dass das Begehren der Mutter das Begehren des Kindes aufbaut, ein Pharmakon ist. Das ist das Transitionsobjekt, ein Artefakt. Winnicott sagt, dass all die großen Schöpfungsakte der Menschheit im künstlerischen Bereich oder wo auch immer, Veränderungen der Art und Weise sind, wie das Kind, der Säugling, mit der Puppe, mit dem Spielzeug spielt. Wenn er Picasso heißt, spielt er mit seinen Pinseln, wenn er Leonardo da Vinci heißt, mit der Architektur und wenn er Einstein heißt, spielt er mit der Relativität. Winnicott zeigt, dass die Kreativität des Menschen, seine Erfindungsgabe, die Realisierung seiner Libido, als Sublimierung, als Idealisierung ist und dass das immer mit der Pharmakologie zusammenhängt. Unter welchen Bedingungen kann das Pharmakon in den Dienst der Libido gestellt werden und nicht in den Dienst des Triebes? Eine andere zeitgenössische Frage in diesem Zusammenhang ist eine wirtschaftsökonomische Frage. Wie kann man die Industrietechnik unserer Zeit, also insbesondere die Digitaltechnologie, in den Dienst einer Gesellschaftsinvestition stellen, um die Libido wieder neu zu bauen? Wenn der Kapitalismus heute seine Funktionsweise nicht verändert und nicht ermöglicht, dieses System der Sorge zu verbessern, dann wird er sich selbst zerstören, weil er entropisch geworden ist. KLUGE: Gäbe es nicht Krisen, dann wäre er schon zerbrochen. Er generiert immer vom schwachen Teil her. Das geht nicht unendlich. STIEGLER: Zum einen ist er heute hegemonisch geworden. Die Ränder werden zerstört, er dominiert den ganzen Erdball. Andererseits ist es unverzichtbar, dass wir – was wir in unserem Verband ars industrialis, den ich vor neun Jahren gegründet habe, eine neue Makroökonomie nennen – mit einer neuen Verhandlung weltweit einen Wirtschaftsfrieden schaffen. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftskrieg geworden, der noch mehr als die ersten beiden Weltkriege zerstört. Die Arbeitsplatzzerstörung, die Zerstörung der gesellschaftlichen Bindungen, der Bildung, der Aufmerksamkeit, die man dem anderen Menschen entgegenbringt. 15 Prozent der amerikanischen Jugendlichen leiden an ADS, das auch vom Ritalin kommt. Es ist ein Derivat von Kokain. Wenn sie mehrere Jahre Ritalin genommen haben, verfallen sie in Depressionen. Dann gibt man ihnen Antidepressiva und sie werden letztendlich gefährlich. Das ist also ein System, das alle sozialen und gesellschaftlichen Regeln zerstört.
214
News & Stories vom 5. Oktober 2014 (Kluge / Stiegler)
KLUGE: Wenn Sie den Beruf des Philosophen beschreiben, sagen Sie, er sei wie ein fliegender Fisch. STIEGLER: Der Philosoph ist für mich ein Kämpfer für die Staatsbürgerlichkeit, für die Politeia, für die Möglichkeit, politisch zu agieren. KLUGE: Es geht um Bauzellen, die Lust haben zum Denken. STIEGLER: Ich unterrichte auch an der Universität, bin Professor. Ich halte es für wichtig, diese Aktivität weiter auszuüben und an den Hochschulen zu lehren. Bis ins 18. Jahrhundert waren die Philosophen auch immer Diplomaten. KLUGE: Leibniz ist ein Diplomat. STIEGLER: Er war auch Mathematiker und Ingenieur, denn er hat eine Rechenmaschine erfunden. Die Philosophen waren nicht von den anderen Wissenschaften abgeschnitten, auch nicht von der Technik und noch weniger vom politischen Leben. Sie haben auch Krieg geführt. Platon war sogar Sklave. Descartes ist im Krieg gewesen. Die Philosophie war damals eine Lebensweise. Michel Foucault sagt, dass es eine Art ist, sein Leben zu führen. KLUGE: Die Rolle des Philosophen hat heute nichts mit einer Schreibstube, nichts mit Gelehrsamkeit oder mit Universitäten zu tun. Das ist eine praktische Eigenschaft, die als Funke in jedem Menschen vorhanden ist. STIEGLER: Philosophie gehört »jedem«. Ich habe eine Schule gegründet, die online ist. Sie heißt Pharmakon.fr. Ungefähr tausend Studenten sind eingeschrieben. Manche von ihnen werden »Profis«, weil ich auch ein DoktorandenSeminar habe. Der Philosoph sollte heute das Pharmakon kritisieren. KLUGE: Kritik ist Unterscheidungsvermögen, nicht Ausgrenzung. STIEGLER: Discernement ist die Unterscheidungsfähigkeit. Das ist wichtig bei der Kritik, wo das Pharmakon zum Gift wird, aber auch da, wo es Therapie sein kann. Ich glaube nicht, dass der Philosoph selbst Therapeut sein muss. Die Gesellschaft muss entscheiden. Der Philosoph muss nicht, wie bei Platon, der Gesellschaft vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hat. Er muss Perspektiven vorschlagen, aber nichts aufzwingen. KLUGE: Fische in einem Teich wissen nichts von den Fischen in einem anderen Teich. Das Wasser, das sie umgibt, halten sie für vorgegeben. Sie können es nicht unterscheiden, weil sie nichts anderes kennen. So lebt jeder in seinem Teich. Der fliegende Fisch geht über mehrere Aggregatzustände. An dieser Nahtstelle, wo ich in Not komme, liegt die Erkenntnis. STIEGLER: Der fliegende Fisch ist das Symbol meiner Schule Pharmakon.fr. Das ist ein Bild, das ich im Gefängnis entwickelt habe. Dort habe ich viel Husserl gelesen und auch praktisch versucht, das anzuwenden, was Husserl sich vorstellt. Husserl sagt, dass er, um die Möglichkeiten des Wesens oder des Daseins der Welt zu verstehen, in der Lage sein muss, das Natürliche außer Kraft zu setzen. Dieses Natürliche ist der Glaube an die Welt. Man muss sich von diesem Glauben
Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert?
215
frei machen, um in sich selbst die Bedingungen und die Voraussetzungen für diesen Glauben zu finden. KLUGE: Das ist von Aristoteles bis hin zu den französischen Denkern eine Kontinuität. Der Tastsinn steckt in den Fingerspitzen, aber er setzt den ganzen Körper als Orientierung voraus, denn der rennt gegen die Wand, wenn ich falsch taste. Aber diese Voraussetzung vergesse ich. Genauso verhält es sich im Teich mit den anderen Fischen. In der Gewohnheit denke ich als Fisch nicht darüber nach, dass die anderen Teiche, also Paralleluniversen, vorhanden sind. STIEGLER: Das Bild des Fisches ist mir bei Aristoteles gekommen, insbesondere bei einem Traktat, das ich viel gelesen habe. Das ist der Traktat zur Seele. KLUGE: Über die drei Seelenkräfte. STIEGLER: Aristoteles sagt, dass das einzige, was ein Fisch nicht sehen kann, das Wasser ist, denn er ist immer im Wasser. Die einzige Möglichkeit, das Wasser zu sehen, ist das Herausspringen. Von diesem Moment an habe ich das Bild mit dem fliegenden Fisch entwickelt. Das Denken kann nicht von den Dingen der Welt konstituiert werden. Ich habe versucht, dem zu widersprechen. In meiner Zelle war ich aus der Welt herausgenommen, mir war die Welt entzogen worden. Gleichzeitig habe ich in meiner Zelle Bücher gehabt. Sie waren Spuren der Welt. Ich habe einen Bezug zur Welt behalten, aber mit einer sublimierten Welt, die Welt des fliegenden Fisches. Der fliegende Fisch ist derjenige, der sich aus seinem Milieu herausnehmen kann, der über seinen Schatten springt, der idealisiert, der auf eine andere Ebene kommt. KLUGE: Mit jedem Raub, den ein ökonomisches System an Menschen begeht, entsteht eine Erfindung auf der Seite der Menschen. Weil sie herausgeworfen werden, fangen sie an zu denken. Das ist kein Automatismus. Während es die Liebe, das Recht, die Wahrheit vielleicht nicht gibt, gibt es gewiss meine Unruhe, den Ursprung der Sorge. STIEGLER: Wie kann man die Vernunft, die Ratio, neu denken als Begehren? KLUGE: Das ist Montaigne. STIEGLER: Der Logos von Aristoteles hat einen Bezug zum Begehren. Heute muss man über Freud gehen und die Geschichte der Vernunft mit der Psychoanalyse neu interpretieren. Der Mensch wird, weil er ein pharmakologisches Wesen ist, nach oben gezogen zur Vernunft. Gleichzeitig ist er auch nach unten zum Trieb und zur Unvernunft gezogen. KLUGE: Mit welchem Beruf würden Sie den modernen Philosophen vergleichen? Ist das eher ein Partisan? Ist er ein Handwerker? STIEGLER: Ein chinesischer Arzt wäre das beste Bild. Die chinesische Medizin stützt sich auf eine Behandlung, wo der Arzt dafür sorgt, dass der Patient nicht zu ihm kommen muss. Er bringt dem Patienten sein Wissen, seine Therapie bei, damit der Patient auf ihn verzichten kann.
216
News & Stories vom 5. Oktober 2014 (Kluge / Stiegler)
KLUGE: Das wäre im Sinne von Sokrates. Der Philosoph ist dazu da, unnötig zu werden. Ein moderner Arzt ist eigentlich geschult, möglichst viele Patienten zu attrahieren. Er schummelt nicht, er macht sie nicht krank, aber er ist froh über jeden zusätzlichen, den er bekommt. Das ist das Gegenteil dessen, was ein Philosoph tut. Er entlässt in die Mündigkeit. STIEGLER: Immanuel Kant sagt in Was ist Aufklärung?, dass ein Arzt, der mir nicht beibringt, wie ich mich selbst heilen oder gesund erhalten kann, ein schlechter Arzt ist. KLUGE: Kant ist einer der besten Apotheker des Denkens.
Matthias Uecker
Sprechen und/oder Schreiben? Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
Als Gesprächskünstler ist Alexander Kluge eigentlich erst mit seinen Fernsehmagazinen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Zwar kommen auch in seinen Büchern und Filmen Dialoge und Gespräche vor, und für Interviews über seine Arbeit stand Kluge schon immer regelmäßig zur Verfügung, aber erst in den späten achtziger Jahren gesendeten Fernsehmagazinen PrimeTime Spätausgabe, News & Stories und 10vor11 profilierte er sich als Fragensteller, Organisator und Kurator von Gesprächen, in denen eine Vielzahl von Partnern zu Wort kommen und über ihre Fachgebiete, ihre Arbeit und aktuelle Themen sprechen. War das Gespräch zunächst eines unter mehreren Magazinformaten in Alexander Kluges Fernsehen, so ist es inzwischen zur dominanten Form avanciert. Die thematische Bandbreite dieser mittlerweile kaum mehr überschaubaren Gesprächsreihe, die Ästhetik ihrer Inszenierung, die Mischung von facts & fakes und die Gesprächs- und Fragetechnik Alexander Kluges sind vielfach besprochen worden.1 Weniger Aufmerksamkeit hat jedoch die Frage ihrer Medialität gefunden, also ihr spezifischer Ort im audiovisuellen Medium und in den unterschiedlichen Archiven, in denen wir zu diesen Gesprächen Zugang finden können. Das hat zum Teil wohl damit zu tun, dass Alexander Kluge selbst wenig Interesse an solchen Fragen zeigt und immer wieder betont hat, das eigentliche Medium – das einzige, das zählt – sei das Gehirn der Zuschauer. Aber diese Lücke in der Forschung scheint auch symptomatisch zu sein für eine pragmatisch begründete mediale Blindheit der Forschung, die sich ja weitgehend im Medium der Schrift artikuliert und im Prozess des Schreibens vielleicht vergisst, was mit den hör- und sichtbaren Elementen von Kluges Gesprächen vor sich geht. Ich möchte deshalb diese Medialität der Gespräche etwas genauer untersu1 Für einen Überblick vgl. Matthias Uecker, Anti-Fernsehen? Alexander Kluges Fernsehproduktionen, Marburg (Lahn) 2000, S. 101–121; Georg Seeßlen, »Interview/Technik oder Archäologie des kommenden Wissens. Anmerkungen zu den TV-Interviews Alexander Kluges«, in: Christian Schulte/Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 128–137.
218
Matthias Uecker
chen und nach ihrer Bedeutung für deren Rezeption fragen. Ich werde mit einer kleinen philologischen Bestandsaufnahme beginnen und an ein paar Beispielen zeigen, was beim Medientransfer der Gespräche aus dem Fernsehen ins Buch passieren kann, um daran einige Überlegungen zu den unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen der Gespräche in wechselnden Medien anzustellen. Das Fernsehen war, wie schon zu Beginn gesagt, der eigentliche Geburtsort für den Gesprächskünstler Kluge. Genauer gesagt, das deutsche Fernsehen der achtziger und neunziger Jahre, und in diesem Fernsehen fanden die Gespräche einen Platz im Nachtprogramm der kommerziellen Sender RTL und SAT1. Das war ein flüchtiges Medium: Programmankündigungen waren nicht immer zuverlässig oder vollständig, und was einmal gesendet war, konnte nur schwer wieder zugänglich gemacht werden. Immerhin gab es Videorekorder, mit denen Fans und Forscher die Sendungen aufzeichnen konnten, um sie wieder und wieder anzusehen, vielleicht zu analysieren oder zu protokollieren. Zu Beginn des Projekts DCTP hatte Kluge in Aussicht gestellt, dass man ausgewählte Magazine auch kommerziell auf Videokassetten vermarkten werde, aber diese Verbreitungsform ließ auf sich warten.2 Stattdessen begann Kluge, ausgewählte Gespräche transkribieren zu lassen und in Buchform zu verbreiten. Die langen und zu Recht berühmten Unterhaltungen mit Heiner Müller fanden wohl die größte Aufmerksamkeit, daneben gab es auch Gespräche mit dem ehemaligen Sowjetbotschafter Valentin Falin, mit dem Opernintendanten August Everding und mit Zeugen des Atomunfalls von Tschernobyl. Später folgte eine Auswahl der Gespräche mit Oskar Negt, während Christian Schulte und Reinald Gußmann eine Serie der inszenierten fake-Gespräche in Buchform publizierten und schließlich auch eine Auswahl von Joseph Vogls Fernsehgesprächen auf den Markt gebracht wurde.3 Der Sinn dieser Publikationen bestand wohl darin, die Gespräche in leicht zugänglicher Form zu archivieren und ihre Inhalte über den Moment der Ausstrahlung hinaus zu verbreiten. Die Sammlungen sind überwiegend auf spezifische Gesprächspartner fokussiert, seltener
2 Gertrud Koch/Heide Schlüpmann, »Nur Trümmern trau ich … Ein Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Hans Ulrich Reck (Hg.), Kanalarbeit. Medienstrategien im Wandel, Frankfurt/M. 1988, S. 13–28, hier S. 26. 3 Alexander Kluge/Heiner Müller, »Ich schulde der Welt einen Toten.« Gespräche, Hamburg 1995; Alexander Kluge/Heiner Müller, »Ich bin ein Landvermesser.« Gespräche mit Heiner Müller, Neue Folge, Hamburg 1996; Alexander Kluge/August Everding, Der Mann der 1000 Opern. Gespräche und Bilder, Hamburg 1998; Alexander Kluge, Interview mit dem Jahrhundert. Valentin Falin, Hamburg 1995; Alexander Kluge, Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl, Hamburg 1996; Oskar Negt/Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. I, Frankfurt/M. 2001; Alexander Kluge/Joseph Vogl, Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich/Berlin 2009; Christian Schulte/Reinald Gußmann (Hg.), Alexander Kluge: Facts & Fakes. Fernseh-Nachschriften, Berlin 2000–2003.
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
219
erinnern sie an wichtige Themen, und was Autoren und Verlage für verkaufbar hielten, mag wohl auch eine Rolle bei der Auswahl gespielt haben. Im Journalismus gehört die Verschriftlichung von Gesprächen zur Berufsroutine, es gibt allgemein anerkannte Konventionen darüber, wie man von der Tonaufzeichnung zum gedruckten Text gelangt.4 Während für psychologische und sozialwissenschaftliche Zwecke gesprächsanalytische Transkriptionstechniken entwickelt wurden, die die Einzelheiten des realen Sprechens möglichst originalgetreu in Schrift umsetzen sollen,5 werden solche Techniken im Journalismus für überflüssig gehalten. Grundsätzlich konzentrieren journalistische Transkriptionen sich auf den Inhalt, den sachlichen Informationsgehalt der Gespräche und tilgen fast alle Merkmale des mündlichen Sprechens, weil sie den Lesefluss stören, als lästige Fehler wahrgenommen werden und scheinbar keine wesentlichen Informationen enthalten. Daneben gibt es in der Literatur Traditionslinien, die das mündliche Sprechen, seine eventuellen Dialektfärbungen, aber auch seine syntaktischen Besonderheiten imitieren, um im Medium der Schrift neue Effekte zu erzielen. Solche Techniken arbeiten an einer Imitation und Neuschöpfung der mündlichen Rede und nicht an der Reproduktion realen Sprechens und sind deshalb in unserem Zusammenhang zu vernachlässigen. Wie man Alexander Kluges Gespräche klassifizieren soll, ist unsicher. Sein Status weist ihn als »Autor« aus, und Kluge hat die Implikationen dieser Rolle selbst ausführlich diskutiert.6 Manche seiner Fernsehgespräche sind theatralisch inszeniert, benutzen Kostüme und fiktionale Charaktere und könnten wohl als Beispiele einer szenischen Literatur beschrieben werden, in der reale Verhältnisse und Funktionsträger imitiert und ins Imaginäre getrieben werden. Die Mehrzahl der Gespräche allerdings dreht sich eher um beglaubigte Wirklichkeit und orientiert sich an dem Fachwissen von ausgewiesenen Experten, oft Buchautoren, die von den Ergebnissen ihrer Forschung berichten. Kluges Gespräche präsentieren Informationen und Ideen, seltener Erlebnisse und Standpunkte. Dass Kluge seine Gesprächspartner dabei gerne auch an den Rand ihres Wissens bringt und zu ungesicherten Spekulationen oder Gedankenspielen ermutigt, ändert am Informationsgehalt der Gespräche grundsätzlich wenig. Insofern liegt es nahe, sie mit journalistischen Interviews zu vergleichen und auch für ihre Verschriftlichung journalistische Standards zu erwarten. 4 Vgl. Wolf Schneider/Paul Josef Raue, Das neue Handbuch des Journalismus und des OnlineJournalismus, Reinbek b. H. 2012, S. 154f. 5 Vgl. Thorsten Dresing/Thorsten Pehl, Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschende, Marburg 2013. Online-Publikation www.audiotranskription.de/praxisbuch (Stand: 20. 03. 2016). 6 Vgl. Matthias Uecker, »Schreiben – Filmen – Sprechen. Inszenierung und Kommunikation in Alexander Kluges Autorschaft«, in: Sabine Kyora (Hg.), Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2014, S. 103–119.
220
Matthias Uecker
Ein Vergleich der publizierten Texte mit den originalen Sendungen bestätigt diese Erwartung. Offensichtlich finden die üblichen sprachlichen Korrekturen und Glättungen des Gesprochenen statt. Die kleinen syntaktischen Brüche, das Zögern, Suchen und die je nach Sprecher mehr oder weniger häufigen Öhs und Ähs werden aus dem gedruckten Text entfernt, um ihn überhaupt lesbar zu machen. Ein kurzer Ausschnitt aus einem Gespräch mit Heiner Müller soll zunächst diesen Vorgang illustrieren (und gleichzeitig auch die Schwierigkeit verdeutlichen, das in rein schriftlicher Form hier wiederzugeben): [Kluge:] Auf der einen Seite hast du einen Traktor als Erfindung, einen Raupenschlepper äh und [Stocken] Ziehgerät, äh, das der kann äh im Gelände fahren und Gräben einebnen und kann also mit der Erde auf ne spezifische Weise umgehen und zweitens n Schießstand, ne Artilleriestellung, die fahren kann. Und drittens Panzer. Und wenn du mal die Komponenten, weißt du? [Heiner Müller :] [Pause] Na ja. S Problem ist äh [Pause] äh, warum bin ich so fasziniert davon? [Lachen] Ne Frage, die ich mir selbst stelle, ne, warum fasziniert mich schon äh das Wort und die Vorstellung von Panzern? N? [Alexander Kluge:] Und auch Arbeiter, die das bauen. Ja? [Heiner Müller :] Und von den Arbeitern, die das bauen, klar.7
Ein solcher Text ist nur mühsam zu lesen, weil wesentliche Merkmale des Sprechens, die beim Zuhören allenfalls geringfügig irritieren, im gedruckten Text die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf anscheinend irrelevante Aspekte des Sprechens umlenken. In der Buchpublikation ist deshalb die Syntax weitgehend geglättet und alle Pausen sind verschwunden: Kluge: Auf der einen Seite hast du einen Traktor als Erfindung, einen Raupenschlepper und Ziehgerät, der kann im Gelände fahren und Gräben einebnen und kann mit der Erde auf eine spezifische Weise umgehen, und zweitens hast du einen Schießstand, eine Artilleriestellung, die fahren kann, und drittens einen Panzer. Wenn du mal die Komponenten eines Paniers zusammennimmst, was interessiert dich daran? Müller : Warum ich davon so fasziniert bin, ist eine Frage, die ich mir selbst stelle. Warum fasziniert mich schon allein das Wort und die Vorstellung von Panzern? Kluge: Und auch die Arbeiter, die das bauen.
Offensichtlich ist diese Fassung leichter zu lesen. Die Themen des Gesprächs sind genau reproduziert und – vor allem über längere Strecken – wesentlich einfacher zu identifizieren, doch der Vorgang des Sprechens und des in ihm 7 Das Gespräch »Im Zeichen des Mars. Charakterpanzer und Bewegungskrieg« findet man auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=bfXKtFrBQSs (Stand: 20. 03. 2016). Die verschriftlichte Form steht in Kluge/Müller, Ich schulde der Welt einen Toten, S. 83–91, hier S. 85. Korrigierte, etwas stärker am Duktus der Gespräche orientierte Transkriptionen findet man hier: https://kluge.library.cornell.edu/de/conversations/mueller (Stand: 20. 03. 2016). Die zitierte Passage wurde nicht in diese Transkriptionen aufgenommen.
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
221
artikulierten suchenden Denkens ist nur noch mühsam zu rekonstruieren, da er in der schriftlichen Fassung als Lesehindernis wirken würde. Auch Kommunikationsformen wie Kluges charakteristisches »Ja?« oder Müllers kurzes Lachen, wenn er über seine eigene Faszination mit Panzern nachdenkt, sind aus dem Text verschwunden. Das Buch präsentiert also das Gesprächsergebnis, aber nur Teile der kommunikativen Arbeit, die dieses Ergebnis produziert. Auch die spezifische Färbung der Stimmen ist im gedruckten Text nicht wiederzugeben, kann aber bei einigen wenigen Sprechern manchmal ungehört bei der Lektüre mitlaufen – Kluges eigenes Sprechen ist so charakteristisch, dass regelmäßige Zuschauer es auch in den gedruckten Texten erkennen werden, und das gilt wahrscheinlich ebenso für Heiner Müllers Stimme. Dieser Effekt setzt jedoch ein vorheriges Hören voraus und kann vom gedruckten Text allein ebenso wenig produziert werden, wie meine Darstellung sie für Leser evozieren kann, die sich nicht zuvor eingehört haben. Manche artikulatorischen Aspekte der Gespräche könnten, wie schon erwähnt, durch etablierte Transkriptionssysteme zumindest angedeutet werden. Allerdings eignen sich die Ergebnisse nicht zur Lektüre, sondern allenfalls als Basis einer Analyse, die vor allem an Aspekten des Gesprächsverlaufs und der Verhaltensanalyse interessiert ist. Die Publikationen von Kluges Fernsehgesprächen nutzen solche Techniken aus verständlichen Gründen nicht, aber Kathrin Lämmle hat in einer Untersuchung zu diesen Gesprächen eine Reihe von Transkriptionen erstellt, die das Prinzip und seine Leistungen illustrieren.8 Ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit Jakob Augstein sieht dann beispielsweise so aus: JA: nein, das (wär su(h)per für uns (lacht)) dann könnten wir mit dem Suhrkamp Verlag eine Me,dien;partner AK: muss man aber erst Autoren haben ja, also Dietmar Dath würde das ja schaffn. ja, nich; JA:
AK: aber s so=ne proletarische Revolution .h is nich so einfach zu besetzen nich; JA: Sie meinen, was das intellektuelle Personal angeht AK: denk ich mir, (.) ja;9
Zwar kann man, bei entsprechendem Training, der Transkription zusätzliche Informationen zur Sprechweise entnehmen, aber die gerade in der hier gewählten Passage entscheidenden performativen Aspekte fehlen immer noch. Augsteins Ton und Gesichtsausdruck demonstrieren unverkennbar, was der 8 Kathrin Lämmle, Televisuelle Intellektualität. Möglichkeitsräume in Alexander Kluges Fernsehmagazinen, Konstanz 2013. 9 Ebd., S. 200f. Die Videoaufzeichnung des Films findet man hier : http://www.dctp.tv/filme/ jakob-augstein-freitag/ (Stand: 20. 03. 2016).
222
Matthias Uecker
Redetext allenfalls andeutet – eine Zurückweisung von Kluges Bedenken, die nicht argumentativ begründet ist, sondern in einer ganz anderen Prioritätensetzung. Und umgekehrt verstärkt Alexander Kluges Tonfall die von ihm artikulierte Skepsis über Augsteins Projekt. Was in der Transkription des Gesprächs allenfalls zu erahnen ist, ist in der Videoaufzeichnung ohne weitere Erklärung offensichtlich: die beiden Gesprächspartner verstehen sich nicht, sie reden zwar nicht gerade an einander vorbei, aber sie nehmen die Position des anderen nicht ernst – ein in Kluges Fernsehgesprächen übrigens sehr seltenes Ereignis. Das wird über Artikulation und Tonfall hinaus auch durch den Gesichtsausdruck Augsteins signalisiert. Christa Blümlinger hat darauf hingewiesen, dass die Kameraführung in diesen Gesprächen durch die kaum bewegte Nahaufnahme ein »visuelle[s] Studium« der Gesichter von Kluges Gesprächspartnern betreibt und den Zuschauern auch optisch vorführt, wie sie denken, sprechen und sich dabei körperlich artikulieren.10 Nicht nur Stimmen und Sprechweisen, sondern auch Körperhaltungen und Gesichtsausdruck sind Bestandteile der kommunikativen Arbeit, die in der Verschriftlichung verschwinden. Alles, was die Sprechenden sinnlich individuiert, was also über Wortwahl und Ideenproduktion hinausgeht, kann in einer journalistischen Transkriptionstechnik, die allein den manifesten Inhalt wiedergibt, nicht erhalten werden. Ein letzter wesentlicher Unterschied wurde schon angedeutet: Genauso wie Sprechweisen homogenisiert und Stimmlagen oder Körperhaltungen ausgeblendet werden, müssen auch die tatsächlichen zeitlichen Abläufe der Gespräche in der Verschriftlichung vereinheitlicht werden. Wenn Kluges Gesprächspartner von seinen Fragen überrascht sind, wenn sie nachdenken, bevor sie sprechen, oder mehrfach Anlauf nehmen, um einen Satz zu formulieren, so ist das in den Transkriptionen nicht mehr zu erkennen. Der gedruckte Text hält das Ergebnis fest, aber eliminiert den Prozess, der dieses Ergebnis hervorgebracht hat. Wir haben bisher gesehen, dass in der Verschriftlichung notwendig gewisse performative Dimensionen der Gespräche verlorengehen. Das hat mit den Differenzen der Medien zu tun, aber auch mit der im Journalismus akzeptierten Annahme, diese Dimensionen trügen zum Informationsgehalt von Gesprächen nichts Entscheidendes bei. Tatsächlich lassen sich viele dieser Elemente nur schwer versprachlichen oder wirksam beschreiben, und mit dem manifesten Inhalt der Gespräche scheinen sie allenfalls tangentiell verbunden zu sein. Aber ein stichprobenartiger Vergleich offenbart noch weitere Eingriffe, die zwar auch im Rahmen der Konventionen liegen, aber den Inhalt und Charakter der Gespräche doch schon nachhaltiger verändern. Wir wissen aus dem Fernsehen, dass Alexander Kluges Gespräche das Produkt einer ganz spezifischen Koope10 Christa Blümlinger, »Rededispositiv und Filmbegriff in Kluges Kulturmagazinen«, in: Schulte/Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen, S. 105–117, hier S. 106.
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
223
ration sind, die sich in Kluges Rede- und Fragetechnik organisiert. Kluge unterbricht, fragt nach, kommentiert, ermutigt dauernd, und häufig benutzt er dazu kleinste sprachliche Signale, die aber in den Transkriptionen entweder ganz fehlen oder deutlich reduziert sind. Nicht nur der individuelle Redefluss, sondern auch der Austausch der Gesprächspartner wird in der schriftlichen Form stark vereinfacht. Häufig werden dabei Gedankengänge und Argumentationen übersichtlicher – auch das eine konventionelle Technik der Verschriftlichung. Manchmal verschwindet aber auch der Kooperationsprozess, der das Gespräch ursprünglich charakterisierte, so dass nur noch dessen Resultat erkennbar ist. So verkürzt beispielsweise die Wiedergabe eines Gespräches mit der weißrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch den Prozess des Nachfragens und Aushandelns zwischen Kluge und der Autorin – im Original noch weiter kompliziert durch die Beteiligung einer Dolmetscherin. Was im Gespräch eine Minute und 45 Sekunden dauert und mehrfache Nachfragen, Unterbrechungen und Erklärungen Kluges enthält, ist im Buch auf zwei kurze Absätze zusammengeschrumpft: Kluge Kann man die menschliche Seele mit etwas vergleichen? Kann man sie mit einem Gummi vergleichen? Sie ist ja ungeheuer dehnbar. Alexijewitsch Der Mensch ist eher fließend. Er ist so unzerstörbar, er verändert sich, sie sind alle so verschiedenartig. Wir leben zwei verschiedene Leben, das bewußte Leben und das unbewußte. Mit dem Bewußtsein verstehen wir, was geschieht, die Menschen verstehen ja irgendwie. Das Unbewußte diktiert die früheren Spielregeln, die Verhältnisse, anders kann ich das nicht erklären. Alle wissen doch, was passiert, was geschieht, und zugleich treffen die Menschen eine solche Wahl. Ich habe immer mehr das Gefühl, daß ich viele Dinge nicht erklären kann.11
Dabei fehlen nicht nur die einigermaßen komplizierten Austauschprozesse zwischen Kluge, Alexijewitsch und der Dolmetscherin, deren deutsche Übersetzung die Grundlage für den hier Alexijewitsch zugeschriebenen Text bildet, sondern auch ein für Alexijewitsch offensichtlich wichtiger Hinweis auf den geistigen Hintergrund ihrer Erläuterungen: Zweimal nämlich erwähnt sie, dass die Vorstellung vom »fließenden« Menschen auf ein Zitat von Tolstoi zurückgeht. Hört man dem Originalgespräch zu, so stellt sich der Eindruck ein, dass Kluge diesen Hinweis gar nicht gehört und aufgenommen hat, weil er zunächst Schwierigkeiten mit dem Inhalt der Aussage hat. Gestrichen ist aber auch Kluges Selbstkorrektur, der nach der ersten Antwort seiner Gesprächspartnerin seine Gummi-Metapher zurücknimmt und durch das Bild des Wassers ersetzt und 11 Der zitierte Gesprächsausschnitt findet sich als Video hier : http://www.dctp.tv/filme/kannman-seele-gummi-vergleichen/ (Stand: 20. 03. 2016). Die Schriftfassung stammt aus Alexander Kluge, Die Wächter des Sarkophags, S. 147f.
224
Matthias Uecker
dann einen komplizierten, mit der Metapher nicht recht kompatiblen Gegensatz von Anpassung und Unverständnis entwickelt, der den Ausgangspunkt für Alexijewitschs weitere Ausführungen bildet. Erneut ist der Kommunikationsund Denkprozess, der durch das Gespräch ermöglicht wurde, zu Gunsten des Resultats verkürzt worden. Neben solchen Vereinfachungen und Auslassungen finden sich gelegentlich auch unerwartete inhaltliche Korrekturen: In einem Gespräch über das Jahr 1923 hatte Kluge Oskar Negt nach Rosa Luxemburg gefragt und dabei eine historisch unzutreffende Beschreibung der marxistischen Politikerin angerissen, die Negt wahrscheinlich gar nicht gehört hatte. Jedenfalls geht er in seiner Antwort auf diese Beschreibung nicht ein. Die gedruckte Fassung des Gesprächs fügt jedoch eine Korrektur ein, die im Zitat hier (aber nicht in der Buchfassung) kursiv hervorgehoben ist: Negt widerspricht Kluge und stellt seinen Fehler richtig. Kluge Radek kannte doch Rosa Luxemburg persönlich? Negt Ja, natürlich. Kluge Er war doch bei der Gründung der KP zu Silvester 1918 dabei. Wenn du mir mal Rosa Luxemburg beschreibst. Eine Frau, groß … Negt Nein, sehr klein, mit einem Fuß hinkend. Rosa Luxemburg gehört zu denjenigen, die in der alten Sozialdemokratie aufgewachsen sind. Im Unterschied zu andren Sozialisten sieht sie die entscheidende Wende, um den revolutionären Impuls und die Demokratie einzuklagen, schon 1905, zum Zeitpunkt der ersten Russischen Revolution.12
In der Einleitung zu seinen Neuen Geschichten hatte Kluge es 1978 abgelehnt, »die niedergeschriebenen Geschichten nachträglich ›auszubessern‹« und Irrtümer »durch Zusätze auf[zu]klären«, weil dadurch die der Geschichte zugrundeliegende Koppelung von Form und Gefühl zerstört würde. Die Fehler hätten einen Sinn und sollten daher auch nicht korrigiert werden.13 Was er damals ablehnte, scheint er nun zu praktizieren. Vielleicht war es Negt, der um den Zusatz gebeten hat, weil das, was ihm im Tempo des Austauschs nicht aufgefallen war, in der Ruhe der Lektüre als Fehler stört? Immerhin bleibt Kluges ursprünglicher Irrtum stehen, und wir können darüber nachdenken, warum er sich Rosa Luxemburg als große, womöglich imposante Erscheinung vorstellt. Eine andere Dimension der Korrektur ist vielleicht problematischer : Kluges 12 Negt/Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 205. Das Video findet sich auf http://www.dctp.tv/ filme/albert-leo-schlageter/ (Stand: 20. 03. 2016). 13 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 11. Vgl. auch den Erzählerkommentar aus Kluges Film Die Patriotin, in dem es über die Korrekturarbeit der Geschichtslehrerin Gabi Teichert heißt: »sie schmeißt die Fehler raus. Sie ist dazu verpflichtet … Wenn doch die Fehler das Beste daran sind.« Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1–6, Frankfurt/M. 1979, S. 92.
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
225
Frage verlangt dem Gesprächspartner, ganz charakteristisch, eine Verbindung von unmittelbarer Konkretion und Vorstellungskraft ab. Negt jedoch antwortet spontan mit einer politisch-theoretischen Charakterisierung, in der die reale Figur völlig verschwindet hinter ihren Positionen. Dieses Verfehlen der Frage wird in der nachträglichen Korrektur wenigstens teilweise kaschiert. Eine letzte Dimension der Verschriftlichung betrifft schließlich die Gesprächssituation selbst. Nicht wenige von Kluges Fernsehgesprächen wurden in öffentlichen Räumen aufgezeichnet und sind mit Hintergrundgeräuschen unterlegt. Das mag als Störung und Missachtung professioneller Aufnahmestandards wirken, wird aber von Kluge offenbar als durchaus wichtiges atmosphärisches Element dieser Gespräche beurteilt, das auf deren Verlauf Einfluss nehmen kann. Ausdrücklich beschreibt er das in seinem neuesten Buch, Kongs große Stunde: Das Gespräch fand in der von Sonne stark und wechselhaft erfaßten wintergartenähnlichen Vorhalle zum zweiten Stock des Gebäudes IV des Frankfurter Messegeländes statt. Durchrauscht waren die Räume vom Gelaufe Tausender, welche die Buchmesse füllten. So fühlten wir beiden Gesprächsteilnehmer uns sozial umgeben und beschwingt, ähnlich dem Zustand Angetrunkener.14
Häufiger sind freilich die eher abgeschirmten, ganz auf Kluges Gesprächspartner fokussierten Situationen, die in der Verschriftlichung angemessener reproduziert werden können. Dass die reale Aufzeichnung technisches Personal verlangt, ist auch im Fernsehen nicht direkt wahrzunehmen. Allerdings verschiebt die Verschriftlichung noch einmal die Balance zwischen den Gesprächspartnern, weil Kluges Abwesenheit aus dem Bild (allenfalls sein Hinterkopf erscheint manchmal) und die Konzentration der Kamera auf seine Gesprächspartner in den Buchfassungen durch eine gleichgewichtige Repräsentation von Redeinhalten ersetzt wird, so dass die unterschiedlichen Rollen der Gesprächspartner verschwinden. Auch die medialen Rahmungen der Fernsehgespräche verschwinden zum größten Teil. Zwar geben die Buchversionen in der Regel die Titel und Zwischenüberschriften wieder, mit denen Kluge die Gespräche einleitet und gliedert, doch auf die Wiedergabe von zusätzlichem Bildmaterial wird meist verzichtet, und die für Kluge so wichtige Musik, die oft am Anfang und am Ende der Gespräche eingeblendet wird, ist natürlich in den Texten nicht mehr enthalten. Sind solche Veränderungen wichtig? Verfälschen Sie die Gespräche oder handelt es sich lediglich um Kleinigkeiten, die außerhalb des akademischen Forschungsbetriebs kein normaler Rezipient bemerken würde? Eine morali14 Alexander Kluge, Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Berlin 2015, Kapitel 11, Nr. 4, »Durch Armut reich: das Ich«.
226
Matthias Uecker
sierende Beurteilung, wie sie in der ersten Deutung vorgenommen wird, ist wenig hilfreich und verschiebt die Analyse auf ein falsches Terrain, aber die Marginalisierung der gerade beschriebenen Befunde verfehlt das Problem ebenso, zumal die Beobachtung der intermedialen Veränderungsprozesse sich darauf berufen kann, dass Kluge selbst den sinnlichen Qualitäten der Gespräche immer wieder eine besondere Bedeutung bescheinigt hat. Das Verhältnis dieser Elemente zum Inhalt der Gespräche ist selten eindeutig – sie schaffen eine Stimmung und eröffnen »Möglichkeitsräume«,15 in denen die Zuschauer Platz für eigene Ideen und Assoziationen finden, wenn sie das Angebot nutzen. Dementsprechend wird jeder Zuschauer anders mit diesem Angebot umgehen. Entscheidend sind jedoch die Veränderungen, die das Sprechen selbst betreffen. Wenn er einem Gesprächspartner zuhöre, hat Kluge verschiedentlich erklärt, gehe es nicht nur darum, was der sage, sondern immer auch darum, wie er es sage. Der Ton des Gesprächs und im weiteren Sinne seine performativen Qualitäten machen einen wesentlichen Teil der Interaktion aus, sie bestimmen, wohin Kluges Aufmerksamkeit strömt und wem er vertraut. Joseph Vogl hat neben dem »Ton« der Gespräche auch die besondere Konzentration der Fernsehmagazine auf das Gesicht der Sprechenden hervorgehoben: Während Alexander Kluge selbst nur als Stimme präsent sei, werde das Gesicht seiner Gesprächspartner zum »Schauplatz eines Mikrodramas«, eine »Ausdrucksmaterie«, die für den Verlauf und die Wirkung der Gespräche von entscheidender Bedeutung ist.16 Was Kluge als »Echtheit der Sprache« bezeichnet hat,17 die Möglichkeit, aus Ton und Sprechweise (sowie anderen Aspekten der physischen Performanz) auf den Erfahrungsgehalt des Gesagten zu schließen, ist in der Verschriftlichung auch mit dem besten Willen allenfalls bei großer Vertrautheit mit den Sprechenden noch zu realisieren. Insofern sind die kleinen Glättungen und Korrekturen tatsächlich nicht entscheidend, weil sie den eigentlichen Verlust, der im Medientransfer auftritt, gar nicht mehr betreffen. Allerdings verstärken sie den der Verschriftlichung inhärenten Standardisierungs- und Normalisierungsprozess und verzichten darauf, Irritationssignale zu setzen, die auf den ursprünglich mündlichen Charakter der Gespräche zurückverweisen. So wird die Aufmerksamkeit ganz auf den Inhalt, auf die Informationen und Ideen gelenkt, weil der Prozess ihrer Artikulation in der Schrift kaum noch erkennbar ist. Ob ein Gedanke schon fertig war, bevor das Gespräch begann, oder ob er – allmählich oder blitzartig – im Gespräch selbst verfertigt wurde, kann man den 15 Lämmle, Televisuelle Intellektualität, S. 255. 16 Joseph Vogl, »Kluges Fragen«, in: Maske und Kothurn 53 (2007), S. 119–128, hier S. 125. 17 Astrid Deuber-Mankowsky/Giaco Schießer, »In der Echtzeit der Gefühle. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 361–369, hier S. 364.
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
227
Schriftfassungen kaum noch ablesen. In ihrer schriftlichen Form sind die Gespräche ganz auf »Argumente und Aussagen« konzentriert, aber die Individualität der Sprechenden und deren Rolle in der gemeinsamen Produktion dieser Aussagen verschwindet weitgehend.18 Damit ist eine zweite Verschiebung verbunden, die weniger die spezifischen sinnlichen Qualitäten der Performanz betrifft als vielmehr ihren Zeitcharakter. Im audiovisuellen Medium hängt der zeitliche Ablauf ganz von den Sprechenden ab. Ihr Denk- und Redetempo, das mit all seinen Pausen und Stockungen in Kluges Konzeption die »Echtzeit der Gefühle«19 widerspiegelt, setzt sich unmittelbar in verflossene Zeit um, der die Zuschauer folgen müssen. Sie können allenfalls die Aufzeichnung anhalten, wiederholen und – ohne verständlichen Ton – vorspulen, wenn sie in den Ablauf eingreifen wollen. Der gedruckte Text macht aber die Leser vom Ablauf des Originals unabhängig. Das Lesetempo bestimmen sie selbst, und geübte Leser werden womöglich ganze Seiten auf einen Blick erfassen – auch wenn dabei vieles verloren geht. Häufig wird die Lektüre schneller sein als das ursprüngliche Sprechen, weil nicht nur die kurzen Pausen des Gesprächs fehlen, sondern auch der gedankliche Nachvollzug des Gesagten in der Regel weniger Zeit beansprucht. Aber gelegentlich werden die Leser vielleicht auch innehalten, die Lektüre unterbrechen und über eine neue Idee nachdenken, eine Information recherchieren, die Schlüssigkeit des Textes nachprüfen. Das verändert die Rezeption der Gespräche grundsätzlich, und auf eine Weise, die nur schwer konkret zu beschreiben ist, da sie letztlich vom individuellen Leser/Zuschauer abhängt. Ich muss also kurz eine ganz persönliche Rezeptionshaltung beschreiben, und hoffe, dass diese wiedererkannt wird: Wenn der abstrakte Vergleich von Gespräch und Text zunächst nahelegt, dass die Lektüre beschleunigend wirkt, muss demgegenüber die Erfahrung festgehalten werden, dass beim Zuschauen der eigene Gedankenstrom an bestimmten Stellen so angeregt wird, dass ich vorübergehend nicht dem Gespräch folge, sondern mich eigensinnig von ihm weg bewege, eine Idee entwickele, eine aus dem Zusammenstoß von Gehörtem und Gedachtem produzierte Assoziation entfalte, während Kluge und seine Gesprächspartner auf ihrem eigenen Weg weiterschreiten. Irgendwann klinke ich mich wieder in das Gespräch ein, und meine Abschweifung wird wohl verloren gehen, vielleicht aber auch das wichtigste Ergebnis der Rezeption bilden. Im Verlauf eines längeren Gesprächs kann das mehrfach geschehen – oder auch niemals. In dieser Rezeption geht etwas verloren, weil meine Aufmerksamkeit vorübergehend nicht dem Gesprächsverlauf gilt, aber es wird vielleicht auch
18 Vgl. Vogl, »Kluges Fragen«, S. 126. 19 Deuber-Mankowski/Schießer, »In der Echtzeit der Gefühle«, S. 367.
228
Matthias Uecker
etwas produziert, das in Kluges eigener Theorie wichtiger ist als der vollständige Nachvollzug der Gesprächsinhalte. In den Gesprächssituationen produziert Kluge neue, über den bloßen Informationsgehalt hinausgehende Inhalte, die sich nicht in den Informationen erschöpfen und auch nur schwer sprachlich zu artikulieren sind. Die gemeinsame Arbeit von Kluge und seinen Gesprächspartnern nimmt dabei bewusst Ungenauigkeiten und Missverständnisse in Kauf, weil an diesen Stellen jene Lücken entstehen, die ansonsten für Kluges Montagepraxis im Film charakteristisch sind. Aus dem zuweilen ungesicherten, spekulativen Fortschreiten der Gespräche erwachsen daher Risiken für die Verschriftlichung, die es nämlich nahelegt, bei der Leküre zuerst auf die Richtigkeit oder Plausibilität der Informationen und Ideen zu achten, statt auf den Prozess ihrer Verfertigung beim Sprechen. Die Lektüre funktioniert eben ganz anders als das Zuhören. Wenn ich über eine neue Idee nachdenke, werde ich nicht gleichzeitig weiterlesen. Rezeption und Produktion können voneinander getrennt werden. Komplexe Inhalte sind leichter zu verstehen, weil ich Pausen machen kann, ohne etwas Wichtiges zu versäumen. Aber weil Aufmerksamkeit und Material leichter zu synchronisieren sind, ist die Rezeption vielleicht auch weniger produktiv. Das Lesen fordert mir nicht jene Geistesgegenwart ab, die die audiovisuelle Rezeption kennzeichnet, es erlaubt mir, die Inhalte des Gesprächs einer genaueren Prüfung zu unterziehen, aber verdrängt dabei vielleicht zugleich jene Chancen für ein freieres Assoziieren, das sich im Nachverfolgen der mündlichen Gespräche ergibt. An die Stelle der eigenen Produktion, die vom Gespräch angestoßen wird, tritt deshalb womöglich eine buchhalterische Kritik. Ohne auf die Verschiedenheit der Medien einzugehen, hat Kluge im Gespräch mit Joseph Vogl diese Unterscheidung erläutert: Das »kritische Vermögen – das Vermögen, Unterscheidungen zu treffen –, das ist eine verdeckte Eigenschaft, von der wir selbst nichts wissen. Wenn ich nur das Bewußtsein anstrenge, dann ist es nie kritisch genug. Das heißt, es mag kritisch sein, kann aber nichts ausüben, nichts verhindern.«20 Das Kritische müsse an der »Schwelle des Absichtsvollen und Nicht-Absichtsvollen« lokalisiert werden, ergänzt Vogl, weil dort der Automatismus der Schlussfolgerung unterbrochen werde.21 Ich kann das hier nicht ausreichend belegen, möchte aber die These aufstellen, dass die gedruckten Gespräche die kritische Arbeit von dieser Schwelle abziehen und stattdessen die Aufmerksamkeit auf jenes relativ gesicherte, disziplinär organisierte Wissen zurücklenken, an dessen Erweiterung viele von 20 Kluge/Vogl, Soll und Haben, S. 7. 21 Ebd., S. 15. Das hier Gesagte kann auch verbunden werden mit den oben zitierten Überlegungen Swetlana Alexijewitschs über die Spannungen zwischen bewussten und unbewussten Elementen des menschlichen Verhaltens.
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
229
Kluges Gesprächspartnern eigentlich arbeiten, dessen territoriale Konstruktion jedoch von Kluge durch die Techniken seiner Gesprächsführung in Frage gestellt wird.22 Kluges Gespräche zielen auf etwas »Ungefähres«, das die Ressourcen der Wissenschaft als Ausgangspunkt für etwas Neues benutzt, das jenseits der manifesten Informationen liegt.23 Nun hat Kluge neben den hier diskutierten Transkriptionen seiner Fernsehgespräche immer auch die Gesprächsform als Element seiner Geschichten verwendet. Hier handelt es sich nicht um Mitschriften, sondern um literarische Texte, die in Ergänzung oder Konkurrenz zu anekdotisch-erzählenden und theoretisch-reflektierenden Darstellungsformen treten, um die Stoffkomplexe von Kluges Büchern zu präsentieren. Diese Gespräche sind von vornherein für die Schriftform konzipiert. Es sind kurze Dialoge, oft nur wenige Zeilen lang, selten mehr als eine Seite, die überwiegend in die Geschichten eingefügt sind und nur ganz selten selbständig auftreten. Formal und funktional stehen sie wohl in der Tradition philosophischer Lehrgespräche. Manchmal benutzt Kluge historische Personen oder Charaktere aus seinen Geschichten als Sprecher, häufiger jedoch bleiben die Sprecher anonym, repräsentieren bestimmte Rollen, und manchmal scheinen die Positionen der Sprecher sich sogar zu vermischen, so dass man gar nicht sicher bestimmen kann, wer gerade redet. Nicht selten hat man den Eindruck, dass hier zwei klugesche Homunculi miteinander sprechen. Die performativen Elemente, die die Fernsehgespräche charakterisieren, sind nicht in der Verschriftlichung verloren gegangen, sondern sie waren niemals Teil der Konzeption dieser Dialoge. Ihr Duktus scheint vielmehr von vornherein auf Abstraktion angelegt. So fügt Kluge in eine seiner neuesten »Arztgeschichten« über einen durch die Fehldiagnose eines befreundeten Kollegen gestorbenen Arzt einen kleinen Dialog ein, der sich sprachlich vom Rest der Geschichte nicht unterscheidet, aber die Überlegungen des Autors in die Form von Fragen und Antworten kleidet: – Könnte man sich Ingenieure vorstellen, die in einer Gesellschaft die Feineinstellung bei solchen Dreierbeziehungen justieren? Oder überhaupt so etwas wie eine Steuerung entwerfen? – Es sind ja in der Regel nicht bloß Dreierbeziehungen. Tausende sind einander auf Gegenseitigkeit verbunden. 22 Vgl. Kongs große Stunde, Kapitel 11, »Durch Armut reich: das Ich«: »Sie sagen es, lieber Herr Kluge, nur mit falschen Worten. Meine Fachkollegen würden es anders ausdrücken, aber ich stimme Ihnen zu. Der Wissenschaftler war generös. Auf ein Mißverständnis oder ein falsches Wort von mir kam es ihm nicht an.« 23 Ebd., Kapitel 7, »Der absolute und der relative Politikbegriff, I«: »Wie so oft glühte eine Idee um so intensiver, je mehr sie in Rede und Gegenrede ihre Konturen schwächte. Es hatte etwas Ungefähres, wonach die Gruppe fahndete.« Vgl. auch Deuber-Mankowski/Schießer, »In der Echtzeit der Gefühle«, S. 363.
230
Matthias Uecker
– Wobei die Gegenleistung jeweils nicht vom Gegenüber, sondern von einem Dritten erbracht wird? – Und der weiß nichts davon, daß er sie erbringen muß. Er beantwortet gute Taten, die ihm gegenüber direkt erbracht wurden, und zwar in derselben Kategorie von Taten, die er empfangen hat: bei einer Arbeit, bei einem Freundschaftsdienst, aus Versehen usf. – Oder er erbringt grundsätzlich keine Gegenleistung, wenn ihm eine gute Tat begegnet, weil er sie für gratis hält. Es gehört zu ihm, daß ihm Gefälligkeiten erwiesen werden. Er wurde immer gut behandelt und hat sich daran gewöhnt.24
Aus dem Zusammenhang der Geschichte ist nicht erkennbar, wer hier spricht. Es könnte sich um ein Selbstgespräch des Autors/Erzählers handeln oder um eine an die Geschichte anschließende Diskussion, die deren allgemeineren Sinn festzustellen sucht. Unwahrscheinlich ist, dass die Sprecher ins Universum der fiktionalen Erzählung selbst gehören. Insofern überhaupt ein »Tonfall« auszumachen ist, liegt er wohl im Niveau der Abstraktion, die von den konkreten Einzelheiten der Geschichte absieht und selbst den dort berichteten tödlichen Ausgang zum Verschwinden bringt. Das Abstraktionsniveau ist vergleichbar demjenigen mancher Gespräche mit Oskar Negt oder Joseph Vogl, doch der Duktus des Textes enthält noch weniger performative Elemente als die Verschriftlichung dieser Unterhaltungen. Eine deutlichere Rollenverteilung und auch einen konkreten Inhalt bringt ein Dialog, der in einer von vielen neueren Affengeschichten enthalten ist. Ein Tierpfleger im Zoo von Columbus (Ohio) wird offenbar von einem Journalisten über das im Zoo gefangene Gorillaweibchen Colo befragt: – Kennt Colo ihren Namen? – Sie hört auf keinen Namen. – Wie verständigen Sie sich mit ihr? – Sie liest aus der Haltung meiner Schultern, in welcher Verfassung ich mich befinde. Bin ich in Sorge, ziehen sich meine Schultern zusammen. Dann bleibt sie fern und tut so, als sähe sie mich nicht.25
Hier handelt es sich um die Imitation eines journalistischen Interviews, das Teil der semi-fiktionalen Geschichte ist. Die Verwendung des Konjunktiv II im letzten Satz will zur vorausgesetzten mündlichen Rede nicht recht passen und bringt den Text in jene klassisch-lakonische Form, die für fast alle diese Dialoge charakteristisch ist. Passend zur Thematisierung der menschlichen Körpersprache erwähnt die Erzählung immerhin, dass der Tierpfleger so »entspannt« ist, dass er sich während des Gesprächs »auf der Streu« flegelt. Fast könnte man 24 Ebd., Kapitel 5, »Unzuverlässigkeit der Solidarität«. 25 Kongs große Stunde, Kapitel 6, »COLOs Stammbaum auf flickr«. Der im Titel erwähnte Stammbaum findet sich tatsächlich hier : https://www.flickr.com/photos/slightlyblurred/ 6232845694 (Stand: 20. 03. 2016).
Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien
231
sich dieses Interview, das nach kurzem Erzähl-Einschub noch fortgesetzt wird, als ein Gespräch aus Kluges Fernsehformaten vorstellen, wenn die Fragen nicht so zielgerichtet wären, dass sie die für diese Sendungen konstitutiven Gedankenspiele nicht zur Entfaltung bringen. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch fortsetzen und variieren, doch der Befund bliebe der gleiche: Kluges literarische Gespräche sind, anders als die Transkriptionen seiner Fernseh-Interviews, von vornherein für das Medium der Schrift konzipiert und nutzen dessen abstrakte Eigenschaften. Sie bemühen sich nicht um eine Individualisierung der Sprecher oder Konkretisierung der Gesprächssituation, sondern konzentrieren sich ganz auf eine lehrhafte Entwicklung von Ideen und Positionen. Dabei kann es zu überraschenden neuen Einsichten kommen, doch die Gedankensprünge, die die mündliche Produktion von Gesprächsinhalten charakterisieren, sind nur selten zu finden. Alexander Kluge hat ursprünglich seine Fernsehmagazine als eine bewusste Kombination der Stärken mehrerer Medien charakterisiert: »Ich nehme den Tonfall aus Opern, Büchern und aus der Filmgeschichte.«26 Wenn der Medientransfer aus dem Multi-Medium Fernsehen ins Buch diese Kombination wieder reduziert auf die spezifischen Leistungen der Schrift, so liegt es nahe, diesen Transfer – wie hier geschehen – zunächst als Verlust von Effekten und Leistungen zu beschreiben. Dies ist vor allem deshalb ernst zu nehmen, weil die betroffenen Effekte offenbar von zentraler Bedeutung für Kluges Selbstverständnis als Fernsehmacher sind. Die Verschriftlichung ist aus dieser Sicht allein deshalb gerechtfertigt, weil sie den Inhaltsaspekt der Gespräche konserviert und leichter zugänglich macht. Wenn die Archivierung und Zugänglichmachung der Gespräche ursprünglich der wichtigste Grund für ihre Verschriftlichung war, so hat sich inzwischen die Situation wesentlich verändert, denn das Buch verliert gerade seine Monopolstellung im Ensemble der Archive. Zwar ist es nie zu einer Video-Vermarktung von Kluges Arbeiten gekommen, aber die DVD hat sich mittlerweile als gangbares Medium zur Aufbewahrung und Verbreitung unterschiedlichster Formate bewährt. Noch wichtiger ist aber das Internet: Mit YouTube gibt es eine überall zugängliche und bequem durchsuchbare internationale Plattform für audiovisuelle Inhalte, die mit einem Schlag ganz neue Formen der Dissemination und Rezeption etabliert hat. Darüber hinaus ist schließlich eine DCTPeigene Internetplattform entstanden, in der zahlreiche Fernsehgespräche archiviert und in thematischen Blöcken neu präsentiert werden. Zwar ist keines dieser Archive auch nur annähernd komplett, doch gegenüber den Anfangsjahren der Magazine hat sich die Rezeptionssituation radikal verändert. Brauchen wir überhaupt noch schriftliche Versionen dieser Gespräche? 26 Deuber-Mankowski/Schießer, »In der Echtzeit der Gefühle«, S. 363.
