Offenbarung und Überlieferung: Neue Möglichkeiten eines Dialogs zwischen der orthodoxen und der evangelisch-lutherischen Kirche 9783666562464, 9783525562468


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Offenbarung und Überlieferung: Neue Möglichkeiten eines Dialogs zwischen der orthodoxen und der evangelisch-lutherischen Kirche
 9783666562464, 9783525562468

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Viorel Mehedintu Offenbarung und Überlieferung

VIOREL M E H E D I N T U

Offenbarung und Überlieferung Neue Möglichkeiten eines Dialogs zwischen der orthodoxen und der evangelisch-lutherischen Kirche

ι mi ΐί , 1 VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink, Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 4 0

MEINER FRAU

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Mehedintu, Viorel: Offenbarung und Überlieferung neue Möglichkeiten e. Dialogs zwischen d. orthodoxen u. d. evang.-luther. Kirche / Viorel Mehedintu. - Göttingen Vandenhoeck und Ruprecht, 1980. (Forschungen

zur

systematischen

und

ökumenischen

Theologie ; Bd. 4 0 ) ISBN 3 - 5 2 5 - 5 6 2 4 6 - 2

© Vandenhoeck Sc Ruprecht 1 9 8 0 - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz: Satzstudio Frohberg, Freigericht/ Homberg. Druck- und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Geht man von dem ersten Dialog zwischen der orthodoxen und der evangelisch-lutherischen Kirche im 16. Jahrhundert aus, und stellt man sich die Frage, wie weit man inzwischen von einem Fortschritt in der theologischen Vertiefung und Ausarbeitung der zwischen den beiden Kirchen zur Diskussion stehenden Fragen sprechen kann, die damals wegen der beidseitigen mangelnden Sachkenntnis zum Abbruch der Gespräche führten, so wird man zu der Feststellung gelangen, daß der Dialog noch im Anfangsstadium steckt. Diese Feststellung übersieht nicht, daß das Interesse aneinander und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, gestiegen sind. Ebenfalls werden bei dieser Beurteilung die in einigen Fragen erfolgten wertvollen Untersuchungen berücksichtigt, die manche Probleme in einem neuen Licht erscheinen lassen und einige überlieferte Vorurteile korrigieren. Die Entwicklung, die sich in der letzten Zeit vollzogen hat, ist zwar als positiv zu verzeichnen, reicht aber noch nicht aus, um von einem entscheidenden Durchbruch in den beidseitigen Beziehungen zu sprechen, und berechtigt wohl noch nicht dazu, von einem wesentlichen theologischen Fortschritt zu sprechen, der die erste Phase der Annäherung und des gegenseitigen Kennenlernens überschritten hätte, um dann zu den Kernpunkten des orthodoxevangelischen Dialogs vorzustoßen. Über dieses Stadium hinaus weisen auch nicht die gelegentlich und nicht mit der ganzen Orthodoxie geführten theologischen Gespräche, die zum Teil immer noch nicht jene Tiefe erreicht haben, die ins Zentrum der dogmatischen Lehre beider Kirchen führt, von dem aus die einzelnen Fragen umgreifender und in sich motivierter beleuchtet werden können. Um dem Dialog zu einem entscheidenden Durchbruch zu verhelfen, würden sich zum Gegenstand des Dialogs eher zentrale dogmatische Themen eignen als vereinzelte oder Randprobleme, die phänomenologisch angegangen werden, bei deren Behandlung man bestenfalls zu einem Katalog der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den betreffenden Fragen gelangt, ohne daß man diese weiter verarbeitet, um aus gründlicher Sachkenntnis und Quellenforschung jenseits alter Vorurteile ein neues Verständnis beider Kirchenlehren zu gewinnen. Dabei wird man zu beachten haben falls ein solches Vorhaben jeweils von der Gegenseite unternommen wird — um sich die Lehren der sich im Dialog befindlichen Kirchen zu erschließen, daß das eigene Verständnis deren Lehre nicht immer gerecht wird, wenn man sie aus der Perspektive der eigenen Kirchenlehre betrachtet. Viel aussichtsreicher für den ökumeni5

sehen Dialog wäre es, wenn man den Partner aus dem Kontext dessen Lehre und kirchlichem Leben heraus kennenzulernen und zu verstehen versuchte. Man sollte die Fähigkeit entwickeln, sich in das Zentrum des kirchlichen Geschehens des Dialogspartners zu versetzen, und dort das Heilsereignis mitzuerleben. Hinter dieser Überlegung steht nicht der Gedanke, daß auf diese Weise des Erlebens und der Erfahrung die Lehrunterschiede übersprungen oder gering geachtet werden, sondern das Bestreben, von der Mitte der erlebten und geglaubten Lehre auszugehen, die wohl in ihrer dynamischen und lebendigen Wirklichkeit mehr ist als die Zusammenfassung der einzelnen Lehren. Die Lehre der Kirche offenbart sich mehr und auch anders in ihrem Lebensvollzug, als sie formuliert und in Begriffe zusammengefaßt aussagt. Deshalb sollte eine Begegnung der Kirchen nicht nur in ihren Lehren stattfinden. Die Lehre als Zusammenfassung und Darstellung des Glaubens deckt sich nicht mit dessen Ereignis. Es ist notwendig, daß wir in unserem Dialog nicht nur die Lehren unserer Kirchen gegenseitig kennenlernen, und sie nicht nur miteinander vergleichen, sondern daß wir auch von der konkreten Wirklichkeit des Glaubensvollzuges unserer Kirchen ausgehen. Der erlebte Glaube kann die Lehre glaubhafter machen als die Lehre allein es vermag. Eine intensivere Begegnung der abendländischen Christenheit mit der orthodoxen Kirche hat sicherlich neben der theologischen Forschung auch dazu geführt, daß das Bild der Orthodoxie im protestantischen Verständnis eine Wandlung erfahren hat (siehe E. Schlink, Wandlungen im protestantischen Verständnis der Ostkirche). Vielleicht ist nicht allein die orthodoxe theologische Forschung daran schuld, daß das Bild von der evangelischen Kirche im orthodoxen Verständnis im Vergleich zu früheren Auffassungen und Darstellungen nur zu gering und allzu langsam korrigiert wurde, wobei eine intensivere Beschäftigung und an den Quellen orientierte Untersuchung der evangelisch-lutherischen Lehre im orthodoxen Raum gerade für den Dialog mit dieser Kirche dringend und wünschenswert wäre. Nur durch eine gründliche theologische Untersuchung der Glaubenslehren beider Kirchen wird man den Dialogpartner nicht nur besser kennenlernen, sondern möglicherweise auch feststellen können, daß das, was man als Unterschied zu der eigenen Lehre betrachtete, nicht eo ipso auch als Gegensatz gilt. Durch eine vertiefte Erkenntnis und redliche Auseinandersetzungen mit den Glaubensgrundsätzen unseres Gesprächspartners wird es möglich, jene eventuell schon vorhandenen, aber noch nicht erkannten Gemeinsamkeiten oder Annäherungspunkte zu entdecken, die zu dem gemeinsamen Fundament unseres Glaubens gehören. Es darf nicht übersehen werden, daß im ökumenischen Dialog eine intensivere theologische Arbeit erfolgt ist, als man sie auf Grund eigener interner theologischer Bedürfnisse und motivierter Selbstbefragung erzielt hätte. So wurden die Theologen genötigt, jene Aspekte besonders 6