232
Matthias Uecker
Natürlich hat der gedruckte Text gewisse Vorteile, was die Zugänglichkeit und Handhabbarkeit angeht – zumindest für Rezipienten, die primär als Leser sozialisiert sind. Als archivalisches Medium eröffnet das Buch die Möglichkeit, ursprünglich in größeren zeitlichen Abständen gesendete Gespräche in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Wenn die einzelnen Gespräche meist schon darauf angelegt sind, ein weites Netz von Verbindungen zumindest anzudeuten, so stellt eine Buchpublikation spezifischere Zusammenhänge her. Sie ermöglicht konzentrierteres Nach-Denken ebenso wie eine geziehlte Auswahl von Gespächsmomenten. Es soll auch nicht bestritten werden, dass der thematische Kern der allermeisten Gespräche wohl durch die Verschriftlichung nicht beeinträchtigt und häufig sogar leichter zugänglich wird. Doch je leichter andere Archivierungsformen zugänglich werden, um so weniger brauchbar werden diese Schriftfassungen erscheinen, weil sie die eigentliche Form der Wissensproduktion, die im Zentrum von Alexander Kluges Gesprächen steht, zum Verschwinden bringen.
Florian Wobser
Kluges Kulturmagazine mit Gästen. TV-Gespräche im Off zwischen Dialog und Unterhaltung Vielen Dank, sehr erhellend, hatte keine Ahnung von Heueristik aber jetzt habe ich eine Ahnung. [sic] Martin Link, »Kommentar auf YouTube zu Kluges Interview Orientierung in unsicherer Welt mit dem Bildungspsychologen Gerd Gigerenzer«1 (2014)
Von keiner Ahnung zu einer Ahnung Offenkundig sind Alexander Kluges Kulturmagazine im Allgemeinen und seine sogenannten Interviews im Besonderen dazu in der Lage, bei individuellen Rezipienten und Rezipientinnen Bildungsprozesse auszulösen. Diese Erlebnisse basieren häufig darauf, dass einer der Beiträge Kluges als ein »krisenhaftes Ereignis« wahrgenommen und reflektiert wird, das innovative »Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen« einfordert.2 Insofern aktualisiert sich in den Interview-Sendungen Kluges eine massenmediale Heuristik, die beim Publikum formal wie inhaltlich eingefahrene Wahrnehmungsweisen in Frage stellt und in der Konsequenz ein – virtuell schon immer vorhandenes – neuartiges Transformieren altbekannter Wissensbestände provozieren will. Möglicherweise ist dieser heuristische Ansatz gleichzeitig der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den drei elementaren Disziplinen der Kunst, Wissenschaft und Philosophie, die sich in diesen Interviews – je nach Gast und nach der Laune Kluges – in mannigfaltigen Konstellationen zeigen. Indem laut der Konzeption des Stuttgarter Symposions ausdrücklich nach der Gesprächskunst Kluges gefragt werden soll, werden mittels Kluges
1 Gesendet wurde das Interview – das noch nicht auf dctp.tv steht – als News & Stories am 24. 02. 2013 auf Sat 1. Auf YouTube hochgeladen wurde es von AlvaroVasquez123 am 28. 02. 2013. Das hier authentisch übernommene Posting erfolgte im Laufe des Jahres 2014; vgl. www.youtube. com/watch?v=3qpyD3uv6OQ (Stand: 10. 04. 2016). 2 Vgl. Hans-Christoph Koller, Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012, S. 15f.
234
Florian Wobser
zahlreicher und mannigfaltiger Interviews im Fernsehen bzw. Web-TV folglich immer auch wissenschaftliche und philosophische Kontexte eröffnet. Diese heuristische Herausforderung durch das faszinierend-verstörende Werk3 Kluges bzw. durch dessen auf Mündlichkeit basierendes Format im (Web-)TV betrifft jedoch nicht allein das Alltagspublikum dieser Sendungen, sondern mindestens genauso sehr die Expertinnen und Experten, die sich diesen Irritationen im akademischen Horizont stellen. Im folgenden Beitrag möchte ich mich nach wenigen kurzen Bemerkungen zu Kluges Kulturmagazinen vorwiegend mit Kluges Interviews auseinandersetzen, die ich als TV-Gespräche im Off zwischen Dialog und Unterhaltung perzipieren und konzipieren werde. Gewiss ganz im Sinne einer Akademie für das gesprochene Wort4 werde ich hierbei zunächst von der heuristischen Annahme einer dialogischen Dialektik in diesen Gesprächen zwischen Kluge und seinen Gästen ausgehen, diese anschließend allerdings in meine Lesart überführen, um hier – konsequent medientheoretisch hergeleitet – vielmehr eine Dialektik der Signifikanz zu beanspruchen, die meiner Ansicht nach auch in den TV-Gesprächen Kluges zum Ausdruck gebracht wird. Die Kluge von mir zugeschriebene ästhetisch-performative Strategie steht zugleich in einem konzeptionellen Zusammenhang, der mit Walter Benjamin, Jacques Derrida und Gilles Deleuze als knapper Exkurs im Off erläutert werden soll. Das Denken von Deleuze – und dem kongenialen F8lix Guattari – steht hierbei für ein Philosophieren, das sich immer auch mit künstlerischen Perzepten/Affekten und wissenschaftlichen Funktionen verbindet.5 Anschaulich soll diese Konzeption anhand zweier kurzer Auszüge aus dem riesigen Fundus an Interviews von Kluge werden. Die Gespräche mit Yoko Tawada bzw. Eric Kandel und ihre Inszenierungen durch Kluge bilden das Framing dieses Beitrags, in dessen Fokus der Versuch stehen soll, zu zeigen, dass diese Interviews in ihrer als »Verflüssigung« legitimierten Heuristik konsequenterweise allein zwischen Dialog und Unterhaltung wahrgenommen und begriffen werden können. Das hierdurch angenommene Off wiederum wird vom jeweiligen Gast Kluges besetzt, der als solches im Kontrast zum Gastgeber Kluge für eine Alterität steht, ohne die eine lebendige Mündlichkeit verstummte.
3 So eine der Formulierungen auf dem Flyer zum Stuttgarter Symposion zu »Alexander Kluge[s] Gesprächskunst« im Januar 2016, für dessen Organisation Frau Prof. Barbara Potthast an dieser Stelle gedankt sei. 4 So lautet der Name einer der mitveranstaltenden Institutionen der o.g. Tagung. 5 Vgl. hierzu Gilles Deleuze/F8lix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997 und Dies., Was ist Philosophie?, Frankfurt/M. 2003.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
235
Kluges Kulturmagazine Lebendigkeit ist schon immer ein äußerst wichtiges Kriterium der Philosophie und Poetologie Kluges gewesen – als Zeuge kann insbesondere der gemeinsam mit Oskar Negt ersonnene Begriff des menschlichen Eigensinns fungieren.6 In einer praktischen Wendung jener vorher in Öffentlichkeit und Erfahrung (1972) bzw. Geschichte und Eigensinn (1981) mit Negt entfalteten Gedanken transformiert Kluge ab Mitte der achtziger Jahre dieses Denken in eine Medienpoetologie, die gegen die Macht der Bewusstseinsindustrie und für das Bemächtigen des Schicksals unserer Öffentlichkeit eintritt.7 Der »Öffentlichkeitsmacher«8 Kluge beruft sich hierzu als Alternative zum »Verdrängungskunstwerk« des aufkommenden Privatfernsehens auf eine Strategie der »Vielfalt«9, die in den Gegenproduktionen10 seiner – seit 1988 im TV gesendeten und seit 2009 auch auf dctp.tv abrufbaren – Kulturmagazine formal wie inhaltlich ihren Ausdruck erhalten soll: »Wahr ist der Kontrast, die Vielgestaltigkeit. Sie sind nämlich das spezifische Merkmal von menschlichen Köpfen und Sinnen. Ein Realismus, der davon auf Mittelwerte abstrahiert, ist keiner. Das glauben wir, und danach arbeiten wir.«11
»Roher Fisch und Rinderzunge führen ein Telefongespräch« Der durch Kluge energisch bevorzugte »Anti-Realismus des Gefühls«12 müsste als entfesselter gewiss an den Formaten der Fake-Interviews oder audiovisuellen Essays aufgezeigt werden, lässt sich aber anhand einer kurzen und vergleichsweise subtilen Interview-Passage zwischen Kluge und der in Deutschland le6 Im Hintergrund steht hier Marxens – ökonomische bis anthropologische – Unterscheidung zwischen toter und lebendiger Arbeit; vgl. hierzu Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981, speziell S. 98ff. und S. 229. 7 Vgl. insgesamt Kluges essayartigen Aufsatz aus dem Jahre 1985: Alexander Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, in: Klaus von Bismarck (Hg.), Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit ›neuen‹ Medien, München 1985, S. 51–129. 8 Vgl. hierzu Alexander Kluge (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, Frankfurt/M. 1983, speziell S. 286ff. 9 Kluge, »Macht der Bewußtseinsindustrie« S. 57f. 10 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1973, speziell S. 7f. und S. 220. 11 Alexander Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, in: ders./Klaus Eder, Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München u. a. 1980, S. 5ff., hier S. 7. 12 Vgl. Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 201–250.
236
Florian Wobser
benden japanischen Dichterin Yoko Tawada ebenso erahnen. In dem Beitrag »›Roher Fisch und Rinderzunge führen ein Telefongespräch‹« steht eineinhalb Minuten lang dieser recht kryptische Vers Tawadas13 zur Disposition.14 Kluge überrascht die Dichterin unverkennbar dadurch, dass er ihr direkt die Frage nach der Bedeutung des eigenen Verses stellt. Das zaudernde Antworten15 von Tawada, die nach einem ersten Je ne sais quoi die phänomenologischen Gehalte ihrer beiden lyrischen Figuren mit deren medialer Situation vermitteln möchte, diesen Versuch jedoch abbricht, mündet dann in ihr abschließendes Fazit, wozu sie das zwischenzeitlich von Kluge artikulierte Stichwort des Interpretierens aufnimmt: Ja, man kann auch vieles interpretieren, aber man kann auch, – ääh – das lassen, ohne zu denken, einfach das hören, – aber eigentlich ist das wieder hier, eigentlich sind sie nicht dafür da zum Reden, sondern das sind Essen, man soll sie also essen […].
Die Lebendigkeit des Verses und dieses Sprechens von Kluge und Tawada wird jedoch noch durch die Mimik und Gestik bzw. den Duktus und das Timbre insbesondere Tawadas – aber auch Kluges – überboten. Auf Kluges Nachfrage, deren Provokation in ihrer metaleptischen Volte liegt, reagiert die bereits zuvor lächelnde Tawada zunächst mit einem kurzen Lachen, ihr Zaudern drückt sich dann vor allem in mimischen Qualitäten (nach unten gesenkter Blick, nach oben gezogene Wangenknochen etc.) aus, bevor sie ihren eigenen Interpretationsansatz mittels einer flüchtigen Geste ihrer rechten Hand unterstützt, kurz darauf dann aber erneut ins Zaudern gerät (begleitet durch auffälliges wiederholtes Blinzeln und erkennbares Schlucken). Den nachfolgenden Impuls von Kluge kommentiert sie nonverbal mit geschlossenen Augen und mit verschlossenem Mund, bevor sie nach einem Anflug der Anstrengung ihren eigenen Schluss wieder mit einem Lächeln versieht. Diese durch einen in Kluges Interviews seltenen Zoom-In noch verstärkten nonverbalen – visuellen – Qualitäten können auch um simultane paraverbale – auditive – Veränderungen der Stimmen beider ergänzt werden. Während Kluge aus dem Off seine bereits oft beschriebene (ein-)flüsternde Stimme hören lässt, wandelt sich das Timbre Tawadas mit dem Grad ihres zaudernden Duktus’ – sie beginnt mit einer lauten, kräftigen 13 Vgl. das Gedicht »Ein Gast« in: Yoko Tawada, Wo Europa anfängt, Tübingen 1991, S. 37. Zu den folgenden Ausführungen – speziell zum Gesicht – böte sich ferner ein transmediales »Cross-Mapping« (Kluge) mittels der poetologischen Aussagen Tawadas an; vgl. hierzu Yoko Tawada, Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen, Tübingen 2001, speziell der Abschnitt »Gesicht eines Fisches« S. 43–60. Diesen interessanten Hinweis zur zusätzlichen Vermischung der Poetologien von Kluge und Tawada verdanke ich Sandra Fluhrer. 14 Vgl. »Roher Fisch und Rinderzunge / Yoko Tawada«, News & Stories 20. 09. 1993 bzw. für den hier relevanten kurzen Auszug: www.dctp.tv/filme/roher-fisch-rinderzunge-telefonge spraech (Stand: 10. 04. 2016). 15 Vgl. hierzu Joseph Vogl, Über das Zaudern, Berlin 2008.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
237
Rezitation ihres Verses, kommentiert Kluges Impulse in der Mitte dieses Gesprächs mit einem lautmalerischen, zurückhaltenden »Mmhmh« und endet mit einem vergleichsweise leisen Ausklang, dessen ›allmähliche Verfertigung‹ eher in ihr Inneres gesprochen wirkt.
Screenshots aus »Roher Fisch und Rinderzunge …«
Das Rezipieren und das Beschreiben des Gesichts,16 der Hände und der Stimme Tawadas ist für sich bereits faszinierend; meine eigene These betrifft aber die Beobachtung, dass diese präsentativen Qualitäten hier idealtypisch in eins fallen mit den durch Tawada artikulierten diskursiven Gedanken: Zwischen rohem Fisch und Rinderzunge sowie zwischen Tawadas Versen und ihrer Erfahrung durch ihre Leser besteht ein Spannungsfeld aus Phänomenologie und Medialität. Während jene lyrischen Figuren beim Telefonat getrennt sind, kann für Leser – bzw. Hörer – der Verse rigoroses Verstehen-Wollen die Barriere für lyrisches plaisir sein;17 im Kontrast dazu sollte es laut Tawada für ihre Leserinnen jedoch darum gehen, rohen Fisch bzw. Rinderzunge nicht reden lassen zu wollen, sondern beide zu essen. Letzteres deute ich im übertragenen Sinne als eine Einladung zu spielerischen, primär der intensiven Sinnlichkeit dieses Verses – bzw. seiner Rezeptionen – zugeneigten Lektüreerlebnissen.
TV-Gespräche im Off … Als Verlängerung meiner These nehme ich wiederum in Anspruch, dass dieser poetologische Imperativ von Tawada zugleich als Modell der Medienpoetologie von Kluge zu begreifen ist. Auch Kluge hatte sein massen-mediales Bemühen um die Publizität anhand der »Kriterien der unmittelbaren Lebenserfahrung« ausrichten wollen. Von herausragender Bedeutung ist für Kluge hierbei bis heute seine Theorie bzw. seine Praxis der Montage. Aus Kluges Diagnose, dass die Bewusstseinsindustrie jene erwünschte Lebendigkeit als Vielfalt radikal verhindere, folgt seine Forderung, dass diesem Dispositiv sowohl institutionell als 16 Vgl. hierzu Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus S. 229–262. 17 Vgl. insgesamt Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt/M. 1974.
238
Florian Wobser
auch konzeptionell ein Schnippchen zu schlagen sei. Für diese beiden subversiven Ansätze greift Kluge als Vertreter der »Partei des Kinos« auf seine Maxime des Montierens zurück. Institutionell gilt einerseits: Die Naht ist für zentrale Organisationen das unlösbare Problem. […] Werden Institutionen, die einander nicht verstehen können (Fernsehen und Filmwirt-schaft, professionelle Politik und Poesie, Experten feindseliger Mächte usf.), abrupt miteinander konfrontiert, so entsteht regelmäßig an der Trennstelle ein intelligenter Funke.18
Dieser intelligente Funke, der wohl das Phantasma jeglicher Heuristik ist, wird durch Kluge als eine Art Wunschdimension gleichzeitig mit dem Montieren im engeren Sinne verbunden. Dazu richtet er den sogenannten ›Satz vom eingeschlossenen Dritten‹ gegen das binäre Prinzip des konventionellen Programmschemas.19 Diese avantgardistisch legitimierte massen-mediale Praxis cinephiler TV-Produktionen soll folglich ihrem Publikum bei seinen Rezeptionen einen phänomenologischen Frei- bzw. Spielraum lassen, der sich voller Phantasie und Eigensinn produktiv gegenüber sämtlichen unverschlossenen a-semiotischen Leerstellen zeigt: Demgegenüber beruht die Kinoprojektion auf einer Belichtung von 1/48 Sekunde, der eine Dunkelphase von 1/48 Sekunde folgt. Die sog. Transportphase. Im Durchschnitt ist es die Hälfte der Zeit im Kino dunkel. Das Auge sieht 1/48 Sekunde nach außen und 1/48 Sekunde nach innen. Die Wirkungen der Filmmontage sind durch diese Pausen erst möglich. Die Information steckt bei Montagewirkungen weder in der ersten noch in der folgenden Abbildung, sondern beruht auf nachwirkenden Bildern, im Idealfall auf ›ungesehenen‹ Bildern, die aufgrund der Differenz, der Lücke in der Information kontrastreicher Bilder als Epiphanie entstehen.20
Auf das Gespräch von Kluge und Tawada bezogen kann dieses von der Montage hergeleitete Zusammenspiel zwischen Eigensinn und a-semiotischen Leerstellen auch alle Verknüpfungen präsentativer/diskursiver Gehalte motivieren. Jeder gestische, mimische bzw. (para-)verbale Aspekt dieser doppelten Artikulationen21 insbesondere Tawadas, jeder auditive oder visuelle Moment der Inszenierung dieser Interaktion zwischen dem im Off befindlichen Kluge und der im On positionierten Tawada ziehen sowohl für die zwei Gesprächspartner als auch für jeden einzelnen ihrer Rezipienten zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit oszillierende Chancen auf ungesehene Bilder und ungehörte Klänge bzw. auf 18 19 20 21
Kluge, »Macht der Bewußtseinsindustrie« S. 97; S. 75; S. 121f. Vgl. ebd. S. 71 bzw. Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 42ff. Kluge, »Macht der Bewußtseinsindustrie« S. 105f. Zum Konzept der doppelten Artikulation vgl. allgemein Magnus Schlette/Matthias Jung (Hg.), Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2005 bzw. speziell auf die Bildungsphilosophie von Deleuze/Guattari bezogen Olaf Sanders, »Deleuzes Pädagogiken. Die Philosophie von Deleuze und Deleuze/ Guattari nach 1975«, Habil., Universität Köln 2010.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
239
ungefühlte Atmosphären22 nach sich. Sowohl zwischen Tawada und Kluge selbst als auch zwischen ihnen und ihrem Publikum aktualisieren sich kontrastreiche Wirkungen mittels diakritischen Unterscheidungsvermögens bzw. einigungsfähiger Differenzierung,23 die im Sinne des hier vertretenen Ansatzes als die durch Kluges ästhetisch-performative Strategie eingeforderten Kompetenzen gelten können. Insofern ist Tawada vor und Kluge hinter der Kamera sowie – potentiell – jede Person vor ihrem Bildschirm nach Kluge genauso sehr affiziert: »An der Differenz arbeitet unser ganzes erotisches System, das sie erobert und selber herstellt.«24 Unter detailliertem Bezug auf einen – singulären25 – kurzen Interview-Auszug sind Kluges TV-Gespräche in den vorherigen Abschnitten konsequent mittels einer Theorie und Praxis des Montierens, d. h. auch aus dem Off, wahrgenommen und gedacht worden. Welche Schlüsse sind jetzt für Kluges Gesprächskunst zu ziehen? Erstens ist festzuhalten, dass die Gespräche von Kluge gegen jenes durch ihn kritisierte binäre Prinzip im Modus subversiven Montierens inszeniert werden. Hierzu zählt – und die folgenden Punkte gelten nicht mehr der Perspektive seines Gastes, sondern allein der Wahrnehmung des Publikums – zweitens, dass Kluge visuell fast ausnahmslos im Off verbleibt,26 wodurch speziell das Gesicht seines Gastes überdeutlich im Vordergrund präsent ist. Drittens soll im Folgenden explizit der – bis jetzt allein implizit in Anspruch genommenen – Einschätzung gefolgt werden, dass gerade die Exklusion Kluges aus dem Kegel der Kamera zu einer intensivierten Inklusion führt. So zeigen sich anhand des gestischen, mimischen und (para-)verbalen Ausdrucks seines Gastes – hier prototypisch am lebendigen Gesicht Tawadas – bei den Rezipienten kontrastiv unsichtbare Bilder, die nicht weniger die Mimik und Gestik Kluges evozieren. Diese Ahnung gilt viertens insbesondere für Kluges Stimme, deren
22 Zum Phantasma des Taktilen in Kluges Kulturmagazinen vgl. Florian Wobser, »Das Werk Alexander Kluges lesen/schauen/hören/spüren – audiovisuelle Montagen als Movens eines ästhetischen Bildungsprojekts«, in: Gr8gory Cormann u. a. (Hg.), Lecteurs/spectateurs d’Alexander Kluge, in: Cahiers d’Ptudes Germaniques, Nr. 69, 2015/2, S. 153–164. 23 Vgl. zu diesen beiden produktiven Rezeptionstätigkeiten Kluge, »Macht der Bewußtseinsindustrie«, S. 88 bzw. Christian Schulte, »Die Rennstrecke der Hoffnung. Alexander Kluges Kulturmagazine«, in: MEDIENwissenschaft 1/1999, S. 8–21; speziell S. 13. 24 Alexander Kluge/Florian Rötzer, »Kino und Grabkammer. Ein Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 31–43; speziell S. 34. 25 Als singulär gelten hier ästhetisch-performative Phänomene, die aufgrund ihres jeweiligen Ereignischarakters keinen Anspruch mehr auf eine – deduktiv oder induktiv hergeleitete – Exemplarizität beanspruchen können; ihre Aussagequalität basiert auf der Intensität ihrer rhetorischen Überzeugungskraft. 26 Es gibt allein wenige Ausnahmen; speziell gemeinsam mit guten Freunden wie Oskar Negt, Heiner Müller u. a. ist auch Kluge im Bildausschnitt der Kamera zu sehen.
240
Florian Wobser
Duktus bzw. Timbre gerade aufgrund ihrer – hierdurch gespenstisch27 wirkenden – Position im Off mittels eines unüberhörbaren Sounds verstärkt hervortritt. Während Kluge also neue Konstellationen des Sichtbaren, Sagbaren und Hörbaren inszeniert, ist gerade diese auditive Dimension eines jeden Gesprächs – entgegen der traditionell starken Dominanz des Sehsinns – keineswegs zu unterschätzen; beispielhaft heißt es bei Kluge selbst sehr emphatisch: »So erwachte das Ohr und damit die Sprache – das Prinzip Mündlichkeit«.28 Bereits Christa Blümlinger hat sich im Jahre 2002 zugunsten der Würdigung des Auditiven in Kluges Rededispositiv kurz auf den Filmtontheoretiker Michel Chion berufen.29 Erläutert man die spezifische auditive Machart der TV-Gespräche Kluges – der nicht allein philosophisch einen Anti-Realismus vertritt, sondern auch als Filmregisseur eher den Formalisten angehört – mit Hilfe der Kategorien Chions, sollte man konsequenter als Blümlinger zumindest auch von einem Hördispositiv sprechen. Das von Kluge für die Zuschauer bzw. Zuhörer inszenierte Hörerlebnis ist mit Chion das einer »Audio-logo-Vision«, wobei das Zusammenspiel aus Hören und Rede(n) bei Kluge wie folgt zu charakterisieren ist: Die ästhetisch-performative Strategie weist in der verbalen Gestaltung der TV-Gespräche eine externe Logik auf, durch die Kluges Stimme als eine akusmatische intensiver erscheint.30 Für die Ohren der Rezipientinnen erfolgt nach Chion durch das, »›was man hört, ohne die tatsächliche Ursache des Klangs zu sehen‹, oder ›was Klänge hörbar macht, ohne eine Vorstellung von ihren Verursachern zu haben‹«,31 eine Verstärkung (die damit prototypisch für Menschen gilt, die keine Kluge-Experten sind). Auditiv kann der Ton der Stimme Kluges in seinen Interviews aufgrund ihrer Position im Off als ein kontrapunktierender markiert werden, der beim Publikum vor allem anemphatische Effekte auslöse. Die verbale und auditive Gestaltung führt durch diese zwei valeurs ajout8es – im Vergleich zur realistischen synchrHse – nach Chion zu einer höheren Aufmerksamkeit des Hörsinns der Rezipienten.32 Genauer spricht Chion vom reduzierten 27 Die praktische massen-mediale Transformation der früheren Konzeption aus Geschichte und Eigensinn kann für Kluges Stimme auch als die eines Gespenst Marxens gelten; vgl. hierzu Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M. 2004. In ihrer Studie zum Sound Design der filmischen Medien spricht Flückiger wiederum – im kritischen Anschluss an Chion – bezüglich Stimmen aus dem Off von einem unidentifizierbaren Klangobjekt bzw. UKO; vgl. Barbara Flückiger, Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg 2007, speziell S. 125ff. 28 So lautete der Titel des »Stuttgarter Abendvortrags« von Kluge am 16. 01. 2016. 29 Vgl. hierzu Christa Blümlinger, »Rededispositiv und Film in Kluges Kulturmagazinen«, in: Christian Schulte u. a. (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 105–117; speziell S. 105f. 30 Vgl. Michel Chion, Audio-Vision. Ton und Bild im Kino, Berlin 2012, S. 103–113 und S. 46f. 31 Ebd., S. 65. 32 Vgl. hierzu ebd. S. 40ff. und 19f. bzw. S. 15ff. und S. 32ff.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
241
Hören, das sich primär auf den Klang – und erst sekundär auf eine Semantik bzw. einen Sinn – des Gesagten richte. Das auditive Zusammenspiel zwischen leiblichem Eigensinn und a-semiotischen Leerstellen geht aber im Modus dieses Audio-Visuellen und seiner Sound- und Bildmontagen wiederum – gleichzeitig trennende bzw. verbindende – Prozesse eines kontrastreichen Montierens mit all jenen visuellen Elementen ein: »Man ›sieht‹ nicht das Gleiche, wenn man gleichzeitig hört; man ›hört‹ nicht das Gleiche, wenn man gleichzeitig sieht.«33 Diese ästhetisch-performativen Wechselwirkungen lassen sich neuerlich auf das Gespräch zwischen Kluge und Tawada anwenden: Durch Kluges Stimme aus dem Off wird der visuelle Ausdruck von Tawada im On zu einem anderen bzw. verstärkt; Tawadas Gestik und Mimik im On verbindet sich zugleich ins Off hinein mit jener Stimme und evoziert Kluges para- bzw. nonverbale Qualitäten. Besonders augen- und ohrenscheinlich wird dieses Zusammenspiel etwa in jenem Moment, da die (ein-)flüsternde Stimme Kluges in ihrer metaleptischen Volte mit jener flüchtigen Handbewegung, dem Blinzeln und Schlucken Tawadas zusammentrifft; das Zaudern und Je ne sais quoi der Interviewten unterstützt wiederum den Klang der Stimme des Interviewers; besonders Tawadas lautmalerisches »Mmhmh« und ihr leiser imperativischer Ausklang lassen vor dem inneren Vermögen aus Phantasie bzw. Eigensinn eines Rezipienten – im »Zerrwinkel«34 – die begleitende Mimik bzw. Gestik von Kluge selbst aufscheinen. Im Allgemeinen begreife ich Kluges Kulturmagazine als Fortsetzung – mit Deleuze könnte man hier auch von einer Gegenverwirklichung sprechen35 – von Geschichte und Eigensinn mit anderen Mitteln. Im Besonderen gilt für das von Kluge im Verlauf seiner TV-Gespräche initiierte audio-visuelle Spiel der Sinne und Zeichen, dass ich es als Aktualisierung der noch mit Negt im gemeinsamen Opus Magnum vertretenen Strategie der »Verflüssigung« begreife: Dieses Spielerische der Philosophiearbeit – gerade die kritische nimmt daran teil – ist die Bedingung für die »Verflüssigung« […] der autoritativen Anord-nung der Dinge […]. Die Arbeitsweise der Sinne antwortet darauf. Es gibt einen materialistischen Instinkt, dieses übermächtige Realitätsgebilde zu anar-chisieren, das Übermächtige in Witz zu zerlegen. Wenn Brecht […] Dialektik als »Witz der Sache« definiert, dann ist dieser Witz […] die Entdeckungen der Disproportionen in der Sache selber. Es ist eine elementare Wahrnehmungs-weise: Komik, freie Assoziation, Erinnern, Antizipieren. Der Gegensatz heißt Schreckensstarre, Fixierung, Gefühlsballung, Dummsein.36 33 Ebd., S. 11. 34 Vgl. hierzu insgesamt Alexander Kluge/Gertrud Koch, »Die Funktion des Zerrwinkels in zertrümmernder Absicht. Ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Gertrud Koch«, in: Rainer Erd u. a. (Hg.), Kritische Theorie und Kultur, Frankfurt/M. 1989, S. 106–124. 35 Vgl. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1993, S. 186–192; speziell S. 188. 36 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 96f. Fn. 9.
242
Florian Wobser
Kluges ästhetisch-performative Strategie fällt in meiner Lesart mit der »Verflüssigung« also in eins – ihre Differenzen liegen wiederum darin, dass beide jetzt nicht mehr länger in der irritierenden Textualität jenes ungewöhnlichen Buches, sondern in der multisensorischen bzw. -semiotischen Medialität des (Web-)TVs geschehen.
… zwischen Dialog … Die hervorstechenden Merkmale der Gesprächstechnik Kluges lassen sich einerseits in Nähe zur klassischen dialogischen Dialektik im Sinne des Sokratischen Gesprächs charakterisieren. Kluge ist an einigen der neuralgischen Punkte offenbar daran interessiert, im Konkreten Fuß zu fassen – seine Aufforderung z. B. »Wenn Sie dies einmal einem Außerirdischen erklären« ist berühmt und auch etwas berüchtigt – bzw. will unverkennbar jedes Gespräch als Hilfsmittel des Denkens voll ausschöpfen. Entgegen einer allzu glatten Didaktisierung jener Methode verletzt er aber oftmals das Gebot der Zurückhaltung, vernachlässigt das strikte Festhalten an der erörterten Frage oder die Konsensorientierung.37 In dieser Ambivalenz schließt Kluge, der sich immer wieder auf die »Hebammenkunst«38 beruft und laut seines Dialogpartners und Freunds Negt ein »Philosophieren im sokratischen Duktus«39 betreibt, paradoxerweise umso mehr an die – aporetischen – Idiosynkrasien des Sokrates und dessen Habitus einer Didaktik der Irritation an.40 Dazu zählt nicht zuletzt die sokratische Ironie, von der Kluge – bei allem Humor – eine gute Portion besitzt, etwa in der lediglich naiv anmutenden metaleptischen List gegenüber Tawada. Kluge scheint Elemente einer Sokrates folgenden gekerbten Didaktik in diesem Prozess dialogischer Dialektik im (Web-)TV immer wieder intuitiv zu aktualisieren. In seiner Poetologie betont Kluge zudem – explizit – seine phänomenologischen Ambitionen: Ich mache da nicht eine Inhaltskontrolle permanent, sondern ich mache eine Tonlagenkontrolle. […] Und wie kann ich also etwas von dieser Authentizität, von dem 37 Vgl. zu diesen – und zu weiteren – Aspekten des Sokratischen Gesprächs Gustav Heckmann, Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren, Frankfurt/ M. 1993, S. 84ff. 38 Vgl. Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 25f. und passim. 39 Oskar Negt u. a., »Der Maulwurf kennt kein System. Oskar Negt im Gespräch mit Rainer Stollmann und Christian Schulte«, in: Christian Schulte u. a. (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 11–41; speziell S. 14f. 40 Vgl. hierzu Stefan Mager, Umgang mit Bildern. Bilddidaktik in der Philosophie, Paderborn u. a. 2013, S. 371ff.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
243
wirklichen Ton, von den Gegensätzen zwischen den Tönen, den Nuancen, die in der öffentlichen Sprache zu irgendeinem Mittelmaß [werden, hineinbringen].41
Es ist gewiss kein Zufall, dass Kluge selbst hier ausgerechnet die auditive Ebene unterstreicht. Allemal gibt es Stellen, an denen er die dialogische Dialektik visuell anklingen lässt: Nichts davon ähnelt mehr dem Prinzip des Dialogs, der Entstehung des Gedankens, als diese Wechselbilder, dieser ›innere Film‹: ich spüre etwas, mache mir eine Perspektive, indem ich es vom Standpunkt eines anderen Menschen ansehe, und ich könnte es jetzt (obwohl nur meine Nerven genau sagen können, was ich fühle) sogar Dritten mitteilen.42
So ergibt sich im Modus der Audio-Vision – über alle Idiosynkrasien und Irritationen hinaus – eine Vermischung43 des Eigenen und des Fremden, die nicht länger die einer hermeneutischen Verschmelzung oder dialektischen Vermittlung sein kann; vielmehr sind die synästhetischen Chiasmen44 dieser Poetologie Kluges, die als solche ebenfalls den Sinn des Taktilen berühren, in ihrer Immanenz eine mannigfaltige ästhetisch-performative (Gegen-)Übertragung, die das mikrologische Modell einer nicht-bedeutungsfetischistischen Ästhetik [bildet], die darauf angelegt ist, mit allem, was individuellen Ausdruck besitzt, in Dialog zu treten bzw., in Kluges Worten, ›nichts, was eine materielle Substanz hat, in die Anstalt einzuweisen‹.45
… im Off … – Exkurs in konzeptioneller Hinsicht Dieser phänomenologisch sensibilisierte »innere Film«, auf den Kluge zielt, basiert meiner hier vertretenen Konzeption nach auf kritischer Theorie zwischen Frankfurt und Frankreich. Während üblicherweise die Nähe Kluges zu Theodor W. Adorno überstrapaziert wird, gilt es in meiner Lesart vor allem – die oben bereits genannten Autoren – Benjamin, Derrida bzw. Deleuze/Guattari und ihre funktionale Bedeutung für Kluges Medienpraxis stark zu machen. Benjamin 41 Kluge zit. n. Christian Schulte, »›… ein Gegenbild, das mehr ist als ein Spiegel‹. Überlegungen zu den Fernsehgesprächen Alexander Kluges«, in: Fernsehen ohne Ermäßigung. Alexander Kluges Kulturmagazine, Augen-Blick 23/1996, S. 75–96; speziell S. 81. 42 Kluge, »Macht der Bewußtseinsindustrie« S. 68f. 43 Vgl. hierzu insgesamt Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt/M. 1993. 44 Vgl. auch Maurice Merlau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare […], 2. Aufl. München 1994. 45 Christian Schulte, »Fernsehen und Eigensinn«, in: ders./Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen, S. 65–81; speziell S. 76 [Herv. d. Verf.].
244
Florian Wobser
hatte in den zwanziger und dreißiger Jahren auf vielfältige Weise über eine sogenannte »Dialektik im Stillstand«46 nachgedacht, die ihm mehrfach eine Kritik durch Adorno einbrachte, da sie nicht konsequent genug auf Vermittlung abzielte, sondern auf instantane Bilder setzt, in denen Konstellationen aus Einzelnem und Allgemeinem ins Singuläre radikalisiert werden. Benjamin geht es um »gesteigerte Anschaulichkeit«,47 die er im frühen Montage-Film erahnt, dessen »starke taktile Qualität« die Rezipienten heraus- bis überfordert: »Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.«48 Die vermeintliche Trägheit dieser filmischen Vermittlung gewinnt durch ihre hohe sinnliche Intensität folglich vielmehr an Dynamik und ist als solche – was ich in diesem Exkurs lediglich andeuten kann – der Ausgangspunkt für eine Dialektik der Signifikanz, der ebenso Kluge nacheifert. Um diese Bewegung einleuchtend zu machen, muss jener Ausgangspunkt zugunsten konzeptioneller Linien verlängert werden, die mich über mehrere scheinbar geschiedene Denkmuster hinweg zu Derrida bzw. Deleuze/Guattari führen. Diese Denker bieten unorthodoxe Mittel für die – gleichzeitig trennende und verbindende – Prozessualität des kontrastreichen Montierens. Derrida denkt mit der diff8rance eine Dynamik des Entzugs, deren semiotischer Gehalt im Off verbleibt;49 Deleuze und Guattari setzen mit ihrem rhizome bzw. ritournelle einen affirmativen a-semiotischen Gehalt im On.50 Legt man beide Taktiken übereinander, so ergibt sich ein Vexierbild, in welchem eine nicht-dialektische a-semiotische Transzendenz und Immanenz oszillierend für eine Dynamik sorgen, die jenen Wechselbildern der ästhetisch-performativen Strategie Kluges gleichen. Die »Verflüssigung« transformiert folglich auch die dialektischen Ansatzpunkte in eine mikrologische Signifikanz, die jene synästhetischen Chiasmen zum Ausdruck bringen.51 Die oben sukzessive angeführten Zitate Kluges zeigen auf, dass es seinem 46 Vgl. hierzu Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften V.1., hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 578. 47 Benjamin, Passagen-Werk, S. 575. 48 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung«, in: Gesammelte Schriften I.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 471–508; speziell 502 bzw. 505 [für die letzten zwei Zitate]. 49 Vgl. hierzu insgesamt – vor allem – Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976; Ders., Grammatologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1994 und Ders., Limited Inc., Wien 2001. 50 Vgl. hierzu insgesamt speziell Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 11–42 bzw. S. 695–710 und S. 423–479. 51 Gnam hatte bereits 2002 in einem Aufsatz das de-/konstruktive Verhältnis zwischen Deleuze/ Guattari und den Kulturmagazinen von Kluge knapp angedeutet, ohne dieses selbst bekundete Desiderat später auch einzulösen; vgl. Andrea Gnam, »Von einer Ästhetik der Ratlosigkeit«, in: Schulte/Siebers, Kluges Fernsehen, S. 138–157; speziell S. 139f. und S. 146. Zu einigen seltenen, aber aussagekräftigen konzeptionellen Bezügen von Negt bzw. Kluge auf Derrida bzw. Deleuze/Guattari vgl. ebenfalls Wobser, »Audiovisuelle Montagen«; speziell S. 160ff.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
245
»Anti-Realismus des Gefühls« immer um die Köpfe und Sinne der Menschen geht und dass die filmische Medialität im »inneren Film« ebenso als Materie wahrgenommen/gedacht wird, wodurch Kluge folglich eine Art Kurzschluss zwischen Mensch und Medium unterläuft. Die einerseits durch Kluge angestrebten phänomenologischen Sensibilisierungen gehen also zugleich ihre Allianzen ein mit dekonstruktiven bzw. poststrukturalistischen Motivierungen. Ausgerechnet im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit dem Fernsehen hatte etwa auch Derrida nach einer »freien Entfaltung der schöpferischen Produktion« verlangt, die – paradoxerweise – »das Lebendige oder vielmehr das unmittelbare Bild, das lebendige Bild des Lebendigen, am Leben erhalten: das Timbre der Stimme, das Bild, den Blick, die Bewegung der Hände«.52 Und Deleuze hat das eigene Denken schon früh als transzendentalen Empirismus markiert, der später mit der Hilfe Guattaris – radikal psychoanalytisch gewendet – in ein a-semiotisches Denken zu zweit auf Tausend Plateaus einfließt. Auf solchen geht es Deleuze/Guattari um Begriffsschöpfungen, die sich immer auch mit künstlerischen Perzepten bzw. Affekten und mit wissenschaftlichen Funktionen verbinden. Ausgehend von Benjamin wird hier für Derrida, Deleuze/ Guattari und Kluge selbst folglich ein tele-audio-visuelles Denken behauptet, das sich in einem Prozess aus De-Kon-Zentrierungen äußert, aus dessen Brennpunkten Fluchtlinien der Montage-Prozesse in ihrer vitalisierten Dialektik der Signifikanz ausstrahlen: »[D]as Medium sind die Zuschauer ; sämtliche Medien können nur Anleihen machen an dieser Substanz. Insofern gilt der Satz: die Medien stehen auf dem Kopf.«53
… und Unterhaltung Sowohl Kluge und sein Gast als auch ihr Publikum konstituieren also einen Zusammenhang, in welchem auf eine radikale Weise die Prozesse der Produktion und Rezeption in eins fallen. Die hier vorgestellte Konzeption hat wiederum Konsequenzen für die zunächst angenommene dialogische Dialektik. Die spezifischen Merkmale der Gesprächstechnik Kluges lassen sich schließlich zugleich als Unterhaltung kennzeichnen. Damit ist für Kluge – der einst mit Negt praktische Auswege aus dem kulturindustriellen Programmschema erdacht hatte und dessen eigene Sendungen im (Web)-TV heute selbst als ein Integral der Popkultur gelten können – keineswegs ein bloßes Entertainment gemeint, sei es etwa in der trivialen affirmativen Form eines Let me entertain you (Robbie 52 Jacques Derrida/Bernard Stiegler, Echographien. Fernsehgespräche, Wien 2006, S. 55 und S. 59 [für die letzten zwei Zitate; Herv. d. Verf. im zweiten Zitat]. 53 Kluge, Utopie Film, S. 101.
246
Florian Wobser
Williams) oder der vergleichsweise dissidenten Art eines Here we are now, entertain us (Kurt Cobain). Mit Unterhaltung ist terminologisch vielmehr eine konzeptionelle Radikalisierung des Dialogischen zwischen Kluge und seinem jeweiligen Gast im Sinne der Dialektik der Signifikanz gemeint. Ausgerechnet Deleuze führt in einem 1977 publizierten Band mit dem Titel »Dialogues« schriftlich simulierte Gespräche mit seiner akademischen Schülerin Claire Parnet, dessen erstes »Was ist eine Unterhaltung [entretien] und wozu nützt sie?« als Titel trägt. Deleuze erklärt dort gleich einleitend: »Interview, Dialog, Unterhaltung – es ist ungemein schwer, ›sich‹ zu ›erklären‹, verständlich zu machen.«54 Deleuze unterscheidet dann im weiteren Verlauf das Philosophieren mit sich selbst und jenes zu zweit, indem er auf das gemeinsame Schreiben mit Guattari bezogen konstatiert: Zu zweit gearbeitet haben viele […]. Es gibt dafür keine Regeln, keine allgemeine Formel. Was ich in meinen früheren Büchern versucht hatte, war die Beschreibung einer bestimmten Ausübung des Denkens; die Beschreibung aber war noch nicht die Ausübung des Denkens in eben dieser Weise. (Genausowenig wie ›Es lebe das Vielfältige‹ bedeutet, es auch zu tun; das Vielfältige ist zu tun.)55
Während Deleuze offenbar eine Differenz macht zwischen seinen eigenen Büchern und den gemeinsam mit Guattari verfassten, kann dieselbe Einschätzung auf einer Verlängerungslinie gewiss genauso für Kluge und Negt – speziell für Geschichte und Eigensinn – in Anspruch genommen werden. Kluges Gegenverwirklichung des Opus Magnums in den mannigfaltigen Un-Formen seiner Kulturmagazine folgt in dieser Lesart auf indirekte Art Deleuzes Imperativ : »Das Vielfältige ist zu tun.« Kluges Transformation der experimentellen Textualität zu zweit in die multisensorische bzw. -semiotische Medialität vieler im (Web-)TV erfüllt und überbietet jene normative Forderung, zumal in Kluges Interviews nicht zuletzt dieses Arbeiten zu zweit zur vielfältigen – permanent wechselnden – Ausübung des Denkens mit einem jeweiligen Gast geworden und immer noch im Werden ist. Deleuze umschreibt in seinem Beitrag zu den »Dialoge[n]« mit Parnet einerseits den Prozess einer Unterhaltung, indem er ganz im Sinne der kurze Zeit später mit Guattari publizierten Unterhaltung mit ihrem Titel Tausend Plateaus festhält: »Begriffe sind wie Töne, Farben oder Bilder – Intensitäten, die passieren oder nicht. […] Stil ist Verkettung, Verkettung der Äußerung. Stil hat, wer in seiner eigenen Sprache stottern oder stammeln kann.« Hier klingt im gegebenen Zusammenhang nicht zuletzt das Zaudern von Tawada an, deren Verkettungen sich zudem zwischen der japanischen und deutschen Sprache vollziehen. 54 Gilles Deleuze, »Was ist eine Unterhaltung und wozu nützt sie?«, in: ders./Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/M. 1980, S. 7–41; speziell S. 9. 55 Ebd., S. 24.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
247
Gleichzeitig wird ihr kurzer Diskurs mit Kluge von diesem massen-medial als ein audio-visueller präsentiert, der sich im weiter oben erläuterten Sinne tatsächlich voller Töne, Farben oder Bilder zeigt. Zugleich spitzt Deleuze seine eigenen Äußerungen zu, indem er das Produkt dieses Prozesses in seine Betrachtung mitaufnimmt und artikuliert: »Das Ergebnis ist nichts Wechselseitiges, sondern ein asymmetrischer Block, eine aparallele Entwicklung, Vermählung: stets ›außer-halb‹ und ›zwischen‹. Das wäre also eine Unterhaltung.«56 Mit Deleuze lässt sich folglich die nicht gänzlich zu verstehende bzw. zu vermittelnde Asymmetrie zwischen Kluge und Tawada auch im Sinne von Chion und dessen valeurs ajoute8s in audio-visuellen Hinsichten in ihren phänomenologischen sowie dekonstruktiven und poststrukturalistischen Eigentümlichkeiten als Unterhaltung charakterisieren. Die oben detailliert erklärten Kontraste, ihre Vermischung und sinnlich-semiotischen Chiasmen weisen einen Rest des Verstehens bzw. Vermittelns aus – ihre Entziehung und Überfüllung widerstreitet nicht zuletzt Adornos negativer Dialektik – und intensivieren die dialogische Dialektik durch deren aparallele Entwicklung vielmehr zu einer Unterhaltung. Der Gesprächstechnik und massen-medialen Inszenierungsweise Kluges können einzelne wichtige Elemente des Sokratischen Gesprächs attestiert werden; mittels der ästhetisch-performativen Strategie in der Immanenz der Dialektik der Signifikanz ist Kluges Stil aber anders; er verführt seine Gäste in Unterhaltungen im sokratischen Duktus.
… mit Gästen Bereits in Maßverhältnisse des Politischen (1992), dem dritten und letzten gemeinsamen Buch mit Negt, hatte Kluge in dem Abschnitt »Das Gastrecht und das Andere der Vernunft«57 den hohen Wert der Hospitalität betont. Während letztere dort von Kant hergeleitet und in den Zusammenhang sozio-politischer Geschichte eingebettet worden war, wird die Historie in den Unterhaltungen im sokratischen Duktus Kluges mit Gästen, in deren ästhetisch-performativen Eigentümlichkeiten sich das Andere der Vernunft gerade im massen-medialen Szenario zeigt, in ein Werden im Sinne von Deleuze/Guattari transformiert, dessen mikrologische Signifikanz auch nicht frei von mikropolitischen Impli-
56 Ebd., S. 11f. und S. 14 [für die letzten zwei Zitate]. Den Ansatz zur praktischen Umsetzung einer Unterhaltung lieferten Deleuze/Parnet wiederum im »Ab8c8daire«, einem ca. achtstündigen, an Stichworten in alphabetischer Reihenfolge erfolgten Gespräch, das 1996 in Frankreich erstveröffentlicht wurde. 57 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, S. 145–150.
248
Florian Wobser
kationen ist.58 In Nähe zu Politiken der Differenz59 geht es Kluge im Projekt seines (Web-)TVs als Verlängerungslinien seiner Schriften mit Negt um eine neue massen-mediale Öffentlichkeit, die auch ästhetisch-politische Imaginationen und Praxen inkorporieren kann.60 Waren Kluges »Dialoge mit Zuschauern« einst als praktische Entfaltungen des »Modells einer kommunizierenden Öffentlichkeit« im Sinne der Diskurstheorie von Jürgen Habermas charakterisiert worden,61 so wird der hierzu beanspruchte Begriff eines Kommunizierens im vorliegenden Beitrag in sein Äußerstes entgrenzt. Sowohl die Zuschauer und Zuschauerinnen Kluges als auch seine Gäste, mittels derer Kluge überhaupt ein solches lebendiges Geschehen inszenieren kann, werden in den Verläufen dieser Unterhaltungen zu transformatorischen Rezeptions- und Produktionsprozessen im radikalen Sinne provoziert. Dieses auch bildungstheoretisch und -philosophisch attraktive Geschehen, das auf einzelnen Momenten der Alterität basiert,62 erfordert nach Kluge eine einigungsfähige Differenzierung, in der nach Deleuze/Guattari genauso die Intuition aktiviert werden muss,63 um eine Heuristik garantieren zu können. Jene Alterität ist die der unhörbaren Töne bzw. unsichtbaren Bilder, die mit Kluge durch das konsequente Montieren zum Ausdruck gebracht werden. Während in vielen der Unterhaltungen Kluges mit Gästen ganz besonders stark die Gestik, Mimik und der (para-)verbale Klang dominieren, wird in ihnen eine nochmalige Intensivierung betrieben, sobald – durch Kluge im Nachhinein – in diese ohnehin emphatischen Gespräche tatsächlich einzelne auditive oder visuelle Elemente hineinmontiert werden. Sobald also das Gastrecht bzw. das ›Andere der Vernunft‹ in diesen Unterhaltungen im sokratischen Duktus mittels eines – von außen oder zwischen – Einblendens auditiver bzw. visueller Inserts weiteren ästhetisch-performativen Ausdruck erhält, ist zusätzlich auch das diakritische Unterscheidungsvermögen des Publikums von Kluge gefordert.
58 Vgl. hierzu Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 283–316. 59 Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010, speziell S. 38ff. 60 Vgl. hierzu meinen Artikel »Der Öffentlichkeitsmacher Alexander Kluge und seine ästhetisch-performative Strategie« als Beitrag zum Sammelband der gleichnamigen Hannoveraner Tagung Öffentlichkeiten. Ästhetisch-politische Imaginationen und Praxen; im Erscheinen. 61 Vgl. Christian Schulte, »Dialoge mit Zuschauern. Alexander Kluges Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit«, in: Irmela Schneider (Hg.), Medienkultur der 70er Jahre, Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3, Wiesbaden 2004, S. 231–250. 62 Vgl. hierzu einerseits Koller, Bildung, S. 71–78 (zu Günther Buck) bzw. S. 79–86 (zu Bernhard Waldenfels) bzw. zugleich Sanders, »Pädagogiken«, S. 19f. und S. 97. 63 Vgl. Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 147f. Dieser Begriff bzw. diese Praxis einer Intuition basiert auf einer früheren Übernahme von Bergson durch Deleuze; vgl. Gilles Deleuze, Henri Bergson. Zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2007, speziell S. 23–51.
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
249
»Das flexible Gedächtnis« Es gibt unzählige solcher um eine Post-Production ergänzte Interviews Kluges. Manche von ihnen weisen sogar Sequenzen audiovisueller Essays auf, in denen Klänge und Bilder stark dominieren und zwischenzeitlich die Unterhaltung beherrschen bzw. zuweilen auch in einem kaum erkennbaren Zusammenhang mit ihr stehen. Im Folgenden möchte ich mich hier aber auf einen Auszug aus der vergleichsweise schlichten Unterhaltung zwischen Kluge und dem Hirnforscher Erik Kandel mit dem Titel »Das flexible Gedächtnis« beziehen.64 Diese erneut singuläre Auswahl ist einerseits geeignet, da sich in dieser Sendung einige Gemeinsamkeiten – jedoch auch Unterschiede – im Vergleich zur Unterhaltung von Kluge mit Tawada zeigen; zugleich weist dieser Beitrag Kluges ebenso mehrere Affinitäten zu philosophischen Bezügen im vorliegenden Artikel auf. Kandel, ein aus Österreich stammender Jude, der auch nach dem Exil seit 1945 in den USA blieb, spricht mit Kluge eine aktuelle Fremd-, nämlich seine frühere Muttersprache und gerät ab und an ins Zaudern. Die konträre Ausgangssituation wirkt jedoch anders als bei Tawada als rein sprachliches Problem – aufgrund von Wortfindungsproblemen, bei denen Kandel aus dem Off heraus durch die pointiert agierende Simultandolmetscherin Ulrike Sprenger unterstützt wird, scheint der Neurobiologe wirklich ab und an zu stammeln.65 Kandel bindet diese Tatsache aber sogar ganz souverän in die eigene Argumentation mit ein, indem er sie selbstreflexiv gebraucht: Ich gebe ihnen ein Exemplar: wir sprechen miteinander ; Sie sprechen ausgezeichnet deutsch, ich spreche ein sehr schlechtes Deutsch, aber wir sprechen miteinander und wir verstehen einander, aber die Sprache, die ich benütze, auf Deutsch oder Englisch – ich weiß nicht, ob sie grammatisch ist, ich weiß nicht wo das Verb ist, ich weiß nicht wo das noun ist, ich weiß nicht sogar in meinem Satz ob es gibt ein Verb oder das noun – das ist alles unbewusst, aber es geht!
Dieses situative Beispiel gibt Kandel nach den ersten zehn Minuten dieser dreiviertelstündigen Unterhaltung mit Kluge, auf die ich mich hier in erster Linie beziehe. Es dient ihm als Beleg für seine vorherigen theoretischen Gedanken zur – so der Untertitel des ganzen Interviews – »Biologie des Geistes«, in deren Verlauf er eine forschungsbasierte Argumentation entwickelt, die wiederum an 64 Vgl. hierzu »Das flexible Gedächtnis«, News & Stories, 24. 09. 2006 bzw. www.dctp.tv/filme/ das-flexible-gedaechtnis/ (Stand: 10. 04. 2016). Eine kürzere Version dieses Gesprächs (20’) findet sich auf DVD 8.6 der Sammlung Alexander Kluge, Seen sind für Fische Inseln. Fernseharbeiten 1987–2008, Frankfurt/M. 2008. 65 Gerade die Tatsache der Vermischung von Fremd- und Muttersprache, die zwar sowohl für Kluges Beiträge mit Tawada als auch mit Kandel gilt, sich in beiden Fällen jedoch sehr unterschiedlich äußert, kann und soll hier als ein Beleg für die Singularität des jeweiligen Beitrags gelten.
250
Florian Wobser
jenen transzendentalen Empirismus von Deleuze – und Guattari – erinnert. Kandel selbst bezieht sich, hierbei auf interessierte Impulse von Kluge reagierend, auf Kant, Locke und – vergleichsweise eher pauschal – auf Freud, um hirnphysiologische Lernprozesse zu erklären und zu deuten, die für Veränderungen der sogenannten »Neuronenarchitektur« verantwortlich seien. Kluges Impulse sind gefärbt von eigener Faszination an Kandels Thesen und zuerst auf besonders sanfte Weise (ein-)flüsternd; gerade die drei konzeptionellen Bezüge zwischen einem Empirismus, Kritizismus und Freudianismus, die Kandel zur Synthese bringt, betont Kluge jedoch stark, indem er hervorstechend dem jeweiligen zu dieser drei Relationen zwischen Kandel und den Philosophen bzw. dem Psychoanalytiker eine verbale bzw. auditive Akzentuierung verleiht. Während Tawada sich auf die paradoxe(n) Frage(n) Kluges merklich feinfühlig einlässt, um Kluges Interpretationswunsch letztlich doch zu negieren, wählt Kandel durchgängig eine andere Strategie. Zwar nimmt er Kluges einleitende Impulse als Einladung zum Referat zu seinen Forschungen auf, jede weitere Anspielung Kluges ignoriert er jedoch, indem er einfach weiter spricht oder sie durch eine pragmatische Zustimmung – »genau!« – schlicht neutralisiert. Diese Taktik gilt selbst für jene Stelle dieser Unterhaltung, an der Kluge auf eine sehr »verflüssigende« Weise auf das Präparat – eine Schnecke – der Forschungen Kandels eingeht. Wie so oft drückt sich die Faszination Kluges in einer Erhöhung der Stimme und ihres Tempos aus: »Das ist sehr interessant – das ist der Seehase; – wenn Sie ihn einmal beschreiben, – so zeigen, wie groß ist der? Wie eine kleine Katze?« Kandel äußerst gelassen: »Wie eine kleine Katze, – genau!«. Kluges Signifikantenkette Schnecke-Seehase-Katze wird von seinem Gast auf abgeklärte Weise akzeptiert und ihrer ästhetisch-performativen Kraft zugunsten einer nüchternen Betrachtung beraubt. Der jeweilige Gast von Kluge und dessen individuelles Sprachhandeln ist folglich auch auf solche Art eine Alterität, dass es von Kluge nicht kontrolliert werden kann. Während Kluge sich in der Unterhaltung mit Tawada metaleptisch auf ihre eigene Sprachbildlichkeit bezieht, ein – spontanes (?) – Kalkül, dem sich die Dichterin zwischen Kunst und Philosophie nicht entziehen kann, verweigert Kandel den Übertritt aus dem Wechselspiel zwischen Philosophie und Wissenschaft – in die Kunst. Kluge hat durch die Möglichkeit seiner Post-Production aber die Chance, auch im Nachhinein – immerhin gegenüber dem Publikum – Akzente zu setzen. Indem er sich für diese Unterhaltung mit Kandel entscheidet, zusätzlich zur verbal-auditiven Signifikantenkette noch eine Abfolge visueller Inserts dazwischenzumontieren, deren vier zu Freud, Kant, Locke und Aplysia Californica eine portraitartige Machart miteinander teilen, ergänzt er die erkenntnistheoretischen Relationen dieser drei mehr oder weniger szientifischen Großdenker (unter denen Freud – der Vermittler laut Kandel – am ehesten der Kunst zuneigt), um einen surreal anmutenden Eindruck vom Gesamtkunstwerk
Kluges Kulturmagazine mit Gästen
251
dieser voluminösen Schnecke und stellt so auch das diakritische Unterscheidungsvermögen seines Publikums auf die Probe.
Screenshots und Inserts aus »Das flexible Gedächtnis«
Während eine Mikrolektüre der Gestik, Mimik und (para-)verbalen Qualitäten des Agierens von Tawada bzw. Kandel – en d8tail – noch zu allerhand Kontrasten und Vergleichbarkeiten führen könnte, liegt die ästhetisch-performative Unterscheidung der beiden Beiträge also darin, dass Kluge den heimlichen Star der Unterhaltung im sokratischen Duktus mit Kandel explizit ins Bild setzt. Dagegen bleiben »Roher Fisch und Rinderzunge« allein dem inneren Blick des Publikums von Kluge vorbehalten – einmal mehr stehen On und Off im Kontrast zueinander. Der von Kandel skizzierte lerntheoretische Zusammenhang erfordert offenbar für Menschen im Allgemeinen und für die spezifische – produktive – Rezeption der Unterhaltung zwischen Kluge und seinen Gästen im Besonderen lebendige Synapsen. Die von ihnen als Reaktion auf die »Verflüssigung« von und zwischen Kunst, Wissenschaft und Philosophie anzubahnenden Interferenzen sind bereits eine flüchtige Zieldimension sowohl in Geschichte und Eigensinn als auch auf jenen Tausend Plateaus eines Denkens von Deleuze und Guattari gewesen.66 Indem erkenntnistheoretische und praktische Hospitalitäten innerhalb dieses Zusammenhangs nicht ohne Momente der Heterogenität, Differenzierung, Vielfalt und Inklusion auskommen, weist die Immanenz dieser Dialektik der Signifikanz nicht zuletzt auch eine bildungspolitische Mikrologie auf, die zugleich subversive Ambitionen der Kritik bzw. Aufklärung aktualisiert.67 Was 66 Vgl. hierzu Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 50ff.; S. 59ff. und S. 144–154 bzw. Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 238–260. 67 Kluge denkt bekanntermaßen den Wortsinn von Differenz auch als differenzieren bzw. unterscheiden im Sinne von Kritik bzw. kritisieren; vgl. Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung.
252
Florian Wobser
man in Auseinandersetzung mit der Gesprächskunst Kluges lernen kann, ist das Faktum, dass die Heuristik, die diesen Unterhaltungen gerecht werden könnte, weder auf einer bloßen Hermeneutik noch auf einer solchen Dialektik basieren darf. Vielmehr müssen in Prozessen ihrer Rezeption auf produktive Weise Phänomenologie und Massen-Medialität konvergieren – Kluges Gesprächskunst erfordert ein Denken, das sich nicht allein paradigmatisch zwischen kritischer Theorie aus Frankfurt und Frankreich konstituiert, aus Begriffen und Signifikanten, sondern das auch thematisch die Disziplinen der Kunst, Wissenschaft bzw. Philosophie latent miteinander verbindet und in welchem sich immer sowohl Sinnlichkeit als auch Rationalität innovativ aktualisieren. Für dieses Denken stehen wiederum nicht allein der rohe Fisch und die Rinderzunge, sondern insbesondere auch die Aplysia Californica. Diese Chiffren einer radikalen Sensibilisierung – im Sinne des Prinzips Hautnähe68 – aktivieren so eine Dialektik der Signifikanz, die asymmetrisch und aparallel zur Dialektik der Aufklärung stehen muss. Hatten Adorno und Horkheimer die »Genese der Dummheit« vom »Fühlhorn der Schnecke ›mit dem tastenden Gesicht‹« hergeleitet69, die sich immer defensiver in ihr Gehäuse zurückziehe, setzt Kluge jetzt offensiv eine Schnecke ins Bild, die eine sensibilisierte Oberfläche darstellt. Aplysia Californica ist ohne Gehäuse und muss sich der Dialektik der Aufklärung entwinden. Im Sinne von Benjamin gewinnt Kluge in derselben Schnecke – als ein Denkbild im Optativ – ein sehr langsames, aber neuartig anmutendes Werden einer Zukunft aus ihrer Vergangenheit: Die entfalteten Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, daß einstmals Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden. […] In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte.70
Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 49. Derrida und Deleuze/Guattari wiederum kleideten ihre – theoretische wie praktische – Kritik mit anderen Mitteln – an sehr vielen Stellen – in einen Widerstand gegen die Gegenwart. 68 Vgl. hierzu Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 287–293. 69 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1969, S. 274f., hier S. 274. 70 Ebd.
News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger)
»Romantiker ist, wer die Welt persönlich nimmt«. Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad »Der Sturm sagt: Bezwinge mich! Die Seele ist im Ernstfall eine stotternde Ente«
ALEXANDER KLUGE: Der Roman beginnt mit einem Prozess, in dem Jim als Angeklagter übriggeblieben ist. ULRIKE SPRENGER: Er ist der einzige einer Schiffsbesatzung, der ein vollbesetztes Schiff im Augenblick des drohenden Schiffbruchs verlassen hat. KLUGE: Das Schiff ist die Patna, ein altes rostiges Schiff. SPRENGER: Man würde es einen Seelenverkäufer nennen. Es geht um Profit. Zu der Besatzung gehört auch Lord Jim. Er hat Angst. KLUGE: Er ist Offizier auf diesem Schiff. SPRENGER: Er ist erfolgreich, aber er hat gelernt, dass das Meer gefährlich ist. Er hat in sich eine Angst entdeckt und zugleich ein Bedürfnis, diese Angst zu überwinden. In der Fremde sucht er diese Gelegenheit, ohne sich aber der Gefahren bewusst zu sein. Er ist ein gutwilliger Mitläufer, der auf seine Gelegenheit wartet, eine Heldentat zu vollbringen. Er ist eine Art männliche Madame Bovary. KLUGE: Diese junge Frau will nach Paris, sie muss aber ein Leben zu Hause in einer Kleinstadt führen. SPRENGER: Sie sucht die Ausnahmeexistenz, die romantische Liebe, die sie für alle Zeiten aus dem kleinbürgerlichen Dasein erlöst. Das hat sie gelernt in den Romanen, die sie im Kloster gelesen hat. Auch Jim liest in seiner Jugend Abenteuerromane, vor allem Seefahrtsromane. Er fühlt sich diesem Heroismus nicht gewachsen, aber er sucht die Gelegenheit, ein Held zu werden. KLUGE: In diesem Jahr bringt eine Gefängnisaufseherin in der gediegenen Schweiz einen Vergewaltiger außer Haus und fährt mit dem Fahrzeug ihres Mannes über Italien mit ihm nach Syrien. SPRENGER: Das ist ähnlich. Es geht darum, die eigene Angst zu spüren, die Unfähigkeit, von sich aus ein Held zu sein und auf die Gelegenheit zu warten. KLUGE: Die außerordentliche Tat geht daraus hervor. SPRENGER: Der Romantiker nimmt die Welt persönlich. Er schaut hinaus in den Sturm, fühlt sich angesprochen und herausgefordert durch den Sturm. KLUGE: Er redet mit dem Sturm, und in seiner Seele ist der Sturm hervorrufbar.
254
News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger)
SPRENGER: Der Sturm sagt: Bezwinge mich. Das ist die Haltung von Jim. Er hat Angst vor dem Sturm, deswegen flüchtet er in diese friedlichen Gewässer Südostasiens. Er hat sich im Pazifik eingerichtet auf diesem Seelenverkäufer. Er selbst führt ein ehrenhaftes Leben innerhalb dieser korrupten Mannschaft, die versoffen und nur auf den Profit aus ist. Das Schiff soll muslimische Pilger auf der Haddsch nach Mekka bringen. Das verlangt kaum seefahrerisches Können, weil die See ruhig ist und man eigentlich nur geradeaus fahren muss. Jim genießt nachts dieses Gefühl, diese 800 Pilger, ein riesiges Schiff, in seiner Obhut zu haben, in der gewaltigen Landschaft, die ihm das göttliche Universum gleichzeitig nahebringt. Da wird das Gefühl des Kapitäns bei ihm geweckt. Aber die Ruhe ist trügerisch und eines Nachts gibt es einen kleinen Stoß im Schiff, so dass sich alle hinterher fragen, ob überhaupt etwas gewesen ist. KLUGE: Hat das Schiff ein Riff gerammt, ist nur das rostige Schiff in sich an einer Stelle zusammengefallen? SPRENGER: Unerklärlich, es kann ein treibender Baum gewesen sein – was hinterher vermutet wird. Offensichtlich reißt dieser Zusammenstoß ein Loch in den rostigen Kahn. Das einzige, was das Schiff vor dem sofortigen Untergang rettet, ist also ein Wandschott, eine Trennwand. Die aber ist so rostig, dass Jim sieht, als er nach unten geht, um die Lage zu inspizieren, wie sie sich wölbt unter dem Wasserdruck. Große, handtellergroße Flocken Rost, heißt es, springen ab. Die Situation des Schiffs ist dramatisch beschrieben. Der Bug neigt sich ins Wasser, wird vom Wasser runtergezogen, und in dem Moment, in dem das Schott nachgibt, ist das Schiff weg. KLUGE: Das ist aus der Perspektive einer Gerichtsverhandlung erzählt. Es kann sein, dass das eine Panik ist, bei der plötzlich alle Weißen annehmen, das Schiff geht unter. SPRENGER: Jim stellt es so dar, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass dieses Schiff untergehen wird. Jim steht auf diesem Schiff vollends ratlos und schaut über die Pilger, die alle schlafen. 800 Menschen liegen auf dem Deck dieses Schiffes mit Tüchern bedeckt, bescheiden, dem Schicksal ergeben und wissen nicht, dass sie Sekunden vor dem Tod sind. Jim blickt sie an und sagt: Ich sehe 800 Tote. Er ist sicher, das Schiff ist in seinem Geiste schon untergegangen. Genau das ist sein Fehler in dieser Situation. Keiner der weißen Männer denkt darüber nach, wie dieses Schiff zu retten sein könnte. Jim ist gelähmt, die Situation überfordert ihn und der Rest der Mannschaft versucht, die eigene Haut zu retten. KLUGE: Jetzt werden Boote heruntergelassen. SPRENGER: Es gibt sechs Rettungsboote für 800 Menschen, das ist das Kalkül, das Jim im Kopf herumgeht. Diese Boote sind in rostigen Aufhängungen unbeweglich befestigt. Nun versuchen die Mannschaftsmitglieder, ein solches Boot flottzumachen. Jim beobachtet das aus einer Perspektive des Irrealen, einerseits
Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad
255
die schlafenden Flüchtlinge, die nichts von der Seefahrt verstehen, nicht schwimmen können und sich den Menschen, diesen weißen Seeleuten, anvertraut haben. Auf der anderen Seite ist diese slapstickhaft agierende Mannschaft des volltrunkenen Kapitäns mit seinen Offizieren, die versuchen das in seiner Aufhängung hin und her schaukelnde Rettungsboot zu besteigen, das ihnen immer in dem Augenblick wegschaukelt, in dem sie einsteigen wollen, in dem sie rausgeschleudert werden. KLUGE: Jim, Opponent, ist Kritiker. Er kommt aus der theoretischen Stellung nicht heraus. SPRENGER: Er kann nicht entscheiden. KLUGE: Er will aber zunächst lieber mit den armen Opfern sterben, als selbst zu flüchten. SPRENGER: Die stillen Opfer, die nichts tun, die schlafen, können ihn nicht binden. Seine Verantwortung reicht nicht aus. Er wird in den Sog der Bewegung gezogen. Er sagt im Prozess: »Dann fand ich mich im Rettungsboot wieder.« Das sind diese kleinen, ausgeblendeten, rätselhaften Momente, die ein Richter nicht erfassen kann. Die bekommen wir auch nicht erzählt, weil sie nicht erzählbar sind. Sie werden aus dem Inneren von Jim heraus vielleicht erzählbar, wenn er selber wüsste, wie er ins Rettungsboot gekommen ist. KLUGE: Er führt sein späteres Leben zur Wiedergutmachung. SPRENGER: Als nächstes wird der Blick nach oben geschildert. Er fällt in dieses Rettungsboot, sieht die Bordwand herauf, zehn, zwanzig Meter hoch und weiß, dass es keinen Weg zurück gibt. Er kann diese Menschen nicht retten. Dann kommt Wind auf, es gibt Regen und Sturm. Das besiegelt in den Augen der fliehenden Mannschaft das Schicksal. Sie sind sich sicher, dass dieses Boot verurteilt ist zum Sinken. Und sie vermeinen es sogar zu hören und zu sehen, dass dieses Schiff tatsächlich sinkt. KLUGE: Jim hat ein Vernichtungsgefühl, sein gerettetes Leben war vorbei, weil ihm der Boden unter den Füßen fehlte, weil seine Augen nichts sahen, seine Ohren nichts hörten. Die Geretteten, die Rotte, fängt an zu schwatzen. SPRENGER: Sie legen sich bereits Pläne zurecht, wie sie sich herausreden. KLUGE: Das Schiff muss unbedingt untergegangen sein, damit kein Zeuge da ist. SPRENGER: Es wäre ein Fall für einen Richter zu fragen, was mache ich mit einer Mannschaft, die ein Schiff verlassen hat, das tatsächlich rettungslos verloren war. Die haben eine starke Position, wenn sie sagen: Wenige Sekunden, nachdem wir das Schiff verlassen hatten, war es weg. Das ist der Eindruck, den sie stärken wollen. KLUGE: Die Patna sank nicht. Vielmehr schwamm der Seelenverkäufer weiter mit den Schlafenden. Das rostige Schott hielt gegen alle Wahrscheinlichkeit. Eine französische Fregatte oder ein anderes Dampfschiff zog es in einen Hafen. Sie
256
News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger)
haben alle überlebt. Jetzt kommt die Nemesis. Die Beweise sind angekommen. Der Kapitän und die übrigen Schuldigen verschwinden. SPRENGER: Sie verschwinden, einer säuft sich zu Tode. Es gibt eine Art Schuldgefühl, das einen in den Wahnsinn treibt. Jim ist der einzige, der sich der Gerichtsverhandlung stellt. Der Kapitän der französischen Fregatte, die die Patna dann rettet und diese hilflos auf dem Meer treibenden Menschen findet, macht etwas, das zeigt, wo die Grenzen des Heldentums liegen zwischen Kapitänsehre und Risiko. Der französische Kapitän geht während des Abschleppens auf die Patna. Er könnte auf seinem intakten Schiff dieses Schiff abschleppen. Es besteht immer noch die Gefahr, dass das Schott nachgibt und sie die Leine kappen müssen. Das muss der Kapitän tun, um sein eigenes Schiff zu retten. Er erfasst die Symbolik der Verantwortung, indem er sich auf den Bug der Patna stellt während des Abschleppvorgangs. KLUGE: Von dort aus kommandiert er sein eigenes Schiff durch Zeichen. Als das im Prozess bekannt wird, liegen Zentnerlasten auf den Schultern von Jim. SPRENGER: Da ist eine symbolische Wiedergutmachung, wo die ursprüngliche Mannschaft versagt hat. Es ist eine bildliche Anklage, selbst in der Rettungsaktion kann der Kapitän dieses Versprechen geben und auch symbolisch einhalten, bei denen zu bleiben, die ihm anvertraut worden sind. KLUGE: In der Ägäis, im Mittelmeer, ist diese Fragestellung im Moment wichtig, egal, ob es Muslime, die nach Mekka wollen, oder Flüchtlinge sind. SPRENGER: Da kommt auch das Missverständnis von Jim zutage, der große Unterschied zwischen ihm und diesem abgeklärten französischen Kapitän, der nicht an Heldenmut glaubt, sondern dem Erzähler einen Vortrag hält und sagt: es kommt immer der Moment der Todesangst. KLUGE: Für das romantische Gefühl ist kein Platz in der Welt. SPRENGER: Ein guter Kapitän ist ein Funktionär zur See, der erstens sein Schiff gut kennt und beherrscht, und zweitens die Mannschaft als etwas sieht, das er beschützen muss und weiß, wann er das Kommando abgeben muss. Es sind diese seefahrerischen Werte, die nichts mit Heldentum zu tun haben, die Jim verwechselt und die ihn lähmen, weil er denkt, er müsste aus der Empfindung seiner Seele heraus seine Handlungsweise ableiten. KLUGE: Im Ernstfall ist er eine schnatternde Ente. SPRENGER: Im Ernstfall ist die Seele überfordert, sagt der Kapitän. Die Schlepper heute auf den Flüchtlingsbooten haben nichts mit Kapitänen zu tun, sondern lassen diese Leute auf See zurück oder nicht erst an Bord kommen. Sie schieben sie einfach auf die Boote und überlassen diese ihrem Schicksal mit mehr oder weniger funktionierender Navigation. Inzwischen ist es so, dass die Flüchtlinge mit den Telefonnummern der Seenot-Rettung in Europa ausgestattet sind und dort mit dem Handy vom Flüchtlingsschiff aus anrufen. Die SeenotLeitstellen sind verpflichtet, diese Menschen zu retten. Das ist ein seefahreri-
Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad
257
sches Prinzip: Wer in Seenot ist und sich mir anvertraut, den muss ich retten, ungeachtet dessen, was vorher geschehen ist. Ich muss den verfolgen, der ihn im Stich gelassen hat. Auch im Krieg gab es Situationen, in denen Kapitäne Schiffbrüchige der gegnerischen Seite gerettet haben. Dieser französische Kapitän, der sich selbst als nicht moralgesteuert sieht, ist ein französischer Aufklärer, er ist ein »homme machine«, die Moral funktioniert nicht wirklich. Innerhalb dieser Welt übernehmen wir eine Aufgabe. Dann können wir vielleicht glücklich retten, aber wir können auch untergehen. Treue ist ein großes Wort bei Conrad, das aber pragmatisch verstanden wird. KLUGE: Das Sich-Selbst-Treu-Sein führt dazu, dass er am Ende des Romans mit einer Art Heldentat einen Bürgerkrieg verhindert, Folgen auf sich nimmt und erschossen wird. SPRENGER: Jim gerät in Verdacht, an einem Verrat teilgenommen zu haben. Es kommt ein Weißer, vollständig skrupelloser Handelspirat, Gentleman Brown, der mit einem gestohlenen Schiff von Insel zu Insel reist, um sich das unter den Nagel zu reißen, was jeweils am lukrativsten ist und mit Waffen, mit Drogen handelt. Er fühlt sich aber als ein vom Schicksal Benachteiligter. Er hat es im Westen nicht geschafft. Aus Angst vor einer weiteren Gefängnisstrafe ist er nach Indonesien geflohen. Eine Mannschaft aus ebenso gescheiterten wie skrupellosen Freibeutern aller Nationen hat sich um ihn geschart. Die Piraten kommen in eine Situation, in der sie nahe am Verhungern sind. Es wird ihnen gesagt, es gebe dort ein Dorf. Jim kommt auf Betreiben eines niederländischen Händlers vorher dort hin. Dieser Philanthrop, Stein, sieht die Chance für Jim, sich zu bewähren. KLUGE: Die gütigen Menschen kommen in dreierlei Gestalt vor, einmal als dieser Franzose, der als Ingenieurspraktiker Schiffe rettet und in den Hafen bringt. Dann aber auch als der Erzähler Marlow, der sagt: Dieser Lord Jim hat mir gefallen vor Gericht, er hat etwas Aufrichtiges, das ich ergründen will. SPRENGER: Marlow möchte die Facetten sammeln, er möchte mitteilen, wer Jim ist, wie gut er sich schlägt in dem, was wir Leben nennen. Marlow ist sein Anwalt. Er sagt: Ihr habt ihn verstoßen, Ihr hättet ihn behalten, hättet ihn anders erziehen müssen, nicht mit romantischen Idealen ausstatten und dann in die Fremde schicken. Den hättet Ihr zuhause einweisen können in die Geschicke, in den Straßenbau, in die Gründung der menschlichen Zivilisation. Er ist einer von uns in mehrfacher Hinsicht, meint Marlow, welcher der brave Kapitän eines Handelsschiffes ist, der immer mal wieder mit Jim in Berührung kommt, zunächst beim Prozess, aber auch über andere, zum Beispiel Stein. Er erzählt seine Geschichte, um zu zeigen, was die Gefahren sind, wo die Versuchungen liegen. KLUGE: Wenn Lord Jim Glück hat, seine Umgebung ihn also nicht stört und sein Ich auseinandergetrieben wird, dann ist er ein Wohltäter.
258
News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger)
SPRENGER: Wenn er nicht daran denkt, wie er dasteht, dass er sich dem Westen als glorioser Held beweisen muss, wenn er sich beschränkt auf den friedensstiftenden Erhalt einer kleinen prosperierenden Gemeinschaft und dort sogar noch die Liebe zu einer Frau findet, die aus einer Mischlingsehe hervorgegangen ist und auch ortlos ist. Conrad beschreibt diese Menschen, die aus gemischten Verbindungen hervorgehen, als äußerst gefährdet innerhalb dieser Gemeinschaften. KLUGE: Ihm gefällt an dieser jungen Frau die Mischung aus Scheu und Wagemut. SPRENGER: Das sind die beiden Eigenschaften, die er gerne hätte und ihm gefällt ihre unbedingte Verpflichtung dieser Gemeinschaft gegenüber, obwohl sie ihr qua Herkunft nicht zugehört. KLUGE: Es gibt genügend Elemente des Gutartigen in diesem Roman, aber sie sind bewegt wie durch Erdbeben. SPRENGER: Dann gibt es auch Verrat. Brown ist das schiere Böse, er kennt keine Skrupel, keine Grenzen und hat als Prinzip nur die persönliche Bereicherung und die Rache an der Welt. KLUGE: Wenn er den Hunger gestillt hat, mit dem er dort ankommt, will er mehr haben. SPRENGER: Er findet sich im Recht, weil ihm die Welt nichts gegeben hat. Sie hat ihn nur bestraft, wenn er sich etwas genommen hat. Das ist ein Produkt der westlichen Welt, das in diese Gemeinschaft eindringt. KLUGE: Joseph Conrad ist 1857 geboren und zwar weit im Osten. SPRENGER: Er ist geboren in einem Teil der Ukraine, die eigentlich zu Polen gehörte, aber von Russland besetzt war. KLUGE: Berdytschiw heißt die Stadt. SPRENGER: Conrad heißt Jjzef Korzeniowski. Sein Vater hat gekämpft für die polnische Unabhängigkeit und wurde deswegen in die Verbannung geschickt. Er war ein aufrührerischer Geist, der seinen Sohn früh mit der europäischen Literatur in Berührung gebracht hat. KLUGE: Sein Vater heißt Apollo Korzeniowski, selbst ein Dichter. Es handelt sich um politische Flüchtlinge aus dem russischen Kaiserreich. SPRENGER: Conrad fühlt sich auch lebenslang als Pole. Weil seine Eltern an diesem Exil zugrunde gehen, verlässt er Polen und Russland und geht nach Frankreich. Zunächst ist er in der französischen Handelsmarine. Er ist 16, als er anfängt, zur See zu fahren. Er ist Seefahrer von Natur aus und kennt die Gefahren und Ängste, denen die Seeleute ausgesetzt sind. Beeindruckend finde ich die Szene, in der Jim ausgebildet wird und auf dem Schulschiff, das vor Anker liegt, seinen ersten Sturm erlebt. Man ruft ihn, er soll an Deck kommen und es empfängt ihn ein tosendes Ungeheuer. Das Gefühl, das ihn dort befällt, dass dieser Sturm ihn meint und vernichten will, ist das romantische Gefühl, durch
Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad
259
die Welt angegriffen zu sein und ihr standhalten zu können und eine Gelegenheit suchen zu müssen, in der man beweisen kann, dass man ihr standhalten kann. Das macht Jim auch verwandt mit Brown. Sie wollen es beide mit der Welt aufnehmen. KLUGE: Wie begegnen sich der bösartige Brown und der nach guten Taten dürstende Jim? SPRENGER: Die begegnen einander mit dem Wissen, dass sie einander vernichten können. Jim weiß um die Skrupellosigkeit dieser zusammengewürfelten Mannschaft und auch um Browns Skrupellosigkeit. Brown weiß, dass Jim malaysische Krieger hinter sich hat, die bewaffnet sind. Im Augenblick der Verhandlungen erkennen sie einander als ihresgleichen. Da gibt es einen kurzen Moment, in dem der Erzähler andeutet, dass zwei Männer einander ansehen, die wissen, was es heißt, der Gefahr nicht gewachsen zu sein und bereit zu sein, alles zu tun, um die eigene Haut zu retten. Ohne von Jims Schuld, die ihn bis ans Ende der Welt verfolgt, zu wissen, legt Brown seinen Finger in die Wunde, wenn er sagt: Du kennst doch auch diesen Augenblick, in dem man so abstürzt, dass man bereit ist, alles zu geben, um sich zu retten. Jim kann das nicht ertragen. KLUGE: Er fühlt sich erkannt. SPRENGER: Er fühlt sich ertappt in seiner Schuld, die nicht auszulöschen ist. Er fühlt plötzlich die Gemeinsamkeit zwischen diesem Freibeuter und sich. Er beschließt aus Staatsräson, ihn ziehen zu lassen. Er soll, wenn er das Dorf in Ruhe lässt, mit freiem Geleit abziehen. KLUGE: Nimmt Brown das Angebot an? SPRENGER: Ja, aber dann kommt es zu einer Intrige. Der Stiefvater von Jewel, der den Handelsposten vor Jim geleitet hat und sich abgesetzt, gekränkt und erfolglos fühlt, ein Portugiese, kennt einen verborgenen Flussarm, auf dem Brown hinter die Wachen am Fluss gelangen und sie von hinten überfallen kann. Das bringt Brown keinerlei Profit. Da wird das Wesen des Bösen erkennbar. Er kann das Dorf nicht überfallen, kann nichts mitnehmen und wird auch keine Vorräte gewinnen. Aber aus Zorn über die Demütigung und die abermalige Niederlage zieht er nicht friedlich ab. Er überfällt die vorgelagerte Siedlung. Bei dieser Gelegenheit wird der Sohn des Herrschers erschossen, der ein guter Freund von Jim ist. Dann verschwindet Brown. KLUGE: Jim nimmt die Schuld an dem Tod dieses Freundes und Sohnes auf sich. SPRENGER: Ein Diener rät ihm, dass er nicht hinausgehen sollte. Das versteht er zunächst nicht, weil er nicht der Verräter war. Was sich vermengt hat, wird plötzlich wieder geteilt in dieser Krise. Es werden Weiße und Malysier im Konflikt miteinander gesehen, und er gehört der Seite an, die dem Raja, dem Herrscher, seinen Sohn nimmt. KLUGE: Sie vernichten ein Stück Zukunft von ihm.
260
News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger)
SPRENGER: Dann sind alle Weißen wieder mit in diesem Boot. Jim gerät in die Situation, dass er fliehen könnte oder sich verteidigen müsste. Er müsste zu dem Bugis-Herrscher gehen und ihm die Situation erklären. Cornelius, der Verräter, wurde gesehen. Es gibt Leute, die bezeugen könnten, dass Lord Jim nicht der Verräter ist. Seine Frau Jewel fordert ihn auf, zu kämpfen, sich zu verteidigen. Jim sieht aber die Gelegenheit gekommen, die Schuld des Universums auf sich zu nehmen und mit seinem Tod zu bezahlen. Mit entblößter Brust sucht er den Herrscher auf, erklärt nichts und dieser erschießt ihn. KLUGE: Der Weiße, heißt es, habe allen Gesichtern rechts und links einen stolzen, unerschrockenen Blick zugeworfen. Dann fiel er, die Hand über dem Mund, nach vorn, tot um. Das ist das Ende. Er entschwindet von Unglück umwölkt, im Grunde unerforschlich, unvergessen und höchst romantisch. SPRENGER: Bei der Schiffsmetapher ist der gute Kapitän der, der weiß, wie jedes kleine Teil seines Schiffes funktioniert, und der es in eine perfekte Funktion versetzt, so dass es ohne ihn existieren kann. Der Romantiker kann sich keine Welt denken, die ohne ihn existiert. Es gibt eine wunderbare Seitengeschichte, die rätselhaft ist in Lord Jim. Das ist die Geschichte von Kapitän Brierly. Der ist der Richter im Prozess gegen Jim. Er ist unbestechlich, weil er die Prüfungen des Lebens als Kapitän bestanden hat. Er bekommt von der Handelsgesellschaft eine goldene Uhr für seine Dienste geschenkt. Er richtet unbestechlich und mit strengem Blick über diese verlorene Mannschaft. Jim wird das Patent entzogen. Das ist das Schlimmste für einen Seefahrer. Das ist auch mit Schettino passiert. Ein Kapitän, der sein Schiff verlässt, darf nicht weiter zur See fahren. Er verstößt gegen die Regeln der Seefahrt. KLUGE: Brierly hat ein eigenartiges Ende in diesem Roman. SPRENGER: Vom Erzähler wird kurz eine Geschichte eingeschoben, er habe durch Hörensagen erfahren, dass sich wenige Tage nach Ende des Prozesses gegen Jim dieser Brierly umgebracht habe, indem er von Bord ging eines Nachts. KLUGE: Er hat noch in die Karte eingezeichnet, wie das Schiff nach einer bestimmten Strecke abzweigen sollte. SPRENGER: Er ist in einem Moment von Bord gegangen, in dem der Kurs feststand, in dem das Schiff optimal besetzt war und funktionierte, in dem alle Wachen eingeteilt waren für die Nacht, in dem die Wachübergabe bereits erfolgt war. Ein Schiff ist nicht unter der Führung eines Mannes, wie der Romantiker sich das vorstellt, der auf dem Bug steht und die Richtung weist, sondern das Schiff wird zum Funktionieren gebracht durch diesen Kapitän, indem er Aufgaben delegiert. KLUGE: Dieser Praktiker hat alles geordnet, sich an die Reling begeben, seine Uhr dort aufgehängt und abgelegt. SPRENGER: Es ist ein Hinweis, dass er nicht zufällig über Bord gegangen ist. Er sorgt in letzter Minute noch unter einem Vorwand dafür, dass ein Matrose seinen
Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad
261
Hund in seiner Kajüte einsperrt, weil er fürchtet, der Hund könnte ihm nachspringen. KLUGE: Dann lässt er seinen schweren Leib ins Wasser fallen. SPRENGER: Er verschwindet und man hört nie wieder von ihm. KLUGE: Um sicherzugehen, dass er unten bleibt, falls seine Lunge protestiert, hat er noch ein paar schwere Eisenstücke in seine Taschen geladen. SPRENGER: Ein nicht dramatischer, vollkommen leiser und technisch perfekt ausgeführter Selbstmord. Als Leser fragt man sich, warum er sich selbst aus dem Weg schafft. Er vertritt die Position des perfekten Kapitäns. Ihm wird die Aufgabe übertragen, über einen gescheiterten Kapitän zu richten. KLUGE: Ein Ich-Erzähler könnte so ein Prisma, wie Conrad es schildert, nicht erzählen. SPRENGER: Weder der Zeuge noch der Ich-Erzähler könnte das. Der Erzähler ist kein Kapitän und vor allem auch kein Richter. Marlow ist ein Kapitän, aber er trägt nur die Stücke zusammen, wie er Inseln ansteuert, immer wieder neue, um dort Handel zu treiben. Er bekommt bei diesem Handel auf jeder Insel ein kleines Stückchen Geschichte von Jim. Der Erzähler ist das Schiff, die Dichtung als Schifffahrt. KLUGE: Dieser Roman ist 1900 geschrieben. Von September 1899 bis 1900 hat Conrad das in einem Schuss runtergeschrieben. Das ist eine Anthologie des Ichs, das so komplex ist, dass es sich nicht beherrscht. Erst später kommt Freuds Deutung. SPRENGER: Ich war überrascht, als ich durch Zufall eine Geschichte von Conrad gefunden habe. Er hat nämlich bis in den Ersten Weltkrieg hinein diese Konflikte reflektiert. Wie kann man moralisch entscheiden? Wie kann man strafen? Wie kann man richten? Wie kann man eine zerstrittene, zerbrochene Gemeinschaft neu aufbauen? KLUGE: Joseph Conrad ist wie ein Syrienflüchtling aus Ostpolen nach London gekommen. SPRENGER: Das Flüchtlingsdasein bestimmt ihn seit seiner Kindheit. Er ist schon als Kind Flüchtling mit seinen Eltern in Russland im Exil und er wird weiter in der Fremde sein. Er bleibt ein Pole. Aber er schreibt in einer Sprache, die er mit 21 Jahren zum ersten Mal hört. Man hat ihn auch gefragt, warum er nicht Französisch schreibt, das er sehr gut gesprochen hat, vielleicht besser als Englisch. Er will aber in der Sprache schreiben, die er in dem Augenblick beherrscht, in dem er sich entschließt, Schriftsteller zu werden. Das Englisch, das er schreibt, ist ein Englisch, das französisch wirkt, ein konstruiertes, künstliches Englisch. KLUGE: Ähnlich wie Kleist, der in die deutsche Sprache auch französische Nebensätze und Satzfolgen hineinbringt?
262
News & Stories vom 14. September 2016 (Kluge / Sprenger)
SPRENGER: Besonders diese Formulierungen über die Vergeblichkeit, die menschlichen Leidenschaften mit der Situation in Einklang zu bringen, diese lapidaren diagnostischen Sätze des Scheiterns, die an Balzac und Flaubert erinnern, sind Sätze, die ungewohnt sind in der englischen Literatur und sie von Grund auf revolutionieren. KLUGE: Er beschreibt zum Beispiel, wie die Besatzung, welche die Patna im Stich ließ, sich entfernt von dem Schiff und das Schiff schon nicht mehr sieht. Jetzt fehlen ihnen der Sturm und die Gefahr. Es ist zwar ein Regenguss da, aber nichts wovor man sich fürchten muss. SPRENGER: Über einen Heimkehrer nach London, der aus Dankbarkeit zu seinem Geschäftspartner diese Reise unternommen hat und überraschend stirbt, schreibt er : »Morrison, the victim of gratitude and his native climate, had gone to join his forefathers in a Dorsetshire churchyard.« Das hohe Gefühl und die banale, tödliche Erkältung nebeneinander. Dieses Lapidare, mit dem die Romantik abgeschnitten wird, das erbt er insbesondere von Flaubert. KLUGE: Das ist ein Floß aus exakten Beobachtungen. SPRENGER: Das wird mit Conrad in die englische Literatur eingeführt, also durch jemanden, der diese Sprache als Fremdsprache spricht. In diesem Fall ist das ein Potential. KLUGE: Als man in Babylon eine Einheitssprache drüberstülpen wollte, zankten sich die Arbeiter des Turms und der Turmbau ging verloren. Wenn man aber diese Fremdsprachlichkeit zum Vehikel macht, kommt es zum Cross-Mapping. SPRENGER: Es geht darum, die verschiedenen Facetten des Ichs und die verschiedenen Sprachen des Ichs, die das Ich mit sich selbst spricht, zu zeigen.
Barbara Potthast
Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau
In den frühen Schriften und Filmen Alexander Kluges werden die Gespräche zwischen Männern und Frauen häufig durch die massive gesellschaftliche Repression der Frau bestimmt. Gelegenheitsarbeit einer Sklavin nennt Kluge seinen Spielfilm von 1973 programmatisch – der Film handelt von Roswitha Bronski, die eine Abtreibungspraxis betreibt, um damit ihre drei Kinder und ihren zeitweise arbeitslosen Ehemann zu unterhalten. In dem zwei Jahre später erschienenen Suhrkamp-Band mit demselben Titel, in dem sich verschiedene Filmentwürfe und Texte zum Realismus zusammengestellt finden, schreibt Kluge: »Zusätzlich zu der Entfremdung, der die Arbeitskraft in der Gesellschaft unterliegt, sind Frauen nochmals unterdrückt, und es ist völlig legitim, vom unterdrücktesten Punkt in der Gesellschaft her zu untersuchen.«1 Frauen seien, so Kluge, eben nicht nur entfremdet durch den kapitalistischen Arbeitsprozess und durch die von der Warenproduktion bestimmte Gesellschaft, sondern darüber hinaus durch ihren Mann und durch Institutionen mit jahrhundertealter patriarchalischer Geschichte unterdrückt.2 In dem Entwurf zum Spielfilm3 hat Roswitha vor, mit ihrem Mann ein Problem zu besprechen und denkt vorab über den besten Weg dazu nach: 5. Szene Roswitha will mit ihrem Mann ein Problem besprechen, findet aber nicht die richtige Kurzfassung. […] Roswitha bringt Abendbrot an den Tisch und will die Besprechung anknüpfen. ROSWITHA Kann ich mal was erwähnen? FRANZ Es kommt drauf an was.
1 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 223 (»Das Interesse an Frauenfilmen. Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktionsweisen«). 2 Vgl. ebd., S. 231. 3 Alexander Kluge, »Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Entwurf für einen Spielfilm«, in: ders., Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 53–109.
264
Barbara Potthast
ROSWITHA Ich müßte mal was besprechen, vielleicht können wir das auch später machen. FRANZ Lieber gleich, dann haben wir es erledigt. ROSWITHA Du bist so nervös. Man müßte das in Ruhe besprechen. Ich wollte nur ein Problem einbringen. FRANZ Du breitest das so langsam aus, daß man einschlafen kann. Das Gesicht von Franz ist müde. Die Tonart der Worte ist härter als die Worte selbst. Dieser Ton verbietet es, das Gespräch fortzusetzen. Franz und Roswitha haben verschiedene Geschwindigkeiten. Roswitha bringt die Kinder zu Bett.4
Dieser kurze Dialog ist kaum als Gespräch zu bezeichnen, eher als eine szenische Gesprächsverhinderung. Devot fragt Roswitha um Erlaubnis, »was erwähnen« zu dürfen, da Ehemann Franz offenbar für gewöhnlich, je nach Thema, seiner Frau die Lizenz zum Sprechen erteilt. Doch gerade ihre Befangenheit und Umständlichkeit, das Problem zur Sprache zu bringen, provoziert ihn; er wirft ihr Langsamkeit vor, und das in einem Ton, der in seiner Härte eine weiteres Gespräch unmöglich macht. »Franz und Roswitha haben verschiedene Geschwindigkeiten«, heißt es im Kommentar am Ende. Damit ist der Faktor Zeit im Kontext des kapitalistischen Arbeitsprozesses angesprochen, ein Faktor, der in der Deutung dieser Szene durch den Kommentar nicht geringer gewichtet wird als die patriarchalische Machtposition des Ehemannes. In einem Essay zum Realismus in Gelegenheitsarbeit einer Sklavin wird Kluge in dieser Hinsicht deutlicher, wenn er im kapitalistischen System den Hauptgrund für die Misere der modernen Frau erkennt, »die Eingliederung in eine Gesamtgesellschaft, die durch Warenproduktion bestimmt ist, die der patriarchalischen Gesellschaft, die sie ursprünglich hervorgebracht hat, längst über den Kopf gewachsen ist«.5 In den Schriften der folgenden Jahre macht Kluge den Einfluss der kapitalistischen Ökonomie auf Familie, Geschlechterrollen, Beziehungen und Liebe weiter stark; das Moment der Geschlechterkonkurrenz tritt demgegenüber zurück. Programmatisch sprechen Kluge und Negt in Geschichte und Eigensinn (1981) von »Beziehungsarbeit in Privatverhältnissen«6 und formulieren damit eine Antithese zur kapitalistischen Ökonomie, die das Aufziehen von Kindern, Liebesbeziehungen, Trauer und Freude etc. als unproduktive Arbeit versteht. »Der dramatische Geschlechterkrieg ist von den Formen der Konkurrenz aufgesogen«,7 schreibt Stefanie Carp in einem Aufsatz zu Kluges Liebesprosa; der 4 Ebd., S. 57. 5 Alexander Kluge, »Das Interesse an Frauenfilmen. Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktionsweisen«, in: ders., Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 231. 6 Oskar Negt/Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. II: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 2001, S. 863. 7 Stefanie Carp, »Wer Liebe Arbeit nennt hat Glück gehabt. Zu Alexander Kluges Liebesprosa«, in: Thomas Böhm-Christl (Hg.), Alexander Kluge, Frankfurt/M. 1983, S. 190–211, hier S. 197.
Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau
265
Geschlechterkonflikt tritt zugunsten der Ökonomie zurück – sie bestimmt von nun an, mehr oder weniger verdeckt, viele von Kluges filmischen und literarischen Gesprächen zwischen Männern und Frauen. Die Waren sitzen häufig mit Mann und Frau gemeinsam am Tisch; so zum Beispiel im Spielfilm Der starke Ferdinand (1975/76).8 Ferdinand Rieche, entlassener Staatsbeamter, baut als Werkschutzleiter in einer größeren Firma eine schlagkräftige Sicherheitstruppe und ein umfassendes Spitzelsystem auf. Gerti Kahlmann, Kantinenarbeiterin im Werk, beklaut die Firma, weil sie auf ein Taxiunternehmen spart. Rieche und sie werden ein Paar. Betrachtet wird die Episode von Gertis Geburtstag (Min. 48.04–49.42). Rieche und Gerti sitzen in einer einfachen Gaststätte am Tisch und sind mit einem Geschicklichkeitsspiel mit Bierdeckeln und Brotstückchen beschäftigt. Die sprachliche Kommunikation fließt hier nicht gerade, sie stockt. Exakt in der Sekunde, als Gerti das letzte Werk von Rieches Geschicklichkeit mit einem Brotstückchen krönt, bricht Gertis Geburtstag an und es kommt zur Gratulation – es wird keine Sekunde Zeit verschwendet, die Abläufe wirken wie einstudiert. Ein Handschlag, ein Kuss, der ein Schmatzer ist, und die Übergabe von Blumen im Papier. Als Geburtstagsansprache wählt Rieche ein Gedicht, das Werbesprüche aneinanderreiht. Es ist im imperativen Modus an den Sprecher selbst gerichtet; jeder Vers beginnt mit der stereotypen Wendung »Nimm zum …«. Rieche spricht also hier mit sich selbst, er gibt sich selbst Ratschläge, die Werbesprüche und damit Kaufempfehlungen sind. Mit dem Konsum der richtigen Produkte »kommt Dir bei Deinem Streben alles Schwere leichter vor«, heißt es am Ende. Die Bilanz dieses Gedichtchens ist selbstbezogen; die Handlungsempfehlungen beziehen sich nicht auf das Geburtstagskind, sondern auf den Sprecher. Während die Namen der Marken in dem Gedicht die entscheidende Rolle spielen – Nivea, Aspirin, Biomalz –, wird ausgerechnet der Name der Frau an Rieches Seite nicht erwähnt, wohl aber der Hinweis, dass man für die Braut den aphrodisierenden Sellerie essen sollte. Zur Selbstbezüglichkeit des gesprochenen Textes kommt hinzu, dass Rieche ihn mit einem reichlich selbstgefälligen Gesichtsausdruck vorträgt (nicht etwa mit distanzierter Albernheit oder Ironie). Die patente Gerti weiß vermutlich bereits seit dem ersten Treffen mit Rieche, wen sie vor sich hat, als er ihr nämlich wie einem Pferd in den Mund geschaut hat, um die Festigkeit ihrer Zähne zu prüfen; erst dann fasst er ihr an die Brust. Sie nutzt nun die Situation ihres Geburtstags, um ihre eigenen materiellen Interessen voranzubringen. Gerti sieht Rieche während seines auswendig gelernten Vortrags aufmerksam an, und nach einer längeren Pause teilt sie ihm mit: »Mein Auto hat ’ne Beule«. Rieches Reaktion auf diesen Satz ist in dem Gesprächsausschnitt ist nicht mehr zu sehen, dafür sagt der Kommentator aus dem 8 Der starke Ferdinand, R.: Alexander Kluge, BRD 1975/76.
266
Barbara Potthast
Off das, was Gerti als Antwort ersehnt: »Schmeißen wir’s gleich weg«. Gerti will ein neues Auto, ein Taxi als Grundlage für das eigene Unternehmen. Die Kommunikation zwischen ihr und Rieche hat den jeweils eigenen Vorteil zum Ziel; dieses Ziel bestimmt den Gesprächsverlauf. Das Gespräch ist auf Ergebnisse und Erfolge hin ausgerichtet, und zwar auf beiden Seiten, denn auch Rieche spricht ja von »seinem Streben«, bei dem ihn die Waren unterstützen sollen. Das Gespräch stellt eine Art komischen Gegenentwurf zu einem romantischen Liebesmodell dar, bei dem die Beziehung der Partner nicht nur Nutzen und Zweck übersteigen muss, sondern bei dem sie sich sogar aneinander verschwenden sollen. Besitzstreben ist aus dem romantischen Modell ausgeschlossen, auch der Versuch, die andere Person seelisch zu besitzen. Bei Ferdinand und Gerti geht es dagegen um die Aufmerksamkeit für sich selbst, um den persönlichen Vorteil und um die Wertschätzung von Waren. Kluge und Negt halten die Warenqualität in Paarbeziehungen für typisch: Die Personen, die an der Beziehung teilnehmen, sind selber wiederum Waren. Die besondere Schönheit einer Frau, die berufliche Eignung eines Mannes, daß Kinder sportlich, klug, höflich, ordentlich angezogen sind, dies sind Warencharaktere der Personen. Man kann aber sagen, daß die Beziehung dort einsetzt, wo diese Warencharaktere enden oder sich umkehren. Die bloße Addierung von Warencharakteren kann wie eine Familie aussehen, ist aber eine Nicht-Beziehung, wenn sie nur in dieser Addierung besteht: Eine Traumfrau hat einen Traummann neben sich mit traumhaft tüchtigen Kindern. Das Paar kann viele Jahre nebeneinanderher herleben, ohne eine Beziehung zu sein. Es wäre reiner Status, wie Möbel.9
Der Warencharakter von Sozialbeziehungen gilt freilich nicht nur für Paare, sondern auch für Kommunikationssituationen zwischen Männern und Frauen, die einander nicht nahestehen, in deren Gespräch aber der geschlechtliche Aspekt eine Rolle spielt; »[d]ie Chiffren der gesellschaftlichen Ökonomie legen sich auf alle privaten Verhältnisse«.10 Dies soll im Folgenden durch ein Gespräch aus dem 1973 gedrehten Kurzfilm Besitzbürgerin. Jahrgang 190811 (Min. 7.15–9.14) illustriert werden. Zu sehen ist eine gepflegte Dame im besten Alter, es ist Alice Schneider, Alexander Kluges Mutter. Sie präsentiert die Dinge ihrer Berliner Wohnung, Porzellane, Teppiche, antike Möbel, Kronleuchter. Frau Schneider war im Krieg in Halberstadt ausgebombt worden und ist nun stolz auf ihre große, großbürgerlich eingerichtete Wohnung in Berlin. Alices Reden im Film kreisen um die Ausstattung und Pflege ihrer Wohnung sowie um das Geld, das sie dafür braucht. Sie will etwas von ihrem Hausrat verkaufen, weil sie dringend Geld nötig hat. Sie muss das Dach renovieren, Anschaffungen machen und plant 9 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 954. 10 Carp, »Wer Liebe Arbeit nennt«, S. 193. 11 Besitzbürgerin. Jahrgang 1908, R.: Alexander Kluge, BRD 1973.
Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau
267
eine Reise. »15.000 Mark muss ich mindestens rausbekommen. Aber wer gibt mir die?« Die frisch frisierte Frau Alice führt ein Gespräch mit Herrn Guhl, einem stattlichen älteren Geschäftsmann. Das Gespräch beginnt damit, dass die Dame sich um das Wohlbefinden ihres Gastes bemüht, ihn fragt, ob er gut sitzt, ob sie Kaffee nachgießen darf, ihn dabei freundlich anlächelt. Spätestens als Herr Guhl zu reden beginnt, wird deutlich, dass er ein eher einfacher Mann aus einer anderen Gesellschaftsschicht als seine Gastgeberin ist und dass es sich hier um ein Gespräch mit sozialem Gefälle handelt: Er spricht von einem Kegelabend und dass dort »ziemlich viel getrunken« wurde, auch davon, dass sich einer aus seinem Kreis »etwas danebenbenommen« hat. Die Rede Guhls vom Kegelabend wurde bearbeitet, seine Sätze wurden zu einer Suada montiert, bei der nur noch Satzfetzen verständlich sind. Als Frau Alice ihn wegen des Kaffees fragt, sagt er etwas linkisch, er habe schließlich schon die dritte Tasse getrunken. Ihr edles Porzellan und Silber bezeichnet er als »Zeug«. Auch sein letztendlicher Vorstoß: »Gnädige Frau, wir haben jetzt lange geplaudert – um was geht es nun wirklich?« entspricht natürlich auch nicht den Regeln einer kultivierten Plauderei zwischen einer Dame und einem Herrn vor teurem Kaffeeservice. Auch hier gibt es ein zunächst noch verborgenes materialistisches Gesprächsziel des weiblichen Gesprächspartners, das erst nach einer gewissen Zeit angesteuert wird. Guhl hat womöglich von Anfang an durchschaut, dass es hier nicht um eine bloße Plauderei geht, zu der Ziellosigkeit gehören würde, sondern um ein Gespräch, dem eine Strategie zugrunde liegt. Als Guhl sie fragt, um was es nun wirklich gehe, sagt Alice offen: »15.000 Mark brauche ich mindestens.« Sie hat ihre Porzellane und ihr Silber aufgebaut, um sie ihm anzubieten. Herr Guhl entgegnet in leicht verzweifeltem Tonfall: »Gnädige Frau, ich kann das Zeug nicht gebrauchen, wo soll ich das hinstellen?« Guhl handelt nur mit Häusern und großen Objekten. Frau Alice sagt, dass sie mit Geld nicht umgehen kann, dass es ihr zerrinnt, dass die laufenden Kosten hoch sind und dass sie auch noch eine Reise machen möchte. Dabei schaut sie ihn mit großen Augen und kindlichem Blick leicht kokett an. Sie spielt die schwache hilfsbedürftige Frau und appelliert damit an Guhls Männlichkeit. Der streckt die Waffen: »Ich mach Ihnen jetzt mal einen Vorschlag zur Vereinfachung: Ich gebe Ihnen ein zinsloses Darlehen auf unbestimmte Zeit.« Alice ist glücklich, sie hat ihr Ziel erreicht, auch Guhl lächelt breit. Unter den Klängen eines Siegesmarsches räumen beide das ausgestellte Geschirr wieder an seinen Platz in Schränke und Regale zurück. Dabei unterscheiden sich die jeweiligen Gründe für die Zufriedenheit: Herr Guhl scheint stolz, einer kultivierten Damen aus einer Verlegenheit geholfen zu haben und Frau Alice freut sich über das Geld, an das sie durch sogenannte ›Beziehungen‹ (eben zu Herrn Guhl) gekommen ist. Dass die Sprache der Sozialbeziehungen – der Bekanntschaften, Familienverhältnisse und Liebesbeziehungen – den Begriffen und Vorstellungen der
268
Barbara Potthast
Ökonomie unterworfen ist, halten Kluge und Negt fest – mehr noch: Sie konstatieren, dass es für diesen Bereich eigentlich keine anderen als ökonomische Begriffe gibt. Umgangssprachlich bedeutet Beziehungen haben eine Art Tausch unterhalb der Öffentlichkeitsebene: Ich habe Zugang zu Quellen, die andere nicht haben, kann dadurch, daß ich mir jemanden verpflichte, etwas ergattern, was auf normale Weise nicht zu erhalten ist. »Ich habe Beziehungen« ist ein Schwarzmarktbegriff. […] Wir sagen Bedürfnis. Das Wort deckt Beweggründe, die zum Pissoir führen, und solche, für die ich mein ganzes Leben einsetzen würde. Wir sagen jemand ist befriedigt; im römischen Recht befriedigt der Gläubiger seine Forderung am Schuldner. Er ist befriedigt, wenn er entweder Zahlung erhalten hat oder den Schuldner in die Sklaverei führt. Das gleiche Wort deckt eine erotische Berührung zu, die weder eine Zahlung noch Abführung in den Schuldturm bedeuteten kann.12
In den beiden zuletzt betrachteten filmischen Beispielen verbindet sich die Begegnung der Geschlechter eng mit der Idee von Handel und Tausch, wenngleich diese Verbindung nicht immer offensichtlich ist. Die Orientierung der Gesprächspartner an ökonomischen Zielen führt dazu, dass die Gespräche sich nicht frei entwickeln, sondern zweckorientiert verlaufen; sie wirken wie einer Mechanik unterworfen. Die »Beziehungsarbeit«, so Kluge und Negt, ist immer ein Produkt ihrer kollektiven Geschichte, und ganz besonders gilt dies für Liebesbeziehungen.13 Sie sind einem noch höheren Normativitätsdruck unterworfen als andere Beziehungsarten. Sobald es zwischen Mann und Frau um die Herstellung einer gewissen Nähe geht, ist der Dialog mehr als sonst umstellt von Standards, Regeln, Konventionen, Klischees, Ritualen. Kluge und Negt heben in diesem Zusammenhang besonders das Anbahnen eines Liebesverhältnisses hervor, bei welchem das Befolgen von Regeln eine eminente Rolle spiele – ganz im Gegensatz zum Beenden eines Verhältnisses: Liebesverhältnisse sind darin eine Einbahnstraße, daß es zivilisierte Formen gibt, wie einer in eine Beziehung hineingelangt: wie man sich bindet. Wie man sich in dieser Bindung wiederum trennt, im Moment ein Stück Eigenes gewinnt, aus dem heraus wieder neue Bindungen in andere Momente eingehen können, oder wie man sich aus der Bindung überhaupt wieder löst, dafür gibt es nur recht brutale Formen.14
Niklas Luhmann spricht in Bezug auf die gesamte Liebeskommunikation von Verständigungsroutinen, die sich einspielen und die Unmöglichkeit verdecken, wirklich zu wissen, wer der andere ist und was er denkt. Systemtheoretisch ist Liebe ein Code für den Umgang der Geschlechter miteinander, bei dem sich die 12 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 877f. 13 Ebd., S. 939. 14 Ebd.
Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau
269
Partner wechselseitig ihre Einzigartigkeit bestätigen.15 Dieser Code ist freilich störanfällig; ein Beispiel für die schwierige Situation des Kennenlernens und Zusammenkommens findet sich in Kluges Erzählung »Die beiden Armen« aus den Basisgeschichten: In seinem 64. Jahr – zu spät – fand Fred Kellermann einen Schatz. […] Er hatte Nina Kitzlaff nach einem Vortrag, an den sich eine Diskussion anschloß, angesprochen, weil sie ihn, während er redete, mit ruhigem Blick betrachtet hatte. Sie hatte ihn während des Vortrags betrachtet und betrachtete ihn jetzt immer noch. – Gehen Sie noch irgendwohin? – Ja, antwortete sie. Die Antwort Ja schien ihm zunächst unlogisch, da seine Frage unbestimmt gewesen war (»irgendwohin«). Er war der Meinung, daß sie hätte rückfragen müssen oder antworten: Gewiß, ich gehe noch zu … Später verstand er, daß das ihn (auch durch die Tonart) irritierende Ja sich nicht auf seine Frage, sondern auf sein Anliegen bezog: sie wollte ihn gern kennenlernen, ein Stück neben ihm herlaufen, weil er das gleiche wollte. Von solcher Unlogik noch irritiert, verabredete er sich mit Nina K. für 23 Uhr in der Leopold-Stube. Sie verließen einander nicht mehr bis zu seinem Tode.16
Bei der Frage »Gehen Sie noch irgendwohin?« klaffen die wörtliche Bedeutung und das kommunikative Anliegen auseinander. In dieser Situation ist er an ihr interessiert; er möchte mit ihr weitere Zeit verbringen. Gleichzeitig ist der wörtliche Sinn seiner Frage unkonkret bis ins Absurde: Es gibt nur sehr wenige denkbare Möglichkeiten, bei denen die Angesprochene nicht noch irgendwohin geht. Die Frage ist also eine Art Leerformel innerhalb einer Standardsituation, die der Frau die Möglichkeit geben soll, sich zu dem Angebot, einander näher kennenzulernen, zu verhalten. Diese Möglichkeit ist so beschaffen, dass der fragende Mann bei Desinteresse der Frau nicht sein Gesicht verlieren kann, denn die Frau muss in beinahe jedem Fall mit »Ja« antworten. Insofern verkannte Kellermann die Funktion dieser Standardfrage, wenn er eine Rückfrage von ihr oder eine präzise oder differenzierte Auskunft erwartete. Ihre Antwort »Ja« war für diese spezifische Situation passend und darüber hinaus für ihn günstig. Ein »Nein« hätte innerhalb der verschobenen Logik der Gesprächssituation (innerhalb des Codes) bedeutet: »Lassen Sie mich bitte in Ruhe.« Ihr »Ja« irritierte Kellermann auch durch die Tonart – in ihrem Tonfall klang mit, dass sie sein Anliegen teilte: »[S]ie wollte ihn gern kennenlernen, ein Stück neben ihm herlaufen, weil er das gleiche wollte.« Der Tonfall ihres »Ja« gehört also zu diesem Dialog, und nur mit diesem Tonfall ist er zu verstehen; der Tonfall ist notwendiger Teil des Gesprächs. In einer anderen Basisgeschichte mit dem Titel »Übergabe des Kindes« kommt der Satz vor : »Oft schon war ihr gesagt worden, 15 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1994. 16 Alexander Kluge, »Die beiden Armen«, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. I: Basisgeschichten, Frankfurt/M. 2004, S. 367f.
270
Barbara Potthast
sie könne nicht zuhören, sie hörte aber dann den Untertönen zu.«17 Zuhören ist für Kluge – ebenso wie eine Beziehung führen – Arbeit: Menschen in verschiedener sachlicher oder emotionaler Geschwindigkeit hören einander nicht zu, auch wenn sie Worte wechseln. Sie müssen zunächst ihre Bewegung wechselseitig anpassen. Man kann sich das buchstäblich so vorstellen, wie Raumschiffe, die durch zahlreiche Manöver des Bremsens und Beschleunigens eine gleichförmige Geschwindigkeit erreichen; dies erst erlaubt das An-docken. Es sind hier mehrere Kunstgriffe nötig: (1) Beschleunigen; (2) Bremsen; (3) Beherrschung und Anpassung beider Prozesse (Steuerung).18
In Kluges Erzählung »Der Liebe Mund küßt auch den Hund«19 versucht ein junges Paar im Sommer 1969 – ernsthaft und angespannt – beides: Zuhören und eine Beziehung führen. Beide wollen es anders machen als alle; daher legen sie sich zwei Tage umschlungen hin und führen ein Gespräch miteinander, das sie mit Tonband aufzeichnen: »Sie hatten ein Tonband eingeschaltet, das ihr Gespräch festhalten sollte; so konnten sie später auf Einwürfe zurückkommen, mußten jetzt keine Gründlichkeit anstreben. Sie konnten jeweils ›nacharbeiten‹.«20 Das Paar führt ein Gespräch, das später gemeinsam erneut angehört, überdacht und überarbeitet wird; die Möglichkeit der Wahrnehmung von Untertönen und verschiedenen Geschwindigkeiten im Gespräch ist also gegeben. Die Intensivierung der Beziehung, die beide wollen (»Sie hatten sich, unabhängig voneinander, vorgenommen, näher aufeinander zuzugehen.«),21 beruht also auf Arbeit mit dem Gespräch im Gespräch – eine Schwerstarbeit: »Setzen wir den Hebel anders an, sagte er.«22 Die Erzählung beschreibt eine anstrengende Suchbewegung; das Paar bemüht sich um die Vergegenwärtigung von etwas Abwesendem. »Die Liebe ist in Kluges Geschichten als Abwesende vorhanden«,23 schreibt Stefanie Carp, denn »Kluge nimmt theoretisch eine Substanz in der Liebe an, die vor allem Entfremdeten liegt. Mit diesem Anspruch beladen, kann er sie in der Prosa nicht an die Maschinerie des Vorproduzierten ausliefern. Sie soll nicht Form werden. Sie soll nicht Sprache werden. Sie soll rein bleiben«.24 Sie »muß in immer neuen Bildern und Zitaten als Erinnerung und Sehnsucht evoziert werden«.25 17 Ebd., S. 324. 18 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 999. 19 Alexander Kluge, »Der Liebe Mund küßt auch den Hund«, in: ders., Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten, Frankfurt/M. 2009, S. 341–344. 20 Ebd., S. 342. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Carp, »Wer Liebe Arbeit nennt«, S. 206. 24 Ebd., S. 205. 25 Ebd., S. 199.
Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau
271
Genau darum bemüht sich das junge Paar in der vorliegenden Erzählung durch mühsame Arbeit: etwas Unsagbares zu evozieren. Deshalb kommt immer wieder der Konjunktiv vor : Was wäre wenn? »Wenn du dir z. B. vorstellst […].«26 Mann und Frau denken in viele mögliche Richtungen. Das Wichtigste ist für sie die Freiheit im Denken; über die junge Frau heißt es: »Das wollte sie nicht HABEN oder BENUTZEN, sondern DENKEN DÜRFEN.«27 Beim Sprechen stößt sie an Grenzen, so wagt sie es nicht, zu sagen, dass es ihr gefiel, »wenn er real und dicklich auf ihr lag«, verwechselbar »mit einer Rotte unbestimmter anderer, auch mit Hunden, Tieren oder Dingen«.28 Beziehungsarbeit ist, wie in dieser zentralen Gesprächspassage der Erzählung deutlich wird, ein Problem der Sprache und der Denkformen: Wenn du dir z. B. vorstellst, du wärst ein Pferd, ist die Situation für dich dann etwas realer? Das kann man nicht so genau sagen. – Und etwas zwischen Pferd und Wiesel? – Mit meinen Freundinnen könnte ich darüber sprechen. – Man kann sich vorstellen, daß man ein Tier wäre – in Andeutungen. – Ja. Man kann nur in Andeutungen darüber sprechen. – Oder Eskimo? Oder ich wäre zwei Männer, die hier auf dir liegen? Oder in China, Diener fesseln uns, weil wir als Herrschaften streiten, auf Befehl aufeinander, so daß wir bewegungsunfähig daliegen, bis ein Gefühl kommt? – Ungefähr, aber auch anders. – Vielleicht mehreres zugleich oder nacheinander? – Du drückst es zu genau aus. – Irgendwie wechselnd? – Das ist mir zu präzise. – Ist es denn etwas Ungenaues? – Das ist immer noch nicht genau gesagt. Man muß es etwas verwischen. Es ist daneben. – Daneben? – Es ist etwas, das man sieht oder fühlt, und gleich daneben ist es. – Aber wo? – Oder was? – Was sollen wir nur machen?
Das Paar ist auf der Suche nach dem Angedeuteten, Verwischten, Ungenauen, nach dem, das zwischen oder neben dem liegt, was man kennt. Auf diese Weise kann das, was in Sprache nicht sagbar ist, doch erahnt werden: »Es ist wahr, daß sie mehreres SPÜRTEN, aber NICHT SICH GETRAUTEN ZU SAGEN.«29 So 26 27 28 29
Kluge, »Der Liebe Mund küßt auch den Hund«, S. 342. Ebd., S. 344. Ebd. Ebd., S. 343.
272
Barbara Potthast
entstehen immer wieder Pausen; sie sind die aussagekräftigsten Stellen im Gespräch: »Die interessanten Pausen, über die sie bei Abhören des Bandes später diskutierten, bestanden aus solcher Mitteilung.«30 Die Pausen sind in Wahrheit Mitteilungen, und durch das Nachdenken und Phantasieren über sie vertieft sich der Verständigungsprozess noch weiter – ein Prozess gegen die Ökonomie, denn hier wird Zeit verschwendet. Auch sonst sollen Zweckdenken und Berechnung in ihrer entstehenden Beziehung keinen Platz haben: »Außerdem wollten sie sich von anderen Paaren unterscheiden, es sollte eine Art EIGENTUM hergestellt werden, aber OHNE BESITZVERHÄLTNIS […]. WIDERSPRÜCHLICH IST DIES NUR, WENN MAN ES AUSSPRICHT.«31 Utopische Gespräche zwischen Männern und Frauen wie dieses letzte finden sich vor allem in Kluges 2009 erschienenem Buch Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Es sind Gespräche und ›Gegen-Geschichten‹, in denen sich labyrinthische Möglichkeitsformen der Phantasie und Imagination eröffnen, die der Mechanik der üblichen Gespräche diametral entgegengesetzt sind. »Je mehr man die Mechanik solcher Arbeit deutlich macht,« schreibt Kluge in Das Labyrinth der zärtlichen Kraft, »desto besser sieht man, daß es sich um nichts Mechanisches handelt«.32
30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 519.
Alexander Kluge
Warzenkäfer, genannt »Doktor«
Das Tier gehört zu den Weichkäfern im Getreidefeld. Es gilt als Erzeuger des Mutterkorns. Von Anselm Kiefer in den wenigen Miniaturen, die er gemalt hat, liebevoll dargestellt. Schwarz-violetter hornartiger Körper. Aus den Spelzen reifender Roggenähren hervorstehend. Täuschend ähnlich einem Roggenkorn. Es ist unschädlich, wenn man den Käfer verschluckt. Auch nimmt das Tier keinen evolutionären Vorteil wahr, wenn es im Darm eines Menschen oder eines Tiers noch eine Weile überlebt und später unsanft ausgeschieden wird, viele Meilen von dem Ort, an dem es ein neues Leben beginnen könnte. Der Käfer ist geeignet, Warzen zu vertreiben. Er beißt in die Warze, und sie verschwindet. Man lockt ihn zum Beißen mit den Worten »Bader, laß Ader!« Daher wird der Käfer auch Bader oder Doktor genannt.
Dorothea Walzer
Ästhetische Verfahren, eingemacht
»Eingemachte Elefantenwünsche« lautet der Titel einer kleinen Anekdote, die sich im sechsten Heft von Alexander Kluges Neuen Geschichten. Hefte 1–18. ›Unheimlichkeit der Zeit‹, erschienen erstmals 1977 findet und dann später noch einmal im zweiten Band seiner Erzählsammlung Chronik der Gefühle. Bei der Chronik handelt es sich um eine 2000 veröffentlichte Zusammenschau aller Erzählbände, die Kluge in den Jahren 1962 und der Jahrtausendwende in knapp vierzig Jahren produziert hat und nun zu einer neuen Einheit zusammenfügt. Was alle Teile der Chronik miteinander verbindet, ist der Umstand, dass disparate Materialien, Berichte aller Art – Lebensläufe und Protokolle, Bilddokumente, Strategiepläne und Erfahrungsberichte – aus unterschiedlichen historischen Kontexten versammelt werden, um eine Geschichte in Geschichten entstehen zu lassen. Auch die dreieinhalb Seiten lange Erzählung »Eingemachte Elefantenwünsche« ist ein Bericht; der Bericht einer Begegnung, in der Antworten gesucht und doch vor allem Fragen produziert werden. Wir finden uns in eine Interviewszene versetzt: Heiner Boehncke, Redaktionsmitglied der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation, sucht den Autor A. Weber zuhause auf, um sich einen Einblick in dessen Werk und dessen Arbeitsweise zu verschaffen, mit ihm ein Werkstattgespräch zu führen. Boehncke sucht Auskunft über die Fragen, wie das Werk des Autors zu verstehen, was dessen Methode sei und ob der Titel seines Manuskripts Eingemachte Elefantenwünsche auf letztere reflektiere. Er hätte gerne »nähere Angaben gehabt […], was das Eingemachte im ›Prinzip: Elefantenwünsche‹ wäre, Verfahren, ästhetische Konstruktion etc.«,1 so heißt es im Text. Im Zusammenhang mit dem Themenschwerpunkt dieses Jahrbuchs interessiert uns dasselbe Problem: das ästhetische Verfahren, die Bauanleitung oder Methode des Autors, die dieser Journalist so eifrig zu erfragen sucht. Unschwer ist A. Weber als personale Verdichtung des webenden, des schreibenden Autors 1 Alexander Kluge, »Eingemachte Elefantenwünsche«, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. 2, Frankfurt/M. 2000, S. 160–164, hier S. 163.
278
Dorothea Walzer
sui generis, vielleicht sogar des spezifischen Autors A. (=Alexander) Kluge zu erkennen. Ist es also möglich, dass Kluge mit der Anekdote ein Miniaturnarrativ schafft, das eine Form der Selbsthistorisierung und Selbstkommentierung betreibt und damit Züge seiner Erzählweise offenlegt? Und ließe sich in der Kleinheit der anekdotischen Schreibweise ein Hinweis darauf erkennen, dass Kluges Versuch über sein ästhetisches Verfahren sich der Festlegung auf ein neues Mega-Narrativ (im Sinne einer Methode oder einer »Gattung Kluge«2 etc.) entziehen will? Einiges deutet auf diese These hin; vor allem die Performanz des Textes selbst. Denn auch wenn der Autor A. Weber seinen Besucher (und damit auch uns) mit der Frage nach seinen ästhetischen Verfahren oder nach der Gattung seines Textes auflaufen lässt, wenngleich er sich auf keine Nachfrage einlassen und auf keine Aussage festlegen will, so erlaubt die eigensinnige Dynamik des Gesprächsverlaufs, auf den ich im Folgenden näher eingehen werde, eine Reihe von Rückschlüssen. Im lesenden Durchgang durch den Text können wir uns zwischen den Zeilen durchaus eine Einschätzung über jene Verfahren verschaffen. Statt zu erklären, zeigt uns dieser kleine Text in beispielhafter Weise, wie wir uns der Fragestellung dieses Bandes annähern können. Dabei geraten mit dem Dialog, dem Essay und dem Kommentar drei Verfahren in den Blick, die Alexander Kluges kritische Medienarbeit, wie ich in meiner Auseinandersetzung mit Kluges »Arbeit am Exemplarischen«3 nachgezeichnet habe, im Wesentlichen prägen. Wie also treten Essay, Kommentar und Dialog in Kluges Anekdote in Erscheinung? Und legen sie möglicherweise eine spezifische Gebrauchs- oder Bearbeitungsform des Anekdotischen und Beispielhaften offen? Wie verhalten sie sich zu genrespezifischen und methodologischen Fragestellungen und betreffen sie diese in substantieller Weise? Inwiefern verknüpfen sich diese Schreibweisen miteinander oder heben sich voneinander ab? Und welche Funktionsweise kommt ihnen innerhalb der einzelnen Erzählung aber auch als Agenten der Entgrenzung des einzelnen Textes in seinen Kontext zu? Nähern wir uns diesen Fragen an, indem wir in einem ersten Schritt das Dialogische, dann
2 Jan Philipp Reemtsma, »Unvertrauen und Urvertrauen – Die ›Gattung Kluge‹. Laudatio auf Alexander Kluge«, in: Deutsche Akademie fu¨r Sprache und Dichtung (Hg.), Jahrbuch 2003, Göttingen 2003, S. 169–176. 3 In meiner Doktorarbeit mit dem Titel »Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge« (eingereicht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Oktober 2014) diskutiere ich den Essay, den Kommentar und den Dialog als die drei wesentlichen Verfahren der kritischen Medienarbeit von Alexander Kluge, wobei ich mich auf Kluges Filme und Fernseharbeiten, seine Erzählungen und literarischen Dokumente sowie die gemeinsame Philosophie mit Oskar Negt beziehe.
Ästhetische Verfahren, eingemacht
279
das Essayistische und zuletzt den kommentierenden Gestus des Textes untersuchen.
[Interview-Dialog] Eingemachte Elefantenwünsche inszeniert sich, wie bereits erläutert, zuerst einmal als Schriftsteller- oder Autoreninterview in Gestalt einer Visite. Aufgegriffen wird damit ein aus der französischen Besuchskultur bekanntes Format, das den Inspektionsbesuch vor Ort meint, der sich nicht nur, aber auch der Gesprächs- oder Interviewform bedienen kann.4 Sich von einem Reporter über sein Werk und seine Produktionsweise befragen zu lassen, erbringt für den Autor zweierlei. Zum einen fungiert das öffentlichkeitswirksame Interview für den Schriftsteller als wichtige Bühne, um sein neues Buch als Produkt bewerben zu können.5 Dass Weber von Reporter Boehncke zwar als Autor adressiert, gleichzeitig jedoch als Werbefachmann von Beruf eingeführt wird, entbehrt in diesem Zusammenhang nicht der Komik, denn Webers Gesprächsinszenierung läuft aufgrund seiner Weigerung, klare und direkte Antworten auf die Fragen seines Interviewpartners zu geben, auf eine Art von Anti-Werbung hinaus. Wenn das Schriftsteller- und Autoreninterview Hinweise gibt, wie das Werk zustande gekommen ist und wie es zu lesen sei, dient es zum anderen der Konstruktion von Autorschaft und wird zum Werkzeug der Regulierung oder Lenkung der Rezeption.6 Foucault hatte darauf hingewiesen, dass der Autorfunktion eine wesentliche Rolle für die interne Kontrolle des Diskurses über das Werk beigemessen wird;7 gerade die Autorintention wird im Gespräch zwischen Weber und Boehncke aber zunehmend fragwürdig. Den Konventionen des Presseinterviews entgegen, erbringt das Interview keinerlei verwertbare Information; es wartet weder mit der Faktizität eines fertigen Buchs auf, noch mit eindeutigen Erklärungen, sondern lediglich mit einem Haufen von Fragmenten, mit einem phantastischen Beispiel und mit rätselhaften Äußerungen. Der Versuch von Webers Interviewpartner, »durch penetrantes Ausfragen an die 1800
4 Vgl. Martin Kött, Das Interview in der französischen Presse. Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte, Tu¨bingen 2004, insbes. S. 67–72. 5 Vgl. G8rard Genette, Paratexte, Frankfurt/M. u. a. 1989, S. 343. 6 Vgl. Torsten Hoffmann/Gerhard Kaiser, »Echt inszeniert. Schriftstellerinterviews als Forschungsgegenstand«, in: dies. (Hg.), Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb, Paderborn 2014, S. 9–29. Vgl. dazu auch: Dorothea Walzer, »Vom Ton zum Akzent. Das Interview als politische Szene«, in: Undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft, Kollektive Autor_Innenschaft, 1/2016, zit. n.: undercurrentsforum.com/2016/01/07/ dorothea-walzer-vom-ton-zum-akzent-das-interview-als-politische-szene/ (Stand: 30. 03. 2015). 7 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. 2003, S. 20f.
280
Dorothea Walzer
Seiten heranzukommen«,8 scheint gefährdet. Verwirrung stiftet, dass dieses Gespräch durch Fragen keine Antworten, sondern immer neue Fragen hervorbringt, ja, gewissermaßen zu einem Ausstellen des forschenden Gestus der Frage oder der Frageform selbst führt.
[Dialog-Essay] Es lässt sich nun aber die Überlegung anschließen, ob nicht gerade in dem Problematisch- oder Unzulänglich-Werden des Interviews als eines Mittels der Werkherrschaft die erkenntnistheoretische Bedeutung des Dialogs zum Ausdruck drängt. Was, wenn gerade im Insistieren der Frage über jede Antwort hinaus eine ereignishafte Wendung des programmatischen oder wahrscheinlichen Gesprächsverlaufs – des von Kluge sogenannten »Programmschemas«9 – denkbar würde? Dafür sprechen zumindest jene Hinweise, die Webers Gesprächsverhalten in die Nähe einer essayistischen Form der Untersuchung oder Erprobung rücken. Denn nicht nur im Entwurfscharakter des von Weber präsentierten Textes, sondern auch in seiner unzuverlässigen, jede endgültige Standpunktnahme verweigernden Erzählhaltung, schlägt sich ein Gestus des Versuchens nieder. Während der literarische Dialog traditionell der dialogischen Darstellungsweise philosophischer Lehrdialoge sowie der dialogischen Denkweise einer experimentellen Wahrheitsproduktion verpflichtet ist,10 so aktualisiert sich die dialogische Wahrheitslehre, essayistisch gewendet, als Wahrheit eines erfahrungsgesättigten Lernens, das sich in Auseinandersetzung mit wechselnden Umständen,11 intertextuell und gewissermaßen im »Zwiegespräch«12 ergibt. In Abwandlung des literarischen Dialogs treibt der Essay die Probe aufs Exempel bis zu jenem Punkt, an dem sich nicht die Wahrheit, sondern die »Hinfälligkeit des Gegenstands«13 erweist.
8 Kluge, CdG, 2, S. 163. 9 Alexander Kluge, »Ausdruck ›Medien‹, ›Neue Medien‹«, in: ders. u. a., Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit den ›neuen‹ Medien, München 1985, S. 66–84, hier S. 70. 10 Peer Trilcke, »Christoph Martin Wieland und die ›Entstehung‹ des Schriftstellerinterviews. Zur Kommunikationspraxis des professionellen Autors im 18. Jahrhundert«, in: Torsten Hoffmann/Gerhard Kaiser (Hg.), Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb, Paderborn 2014, S. 105–129, hier S. 121, 123. 11 Theodor W. Adorno, »Der Essay als Form«, in: ders., Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1981, S. 9–34, insbes. S. 21. 12 Peter V. Zima, Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 28. 13 Max Bense, »Über den Essay und seine Prosa«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 1/1947, S. 414–425, hier S. 420.
Ästhetische Verfahren, eingemacht
281
[Erzählen auf Probe] Enttäuschung über die Marginalität, die Bedeutungslosigkeit und Unverständlichkeit des Textes steht dem Informationsagenten Boehncke schnell ins Gesicht geschrieben. Statt der großen Dramaturgie des Romans, die er sich erhofft und erwartet hatte, präsentiert Weber ihm eine Sammlung einzelner Stücke oder »Entwürfe« von drei bis fünf Zeilen: kurze Berichte aus dem Leben unbekannter, zum Teil sogar unbenannter Protagonisten, die zu allem Überfluss weder einen erkennbaren Zusammenhang bzw. ein verbindendes Thema, noch eine Pointe erkennen lassen;14 komödiantisch führt Kluge mit diesen zusammenhanglosen Dokumenten des Alltags ein, was er in seinem Vorwort zum rahmenden Erzählband Unheimlichkeit der Zeit als »Geschichten ohne Oberbegriff«15 beschrieben hat. »Das ist wenig« erwidert Boehncke, nachdem der Autor Weber ihm die Entwürfe 1, 2 und 3 des ersten Kapitels seiner Erzählung Eingemachte Elefantenwünsche vorgelegt hat – seiner Aussage nach alles, was von seinem Manuskript in Reinschrift existiert.16 Auch auf Boehnckes Fragen nach der genrespezifischen Zuordnung und Funktion dieses Stückwerks gibt Weber eher widersprüchliche Antworten: »Ich hatte Sie so verstanden, sagte Boehncke, daß Sie an einem großen Tragödienstoff arbeiten. Das ist richtig, bestätigte Weber. Dann ist wohl der u¨ brige Apparat, Ihre 1800 Seiten, sicher ein größerer Zusammenhang? Nein, sagte Weber, das sind auch lauter einzelne Stu¨ cke.«17 An dieser Stelle wechselt der Dialog aus der Prosa in den dramatischen Dialog, um das komödiantische Verwirrspiel nochmals zuzuspitzen. Sein Text, so der Autor weiter, sei weder auf ein Thema, noch auf ein Ergebnis ausgerichtet und könne mangels eines roten Fadens und eines planvollen Entstehens mit Sicherheit kein Roman sein: WEBER: Ich muß immer neu ansetzen. BOEHNCKE: Dann ist das alles Entwurf ? W: Ja. Und der Entwurf hätte nur dann eine Information, immer vorausgesetzt, daß er entstu¨ nde – was aber nicht geplant ist – und daß er zu einem Ergebnis fu¨ hrt, auch das ist ausgeschlossen: daß ich dann angeben könnte, woru¨ ber ich u¨ berhaupt schreibe. Ich 14 »Entwurf I. Eingemachte Elefantenwünsche. 1. Kapitel« berichtet von der vergnüglichen Nacht eines krebskranken Patienten mit einer Ärztin, die seinen Krebs fälschlicher Weise nicht diagnostiziert hatte; »Entwurf II. Eingemachte Elefantenwünsche. 1. Kapitel« erzählt von R’s Übernahme des Ecklokals von Trautel, nachdem diese aus dem Krankenhaus nicht zurückgekehrt war ; und »Entwurf III. Eingemachte Elefantenwünsche. 1. Kapitel« gibt eine kurze Unterhaltung wieder, in der Inge von Meier zum Gebrauch eines Schatzkästchens befragt wird, das mit altem und für ihre Zwecke nützlichem Wehrmachtsbestand angefüllt ist. 15 Kluge, CdG, 2, S. 11. 16 Ebd., S. 161. 17 Ebd.
282
Dorothea Walzer
hätte dann die ersten drei bis siebzehn Zeilen und könnte diese fortsetzen als Roman. Aber wie gesagt, kann es dazu nicht kommen. B: Und das wäre dann aber ein Zusammenhang, ein Roman? W: Gewiß nicht.18
Wenn Weber seinen eigenen Text als einen Entwurf beschreibt, als intentionsloses Anfangen, das zur Veröffentlichung nicht bestimmt sei und sich bestenfalls probend erweitern ließe (»W: Das muß man probieren, ob das mehr wird. Aber veröffentlicht wird das nicht.«),19 lehnt er sich nicht nur gegen die Idee eines kohärenten Werkganzen, sondern auch gegen die Anrufung seiner selbst als eines souveränen Autorsubjekts auf. Es verwundert daher nicht, dass Boehncke ratlos ist, was er mit den Auskünften eines Autors anfangen soll, der sich jedem Versuch einer kategorialen Einordnung seines Werks oder seines Verfahrens widersetzt und seine eigensinnige und unzuverlässige Haltung zu allem Überfluss nicht einmal begründet. Suchen wir nach dem Motiv eines solchen Eigensinns, so scheint der Versuch, sich definitorischen Zumutungen ebenso zu entziehen wie der Festlegung auf eine Methode oder ein Thema, einem essayistischen Gestus der Probe Raum zu geben, der die präskriptiven Regeln der Bearbeitung, statt ihnen zu folgen, selbst zum Gegenstand der Bearbeitung und Überprüfung werden lässt.20
[Kommentar-Dialog] Überdies kann man behaupten, dass »Eingemachte Elefantenwünsche« gerade mit der geschilderten Verweigerungshaltung zum Lehrstück einer kommentierenden Erzählweise wird. Am deutlichsten zeigt sich das in jenem Moment, in dem der Autor die Frage nach dem Gegenstand seines Manuskripts Eingemachte Elefantenwünsche mit einer höchst kommentierungsbedürftigen Beispielgeschichte beantwortet. »Ich spiele auf das Elefantengedächtnis an«, erklärt Weber, bevor er eine kurze und phantastische Anekdote von der späten Rache eines Elefanten zum Besten gibt: Ein Elefant z. B., von einem Schneider vor Jahren in den Ru¨ssel gestochen, erkennt zwanzig Jahre danach im ersten Stockwerk einer Straße, nehmen wir an 1934, diesen Schneider, es muß nicht der Beruf sein, sondern kann ein Mann namens Schneider sein, reißt ihn mit dem Ru¨ ssel herab und zerschmettert ihn auf dem Pflaster.21 18 Ebd. 19 Ebd., S. 163. 20 Zur Interpretation des Essays als einer Probeform vgl. auch: Jenny Nachtigall/Dorothea Walzer, »The Rehearsal as Form. An Essay on Yvonne Rainers’ Lives of Performers«, in: Sabeth Buchmann u. a. (Hg.), Putting Rehearsals to the Test, Berlin 2016 (im Erscheinen). 21 Kluge, CdG, 2, S. 162.
Ästhetische Verfahren, eingemacht
283
In ihrer demonstrativen Evidenz leuchtet die Aussage der Anekdote Boehncke zumindest für einen Augenblick unmittelbar ein, wie sich in einem anschließenden Dialog herausstellt, in dem die Anekdote kommentierend von den beiden Protagonisten bearbeitet wird: B: Eine unverhältnismäßige Reaktion. W: Gewiß. B: Ein Nadelstich, und dafür die Todesstrafe. W: Vielleicht kam noch anderes hinzu.22
Zufriedengestellt ist Redakteur Boehncke trotz dieses Einvernehmens noch immer nicht. Unbeantwortet bleibt weiterhin seine Frage nach den ästhetischen Verfahren, da es sich, wie er beklagt, bei Webers Beispielgeschichte ja um ein Märchen, und überdies um ein äußerst klischeehaftes Märchen handele. Über das Interview reflektierend, schwant ihm am Ende gleichwohl, dass der Mangel an Evidenz und Sicherheit in der Aussage des Befragten dem Anliegen des Autors entsprechen könnte: »Vielleicht wollte Weber darauf hinaus, daß er, Boehncke, sich so intensiv mit diesem Manuskript befaßte dadurch, daß es ihm vorenthalten blieb.« Doch nicht einmal mit dieser Einschätzung ist Boehncke sich sicher, wenn er zu bedenken gibt: »Oder Weber war ein Nichtskönner.«23 Treten wir einen Schritt zurück, so scheint das Gespräch merkwürdig in der Luft zu hängen. Einerseits die Fragen des Interviewleiters, die auf Antwort warten; penetrantes Ausfragen, verhörartig. Andererseits die eigensinnige Weigerung des Interviewpartners, Antworten zu geben. »Nein« / »Nein« / »Ich bin nicht sicher« / »Auf keinen Fall« / »Nützt nichts« / »Das muss man eben ausprobieren«, so die Dramaturgie von Webers Antworten.24 Boehncke hat keine sicheren Informationen oder Antworten erhalten – selbst die Beispielgeschichte ist – in Hinblick auf seine Frage nach den ästhetischen Verfahren – alles andere als eindeutig; auch beworben hat der Autor sein Werk nicht. Das einzige, was Boehncke aus dem Interview mitnimmt, ist eine »Haltung« des Autors, die – wie es im Text heißt – der »Wirkung von Büchern« vergleichbar ist.25 Was diesen Vergleich angeht sind nun wir, die Leser gefragt. Was kann diese Wirkung von Büchern sein? Wie lässt sie sich beschreiben und was verbindet diese Wirkung mit der Haltung des Autors? Wenn A. Weber den Fragenden mit einer rätselhaften Anekdote und A. Kluge seinen Leser am Ende des Textes mit einem unerklärten Vergleich konfrontiert, so scheint in beiden Fällen dasselbe zu passieren. Statt lenkend in das Rezeptionsverhalten einzugreifen, entlassen die Autoren ihr Gegenüber mit der Auf22 23 24 25
Ebd. Ebd., S. 163. Ebd. Ebd.
284
Dorothea Walzer
gabe, ein Rätsel, einen Vergleich zu lösen. Statt die Autorität des Autors oder des Textes zu untermauern und eine bestimmte Lesart anzubieten, setzen sie den Text gewissermaßen frei, um ihn der eigenständigen Lektüre oder Aneignung durch den Leser anzuempfehlen. Der Kommentar wird zur »Grundform«26 eines Textes, dessen Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit sich der Erklärungsbedürftigkeit seiner Aussagen, Bilder und Exempla verdankt. In diesem Sinne kann der Kommentar, um es mit Wolf Kittler zu sagen, als diejenige Gattung gelten, die den Gebrauch zur Methode macht.27
[Ein bewegliches Archiv] Wenden wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal der Anekdote vom rächerischen Elefanten zu, um uns in den von Kluge eröffneten Kommentierungszusammenhang einzuschreiben, so können wir das Manuskript von A. Weber im Umweg über diese Anekdote als einen fast dreissig Jahre verfrühten Vorboten von A. Kluges Erzählsammlung Chronik der Gefühle und sein Autoreninterview als einen Selbstkommentar interpretieren. Und zwar insofern, als die kleine Erzählung vom »Elefantengedächtnis« das ästhetische Verfahren des Geschichtenerzählers Alexander Kluge, genauer : seine kommentierende Schreibweise, auf den Punkt bringt. Webers kleine Geschichte erzählt von der Erinnerungs- und Speicherfähigkeit eines Elefantengedächtnisses, das lange Zeiträume umfasst, um dem zugefügten Leid ganz plötzlich und an unvorhergesehenen Stellen in übermäßigen Reaktionen Luft zu verschaffen. Entworfen wird damit die Idee »einer Art Gattungsgedächtnis«,28 das nach dem Vorbild der Familienchroniken über Generationen hinweg reicht;29es ist ein Archiv (oder genauer, ein Medium), das es, wie Kluge seinen Stellvertreter A. Weber sagen lässt, »in der Natur nicht [gibt], sondern nur, wenn man es gewissermaßen in Einmachgläsern einsammelt und aufhebt«.30 Auf ähnliche Weise verdickt und kocht der Geschichtenerzähler A. Kluge die Erfahrungsgehalte des 20. Jahrhunderts in einer Unzahl kurzer Geschichten ein, die er durch assoziative Reihung zu einem großen Archiv zusammenstellt und 26 Alexander Kluge, »Dompteur oder Gärtner?, Rede anläßlich der Verleihung des HeinrichBöll-Preises«, in: Wochenpost, Nr. 51, 16. 12. 1993, S. 30f., hier S. 30. 27 Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Heilbronn 2011, S. 13. 28 Kluge, CdG, 2, S. 162. 29 Ebd. Zum Zusammenhang von Kommentar und Familienchronik äußert sich Kluge in: Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007, S. 149. 30 Kluge, CdG, 2, S. 162.
Ästhetische Verfahren, eingemacht
285
damit entfaltet: Seine Chronik ist eine Sammlung »historische[r] Momentaufnahmen, ein riesiges Lager von Beispielen und Lehrstücken«, ein Archiv voller »Gefäße, Kisten, Röhren, Ampullen«, in denen man »Erfahrung aufbewahren und prüfen kann«, wie Kluge in einem Interview erläutert.31 Verdichtung und Entfaltung bilden somit die topologische Struktur einer Schreibweise, die sich das Gattungsgedächtnis zum Vorbild nimmt. Und auch in zeitlicher Hinsicht wird der Chronik das Gedächtnis zum Modell: In ihrer Erzählweise folgen die beiden Bände dem rückwärts gerichteten Funktionieren der Erinnerung, wie Kluge in einem kurzen Vorwort erläutert: »Sie erzählen (in etwa) in umgekehrter Reihenfolge, in der die Geschichten entstanden.«32 Weil aber die Gegenwart der Gefühle bis weit in die Vergangenheit hineinreicht, weil unterschiedliche Zeithorizonte im Gedächtnis gespeichert, den subjektiv-objektiven Horizont gesellschaftlicher Erfahrungs- und Lernprozesse bereitstellen, setzt die Chronik eine Ineinanderfaltung und Verschachtelung von Zeiten, eine nicht-lineare Zeitlichkeit der Gefühle, in Szene. Kluges Geschichten bestehen aus Rückblenden und Antizipationen, setzen sich aus Zeitsprüngen und Perspektivwechseln zusammen, die innerhalb oder zwischen den Geschichten stattfinden. Kontinuität und Diskontinuität prägen damit die zeitliche Struktur seiner »Archivfiktion«.33 Überlagert, prozessiert oder durchgearbeitet wird die raum-zeitliche Struktur eines solchen Text-Archivs, wie Kluge in unterschiedlichen Zusammenhängen erläutert hat, durch die Schreibweise eines Kommentars, der verschiedene Bewegungsrichtungen in sich aufnehmen kann und von daher mit der Logik des einfachen Weges brechen muss. Kluge hat es einmal mit folgenden Worten formuliert: Indem der Kommentator der »Horizontale« – dem, »was der Bürokrat auf Papier zeichnen kann« – eine »Vertikale« – das »wäre die Fähigkeit zur Epik« – hinzufügt, schafft er Raum für die »Imaginäre, die Phantasie, die schweift«.34 Somit entsteht die Idee eines »kreisförmige[n], nicht-lineare[n]« Erzählens,35 das die Einbindung der einzelnen Anekdote in ihren erzählerischen 31 Alexander Kluge/Jochen Rack, »Erzählen ist die Darstellung von Differenzen«, in: Neue Rundschau, Heft 1/2001, zit. n.: www.kluge-alexander.de/zur-person/interviews-mit/details/ artikel/erzaehlen-ist-die-darstellung-von-differenzen.html (Stand: 30. 03. 2016). 32 CdG, 1, S. 7. 33 Volker Neuhaus bestimmt den Begriff der Archivfiktion in einem Text über Wilhelm Meisters Wanderjahre von Goethe mit folgenden Worten: »Eine Übergeordnete Vermittlung liegt nicht in einer Rahmenerzählung, sondern nur in der Gestalt des Herausgebers, der seine Tätigkeit in zahlreichen ›editorischen Berichten‹ selbst schildert.« (Volker Neuhaus, »Die Archivfiktion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«, in: Euphorion 62/1968, S. 13–27, hier S. 14). 34 Alexander Kluge, »Begriff ohne Anschauung ist leer. Anschauung ohne Begriff ist blind (Einführung)«, in: ders., Anschauung und Begriff: die Arbeiten des Instituts für Filmgestaltung Ulm 1962–1995, Katalog, Basel u. a. 1995, S. 7–14, hier S. 14. 35 Ebd.
286
Dorothea Walzer
Kontext organisiert. Aufgebaut wird ein Verhältnis zwischen Text und Kontext, das die Beispielgeschichte ihrer illustrativen Funktion beraubt, weil es sich – weder einseitig, noch einfach oder geradlinig – als eine Vervielfältigung von Kommentierungs- oder Bearbeitungsverhältnissen darstellt. Dies impliziert, dass das kreisförmige Erzählen zum Medium eines beweglichen Archivs wird, das immer wieder aufs Neue gelesen, interpretiert und umgeschrieben werden muss. Verstehen wir das bewegliche Archiv als ein Medium der Überlieferung, der (Re-)Produktion und Tradierung von Erfahrung, so ließe sich das Apparatus-Verständnis des Mediums wie es von Rosalind Krauss entworfen worden ist, mit Kluge durch ein flexibleres Konzept von Medialität erweitern.36 In der Erzählung scheint der Kommentar also, wie man zusammenfassend sagen kann, die rahmende oder verbindende Erzählweise zu sein, die das Essayistische und das Dialogische in sich aufnimmt: Ist der Interviewdialog als Kommentar des Autors A. Weber auf sein im Entwurf begriffenes Werk zu lesen, so ist er – insofern er die Frage eher vertieft, als beantwortet – doch selbst kommentierungsbedürftig; und während die Anekdote in Bezug auf diese Erklärungsnot eine Auskunfts- oder Kommentarfunktion übernimmt, ist sie – als Geschichte ohne Oberbegriff, ohne Methode und definierbare Gattung – ihrerseits auf Kommentierung angewiesen; sie erschließt sich aber, wenn wir die Erzählung »Eingemachte Elefantenwünsche« im Kontext der umgebenden Erzählungen oder Entwürfe, das heißt, im Zusammenhang der Chronik interpretieren.
[Essay-Kommentar-Dialog] Ich möchte an dieser Stelle auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, wie sich in Kluges Erzählbänden, aber auch in seiner Medienarbeit in Film und Fernsehen, unterschiedliche ästhetische Verfahren miteinander verschränken. Ist der Kommentar tatsächlich die Megagattung, die – wie Stanitzek argumentiert hat – Kluges Texten eine gewissermaßen hypertextuelle Intermedialität zuweist?37 Oder muss man im Gegenteil die Hinweise ernst nehmen, denen zufolge Kluges Text sich quer zu den Grenzen unterschiedlicher Medien (Literatur, Film, Fernsehen) mehrerer Schreib- oder Verfahrensweisen bedient und sich fragen, auf welche Weise sich diese Verfahren miteinander verschränken, welcher Logik und welchem Motiv sie dabei folgen? 36 Rosalind Krauss, »AVoyage to the North-See«. Art in the Age of the Post-Medium Condition, London 1999, S. 24. 37 Georg Stanitzek, »Autorität im Hypertext: ›Der Kommentar ist die Grundform der Texte‹ (Alexander Kluge)«, in: Verstärker, Jg. 5, 1999, S. 1–56.
Ästhetische Verfahren, eingemacht
287
In der Erzählung »Eingemachte Elefantenwünsche« lassen sich mit dem Essay, dem Kommentar und dem Dialog, wie ich in diesem Text gezeigt habe, drei ästhetische Verfahren ausmachen, deren Funktionen zwar ineinander übergehen, sich aber gleichzeitig voneinander unterscheiden. Eine Durchsicht von Kluges Werk bestätigt diese Einschätzung. Sie zeigt, dass die Verfahren von Essay, Kommentar und Dialog in Kluges Werk einerseits im Übergang von Medien und Gattungen angesiedelt, selbst Übergangsmedien sind, dass sie sich andererseits voneinander differenzieren lassen und – was in diesem Text nicht zur Debatte stand – in unterschiedlichen Medien ihren privilegierten Ort haben. Denn wenngleich das essayistische Prinzip nirgends so präsent ist wie in Kluges Filmen, so lassen sich auch seine Dokumentationen (bspw. zum Film Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos) und Erzählungen (wie hier am Beispiel der »Elefantenwünsche« angeführt) als eine aus Entwürfen und Notizen zusammengesetzte Untersuchung, als eine essayistische Probe aufs Exempel lesen. Gleiches gilt für den Kommentar, der nicht allein in den Erzählbänden zum Formprinzip erhoben wird, sondern auch in der gemeinsamen Philosophie mit Oskar Negt (etwa in Geschichte und Eigensinn), in Kluges Filmen (beispielsweise in seinem MarxKommentar Nachrichten aus der ideologischen Antike) oder den dazugehörigen Dokumentationen (Die Patriotin u. a.). Und während der Dialog in Kluges Experteninterviews im Fernsehen (u. a. in den sogenannten »Fake-« oder »Postinterviews«38) zum prägenden Stilelement wird, sind auch die Erzählbände und Filme (prominent etwa die Verhörsituation in der Eingangssequenz von Abschied von Gestern) durchsetzt von dramatischen Dialogen zwischen Experten. Verbindendes gibt es tatsächlich zur Genüge: Gemeinsam ist den Bestimmungen von Essay, Kommentar und Dialog, wie sich feststellen ließ, ein antiautoritärer, gegen jede doxa gerichteter Gestus; statt zu beantworten, zu belehren und zu erklären, wird dialogisch befragt, essayistisch erprobt und kommentierend gebraucht. Es liegt also nah, in der Verschränkung von Essay, Kommentar und Dialog das Gemeinsame einer genuin kritischen Haltung zum Text der wirklichen Verhältnisse zu vermuten. Bereits die maßgeblichen Abhandlungen zum Essay – handele es sich um Georg Luk#cs’ Text über »Wesen und Form des Essays«, um Max Benses Aufsatz »Der Essay und seine Prosa« oder um Theodor W. Adornos Beitrag »Der Essay als Form« – verweisen darauf, wenn sie eine Neuformatierung von Kommentar und Dialog, ihren Übergang von einer autoritären in eine kritische Form im Rahmen einer essayistische Schreibweise beobachten. Statt nun wahlweise die Überformung von Essay und Dialog durch den 38 Zum Begriff des »Postinterviews« vgl. Jens Ruchatz, »Interview-Authentizität für die literarische Celebrity. Das Autoreninterview in der Gattungsgeschichte des Interviews«, in: Hoffmann/Kaiser (Hg.), Echt inszeniert, insbes. S. 45–63, hier S. 47ff.
288
Dorothea Walzer
Kommentar (Beispiel Stanitzek) oder aber die Überformung von Kommentar und Dialog durch die essayistische Schreibweise (Beispiel Kritische Theorie) zu behaupten, stellt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen die Frage, ob sich das Konzept einer kritischen Schreibweise mit Kluge nicht erweitern, präzisieren und aktualisieren lässt. Erinnern wir uns, dass wir in diesem Text den Dialog als Insistieren der Frage über jede Antwort hinaus, den Essay als Revision der Lehre durch die Probe und den Kommentar als Verpflichtung des Textes auf seinen Gebrauch bestimmt hatten. Folglich wäre die Spezifik von Kluges kritischer Medienarbeit gerade durch die Dreifachcodierung seines ästhetischen Verfahrens als einer Form der Befragung (Dialog), der Erprobung (Essay) und des Gebrauchs (Kommentar) zu fassen, auch wenn diese Aspekte in den Medien von Film, Literatur und Fernsehen durchaus in abweichenden Mischungsverhältnissen zu Buche schlagen.
Julia Haugeneder
Alexander Kluge und die Poesie des Wunsches: Ich wünsche mir den Optativ
»Man braucht für richtiges Denken ein sehr starkes Motiv – ornamental ist Denken nie, es ist verdichtetes Gefühl. […] Die Emotion ist die Schwester des Denkens.«1 Der Mensch sei kein rein rationales Wesen, so Alexander Kluge 2012 in seiner Frankfurter Poetikvorlesung; der Zufall sei ein essentielles Element im Leben(slauf) der Menschen. In diesem Gedanke Kluges, dass zum Denken nicht nur der Plan, sondern auch die Planlosigkeit gehöre, liegt vielleicht seine Faszination für den Optativ, die Wunschform, begründet. Der folgende kurze Text ist ein Versuch, dem Wunsch eine wirklichkeitsverändernde Qualität anzudichten – möge der Wunsch mehr sein als Phantasie. Diese Hoffnung liegt in Kluges Arbeitsweise selbst begründet, auch wenn er dem Wunsch erst mal eine verändernde Qualität abspricht. »In der Grammatik der Erfahrung haben wir […] die Gegenwart, die Vergangenheit, die Zukunft, die Möglichkeitsform und die Wunschform, den Optativ. Und die existieren immer alle gleichzeitig, weil zusammen bilden sie ein menschliches Verhältnis zu den Dingen.«2 Dieses menschliche Verhältnis zu den Dingen, das Gefüge in dem wir leben, ist Kluges Arbeitsfeld. »Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht.«3 Dieser Satz stammt aus Michel Foucaults Vortrag Die Ordnung des Diskurses. Alexander Kluge ordnet und verleiht dem Bereich zwischen den erinnerbaren Ereignissen, den nicht in den Diskurs eingegangenen Konstellationen, eine Stimme. ›Konstellative Erzählung‹ nennt er diese Form des Erzählens. Kluge wendet die Planlosigkeit der Welt in einen hoffnungsvollen Gedanken: Wenn in den vergangenen Ereignissen Möglichkeitsformen in ihrem Keim enthalten sind, die noch nicht erzählt, noch nicht erinnert sind, dann liegt in jedem Gefüge, auch im 1 Alexander Kluge, Theorie der Erzählung, Berlin 2013, DVD 1: 00:05:00. 2 Ebd., DVD 2 00:59:00. 3 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M.2014, S. 34.
290
Julia Haugeneder
Zukünftigen, eine ganze Welt an Möglichkeiten virtuell verborgen. »Gesellschaften haben einen enormen Bedarf an Zukunftserwartung. Sie brauchen eine Zukunft, über die nicht schon in der Vergangenheit verfügt wurde.«4 Diese Zukunftserwartungen liegen mitunter im Keim in der Vergangenheit verborgen; Alexander Kluge birgt und erzählt sie. Das ist die dem Denken innewohnende Möglichkeitsform, die in enger Fühlung mit der Tatsachenwelt verborgene Möglichkeiten sichtbar macht. Die Erzählung ist damit eine Form, die Welt zur (eigenen) Komplizin zu machen. »Das Wünschen und das Erzählen dirigieren den Augenblick. Es gibt keine isolierte Gegenwart als Fetisch.« Denn, so Kluge wenige Sätze vorher, »es gibt einen Wunsch nach Geschichte jenseits der bloßen Gegenwart.«5 Dass der Wunsch, wenn er als Dirigent der Gegenwart auftreten kann, produktiv ist, liegt damit in der Sache. Am deutlichsten haben Gilles Deleuze und Felix Guattari diese produktive Eigenschaft des Wunsches betont. Der Wunsch ist kein weltloser Zustand, der nur in der Phantasie tätig wäre, sondern er entsteht im Dasein, ist »mitten unter den Dingen«.6 Der Wunsch ist Teil des Gefüges, dynamisches Element der Geschichte, wobei Geschichte nicht die Erzählung einer fortlaufenden Metamorphose ist, sondern das ›Platz-machen‹ für das Dazwischen. Kluge selbst beschreibt diesen Zwischenraum als Gravitation: In der zweiten Poetikvorlesung in Frankfurt 2012 erzählt er von der 1844 veröffentlichten Radierung ›Planetenbrücke‹, erschienen in J. J. Grandville’s Buch Un Autre Monde. Das Bild zeigt Planeten, wie Glieder einer Kette auf einer Linie angeordnet, deren Abstand zueinander überbrückt wird –; durch eine Eisenbrücke verbunden sind die Planeten in dieser unbeweglichen Position leicht erreichbar – ein Brückenspaziergang von Welt zu Welt. Einzige Voraussetzung hierfür scheint, dass die Planten sich nicht bewegen, wie fixe Sterne stillstehen. Kluge leitet aus diesem Sinnbild die Unterscheidung her zwischen linearer Erzählweise und dem gänzlich anderen Modell, dem er sich selbst verschrieben sieht, der konstellativen Erzählweise. Lineare Erzählungen bewegen sich zwischen festgesetzten Punkten, können zwar vorwärts oder rückwärts laufen, das aber nur, weil der Weg selbst stabil, unbeweglich ist. Konstellative Erzählweisen, die viel eher, wie die unsichtbare Macht der Schwerkraft die Himmelkörper, die Ereignisse zusammenhalten,7 bilden hingegen einen Erzählraum – also den Raum zwischen den Elementen: Zur literarischen Methode 4 »Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel. Alexander Kluge im Gespräch mit Peter Laudenbach«, 2009 in: http://www.kluge-alexander.de/zur-person/interviews-mit/details/ar tikel/traeume-sind-die-nahrung-auf-dem-weg-zum-ziel.html (Stand: 19. 04. 2016). 5 »Ich bin ein Patriot der Bücher, Alexander Kluge im Gespräch mit Christine Eichel«, 2007, in: http://www.cicero.de/salon/%E2%80%9Eich-bin-ein-patriot-der-b%C3%BCcher%E2%80% 9C/37843 (Stand: 19. 04. 2016). 6 Friedrich Balke, Gilles Deleuze, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 129. 7 Kluge, Theorie der Erzählung, DVD 2: 00:55:00.
Alexander Kluge und die Poesie des Wunsches
291
gehöre, so Kluge, »dass man dadurch, dass man Kontraste offen lässt – das hier eine Geschichte ist und dort eine andere Geschichte ist und dann im Raum eine dritte […] ist – dass dadurch ein Erzählraum entsteht, der nicht-identisch ist mit einer der Einzelerzählungen, sondern Zwischenräume öffnet, so dass in diesen Zwischenräumen das Übrige, das Nicht-erzählte zu ahnen ist.«8 Deleuze würde das wohl so beschreiben: »Ist ein Bild gegeben, dann kommt es darauf an, ein anderes Bild zu wählen, das einen Zwischenraum zwischen beiden bewirkt.«9 Es geht dabei nicht um Verknüpfung, sondern um Differenzierung. Wesentlich ist, dass diese Methode der Montage keinen Zwischenraum ›sichtbar macht‹ (der damit vorgängig wäre), sondern, wie Deleuze schreibt, ihn bewirkt. Dieser Zwischenraum ist der Ort des Planlosen, und die Erzählungen sind damit nicht ordnende, Zusammenhang generierende Synthesen, sondern ein offenes Verhältnis. »Alle Utopien sind determinierend«, schreibt George Perec. »Hinter jeder Utopie steht immer eine große taxonomische Absicht: ein Platz für jedes Ding und jedes Ding an seinen Platz.«10 Einzig der Zufall findet hierin keinen Platz – »alles ist geordnet worden, und es herrscht Ordnung«. Das wäre eine Welt bestehend aus Möglichkeiten, in der man lediglich zwischen diesen zu wählen hätte – der Optativ öffnet dieses Gefüge für den Zufall. Vielleicht liegt darin der Grund, weshalb Kluge bei all seiner Skepsis dem Wunsch gegenüber doch stets anmerkt, dass er zum Denken gehört – der Wunsch entzieht sich jedem Ordnungssystem. »Das Pathos bei mir liegt in der Möglichkeitsform und im Optativ.« Und doch entgegnet sich Kluge sogleich selbst: »Die Wunschform ist nicht wirklichkeitsverändernd. Sie können noch mit dem Wunsch auf der Zunge sterben, dass es anders sein möge.«11 Deleuze und Guattari kreieren hingegen im Anti-Ödipus einen Begriff des Wunsches, der kein Mangel ist, sondern mit der Welt immer schon koexistiert.12 »Wir wissen wohl, daß das reale Objekt nur durch Kausalität und äußerliche Mechanismen hervorgebracht werden kann, dies Wissen aber hindert uns keineswegs, an die immanente Fähigkeit des Wunsches zu glauben, sein Objekt, und sei es in irrealer, halluzinatorischer oder phantasierender Form, zu erzeugen und diese Kausalität im Wunsch selbst zu repräsentieren. Die so weit vom Wunsch produzierte Realität des Objekts ist folglich psychische Realität.«13 Diese psychische Realität ist, was Kluge das menschliche Verhältnis zu den 8 9 10 11
Ebd., 00:03:00. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M.1997, S. 234. Georges Perec, Denken/Ordnen, Zürich u. a. 2014, S. 145. Ulrich Greiner, »Der Friedensstifter. Alexander Kluge im Gespräch mit Iris Radisch«, Die Zeit, 2003, S. 5/12, in: www.zeit.de/2003/44/L-Kluge (Stand: 15. 04. 2016). 12 Balke, Gilles Deleuze, S. 131. 13 Gilles Deleuze/Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/ M.1977, S. 34.
292
Julia Haugeneder
Dingen nannte. Es ist das nicht rationale Moment, das dem Denken innewohnt. Schon Adorno hebt dieses produktive Element des Wunsches hervor, wenn er in den Minima Moralia schreibt: Es [wäre] an der Philosophie, im Gegensatz von Gefühl und Verstand deren Einheit aufzusuchen: eben die moralische. Gegen die Abspaltung des Gedankens hilft nicht die Synthese der einander entfremdeten psychischen Ressorts, nicht die therapeutische Versetzung der ratio mit irrationalen Fermenten, sondern die Selbstbesinnung auf das Element des Wunsches, das antithetisch das Denken als Denken konstituiert. Erst wenn jedes Element rein, ohne heteronomen Rest in die Objektivität des Gedankens aufgelöst wird, treibt es zur Utopie.14
Diese Selbstbesinnung auf das Element des Wunsches scheint damit für Adorno auch der letzte Ausweg aus der Unterdrückung, in der Erlösung nicht gedacht werden kann, und doch nicht anders als Gedanke ihren Anfang nehmen kann. Die Utopie entsteht hier aus einer reinen Negation, und doch gibt es auch bei Adorno dieses produktive Moment, das antreibt. Am Ende der Minima Moralia heißt es also: Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche [befreiten] Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. […] Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.15
Was bleibt, ist vielleicht der Wunsch, und wenn es auch nur der Wunsch nach einem Gedanken ist. Der Wunsch als produktive Kraft ist auf die Zukunft gerichtet. Er ist effektive Produktion und nicht einfach Phantasie. Das alles ist er, weil er eben kein nachträglich produziertes Gefühl, sondern wie Kluge schreibt, Teil des menschlichen Verhältnisses zur Welt ist, das sich aus einer Gleichzeitigkeit von Zeit-, Konjunktiv und Optativ-Modi generiert. Wenn der Wunsch nicht nachträglich ist, kann er auch nicht bloßer Mangel sein, sowenig wie bloßes Phantasiegebilde – so zumindest Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus. Diese produktive Wendung des Wunsches liegt vielleicht in Kluges Erzählform selbst schon begründet. In der Entscheidung, die Welt nicht so zu lassen, wie sie ist,16 äußert sich nicht nur eine Möglichkeit der Veränderung, sondern vor allem der Wunsch danach. Der Wunsch treibt an und eröffnet eine Zukunftserwartung, die selbst, als Gegenwart, Möglichkeiten bieten wird. 14 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M.1969, S. 236. 15 Ebd., S. 334. 16 Vgl. Marcus Steinweg, Inkonsistenzen, Berlin 2015, S. 77.