herauszuarbeiten, die von dem ökumenischen Partner als dessen Lehre kennzeichnenden Merkmale direkt oder indirekt als Frage an die Theologie des anderen herangetragen wurden. S o wurde die orthodoxe Theologie zum Beispiel durch den protestantischen Partner des Dialogs veranlaßt, sich nach dem biblischen Gehalt ihrer Tradition und ihres Gottesdienstes zu fragen, genauso wie die evangelische Theologie sich darauf besann, welche Bedeutung nach ihrem Verständnis der Tradition zukommt. Auf diese Weise konnten mehr Gemeinsamkeiten untereinander entdeckt werden — auch wenn Unterschiede noch vorhanden sind —, als ohne diesen ökumenischen Anlaß. Es wäre zu wünschen, daß die guten gegenwärtigen Beziehungen zwischen unseren Kirchen nicht nur eine Sache persönlicher K o n t a k t e bleiben oder von einer Zusammenarbeit getragen werden, die eher andere Beweggründe und Ziele hat, als daß sie sich auf fruchtbare und ausdauernde theologische Untersuchungen und Ergebnisse gründet. Wenn man dem theologischen Dialog ausweicht und stattdessen einem sozialpolitischen Engagement den Vorrang gibt, weil bekanntlich auf dieser Ebene eine Verständigung leichter zu erreichen ist, dann könnte wiederum noch viel Zeit vergehen, bis man im theologischen Dialog einen Schritt weitergekommen ist. Wird der dogmatische Dialog durch die Durchführung sozialpolitischer Programme ersetzt oder verdrängt (deren Notwendigkeit in sich hier nicht in Abrede gestellt wird), erreicht man auf diese Weise eine Verbesserung der äußeren Verhältnisse, die die Kluft im dogmatischen Bereich nur verdeckt, während man weiterhin im Verständnis des Glaubens voneinander entfernt bleibt. J e schwieriger die Probleme sind, die wir miteinander zu besprechen haben, desto mehr sollten wir um deren Lösung ringen, statt sie erfinderisch zu umgehen, oder unsere Aufmerksamkeit auf andere Ziele zu richten, indem wir unser Gewissen mit der vagen Hoffnung zu beruhigen versuchen, daß die dabei erzielte Annäherung sich auch eventuell günstig auf das Klima der späteren theologischen Gespräche auswirken würde. Die ökumenische Arbeit scheint in ihren Auswirkungen dadurch beeinträchtigt zu sein, daß ihre Ergebnisse nicht in das Leben der Kirchen einfließen, sondern daß diese mehr oder weniger nur den Kreis der Theologen beschäftigen; auf diese Weise wird eine Annäherung der Gemeinden verschiedener Konfessionen nicht erreicht. Diese Arbeit, deren T h e m a von meinem Bukarester Professor Dr. D. Staniloae angeregt wurde, ist im Rahmen des von Herrn Professor D. Dr. E. Schlink D.D. gegründeten und geleiteten ökumenischen Instituts, Heidelberg, entstanden, in dem ich eine erstaunlich reichhaltige orthodoxe Literatur vorfand. Ihr ursprünglicher Umfang wurde für den Druck leicht reduziert. Da mir für das Zustandekommen dieser Arbeit die ständige Unterstützung und die fördernde Betreuung meines verehrten Doktorvaters, 7

Herrn Professor E. Schlink, zuteil wurde, bei dem ich über die Probleme der Arbeit hinaus jederzeit auch große persönliche Anteilnahme fand, möchte ich ihm an dieser Stelle besonders herzlich danken. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. R. Slenczka, dem Korreferenten dieser Studie, von dem ich sachkundigen Rat empfangen und bei dem ich lebhaftes Interesse gefunden habe. Für die Möglichkeit, mich näher und an Ort und Stelle mit dem Studium der protestantischen Theologie befassen zu können, bin ich meinem sehr geschätzten rumänischen Professor D. Staniloae zu großem Dank verpflichtet. Dem ökumenischen Rat der Kirchen verdanke ich ein Stipendium, das mir das Studium der evangelisch-lutherischen Theologie und die Anfertigung der Arbeit ermöglichte. Meine theologische Forschung an der Universität Heidelberg wurde zum großen Teil durch ein großzügiges Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung möglich gemacht, der ich hier meinen besonderen Dank aussprechen möchte. Mit Dank sei auch meine Frau erwähnt, die mir durch ihre unermüdliche und aufopfernde Korrektur- und Schreibarbeit sehr geholfen hat. Die Veröffentlichung dieser Arbeit wäre ohne die substantielle Druckkostenbeihilfe des ökumenischen Forschungsfonds des Deutschen ö k u menischen Studienausschusses und der Alexander von Humboldt-Stiftung nicht möglich gewesen.