Alexander Kluge und die Poesie des Wunsches
293
– Eine unvollkommene Erinnerung? Eine absolute Lüge? Eine strauchelnde Wahrheit? Ein stiller Wunsch? – Es war nur ein Gedanke. […] Aber es war auch ein Wunsch; etwas, das man nur, indem man es wünschte, denken konnte. Ohne es denken zu können, wenn man nicht sicher ist, dass man es wünscht. Gleichwohl bereit, davon zu sprechen, mit der Ahnung, dass jedes Sprechen darüber unausgegoren ist, eine unglückselige Enthüllung. – Auch eine glückliche; es war nötig. – War es nötig? – Zu spät werden wir es erfahren.17
17 Maurice Blanchot, Vergehen, Zürich 2011, S. 14f.
Alexander Kluge / Vincent Pauval
»Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka. Ein Gespräch mit Alexander Kluge am 3. Dezember 2013
VINCENT PAUVAL: Wann sind Sie erstmals auf Franz Kafkas Werk gestoßen? ALEXANDER KLUGE: Da war ich ein Schüler und habe den Bericht für eine Akademie gelesen. Das hat mich gefesselt. Das ist ja eine unglaublich präzise Geschichte: Dieser Affe trägt vor und während er noch vorträgt, spürt er sozusagen den Wind der Geschichte, also den Wind des Schicksals an seiner Ferse. Das ist eine Metapher, die einschlägt. Ich habe diese Geschichte immer wieder gelesen. PAUVAL: Sie stammen aus Halberstadt. Gibt es einen Bezug zwischen Kafka und Ihrem Geburtsort? KLUGE: Da gibt es einen relativ berühmten Besuch im Sommer 1912, den er in seinem Tagebuch notiert hat. Er hat seine Reise in den Harz am Halberstädter Hauptbahnhof unterbrochen und dort die Nacht verbracht: »Eisenbahnhotel, schreibt er, Zimmer unten an der Straße, mit einem Gärtchen davor. […] Weg in die Stadt, eine ganz und gar alte Stadt: Fachwerkbau scheint die für die größere Dauer berechtigte Bauart zu sein. Die Balken verbiegen sich überall. Die Füllung sinkt ein und baucht sich aus. Das bleibt und fällt mit der Zeit höchstens ein wenig zusammen und wird noch fester. So schön habe ich Menschen in den Fenstern noch nie lehnen sehen.« Das ist eine Stadt, die ich noch aus meiner Kinderzeit kenne, und die im Vergleich zu 1912 unverändert blieb, bevor sie zerstört wurde, bevor der Bombenangriff am 8. April 1945 diese Stadt demoliert hat. Der Tagebucheintrag stammt vom 7. Juli 1912, also zwei Jahre vor der Krise, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führt. Er fährt dann fort, was ich sehr interessant finde: »Leute im Schlafrock auf der Türstufe. Alte sinnlose Inschriften. Die Möglichkeiten durchdacht, auf diesen Gassenplätzen, Gartenbänken, Bachufern aus dem Vollen unglücklich zu sein.« Das ist genuiner Kafka, bezogen auf meine Heimatstadt. Da ist keine Romantik drin. PAUVAL: Sie nennen Schriftsteller wie Ovid, Montaigne, Madame de La Fayette oder Heiner Müller Ihre Vorbilder. Würden Sie Kafka auch dazuzählen? KLUGE: Das kann man so nicht sagen. Wir Autoren aus unserer Jetztzeit blicken mit großem Respekt auf Kafka oder Proust. Alles was wir tun ist sozusagen
296
Alexander Kluge / Vincent Pauval
»post-Kafka« oder »post-Proust«. Also wir kennen Kafka, und ich würde schon sagen, dass die Art, Begriff und Tatsachen, Anschauung und Vorstellung, prismatisch nebeneinander zu führen, also mehrstimmige Konnotationen zu entwickeln – das ist ein Prinzip von Kafka –, etwas ist, was ich sehr verinnerlicht habe. Das klingt dann bei mir anders, aber es ist genau in der »Methode Kafka« gedacht. Um ein Beispiel zu geben: Sie erzählen die Geschichte eines Menschen, den Sie vor sich sehen und betreiben zugleich Cross-mapping, d. h. Sie erzählen gleichzeitig von einem Begriff. PAUVAL: Könnte man sagen, dass Sie mit Kafka einen gewissen Tonfall teilen, der auf Unheimlichkeit deutet? KLUGE: Sagen wir mal so: Unheimlichkeit gilt zunächst als eine mitteleuropäische Vorstellung, die übrigens sehr schwer zu übersetzen ist, denn ich weiß dafür weder einen englischen noch einen französischen Ausdruck. Dabei handelt es sich für mein Verständnis auch keineswegs um einen Begriff, der nur auf Freud zurückzuführen ist. Kafka ist gewissermaßen jemand, der genauso Tschechisch wie auch Lateinisch sprechen kann, und der dann daraus Deutsch entwickelt. Unheimlich kann ebenso »unbehaust« bedeuten, denn ein »Heim« ist ein »Haus«, und »unbehaust« heißt, dass es kein Dach über dem Leben, sprich: dass es keine Sicherheit im ganzen Leben gibt. Dies hat die Konnotation, dass es sich dabei um etwas furchterregendes handelt, d. h. um etwas, das Freud als »ominös« oder Marx als »entfremdet« bezeichnen würde: All dies ist »unheimlich«. Oder Sie nehmen all diese Prismen, die dieses Wort ausstößt, also zehn verschiedene Konstellationen, zehn verschiedene Spiegelungen, die aber alle bedeuten: es ist »nicht heimelig«, es ist »nicht heimatlich«, es ist »nicht gemütlich«. So können Sie es nur auf Deutsch sagen, und nicht beliebig ins Lateinische übersetzen. Kafka würde sagen, dass die Gleichzeitigkeit von Alltäglichem und Unheimlichem der Wahrheit entspricht, und er würde immer changieren zwischen den beiden Polen dieses so Entgegengesetzten, und genau dies würde auch ich richtig finden. Kafka kann das sehr gut. PAUVAL: Ein Kritiker sah in der Kunst der Verrätselung eine Gemeinsamkeit zwischen Ihrer Schreibweise und der von Kafka? Inwiefern würden Sie ihm zustimmen? KLUGE: Ich würde zunächst einmal rückfragen, ob Kafkas Methode tatsächlich etwas mit Verrätselung zu tun hat, oder ob er damit nicht vielmehr auf ganz subtile Weise Aufklärung betreibt, also Entschlüsselung eher als Verschlüsselung. Nach Immanuel Kant ist man gewohnt Begriff und Anschauung zu trennen, wenngleich Kant sagt: »Begriff ohne Anschauung sei leer« und »Anschauung ohne Begriff blind«. Wenn ich jetzt sozusagen Begriff und Anschauung gleichzeitig anwende, gleichzeitig »blind« aber nicht »leer« – und hellsichtig agiere, ergibt sich daraus ein Doppelton. Alles was ich von Kafka gelesen habe, hat diese doppelte Intonation, wobei es hier nicht um Verrätselung geht, sondern
»Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka
297
das Wirkliche ist zugleich unwirklich, das Unheimliche ist zugleich niemals das Zuhause, jedoch das Einzige, in das ich zurückkehren kann, in das ich falle. Diese spezielle Begriffssicherheit des Wortes in der Literatur ist für Kafka bezeichnend, wenn er sie auch anders anwendet, als Proust dies tut. Gemeint ist die Epiphanie, welche den Kernprozess bildet, durch den man Kafka versteht: Man sieht durch ein Wirkliches hindurch auf etwas Abgründiges, das wieder zurückspiegelt und die Oberfläche somit wieder leuchtend macht, so dass der Kern eines Erzählten und die Peripherie identisch werden. PAUVAL: In der Laudatio, die Jan Philipp Reemtsma anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises auf Sie gehalten hat, meint er mit »Verrätselung« ein »diffuses mehrdeutiges Schreiben«. KLUGE: Das verstehe ich sehr gut. Er bezieht sich dabei auf eine Geschichte, an der Sie das, was ich hier sage, sehr gut erörtern können. Es handelt sich dabei um meine Erzählung »Macht der Vorstellungskraft. Fund eines Wildtyps des ›verbrecherischen Menschen‹«.1 Da erzähle ich, wie Beamte des Reichssicherheitshauptamts, also eines Herrschaftsinstruments der Nationalsozialisten auf einen Verbrecher treffen, vor dem sie sich unwillkürlich fürchten. Während der Verhöre glauben sie, etwas gefunden zu haben, das einer ursprünglichen Kämpfernatur entspricht, die ihnen als Verhaltensnorm vom ganzen Dritten Reich gepredigt wird. Genau das also erkennen sie in dem Verbrecher wieder, und sie bringen ihn heimlich um. Und das ist tatsächlich eine Geschichte die Kafka schreiben würde, wenn er die Ahnung, die er vom Dritten Reich eigentlich permanent hat, verifizieren könnte. Macht der Vorstellungskraft Fund eines Wildtyps des »verbrecherischen Menschen« Die medizinischen Kapazitäten in Wien, alles Polizeiobristen, schon seit 1932 im Kriminalwissenschaftlichen Institut in Wien tätig, hielten Bruno Luedke, den Serienmörder, für eine »verwilderte Variante des Menschen weißer Rasse«, einen »Tarzan«. Der Mann war an die Industriegesellschaft angepaßt. Ihm wurden 53 Morde in der Zeit von 1924 bis 1943 zugeschrieben, in Deutschland verübt, meist an Frauen. Ein Sonderkommando von Spezialisten des Reichskriminalpolizeiamts (RKPA) reiste in Begleitung dieses Gefangenen durch das Reich, von Tatort zu Tatort. Der Mann wurde geröntgt, seine Gehirnströmungen dokumentiert, mit Blutuntersuchungen, Alkoholund Gifttests war er allseitig erfaßt, zu Leistungstest hatte man ihn verführt. So war er nach Wien weitergereicht worden. Stets gab es aber auch unter den Kriminalisten Zweifler. Zum Beispiel behaupteten Hamburger Kriminalbeamte, der mutmaßliche Mörder sei an den in den Geständnissen beschriebenen Orten nie gewesen. Es gäbe, sagten sie, einen Intelligenztyp, der auf Fragen der Verhörbeamten blitzartig verstehe, welche Aussagen man von ihm 1 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. 2003, S. 311ff.
298
Alexander Kluge / Vincent Pauval
erwarte. So etwas sei kein »besonders befähigter Gewalttäter«, sondern ein »besonders befähigter Schwindler«. Die Suche nach einer »ursprünglichen Kämpfernatur« in den Abgründen der Kriminalität (ja in fremden Rassen, in Verbindungen zwischen Affen und Menschen) war Wettbewerbsobjekt zwischen verschiedenen Instanzen des Reichs, auch zwischen den Hauptabteilungen des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Wäre die Identifizierung eines besonderen Menschentyps, der zu Verbrechen, ebensogut aber zum Kampf gegen den Feind, oder zur Verbrechensbekämpfung geeignet sein mochte, ein Prestigeerfolg? Mehrfach wurde der rätselhafte Luedke zwischen Zentralen der Polizei hin und her verschoben. Im April 1944 erfaßte die Ermittler ein Grauen. Es war nicht festzustellen, was den Verhörspezialisten (auch den biologischen Untersuchern) geschah, während sie sich mit diesem »besonderen Menschen« beschäftigten. Sprang etwas über? Schon trafen sie Sicherungsmaßnahmen, verdeckten die Haut unterhalb der Kleidung mit Westen aus Pergamentpapier, befragten den Mann nur noch, wenn er gefesselt vorgeführt wurde. Die Sterbeurkunde Luedkes vom 8. April 1944 vermerkte als Todesursache »Herzlähmung«. Tatsächlich war der Mann von der Verhörtruppe umgebracht worden. Elf Tage nach seinem Tod verständigten sich im Reichskriminalpolizeiamt Berlin die leitenden Kriminalräte mit dem Reichskriminaldirektor darauf, die Todesursache Luedkes der Staatsanwaltschaft nicht mitzuteilen. – Was löste die Panik aus? – Daß sich in den Reichskriminalpolizisten der Eindruck festgesetzt hatte, auf den »Tiermenschen« gestoßen zu sein. – Den suchten sie doch! – Sie hatten gedacht, daß sie danach suchten, als sie noch suchten. Als sie »das Tier« gefunden hatten, erschraken sie. – Pochte ihr Gewissen? – Nein, ihre Vorstellungskraft. – Sie waren Nationalsozialisten? – Einige schon seit 1932. – Und entsetzen sich vor dem »Wildtyp des Verbrechers«? – Völlig außer Häuschen. So etwas wollten sie nicht berühren. – Das taten sie doch, als sie den Mann umbrachten. – Ja, logisch war es nicht.
PAUVAL: Auf thematischer Ebene (und als ausgebilderter Jurist) teilen Sie mit Kafka eine Vorliebe für gerichtliche Situationen. Empfinden Sie dies als relevant? KLUGE: Also dass ich Jurist bin – und ich glaube, das ist bei Kafka auch der Fall – schafft einen Gebrauch der Worte, der bei mitteleuropäischen Dialekten wie im Tschechischen, dem Deutschen und sogar im Russischen sehr wesentlich ist. Diese Sprachen sind eigentümlich ungenau, aber sehr reich an Konnotationen und brechen sich sehr wirksam, wenn Sie gleichzeitig Lateinisch denken. Wenn sie zum Beispiel Heidegger ins Französische und dann wieder zurück ins
»Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka
299
Deutsche übersetzen, bekommen Sie einen besseren Heidegger. Das könnte man mit Texten von Richard Wagner oder von Kafka und mit meinen Texten genauso machen. Der Jurist ist gewissermaßen so etwas, wie der Lateiner unter den Gegenwartsmenschen. PAUVAL: Wie würden Sie als ein Schriftsteller, der im Ovid der Metamorphosen eines seiner größten Vorbilder sieht, Kafkas wohl berühmtesten Erzähltext, nämlich dessen Novelle Die Verwandlung lesen? KLUGE: Das ist ja in der Tat eine sehr ungewöhnliche Erzählung. Ich habe einmal einen Versuch gemacht und habe sie in drei Abschnitte zerlegt, so wie man auch eine Oper in drei Akte aufteilen kann. So entsteht nämlich ein ganz dramatisches Plateau, eine Erzählung, die eine große Übersichtlichkeit hat. Wenn Sie den Text selber lesen, durchqueren Sie ein eigentümliches Dickicht. Sie schreiten gewissermaßen »kriechend« vorwärts, wobei Sie die Übersicht über keinen der Sätze bekommen. Die Abstraktion bei Kafka, von der ich sprach, und bei der Sie merken, wie luzide dieser Kafka arbeitet, müssen Sie als Leser bei Ihrer Vertiefung in die einzelnen Sätze berücksichtigen, indem Sie beim Lesen immer wieder innehalten, um zu rekapitulieren, was Sie auf den zwei letzten Seiten erfahren haben. Ich glaube nämlich, daß Kafka das von uns verlangt, denn so wird etwas erreicht, was gleichzeitig die Klarheit einer Oper (falls es so etwas gibt) und die Präzision einer Narration hat. Das ist auch der Grund, weshalb Metamorphosen heute eigentümlich anders sind als bei Ovid. Sie können sagen: bei Ovid gibt es die Götter, und es gibt die Menschen. Da gibt es zum Beispiel Daphne, die von Apollo verfolgt und so zu einem Lorbeerstrauch wird, weil der gierige Gott sie vergewaltigen will. Daher verwandelt sie sich in einen Lorbeerbaum, der dann an allen Mittelmeerküsten wächst. Eine solche Metamorphose kennt noch die glückliche Zeit der Götter. Zwar sind diese auch furchtbare Tyrannen, dafür aber auch Garanten des Lebendigen. Die Auseinandersetzung, die Spannung zwischen den Menschen und ihnen ist nicht gebrochen, so dass man sagen kann, dass diese antike Zeit Glück und Unglück überhaupt nur als getrenntes kennt. In Kafkas und auch in meiner Vorstellung aus dem 20. und 21. Jahrhundert ist dies aber nicht mehr trennbar. Hier ragt jetzt die Monströsität in den Alltag hinein. Bei Kafka sind die Götter gestorben. Aber es sind nicht nur die Götter gestorben, sondern auch die Familie ist nicht mehr, was eine Familie war, sondern es sind Monstren, die einander bewachen. Wenn Samsa versucht, die Familie aus ihrem Bankrott zu ziehen, aus seiner Schwester eine Musikstudentin zu machen, ihr Leben zu finanzieren usw., dann wird er zum Ungeziefer und verfällt. Und die Art, wie er stirbt, ist traurig wie Gildas Tod in Rigoletto. An dieser Koinzidenz bei Kafka, zwischen einer Boulevard-Geschichte, also einer Geschichte, die auch Ödön von Horv#th hätte erzählen können, über den Verfall einer kleinbürgerlichen Familie im Prozess der Verwandlung, und einer allgemeinen Theorie ist jedoch gar nichts rätselhaft. Sie
300
Alexander Kluge / Vincent Pauval
könnten die analytischen Methoden von Karl Marx darauf anwenden, und würden finden, dass dies das Kernbeispiel des Prozesses der Entfremdung darstellt, und zwar eines mit großer poetischer Kraft. Die Verwandlung steht symbolisch für die Entfremdung und bleibt bei Kafka ausweglos. Normalerweise würde ich genau solche hermetische Geschichten wie die von Kafka schreiben. Da ich aber von meiner Mutter, einer auf literarischem Gebiet unbewanderten Frohnatur, die Eingebung habe, dass es immer einen Ausweg gibt – und das würde ich auch anti-realistisch jederzeit behaupten und anwenden, weil es meinem Gefühl entspricht –, habe ich in diesen »Tunneln« immer einen Ausweg gefunden, so dass meine Geschichten einem Fuchsbau oder einem Maulwurfsbau ähnlich gebaut sind, aus dem der Maulwurf immer wieder hervorkommt: Nachts, wenn Sie ihn nicht sehen, wühlt er sich hoch und insofern bleibt er nicht ganz unterirdisch wühlend, was Kafka jedoch tut. Kafka hat in dieser Hinsicht eine etwas defaitistische Natur. PAUVAL: Sie zitieren in ihrem gemeinsam mit Oskar Negt verfassten Essay Geschichte und Eigensinn eine weitere von Kafka erzählte Verwandlung, und zwar die des Prometheus (Der Unterschätzte Mensch II, S. 222), einer Figur, auf die Ovid in seinem Meisterwerk selbst kaum eingeht. Was reizt Sie an einem solchen Text, und welchen Stellenwert messen Sie ihm inmitten eines so mächtigen Theorie-Bandes bei? KLUGE: Wir sprechen hier von einer der stärksten Geschichten, die ich in der Weltliteratur kenne. Sie besteht aus vier Schritten, die allmählich von der Erzählung, die jeder kennt, von Prometheus, der an den Felsen genagelt wird, und dessen stets nachwachsende Leber von einem Adler gefressen wird. Hier geht es um die »condition humaine«: Die Menschen werden unterdrückt, aber sie leben und keine Unterdrückung kann sie wirklich vernichten. In der zweiten Erzählung, schreibt er, drückte Prometheus in seinem Schmerz von den zuhackenden Schnäbeln sich tiefer in den Felsen, bis er Fels wurde, was bedeutet: Die Menschen versteinern. Darauf folgen noch zwei weitere Erzählungen. Prometheus Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen. Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge. –
»Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka
301
Am Ende hat er die Geschichte eigentlich absorbiert. Keine einzelne dieser vier Geschichten ist wahr oder unwahr, denn nur alle vier zusammen sind wahr. Alle diese Geschichten sind wie ein Prisma, gleichzeitig leuchtend. Das ist Kafka. Wenn ich jemals eine solche Geschichte schreiben könnte, wäre ich sehr froh. Aber das Prinzip, nach welchem ich schreibe ist genau das gleiche. Die Mehrstimmigkeit, die Polyphonie des Erzählens, die entsteht ja auch in allen Erfahrungen und Beobachtungen von Menschen, denn in diesem Sinne sind Menschen selbst Polyphoniker, da sie gar nicht in der Lage sind eindimensional wahrzunehmen. Sie sind pseudorational, da die Ratio nur eine Maske und in Wirklichkeit im Menschen alles vielstimmig ist. Genau das ist bei Kafka durch eine poetische Methode ausgedrückt, die selbstverständlich auch Ovid hat. Nur wendet Ovid diese Methode nicht auf die schrecklichen Erfahrungen des 20. und des 21. Jahrhunderts an. Insofern ist er glücklicher. Warum wird Kafkas Prometheus nun in Geschichte und Eigensinn, und zwar im Kapitel über »Kreisläufe und Fließgesetze« zitiert? Sehen Sie, im ganzen Buch geht es um die menschliche Arbeit, die Arbeitskraft, die seit zweitausend Jahren mäandert, metamorphisiert, und auch wenn sie im Zeitalter des Kapitalismus zur industriellen Arbeit wird, dort nicht stehen bleibt, sondern sich schon wieder transformiert hat. Heutzutage können Sie zum Beispiel die rauchenden Fabriken weniger sehen als geistige Gebilde wie das Internet sie darstellt, das heißt, dass hier schon eine post-industrielle Struktur angelegt ist. Immer ändert sich die Arbeit nach Fließgesetzen, und sie tut dies nach dieser Metapher, die Kafkas Prometheus andeutet, wobei hier sozusagen der Weg zurück, vom unerklärlichen Felsgebirge bis hin zu der Geschichte des Prometheus bevor er an den Fels geschmiedet wurde, nachvollziehbar bleibt. Wäre ich nun früher geboren und säße mir Kafka im Jahre 1912 in einem Caf8 in Halberstadt gegenüber, würde ich versuchen, ihn zu überzeugen, diese »Rückgeschichte«, die zum Beispiel in einem Bild von Paul Klee2 angedeutet ist, zu erzählen, um die Situation zu spiegeln, bevor Prometheus die Götter betrügt. Da hat er nämlich eine ganze Menge Erfindungen gemacht, und er stellte für den frühen Menschen einen großen Lehrer dar. So würde man zumindest zeigen können, dass Prometheus als Ingenieur oder Unternehmer die Menschen genauso gut nicht betrügen könnte. Da ich aber Kafka leider nicht mehr vor mir sitzen habe, könnte ich zum Beispiel jemanden wie Heiner Müller in ein Gespräch verwickeln, bei dem wir die Rückerzählung in die Zeit versuchen, bevor alles unglücklich wurde, weil sich die Horizonte verschlossen. Dieses Rückprojizieren des Unheils aus seiner hermetischen Unerklärlichkeit, das heißt aus dem Felsgebirge, dem man nicht ansieht, was es birgt, in eine Zeit, in der die Geschichte noch ganz frisch ist, aus der also noch mehr als ein Ausweg besteht, und solches hin und her zu erzählen, das ist eigentlich die 2 Eine Anspielung auf Walter Benjamins »Engel der Geschichte«.
302
Alexander Kluge / Vincent Pauval
wirkliche Kafka-Methode. Dabei hätten Sie die proustsche Erzählhaltung, nämlich das Gedächtnis und die Herstellung der Erzählung aus dem Innern noch hinzugefügt, so dass Horizonte entstehen, die zwar rückwärts liegen, aber nur scheinbar vergangen sind. In diesem Sinne könnten wir sagen, dass die Frage, wie im Juli 1914 eine Kette von siebenundzwanzig Zufällen das Verhängnis hätte verhindern können, so dass alle zu müde sind, einen Krieg zu führen, so dass die »Schlafwandler« – so heißt der neue große Geschichtsband von Christopher Clark über den Ersten Weltkrieg – plötzlich gewissermaßen aus der Szene herauswandern, sich als entscheidend erweist. Und so wie dort eine ganze Kaskade von Zufällen und von unberherrschbaren Eigenheiten – jeder denkt an sich, jeder macht seine Sache – unbeherrschbar wird für jeden Zauberer, der diese Entwicklung stoppen wollte, könnte eine andere Kaskade von Zufällen, die in der gleichen Realität vorhanden ist, den Krieg verhindert haben, so dass man sich sagt: gar nicht erst ignorieren, einfach daran vorbeigehen. So wie eine Passantin bei Baudelaire vorbeigeht, kann ein Unglück auch vorbeigehen, und das ist nicht unkafkaesk. Ich glaube, dass man Kafka sehr gut verstehen kann, wenn man das, was er in seinem Amerika-Roman beschreibt, seine große Zuneigung zum Boulevard, zur trivialen pressemäßigen Mitteilung, den »mixed news«, das heißt den vermischten Nachrichten, die er mit Kleist übrigens teilt, in Betracht zieht, denn aus solchem Material formt er seine großartigen Geschichten. Man versteht diese Erzählungen richtig, wenn man sie in dieses Interesse wieder auflöst. Diese Boulevard-Geschichten und Moritaten haben alle die Traurigkeit und die Feier des Verhängnisses, also einen Opferton, und gleichzeitig eine tiefe Sehnsucht nach Auswegen gemein. PAUVAL: Neulich haben Sie in einem Gespräch mit Oskar Negt über Kafkas Erzählung zum Stadtwappen von Babylon gesprochen. Was haben Sie da erörtert? KLUGE: Naja, es ging uns um diese Grundmetapher, wonach dieser hohe Turm gebaut wird, obwohl wir Menschen doch für unsere Erfahrung einfacher Wohnungen bedürfen, und wir eigentlich für unsere Lebenserfahrung solche Türme des Wissens gar nicht gebrauchen können. Kafka entfaltet dies in brillanter Weise, indem er die Sprachverwirrung weitertreibt bis in die Quartiere der Arbeiter hinein. Das ist eine der kühnsten Deutungen des Turmes zu Babel und der Sprachverwirrung, die ich kenne. PAUVAL: Ferner zitieren Sie von Franz Kafka gern die Zeilen: »Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.« Was bedeutet Ihnen ein solcher Satz, dass Sie ihn nicht nur mehrfach in Ihrem Werk
»Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka
303
zitieren (zum Beispiel in dem Filmbuch Die Macht der Gefühle), sondern ihn sogar als Motto an den Anfang einer Ihrer Geschichtensammlungen3 stellen? KLUGE: Es handelt sich hierbei um einen Kernsatz, der theologisch dem babylonischen Talmud zuzuordnen wäre – denn schließlich dürfte Kafka die jüdische Theologie beherrscht haben – und worin vor allem aber der Anti-Kafka bemerkbar wird. Er stellt ja die Frage so, dass etwas am Paradies nicht zerstörbar ist. Ich möchte aber zunächst noch einmal auf die Stadtgeschichte und auf Babylon zurückkommen. Wenn Sie das Narrativ der Entstehung der frühen Zivilisation in Mesopotamien aus Paradies und Terror ernst nehmen, dann ist der Kern davon das Prinzip der Stadt. Vorher hätten Menschen, Jäger und Sammler, die in Clans verteilt, auf einem so engen Gebiet zusammengepfercht leben, einander erschlagen. Es ist aber ein Moment lang ein Paradies entstanden, wo in Megastädten wie Uruk und später Babylon, Menschen sich auf kurze Zeit in einem Gemeinwesen und auf engem Raum zusammenfinden und sogar vertragen, was man bis dahin nie für möglich gehalten hat, und was im Übrigen hinterher nicht wiederkehrt. Wir leben sozusagen in den Ruinen dieses Prinzips Stadt. Dieses Prinzip wird durch den Bürgerkrieg und durch Raubzüge immer wieder zerstört und ist – auch nicht in Florenz – nie wieder so errichtet worden, wie es in der Frühzeit der Zivilisation einmal entstand. Das ist eine für Kafka typische Vorstellung, und entspricht dem, was uns in Harvard heute die Assyrologen erklären, nämlich dass wie durch ein Wunder erst die Städte, und aus dem Zerfall der Städte später die Dörfer entstehen. Dieses Wunder der Stadt ist zum Beispiel in der Bibel angedeutet, wo in der Erzählung über das Paradies erwähnt wird, dass die Löwen und die Gazellen beieinander lagern, ohne dass die einen die anderen fressen. Diese Metapher deutet darauf hin, dass eine plötzliche Verträglichkeit einmalig für Menschen ausbrach: Dies war das Paradies, welches sofort zerstört worden ist, weil sein Reichtum von den Nachbarvölkern bemerkt wurde. Die Übertreibung dieses Prinzips Stadt im Turm von Babel ist das, was die Menschen auch ohne Unterdrücker zustandebringen, oder ohne Zerfall in Bürgerkriegsfraktionen, nämlich dass sie davon zu viel bauen. Das Ergebnis ist dann der 11. September oder die Sprachverwirrung oder etwas anderes, was Kafka beschreibt. Er aber – und das ist es, was mich so fesselt – der immerzu nur negative Ausgänge, hermetische Geschichten, im Grunde furchterregende Unheimlichkeiten sammelt und in ein Narrativ verwandelt, schreibt gleichzeitig: »Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.« Das ist zunächst rational, eine Haltung, wie sie Seneca hätte. Mit dem zweiten Satz meint er implizit, dass wir tatsächlich in einem falschen Glauben leben, da nämlich dieses Paradies, und also ursprüngliches Glück auf 3 Alexander Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt/M. 2003, S. 7.
304
Alexander Kluge / Vincent Pauval
keinen Fall zerstörbar ist. Als er selbst während seines Besuchs in Halberstadt, nachdem er gelaufen ist und ihm davon seine Beine so wehtun, dass er sich wie ein Kind zusammenrollt und eigentlich ins Bett getragen werden müsste, auf einer Bank vor dem Dom dasitzt, hat er diese alte Stadt studiert und sagt, dass sie eigentlich ein Sitz von Unglück sei. Trotzdem sagt er, dass am Urgrund alles Lebens etwas stecke, was uns am Selbstmord sehr wohl hindert. Gleichwohl er Bergsons Theorie über den »8lan vital« sicher mit Häme begegnen würde, gehört der Gedanke, dass es so etwas gibt, wie ein ursprüngliches Glück, mit zu seiner Erzählform, denn sonst würde er so etwas nicht schreiben. PAUVAL: In einer Filmsequenz zum ersten Weltkrieg mit dem Titel »Der Böse Blick«,4 verweisen Sie auf einen Tagebucheintrag von Kafka. Was daran gab den Ausschlag für die filmische Bearbeitung solcher Betrachtungen (tatsächlich werden diese dort nur vorgelesen)? KLUGE: Das ist die Lakonie. Der 1. August 1914 wird ja von vielen Menschen und auch von vielen Autoren empfunden. Kafka referiert mit abgewandtem Gesicht: »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule«. Nur kurze Zeit davor, nämlich am 28. Juli 1914, als der österreichische Thronfolger in Sarajevo ermordet wurde, und die Zeitungen voll sind von einem Ereignis, das jedenfalls ein Gefühl des Unheimlichen in Europa verbreitet, schreibt er in seinem Tagebuch, dass er eine Straßenbahn verpasst hat, dass er einen Telefonanruf nicht getätigt hat, usw. Er bleibt also ganz abgewandt von der Zeitgeschichte, bei seinen persönlichen Bemerkungen und Erlebnissen von dem konkreten Tag. Da er 1915 Die Verwandlung veröffentlicht hat, können Sie feststellen, dass die wirklichen Verhältnisse, wenn nicht in sein Tagebuch, doch längst in seine Geschichten eingegangen sind: Das ist die monströs metaphorisierte Welt, und insofern ist dieser Erste Weltkrieg etwas, das wir noch nicht verstanden haben. Dieser Krieg von 1914 bis 1918 ist erst beschrieben worden als eine Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Kriegsschuld und dem Unwillen, erneut einen solchen Krieg zu führen, zwischen Giftgas und Abschaffung von Giftgas – Argumente, die noch heute, bis hin zum aktuellen Syrienkonflikt wirksam sind. Diese Narrative genügen aber nicht, denn die Tatsache, dass eine Hochkultur diese Implosionen entwickelt, und zwar mit großem Geschrei und begleitet durch die Zustimmung von Autoren, Dichtern, Musikern, usw., das bleibt ein in seinen Einzelheiten noch unbekanntes Laboratorium der menschlichen Erfahrung, so dass wir hundert Jahre danach neu zu erzählen beginnen. Ich habe gerade einen längeren Film vorbereitet, der mit einer Geschichte beginnt, die bereits in meiner 4 Vgl. News & Stories vom 25. Mai 2016, »Lebendige Hölle. Les Contes d’Hoffmann von Jacques Offenbach an der komischen Oper Berlin«, http://www.dctp.tv/#/filme/nzz-kafka-der-boeseblick/.
»Sehnsucht nach Auswegen« – Elf Fragen zu Kafka
305
Erzählsammlung Das fünfte Buch angedeutet ist, mit dem Titel »Absturz aus der Wirklichkeit«.5 Da marschiert bei der Gallipoli-Offensive ein australisches Regiment in eine Wolke hinein und kommt nicht wieder hervor: Sind das Deserteure? Sind sie abgehauen? Sind sie verschwunden? Haben Götter sie verzaubert? – Das könnte ja bei Ovid, aber auch bei Kafka erzählt werden, denn die Soldaten sind tatsächlich nie wieder aufgetaucht. Dies ist eine wahre Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg, als also mein Vater noch ein junger Mann war. Er hatte damals einen älteren Bruder. In den ersten Kriegstagen gibt es in den Ardennen eine Konfrontation im Nebel, bei der Maschinengewehre zum Einsatz kamen. Die Wirksamkeit dieser Waffen im Krieg war beiden Seiten weitgehend unbekannt, da sie bis dahin nur zu Übungszwecken zur Anwendung kamen, oder gegen Eingeborene eingesetzt wurden. Und nun stellt man fest: Die deutschen Toten liegen nicht, sie fallen erst gar nicht um, da die Menge der Toten sozusagen eine Mauer bildet, so dass die Erschossenen stehen bleiben. Der Bruder meines Vaters, Otto Kluge, war einer davon. Meine Großmutter, für die ihr Erstgeborener, also praktisch mein Onkel, der bevorzugte Sohn war, hat das nicht fassen können, und sie wollte sofort bei der Eisenbahn eine Fahrkarte lösen, um an die Front zu fahren und dafür zu sorgen, dass er nicht in ein Massengrab kommt, sondern würdig begraben wird. Da erfuhr sie, dass es zur Front keine Bahnverbindung gab, denn Zivilisten können nicht einfach an die Front fahren. Sie verstehen: Das sind kleine, winzige Momentaufnahmen des Krieges, aus denen dieser in Wirklichkeit besteht. Er besteht nicht aus dem Narrativ, das wir kennen, sondern aus lauter unbekannten Momentaufnahmen. Das ist die Welt, in der Kafka erzählt, und wir sollten ihn dadurch respektieren, dass wir in seiner Methode und in der von Marcel Proust den ganzen Zeitraum von 1914 bis 1918, von den unbekannten Enden, vom Widerständigen, vom Eigensinnigen her noch einmal erzählen.
5 Alexander Kluge, Das fünfte Buch – Neue Lebensläufe, Berlin 2012, S. 374.
Lisa Kammann
(Un-)sichtbare Hieroglyphen. Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen »Wenn die Vernunft erkrankt ist, welche menschlichen Kräfte enthalten ein Gegengift?«1
Der Einfluss von Theodor W. Adorno auf das Werk Alexander Kluges ist unabweisbar. Obwohl das Medium Film im theoretischen Diskurs der Frankfurter Schule in den fünfziger und sechziger Jahren wenig Raum einnahm, wurde Kluges theoretische und praktische Arbeit maßgeblich von Vertretern der Kritischen Theorie, allen voran von Adorno geprägt.2 Dies zeigt sich in zahlreichen Erzählungen und Anekdoten und lässt sich bis zu den ästhetischen Strategien der Fernsehmagazine nachvollziehen. Die in Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) entwickelte Theorie der Kulturindustrie, die später durch den von Hans Magnus Enzensberger etablierten Begriff »Bewußtseinsindustrie«3 weitergeführt wird, bildet dabei eine dominante Referenz für Kluge: Es geht um die Entwicklung eines Gegenprojektes zu einer missglückten Aufklärung, die zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte, schließlich in den Spätkapitalismus mündete und sich auch in dem Phänomen ›Kulturindustrie‹ manifestiert hat.4 Dieses in einem universellen »Verblendungszusammenhang«5 stehende System erhält und verfestigt den Status quo, mit für die Gesellschaft durchgängig negativen Auswirkungen: Die Konsumentenmasse der Kulturindustrie ist von sich und ihrer Umwelt entfremdet, erfahrungsarm, hoffnungslos und in ihrer Kreativität äußerst eingeschränkt.6 Nun soll ein Gegenprogramm zu dieser Entwicklung entstehen, mit der Konstituierung eines öffentlichen Raumes, wel1 Alexander Kluge, Personen und Reden, Berlin 2012, S. 73. 2 Vgl. Miriam Hansen, »Alexander Kluge. Crossing between Film, Literature, Critical Theory«, in: Sigrid Bauschinger u. a. (Hg.), Film und Literatur. Literarische Texte und der neue deutsche Film, Bern 1984, S. 169ff. 3 Hans Magnus Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Claus Pias u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 2000, S. 264. 4 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1969, S. 19ff. 5 Ebd., S. 59. 6 Vgl. Theodor W. Adorno, »R8sum8 über Kulturindustrie«, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/M. 1967, S. 67ff.
308
Lisa Kammann
cher die Möglichkeit einer »Organisation gesellschaftlicher Erfahrung«7 bereitstellt. Kluges und Adornos Denken stehen im Zeichen gesellschaftlicher Notwendigkeit, und so hat Kluges Projekt einer Gegenöffentlichkeit als Modell nicht zuletzt die Absicht, einen autonomen Raum zu ermöglichen, der in Opposition zu den Tendenzen der Kulturindustrie steht, welche sich in den Massenmedien manifestieren. Der Ausweg aus der Kultur-, bzw. Bewusstseinsindustrie (diese Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet) führt durch diese hindurch; sie kann deshalb auch nur innerhalb der Medien Film und Fernsehen überwunden werden.8 Dies ist auch möglich, da das von Adorno diagnostizierte falsche Leben »machtvoll und hermetisch«,9 jedoch zugleich auch »unwirklich und löcherig wie ein Schwamm«10 ist. Die Bewusstseinsindustrie birgt »Elemente der Rettung«,11 die verstreut, vereinzelt existieren und deshalb erst zusammengetragen und verknüpft werden müssen,12 um eine unwahrscheinliche, aber mögliche Wendung der Geschichte durch »Lernen und Umkehr nach dem Unglück«13 erreichen zu können. Das Programm einer Überwindung der Dominanz der Kulturindustrie, sowie der gegenwärtigen Realität überhaupt, ist bei Kluge eine bewusste Gegenproduktion, die sich nur in »Produktform«14 realisieren kann. Kluge und Adorno betrachten das Produkt der Kulturindustrie, zum Beispiel einen Spielfilm der konventionellen Hollywoodproduktion, als ein schematisiertes, ersetzbares Produkt, das durch seinen Mangel an Erfahrungsgehalt zu einer verminderten Bewusstseinsleistung der Konsumenten führt. In einer entfremdeten Realität, in der Menschen immer weniger unmittelbare Erfahrungen machen und deshalb immer mehr auf mittelbare, das heißt auf durch Medien vermittelte Erfahrungen angewiesen sind, ergeben sich somit drastische Verluste für den Konsumenten.15 Das in Film und Fernsehen Vermittelte ist durch Verflachung, Synthese, Nivellierung und Abstraktion gekennzeichnet; es richtet sich an den erschöpften Angestellten, der nach der Arbeit ›abschalten‹ will, und nicht an einen aktiven Zuschauer.16 »Können, Phantasie, Erfahrungs-
7 Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1972, S. 179. 8 Vgl. Alexander Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, in: Christian Schulte (Hg.), In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, Berlin 1999, S. 218. 9 Kluge, Personen und Reden, S. 71. 10 Ebd., S. 72. 11 Ebd., S. 69. 12 Vgl. ebd., S. 69. 13 Ebd. 14 Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, S. 195. 15 Vgl. ebd., S. 198. 16 Vgl. ebd., S. 176.
Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen
309
gehalt«17 sind die entscheidenden Potentiale, die es zu fördern, zu aktivieren und zu rekonstruieren gilt. Dabei wird auch dem Gedächtnis kreatives Vermögen zugeschrieben: Erinnern ist stets auch Rekonstruktion, und der Mensch benötigt nur Spuren, »Splitter […], um diese generative Eigentätigkeit der Phantasie in Gang zu setzen.«18 Der Zuschauer soll animiert werden, eigene innere Bilder zu produzieren, die ihm als Orientierung dienen können.19 Hier wird deutlich, dass es Kluge nicht um reine Wissensvermittlung oder die Verstärkung menschlicher Vernunftleistung geht, auch weil die fehlerhafte Rationalisierung der Gesellschaft an deren Missständen wesentlich beteiligt ist. In dem Buch zum Film Die Macht der Gefühle erweitert Kluge den Begriff ›Gefühl‹, indem er diesem ein »massenhaftes Unterscheidungsvermögen«20 zuschreibt. Die Gefühle leisten permanent Unterscheidungsarbeit, besitzen also »kritische Kompetenz«.21 Das Gefühl ist nicht nur unmittelbare Emotion, sondern auch eine Form von Können: der Mechaniker schraubt die Schraube mit Gefühl ein, er interagiert mit der Schraube erfolgreich, indem er sich mit der Beschaffenheit seiner Umwelt auseinandersetzt.22 Diese Gefühlsvermögen sind durch den skizzierten funktionalistischen Strang der Aufklärung fehlgeleitet, unterdrückt und entmachtet worden. Der Rest, die verkürzten Gefühle, sowie die Verstandesleistung der Menschen, dienen lediglich zur profitablen Leistungsproduktion und werden – und hier bedient sich Kluge den Begriffen der Kulturindustrie-Theorie – zum »Schmiermittel, de[m] Kitt, der die Verhältnisse zusammenhält, während sie in Wirklichkeit Analytiker sein könnten«.23 Der Mensch besitzt kritisches Vermögen, und seine Phantasie ist unentbehrlich, um in einer totalitär gesetzten Realität einen anderen Zustand überhaupt denken zu können. Adorno kann also als »ideelle[r] Vater Alexander Kluges«24 gesehen werden, doch ist dieses Verhältnis keineswegs auf eine einseitige Lehrer-Schüler-Konstellation beschränkt. Adorno wurde umgekehrt von Kluges Schaffen wesentlich beeinflusst, mit dem Effekt, dass er in seinem späteren Werk sein kritisches Urteil über die Möglichkeiten und Mängel des Mediums Film revidierte. Seit seiner frühen Auseinandersetzung mit dem Medium sah er den Film eng mit dem industriell-kapitalistischen Produktionsmodus verbunden, welcher sich wiederum auf die innere Organisation des ästhetischen Materials auswirkt und 17 18 19 20 21
Ebd., S. 192. Ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 202. Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M. 1984, S. 183f. Christian Schulte, »Fernsehen und Eigensinn«, in: ders. u. a. (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 73. 22 Vgl. ebd., S. 180ff. 23 Ebd., S. 184. 24 Kathrin Lämmle, Televisuelle Intellektualität. Möglichkeitsräume in Alexander Kluges Fernsehmagazinen, Konstanz u. a. 2013, S. 18.
310
Lisa Kammann
somit als künstlerische Ausdrucksform ungeeignet ist.25 Darüber hinaus entsteht mit der Entwicklung des Tonfilms, der ein problematisches Verhältnis von Sprache und Bild produziert, eine Art Bilderschrift, die von der Kulturindustrie instrumentalisiert wird.26 So werden die Bilder im Film nicht gesehen, sondern gelesen: Die bei der Projektion des Filmstreifens ablaufenden Bilder ziehen »das Auge mit wie die Zeile und im sanften Ruck des Szenenwechsels blättert die Seite sich um«.27 Das Gelesene ist jedoch nicht die Story des Films, sondern es sind die von der Kulturindustrie mehr oder weniger verborgen implementierten Botschaften. Vom Konsumenten werden die als Hieroglyphen beschriebenen Zeichen entziffert und meist unbewusst aufgenommen. Der vermittelte Befehl an den Konsumenten: Sie sollen sich den kulturindustriellen Waren ähnlich machen, ›Mimesis ans Tote‹ betreiben.28 War Adorno zunächst überaus skeptisch, was das künstlerische Potential des Films betrifft, so ändert sich der pessimistische Ton in seinem 1966 erschienenen Essay Filmtransparente, der als Zeugnis der Freundschaft mit Kluge und der Wertschätzung seiner filmischen Arbeit im Rahmen des Neuen Deutschen Films gilt.29 Die Aufwertung des Mediums manifestiert sich in einer Neufassung des Mimesis-Begriffs. Der Film hat nun die Möglichkeit, auf eine subjektive Erfahrungsform zurückzugreifen, die sich gegenüber seiner technologischen Entwicklung und seinem Produktionsmodus indifferent verhält. Diese Erfahrungsform ist der assoziative Strom innerer Bilder, eine Organisationsstruktur des menschlichen Bewusstseins, die der Struktur des Films ähnlich sein soll: Wer etwa […] für längere Wochen im Hochgebirge sich aufhält […], dem mag unvermutet widerfahren, daß im Schlaf oder Halbschlaf bunte Bilder der Landschaft wohltätig an ihm vorüber oder durch ihn hindurch ziehen. Sie gehen aber nicht kontinuierlich ineinander über, sondern sind in ihrem Verlauf gegeneinander abgesetzt wie in der Laterna magica der Kindheit. Diesem Innehalten in der Bewegung verdanken die Bilder des inneren Monologs ihre Ähnlichkeit mit der Schrift: nicht anders ist auch diese ein unterm Auge sich Bewegendes und zugleich in ihren einzelnen Zeichen Stillgestelltes. Solcher Zug der Bilder dürfte zum Film sich verhalten wie die Augenwelt zur Malerei oder die akustische zur Musik. Kunst wäre der Film als objektivierende Wiederherstellung dieser Weise von Erfahrung. Das technische Medium par excellence ist tief verwandt mit dem Naturschönen.30
25 Vgl. Miriam Hansen, Cinema and Experience, Berkeley u. a. 2012, S. 210. 26 Vgl. Horkheimer/Adorno, »Das Schema der Massenkultur«, in: Dialektik der Aufklärung, S. 333. 27 Ebd., S. 332. 28 Vgl. ebd., S. 331f. 29 Vgl. Hansen, Cinema and Experience, S. 210. 30 Theodor W. Adorno, »Filmtransparente«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt/M. 1996, S. 355.
Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen
311
Dieser Bilderstrom umfasst vorbewusste, nicht-repräsentationale Bilder, die weder an eine visuelle Form noch an Raum und Zeit gebunden sind.31 Adorno umgeht hier auch seine grundlegende Bilderskepsis: Die beschriebene Bilderwelt besteht nicht aus pseudorealistischen Abbildern, sondern aus vorsprachlichen und -ästhetischen Erscheinungen, Erfahrungen, die der Film objektivierend wiederherstellen kann. Das Medium Film mit seinen mimetischen Verfahrensweisen wird zum adäquaten Ausdruck moderner Kunst, denn Kunst ist »Mimesis an die Bilderwelt«.32 Erfahrungsweisen, die durch nicht-repräsentationale Bilder wiederhergestellt werden: Hier zeigt sich, wie sehr die Intention dieses Essays der visuellen Strategie Kluges entspricht. Rund fünfzehn Jahre später schreibt er, als er das dialogische Verfahren des Films beschreibt: »Insofern ahmt die technische Erfindung des Films nur nach, wie Erlebnisse, Abbilder in den Menschen – immer über ein Gegenbild, das mehr ist als ein Spiegel – seit Tausenden von Jahren entstanden sind.«33 Das Medium Fernsehen, das für Adorno in seinen Grundzügen durch die Distributionsstruktur des Radios und die visuellen Eigenschaften des Films gekennzeichnet ist,34 sah dieser als Perfektionierung der Kulturindustrie, die sich mit diesem Medium, das alle Grundsätze dieses Systems verinnerlicht hat, ein Denkmal zu setzten scheint, als »hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk«.35 Aus dem Entgegenkommen von medialen Strukturen des Mediums und den Absichten der Bewusstseinsindustrie bildet sich ein »formal-ideologische[r] Charakter des Fernsehens«36 heraus, der die Verkümmerung sowohl der ästhetischen Mittel als auch des kognitiven und psychologischen Potentials des Zuschauers vorantreibt. Auch hier sind es Schrift-Bild-Verflechtungen, die die Hieroglyphen der Mächtigen verbreiten und nun sogar direkt in das Wohnzimmer der Konsumenten transportieren.37 Ästhetische Vielschichtigkeit – diesen Begriff wendet Adorno auf die komplexe Erscheinung des autonomen Kunstwerks an – erscheint im Fernsehen nur in ihrer Verfallsform als »Produkt rationaler Lenkung, die nicht auf die stockende, diffuse und nicht regulierbare Entfaltung des ästhetischen Gehalts setzt, sondern
31 Hansen, Cinema and Experience, S. 231f. 32 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M. 1996, S. 324. 33 Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, S. 181. 34 Theodor W. Adorno, »Prolog zum Fernsehen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt/M. 1996, S. 507. 35 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 145. 36 Theodor W. Adorno, »Fernsehen und Bildung«, in: ders. u. a. (Hg.), Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt/M. 1970, S. 57. 37 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 145.
312
Lisa Kammann
Vieldeutigkeit nur als Kalkül und damit gar nicht kennt«.38 Das Fernsehbild ist gekennzeichnet durch eine einheitliche, glatte Oberfläche, die alle Elemente darauf vereinnahmt und ihres Charakters beraubt. Die lückenlose Darstellung der »Welt als Erscheinung«39 kompensiert die Erfahrungsarmut der Konsumenten nur scheinbar. Das pseudorealistische Bild, das den Stil der Kulturindustrie ausmacht, enthält keinen Erfahrungsgehalt, da durch den Schematismus des Mediums das Sinnesmaterial bereits derart zugeschnitten, vorstrukturiert und organisiert wurde, dass der Konsument lediglich Abnehmer eines einheitlichen Produktes scheinbarer Realität wird:40 »Nicht mehr das Individuum ordnet Begriff und Erfahrung, sondern das Fernsehen.«41 Angesichts dieser Bestandsaufnahme des Mediums, die vor allem in den Texten Fernsehen als Ideologie (1953), Prolog zum Fernsehen (1953) sowie in der Dialektik der Aufklärung nachverfolgt werden kann, ist es bemerkenswert, dass Adorno auch dem Fernsehen im Laufe der Zeit die Möglichkeit eines adäquaten Gebrauchs, einer Nutzbarmachung für die Gesellschaft zuspricht. In einem 1963 geführten Gespräch mit Hellmut Becker erklärt er, dass dafür jedenfalls darauf verzichtet werden muss, »die sichtbare Oberflächenrealität, in der wir leben, einfach noch einmal zu reproduzieren«.42 Er plädiert für eine ausgewogene Abwechslung verschiedener Inhalte, die nicht einfach von anderen Medien übernommen werden sollen, sondern »ihrem eigenen Gehalt nach diesem Medium angemessen sind«.43 Auch wenn mediale Eigenschaften des Fernsehens eine Indienstnahme der Kulturindustrie begünstigen, ist die Möglichkeit zur Kritikfähigkeit des Konsumenten drastisch eingeschränkt durch »ein Medium, das seine Formen verleugnet«.44 Das Potential des Fernsehens kann auf der Produzentenseite nur dann freigelegt werden, wenn »eine Reihe von kritischen und selbstständigen und vielfach sogar oppositionellen Menschen an der Gestaltung der Programme mitwirken«.45 Und so ist es wenige Jahrzehnte nach diesem Gespräch Alexander Kluge, der ein Gegenprogramm zu der gängigen TV-Produktion der Bewusstseinsindustrie – eine Kombination aus eingekauften 38 Oliver Fahle, »Vo(r)m Verschwinden. Adorno und Baudrillards Medientheorien«, in: Thomas Friedrich u. a. (Hg.), Massenkultur. Kritische Theorien im interkulturellen Vergleich, Münster 2003, S. 57. 39 Adorno, »Prolog zum Fernsehen«, S. 508. 40 Vgl. Peter Moritz, Mediale Botschaften. Philosophisch-Politische Reflexionen, Hannover 2002, S. 26. 41 Ebd. 42 Adorno, »Fernsehen und Bildung«, S. 71. 43 Ebd., S. 71. 44 Gerhard Scheit, »Becketts Endspiel und King of Queens. Versuch, die Kulturindustrie zu verstehen«, in: Karin Lederer (Hg.), Zum aktuellen Stand des Immergleichen. Dialektik der Kulturindustrie – vom Tatort zur Matrix, Berlin 2008, S. 43. 45 Ebd., S. 58f.
Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen
313
»Spielfilmkonserve[n]«46 und »bloße[r] Wortmoderation auf Bilder aufgepappt«47 – realisiert. Seit 1988 sind seine Magazine 10 vor 11, News & Stories und Primetime Spätausgabe, letzteres bis 2008, Teil des Spätabendprogramms der privaten Sender RTL und Sat1. In allen Magazinen ist Kluges eigentümliche Formensprache und seine Art der Auseinandersetzung mit der Realität ersichtlich. Seine Fernsehproduktionen stehen im Zeichen seines Gesamtwerks, das auch Versuche umfasst, »Modelle einer (anti-)realistischen Haltung zu entwickeln«.48 Diese Methode unterscheidet sich gravierend von der bereits von Adorno kritisierten abbildhaften Pseudorealität vieler TV- (und Film-)Produktionen; sie ist der Kern der Gegenproduktion: »Das Motiv für Realismus ist nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest.«49 Dieser Protest zielt auf die »gewaltsame Richtigstellung des verdrehten Verhältnisses zu den Dingen«.50 Die Prinzipien der Ausdehnung, der Verlangsamung und Unterbrechung spielen in Kluges Kulturmagazinen eine zentrale Rolle. Kluges Gegenstrategie lässt sich auch an seinen Fernsehdialogen beobachten. Die Gespräche werden im Verlauf oft in eine andere Richtung gelenkt, die Interviewpartner haben Zeit, vom Thema abzudriften; ihre eigenen Erfahrungen, ihre Gedanken und inneren Bilder können an die Oberfläche gelangen und in einem größeren Zusammenhang neu verknüpft werden.51 Was Kluges Auseinandersetzung mit der Ästhetik und Medialität des Fernsehbildes betrifft, so wird eine unkonventionelle Methode der Montage und eine Kritik des Sichtbaren deutlich, die zu einer neuartigen Reflexivität des Materials führt. Ein Unterschied zwischen Film- und Fernsehbild bildet den Ausgangspunkt einer kritischen Betrachtung des Letzteren. Der Film besteht aus einer Folge von Einzelbildern, die durch eine Lücke, ein Dazwischen getrennt sind. Diese Lücke ist Voraussetzung für die Filmmontage, die ihren Sinn nicht durch zwei verschiedene Bilder, sondern durch das nicht Sichtbare, ihr Verhältnis zueinander erhält.52 Im Idealfall entsteht der Informationswert der Montage erst im Kopf des Zuschauers, durch die Differenz, den Kontrast zweier Bilder als 46 Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, S. 172. 47 Ebd., S. 172. 48 Christian Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs. Motiv, Zeugenschaft und Wiedererkennung bei Alexander Kluge«, in: ders. (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Göttingen 2012, S. 53. 49 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 216. 50 Ebd., S. 216. 51 Vgl. Christian Schulte, »Ein Gegenbild, das mehr ist als ein Spiegel«, in: Fernsehen ohne Ermäßigung. Alexander Kluges Kulturmagazine. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 23/1996, Marburg 1996, S. 78ff. 52 Vgl. Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, S. 204f.
314
Lisa Kammann
Erscheinung (Kluge spricht hier von ›Epiphanie‹) von »ungesehenen Bildern«.53 Diese Zwischenräume verweisen durch das so entstehende Spannungsverhältnis auf das ›Nichtverfilmte‹, sie stehen für die Möglichkeit, dass das Potential des Nicht-Sichtbaren in einem visuellen Endprodukt (dem Film) nicht weggeschnitten, sondern als Kritik erkennbar wird: »Das Nichtverfilmte kritisiert das Verfilmte.«54 Gleichzeitig ist die Lücke zwischen den Bildern, der Raum des nicht Gezeigten, »der Ort, an dem die Phantasie des Zuschauers sich abarbeiten kann«.55 Der Zuschauer bildet durch den Kontrast zweier Bilder mit seiner Assoziationsfähigkeit etwas Neuartiges, ein Drittes. Da im Fernsehen diese Zwischenräume fehlen, und damit auch ein für die menschliche Wahrnehmung entscheidender Rhythmus, finden sich in Kluges Fernsehmagazinen eine Vielfalt von Bildbearbeitungen sowie eine neue Art der Annäherung von Bild und Schrift, die dem Mangel durch diese fehlende Struktur von Sichtbarem und nicht Sichtbarem entgegenwirken soll. Die Beziehung zwischen zwei Bildern, das heißt die Montage, und die Annäherung von Bild und Schrift sind Ausdruck einer Dialektik von Anschauung und Begriff. Dabei entsteht im Film eine Verbindung zwischen radikaler Anschauung im sichtbaren Bild und begrifflichen Möglichkeiten durch die Montage. Im Vergleich zur Sprache, die ebenfalls durch ein dialektisches Verhältnis von Anschauung und Begriff gekennzeichnet ist, ist dieses Verhältnis im Film weniger stabilisiert. Die von Kluge verwendeten Begriffe ›Epiphanie‹ und ›Chiffre‹ drücken diese Dialektik aus:56 »Wenn ich Realismus als eine Kenntnis von Zusammenhängen begreife, dann muss ich für das, was ich im Film nicht zeigen kann, […] eine Chiffre setzen. Diese Chiffre heißt: Kontrast zwischen zwei Einstellungen; das ist ein anderes Wort für Montage.«57 Eine Chiffre besitzt die Ambivalenz einer Bilderschrift, sie ist auf die Anschauung angewiesen, verweist aber gleichzeitig auf das nicht Anschauliche, das »Zeichenhaft-Abstrakte […] der Differenz«.58 Die Epiphanie ist eine rein geistige Erscheinung, sie existiert nicht als Bild, ist jedoch »zu ihrer Evozierung auf das Medium des Konkreten angewiesen«.59 Abstraktes bindet sich an Konkretes: In dieser Dialektik verhalten sich ›Bedeutung‹ und ›Material‹ zueinander, wobei das Medium, 53 Ebd., S. 205. 54 Alexander Kluge, »Die Utopie Film«, in: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, S. 55. 55 Andreas Sombroek, Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 104. 56 Vgl. Christina Scherer, »Das Bild der Schrift und die Schrift der Bilder«, in: Fernsehen ohne Ermäßigung, S. 51f. 57 Ebd., S. 51. 58 Alexander Kluge zu den Stichworten »Montage, Authentizität, Realismus«, in: ders. u. a. (Hg.), Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München 1980. S. 98. 59 Ebd., S. 51.
Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen
315
der Träger der Bedeutung, den Raum zwischen den Bildern bezeichnet. Da Anschauung und Begriff nie ganz ineinander fallen, sind lediglich gegenseitige Annäherungen von Bild und Schrift möglich. Mit diesen Annäherungen arbeitet Kluge intensiv in seinen Magazinen.60 Die Verbindung von Bild und Schrift gehört neben den Gesprächen zu den Grundprinzipien von Kluges Magazinen. Am Anfang jeder Sendung erscheint ein Lauftext mit Erläuterungen zum aktuellen Thema. Dieser wird nicht durch Interpunktion, sondern durch Schrägstriche gegliedert; am Ende des Textes wird kein Punkt, sondern ein doppelter Gedankenstrich gesetzt. Er soll, analog zur offenen Form der Gespräche, die Unabgeschlossenheit der Aussage darstellen. Auf den Lauftext folgt eine Texttafel, die am Ende wiederholt wird und den Rahmen der Sendung bildet. Das Interviewgespräch wird auf der visuellen Ebene oft von Texttafeln als Zwischentitel unterbrochen. Sie heben einzelne Teile des Gesprächs hervor und isolieren diese; die Aufmerksamkeit wird dadurch auf den Text gelenkt, der das Gesprochene kommentiert. In dem gemeinsam mit Edgar Reitz und Wilfried Reinke verfassten Text Wort und Film (1965) werden die Zwischentitel als berechtigtes Mittel der Filmproduktion betont, das aus der Tradition des Stummfilms stammt, welche einen bedeutenden Referenzpunkt in Kluges Ästhetik bildet. Im Stummfilm hat der Zwischentitel eine sinnstiftende Funktion, er erklärt das, was im Film abwesend bleibt. In Kluges Magazinen wird dieser Aspekt durch eine besondere Vielfalt von verschiedenen Typografien und Schriftgestaltungen ergänzt, wodurch die Sinne des Zuschauers aktiviert werden sollen;61 es wird »eine Intensivierung des sinnlichen Eindrucks erreicht, wobei die Schriftform psychologisierend wirkt, Stimmungen unterstützt und erzeugt«.62 Das Gesprochene wird im Zwischentitel zu einem Bild. Die Zwischentitel unterbrechen auch die visuelle Kontinuität der Sendung und gefährden damit die Kompatibilität und Anschlussfähigkeit der einzelnen Sendungselemente, zwei wichtige Eigenschaften für die einzelnen Segmente der konventionellen TV-Produktion.63 Vor allem jedoch betonen sie die mediale Vermittlungsstruktur, indem »das Sprechen und die Schrift sich gegenseitig kommentieren und sowohl stützen als auch gegeneinander arbeiten«.64 Die Methoden der Annäherung von Bild und Schrift durch Schrift-Einblendungen in Kluges Magazinen sind äußerst vielfältig. Christina Scherer differenziert in ihrem Text über das Verhältnis von Bild und Schrift bei Alexander 60 61 62 63
Vgl. ebd., S. 51f. Vgl. ebd., S. 36f. Ebd., S. 37. Vgl. Klaus Kreimeier, »›Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz.‹ Anmerkungen zu Alexander Kluges Magazinen«, in: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, S. 41f. 64 Scherer, »Das Bild der Schrift und die Schrift der Bilder«, S. 37.
316
Lisa Kammann
Kluge zwischen verschiedenen Methoden und Funktionen. So gibt es einerseits Inserts, die eine untergliedernde und rhythmisierende Funktion besitzen. Solche Elemente segmentieren einzelne Abschnitte und halten Stichworte, Fragen und Ähnliches fest. Es gibt jedoch auch Bildüberschreibungen, die andere Effekte erzielen. Ein Bild, wie eine Fotografie oder eine Zeichnung, wird von einer oft typografisch auffälligen bis unleserlichen Schrift überlagert, mit sichtbaren Folgen für das Bild:65 »Die Schrift, die sich über das Bild legt, ist in der Lage, die Bildillusion (die nicht unbedingt eine Realitätsillusion sein muß), die ›geschlossene Bildwelt‹ aufzusprengen und als Bild zu markieren, d. h. die Präsentationsform schiebt sich vor das in und mit dem Bild Präsentierte.«66 Durch die Hervorhebung der Struktur von Bild und Schrift stellt diese sich vor die Bedeutung als Zeichen, ihre repräsentative Funktion als Abbild: »Bild und Schrift erscheinen nicht mehr als Abbild, sondern als Bild.«67 Dabei bedient sich Kluge gerne Schriften mit einer besonderen ästhetischen Qualität wie der Keilschrift oder ägyptischer Hieroglyphen. Sie unterstützen und unterstreichen die Bildhaftigkeit der Schrift; ihre Unentzifferbarkeit führt zu einer Verrätselung des Sichtbaren, die sich auch auf das Bild niederschlägt. Anstatt als Bildlegende die Lesbarkeit des Informationsgehalts des Bildes zu unterstützen, untergräbt sie diese und entzieht dem Bild sogar Informationen. Die Verrätselung und Unentzifferbarkeit stellt die konventionelle Form des ›Lesens‹ von Bildern in Frage, sie kann als Kritik des vorschnellen, scheinbaren Verständnisses eines Bildes aufgefasst werden.68 Zugleich erscheinen die unlesbaren, aber als Lettern sichtbaren Schriftzeichen Kluges wie ein Gegenentwurf zu der verborgenen Bilderschrift der Kulturindustrie, die Botschaften als Befehle vermittelt. Auch die elektronische Bildbearbeitung, die verschieden eingesetzt wird, kann in diesem Zusammenhang gelesen werden: »Da werden Bilder zu rotierenden Würfeln, sie werden geteilt, gespiegelt, ins Negativ verkehrt, Bildausschnitte werden vervielfältigt, zu abstrakt anmutenden Mustern angeordnet, vergrößert, verkleinert, eingefärbt.«69 Fotografisches und filmisches Material wird zerstückelt, aus seinem historischen Zusammenhang gerissen, mit Rastern überzogen. Wird das fotografische Bild als gleichzeitige Realitätsfestigung aber auch als Realitätserzeugung, ein »Bildzeichen der gesellschaftlichen Durchdringung von Phantasie und Wirklichkeit«70 betrachtet, kann diese Methode der Bildbearbeitung in Kluges Magazinen als Versuch gesehen werden, »diese Verschränkung des Imaginären und des Realen, bei denen die Grenzen so genau 65 66 67 68 69 70
Ebd., S. 38f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42. Ebd., S. 39. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45.
Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen
Abb. 1: »August 1914«, Primetime 04. 06. 2000.
Abb. 2: »Dada und 1. Weltkrieg«, Primetime 28. 03. 1993.
Abb. 3: »Der Griff ins Schwarze«, News & Stories 08. 01. 2012.
317
318
Lisa Kammann
nicht mehr auszumachen sind, nachzubuchstabieren und in der ›Arbeit am Bild‹ wieder auseinanderzulegen«.71 Scherer sieht in der Bildbearbeitung eine Annäherung des Bildes an die Schrift auch dadurch, indem die Materialität des Bildes in den Vordergrund rückt. Durch die Suspension des ›ursprünglichen‹ Sinns ist der Zuschauer zur Relektüre angehalten, seine üblichen Lesegewohnheiten greifen nicht mehr. Es ist eine Art »Überschreiben oder Umschreiben des Bildes«,72 das Bild und Schrift in ihrem räumlich-strukturellen Modus näher rücken lässt. Der Fernseher wird zum Lesegerät, die »Mattscheibe wie eine Buchseite mit Bildern, Querverweisen und Bildlegenden.«73 Alexander Kluge arbeitet in seinen Magazinen daran, das Fernsehbild neu zu inszenieren, und bricht damit konventionelle Muster der Fernsehproduktion auf, die den Eindruck von Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, und damit den Pseudorealismus der visuellen Massenmedien innerhalb der Bewusstseinsindustrie unterstützen.74 Seine Arbeit mit dem Medium spricht dafür, dass die starren Formen des Schematismus, die Adorno der Kulturindustrie zuweist, nicht nur dem Medium Fernsehen nicht ›angeboren‹, sondern auch veränderbar, auflösbar sind. Diese Herangehensweise wird auch in der grafischen Setzung des Fernsehbildes deutlich.75 In ihr erscheint »[e]in letztes ironisches Aufflackern von Ikonizität«,76 die sich an der Rahmung des TV- Bildformats abarbeitet. Klaus Kreimeier sieht in Kluges Arbeiten zum Fernsehen einen quasisurrealistischen Bildbarock, mit dem Kluge seinen ästhetischen Minimalismus immer wieder konterkariert: Blitz und archaische Maske, Sternenhimmel und kreisende Lampions. Zeitraffer-Reisen durch nächtliche Stadtlandschaften. Ornamental, emblematisch, enigmatisch […]. Schriftgrafik, die ›alte‹ und ›neue‹ Medien, den ›Struwwelpeter‹ und die Elektronik, die Illustrationswut des 19. Jahrhunderts und das Grafik-Design des digitalen Zeitalters in neue Synthesen zu zwingen sucht. Der Intellektualist als Schausteller : Zitator und Monteur, Zirkusdirektor des Fragmentarischen und Assoziativen – ein Flaneur, der die Archive durchstreift, um das Bildgedächtnis der Menschheit nach Verquerem und Sperrigem abzusuchen.77
Die Rückeroberung des Bildgedächtnisses, die Aktivierung der Menschen durch Anregung ihres Bewusstseins durch die rückwirkende Implementierung des Sperrigen, Nichtidentischen: Alexander Kluge folgt mit seinen Kulturmagazinen einer bewussten Linie einer Aufklärung, wie sie im Sinne Adornos und Horkheimers verstanden wird. In den Aufzeichnungen und Entwürfen im Anhang der 71 72 73 74 75 76 77
Ebd., S. 45. Ebd., S. 49. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. Schulte, »Fernsehen und Eigensinn«, S. 67. Ebd., S. 67. Kreimeier, »›Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz.‹«, S. 49.
Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen
319
Dialektik der Aufklärung beschreibt Adorno in dem Text »Zur Genese der Dummheit« den Rückgang des Bewusstseins durch die Schrecken der Zeit, eine »Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur«.78 Das »Wundmal«79 der Dummheit entsteht durch das Trauma, das unsere Fähigkeiten lähmt, wie das Fühlhorn, das Wahrnehmungsorgan der Schnecke, das durch den Widerstand der Natur eingezogen wird. Diese Wunde hinterlässt deformiertes Gewebe, Narben, führt zu einer Abstumpfung. Wie ein Löwe, der in seinem Käfig ständig auf und ab geht, wird die Verdummung des Menschen durch die Wiederholung gefestigt.80 Doch dies ist für den Menschen kein endgültiger schicksalhafter Prozess, der nicht umgangen werden kann. So hat nach Kluge die Metapher die Fähigkeit, das Zusammenziehen und Verbergen des Fühlhorns zu verhindern: Gegenüber unerträglicher Erfahrung schafft sie Gefäße, Labyrinthe, Gewinde, in denen sich das Schreckliche so verlangsamt, daß unsere sinnliche Erfahrung damit umgehen kann, ohne verletzt zu werden; daß das Fühlhorn der Schnecke, unsere Sensibilität, ausgefahren bleibt, obwohl wir als Menschenwesen nicht dazu da sind, Schreckliches überhaupt zu erfahren, das will es mit allen Fasern. Insofern sind alle Gefühle antirealistisch und gegen die Erkenntnis des Schreckens gerichtet; gleichzeitig müssen wir Formen erfinden, die diesen Schrecken so verlangsamen, daß Menschen damit umgehen können.81
In dem für Kluge so bedeutenden Text Adornos wird, wie Kluge selbst es tut, eine Verbindung hergestellt zwischen einem Prozess von ›Verdummung‹ und dem Abstumpfen eines Vermögens, dass uns fühlen, das heißt die Umwelt mit einer gewissen Sensibilität erfahren lässt. Für Kluge ist es ein »Bild des defensiven Charakters der Intelligenz, als sapere aude: Habe den Mut dich deiner sinnlichen Gewissheit selber zu bedienen«.82 Gefühle können ein »Ausgangspunkt tatsächlicher Aufklärung«83 sein, wenn sie lernen, »für die Aufklärung brauchbar zu sein«.84
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 295. Ebd., S. 295. Vgl. ebd., S. 295f. Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, S. 325. 82 Kluge, Personen und Reden, S. 73. 83 Kluge, Die Macht der Gefühle, S. 186. 84 Ebd., S. 186.
78 79 80 81
Nils Plath
›Bemerkenswertes Ereignis‹ und ›geschichtliche Gegenwartslektüren‹: Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
1. Heute. Weshalb verdiene der heutige Tag, der Tag ›heute‹ solche Kapitalbuchstaben, wie er sie in Paul Val8rys »Notizen zur Größe und zum Verfall Europas« (1927) entdecken konnte,1 wenn er sie da in einer Anrede in Kapitalbuchstaben geschrieben findet, das ›heute‹, der heutige Tag so vergrößert, als handele es sich um eine große Herausforderung, wenn man da liest: »Nun also! Was werden Sie tun? Was werden Sie heute tun?«.2 So fragt Jacques Derrida in einem Beitrag zur Identität Europas, der zuerst in einer Zeitschrift publiziert wurde, die zum gleichen Zeitpunkt – 1990, nach einem Zeitbruch und Ende eines Zeitalters, das niemand hatte kommen sehen – in verschiedenen europäischen Zeitungen und in vier Sprachen erschien.3 Er sieht da das »Selbst« und den »Souverän« als hergestellte Vorstellungen, nicht als Gegebenheiten, als mit der Zeit gemachte, was es erfordere, ihre Artifizialität kritisch zu bedenken – und damit eben auch immer die eigene Zeit, die Gegenwart, das gemachte Heute: Seine Zeit denken, das verlangt heute mehr denn je – zumal dann, wenn man dabei das Risiko eingeht oder die Chance nutzt, öffentlich zu sprechen –, von vornherein die Tatsache zu Kenntnis zu nehmen, daß auch die Zeit dieser Rede künstlich produziert wird. Sie ist ein Artefakt. Die Zeit dieser öffentlichen Geste, als bloßes Ereignis, wird immer schon von einem Mediendispositiv (verwenden wir dieses Worte, ohne uns dabei aufzuhalten) berechnet, eingeengt, ›formatiert‹, ›initialisiert‹.4
1 Paul Val8ry, »Notizen zur Größe und zum Verfall Europas«, in: ders., Werke 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M. 1995, S. 166–172. 2 Paul Val8ry, »Notizen zur Größe und zum Verfall Europas«, zit. in: Jacques Derrida, »Das andere Kap. Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen«, in: ders., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. 1992, S. 9–80, hier S. 14. 3 Vgl. dazu Jacques Derrida, »Vorwort«, in: ders., Das andere Kap, S. 7f., hier S. 7. 4 Jacques Derrida, »Artefaktualitäten«, in: ders./Bernard Stiegler, Echographien. Fernsehgespräche, Wien 2006, S. 11–40, hier S. 11.
322
Nils Plath
Beginnen wir, heute und hier – einmal ist keinmal –, mit diesen angeführten Aussagen zu Behauptungen von Aktualitäten. Unterstellen wir dabei an dieser Stelle dieser Vorbemerkung, mit dem wo auch immer Gelesenen, hier und heute selbst als aktuell ankommen zu wollen. Was will das heißen, aktuell? Wie eigentlich zeigen sich uns aktuelle Ereignisse? Wie stellt es sich als ›bemerkenswert‹ dar, in unserem Heute – ist das Ereignis als ein solches zu bemerken, lässt es sich lesen und schreiben? Wo, wie und wann kann man behaupten, dass sich Ereignisse zu ihrer Zeit aktuell zeigen – wenn sie zur Zeit erster Lektüren und im ersten Moment eines Zur-Ansicht-Kommens womöglich unbemerkt geblieben, dann erst in einem späteren Hier und Jetzt als folgenreich erkannt werden? Gefragt mit Blick auf das Kommende formuliert: Wie wird mit Ereignissen Zukunft im Heute gemacht? Will man sich das Wie dessen vergegenwärtigen, verlangt dies nach einem aufmerksamen Mitlesen der Zeitmitschriften, die der Zukunft zu Vorschriften werden: Wer bestimmt die Aktualität von Ereignissen, spricht Ereignissen ihre Wirkungsmacht zu und ab – in den von einem Gesprächspartner Kluges als »unsere Realität« beschriebenen Massenmedien, die uns Wirklichkeit fortwährend aktuell herstellen und vorführen?5 Denn eines macht, unter anderem, nach Ansicht von Jacques Derrida Aktualität aus: dass sie als gemacht zu betrachten ist, nicht als gegeben, sondern als produziert, und als Erzeugnis von zahllosen künstlichen oder artifiziellen, hierachisierenden oder selektiven Dispositiven. So begegnet die Realität, auf die sich »die Aktualität« bezieht, sagt Derrida, »nur in der Art eines fiktionalen Machwerks«. Um sie zu analysieren, bedürfe es einer Arbeit des Widerstands, einer wachsamen Gegeninterpretation »und so weiter«.6 5 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996; vgl. dazu Alexander Kluge/ Niklas Luhmann, »›Vorsicht vor zu raschem Verstehen‹ Talk-Show mit Niklas Luhmann über Unterscheidungsvermögen«, News & Stories, 04. 07. 1994: Luhmann: »Als Student zum Beispiel oder als Zuhörer eines Vortrags nicht die Vorstellung haben, dieser Satz ist gesagt, der kommt nie wieder, den muß ich jetzt völlig verstanden haben – oder ich werde abgehängt. Denn ich verstehe überhaupt nichts mehr, wenn ich diesen hier nicht verstanden habe. Sondern, daß man Wiederholen und Arbeitsaufwand einplanen muß, weil man noch Zeit hat, sich damit noch gründlicher zu beschäftigen.« Kluge: »Ein Labyrinth, in dem man Zeit verbringen kann.« [Vgl. Alexander Kluge/Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981, S. 1008: »Die vier Versuche, einen Ausgang zu finden.« Die Suche nach dem Ausgang, die im Labyrinth zum Rückzug ins Gehäuse, zur Denkarbeit, führt, ist motiviert von dem Versuch, den einen Ausgang zu finden. Irgendwann. Durch die Berechnung soll die utopische Hoffnung auf Verstehen, den einen Ausgang erreichen, Realität werden. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt. Was aber, wenn die Sprache, die den Faden bilden soll, Baustelle für immer neue Labyrinthe ist? »Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle und kennst dich nicht mehr aus.« (Ludwig Wittgenstein, »Philosophische Untersuchungen«, Nr. 203, in: WA, Bd. I, Frankfurt/M. 1984, S. 346.)] Luhmann: »Ja. Dass man, wenn man sich in einer Sache richtig engagiert, dann nicht die Vorstellung haben darf, es muß alles jetzt entschieden werden. Eine Art Gelassenheit auch haben muß in Bezug auf das, was man später nochmal nacharbeiten kann.« 6 Derrida, »Artefaktualitäten«, S. 13.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
323
2.
Wie Aktualität hergestellt wird, woran auch der Autor Alexander Kluge teilhat, kann man anhand einer Ausgabe einer Zeitschrift betrachten, die ihre ZeitBezogenheit durch ihren Namen verheißt. »Dieses Jahrzehnt begann in Manhattan«, steht da auf der Titelseite des Beilegers. Mit ziemlicher Verspätung, kann man wohl sagen, wird ein Datum zur Behauptung, denn zu diesem Zeitpunkt war jenes mit der Chiffre 9/11 bezeichnete Ereignis längst in Dutzenden von Publikationen und Symposien als kulturelle Zäsur, als ein Zeitbruch, als Medienereignis und auch als Datum analysiert worden, nach dem sich die Frage,
324
Nils Plath
wie Krieg im 21. Jahrhundert zu definieren sei, neu gestellt habe.7 In dieser Beilage der Zeit vom 8. Dezember 2008 wird der Adorno-Preisträger des Jahres 2009 interviewt. Er, dessen Zeitmitschriften in Tradition der Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel sowie der kleistschen Prosa und dessen Beiträgen für die Berliner Abendblätter lesbar sind und zugleich informiert von den wirkmächtigen Bildsprachen des 20. Jahrhunderts erscheinen, wird zum gefragten Gewährsmann für Zusammenhänge zwischen »jetzt gerade« und »direkt danach«. »Herr Kluge«, wird dieser in einem abgedruckten Telefongespräch erinnert und damit die Verbindung zur vergangenen Vergegenwärtigung eines Ereignisses suggeriert, »wir stellen in diesem ZEITmagazin die These auf, dass dieses Jahrzehnt am 11. September 2001 begonnen hat und in diesem Herbst mit der Finanzkrise und der Wahl Barack Obamas endete. Direkt nach den Anschlägen haben wir miteinander telefoniert, so wie jetzt gerade.«8 Der Journalist, dem Aktuellen verpflichtet, für den die Vergangenheit »Geschichte« ist, weist dem Schriftsteller eine Richtung zu, die des rückwärtsgewendeten Gangs in die Historie, eines Krebsgangs ins Vergangene – um es an dieser Stelle vorwegnehmend mit Paul Val8ry zu sagen:9 »Wir reden über die Gegenwart, aber Sie können gar nicht anders, als sich gedanklich durch die Geschichte zu bewegen.« Kluge stellt nichts richtig an dieser Verkürzung seiner Vorstellung von Geschichte. Er antwortet mit einem Gegenbegriff, der eine Korrektur bedeutet und infrage stellt, worauf der Fragesteller hinauswill: nämlich in einem (Medien-)Ereignis die eine geschichtsbestimmende Zäsur herauszulesen, so im Medium Zeitung dem Medium Zeitung die Herrschaft über die Bestimmung von Zeit und Gegenwart abzusichern. Kluge: »Es gibt zunächst unbedeutend erscheinende Ereignisse, die aus der Vergangenheit in unsere Zeit hineinragen. Nennen wir sie Unwirklichkeitsbilder.« Auf die anschließende Frage, was er damit meine: »Ereignisse, die in einer längst vergangenen Zeit spielen und erst nach Jahrzehnten Geschichte machen.« 7 Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek b. H. 2002, S. 12: »Was als Krieg zu bezeichnen ist und was nicht, ist spätestens seit dem 11. September 2001 keine innerakademische Frage mehr, sondern eine Entscheidung von womöglich weltpolitischer Relevanz.« 8 Christoph Amend, »›Und plötzlich hatte Bush den Blick eines Kindes‹. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Zeitmagazin, Nr. 51, 11. 12. 2008, S. 22f., hier S. 22. 9 »Ich habe es schön öfter gesagt: wir gehen rückwärts in die Zukunft, und diese Art der Fortbewegung hat einstens ihren Nutzen gebracht und einige glückliche Ergebnisse; doch der Krens selbst hat davon ablassen müssen. Können wir es machen wie er, das heißt, in Zukunft so handeln, denken, schreiben und leben, als ob das Kommende nur scheinbar durch das Gewesene ausdrückbar wäre, weder verstehbar noch zuträglich definiert durch das, was da war?« Die Bedeutsamkeit der Frage, so Val8ry weiter, zielt auf »das ganze Netz der spürbaren Extremwerte, das uns die Illusion des Zukünftigen verschafft, sämtliche Formen unserer Hoffnungen und unserer Befürchtungen. Mit anderen Worten, es gibt in uns eine Krise des Unvorhergesehenen.« (Paul Val8ry, »Unser Schicksal und die Literatur«, in: ders., Werke 7, S. 274–294, hier S. 280.)
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
3.
325
326
Nils Plath
Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang. Über Alexander Kluge, R.: Angelika Wittlich, WDR, 13. 02. 2002.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
327
Bewegen wir uns, zum Fortlesen im »direkt danach«, hinein in eine inszenierte Tischszene, in eine Schreibtischszene oder Büchertischszenerie, die in einem im Frühjahr 2002 erstausgestrahlten Dokumentarportrait über Alexander Kluge zu sehen ist.10 Der 11. September 2001 erscheint darin noch anders präsent; noch gegenwärtiger als im Interview mit dem ZEITmagazin. Der Filmemacher geht im Gespräch mit der Interviewerin durch seine Arbeitswohnung, zeigt die Dinge her, wird am Tisch zum zeigenden Leser, führt seine ekphrastische Praxis vor, macht beim Blättern in Büchern ansichtig, was ihm einsichtig als evident erscheint. Nämlich seine Ansichten zu einem von jenen, die sich etymologisch von diesem Vor-Augen-Stellen oder Eräugen-Lassen ableiten: einem Ereignis. Mehr als einem dabei eigentlich, nämlich vielmehr dem Ereignis, das als das erste simultan global erzeugte Ereignis unter der Chiffre 9/11 in die Geschichte der jüngeren Vergangenheit als prägende Zäsur eingegangen ist: als ein Datum, von dem wir uns heute längst herzuschreiben gewöhnt haben, in kulturellen und politischen Diskursen. Eines, das Kluge da in seinen Räumen früh und auch schon in Distanz zur Unmittelbarkeit des Eindrucks mit Bildbeschreibungen kommentiert und mit kommentierten Bildern erzählt. Zitieren wir einmal aus Kluges ausgesprochenen Ansichten, die seine Blicke auf die Bilder im Buch begleiten: Kein Mensch nimmt an, dass diese hochzivilisierte Stadt New York von … so überfallen wird … Nicht … Und dass man auch … Man fängt an, an der Realität zu zweifeln … weil man weiß, solche Terroristen könnte man mit keiner Prävention, mit keiner Strafandrohung abhalten. Sie opfern sich ja selbst. Das ist auch so eine Rücksichtslosigkeit, wenn Sie so wollen, sich selbst gegenüber, die unser Realitätsverständnis, also unser Verständnis von uns zu uns selbst, im Moment attackiert …
Fragen wir nach, interessiert, wie »Realitätsverständnis« und »Verständnis von uns« hier in ein Verhältnis gesetzt, als Chiasmus beschrieben werden: Was kann sich in der retroaktiven Lektüre von Kluges Kommentierung der Bilder zeigen, von zumeist Stills von Bewegtbildern, die eine »szenographische Praxis« (JeanLuc Nancy) begründen und unter zeitbeschleunigten Sichtverhältnissen Gesellschaft als einen sozialen Bildraum konstruieren? Was macht uns Kluge, was machen wir uns mit Bildern vor? Beim Hineinlesen und beim wiederholten Hineinlesen-Lassen? Was zeigen die vorgezeigten und die erinnerten Bilder tatsächlich von dem Elften-Neunten als dem Tag, an dem das World Trade Center Ziel eines terroristischen Angriffs wurde? Von diesem Tag, an dem die beiden Zwillingstürme einstürzten – die neben vielem für eine real gewordene Utopie der Selbstüberhöhung standen, die die eigentlich undenkbare totale Übersicht über das »ungeheure Gewebe« scheinbar tatsächlich machten, auf das der Zu10 Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang. Über Alexander Kluge, R.: Angelika Wittlich, WDR, 13. 02. 2002.
328
Nils Plath
schauer von oben »wie Gott« aus der Distanz »als Ganzes« hinunterschauen konnte (so Michel Certeau in einem frühen Text zum WTC).11 Vom Tag, an dem sie zum Einsturz gebracht wurden, und der diesen einen Tag zu dem Datum gemacht hat, an dem sich zeigte, dass sich die »Einheit von Geschichte, Politik und Visualität endgültig erwiesen« habe.12 Man kann mit dem Adorno-Preisträger von 2001 bezweifeln, dass von einem Ereignis überhaupt wirklich zu erzählen ist. »Vom Ereignis zu sprechen«, konstatiert dieser Derrida, »heißt sagen, was ist, also die Dinge so mitzuteilen, wie sie sich darstellen, die historischen Ereignisse so zu beschreiben, wie sie sich zugetragen haben, und das ist die Frage der Information«.13 Zu den Merkmalen des Ereignisses allerdings gehöre, fügt er dieser allgemeinen Bestimmung hinzu, nicht nur die Unvorhersehbarkeit, mit der es über mich hereinbricht, und damit die Tatsache, dass es den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht, sondern auch: »seine absolute Singularität«. Also ist zu behaupten, dass das Sprechen vom Ereignis, die Mitteilung von Wissen über das Ereignis, die Singularität des Ereignisses in gewisser Weise a priopri und immer schon verfehlt – durch die einfache Tatsache, »dass das Sprechen zu spät kommt«.14 »Unaneigenbarkeit«, »Unvorhersehbarkeit«, »absolute Überraschung«, »Unverständnis«, »…«15 – dies sind für Derrida, wie er angesichts des 11. September in einem gemeinsam mit Jürgen Habermas herausgegebenen Band ausführt, einige der Kennzeichnungen eines Ereignisses. Ein Ereignis bezeichnet Derrida zufolge das, was eintritt und beim Eintreten mit zu überraschen vermag, zu überraschen und das Verständnis zu überraschen: Ein Ereignis ist zuerst das, was ich zuerst nicht verstehe. Besser : Ein Ereignis ist zuerst, daß ich nicht verstehe. Es besteht darin, daß ich nicht verstehe; das, was ich nicht verstehe, und es ist zuerst, daß ich nicht verstehe, die Tatsache, daß ich nicht verstehe: mein Unverständnis.16
11 Michel de Certeau, »Umgang mit Raum. Die Stadt als Metapher«, in: Centre de Cr8ation Industrielle (Hg.), Panik-Stadt, Braunschweig 1979, S. 4–19, hier S. 4. 12 Tom Holert, Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 13. 13 Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 21. In dem 2001 veröffentlichten, 1997 gehaltenen Vortrag fordert Derrida daran anschließend eine »politische Wachsamkeit« als »kritisches Wissen« von »allen Apparaten«, die vorgeben, »Ereignisse mitzuteilen, die sie aber in Wirklichkeit interpretieren, hervorbringen oder machen«, »kritische Aufmerksamkeit für alle Modalitäten der Ereignisübermittlung« (ebd., S. 23). 14 Ebd., S. 21. 15 Jacques Derrida, »Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde« (Gespräch mit Giovanna Borradori), in: ders./Jürgen Habermas, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Berlin u. a. 2004, S. 117–178, hier S. 123. 16 Ebd.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
329
Das Ereignis muss, um als Ereignis gelten zu können, evident machen, dass mit ihm etwas passiert, das als Beweis eines nicht restlosen Verstehens das Verständnis auch des Vorverständnisses aussetzt. »Was bleibt dann von einem solchen Ereignis?«,17 fragt Derrida in einer Lektüre des von Walter Benjamin verfassten Aufsatzes »Zur Kritik der Gewalt«. »Was ist die Ruine eines solchen Ereignisses oder die offene Wunde einer solchen Signatur?«18 Wiederholen wir an dieser Stelle noch einmal die von Kluge ausgesprochene Ansicht aus dem dokumentierten Portrait: »Das ist auch so eine Rücksichtslosigkeit, wenn Sie so wollen, sich selbst gegenüber, die unser Realitätsverständnis, also unser Verständnis von uns zu uns selbst, attackiert … .« Und weiter : Hier hat mich eben sehr verblüfft, dass der King Kong ja, auf dem Empire State Building 1933 … aber schon wenige Jahre später, nachdem der Trade Center gebaut ist, steht dieser große Affe, entführt aus Afrika, auf dem Wolkenkratzer, zermalmt in seiner Faust angreifende Flugzeuge, die übrigens im Filmbild in diesen Wolkenkratzer reinrammen, und schützt diese weiße Frau …
Auf die Erschütterung der Attacke des eigenen Realitätsverständnisses – seinem Unverständnis – reagiert Kluge »verblüfft«, wie er sagt, und doch eigentlich ganz den Erwartungen an sich als Leser gerecht werdend, mit einer Relektüre, die ihm sein Verstehen zurückbringt: reaktualisiert sie doch eigentlich alte Interessen, wie er sie bereits viel früher gesichtet und im Wiederabdruck eines Bildes festgehalten hat.19 Dadurch erklärt sich der an der Durchdringung von Zäsuren geschulte Blick, die für einen Moment eingetretenen Verunsicherung, und verschafft sich in Rücksichten, in denen er sein Verständnis darlegt, sein ganz eigenes Realitätsverständnis wieder. Auf diese Weise lässt Kluge das Ereignis des 11. September nicht auf sich, sondern für sich wirken: indem er nicht es, sondern sich weitererzählt. Seine Art der Antwort zeigt auch: es gibt für Kluge keine reine Unmittelbarkeit. Noch beinahe unmittelbar angesichts des Ereignisses re-agiert er. Zeigt Seiten aus dem schnell nach dem 11. September noch in das bald darauf von ihm und Oskar Negt herausgegebenen Buch Der unterschätzte Mensch eingefügte Kapitel »An der Schwelle zum 21. Jahrhundert«, kommentiert sie, wird gleichzeitig zu einem Nachleser und Hineinleser. Er fügt das gerade Gesehene – die Information, von der Derrida sprach – in eigene, lang entwickelte Denkzusammenhänge und arbeitete das Ereignis so durch – und lässt es da weiterarbeiten und in neue Beziehungen treten. In Form von vorzeigbaren Gegenproduktionen, die für ihn auch einen Reizschutz bedeuten: die in ihm ge17 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorita¨ t‹, Frankfurt/M. 1991, S. 68. 18 Ebd. 19 Vgl. Alexander Kluge, Kongs große Stunde, Berlin 2015.
330
Nils Plath
Alexander Kluge (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film, Frankfurt/M. 1983, S. 12f.
wohnter Weise Verstehen ermöglichen, um so ein Realitätsverständnis wieder herzustellen, das einen Moment lang erschüttert wurde.
4. Beginnen wir noch einmal. Mit drei Merksätzen: »Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam.«20 »[I]ch lebe in einer permanenten Aktualität, von der ich nicht sagen kann, was sie mit mir zu tun hat.« – Das ist Kluge. – »Lassen Sie sich Zeit, aber tun Sie es schnell, denn sie wissen nicht, was Sie erwartet.«21 Mit seinem Satz, der wie eine paradoxe Variante des kairologischen Prinzips erscheint, dem Alexander Kluge sich verschrieben hat, gab Jacques Derrida seiner Zuhörerschaft einmal als letzten Satz eine immer aktuell zu lesende Aufforderung zum Zeitgebrauch mit auf den Weg. Es ist die 20 Alexander Kluge, »Vorwort«, in: ders., Neue Geschichten. Hefte 1–18, ›Unheimlichkeit der Zeit‹, Frankfurt/M. 1977, S. 9. 21 Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt/M. 2001, S. 78.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
331
Aufforderung, in dem, was von Derrida Gegenzeichnen genannt wird, etwas ereignen zu lassen; etwas zwischen Text und Text passieren zu lassen, das sich dem Vorhersehbaren gegenüber widerständig behauptet, wo die Interpretation idealtypischerweise Erwartbares liefern solle: »Eine Interpretation tut, was sie sagt, während sie gleichzeitig vorgibt, eine von ihr unabhängige Realität bloß auszusagen, zu zeigen oder zu übermitteln. Tatsächlich ist die Interpretation produktiv und in gewisser Weise immer schon performativ«,22 oder auch »perverformativ«.23
»N.Y. Ground Zero«, News & Stories, 07. 07. 2002.
In einer solchen Aufforderung zur Lektüre, so die Behauptung, sind auch Motive der klugeschen Umschriftenverläufe mit endlichem Ausgang wiederzufinden, die uns fragen lassen, wie den Lektüren Zeit zu geben ist, mit deren EreignenLassen wir etwas Eigenes als Eigensinn und Eigenzeit eintragen. Und wie sie im Wiederlesen zeitaktuell gemacht werden, als nicht von gestern und doch diesem in die Vergangenheit verabschiedeten Heute verbunden, wenn sie in der Ge22 Derrida, »Unmögliche Möglichkeit«, S. 23. 23 Vgl. Werner Hamacher,»Lingua missa: The messianism of commodity-language and Derrida’s ›Spectres of Marx‹«, in: Richard Rand (Hg.), Futures. Of Jacques Derrida, Stanford 2001, S. 130–178.
332
Nils Plath
genwart einen Zugriff auf die übrigen Zeit zu bewerkstelligen auffordern. Als ein Erzähler von Geschichte, deren eigentlich fiktive Charakterzu¨ ge seine Geschichten unterstreichen und sich dieser als realer dadurch kritisch einschreiben, sowie als ein multimedialer Autor bedacht auf Konstellationen, an denen die Konstruktionsweisen von Darstellung und Wirklichkeitswirkung hervortreten, gilt Alexander Kluges besondere Wahrnehmung nämlich dem, was ein ›bemerkenswertes Ereignis‹ genannt werden kann. Ob historisches Großereignis oder Begebenheit im Tagesablauf eines Durchschnittsmenschen: beiden widmet sich Kluge von seinen Anfängen als Prosaautor bis hin zu seinen ›Minutenfilmen‹ jüngeren Datums mit entschieden unentschieden geteilter Aufmerksamkeit. Anspruch seiner ›geschichtlichen Gegenwartslektu¨ ren‹, wie man sie nennen kann, ist es, im Partiellen und dem Vereinzelten die Wirkungen fu¨ r das Kluge nie aus seinem Blick geratene Ganze – die Geschichte in Geschichten, deren Totalität sich in Nacherzählungen für die Zukunft als Fiktion erweist – abzulesen und so konstruktiv sichtbar zu machen. Wie lässt sich bei den Nach-, Fort- oder Gegenlesen von Kluges Erzählungen und seinem multitemporalen Bild von erzählter Geschichte – und dies scheint die große Frage, die sich ihm stellt – gleichzeitig vergegenwärtigen, dass Zeit diese durch Ausschneiden, Mitschreiben und Einfügen entstehenden produktiven Lektüren in der (aus Texturen bestehenden) Wirklichkeit bestimmt, die ihrerseits Zeitökonomien unterstehen? Was kann man dabei voraussetzen, was zu wissen meinen und wie etwas in Texten und Bildern sehen, was in diesen im Voraus in die künftige Gegenwart ragt, ohne dass man es im Augenblick ihrer Produktion schon wissen könnte? Was machen die von Kluge im ZEITmagazin erwähnten »Unwirklichkeitsbilder« und von ihm vorgezeigten Geschichtsbilder von einer Zukunft ansichtig, die sie nicht schon zeigen oder gar vorwegnehmen können? Was versprechen sie als möglich, auch gerade wo sie nicht als prognostisch, utopisch oder vorbestimmend zu verstehen sind oder miss-gedeutet werden sollten? Was bedeutet das für das, was sich in Text und Bild als gegenwärtig gefügt, montiert, formuliert findet, als ein Heute? In Alexander Kluges Geschichten selbst kann man das an vielen Stellen herauslesen. »Die Zeiten unserer Lebensläufe besitzen«, erläuterte der Autor der Lebensläufe mit Blick für die Unterschiede zwischen Kinoprojektion und Fernsehbild einmal, »verschiedenartige Qualität. Es gibt Wegwerfzeiten, die zu kurz sind, um irgend etwas Lebendiges darin unterzubringen, zu lang, um es lebendig, wartend auszuhalten. Es gibt rechte Zeitpunkte, die eine Fülle enthalten, die sich erst in der Erinnerung auseinanderzieht. Es gibt zerstückelte Zeit.«24 So legte Alexander Kluge, dort, wo er und andere seinerzeit um eine strategisch-programmatische 24 Alexander Kluge, »Unterscheidungsvermögen, was Zeit betrifft«, in: ders. u. a. (Hg.), Industrialisierung des Bewußtseins, München 1985, S. 102–129, hier S. 103.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
333
Vorlage zur Positionierung angesichts einer Industrialisierung des Bewußtseins bemüht waren, als ein mit jedem Wort und jedem Schnitt zeitbewusster Hersteller von Schriften und Bilderfolgen sein Bekenntnis zur Zeit ab: zur Zeit, das heißt für ihn zu einer sehr bestimmten Haltung zur Zeit, die es zu fassen, zu ergreifen, zu gebrauchen gilt, um so diese Momente des Ergreifens zum richtigen Moment werden zu lassen – wie es der Name seiner Produktionsfirma seit 1963 zum Motto macht. Zu ihrer Existenz benötigen »Zeitkunstwerke« – als die er da Filme und »sämtliche Programme des Fernsehens« bezeichnet, und zu denen auch andere Texte zählen, unter ihnen auch die sogenannten literarischen –, die Aufmerksamkeit von Menschen, so Kluge, »d. h., sie müssen sich deren Zeit verschaffen«. Bei ihnen handelt es sich um Konstrukte, dafür hergestellt, »Zeit von den Stellen wegzuziehen, wo sie zuvor war«.25 Es gäbe in dieser Hinsicht keine eindeutige Bewertung, ob Filme oder Programme etwas Gutes oder etwas Schlechtes sind, auch wenn sie in jedem Fall davon leben, daß sie Zeit enteignen. Sie können das ja in dem Sinn tun, daß sie eine Strömung erzeugen, in der für den Menschen wertlose Zeit sich strukturiert, in Bewegung gerät, für ihn etwas Wertvolles wird. Dies gilt nach guten Programmen, nach guten Filmen vor allem für die Zeit danach. Programme, Filme können so produziert sein, daß sie mehr Zeit zurückgeben, als sie kosten. Den zeitvernichtenden Gegenpol muß ich nicht beschreiben.26
»Enteignete Geschichtszeit« heißt, so führt Kluge weiter aus: ich kann Jahre meines Lebens streichen, ich darf sie nicht für meine eigenen halten, ich verliere sie in Bezug auf meine Identität. Fremdgesteuerte, spannende Zeit war es für mich, anschließend komme ich aus der Gefangenschaft zurück und fange bei Null an. Ich habe etwas verloren, niemand kümmert sich darum, dass ich es wiederbekomme. Ich wünsche niemand Verluste, was seine Geschichtszeit betrifft. Ich verliere Zeit (mein Zug hat Verspätung), das ist nichts Schlimmes. Das gleicht sich aus. Ich verliere die Zeit, die entscheidend sein könnte. Ich hätte, nachdem ich mich verliebt hatte, meinem Impuls folgen müssen, den Zug wechseln, ihr folgen, das hätte mein Leben geändert, das habe ich versäumt. Ich habe 20 Jahre meines Lebens einer Firma gewidmet, jetzt ist diese Firma zusammengebrochen, meine Abteilung war erfolgreich. Diese 20 Jahre kann ich verloren geben. Nächste Station: mein Volk ist zersprengt, ich weiß nicht einmal, wer schuld hat. Weitere Station: ich kann mich in der Zeit nicht orientieren, ich lebe in einer permanenten Aktualität, von der ich nicht sagen kann, was sie mit mir zu tun hat. Ist aber die Perspektive zu dem, was mich hervorgebracht hat, verdeckt, so gerate ich in Verzweiflung. Alles dies sind Perspektiven des Zeitbegriffs.27
25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 104f.
334
Nils Plath
5.
In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, R.: Alexander Kluge, BRD 1974.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
335
Als Perspektivvorgabe bei der Betrachtung der Arbeiten dieses multimedialen Autors par excellence, als der er vielfach angerufen wurde,28 können zwei gefügte Sätze geltend gemacht machen: »Das alles hat den Charakter einer Baustelle. Es ist grundsätzlich imperfekt …«29 Die oft zitierte programmatische Selbstbehauptung zu seiner »radikalen Konstruktionsarbeit« belegt, wie die in seinen Filmen wiederkehrenden Bilder von Baustellen, Kluges Aufmerksamkeit für Konstruktionen im Werden und führt das vor Augen, was die Baustelle als temporäre Lücke in einem Gefüge, in einem umfassenden architektonischen Raum, der – wie die europäische Stadt – ein Zeitgefüge abgibt, metonymisch darstellt: die in Wirklichkeit niemals vollständig gelingende Umsetzung eines Plans, im Aufbau und zugleich im Abbau befindlich, Abbild von Utopien, Pragmatismen, Befehlshierarchien und Ökonomien. Eine Produktivstätte auf Zeit: ein Dazwischen, zwischen vorausgehender Planung und späterer Realität eine nur momentane Wirklichkeit im Intervall. Die Baustelle kann – ein Ground Zero, aus dem Neues entsteht, wo Gewesenes metonymisch stand – als eine Art temporärer Null-Stellung betrachtet werden, bei aller Bewegung und allem Ausdruck von Fortschritt, der sich in Form von Bauten erheben soll: als eine Stätte, an der etwas noch nicht zugebaut worden ist – ein geschichtlicher Horizont beispielsweise.30 Sie ist ein Ort in progress, an dem sich das städtische Geflecht, jenes soziale Gemeinwesen, noch nicht weiter und schlussendlich verdichtet hat.31 Auch ist die Baustelle im Konkreten das Gegenbild zu den Bildern, die Utopisches wie Gemeinschaft verheißen und strukturbildend Wirkung haben sollen. Produktionsstätte von mehreren asynchronen Gleichzeitigkeiten ist die Baustelle ein Ort auf Zeit, an der immer wieder etwas dazwischen kommt. Anders aber, als dies der Krieg geschehen lässt. Ein Ort im Raum ist die Baustelle
28 Vgl. Georg Stanitzek, Essay – BRD, Berlin 2010, S. 28–313. 29 Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: ders., Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 215–222, hier S. 220. 30 »Die Null-Stellung setzt das Realitätsprinzip der Geschichte einen Moment außer Kraft. Vergleicht man das zerstörte Berlin, Dresden, Hamburg, Frankfurt, Mainz, München, Darmstadt, Wuppertal, Ruhrgebiet usf. mit dem, was dann als Horizont wieder zugebaut worden ist, so hat man die Differenz zwischen geschichtlichem Realitätsdruck, der auf die Wahrnehmung drückt, und einem momentanen offenen Verhältnis zur Geschichte. Es ist 1945 keine Zeit, die unerwartete Lücke in dem Drucksystem, das auf der Erfahrung liegt, zu nutzen; Lebensläufe wenden sich, die kollektiven Bewegungen fallen zu den alten Figuren zusammen. Ohne dieses ›an sich‹ und nicht ›für uns‹ geöffnete Fenster dieses Null-Punktes ist aber deutsche Geschichte nicht zu erfahren.« (Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 379). 31 Vgl. Kai Vöckler, Die Architektur der Abwesenheit, oder Die Kunst eine Ruine zu bauen, Berlin 2009.
336
Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 1089.
Nils Plath
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
337
Alexander Kluge, »Schlachtbeschreibung«, in: ders., Chronik der Gefühle I, Frankfurt/M. 2000, S. 529.
auch, der den Stadt genannten Zusammenhang von Zeit und Ökonomie, als eine Formierung von Gemeinschaft und Geschichte, als Lückentext lesbar macht. Der Lückenleser Alexander Kluge – »Man muss die Lücken mitlesen«, lautet die Leseanweisung im Nachwort von Geschichte und Eigensinn – sucht nach diesen Zwischenstellen in der Wirklichkeit, um auf einen Realismus zu beharren, der andere Ausgänge, das heißt Anschlüsse und also Fortsetzungen möglich erscheinen lässt. Ihm muss die Baustelle als produktive Lücke in einander asynchronen Zeitgefügen und Raumordnungen erscheinen. Als eine solche zeigt er sie.
338
Nils Plath
Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. 2003, Schuber.
6. Krieg ist Ansichtssache. Besteht er in dem auf Dauer unmöglichen Versuch, einen Standort zu gewinnen und zu behaupten, der totale Übersicht verheißt, um so Herrschaftswissen über das Ganze auszuüben und über die Schlachtereignisse und ihre Umstände, aus denen man den zukünftigen Lauf der Dinge
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
339
ablesen möchte, aus der Totalen zu befinden. So weiß es ein unter der Überschrift »Die Illusion der Führung« stehender Eintrag in Kluge und Negts Geschichte und Eigensinn: In der Wahrnehmung von Kriegen entsteht kollektiv eine Ablenkung zugunsten der Perspektive von einem stark überhöhten Standort, dem des sog. Feldherrn. Die Ablenkung bezieht ihre Energie daraus, daß der Einzelne oder eine unmittelbar in einen kriegerischen Schritt verwickelte Gruppe niemals das Ganze des Krieges wahrnimmt, aber dennoch ein Bedürfnis nach Orientierung in die Produktion eines ganz willkürlichen Gesamtüberblicks eingeht.32
In seiner Nachschrift zum Ereignis Stalingrad – seinem 1964 erstmals erschienenen, in mehrfachen Neubearbeitungen vorliegenden Buch Schlachtbeschreibung – bedient Alexander Kluge sich bewusst eines dazu gegensätzlichen Schreibverfahrens; seine, wie sie genannt wurde, »Auswege suchende Strategie von unten« bedürfe »weder eines regressiven noch eines progressiven archimedischen Fixpunktes«.33 Selbst »ein einzelnes geschichtliches Ereignis wie Stalingrad« lässt sich, wie Schlachtbeschreibung gezeigt habe, heißt es an anderer Stelle, »nur durch eine Proliferation von Perspektiven beschreiben«:34 durch literarische Montage und multimediale Konstruktionsarbeit als einer prozessuralen Erfassung asynchroner Zeiten in den verschiedenen Texten und Bildern, die als Verfahren mit dem Material die Zeit beim Lesen abbildet – und diese beim Lesen fordert.35 Durch die Verarbeitung des Materials – Richtlinien für den Winterkrieg und aus historischen Quellen entnommene Tagesbefehle, Beschreibungen von Gefechtsverläufen, wie subjektiv anmutende Schilderungen, ergänzt dann später durch die in Kluges Textbildlesebüchern wie Die Patriotin 32 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 816. 33 Harro Müller, »›In solche Not kann nicht die Natur bringen‹. Stichworte zu Alexander Kluges ›Schlachtbeschreibung‹«, in: Merkur, 9/1982, S. 889–897, hier S. 894. 34 Anton Kaes, »Über den nomadischen Umgang mit Geschichte«, in: Heinz Ludwig Arnold, (Hg.), Text + Kritik 85/86: Alexander Kluge, München 1985, S. 132–144, hier S. 136. 35 Rolf G. Renner, »Hirn und Herz. Stalingrad als Gegenstand ideologischer Diskurse«, in: Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis – Wirkung – Symbol, München/Zürich 1992, S. 472–492, hier S. 473. In einer frühen Rezension wird Kluges Buch ganz zeitgemäß als ein Kontrastmittel vorgestellt, als eine »lediglich mit Vorlagen« und ohne Autorstimme erwirtschaftete Erzählung, die doch »genauso leer läuft wie das landesübliche StalingradPathos, das Kluge im gleichen Arbeitsgang untergräbt. Emotion nämlich kann in die dichten Reihen seiner Belegstücke nirgends eindringen.« Dem Autor, als so gefühllos im Umgang mit dem Material beschrieben, wird doch zugestanden, ein »Stalingrad-Weißbuch«, geschaffen zu haben, »arrangiert als Puzzle, scharf rhythmisiert und dissonant geschnitten«, und er selbst wird gegenüber anderen Schreibpositionen verortet: »Zerschlagen wird da die Kontemplation schulmäßiger Geschichtsschreibung, der ein Schreibtisch oft nachträglich als Feldherrnhügel dient, die gern eine behäbige Übersicht, ein wohlhabendes Verständnis über aller weltgeschichtlichen Verheerung behauptet.« (Reinhard Baumgart, »Stalingrad. Logistisches Unglück«, in: Der Spiegel, Nr. 21/1964, S. 93).