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Inhalt

Vorwort

5

Abkürzungen

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Zur Absicht und M e t h o d e der Untersuchung

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TEIL I Der Geschichts- und Geschehenscharakter der Offenbarung I.

Offenbarung und Geschichte 1. Begriffsbestimmung und Zusammengehörigkeit von Historie und Geschichte als Gegenwärtigkeit der Offenbarung 2. Transzendenz und Geschichte im Prozeß der Offenbarung 3. Die Einheit und die Kontinuität der Offenbarung 4. Die Offenbarung als T a t und Wort Gottes . . 5. Die Gemeinsamkeit und der Unterschied zwischen Offenbarung und Geschichte

II.

O f f e n b a r u n g als g e g e n w ä r t i g e s u n d p e r s o n a l e s G e s c h e h e n A)

B)

A)

19 37 45 48 53 56

W o r t u n d S a k r a m e n t in d e r e v a n g e l i s c h e n T h e o l o g i e

57

1. 2. 3. 4.

57 62 71

Pneumatischer Geschehenscharakter des Wortes Das reformatorische Sakramentsverständnis Glaube und Sakrament . Das Verhältnis zwischen Wort und Sakrament in der neueren evangelischen Theologie

73

S a k r a m e n t u n d W o r t in d e r o r t h o d o x e n T h e o l o g i e

82

1. Das Sakramentsverständnis in der orthodoxen Theologie 2. Die Zusammengehörigkeit der eucharistischen Anamnese und Epiklese . 3. Die K o m m u n i o n des Wortes G o t t e s

82 87 94

D a s p e r s o n a l e O f f e n b a r u n g s v e r s t ä n d n i s in d e r evangelischen Theologie 1. Personale Anrede Gottes und Antwort des Menschen 2. Seinhaftes und aktualistisches Offenbarungsverständnis

B)

19

98 100 102

Das Offenbarungsverständnis aus d e r Sicht d e r orthodoxen Theologie

108

1. Die trinitarische und christologische Bestimmung des Personverständnisses

110

9

2. Die personale Struktur des Gottesdienstes als Wirkungsbereich des Heiligen Geistes und die Theologie . 3. Personales Offenbarungsverständnis in der neueren orthodoxen Theologie

Zusammenfassung

114 122

128

T E I L II

Die Tradition I.

Die Tradition aus der Sicht der evangelischen Theologie 1. Kritik und Zustimmung der Reformation in Bezug auf die Tradition a) Luther b) Melanchton c) M. Chemnitz d) J . G e r h a r d . 2. Neubesinnung auf das Problem der Tradition in der zeitgenössischen evangelischen Theologie a) Die gegenseitige Bezogenheit von Evangelium und Tradition b) Einheit und Unterschiedlichkeit von Evangelium und Tradition c) Die Autorität der Schrift gegenüber der nachapostolischen kirchlichen Tradition α) Die Schrift als Urzeuge der apostolischen Botschaft und ihr innerer Bezug zur Tradition . . ß ) Die Schrift als Norm der Tradition γ ) Die Tradition als Glaubensantwort der Kirche auf das Wort der Schrift: Schriftauslegung und Bekenntnis d) Zusammenfassung