340
Nils Plath
und Die Macht der Gefühle wiederzufindenden diversen Zeit- und Geschichtsreflexionen in Text-Bild-Montagen36 – wird keine Chronologie der Schlacht um Stalingrad vorgelegt, ihr Ablauf nicht als ein historischer beschrieben: sondern – wie eine Rezension sagt: als ein »Sprachereignis«.37 Im Verlauf des Buches – erst in der Fassung von 1978ff. – findet man eine Szene geschildert, die Auseinandersetzung über Deutungsweisen von Geschichte, die als eine Leseanweisung des Ereignisses Stalingrad – und im Kontext von Kluges Schriften: zu Deutschland in Ereignissen – zu verstehen ist. Weit hinten, in einem Kapitel, das »Der Bau von Begriffshütten« überschrieben ist: geschildert wird da ein akademischer Disput über die Perspektive auf Stalingrad als Geschichtsereignis.38 Es geht um die – für die Repräsentationsweisen von Staatssouveränität kaum akademisch zu nennende – Frage, wie Geschehnisse der Ereignisgeschichte über den Kontext ihres Geschehens hinaus gedeutet werden: So können Sie Stalingrad aber nicht ableiten, sagt Voßkamp. Es genügt nicht, Fehlhaltungen aufzuzählen und diese 150 Jahre nach rückwärts auf Valmy oder das 19. Jahrhundert zurückzuführen. Er sah auf den Nieselregen draußen, der die weiten Pausen zwischen den Hochhaustürmen der Hochschulstadt beschüttete. Sie können das nicht als preußische Altgeschichte rekonstruieren, sondern müssen sich die Mühe machen, die Jahre von 1918 bis 1933 und dann die Herrschaft des Nationalsozialismus gründlich zu analysieren. Ich empfehle dazu besonders das Buch von Franz Neumann: ›Behemot‹ das englischsprachig vorliegt. Fred Pratschke aber wollte da nicht heran. Er wollte ja vorstoßen über die Barriere jener sog. ›Jahre‹ hinweg, die wegen ihrer ›Wichtigkeit‹ die vorangegangenen Ursachenketten abschnitten.39 36 Vgl. Ludgera Vogt, »Die montierte Realität: Text und Bild in Alexander Kluges Schlachtbeschreibung«, in: Kulturrevolution, Nr. 23, Juni 1990, S. 80–83. 37 Renner, »Hirn und Herz«, S. 487. 38 Geführt wird das Gespräch zwischen einem Voßkamp und einem Fred Pratschke. Der erste ist möglicherweise jenem Germanisten Wilhelm Voßkamp nachgebildet, Herausgeber einschlägiger Bände zur Utopieforschung, zur Zeit der Arbeit an der Zweitfassung von Schlachtbeschreibung Professor an der Universität Bielefeld und Autor von Deutsche Zeitgeschichte in der Gegenwartsliteratur (Sankelmark 1968), von Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein (Bonn 1967) und verschiedener Aufsätze zu Alexander Kluge (»Literatur als Geschichte? Überlegungen zu dokumentarischen Prosatexten von Alexander Kluge, Klaus Stiller und Dieter Kühn«, in: Basis – Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur, Bd. IV, Frankfurt/M. 1973, S. 235–250; Eintrag »Alexander Kluge«, in: Dietrich Weber (Hg.), Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1977, S. 297–317; »Auf der Suche nach Identität: Alexander Kluges Patriotin und die Interpretation der deutschen Geschichte um 1800«, in: Paul Michael Lützeler (Hg.), Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1987, S. 266–277). Der Name Fred Pratschke mag eine Anspielung auf den »Altmeister der Zuschuß-Verlegerei« sein; siehe: Hannes Schwenger, »Seid mit Worten nicht bescheiden«, in: Die Welt, 31. 01. 1999, http://www.welt.de/print-welt/article565450/Seidmit-Worten-nicht-bescheiden.html (Stand: 04. 07. 2016). 39 Kluge, Schlachtbeschreibung, S. 736.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
341
Mit der Erwähnung der Kanonade von Valmy – jener Schlacht im September 1792 zwischen preußischer Armee und französischer Revolutionsarmee, zu deren Mythos Goethes Ausspruch »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen« gehört,40 und jenem im amerikanischen Exil von 1941–44 verfassten staatstheoretischen Werk, das als die erste Strukturanalyse des Dritten Reiches gilt, verknüpfen sich Ereignisse in Texten als Markierungen von Auseinandersetzungen über den Umgang mit zeitlichen Zäsuren, ausschnitthaften Deutungen von Geschichtsläuften und Kontinuitäten: zu Lektüren.
7. »Wir leben für den Tag«, und doch ist es nicht so, dass »wir nur im Gegenwärtigen und Augenblicklichen leben könnten«, wird uns gesagt. Denn: »Unsere tieferen Gewohnheiten, unsere Gesetze, unsere Sprache, unser Fühlen und Trachten sind entstanden in einer Zeit und ausgerichtet auf eine Zeit, die noch längere Dauern zuließ, die auf eine unvordenkliche Vergangenheit gegründet war und in eine generationenweite Zukunft blickte.«41 Es ist nicht Alexander Kluge, der dies schreibt. Die Sätze stammen aus dem Jahr 1933, von Paul Val8ry. Seinem Aufsatz »Unser Schicksal und die Literatur« entnimmt Kluge jenes Motto, das er Schlachtbeschreibung in allen Fassungen voranstellt, es dort – nämlich nicht wörtlich – bereits als ein geflügeltes Wort zitiert: »Auch die Zukunft ist leider nicht mehr das, was sie einmal war.«42 Im Original schreibt Val8ry an dieser Stelle, wo er zur Zukunft skizziert, was er an vielen Stellen in Aufsätzen wie in »Das Unvorhersehbare« und »Vor der Zukunft …« weiter ausführte: Die Zukunft ist wie alles andere: sie ist nicht mehr, was sie war. Ich meine damit, daß wir an sie gar nicht mehr mit eigenem Vertrauen auf unsere Schlussfolgerungen denken können. Wir haben unsere altüberlieferten Möglichkeiten, an sie zu denken und sie vorauszusehen, verloren: das ist das Dramatische an unserem Zustand.43
Als Motto zitiert Kluge Val8rys Worte, zusätzlich mit einer Tendenz – »leider« – versehen, was der Lektüre dieser Rekonstruktion des Geschichtsereignisses vorab seine Richtung anweist: das Lesen von Schlachtbeschreibung als für die Zukunft bestimmt, über die sich seit Val8rys von Kluge aktuell gehaltenen 40 Vgl. Arno Borst, »Valmy 1972 – ein historisches Ereignis?«, in: Der Deutschunterricht, Jg. 26, Heft 6, Dezember 1974, S. 88–104. 41 Valery, »Unser Schicksal und die Literatur«, S. 278. 42 Kluge, Schlachtbeschreibung, S. 510. 43 Valery, »Unser Schicksal und die Literatur«, S. 277f.
342
Nils Plath
Worten Vorhersehbares nicht (mehr) sagen lässt. Vielleicht aber soll das Motto auch gar nicht resignativ wirken und sagt stattdessen: dass es immer an der Zeit und Aufgabe ist, sich ein ›eigenes Vertrauen auf unsere Schlussfolgerungen‹ wieder zu erarbeiten, die uns Zukunft denken lassen können. Wie es eben der Erzähler Kluge mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht: Bild und Ton und geschriebenes Wort, dem Telefon und den juristischen Schriftsätzen als einstiger Assessor und ›Quotenkiller‹. Das zur Signatur der Zeit – einer bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, in der Kluge seinen Roman erstmals schrieb – gemachte Zitat kann auch – als ein von Fassung zu veränderter Fassung des Romans unveränderter Vorsatz auf eine Weise kontinuitätsstiftend – als eine Widmung gelesen werden: als eine Widmung an Theodor W. Adorno. Adorno, den Kluge zu seinen Gewährsmännern zählt und neben Walter Benjamin, Ernst Bloch und Karl Marx einen seiner Oberrabbis nennt,44 zitiert Val8ry prominent in »Val8rys Abweichungen«. Der Aufsatz wurde 1960 veröffentlicht, zu einer Zeit, als Kluge für das Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig war, und führt eine sich zu der der Schlachtbeschreibung vorangestellten Signatur komplementär verhaltende Stelle aus Val8rys »Variationen über die bebilderte Keramik« an: »Die Vergangenheit ist ganz und gar nicht, was man dafür hält. Die Vergangenheit ist nicht, was einmal war ; sie ist nur, was von dem, was einmal war, übrigbleibt. Das sind Spuren und Erinnerungen. Sonst ist einfach nichts vorhanden.«45
44 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M.1984, S. 178: »Meine Ober-Rabbis Walter Benjamin, Adorno, Bloch, Marx sprechen […] wiederholt von einem Hunger der Gefühle.« 45 Theodor W. Adorno, »Val8rys Abweichungen«, in: ders., Gesammelte Schriften 11: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997, S. 158–202, hier S. 167. Adorno zitiert die angeführte Stelle nach: Paul Val8ry, Über Kunst. Essay, Frankfurt/M. 1959, S. 163. In seinem Essay reflektiert Val8ry über die Dinge, die im Museum ihren Platz finden, um eine Ansicht zur Geschichtswahrnehmung einer immer nur gegenwärtigen Gegenwart zu formulieren, die die Durchmusterung von Spuren provoziert: »Man betrachte all diese Dinge in dem Museum mit rechten Augen und bedenke dann die erstaunliche Mengen gleichartiger Dinge, die notwendig in Gebrauch gewesen sind … an die Millionen Teller, die während des hier vergegenwärtigten Zeitabschnitts hergestellt und in Gebrauch genommen werden mußten … man denke an die Tonnen Scherben, an die Trümmerberge, die zu dem, was übriggeblieben ist, hinzuzurechnen sind; man denke an die Sterblichkeitsquote all dessen, was zerbrechlich ist; an die wahrscheinliche Lebensdauer einer Untertasse oder einer Gemüseschale … Nichts gleicht dem bis zum heutigen Tage angehäuften Kapital unser Kenntnisse, unserem Haben im Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand. Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem anderen überläßt, wie es der Zufall will, und in vollem Durcheinander. […] Wenn wir sagen: ›Zeitalter der Revolution‹ oder auch ›Stil Louis XV‹, geben wir in Wirklichkeit nur einer dieser Zusammenstellungen einen Namen – mit all der Willkür, die dazu gehört … Wieviele Lücken!« (S. 162f.).
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
343
8. Ausgesprochen »lektüresteuernde Funktion« (Gerard Genette) hat auch ein anderer Eintrag im Paratext der Schlachtbeschreibung von 1978: Dies Buch hier über Stalingrad muß der Leser gegen den Strich lesen, in einem ganz unpraktischen, inaktuellen, von der BRD-Gegenwart abgewendeten, zähen Interesse, so antirealistisch wie die Wünsche und die Gewißheit, daß Realitäten, die Stalingrad hervorbringen, böse Fiktionen sind. Daß ich auf Stalingrad beharre, hat den Protestgrund, daß Erinnerungslosigkeit irreal ist.46
Diese Leseanweisung, wohl noch unter dem Eindruck der Ereignisse des Deutschen Herbstes 1977 dort vorangestellt und sicher auch dem das eigene Gewaltmonopol ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzenden Staatswesen ins Buch geschrieben, fehlt in der Erstausgabe von 1964.47 In der Ausgabe von 2000, die sich in Chronik der Gefühle findet, liest man dann: Den folgenden Text muß der Leser gegen den Strich lesen, in einem ganz unpraktischen, inaktuellen, von der Gegenwart der Berliner Republik abgewendeten zähen Interesse, so antirealistisch wie die Wünsche und Gewißheit, daß Realitäten, die Stalingrad hervorbringen, böse Fiktionen sind. Daß ich auf Stalingrad beharre, hat den Protestgrund, daß Erinnerungslosigkeit irreal ist.48
An anderer Stelle im Roman platziert, und leicht verändert, damit deutlich revidiert, macht die aktualisierte Forderung einen Kontextwechsel deutlich: Nicht nur ist aus der BRD-Gegenwart von 1979 bzw. 1983 im Heute des Jahres 2000 die »Gegenwart der Berliner Republik« geworden, auch steht nun unter anderen – den Worten »zähen« und »antirealistisch« – ein Wort in Majuskeln da, in Kapitalbuchstaben geschrieben, als ob darin die Herausforderung besteht, das ›inaktuelle‹, die Inaktualität des Lesens in der Gegenwart so vergrößert sehen zu lassen, als handele es sich um eine große Herausforderung, wenn man es da in der revidierten Datierung so groß liest.
9. Soviel, und viel mehr hier Ausgelassenes noch, kann die zitiert geforderte »kritische Aufmerksamkeit für alle Modalitäten der Ereignisübermittlung« diesem analytischen Erzähler Kluge als Überzeugung abnehmen, wenn sie Le46 Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Frankfurt/M. 1983, S. 7; diese Ausgabe folgt der 1978 erschienenen revidierten und erweiterten Fassung der Erstausgabe von 1964. 47 Vgl. Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Olten/Freiburg i. Br. 1964. 48 Alexander Kluge, »Schlachtbeschreibung«, in: ders., Chronik der Gefühle I, Frankfurt/M. 2000, S. 511.
344
Nils Plath
seanweisungen nachspürt, die ein jeweils anderes historisches heute in seinen Roman einschreiben. Und dabei der weiterhin aktuellen Frage nach der Herstellung von Aktualität, die ihr erforderliche Aufmerksamkeit verschafft. Der Aktualität des Heute, die sich im Nachlesen der Nachlesen herstellt, dabei Ereignissen auf der Spur, die sich vielleicht viel später in »Unzeitlichkeitsbildern« zeigen. Zeit für so viele Lektüren bleibt nie: weil diese – die Ereignisse als immer bereits schon nachträgliche – nie gleichzeitig nacherzählt zu fassen sind und weil jene – die Zeit – nie stehen bleibt. Umso dringlicher die Notwendigkeit der NachNachlese gegenüber den Zeichengeweben der Machtausübungen, in welchen Medien von Papier bis Stein, Leuchtstoffen oder Flüssigkristallen sie auch immer mit der Zeit abgebildet werden: da sie Herrschaft als Behauptungen über die Zeit des Handelns (wie des Lesens) ausüben. Herstellung von Machtverhältnissen zeigt sich zuvorderst in der behaupteten Herrschaft über die Zeit im Heute als Anforderung, immer aktuell zu sein, und fordert die Gegenbetrachtung: weil sie die eigene Zeit des Handelnden betreffen, einen ungesicherten Besitz, der allein dem Einzelnen vom eigenen Selbst und dem Souverän als Instanz als solche zu sprechen erlaubt. Was bedeutet dann, so ist folgerichtig daran anschließend und mit Blick auf Kluges Leseanweisung in Schlachtbeschreibung zu fragen, Inaktualität in der Gegenwart, in die man ein Ereignis holt? Was heißt ganz inaktuell die Darstellung des Ereignisses zu lesen, das diese datumslose Niederlage der 6. Armee der deutschen Wehrmacht für eine Nation darstellte, die – wie Val8ry unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs schrieb – »die lückenlose Vernunft zur Methodik gemacht hat«.49 Diese bewusste Abkehr von der Fixiertheit auf Aktualität, wie sie sich in der Behauptung des ZEITmagazin-Interviewers mit den Worten »Wir reden über die Gegenwart …« beteuert, ergibt eine für den einmal für alle Mal in den Roman eingeschrieben gemeinten Sinn auf Dauer anstößige Stelle: wenn da in der Gebrauchsanweisung des Romans auch die aus Kluges Begriffsfundus vertrauten Begriffe wie Beharrungsvermögen, Protest, Antirealismus und Erinnerung auf die zur stehenden Redewendung gewordene Aufforderung aus Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte treffen, nach der die Aufgabe heißt: »Geschichte gegen den Strich zu bürsten«. Mit diesem weiteren seiner Oberrabbis teilt Kluge die Ansicht, Geschichte werde permanent umgeschrieben – und zwar, wie bekanntlich viel kommentiert und antihegemonialen Diskursen zum beliebigen Gemeinplatz geworden: von den Siegern, die die Aktualität als ihr Eigentum betrachten. Somit versteht sich die Betonung des Inaktuellen in der Lesevorgabe als eine wie paradox und dabei aporetisch formulierte Aufforderung zum ›Widerstand und so weiter‹ gegen sich in der Gegenwart als herrschend bezeichnende, im Akademischen von turn zu turn reichenden Aktualitäts-Interpretationen, um diesen sich siegreich mei49 Paul Val8ry, »Eine methodische Eroberung«, in: ders., Werke 7, S. 7–25, hier S. 13.
Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11
345
nenden Umschreibern von Geschichtsereignissen die Deutungshoheit über die Geschichte, auf die sie sich berufen, immer wieder zu entziehen. Auch ein im Sinne Benjamins praktizierter Einspruch gegen das Weiter-So, das die Katastrophe bedeutet. Durch die Forderung, die eigene Gegenwart bei jeder Lektüre mit zu betrachten oder unter Beobachtung zu setzen, wird Kluges in der Zeit fortgeschriebenem Buch mit jedem Lesen zudem ein immer neues Datum gegeben, stellt es in den Kontext der jeweiligen politischen Realität, überschreibt auch sein eigenes Verfallsdatum als Literatur, die sich als so einfach datiert lesen ließe, durch die reproduzierte, im Effekt unvorhersehbare, stets erst noch künftige Reaktualisierung, auf die andere zurückblicken werden. Dies macht, und das ist ein Vermächtnis und Zukunftsversprechen dieser Literatur, das Heute im Lesen aktuell immer schon inaktuell. Komme, was wolle.
Alexander Kluge
»Armer Hirnhund, schwer von Gott behangen«. 5 Geschichten
Als Offizier und Arzt Gottfried Benn bewegte sich äußerlich wie ein Offizier. Er verbeugte sich beim Hereinkommen und beim Hinausgehen, außerdem wenn ihm eine Äußerung gefiel oder wenn er widersprach. Wenn er las, verbeugte er sich mit Brust, Hals, Kopf und Oberkörper. Alles eine Frage der Haltung. Das Hirn verlangt Selbstbehauptung. Sie ist aber im Rahmen des Befehls – und die umgebende Realität, das Fatum, die eigene Ohnmacht setzen Grenzen – schwer zu garantieren. Wohin fliehen, wenn kein Gott hilft? Das fordert den Exodus. Auswanderung in die Kunst, in den FANATISMUS DES AUSDRUCKS. »Armer Hirnhund, schwer von Gott behangen«
Der Hirnverbrannte Ein Steckschuß in seinem Kopf. Das Stück Metall war nicht herauszuoperieren. Es konnte mit der Zeit wandern und in eines der Areale des Hirns einwandern, die zum Überleben notwendig sind. Genausogut konnte es aber wie ein vergrabener Schatz in dem Narbengewebe verharren, das sich um den Fremdkörper gebildet hatte. In einer Welt, in welcher der Krieg aus beliebig anderen Gründen den jungen Offizier genauso umbringen konnte, empfand der Mann es nicht als besondere Gefahr. Er sollte Magnetfelder vermeiden, hieß es. In seinem Gemüt war, vermutlich nicht ursächlich verbunden mit dem Steckschuß, noch etwas anderes weggeschossen worden: die Hemmschwelle. Im Heimatstandort, in dem er als Stabsoffizier eingesetzt war und die Nächte durchtanzte, galt er als Womanizer. Nach einer Weile hatte dieser junge Mann aus gutem Hause eine verheiratete Frau geschwängert. Eine andere Liebesaffäre endete damit, daß seine Geliebte sich umbrachte. Einer dritten, einem jungen
348
Alexander Kluge
Mädchen, machte er Heiratsanträge. Sein Vater beharrte darauf, daß er die Schwangere heiraten solle, die von ihrem Mann seinetwegen verstoßen worden war. Über den Befehl des Vaters setzte sich der junge Offizier hinweg und nahm eine Liaison in der Nachbarschaft auf, also auf neuem Boden, für eine Reinschrift seines Lebens. In ihm eine eminente Spannkraft, die sich verdichtete, wenn Bombenangriffe die gesamte Region überziehen und er sich mit der Erwartung auseinandersetzen mußte, trotz des ungeklärten Zustands seines Kopfes demnächst zur Front versetzt zu werden. Das Chaos im Selbstgefühl, das der Kopfschuß ausgelöst hatte, wirkte mit allen anderen Faktoren zusammen, bei ihm alle Voraussicht obsolet zu machen. Diese Gemütslage sei nicht erst jetzt in dem jungen Offizier entstanden, meinte der Hausarzt der Familie, ein Freund. Die explosive Ausbreitung eines Ichs nach allen Seiten sei als Möglichkeit in fast jedem Menschen vorhanden, nämlich die SELBSTBEHAUPTUNG. Sie sei nur normalerweise gehemmt und tritt hervor, »wenn ein Hirn abbrennt«. Es sei bei Freddi, so hieß der amouröse Offizier, erst der Kopf durchschossen worden und dann das Hirn ausgebrannt. Das Hirn? Nein, das Gemüt.
In einer wilden Art von Treue zu sich selbst Die Jungoffiziere, die 1944 in der Garnison Dessau auftraten, waren sämtlich körperlich lädiert. Andernfalls wären sie längst an der Ostfront im Einsatz gewesen. Im Kasino des 5. Panzerregiments jeden Mittwoch und Samstag: 5-UhrTee. Meine Cousine Jutta, Jahrgang 1925, die inzwischen in England ihre gut intakten Glieder und ihre lebhafte erzählerische Zunge verwaltet, damals 19 Jahre alt, galt nicht als unberührbar, aber als Tochter eines Generals auch nicht als leichte Beute für die Selbstbestätigung von Offizieren. Sie verliebte sich in einen 23-jährigen Oberleutnant. Bei Orel hatte er einen Schuß in den Hinterkopf erhalten. Man merkte dem flotten Tänzer (einen ganzen Tag im Gelände hatte er, braungebrannt im Gesicht, Panzerfahrer ausgebildet) nichts an. Es war jedoch, das ärztliche Attest wies es aus, ein großes Stück des Hinterhauptlappens entfernt worden. Andere Teile des Hirns waren eingesprungen, hatten übernommen, kooperativ, ein anderer Verlauf der Verwundung, als es die Lehrbücher voraussagten. Es hieß aber – seine blitzenden Augen hatten es Jutta angetan –, er werde sein Augenlicht in naher Zukunft einbüßen. Das Hirn blieb Provisorium. Gustav Fehn, Schwager meiner Mutter – die Tochter Jutta war sein Herzblatt. Wie kann ein Befehlshaber in Albanien, der vor Ort allmächtig ist, in der fernen Garnison des Heimatlandes das Glück der Tochter verteidigen? Lebhafter Briefwechsel. Auch schrieb Gustav Fehn an den Regimentsadjutanten, der zur Gruppe derjenigen gehörte, die wegen ihres Alters nicht zur Front geschickt wurden. Er solle ein Auge auf die
»Armer Hirnhund, schwer von Gott behangen«
349
Liaison halten. Was konnte er schon ausrichten gegen einfallsreiche Junge, die das BEGEHREN zueinander trieb? Kein Gedanke an Vorteil. RATIO hätte geraten, eine ärztliche Auskunft einzuholen, was vom Zustand des jungen Geliebten zu halten sei, die Entwicklung in dessen Kopf abzuwarten. »Ach, was soll ich denken? Soll ich mich vielleicht Auf die Suche nach Gründen machen?«
Jede Nacht konnte Jutta schwanger werden. Deren Mutter, Resi Fehn, die sich schon als Witwe ihres Generals oder als Geschiedene aufführte, seit fünf Jahren praktisch verlassen, führte keine Aufsicht. Im Krieg ist eine 19-Jährige so gut wie mündig. Jutta hatte aus zuverlässiger Quelle im Lazarett Wittenberg erfahren, daß sich ein Defizit im Volumen des väterlichen Gehirns, vor allem im Hinterkopf, auf das genetische Erbe eines Kindes nicht auswirkt. Auch war die rassenamtliche Bescheinigung, die für eine Heirat erforderlich war, ohne Rücksicht darauf zu erhalten, wie verstümmelt ein Mann war. Oft strich sie ihrem Liebsten über den Kopf. Gedankenvoll. Hingabe aber rechnet nicht. Oft hockten die beiden, noch warm vom Bett, im Keller mit den Nachbarn, wenn die feindlichen Geschwader über der Stadt ihre Kreise zogen, um sich entweder auf diese Kellerinsassen oder auf die (aus solcher Höhe betrachtet) nahe Reichshauptstadt zu stürzen. Sie war bereit, das Schicksal mit dem jungen Mann endgültig als ihr eigenes anzunehmen. Er, der Besitzlose (Eltern tot, kein Generalskind), der Beschädigte, hielt sich zurück. Glaubte er, er werde eine bessere finden? Die Tage gingen dahin. Irgendwann, jetzt wurde auch dieser Ungeeignete ausgekämmt und der Front zugeführt, war der Oberleutnant im Osten verschwunden. Wenn Jutta heute auf einer Brücke steht, die über einen Fluß in Südengland führt, denkt sie am Geländer, hinunterblickend, an die Schlußszene aus Titanic, in der die Hauptdarstellerin um DiCaprio trauert. Jutta blickt auf die dunklen Wirbel, die entfernt an das Heckwasser eines Dampfers erinnern und sie denkt an den Jungen, von dem 1944 keine Nachricht mehr kam.
Nervenstärke als politisches Element Der letzte Zeitpunkt, zu dem vor Anbruch des EIGENTLICHEN KALTEN KRIEGS natürliche Raublust, empörtes Gefühl von Herrschenden, »Kanonenboot-Politik«, Biß der Imperien noch stattfand, war der Suez-Krieg von 1956. Der britische Premierminister : feinnervig, zur Müdigkeit geneigt. Immer be-
350
Alexander Kluge
fand er sich im Schatten des reißerischen Churchills. In diesen Wochen überraschte ihn die Krise. Sein Koalitionspartner Guy Mollet, ein ihm unangenehmer Sozialist aus Frankreich. Unerträglich die Entscheider und Kontaktleute zum Staate Israel, Personen, die noch vor wenigen Jahren die britische Besatzungsmacht mit tödlichen Angriffen überzogen hatten. Noch 1944 konnte sich die Regierung Ihrer Majestät Verbündete aussuchen, jetzt nicht mehr. Der ägyptische Präsident hatte die Hand auf den Suezkanal gelegt, Lotsen und Administration der Suezkanal-Gesellschaft waren in Abreise begriffen.1 Dem britischen Premierminister war alles zu viel. Die Befehle ergingen, weil sie vorbereitet waren. Vor Alexandria kreuzte eine britisch-französische Flotte. Ein Bild aus dem Jahr 1942 mit modernen Schiffen. Zwei Tage darauf Landung in Suez. Französische Legionäre, britische Fallschirmjäger drangen zu Seiten des Kanals vor. Die Ägypter haben alle ihnen erreichbaren Schiffe in der Rinne des Kanals zur Versenkung gebracht. Auf lange Zeit wird der Kanal gesperrt sein. Kontakt mit den vorstoßenden israelischen Panzern an der Grenze zur Kanalzone. Ich unterstützte den Premierminister, soweit er das zuließ. Sollte er sich in einer Maschine der RAF in die Kampfzone begeben? War es wichtiger, für die Telefonate in Downing Street erreichbar zu sein? Es war schädlich, behauptete ich, daß er überhaupt erreichbar war. Das Chaos funktionierte nur ohne einen Herrn. Es kam darauf an, den Nervenkrieg, auf den sich die Russen besonders gut verstanden, der den Außenminister der USA zu scharfen Interventionen gegenüber Frankreich, Israel und Großbritannien veranlaßte, dadurch auszuhalten, daß Zuständige und Verantwortliche des Suezkanal-Feldzuges nicht festzustellen oder nicht zu erreichen wären. Am besten, daß alle Teile des kriegerischen Geschehens von der Befehlskette abgekoppelt, wie eine Meute wilder Hunde auf den Feind losgelassen wären. Leider war das Nervenkostüm meines Herrn, des britischen Premierministers, der soliden Gleichgültigkeit, die der ägyptische Präsident gegenüber Verlusten seiner Leute und seines Landes empfand, unterlegen. Ich beschrieb den Stundenverlauf bis zum Rücktritt des Premierministers, d. h. auch den Rückzug unserer sieggewohnten Truppen vom Gelände des Suezkanals, auf einer Konferenz in Stanford. Es war mir wichtig, die Brücke zu schlagen zwischen den jüngsten Kriegsprojekten, vorgeschlagen von neokonservativen Stiftungen und dem Szenario des Feldzuges von Suez. Kein Zweifel, daß die örtlichen Befehlshaber den Nerv besaßen, durchzuhalten. Ausge1 Die Suezkanal-Gesellschaft gehörte längere Zeit, gerade weil sie ihr ursprüngliches Objekt verlor, zu den reichsten Gesellschaften der Welt. Es ist nämlich kein Schaden für das Kapital, wenn es sich völlig frei, ohne Rücksicht auf ein Objekt, bewegen kann.
»Armer Hirnhund, schwer von Gott behangen«
351
schlossen, daß die Sowjetunion die atomare Drohung, mit der sie prahlte, in die Tat umgesetzt hätte. Ein atomarer Krater, der Ägypter, Briten und Franzosen gleichzeitig trifft – was hätte ein solcher öffentlicher Eindruck im Sicherheitsrat bewirkt? Nichts anderes als Vermittlungsgespräche, das Verbot eines weiteren Schlages. Die USA hätten sich dem Erfordernis nicht entziehen können, selbst mit einer Drohung und eventuell einem Schlag zu intervenieren. Da dies aber für die Sowjetunion im Voraus zu berechnen war, wäre die Drohung nie exekutiert worden. Die erneute Etablierung der Suezkanal-Gesellschaft mit Waffengewalt (obwohl der Weg nach Indien für uns keine Bedeutung mehr hatte) und eine anschließende Entschädigung dieser Kapitalgesellschaft unter geordneter Räumung des Kanals hätte die Lage in Nahost entscheidend verändert. Welchen der Konfliktherde hätten wir heute in Nahost, wäre mit einer Nervenstärke, die mein Premierminister nicht besaß, 1956 ein Zeichen gesetzt worden? Mein Premierminister war nicht sentimental (das hat er im Kampf gegen Hitler mehrfach gezeigt). Aber er brauchte ein Nachmittagsschläfchen, hatte schwache Nerven, war nur gut, wenn er Clubmitglieder um sich hatte und der starke Wille Churchills ihm im Nacken saß. Der Mann war der Meinung, daß ein gewisses Maß an »Raublust« unabdingbar für zukunftsweisende Politik ist, besaß aber nicht die physische Konstitution für eine so robuste Einsicht.
Ein verblüffender Beweis für die Elastizität des Gehirns Es geht um den Fall eines 35-jährigen Mannes, der mir auf dem Operationstisch an einer Unterleibsgeschwulst starb. Das berichtete der Chirurg Jaques Willemer. Die Autopsie ergab, fuhr er fort, daß ihm die Fimbria hippocampi, die Fornix, das Septum pellucidum sowie das größte Stück vom Mittelteil des Thalamus von Geburt an fehlten. Außerdem besaß er einen geradezu mickrigen Hippocampus und einen abnorm kleinen Gyrus parahippocampalis. Dieser Mann hatte trotz seiner Fehlbestände an organischem Hirn (es bestand nur aus Aushilfen und Ersatzregionen) sich als »Gemütsmensch« und »Lebenskünstler« ausgewiesen. Seine Examina hatte er jeweils als Jahrgangsbester bestanden. Das Fehlen organischer Gehirnmasse hatte mit dem aufkommenden Geschwulst, das ihn umbrachte, nichts zu tun. Meine Operation tadellos.
352
Arbeitsnotizen
Alexander Kluge
REZENSIONEN
Jean-Pierre Dubost
Eine neue Ära für die Rezeption Kluges in Frankreich: Chronique des sentiments – Livre I – Histoires de base, Paris: P.O.L., 2016.
Georges Didi-Huberman, dessen ästhetische Analysen seit langem zum Besten gehören, was in Frankreich erscheint, erregte am 8. April 2016 die Aufmerksamkeit vieler Zeitungsleser und Abonnenten von Le Monde mit einem langen Artikel, in dem er mit Lob nicht sparte: »Alexander Kluge, l’oeil ouvert. Le grand r8alisateur allemand signe une magnifique Chronique des sentiments« (Alexander Kluge – ein Auge weit offen auf die Welt gerichtet. Der große deutsche Filmemacher publiziert ein fabelhaftes Buch mit dem Titel Chronique des sentiments). Diesem Text folgte unter dem Motto »J’8cris des livres avec les moyens du cin8ma« (»Ich schreibe Bücher, als würde ich Filme machen«) ein Gespräch mit Alexander Kluge. Selten widmet Le Monde in seinem wöchentlichen Beiblatt »Le Monde des livres« einem Autor zwei volle Seiten. Diesmal ja, und zwar anlässlich der soeben beim Verlag P.O.L. erschienenen Chronique des sentiments – Livre I – Histoires de base, eines Bandes von 1136 Seiten. Auch wenn Alexander Kluge in Frankreich sicherlich nicht ganz unbekannt ist, wird erst dieses mutige Übersetzungsunternehmen1 einem breiteren Publikum einen Eindruck von Kluges literarischer Produktion vermitteln, dessen schier »ozeanische« Dimension, so Didi-Huberman, bis heute kaum wahrgenommen wurde. Ein im Jahr 2003 beim Verlag Gallimard unter demselben Titel von Pierre Deshusses herausgegebenes Buch (248 S.) enthielt bereits, aber eben auch nur, eine Auswahl von fünfzig Texten. Die diesjährige Publikation wird einen Einschnitt markieren und eine neue Ära für die Rezeption Kluges in Frankreich eröffnen, da sie zum ersten Mal das wirkliche Ausmaß seiner unermüdlichen, ja geradezu wuchernden Produktion konkret vermittelt. Das französischsprachige Publikum ist, trotz des Umfangs der künftig zu erwartenden Bandfolge, die Didi-Huberman in seiner Rezension bereits als of1 Nicht weniger als sieben ÜbersetzerInnen (Anne Gaudu, Kza Han, Herbert Holl, Hilda Inderwildi, Jean-Pierre Morel, Alexander Neumann und Vincent Pauval) waren nötig, um unter der Leitung von Vincent Pauval und in kurzer Zeit dieses Unternehmen zu Ende zu führen.
356
Rezension
fene Reihe ankündigt, und ungeachtet der dominanten Tendenz subjektiver Ausdrucksformen und ›autofiction‹, für eine solche Rezeption bereit, insofern seit Beginn des neuen Jahrhunderts eine deutliche Steigerung der Publikation und Rezeption von Kluges Werken erkennbar ist. Ende der neunziger Jahre wurden bereits seine Gespräche mit Heiner Müller in französischer Sprache unter den Titeln Esprit, pouvoir et castration (1997) und Profession arpenteur (2000) beim Pariser Verlag Pditions Th8.trales herausgegeben. Darauf folgte 2003 De la Grammaire du Temps beim Verlag L’Harmattan – eine Auswahl von Texten aus Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit (Berlin, Klaus Wagenbach, 1987 (Übers. Anne-Elise Delatte)). Der Verlag Diaphanes brachte außerdem 2012 Alexander Kluges und Gerhart Richters gemeinsamen Bildtext D8cembre (Übers. Hilda Inderwildi und Vincent Pauval) und 2016 Le raid a8rien sur Halberstadt le 8 avril 1945 (Übers. Herbert Holl und Kza Han) heraus. Und 2014 erschien schließlich unter dem Titel L’utopie des sentiments – Essais et histoires de cin8ma (Übers. Christophe Jouanlanne und Vincent Pauval) bei den Presses universitaires de Lyon eine sehr gelobte Auswahl von Texten zu Politik und Kino. Ein Jahr zuvor fand an der Pariser Cin8mathHque eine Rückschau seines filmischen Werkes statt, und eine von Vincent Pauval betreute Internetseite in französischer Sprache Les mondes parallHles d’Alexander Kluge bildet seither eine solide Basis für Informationen und Aktualisierungen. Ein Artikel von Vincent Pauval über diese französische Ausgabe erschien vor kurzem in der Literaturzeitschrift Le Matricule des Anges, in der bereits 2004, nach der Ausgabe von Chronique des sentiments bei Gallimard, eine Präsentation von Kluges Werk erschienen war. Ein Gespräch zwischen Vincent Pauval und Alexander Kluge ist in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift Europe erscheinen. Die Herausgabe eines Tagungsbandes zu dem von Vincent Pauval und Pric Lysøe im Jahre 2012 an der Universit8 Blaise Pascal (Clermont-Ferrand) organisierten Kolloquiums »Alexander Kluge et la France – Pour une lev8e en masse de la narration« steht bevor. Und als ich 2014 im Rahmen des jährlich im mittelfranzösischen Chambon sur Lignon stattfindenden Literatur-Festivals »Lectures sous l’arbre« sowie anlässlich einer Konferenz an der Universit8 LumiHres in Lyon, »Entre textes et images: montage, d8montage, remontage«, dessen Akten soeben in der Webzeitschrift Textimage (revuetextimage.com) erschienen sind, die Gelegenheit hatte, über sein Werk zu sprechen, war spürbar, wie sehr Kluges Werk in Frankreich auf Interesse stößt. Wie kommt es, hört man dann immer, dass er bei uns so wenig bekannt ist? Für Chronique des sentiments – Livre I ist also das Jahr 2016, gerade in einem Kontext radikaler Desorientierung, der richtige Moment für eine qualitativ andere Begegnung Kluges mit Frankreich. Es geht aber nicht nur um einen Kairos im Sinne des nicht zu verpassenden Augenblicks, sondern auch um Kairos im Sinne einer schon längst existierenden Begegnung zwischen Kluge und Frank-
Jean-Pierre Dubost
357
reich, auf die er selbst oft genug hingewiesen hat, und an die er in Le Monde des livres am 8. April noch einmal erinnert. Vincent Pauval hat in den letzten Jahren versucht, Verlage in Frankreich zur Publikation von Geschichte und Eigensinn zu animieren, damit hierzulande verstanden wird, mit welcher Vorstellungskraft und Präzision Kluge und Negt seit Jahrzehnten dem politischen Desaster gemeinsam entgegenarbeiten. Jedenfalls sind die Bedingungen für eine breitere Rezeption von Kluges literarischen Strategien nun vorhanden. Denn, wenngleich viele wissen, dass seit den sechziger Jahren die Geschichte des französischen und die des deutschen Films zahlreiche Berührungspunkte aufwies, ist manch einem bis heute noch nicht klar, inwiefern Kluges Gedankenwelt und literarische Praxis ein ideales Prisma bieten, um die allzu oft als parallel, wenn nicht antagonistisch laufenden Strömungen in Deutschland und Frankreich von einem völlig anderen Blickwinkel her zu betrachten. Wenn Kluge in dem soeben erwähnten Gespräch noch einmal daran erinnert, wie nahe er sich Montaigne und Diderot in Ton, Stil und Denkart fühlt, dann denkt er vielleicht nicht daran, welche Bedeutung beide vor allem für Jean-FranÅois Lyotard hatten. Kluges Schreibpraxis, die darin besteht, Texte zu schreiben, als würde er Filme machen, bringt ihn in die Nähe dessen, was Lyotard als »exp8rimentation« bezeichnete. Damit meinte er, dass zu einer Zeit, in der die Anlehnung an globale Erklärungsmodelle unwiederruflich an Legitimität verloren hat, der Ausweg aus der radikalen Desorientierung, die sich daraus ergibt, weniger im Versuch, die Totalität theoretisch zu beherrschen oder gar wiederherzustellen als in der Kunst bestünde, durch Versuche und Entwürfe, durch Würfelwürfe (»Jamais un coup de d8s n’abolira le hasard«) und durch den kühnen Entwurf geistiger Kartographien einen Ausweg aus dieser Desorientierung zu suchen. Deleuze und Lyotard waren sich in dieser Hinsicht näher als sie glaubten, so wie viele Missverständnisse und Blockierungen, die den deutsch-französischen Austausch erschwerten, allmählich an Bedeutung verlieren. Dass Kluge und Negt sich seit langem an der Totalität des heutigen globalisierten Kapitalismus durch das Experimentieren mit Begriffen und Erklärungsmodellen abarbeiten – nicht etwa um diese Realität durch Theorie zu ›beherrschen‹, sondern um die Undarstellbarkeit der Machtverhältnisse herauszufordern, dann handeln sie gerade im Sinne dessen, was Lyotard als »exp8rimentation« bezeichnete. Theoretische Montage und sprachliches Experimentieren im Zustand radikaler Desorientierung kennzeichnete bereits die Kunst Derridas oder Foucaults. Diese Kunst mag vielleicht damals in Deutschland für viele befremdend gewesen sein, aber nun, da sämtliche Erklärungsmodelle sich als fragwürdig und brüchig erweisen, kann man sich erhoffen, dass Kluges raffinierte Text-und-Bild-Montagen sich fortan in Frankreich ihren Weg bahnen werden. Rückwirkend wird man vielleicht sogar besser verstehen, was Deleuze und Guattari in Rhizome – der berühmten Einführung zu Mille pla-
358
Rezension
teaux, (bereits 1977 beim Merve Verlag übersetzt) – vorschwebte, als sie darauf hinwiesen, dass es nicht allein darum geht, das Multiple zu zelebrieren, sondern eher darum, sich von der Illusion einer Entsprechung von Buch und Welt zu befreien, indem man sich daran macht, das Multiple rhizomatisch zu verwirklichen. Mancher frankophone Leser wird dank der Chronique des sentiments – Livre I erfahren, dass es kein besseres Beispiel als Kluges Schreibpraxis für eine solche Verwirklichung des Multiplen durch heterogene »agencements machiniques« und überraschende Verkettungen geben kann. Eine solche »Politik der Chronik«, die Zeitlichkeit nicht als individuellen Lebensstoff, sondern als Zusammenspiel und Metamorphose behandelt, deren Potentialitäten durch narrative Würfelspiele sondiert werden sollen, gerät zwar in Dissonanz mit dem Zeitgeist einer Epoche, in der die literarische Produktion dazu tendiert, kollektive Schicksale und gemeinsam erfahrene Veränderungen in unzählige private Guckkästen zu dividieren und zersplittern. Und die Komplexität dieser filmischen und narrativen »Kriegsmaschine« (im deleuzeschen Sinne), die ›fiktional‹ und ›dokumentarisch‹, Poesie und Politik, individuelle, kollektive und kosmische Zeitlichkeiten konsequent durcheinandermengt und zusammendenkt, wird sicherlich im Nachbarland angesichts des herrschenden Individualismus und der Gefälligkeiten eines allmächtigen Literaturmarketings als eine willkommene Unterstützung aus Deutschland für die Kritik an der Bequemlichkeit vertrauter Literaturerwartungen empfunden werden. Dass Kluge dagegen der »unsichtbaren Schrift« der Zeit den ersten Rang zuweist, so dass sie gleichzeitig Ursprung und Signatur seines Werkes ist, wird zudem ermöglichen, manche zwischen der kritischen Theorie und der sogenannten »French Theory« brachliegenden Zonen zu überbrücken. Vielen, die schon verstanden haben, dass er als Filmemacher das deutsche Pendant von Chris Marker ist, werden nicht nur seine zahlreichen Affinitäten zur französischen Geschichte und Kultur (Montaigne, Madame de La Fayette, Diderot), sondern zu zeitgenössischen französischen Ansätzen entdecken. Und vor allem wird das Publikationsprojekt von P.O.L. eine weitaus präzisere Wahrnehmung der Komplexität der deutschen Realität seit dem Zweiten Weltkrieg vermitteln, fern von vielen bis heute vorherrschenden Klischees. Diesbezüglich werden manche z. B. nicht ohne Staunen und Interesse durch die Übersetzung von Heidegger auf der Krim (Heidegger en Crim8e, S. 375ff.) hautnah erfahren, was bei Kluge Montage und Demontage bedeutet. Nachdem Derridas d8construction weltweit ein Begriff geworden ist, wird allmählich auch in Frankreich klar, dass Kluge filmisch und literarisch eine Theorie und Praxis der Demontage entwickelt hat, deren Wurzeln bis in die Zeit der französischen Aufklärung zurückreichen und heute dank der OULIPO (»Werkstatt für Potentielle Literatur«) eine neue Plattform erhalten haben. Und damit wird eine Riesenlücke geschlossen, die der Teufel der Geschichte gelassen hatte.
Jean-Pierre Dubost
359
Vincent Pauvals Vorwort ist eine captatio benevolentiae. Es führt den Leser in Kluges Leben und Werk und verbindet markante Momente der persönlichen Biographie mit entscheidenden Begegnungspunkten zwischen Kluge und der französischen Literatur (Balzac, Flaubert, Gide, Proust, Val8ry), erinnert an seine Nähe zu Godard und Chris Marker, ruft enge Anknüpfungspunkte im deutschen Literaturkontext wach – von Kleist bis zur Gruppe 47, Hans Magnus Enzensberger und Winfried G. Sebald –, setzt Adornos Rolle ins Licht, deutet sein freundschaftliches Verhältnis zu Habermas an, hebt kurz hervor, dass Kluges Schreibweise in Deutschland auch manche ratlos und perplex lässt und dass sie dort auch schwer einzuordnen ist. Ein Vorwort von Kluge bringt anschließend die Sache auf den Punkt, spult sozusagen im voraus kurz das Programm ab (Gefühle, Orientierung, Chronik) und stürzt unverzüglich seinen französischen Leser in den Ozean seiner Texte. Im gegenseitigen Einverständnis haben Autor und Herausgeber eine neue Fassung von Kluges Werk kreiert. So wurden z. B. die zwei ersten Kapitel der deutschen Ausgabe von Chronik der Gefühle durch das erste Kapitel aus dem Fünften Buch ersetzt – einerseits, um autobiographische Aspekte hervorzuheben, andererseits, um gleich zu Beginn durch die Eingliederung von Fragmenten über die Katastrophe von Fukushima eine Aktualisierung zu erreichen. Das Kapitel »Heidegger auf der Krim« wurde ebenfalls umstrukturiert. Dass das Kapitel »Description de bataille« mit dem deutschen Originaltext der Schlachtbeschreibung keineswegs mehr identisch ist, entspricht einer wohlüberlegten Intention. Noch bevor Historiker und Dokumentarfilme sich damit beschäftigten, war Kluge in den frühen sechziger Jahren einer der ersten, die sich zu Stalingrad äußerten. Heute, nach dem Forschungsbeitrag von Historikern und zahlreichen Spiel- und Dokumentarfilmen, wurde beschlossen, die ursprüngliche Version um 75 Seiten zu kürzen. Stalingrad als Nachricht (»Stalingrad comme message«) steht jetzt am Ende des entsprechenden Kapitels, um auf den Text »Nachricht« (Message), der dieses eröffnet, besser zu antworten. Und Kapitel 5, »Affirmation ensauvag8e de soi« (Verwilderte Selbstbehauptung), enthält nun Texte, die ursprünglich zu »Heidegger auf der Krim« gehörten, während der gesamte Inhalt von »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter« (Suhrkamp, 2013) das 6. Kapitel bildet. Und manches andere noch, das dieser französischen Ausgabe eine Autorität verleiht, die mit den nächsten Bänden (5 bis 6 sind zunächst vorgesehen) nur noch wachsen kann. Kluge selbst hat aber bei dieser französischen Ausgabe die Karten höchstwahrscheinlich nicht bloß neugemischt, um bewusst und strategisch eine höhere Textwirkung zu erzielen, sondern nicht zuletzt auch um einer Poetik treu zu bleiben, die darum bemüht ist, die zeitliche Vielfalt großzügig mitaufzunehmen, als wollte Heraklits Kind mit seiner eigenen Welt noch einmal, aber anders, spielen, und zwar auch aus Neugierde und um zu sehen, was eine Verschiebung
360
Rezension
von Steinen auf dem Brett seines Werkes erwirken könnte. Hier und noch einmal begegnet er damit, obwohl mit völlig anderen Mitteln, was dem OULIPO als Leitprinzip gilt – nämlich dem Programm einer potentiellen Literatur.
Valentin Mertes
Kathrin Lämmle, Televisuelle Intellektualität. Möglichkeitsräume in Alexander Kluges Fernsehmagazinen, Konstanz: UVK, 2013.
Seit 1988 hat Alexander Kluge nun schon mehr als 4000 seiner Kulturmagazine produziert. Zuerst im Privatsender RTLplus und dann auf SAT 1 und RTL meist zu später Nachtstunde gesendet, prägen sie nun schon fast 30 Jahre die deutsche Fernsehlandschaft. Sehr geschickt stellt sich Kathrin Lämmle in ihrer Dissertation dieser Materialfülle. Indem sie sich auf einen Sendezeitraum zwischen dem 1. 7. 2009 und dem 31. 8. 2009 beschränkt, wird es möglich von einer »Vollerhebung« (96) der Kulturmagazine als Grundlage ihrer Untersuchung zu sprechen. Begründet ist diese exemplarische Verallgemeinerung einerseits durch eine »langjährige Seherfahrung« (96) und andererseits durch die entscheidende These, die Kulturmagazine Kluges seien in ihrer verfestigten Regelhaftigkeit einem Wandel entzogen. So ergibt sich ein Korpus von 12 Magazinen, die zu je sechs Sendungen die Formate 10vor11 und News& Stories vertreten. Dabei finden sich auch zwei Sendungen der Reihe Facts & Fakes unter der Auswahl. Präzise und detailreiche Protokolle dieser Sendungen dienen als Ausgangspunkt für die Diskussion der Frage nach einer potentiellen Intellektualität der Kulturmagazine im Rahmen einer »ethnomethodologischen Konversationsanalyse« (99) und gattungsanalytisch fundierten Fernsehanalyse. Bevor sich Lämmle aber im Besonderen den Brüchen mit konventionellen Darstellungsweisen des Fernsehens bzw. der Gattungen Magazin und Interview, die sich als »Möglichkeitsraum intellektueller Intervention« (255) in den Kulturmagazinen eröffnen, analytisch zuwendet, gibt sie in der ersten Hälfte ihres Buches einen Überblick über Theorien und Gattungen des Fernsehens sowie die Typologie des ›Intellektuellen‹ und ›Experten‹. Entgegen einer verallgemeinernden Kritik wie sie bei Adorno und Bourdieu zu finden ist, versucht Lämmle das Fernsehen anhand der Verhältnisse von Faktizität und Fiktionalisierung, Bild und Ton sowie verschiedener Gattungskonzepte zu problematisieren. Dadurch wird es möglich, »dezidiert zwischen einzelnen Programmen, dem Fernsehen als Ganzem und seinem Umfeld zu unterscheiden [und] das Fernsehen als audiovisuelle Verbindung von Sendun-
362
Rezension
gen sowie als Raum kultureller Äußerungen und Manifestationen [zu] begreifen«. (21) Nach der Bestimmung der Gattungszugehörigkeit der Kulturmagazine und der Diskussion der »asymmetrischen Rollenverteilung im Interview« (32) in konventionellen Fernsehformaten, werden die »relevanten Akteurstypen« (37) in Kluges Kulturmagazinen anhand der Figur des ›Intellektuellen‹ und des ›Experten‹ besprochen. Die Begriffsgeschichte und Typologie des ›Intellektuellen‹ verweist vor allem auf die Unabhängigkeit und Ortlosigkeit seiner Reflexionstätigkeit und die damit verbundene Aufgabe einer Gesellschaftskritik. Aus der Perspektive der Kritik und der intellektuellen Stellungnahme »bezeichnet der Begriff des Intellektuellen eine, dem Gewissen verpflichtete Tugend und ein Gespür für Relevanzen und dies in einem Ausmaß, das vom Spezifischen ins Universelle changiert.« (47) Innerhalb des Fernsehens lassen sich nach Lämmle davon ›Medien-Intellektuelle‹ und besonders ›Experten‹ unterscheiden, die über eine durch Institutionen und Spezialwissen legitimierte Expertise verfügen. Die medialen Inszenierungsweisen, die im konventionellen Fernsehen zur Konstitution solcher Akteurstypen führen, benutzt Lämmle nun als Folie für die Analyse der Rollenbilder innerhalb der Kulturmagazine. Dabei steht die These im Zentrum, dass es sich bei Kluge um einen ›Intellektuellen‹ handelt und bei seinen Gästen um ›Experten‹. Durch die Kombination der ethnomethodologischen Konversationsanalyse mit der gattungsspezifischen Fernsehanalyse kann Lämmle sowohl die Regelhaftigkeiten in der Gesprächsführung und Rollenkonstitution bei Kluge als auch die Brüche mit den konventionellen Inszenierungsstrategien der Gattung Magazin und des Interviews aufzeigen. So lassen sich im Vorspann, im Interviewanfang und -ende Kontinuitäten in Form und Stil, aber auch Brüche auf den Ebenen der Soundstruktur, der Moderation, von Schrift- und Bildeinsatz mit den Konventionen der Gattung Magazin nachweisen. Einerseits legt Lämmle so gängige Formen der »Darstellung und Hervorbringung von Expertenidentitäten« (136) offen – wie in der Zuschreibung von akademischen Titeln oder in der Legitimation durch fachspezifische Publikationen –, wodurch andererseits aber die Markierung des Bruchs anhand der performativen Kontextverschiebungen in der wiederkehrenden Perspektivierung von Lebenslauf, Geschichte und Gesellschaft durch Kluge möglich wird. Anhand der Facts & Fakes-Sendung Beinah wären wir Römer geworden. Helge Schneider aus Anlaß von 2000 Jahre Deutschland gelingt Lämmle eine besonders hellsichtige Analyse dieser Brüche, da sie hier in der »Fake-Montage« nicht nur vollzogen, sondern wie unter einem »Vergrößerungsglas« (228) thematisiert und kritisch reflektiert werden. Als inszenierte Störfälle eines »Undoing von spezifischen medialen wie gattungsmäßigen Konventionen« (240) eröffnen diese Brüche nun den Möglichkeitsraum intellektueller Intervention.
Valentin Mertes
363
Mit ihrer Studie gelingt es Lämmle, die Kulturmagazine Kluges innerhalb des Fernsehens in ihrer gattungsspezifischen Zugehörigkeit relational zu verorten und darüber hinaus die Brüche innerhalb der Sendungen als Möglichkeitsräume televisueller Intellektualität lesbar zu machen.
BIBLIOGRAPHIE
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015 Zusammengestellt von Winfried Siebers
Vorbemerkung Die Bibliographie setzt das vorhergehende Verzeichnis im Alexander KlugeJahrbuch (Bd. 2, 2015, 303–313) fort. Sie enthält einige Titelnachträge für die Jahre 2013 und 2014. Mit Ausnahme der Interviews mit Alexander Kluge sind keine Zeitungsartikel aufgeführt. Letztere sind (einschließlich der Rezensionen zu Kluges Werken) umfassend und aktuell im »Kluge«-Artikel der OnlineAusgabe des Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dokumentiert. Bei den Alexander Kluge gewidmeten Sammelbänden und Themenheften von Zeitschriften sind die Einzelartikel im Anschluss an den Haupteintrag in der Reihenfolge ihrer Anordnung im Druck verzeichnet. Um eine Doppelnennung von Titeln zu vermeiden, sind die dort vermerkten Einzelbeiträge am Schluss der Sachgruppen nur mit Kurztiteln und einem entsprechenden Rückverweis aufgeführt. Für alle genannten Internet-Adressen gilt, dass sie zuletzt am 15. 06. 2016 abgerufen wurden und an diesem Tag verfügbar waren. Für Hinweise und Ergänzungen zur Bibliographie danke ich Thomas Combrink und Vincent Pauval. Ebenfalls sei Dr. Volker Michel, Leiter der Abteilung Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main, für die freundliche Hilfestellung bei der Titelrecherche für den Berichtszeitraum 2015 gedankt.
368
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
Publikationen Alexander Kluges Bücher Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Mitarbeit: Thomas Combrink, Berlin: Suhrkamp 2015. 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann, Berlin: Suhrkamp 2015 (suhrkamp taschenbuch, 4588).
Beiträge in Büchern und Zeitschriften »Politische Geologie. Elf Geschichten«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 69/1, Nr. 788 (2015), 30–37. »Die elegante Tschudai. Mit einer Vorbemerkung von Thomas Combrink«, in: Die große Schuld, hg. von Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner, München: Edition Text + Kritik 2015 (Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, 11), 16–19. »Verbotene Gefühle«, in: Spiegel, Nr. 42 (2015), 134–135. [Zum Theaterstück Terror von Ferdinand von Schirach]. »Der Zweifel des Anfangs«, in: 50 Jahre Kuratorium junger deutscher Film 1965–2015, hg. von Anna Schoeppe und Andreas Schardt, Wiesbaden: Kuratorium junger deutscher Film 2015, 6–7. [http://www.kuratorium-junger-film.de/pdf/50 Jahre-KjdF.pdf]. [Zu Abschied von gestern (1966)]. »Kalte Dusche«, in: 50 Jahre Kuratorium junger deutscher Film 1965–2015, hg. von Anna Schoeppe und Andreas Schardt, Wiesbaden: Kuratorium junger deutscher Film 2015, 7. [http://www.kuratorium-junger-film.de/pdf/50 Jahre-KjdF.pdf]. [Nachdruck aus Geschichten vom Kino (2007)]. »Dankrede«, in: Heine-Jahrbuch 54 (2015), 157–162. [Zur Verleihung des Heine-Preises 2014]. »Foreword«, in: The Cinema of Theo Angelopoulos, ed. by Angelos Koutsourakis and Mark Steven, Edinburgh: Edinburgh University Press 2015, unpag. (1 S.). [Translated by Eszter Katona].