II. Das Traditionsverständnis in der orthodoxen Theologie 1. Tradition als Mitteilung der Offenbarung 2. Schrift und Tradition in der alten Kirche . 3. Die Überprüfung des Traditionsverständnisses in der orthodoxen Theologie . . a) Die Überwindung des Traditionsverständnisses als Ergänzung der Schrift . . . . b) Die Tradition als Auslegung der Schrift. Die dogmatische Tradition als Norm der Auslegung 4. Tradition und Geist . . . . . . a) Der liturgisch-sakramentale und charismatische Charakter der Tradition . . b) Die Tradition als Faktor der Kontinuität und der Erneuerung in der Kirche 5. Der Zusammenhang und der Unterschied zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition . 6. Die Zusammengehörigkeit und Verhältnisbestimmung von Schrift und Kirche 7. Zusammenfassung

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131 131 132 147 156 162 165 168 174 184 184 189 195 211

214 215 219 237 238 248 255 255 267 276 288 301

TEIL III

ökumenische Perspektiven 1. 2.

Die Bedeutung des Briefwechsels zwischen den Tübinger Theologen und dem Patriarchen Jeremias II in Bezug auf Schrift und Tradition . Auswertung und Ergebnisse. Die erreichten Ubereinstimmungen und die noch bestehenden Unterschiede . . . . . . a) Die Zustimmung zu der theologischen Bedeutung der Tradition in der evangelischen Theologie und die Geltung eines Schriftprinzips in der orthodoxen Theologie ... . . . . b) Die Untrennbarkeit von Schrift und Kirche und die ekklesiologische Bedeutung der Schrift ... . . c) Die Autorität der Tradition als Norm der Auslegung d) Über die Bedeutung der Traditionen

Literaturverzeichnis

305 316

321 329 33 1 339

346

11

Abkürzungen Apol AS CA CR EcRev EvTh GK KuD KK LR MP G MPL NZStTh ökumRs RGG ThLZ ThWNT WA ZThK

Apologie der CA Schmalkaldische Artikel Confessio Augustana Corpus reformatorum Ecumenical Review Evangelische Theologie Großer Katechismus Kerygma und Dogma Kleiner Katechismus Lutherische Rundschau Migne Patrologia Graeca Migne Patrologia Latina Neue Zeitschrift für systematische Theologie ökumenische Rundschau Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3 Aufl. Theologische Literaturzeitung Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Weimarer Ausgabe der Werke Luthers Zeitschrift für Theologie und Kirche

Anmerkungen Die Zitate aus den rumänischen Abhandlungen wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt wie auch die Titel der verwendeten Arbeiten. Der der deutschen Ubersetzung folgende Vermerk (rum.) weist darauf hin, daß die betreffenden Arbeiten in rumänischer Sprache erschienen sind. Es handelt sich vorwiegend um Aufsätze, die in folgenden Bukarester theologischen Zeitschriften veröffentlicht wurden: Ortodoxia, Revista Patriarhiei Romîne und Studii Teologice (Theologische Studien), Revista Institutelor Teologice din Patriarhia Romina.

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Z U R A B S I C H T UND M E T H O D E D E R U N T E R S U C H U N G

Das Problem der Tradition gehört zweifellos zu den zentralen Themen des Dialogs zwischen der evangelischen und der orthodoxen Kirche, und ihre Bedeutung hängt mit der für beide Kirchen wichtigen Fragen nach der Vergegenwärtigung des historisch-einmaligen Offenbarungsgeschehens zusammen. Da die Tradition nicht eine unabhängige Größe ist, wird sie besser verstanden, wenn sie nicht in sich, sondern in Bezug auf die Offenbarung betrachtet wird, auf die sie als auf ihren Oberbegriff zurückzuführen ist. Von ihrer sachlichen Verbindung mit der Offenbarung, auf der auch ihre Funktion in der Kirche begründet ist, erschien es unerläßlich, die Tradition im Zusammenhang mit dieser darzustellen. Dies erwies sich als um so notwendiger bei der Berücksichtigung der Tatsache, daß das Traditionsverständnis von dem der Offenbarung geprägt und bestimmt ist. Bei der Darstellung des Offenbarungsverständnisses wird darauf geachtet, daß vor allem jene Aspekte behandelt werden, die in einem engen kausalen Zusammenhang mit dem Traditionsverständnis stehen und von daher geeignet sind, auf dieses in seinem Vorverständnis ein Licht zu werfen. Wenn die Tradition nicht als in sich abgeschlossen, sondern von ihrem Bezug auf die Offenbarung her aufgefaßt wird, so wird auch die Offenbarung in ihrer Ausrichtung auf die Tradition gesehen. Außerdem werden im allgemeinen jene Aspekte aufgegriffen, die wesentlich für die evangelische und orthodoxe Auffassung sind und somit j e d e der beiden Positionen im Gegenüber zu der anderen zum Ausdruck bringen. Die Behandlung sowohl der Offenbarung als auch der Tradition wäre ohne die Berücksichtigung ihres geschichtlichen Charakters nicht möglich, da beide geschichtliche Größen und mit der Geschichte in vielfältiger Weise verflochten sind. Die Erweiterung des Themas auch auf die Geschichte hängt eng mit dem Verständnis der Offenbarung als einem einmaligen Ereignis und als Gegenwartsgeschehen zusammen. Dem gegenwärtigen Geschehen geht das einmalige Ereignis voraus, auf dem es beruht. Dieser Grundsatz liegt der dargestellten Auffassung von Offenbarung und Überlieferung zugrunde. Auf die Geschichte wird nur soweit eingegangen, wie sie für die Bestimmung der Offenbarung und der Tradition von Belang ist. Angesichts der uneinheitlichen Begriffsbestimmung, was die Unterscheidung zwischen der ein für allemal geschehenen Heilstat Gottes in Christus und deren immer neuen Vergegenwärtigung betrifft, ist es notwendig, eine Klärung vorauszuschicken. Man verwendet innerhalb der evangelischen Theologie hierzu die Begriffe historisch und geschichtlich, doch ist ihre Bestimmung nicht eindeutig und streng durchgeführt, sodaß Mißverständnisse ausgeschlossen wären. Um diese zu vermeiden, wird 13

die Unterscheidung von historisch und geschichtlich aufgenommen und durch sie jeweils das Einmalige und das Gegenwärtige des Heilsgeschehens verstanden, wie dies allerdings auch in der orthodoxen Theologie der Fall ist, wo jedoch die Unterscheidung von historisch und geschichtlich nicht geläufig ist. Geht es aber um das Heilsmysterium in Christus als einmalige Heilstat und zugleich als gegenwärtiges Geschehen, so wird hierfür der Begriff geschichtlich vorgezogen als geeigneter, das Heilsgeschehen in diesem umfassenden Sinne zu bezeichnen. Mit dem Begriff „historisch" wird die Einmaligkeit und die Faktizität der Heilstat bezeichnet, derer Objektivität allerdings nicht außerhalb des Glaubens liegt, und insofern ist die ein für allemal geschehene Heilstat Gottes in Christus nicht mit historisch-wissenschaftlichen Mitteln feststellbar. In der vorliegenden Untersuchung wird in erster Linie nicht beabsichtigt, in einer statisch-vergleichenden Form die Lehren der beiden Kirchen in Einzelheiten in ihrer Entsprechung zueinander zu untersuchen, vielmehr wird von der Mitte der beiden Positionen ausgegangen, so daß der Darstellung der beiden Auffassungen in ihrer Eigentümlichkeit vor einem unmittelbaren Vergleich mit der anderen Priorität eingeräumt wird. Es wird nicht nach einer formalen Fragestellung vorgegangen, sondern nach der inhaltlichen Bedeutung der evangelischen und orthodoxen Lehre. Die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, die sie kennzeichnen, ergeben sich somit aus dem Inneren der beiden Standpunkte. So werden diese nicht dadurch erklärt, indem man sie aus der Sicht der anderen Konfession befragt, denn auf diese Weise werden sie nicht immer in ihrer Eigentümlichkeit erfaßt, sondern es wird der Versuch gemacht, sie in sich selbst und aus dem Kontext der gesamten Lehre jeder der beiden Kirchen darzustellen, bevor die Frage nach ihrem Verhältnis gestellt wird. Auf diese Weise wird die der orthodoxen und der evangelischen Kirche eigene Lehre in ihrem inneren Gefüge und in ihrer Dynamik dargestellt, so wie sie eben aus dem statischen Vergleich, der meistens auf eine Statistik der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede hinausläuft, nicht gelingt. Mit dem Verzicht auf eine strikte Vergleichsmethode 1 zugunsten einer Darstellung der beiden Lehren zunächst in ihrem Selbstverständnis wird die Hoffnung gehegt, daß diese einheitlicher gekennzeichnet werden, ohne jedoch über die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede hinwegzusehen, auf die hin sich letzten Endes die Untersuchung doch zuspitzt.