Beiträge im Internet »30. April 1945: Der Tag, an dem Hitler sich erschoss. […]. Szenen von Alexander Kluge«, in: Spiegel Online, 24. 04. 2015. [http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/alexanderkluge-ueber-den-tag-an-dem-hitler-sich-erschoss-a-1030229.html]. [Mit Links zu Videosequenzen]. »Alexander Kluge über Rainer Werner Fassbinder: Bürgerkrieg in den Nerven. […]. Sechs Erinnerungen zum 70. Geburtstag des Genies«, in: Spiegel Online, 30. 05. 2015. [http://
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
369
www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/alexander-kluge-zu-rainer-werner-fassbindernicht-ganz-tot-a-1033586.html]. [Mit Links zu Videosequenzen]. »Neun Geschichten für Rainer Werner Fassbinder«, in: Logbuch. Deutschsprachige Literatur heute (Suhrkamp Verlag, Berlin), Mai 2015. [http://www.logbuch-suhrkamp.de/ alexander-kluge/neun-geschichten-fuer-rainer-werner-fassbinder/]. [Mit Links zu Videosequenzen]. »Alexander Kluge über Napoleon: Das Glück des dicken Bonaparte. […] acht Geschichten und sechs Filme von Alexander Kluge«, in: Spiegel Online, 17. 06. 2015. [http:// www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/alexander-kluge-ueber-napoleon-das-glueck-desdicken-bonaparte-a-1038394.html]. [Mit Links zu Videosequenzen]. »Alexander Kluge: Schwester Bonaparte – Die weibliche Natur Napoleons«, in: Logbuch. Deutschsprachige Literatur heute (Suhrkamp Verlag, Berlin), Juli 2015. [http:// www.logbuch-suhrkamp.de/alexander-kluge/schwester-bonaparte/]. [Fünf Geschichten mit Links zu Videosequenzen]. »Alexander Kluge zum Tode Egon Bahrs: Abschied von einem Freund und Charakter. […]. Drei Gedanken und vier Filme von Alexander Kluge«, in: Spiegel Online, 21. 08. 2015. [http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/egon-bahr-abschied-von-einem-freund-undcharakter-a-1049170.html]. [Mit Links zu Videosequenzen]. »Zum 60. Geburtstag von Helge Schneider: Er ist mein Freund«, in: Spiegel Online, 30. 08. 2015. [http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/alexander-kluge-gratuliert-helge-schnei der-zum-60-a-1050419.html]. [Sechs Geschichten mit Links zu Videosequenzen]. »Zum Tode Helmut Schmidts: Szenen einer Kanzlerschaft«, in: Spiegel Online, 23. 11. 2015. [http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/helmut-schmidt-szenen-einer-kanzler schaft-a-1062158.html]. [Drei Geschichten mit Links zu Videosequenzen]. »Was hätte er in dieser Zeit geschrieben?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, OnlineAusgabe, 30. 12. 2015. [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/20-todestag-vonheiner-mueller-was-haette-er-in-dieser-zeit-geschrieben-13982555.html]. [Zum 20. Todestag von Heiner Müller ; elf Geschichten mit Links zu Videosequenzen]. »Karl der Große«, in: magazin dctp.tv [http://magazin.dctp.tv/karl-der-grosse/]. [Elf Geschichten mit Links zu Videosequenzen].
DVD- und CD-Editionen Heim, Gabriel; Kluge, Alexander, Ein Gespür für den Frieden! Eindrücke in der Schweiz und aus Deutschland zum 8. Mai 1945, 1 DVD, Zürich: Neue Zürcher Zeitung, Fridolfing: Absolut Medien 2015 (edition NZZ / dctp) [19 Filme von Alexander Kluge und Gabriel Heim]. 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann. Hörspiel, Bearb. und Regie: Karl Bruckmaier, Bayerischer Rundfunk (Bayern 2), 2 CDs mit Booklet, München: Kunstmann 2015.
370
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
Übersetzungen 30th April 1945. The day Hitler shot himself and Germany’s integration with the West began, translated by Wieland Hoban, assisted by Thomas Combrink, with guest contributions by Reinhard Jirgl translated by Iain Galbraith, London: Seagull Books 2015. Sürükleyen zaman. Almanca aslından Åeviren: Tevfik Turan, Istanbul: Everest 2015 [Übersetzung von Dezember (2010) ins Türkische; Übersetzer : Tevfik Turan]. »Alemania. Der gefährlichste Moment im Kalten Krieg. El momento m#s peligroso de la Guerra Fr&a«, in: Me lo llevar8 a la sepultura, ed. por Magdalena Arrupe, Vol. 3, Buenos Aires: Malba 2015 (Fundacijn Costantini. Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires), 21–23. [Übersetzt von Carla Imbrogno]. [http://malba.s3-website-sa-east1.amazonaws.com/wp-content/uploads/2015/09/09170445/Me–lo-llevare-a-la-sepultura-03.pdf].
Gespräche und Interviews mit Alexander Kluge Pauval, Vincent, »›Un d8sir d’issues‹. Onze r8ponses au sujet de Franz Kafka. (Entretien) [Gespräch mit Alexander Kluge]«, in: Jean-Pierre Morel, Wolfgang Asholt (Hg.), Kafka, Paris: Pditions de L’Herne 2014 (Cahiers de L’Herne, 108), 15–23. Dax, Max, »Kraftwerk Alexander Kluge. ›Alle Dinge sind verzauberte Menschen‹. Gespräch«, in: Frankfurter Rundschau, 15. 01. 2015. [http://www.fr-online.de/musik/ kraftwerk-alexander-kluge-alle-dinge-sind-verzauberte-menschen-,1473348,295 76630.html]. Gronemeyer, Nicole, »Tschukowskis Telefon. Umwege zum Realismus. Alexander Kluge im Gespräch mit Nicole Gronemeyer«, in: Theater der Zeit, Nr. 12 (2015), 14–19. Schirren, Matthias, »Ferdinand Kramer – Architekt kritischer Theorie. Alexander Kluge im Gespräch mit Matthias Schirren«, in: Ferdinand Kramer. Die Bauten, Ausstellungskatalog des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt am Main, hg. von Wolfgang Voigt u. a., Tübingen / Berlin: Wasmuth 2015, 97–104.
Gespräche aus Alexander Kluges Kulturmagazinen »Gespräch mit Christoph Schlingensief«, in: Der Animatograph, Regie: Christoph Schlingensief, 1 DVD mit Booklet, Berlin: Filmgalerie 451, 2015 [Gespräch aus dem Jahr 2006, 45 Min.]. »Gespräch mit Christoph Schlingensief«, in: Mutters Maske, Regie: Christoph Schlingensief, 1 DVD mit Booklet, Berlin: Filmgalerie 451, 2015 [Gespräch aus dem Jahr 1996, 24 Min.]. »Gespräch mit Christoph Schlingensief«, in: U 3000, Buch & Moderation: Christoph Schlingensief, 2 DVDs mit Booklet, Berlin: Filmgalerie 451, 2015, DVD 2 [Gespräch aus dem Jahr 2001, 15 Min.].
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
371
Arbeiten über Alexander Kluge Bibliographien Siebers, Winfried, »Bibliographie zu Alexander Kluge 2014«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2: Glass Shards, hg. von Richard Langston u. a., Göttingen: V & R unipress 2015, 303–313. Wiggen, Beata, »Verzeichnis der Kulturmagazine 2014«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2: Glass Shards, hg. von Richard Langston u. a., Göttingen: V & R unipress 2015, 317–323. Beth, Hanno; Precht, Kai, »Primärliteratur. Rundfunk. Film. Tonträger. Sekundärliteratur. Stand: 01. 02. 2016«, in: Artikel ›Kluge, Alexander‹, in: KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. [http://www.nachschlage.NET/document/ 16000000309 (abgerufen von Universitätsbibliothek Osnabrück)].
Monographien Buchtaleck, Bastian, Das Kino des Autorenfilmers Alexander Kluge. Eine Analyse filmpolitischer Ansätze, sowie einer ungewöhnlichen Rezeptionswirkung, München: GRIN Verlag 2015, Online-Ressource. [Erstdruck 2005; Studienarbeit, Universität Hildesheim]. Forrest, Tara, Realism as protest: Kluge, Schlingensief, Haneke, Bielefeld: Transcript 2015. [Auch als Online-Ressource verfügbar]. [Darin zu Kluges Film- und Fernseharbeiten]. Gilbert, Joanna Lucy, Gender in the films of Alexander Kluge, Ph.D. thesis, University of Leeds, Faculty of Arts 2015. [http://etheses.whiterose.ac.uk/9701/]. [Zu Abschied von gestern (1966), Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1973), Der starke Ferdinand (1976) sowie Die Macht der Gefühle (1983)]. Seeber, Daniela, Städtisches Gelände und Stadtlandschaften. Die Darstellung urbanen Raums in Filmen von Alexander Kluge und Wim Wenders, Saarbrücken: AV Akademikerverlag 2015, Online-Ressource. [Zu Kluges Film In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (1974)]. Sinha, Amresh, Memory, History, and Trauma in Chris Marker, Alain Resnais, Alexander Kluge, and Mira Nair’s Films, Ph.D. thesis, New York University, Cinema Studies 2015. [http://gradworks.umi.com/37/40/3740878.html]. Sombroek, Andreas, Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge, Bielefeld: Transcript 2015, Online-Ressource. [Erstdruck 2005].
Sammelbände und Themenhefte Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2: Glass Shards: Echoes of a Message in a Bottle, hg. von Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann, Göttingen: V& R unipress 2015.
372
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
Hierin enthalten: Langston, Richard: Editorial, 9–14. – Vier Briefe (von Theodor W. Adorno an Fritz Lang sowie von Siegfried Kracauer, Th. W. Adorno und Jürgen Habermas an Alexander Kluge, 1958–1978), 15–19. – Kluge, Alexander : Landkarte der Begriffe. Ein Glossar zu Geschichte und Eigensinn, 21–46. – Langston, Richard: »Das ist die umgekehrte Flaschenpost«. Ein montiertes Interview mit Oskar Negt und Alexander Kluge, 47–75. – Bowie, Andrew: Kluge and Negt 30 Years On. A Brief Reflection, 77–82. – Miller, Matthew D.: Eigensinn in Transit. Reexamining a Concept for the Twenty-First Century, 83–102. – Pavsak, Christopher : The Utopia of Reading, 103–119. – Kluge, Alexander : Zu Öffentlichkeit und Erfahrung, 121–123. – Koepnick, Lutz: Inside Kluge’s Cosmic Cinema. Critical Theory and Mobile Spectatorship Today, 125–142. – Streckhardt, Bert-Christoph: Passagen-Werkstatt der Autoren. Benjamin – Adorno – Kluge, 143–159. – Cormann, Gr8gory ; Hamers, Jeremy : Adorno-As-Memory. Inheriting, Resurfacing and Replaying Confidence in Kluge’s Late Work, 161–170. – Combrink, Thomas: Zu Alexander Kluges Metaphernwelt. Ein Blick auf die Überlegungen Hans Blumenbergs, 171–178. – Kiefer, Anselm: »Alexander, You Are a Particle Accelerator«. Transl. by Martin Brady and Helen Hughes, 179–184. – Kluge, Alexander : Heinrich Heine Prize 2014 Acceptance Speech. Transl. by Martin Brady and Helen Hughes, 185–191. – Williams, Gregory H.: Toward an Aesthetic of Cross-Mapping. Alexander Kluge’s Impact on the Visual Arts, 193–201. – Combrink, Thomas: Ein Medium, das die Lichtstrahlen bündelt. Über das Verhältnis zwischen Heinrich von Kleist und Alexander Kluge, 203–212. – Ekardt, Philipp: Form der Paraphrase. Umgearbeitete Romantik bei Alexander Kluge, 213–224. – Lämmle, Kathrin: Doing Undoing. Störung, Umordnung und Bewusstmachung – Brüche in Alexander Kluges Fensehformaten, 225–237. – Kluge, Alexander : Heidegger at Wildenstein Castle. Transl. by Wieland Hoban, 239–243. – Rabinow, Paul: Assemblage-Work, a Chance Collaboration. Had These Then Eighty-Three-Years-Olds Not Decided to Work Together, 245–263. – Birkmeyer, Jens: Fährtenleser des organisierten Unglücks. Alexander Kluges Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter im Literaturunterricht, 265–283. – Lambert III, Richard: [Rezension von] Kai Lars Fischer, Geschichtsmontagen. Zum Zusammenhang von Geschichtskonzeption und Text-Modell bei Walter Benjamin und Alexander Kluge, Hildesheim: Georg Olms 2013 […], 286–291.– Marten, Susanne: [Rezension von] Alexander Kluge, L’utopie des sentiments. Essais et histories de cin8ma, textes r8unis et pr8sent8s par Dario Marchiori, traduit par Christophe Jouanlanne et Vincent Pauval, Lyon: Presses Universitaires de Lyon 2014 […], 293–296. – Marchiori, Dario: [Rezension von] Alexander Kluge, Id8ologies: des nouvelles de l’antiquit8, 8dit8 et traduit par B8n8dicte Vilgrain, Courbevoie: Th8.tre Typographique 2014 […], 297–300. – Bibliographie zu Alexander Kluge 2014. Zusammengestellt von Winfried Siebers, 303–313. – Verzeichnis der Kulturmagazine von 2014. Zusammengestellt von Beata Wiggen, 317–323. – Autorinnen und Autoren, 325–331. Lecteurs / spectateurs d’Alexander Kluge, 8tudes r8unis par Gr8gory Cormann, Jeremy Hamers et C8line Letawe, in: Cahiers d’8tudes germaniques, No. 69 (2015), Themenheft, Aix-en-Provence: Presses Universitaires de Provence 2015. Hierin enthalten: Cormann, Gr8gory ; Hamers, Jeremy ; Letawe, C8line: Avant-propos, 7–23. – Kluge, Alexander : Geschichten zu Able Archer (Trad. de l’allemand par Val8rie Leyh), 27–38. – Marchiori, Dario: L’Utopie de l’Espace, l’espace-temps de l’Utopie: arch8ologie dialectique de la science-fiction dans l’oeuvre d’Alexander Kluge, 41–53. –
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
373
Streckhardt, Bert-Christoph: Kluges Konstellationen. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, 56–67. – Cormann, Gr8gory ; Hamers, Jeremy : Le pouvoir des sentiments: Kluge, Adorno, Ferenczi, 69–87. – Elsaesser, Thomas: »Cent mille hasards qu’aprHs coup on appelle destin« (Trad. de l’anglais par C8line Letawe), 91–104. – Hagelstein, Maud; Letawe, C8line: Alexander Kluge / Gerhard Richter. L’art contre hazard, 105–116. – Marten, Susanne: Der literarische Pakt. Lesen in Alexander Kluges Die Lücke, die der Teufel läßt, 117–126; Siebers, Winfried: Alexander Kluge und die Frühe Neuzeit, 127–137; Lee, Hosung: Kommentar zum Kommentar der Authentizität. Zur koreanischen Übersetzung der Lebensläufe von Alexander Kluge, 141–151. – Wobser, Florian: Das Werk Alexander Kluges lesen / schauen / hören / spüren. Audiovisuelle Montagen als Movens eines ästhetischen Bildungsprojekts, 153–164. – Pieron, Julien: Imagier-lire Le Capital, 165–174. – Breuer, Roland: Heimkehr. »Description de l’aberration d’une espHce«, 175–188 [zu W.G. Sebald und Kluge]. – R8sum8s en allemand, 189–192. – R8sum8s en franÅais, 193–196. – R8sum8s en anglais, 197–200.
Publikationen zu allgemeinen und übergreifenden Themen Blaschke, Bernd, »Vertrauensmetaphern – Kreditprobleme von Luhmann bis Kluge«, in: Ökonomie – Narration – Kontingenz. Kulturelle Dimensionen des Marktes, hg. von Wilhelm Amann, Natalie Bloch und Georg Mein, Paderborn: Fink 2014, 173–189. Grimstein, Jens, »Die Gespensterarbeit der Globalisierung. Poetik als Schauermanagement bei Kathrin Röggla und Alexander Kluge«, in: Globalisierung – Natur – Zukunft erzählen. Aktuelle deutschsprachige Literatur für die internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache, hg. von Almut Hille u. a., München: Iudicium 2015, 58–73. Hoppe, Vinzenz; Renner, Kaspar : »›Eigensinnige Kinder‹. Jacob Grimm und Alexander Kluge als Gründerfiguren einer neuen Geschichtspädagogik«, in: Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, hg. von Claudia Brinker-von der Heyde u. a., Teil 1, Frankfurt/M.: Lang 2015, 459–472. Kiefer, Anselm, »Laudatio auf Alexander Kluge«, in: Heine-Jahrbuch 54 (2015), 151–156. [Zur Verleihung des Heine-Preises 2014]. Marchiori, Dario, »Introduction: Alexander Kluge, essayiste?« [suivi d’un choix de textes d’Alexander Kluge sur l’essayisme au cin8ma (traduits par Pierre Rusch)], in: Bertrand Bacqu8, Cyril Neyrat, Clara Schulmann, V8ronique Terrier Hermann (Hg.), Jeux s8rieux: Cin8ma et art contemporains transforment l’essai, GenHve: Mamco, HEAD 2015, 53–70. Nitzke, Solvejg, »Nach der Katastrophe. Müll zwischen Natur und Kultur bei Kluge, Sebald, Ransmayr und Kracht«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 133 (2014), Sonderheft, 285–308. Pauval, Vincent, »Alexander Kluge«, in: Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, hg. von Nicole Colin u. a., 2., überarb. und erw. Aufl., Tübingen: Narr 2015, 330–331.
374
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
Pflugmacher, Torsten, »Observing the observation of nuclear disasters in Alexander Kluge«, in: Catastrophe and catharsis. Perspectives on disaster and redemption in German culture and beyond, ed. by Katharina Gerstenberger and Tanja Nusser, Rochester (New York): Camden House 2015, 73–89. Pott, Ute, »Der Theaterarzt Dr. Ernst Kluge«, in: Neuer Familienkundlicher Abend 24 (2015), 61–74. Rieger-Ladich, Markus, »Konjunktiv Plusquamperfekt. Alexander Kluge und Nicholson Baker«, in: Bildung an ihren Grenzen. Zwischen Theorie und Empirie. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Lothar Wigger, hg. von Andreas Dörpinghaus, Barbara Platzer und Ulrike Mietzner, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, 189–204. Wobser, Florian: »Vermutlich gibt es Parallel-Universen. Audiovisuelle Essays von Alexander Kluge im Philosophieunterricht«, in: Visuelle Philosophie. Beiträge der Tagung ›Visuelle Philosophie‹, hg. von Hanno Depner, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, 91–108. ! Williams, »Toward an Aesthetic of Cross-Mapping. Alexander Kluge’s Impact on the Visual Arts« (in: AKJ 2: Glass Shards; s. o. unter : Sammelbände).
Publikationen zur Literatur Birkmeyer, Jens, »Kürze als Kritik der Zeit. Verdichtung und Verknappung in Alexander Kluges Erzählungen«, in: Kulturen des Kleinen: Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, hg. von Sabiene Autsch, Claudia Öhlschläger und Leonie Süwelto, Paderborn: Fink 2014, 101–120. Buselmeier, Michael, »Abstürze aus der Wirklichkeit. Alexander Kluge: ›Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe‹«, in: Manuskripte. Zeitschrift für Literatur 53, Nr. 202 (2013), 154–155. Cleene, Arnout de; Elshout, Helena; Martens, Gunther, »Die Aneignung des klassischen Erbes. Alexander Kluges Auseinandersetzung mit dem Bildungsroman«, in: StaatsSachen. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19. Jahrhundert, hg. von Arne De Winde, Heidelberg: Synchron 2014, 99–117. Covindassamy, Mandana, »Mimesis, facts & fakes«, in: Revue Germanique Internationale 22 (2015), Themenheft: Mimesis. Perspectives allemandes, 63–78. [Zu literarischen Montagetechniken Kluges und W.G. Sebalds]. Festjens, Thijs; Martens, Gunther, »Dokumentarliteratur zwischen Affekt und Effekt«, in: Grote gevoelens in de literatuur, hg. von Tobias Hermans, Gunther Martens und Nico Theisen, Gent: Academia Press 2015 (Cahier voor Literatuurwetenschap, 7), 43–64 [Darin ein Abschnitt zu »Alexander Kluge: historische Ereignisse als ›Ausdruck von Gefühlslagen‹«, 55–60]. Fischer, Kai, »[Rezension zu] Wolfgang Jacobsen (Hg.): Alexander Kluge/Digne M. Marcovicz: Realismus des Herzens: Texte und Bilder«, in: Medienwissenschaft Rezensionen Nr. 4 (2015). [http://archiv.ub.uni-marburg.de/ep/0002/article/view/4086]. Hahn, Hans-Joachim, »NS-Mediziner in Peter Weiss’ ›Die Ermittlung‹ und Alexander Kluges ›Ein Liebesversuch‹«, in: NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufar-
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
375
beitung nach 1945, hg. von Stephan Braese, Frankfurt/M. / New York: Campus 2015, 215–232. Hoorn, Meike von, »›Es wird gebeten, Luftangriffe auf die Städte Kaschau sowie Preschau zu unternehmen.‹ Alexander Kluges Geschichten für Fritz Bauer«, in: Wege zur Sprache und Literatur. Festschrift anläßlich des 70. Geburtstages von Ladislav Sis#k, hg. von Martina K#sˇov#, Presˇov : Filozofick# Fak. Presˇovskej Univerzity 2013, 95–109. Stephan, Inge, »Kälte als Topos in der Gegenwartsliteratur. Überlegungen zu Texten von Alexander Kluge, Robert Schindel und Elfriede Jelinek«, in: Gegenwartsliteratur. A German Studies Yearbook 14 (2015), 15–34. ! Combrink, »Ein Medium, das die Lichtstrahlen bündelt. Über das Verhältnis zwischen Heinrich von Kleist und Alexander Kluge« (in: AKJ 2: Glass Shards; s. o. unter : Sammelbände). ! Ekardt, »Form der Paraphrase. Umgearbeitete Romantik bei Alexander Kluge« (in: AKJ 2: Glass Shards; s. o. unter : Sammelbände). ! Birkmeyer, »Fährtenleser des organisierten Unglücks. Alexander Kluges Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter im Literaturunterricht« (in: AKJ 2: Glass Shards; s. o. unter : Sammelbände). ! Lecteurs / spectateurs d’Alexander Kluge (enthält mehrere Beiträge zu den literarischen Arbeiten Kluges und deren historischen Aspekten; s. o. unter : Sammelbände).
Publikationen zu den Filmen und zur Filmpolitik Rentschler, Eric, The Use and Abuse of Cinema. German Legacies from the Weimar Era to the Present, New York: Columbia University Press 2015. [Darin u. a. im Kapitel III ›From Oberhausen to Bitburg‹, 169–285, zu Kluge]. ! Buchtaleck, Das Kino des Autorenfilmers A.K. (s. o. unter : Monographien). ! Forrest, Realism as protest (s. o. unter : Monographien). ! Gilbert, Gender in the films of A.K. (s. o. unter : Monographien). ! Seeber, Städtisches Gelände und Stadtlandschaften (s. o. unter : Monographien). ! Sinha, Memory, History, and Trauma in Chris Marker, Alain Resnais, Alexander Kluge, and Mira Nair’s Films (s. o. unter : Monographien). ! Koepnick, »Inside Kluge’s Cosmic Cinema« (in: AKJ 2: Glass Shards; s. o. unter : Sammelbände).
Publikationen zu den Fernsehmagazinen ! Lämmle, »Doing Undoing. Störung, Umordnung und Bewusstmachung – Brüche in Alexander Kluges Fensehformaten« (in: AKJ 2: Glass Shards; s. o. unter : Sammelbände).
376
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
Publikationen zu den DVD- und CD-Editionen Cavazzini, Andrea, »Machines / remonter le temps. Sur Alexander Kluge, ›Id8ologies : Nouvelles de l’Antiquit8‹«, in: Cahiers de GRM, publi8s par le Groupe de Recherches Mat8rialistes, No. 7 (2015). Online-Journal. [https://grm.revues.org/672]. L8ger, Marc James, Drive in Cinema. Essays on Film, Theory and Politics, Chicago (Ill.): University of Chicago Press 2015. [Darin: »Alexander Kluge’s ›News from Ideological Antiquity : Marx – Einstein – Das Kapital‹: A Conversation with Michael Blum and Barbara Clausen«, 119–136]. Wiegand, Laura, The Public Sphere in the Digital Age. An Examination of the Digital Works of Alexander Kluge, Master thesis, Leiden University, Faculty of Humanities 2015. [https://openaccess.leidenuniv.nl/handle/1887/35084]. ! Pieron, »Imagier-lire Le Capital« (in: Lecteurs / spectateurs d’Alexander Kluge; s. o. unter : Sammelbände).
Publikationen zur Theorie Byrne, Liam, »Constructing a socialist community : the Victorian Socialist Party, ritual, pedagogy, and the subaltern counterpublic«, in: Labour history. A journal of labour and social history (Sydney) 108 (2015), 103–122. [Darin zu Negt/Kluges Konzept der ›proletarischen Öffentlichkeit‹]. Cormann, Gr8gory ; Hamers, J8r8my, »Kluge, Adorno et l’indomptable Leni Peickert«, in: Cahiers de GRM, publi8s par le Groupe de Recherches Mat8rialistes, No. 5 (2014). Online-Journal. [https://grm.revues.org/412]. Hottman, Tara, »Message in a Bottle. Alexander Kluge and Oskar Negt’s ›History and Obstinacy‹«, in: Qui Parle. Critical Humanities and Social Sciences 23/2 (2015), 215–227. Mertes, Valentin, »Die Alterität des Eigensinns. Hegel, Negt, Kluge, Brecht«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen, 31. Jg., Heft 67, 2015, Theater – Pädagogik. Ereignis, S. 16–19. Mertes, Valentin; Paninski, Michael, »›Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen‹. Zwei Lektüren zu Oskar Negt und Alexander Kluges ›Geschichte und Eigensinn‹«, in: (K)ein Ende der Kunst. Kritische Theorie – Ästhetik – Gesellschaft, hg. von Brigitte Marschall, Christian Schulte, Sara Vorwalder und Florian Wagner, Wien / Berlin: Lit Verlag 2014, 205–228. Mukherjee, Rahul, Competing Knowledges, Uncertain Futures. A Study of Mediated Technoscience Publics in India, Ph.D. thesis, University of California, Santa Barbara, 2014. [http://www.alexandria.ucsb.edu/lib/ark:/48907/f39 s1p6v]. [Darin zu Medienpraktiken und Wissensproduktion in Zusammenhang mit Kluges Öffentlichkeitstheorie]. Schulte, Christian; Stollmann, Rainer (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld: Transcript 2015, Online-Ressource. [Erstdruck 2005].
Bibliographie zu Alexander Kluge 2015
377
! Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2: Glass Shards (enthält zahlreiche Beiträge zum Themengebiet ›Kluge, Negt und die Kritische Theorie‹; s. o. unter : Sammelbände). ! Streckhardt, »Kluges Konstellationen. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln« (in: Lecteurs / spectateurs d’Alexander Kluge; s. o. unter : Sammelbände). ! Cormann / Hamers, »Le pouvoir des sentiments: Kluge, Adorno, Ferenczi«, (in: Lecteurs / spectateurs d’Alexander Kluge; s. o. unter : Sammelbände).
VIDEOGRAPHIE
Verzeichnis der Kulturmagazine 2015 Zusammengestellt von Beata Wiggen
10 vor 11 TEN TO ELEVEN Zeit ohne Zeit Auf einem Kongress zwischen Wissenschaftlern und Fundamentalisten gibt es Prügel 05. 01. 2015
TEN TO ELEVEN Tosca Melodrama in 3 Akten von Giacomo Puccini an der Staatsoper im Schillertheater in Berlin 12. 01. 2015
TEN TO ELEVEN Die Krim in der Antike Dr. sc. Burkhard Böttger über ein rätselhaftes Königreich am Schwarzen Meer, das 8 Jahrhunderte überdauerte 19. 01. 2015
TEN TO ELEVEN Triumph der Todgeweihten Lissa, Skagerak, Tsushima, Midway : Seekrieg paradox 26. 01. 2015
TEN TO ELEVEN Die Schule des Schwimmens für Herrscher Horst Bredekamp über das ikonografische Bild von Karl dem Großen bis Mao Tse Tung 02. 02. 2015
TEN TO ELEVEN Raumfahrtdesign Innenarchitektur im Outer Space 09. 02. 2015
TEN TO ELEVEN Die schöne Helena Op8ra Bouffe in drei Akten von Jacques Offenbach 16. 02. 2015
TEN TO ELEVEN Geben und Nehmen Hans Leyendecker : Wer entscheidet eigentlich, was unrecht ist? 23. 02. 2015
TEN TO ELEVEN Der große Rossini-Ton Die Sopranistin Marina Rebeka in Rossinis Wilhelm Tell 02. 03. 2015
TEN TO ELEVEN »Die schöne Schläferin im Busch« Ein unbekanntes Melodram von Engelbert Humperdinck 09. 03. 2015
382
Videographie
TEN TO ELEVEN Mit Dynamit und Morgenstern Krieg 1917 in den Alpen 16. 03. 2015
TEN TO ELEVEN Ein Messer ins Herz des Friedens 1618 bis 1648: Alle bastelten an der Aufheizung des Konflikts 23. 03. 2015
TEN TO ELEVEN »Ich war Hitlers Bodyguard« Manfred Pichota berichtet 30. 03. 2015
06. 04. 2015 AUSFALL / OSTERN
TEN TO ELEVEN Jenufa Peter Konwitschny inszeniert Leosˇ Jan#ceks Oper in Augsburg 13. 04. 2015
TEN TO ELEVEN Frühling mit weißen Fahnen Szenen aus der Endzeit 1945 20. 04. 2015
TEN TO ELEVEN Buchhaltung des Terrors Georg Mascolo über Nachrichten aus dem Dunkelfeld des Kalifats 27. 04. 2015
TEN TO ELEVEN Lebertran für den Geist Wladimir Velminski über das Projekt des Neuen Menschen im revolutionären Russland 04. 05. 2015
TEN TO ELEVEN Die Kunst, Konflikte zu beenden Hubertus Hoffmann über sein Buch »Codes der Toleranz« 11. 05. 2015
TEN TO ELEVEN Kooperation im Tierreich Evolutionsforscher Prof. Dr. Reichholf berichtet 18. 05. 2015
25. 05. 2015 AUSFALL / PFINGSTEN
TEN TO ELEVEN Ein Kurier des polnischen Widerstands (1940–44) Jan Karskis gefährliche Reisen 01. 06. 2015
TEN TO ELEVEN Adam Smith auf »Grand Tour« Das Urerlebnis des großen Ökonomen auf seiner Frankreichreise (1764–1766) 08. 06. 2015
TEN TO ELEVEN Der Chefkoch von Waterloo Peter Berling als Schlachtenhelfer Napoleons 15. 06. 2015
TEN TO ELEVEN LOHENGRIN in Leningrad Eine merkwürdige Premiere am 22. Juni 1941! 22. 06. 2015
TEN TO ELEVEN Die zwei ägyptischen Krokodile Primitive Diversity Pictures 29. 06. 2015
383
Verzeichnis der Kulturmagazine 2015
TEN TO ELEVEN Das Paar, das in die Wüste ging Szenen von Hans Neuenfels zu Puccinis Manon Lescaut an der Bayerischen Staatsoper München 06. 07. 2015
TEN TO ELEVEN 1917 – Ein Was-Wäre-Wenn-Jahr 13. 07. 2015
TEN TO ELEVEN CLIVIA Operette von Nico Dostal an der Komischen Oper Berlin 20. 07. 2015
TEN TO ELEVEN Ich war Fassbinders Aufräumer Der Produzent und Biograph des Filmgenies berichtet 27. 07. 2015
TEN TO ELEVEN Mord in der Hochzeitsnacht Szenen aus Donizettis Wahnsinnsoper Lucia di Lammermoor 03. 08. 2015
TEN TO ELEVEN Umgang mit »frozen conflicts« Helmut Kohls Kanzlerberater Horst Teltschick über Realismus an den Ostgrenzen der E.U. 10. 08. 2015
TEN TO ELEVEN Eine Frau, die weiß, was sie will Musikalische Komödie von Oscar Straus 17. 08. 2015
TEN TO ELEVEN Unterwegs nach Ninive Die Bagdad-Bahn 1868–1914 24. 08. 2015
TEN TO ELEVEN »Bombenschrott und Stahltartar« Helge Schneider : »Leider kann man Panzer nicht essen« 31. 08. 2015
TEN TO ELEVEN LA RONDINE Lyrische Komödie (Oper) von Giacomo Puccini 07. 09. 2015
TEN TO ELEVEN Einstürzende Neubauten Konzert der legendären Band im Haus der Kunst München 14. 09. 2015
TEN TO ELEVEN Im Land der schwarzen Berge Martin Sökefeld über Gilgit-Baltistan, das Dach der Welt 21. 09. 2015
TEN TO ELEVEN Liebe als Schwerstarbeit Emma und Eginhard, Oper in 3 Akten von Georg Philipp Telemann für das Gänsemarkttheater Hamburg 28. 09. 2015
TEN TO ELEVEN Am Puls der Reformation Das Auseinanderdriften der Christenheit vor 498 Jahren 05. 10. 2015
TEN TO ELEVEN Ich hatte Lust, mal ein Schiff zu bauen Abschied von Bert Neumann, dem Bühnenbildner, den keiner ersetzt 12. 10. 2015
TEN TO ELEVEN Dinosaurier wachsen ihr Leben lang Prof. Dr. Pfretzschner : Aus der Geschichte der Wirbeltiere 19. 10. 2015
384
Videographie
TEN TO ELEVEN Der wilde Atem der Musik Helge Schneider : »Wenn das Beethoven wüsste!« 26. 10. 2015
TEN TO ELEVEN Lichtpunkt im Nebel des Krieges Auftragstaktik: »Eigenes Urteil und Freiheit der Unterführer, wenn es ernst wird.« 02. 11. 2015
TEN TO ELEVEN LULU Oper in 3 Akten von Alban Berg 09. 11. 2015
TEN TO ELEVEN Das Projekt der Moderne im »Wilden Osten« Die ostchinesische Eisenbahn im Streit zwischen Russland, Japan und China 16. 11. 2015
TEN TO ELEVEN Helge Schneider in der Oper »Das Hohe C ist das Vitamin des Geistes« 23. 11. 2015
TEN TO ELEVEN Das Ballett der Kriegsgründe Prof. Dr. Anuschka Tischer : mit welchen Texten beginnt »höfliche Gewalt« in der Neuzeit? 30. 11. 2015
TEN TO ELEVEN Das Monster und der Protz-Tenor Sylvain Cambreling: »Rigoletto – Musik wie der Blutdruck in einem Körper« 07. 12. 2015
TEN TO ELEVEN Die Flotte der Ming-Kaiser Roderich Ptak: die »maritime Seidenstraße« (von China nach Westen) 14. 12. 2015
TEN TO ELEVEN Der Kaiser, der seine Tochter im Schnee ertappte Helge Schneider als Karl der Große 21. 12. 2015
TEN TO ELEVEN Ein Dichter wie ein Vulkan Portrait von Reinhard Jirgl, BüchnerPreisträger 21. 12. 2015
TEN TO ELEVEN Grand Op8ra = Weltausstellung mit Musik Enrique Mazzola: Meyerbeers Romantische Magie 28. 12. 2015
385
Verzeichnis der Kulturmagazine 2015
News & Stories NEWS & STORIES AIDA Oper in 4 Akten von Giuseppe Verdi am Opernhaus Zürich 07. 01. 2015
NEWS & STORIES Bevor der Mensch die Schrift erfand Hermann Parzinger über sein Buch Die Kinder des Prometheus 14. 01. 2015
NEWS & STORIES Da kam der feuerrote Vogel (DOPPELPROGRAMM) 90 Minuten mit Hannelore Hoger 21. 01. 2015
NEWS & STORIES Guillaume Tell Oper in 4 Akten von Gioacchino Rossini 28. 01. 2015
NEWS & STORIES »So geht das!« Helge Schneider schlägt wieder zu! 04. 02. 2015
NEWS & STORIES Ein Virus, das aus dem Dschungel kam Prof. Dr. med. Alexander S. Kekul8 über Ebola 11. 02. 2015
NEWS & STORIES Aristoteles, Steuermann des Denkens Hellmut Flashar über den zeitlosen Realisten 18. 02. 2015
NEWS & STORIES Die Sache Makropoulos Oper in 3 Akten von Leos Janacek 25. 02. 2015
NEWS & STORIES Die Kinder des Prometheus Die Geschichte der Menschen vor Entstehung der Schrift, 2. Teil: 5 Millionen Jahre Geschichte der Menschheit. 04. 03. 2015
NEWS & STORIES »Ich spritze mein Blut in das Auge des Feindes« Joseph Reichholf: Faszinierendes aus der Evolution von Vögeln und Echsen 11. 03. 2015
NEWS & STORIES MANON LESCAUT Oper in 4 Akten von Giacomo Puccini 18. 03. 2015
NEWS & STORIES Goethe verhindert eine Lynchjustiz Gustav Seibt über den Dichterfürsten bei der Belagerung von Mainz 25. 03. 2015
NEWS & STORIES Die längste Schlacht der Weltgeschichte 300 Tage & 300 Nächte vor Verdun 01. 04. 2015
NEWS & STORIES Im Wartesaal des Lebens Friederike Gräff über die 1.000 Facetten des Wartens 08. 04. 2015
NEWS & STORIES Im Herzen Europas: Die Schweiz Botschafter Tim Guldimann über ein Kernland Europas 15. 04. 2015
NEWS & STORIES Milliarden Jahre Immunität: toll! Nobelpreisträger Prof. Dr. Jules Hoffmann über Kräfte, die das Leben schützen 22. 04. 2015
386
Videographie
NEWS & STORIES Der letzte »normale« Werktag des Dritten Reichs 30. April 1945 29. 04. 2015
NEWS & STORIES »Nicht mal ich bin Stalin« Prof. Dr. Jan Plamper über Emotionsgeschichte und Personenkult 06. 05. 2015
NEWS & STORIES Aufstand der Tuareg Georg Klute zur Theorie der Gewalt in der Wüste 13. 05. 2015
NEWS & STORIES Tote auf Zeitreise Prof. Dr. Albert Zink über Mumien 20. 05. 2015
NEWS & STORIES Sie nannte ihn »Seeräuber« Der Liebesbegriff bei Martin Heidegger und Hannah Arendt 27. 05. 2015
NEWS & STORIES Die Chowanskijs und ihre Mörderbande Modest Mussorgkis Oper Chowanschtschina in Stuttgart 03. 06. 2015
NEWS & STORIES Waterloo Johannes Willms über Napoleons letzte Schlacht 10. 06. 2015
NEWS & STORIES LUCIA DI LAMMERMOOR Oper in 3 Akten von Gaetono Donizetti 17. 06. 2015
NEWS & STORIES Wir schaffen eine neue Welt Bernd Ingmar Gutberlet über gescheiterte Utopien 24. 06. 2015
NEWS & STORIES Ein Märtyrer des Sturm und Drang Jakob Lenz, Oper von Wolfgang Rihm in Stuttgart 01. 07. 2015
NEWS & STORIES Es brennt im Dach des europäischen Hauses Eindrücke auf der Munich Security Conference (MSC) 08. 07. 2015
NEWS & STORIES Berenike, die Königin von Armenien Oper von Niccolk Jommelli in Stuttgart 15. 07. 2015
NEWS & STORIES Die Sonne lud den Mond zu Gast Ulrike Sprenger über Dr. Heinrich Hoffmann 22. 07. 2015
NEWS & STORIES Dicty, der Schleimpilz Nicht Tier, nicht Pflanze, nicht Pilz: eine soziale Amöbe 29. 07. 2015
NEWS & STORIES Parsifal Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov in Berlin 05. 08. 2015
NEWS & STORIES Knotenpunkt im No-Man’s-Land Peter Berling: Utopien kann man nur im Konjunktiv ausdrücken 12. 08. 2015
387
Verzeichnis der Kulturmagazine 2015
NEWS & STORIES Kaviar für die Nase Joachim Willeitner : Die legendäre Weihrauchstraße in Arabien 19. 08. 2015
NEWS & STORIES Amerikas Albtraum Stefan Bierling: Die Geschichte des Irakkriegs 26. 08. 2015
NEWS & STORIES Spielregeln der Natur Sonnenforschung am weltweit größten Untergrundlabor im Gran Sasso 02. 09. 2015
NEWS & STORIES 194 Jahre Hellas Prof. Dr. Ioannis Zelepos: Aus der neueren Geschichte Griechenlands 09. 09. 2015
NEWS & STORIES Tanz ums Goldene Kalb Moses und Aron, Oper von Arnold Schönberg 16. 09. 2015
NEWS & STORIES Mit Kletterseil, Kochlöffel und Trompete Helge Schneider auf dem G7-Gipfel in Elmau 23. 09. 2015
NEWS & STORIES »Neugierig wie ein Biber« Biograph Michael W. Jennings über Walter Benjamin 30. 09. 2015
NEWS & STORIES Jagd auf Mr. »Unbekannt Nr. 1« Ulrike Sprenger über einen Kriminalfall, der Italien erregt 07. 10. 2015
NEWS & STORIES GIULIO CESARE IN EGITTO G. F. Händels beliebtestes Musikdrama an der Komischen Oper Berlin 14. 10. 2015
NEWS & STORIES Blixa Bargeld Der Kopf der »Einstürzenden Neubauten« im Gespräch 21. 10. 2015
NEWS & STORIES Der schnellste Stern der Milchstraße Dr. Dr. Stephan Geier über exotische Himmelskörper 28. 10. 2015
NEWS & STORIES NABUCCO Verdis Große Oper im Passionstheater Oberammergau 04. 11. 2015
NEWS & STORIES Leben in der wilden Urzeit des Planeten Prof. Dr. Dieter Braun: »Die Entstehung der frühen Evolution in Gesteinsporen« 11. 11. 2015
NEWS & STORIES Russland 1917 Helmut Altrichter : »Eine Gesellschaft in Aufruhr« 18. 11. 2015
NEWS & STORIES Die Zeit der fremden Ozeane »Als das Leben sich noch ganz im Wasser abspielte« 25. 11. 2015
NEWS & STORIES Silicon Valley Christoph Keese: »Dynamit aus Geist und Geld« 02. 12. 2015
388
Videographie
NEWS & STORIES Architektur für die Raumfahrt Philipp Meuser : »Zwischen Konstruktivismus und Kosmonautik« 09. 12. 2015
NEWS & STORIES Wer sind eigentlich WIR? Prof. Dr. Karin Mölling: »Wir schwimmen in einem Meer von Viren« 16. 12. 2015
NEWS & STORIES Der Glaube kommt aus dem Hören Volker Leppin: Die protestantische Wende nach 1517 23. 12. 2015
NEWS & STORIES Evita »Santa« Perjn Eine Frau mit starkem Charisma 30. 12. 2015
Siglen
Siglen für die literarischen und theoretischen Hauptwerke Alexander Kluges seit 2000 CdG DuM DL TaT GvK DfB 30. Apr. KgS
= Chronik der Gefühle, 2 Bde., Frankfurt/M. 2000 = Der unterschätzte Mensch, 2 Bde., Frankfurt/M. 2001 = Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. 2003 = Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt/M. 2006 = Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007 = Das fünfte Buch, Berlin 2012 = 30. April 1945 – Der Tag an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann, Berlin 2014 = Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Berlin 2015
390
Siglen
Autorinnen und Autoren
Herbert Achternbusch 1938 in München geboren, im Bayerischen Wald aufgewachsen, studierte Malerei an der Kunstakademie in Nürnberg und nahm diverse Gelegenheitsjobs an. 1969 erschien sein erster Roman, Die Hülle, 1974 sein erster Langfilm, Das Andechser Gefühl. Seine Arbeiten als Maler, Filmemacher und Schriftsteller sind Teile seines großen Lebensromans. Der preisgekrönte Universalkünstler wurde 2007/2008 mit der Ausstellung »Das Ich ist ein wildes Tier« in der Münchner Monacensia geehrt. Dirk Baecker ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Zuletzt erschienen: Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie (2013), Neurosoziologie: Ein Versuch (2014) und Kulturkalkül (2014), Wozu Theorie: Aufsätze (2016). Andreas Becker Dr. phil., Assistant Professor an der Keio¯-Universität To¯kyo¯, Faculty of Letters. Promotion am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der GoetheUniversität Frankfurt/M.; dort von 2007 bis 2014 wiss. Mitarbeiter. 2014 bis 2016 Leiter des DFG-Projekts Yasujiro¯ Ozu und der westliche Film. Arbeitsgebiete: Japanischer und westlicher Film, Zeitdarstellung im Film, komparative Ästhetik und Phänomenologie des Films. Aktuelle Veröffentlichungen: Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm (2012); Körperinszenierungen im japanischen Film, hg. mit Kayo Adachi-Rabe (2016, im Erscheinen). Private Homepage: www.zeitrafferfilm.de. Jens Birkmeyer geb. 1957. Dr. phil, seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Literaturwissenschaft, Literatur- und Filmdidaktik am Germanistischen Institut der Universität Münster. Forschungsfelder : Literatur des 20. Jahrhunderts, Literarische
392
Autorinnen und Autoren
Repräsentationen des Holocaust, Bildungstheorie, Kritische Theorie und Kulturwissenschaft. Letzte Veröffentlichungen: »Ermöglichungen. Wodurch kann Literaturunterricht Orientierung gewinnen?«, in: Werner Wintersteiner (Hg.), Die Ansprüche der Literatur und deren Herausforderung für den Literaturunterricht (2016); »Fährtenleser des organisierten Unglücks. Alexander Kluges ›Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter‹ im Literaturunterricht«, in: Richard Langston u. a. (Hg.), Glass Shards. Echoes of a Message in a Bottle. (=Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2, 2015). Thomas Combrink geb. 1976. Literaturwissenschaftler und Mitarbeiter von Alexander Kluge. Veröffentlichungen von Aufsätzen, Rezensionen und Interviews; als Herausgeber u. a.: Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (2014); als Autor : Sammler und Erfinder. Zu Leben und Werk Helmut Heißenbüttels (2011). Georges Didi-Huberman Philosoph und Kunsthistoriker, unterrichtet an der Pcole des Hautes Ptudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Er ist Träger des Hans-Reimer-Preises der Aby-Warburg-Stiftung und war Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKK) in Weimar. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: Bilder trotz allem (2007) und der mehrbändige Zyklus Das Auge der Geschichte (2011ff.) Jean-Pierre Dubost ist emeritierter Professor für Allgemeine und Vergleichende Literatur an der Universit8 Blaise Pascal in Clermont-Ferrand (Frankreich). Seine letzten zwei Publikationen: Hg. mit Axel Gasquet, Orientalismos europeos e intercambios culturales y literarios entre America Latina y Oriente: divergencias y afinidades (= El-Irf.n, Nr. 1, 2016); »Alexander Kluge: D8monter et remonter le textimage de l’histoire«, in: Jean-Pierre Esquenazi u. a. (Hg.), Entre textes et images: Montage, d8montage, remontage, (= textimage, März 2016), http://revue-textimage.com/conferencier/sommaire.htm. Julia Haugeneder studiert an der Akademie der bildenden Künste Wien (Klasse für Grafik und Druckgrafik) und ist Doktorandin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Michael Jennings the Class of 1900 Professor of Modern Languages in the Department of German
Autorinnen und Autoren
393
at Princeton University, focuses his teaching and research on European culture in the twentieth century. He is the author of two books on Walter Benjamin: Dialectical Images: Walter Benjamin’s Theory of Literary Criticism (1987) and, with Howard Eiland, Walter Benjamin: A Critical Life (2014). He also serves as the general editor of the standard English-language edition of Benjamin’s works, Walter Benjamin, Selected Writings (four volumes, 1996ff.) He is currently at work on two book projects: a critical biography of Alexander Kluge and a study of the German photo-essay in the twentieth century. Lisa Kammann ist Doktorandin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Dissertationsprojekt zu Alexander Kluge. 2008/09 Mitarbeit als Regieassistentin bei verschiedenen Theaterprojekten in Vorarlberg. Diverse Rezensionen. Alexander Kluge geb. 1932 in Halberstadt. Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt am Main; promovierte 1956 über Die Universitäts-Selbstverwaltung zum Dr. jur. Er wurde juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Vertrauter von Theodor W. Adorno. Nach einem Volontariat bei Fritz Lang 1958 arbeitete Kluge als Filmemacher und erhielt 1966 für Abschied von gestern als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig. Ab 1962 trat Kluge mit Bänden wie Lebensläufe und Schlachtbeschreibung als Schriftsteller hervor. Lesungen bei der Gruppe 47. Mit Oskar Negt verfasste er ein umfangreiches theoretisches Werk. Seit 1988 führt er das Konzept des »Kinos der Autoren« mit Kulturmagazinen im Privatfernsehen fort. Er erhielt zahlreiche Preise für sein Filmschaffen und seine Literatur, zuletzt den Georg-Büchner-Preis (2003), den Theodor-W.-Adorno-Preis (2009), den Adolf-Grimme-Preis (2010) und den Heinrich-Heine-Preis (2014). Valentin Mertes Assistent am Institut für Theater,– Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Dissertationsprojekt zu Alexander Kluge. Publikationen: »›Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können‹: Eigensinn und Verfahren der Distanzierung in Alexander Kluges Film Vermischte Nachrichten«, in: Richard Langston u. a. (Hg.), Vermischte Nachrichten. (=Alexander Kluge Jahrbuch Bd. 1, 2014). »Die Alterität des Eigensinns. Hegel, Negt, Kluge, Brecht«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen, Heft 67 (2015).
394
Autorinnen und Autoren
Vincent Pauval lehrte von 2006 bis 2013 zunächst deutsche Sprache und Literatur, anschließend Komparatistik an der Universit8 Blaise Pascal in Clermont-Ferrand. Dort organisierte er 2012 das Kolloquium »Alexander Kluge et la France – Pour une lev8e en masse de la narration«. Seine Forschung ist in weiten Teilen dem Werk Alexander Kluges gewidmet. Als Herausgeber der französischen Fassung von Alexander Kluges gebündeltem Erzählwerk, welches seit 2016 unter dem Gesamttitel Chronique des sentiments beim Pariser Verlag P.O.L erscheint, hat er auch maßgeblichen Anteil an dessen Übersetzung. Barbara Potthast ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart; ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind das 19. Jahrhundert, die Aufklärung, Geschichtsliteratur, die deutsche Nachkriegskultur. Publikationen u. a.: Hg. mit Hans-Edwin Friedrich, Rühmkorfs Lyrik (2015), Hg., Christian Friedrich Daniel Schubart – Das Werk (2016). Edgar Reitz ist Filmemacher, Autor und Hochschullehrer. Seit Mitte der fünfziger Jahre literarische Arbeiten. Ab 1957 Kameramann und Regisseur von Industriefilmen und Dokumentarfilmen. Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests. Gründung des Instituts für Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung Ulm; dort lehrte Reitz acht Jahre lang Regie und Kamera. Ab Mitte der sechziger Jahre Beteiligung an filmpolitischen Gemeinschaftsaktionen des Neuen Deutschen Films. Seit 1994 Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Rolf G. Renner bis 2010 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Freiburg i.Br., Profesor honorario Universidad de Guadalajara/Mex., zahlreiche Gastprofessuren in den USA, Australien, Neuseeland, Argentinien, Brasilien und Mexiko. Zuletzt erschienen: »9/11. Interpretation des Desasters als Desaster der Interpretation«, in: ders. u. a. (Hg.), Intermedialität und Alterität, Migration und Emigration. Tendenzen der deutschsprachigen Literatur (2014). »Von der Westfront zum Kaukasus. Ernst Jüngers Kriege«, in: Werner Frick u. a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Künste (2016). Stefanie Schmitt ist Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, Redakteurin für Maske und Kothurn sowie rezens.tfm und als Inspizientin am Burgtheater tätig. Jüngste Publikationen: Chiffre »Ober-
Autorinnen und Autoren
395
hausen«. Suchbewegungen zwischen Ästhetik, Politik und Utopie des Neuen Deutschen Films (hg. mit Christian Schulte u. a. 2016) und »Das Hekuba-Rätsel. Theater und Neurowissenschaft«, in: Maske und Kothurn, Heft 3–4 (2015). Christian Schulte Professor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen, u. a. zu Alexander Kluge. Winfried Siebers geb. 1957. Dr. phil., Studium der Literatur- und Medienwissenschaft sowie der Geschichte in Osnabrück, Promotion 1998, seit 2005 wiss. Mitarbeiter am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Lehrtätigkeit an den Universitäten Osnabrück, Potsdam und Wien. Letzte Publikationen: Hg. mit Christian Schulte, Figuren der Erinnerung. Studien zum Werk W. G. Sebalds (2013); »Alexander Kluge und die Frühe Neuzeit«, in: Cahiers d’8tudes germaniques, No. 69 (2015). Ulrike Sprenger hat Romanistik, Germanistik und Anglistik in München und Bologna studiert, seit 2005 ist sie Professorin für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Seit 1993 ist sie regelmäßig Interviewpartnerin in Alexander Kluges Kulturmagazinen zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Themen. Zuletzt erschienen von ihr : Stehen und Gehen. Prozessionskultur und narrative Performanz im Sevilla des Siglo de Oro (2013); »Versailles – höfische Spielräume«, in: Jörg Dünne u. a. (Hg.), Handbuch Literatur & Raum (2015); »Wachsrezepte. Überlegungen zur aufklärerischen Wissensweitergabe am Beispiel Diderots«, in: Stephanie Kleiner u. a. (Hg.), Geteilte Gegenwarten. Kulturelle Praktiken von Aufmerksamkeit (2015). Bernard Stiegler Leiter der Abteilung »Kulturelle Entwicklung« (Institut de recherche et d’innovation, IRI) im Centre Georges Pompidou. Davor war er wissenschaftlicher Leiter am CollHge international de philosophie (Internationales Kolleg für Philosophie), Professor und Leiter der von ihm 1993 gegründeten Forschungsgruppe »Wissen, Organisationen und technische Systeme« (COSTECH) an der Technischen Universität von CompiHgne (UTC). Auf Deutsch erschienen u. a.: Technik und Zeit. Die Schuld des Epimetheus (2009), Denken bis an die Grenzen der Maschine (2009), Hypermaterialität und Psychomacht (2010). Rainer Stollmann geb. 1947. Bis 2012 Professor für Kulturgeschichte an der Universität Bremen.
396
Autorinnen und Autoren
Publikationen u. a.: »Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung«. Aus der Geschichte des Lachens (2010), Ferngespräche. Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft (Gespräche mit Alexander Kluge, 2016). Matthias Uecker ist Professor of German an der University of Nottingham. Forschungsschwerpunkte sind die Kultur der Weimarer Republik, Film- und Mediengeschichte. Letzte Veröffentlichungen: Performing the Modern German. Performance and Identity in Contemporary German Cinema (2013), »Organisierender oder universaler Intellektueller? Zu Alexander Kluges Medienarbeit«, in: Carsten Gansel u. a. (Hg.), Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 (2016), »Icons of Speed – Icons of Crisis: Acceleration Effects in Weimar Culture«, in: Anne Fuchs, u.a (Hg.), Time in German Literature and Culture, 1900–2015: Between Acceleration and Slowness (2016). Dorothea Walzer arbeitet als Literaturwissenschaftlerin in Berlin und Bochum. Sie beendete 2015 ihre Dissertation mit dem Titel Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nachdem sie an der HU Berlin und der FU Berlin gelehrt und das Archiv für Mediengeschichte 2014 und 2015 redaktionell betreut hat, arbeitet sie seit 2015 am Institut für Germanistik der Ruhr-Universität Bochum. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf Gebrauchsformen von Medien, auf dokumentarische Formen und den Nexus von Literatur und Geschichte; ihr Habilitationsprojekt untersucht das Interview als Medium der Literatur. Beata Wiggen ist zuständig für die komplette Programmlogistik der Kulturmagazine (Planung, Dispo, Presse, Gema, Archiv) und die Öffentlichkeitsarbeit der dctp. Sie studierte Psychologie (B.A.) in den USA, machte erste Erfahrungen im Printbereich (Produktion, Anzeigenverkauf) in den USA und Hannover. 1988 war sie Frau der ersten Stunde im noch kleinen Düsseldorfer Büro der dctp. Neben ihrer Arbeit für Alexander Kluge engagiert sie sich seit vielen Jahren für moderne Kunst und Künstler aus Nepal und blogt zum Thema unter www.theartofen-couraging.com. Florian Wobser ist Lehrbeauftragter für Philosophie und ihre Didaktik (an der Universität Rostock) sowie Gymnasiallehrer für die Fächer Philosophie und Deutsch (in Berlin). Er arbeitet an einer medienbildungstheoretischen und fachdidaktischen
Autorinnen und Autoren
397
Promotion mit dem Arbeitstitel »Interviews und audiovisueller Essayismus Alexander Kluges«. Publikationen: »›Vermutlich gibt es Parallel-Universen‹ – Audiovisuelle Essays von Alexander Kluge im Philosophieunterricht«, in: Hanno Depner (Hg.), Visuelle Philosophie (2015), »Das Werk Alexander Kluges lesen/schauen/hören/spüren – audiovisuelle Montagen als Movens eines ästhetischen Bildungsprojekts«, in: Gr8gory Cormann u. a. (Hg.) Lecteurs/Spectateurs d’Alexander Kluge (= Cahiers d’Ptudes Germaniques, No. 69, 2015/2).