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Auf die Grenzen dieser Methode in der ökumenischen Arbeit wurde bei der Weltkirchenkonferenz in Lund hingewiesen. Siehe hierzu: E. Schlink, Das wandernde Gottesvolk, in: Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, Göttingen 1961, S. 206.

Es wird weiter von dem Gedanken ausgegangen, daß eine deskriptiv vergleichende Darstellung 2 der Glaubensaussagen verschiedener Kirchen sich als unzureichend erweist, um den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden der getrennten Kirchen weitere Perspektiven zu eröffnen und so den ökumenischen Dialog sinnvoll zu fördern. Ohne die Bedeutung der Lehrunterschiede zwischen der orthodoxen und der evangelischen Theologie zu verharmlosen oder aus dem Blick zu verlieren, wird in dieser Untersuchung eine vergleichende Gegenüberstellung im Sinne einer quantitativen Schilderung der theologischen Positionen nicht unternommen, jedoch nicht so, daß das Spezifische der beiden Theologien außer acht gelassen wird. Nicht eine konfessionskundliche Untersuchung ist intendiert, die referiert und konstatiert, sondern es wird der Versuch einer dialogisch-ökumenischen Analyse unternommen, in der beide Theologien angesichts der Wirklichkeit der anderen zu Wort kommen sollen, wobei man notwendigerweise auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede stößt. Die Untersuchung ist auch von der Einsicht getragen, daß eine echte theologische Annäherung zwischen den getrennten Kirchen nicht auf dem Wege eines dogmatischen Relativismus erreicht werden kann, der entweder aus einer vorschnellen Begeisterung für die Verwirklichung der Einheit der Kirchen oder aus dem Gefühl der Unüberwindlichkeit der bestehenden Gegensätze entsteht. Weder die Gemeinsamkeiten noch die Unterschiede dürfen für sich allein absolutgesetzt und Gegenstand dogmatischer ökumenischer Überlegungen werden. So würde man entweder ziemlich rasch zur Einheit gelangen, indem die Unterschiede nur verdeckt werden, oder aber es könnte, wenn der Blick nur auf das Unterschiedliche gerichtet ist, der Weg des gemeinsamen Suchens nach der Überwindung des Gegensätzlichen durch ernstere theologische Bemühungen versperrt bleiben. Vielmehr müssen die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede theologisch sachlich erwogen und deutlich herausgestellt werden und zusammen den Gegenstand einer ökumenischen Theologie bilden. Dem Versuch, einem theologischen Dialog zwischen der orthodoxen und der evangelischen Theologie vor allem in ihrer lutherischen Prägung einen bescheidenen Dienst zu leisten, liegt die Überzeugung zugrunde, daß beide Theologien einander bedürfen und daß sie sich der anderen aufschließen und bereit sein sollen, sich selbst mit der Erfahrung der anderen zu bereichern, um nicht zuletzt zu einer Überprüfung und auch Vertiefung des eigenen Standpunktes zu gelangen. So könnten sich aus

2

E. Schlink, Die Aufgaben einer ökumenischen Dogmatik, in: Zur Auferbauung des Leibes Christi. Hrsg. von E. Schlink und A. Peters, Kassel 1965, S. 86, gesteht die Berechtigung dieser Methode in der Geschichte des ökumenischen Dialogs zu, macht aber deutlich, daß diese nur eine Vorstufe, eine „Vorarbeit" bedeuten, bei der aber eine ökumenische Dogmatik nicht stehenbleiben soll.

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der gegenseitigen Befruchtung neue Perspektiven erschließen, in deren Horizont die Unterschiede durch den Gewinn an Gemeinsamkeiten, der durch die gegenseitige Bereicherung erfolgt, nicht nur an Boden verlieren, sondern in der erweiterten Sicht nicht mehr als Gegensätze und Trennendes erscheinen. Die Einheit der Kirchen wird nicht durch ein Maß an Zugeständnissen seitens der beteiligten Kirchen erreicht, vielmehr können sie durch ernsthaftere Besinnung auf die neutestamentliche Grundlage und auch auf die echte Tradition der frühen Kirche zu einer wahrhaften und wesenhaften Annäherung und Einigung kommen. J e mehr die Kirchen ihre Glaubensüberzeugungen im Lichte der Schrift und der mit ihr übereinstimmenden wahren Tradition überprüfen, desto eher können sie zu der Wahrheit gelangen, in der eigentlich auch die Einheit gegeben ist. Eben um die Wahrheit zu erkennen, die sich in der Mannigfaltigkeit und oft sogar in der Verschiedenheit 3 der Lehraussagen der getrennten Kirchen mehr oder weniger ausdrückt oder verbirgt, sollte sich jede Theologie zugleich als Empfangende und aus ihrer Erfahrung Schenkende gegenüber der anderen verstehen. Wer könnte zum Beispiel daran zweifeln, daß die Erfahrung der evangelischen Theologie in ihrem Umgang mit der Schrift für die orthodoxe Theologie nicht von Nutzen wäre, oder daß der evangelischen Theologie die Erfahrung der orthodoxen Theologie mit der Tradition nicht dienen würde? Schließlich kann die Absicht dieser Untersuchung auch darin gesehen werden, aufzuzeigen, daß doch in vielen Problemen zwischen beiden Kirchen nicht nur Gemeinsamkeiten bestehen, sondern daß vieles, was jeder Kirche eigen ist und lange Zeit als trennend empfunden wurde, nicht unbedingt unüberbrückbare Gegensätze darstellt. Diese Behauptung soll wiederum nicht für alle Glaubensaussagen der beiden Kirchen gelten und nicht jegliche Unterschiede aufheben, die zwischen beiden doch bestehen. Damit wird auf einen Unterschied, der zwischen Theologie und Dogma zu machen ist, hingewiesen. Wenn die Theologie grundsätzlich einem Wandlungsprozeß unterworfen ist, so gilt das Dogma als eine von der Kirche formulierte Heilswahrheit, deren Glaubensgehalt unverändert bleibt, wenngleich sein Sinn und das Verständnis dessen, worauf das Dogma sich bezieht, erweitert und vertieft werden können. Die Unterschiede zwischen der evangelischen und der orthodoxen Kirche beziehen sich nicht primär auf die Dogmen der alten Kirche, die sie weitgehend gemeinsam anerkennen, sondern sie liegen im Bereich der Theologie. So können sich Unterschiede zwischen den Kirchen ergeben, nicht nur wenn es um die Dogmen geht, sondern auch hinsichtlich ihres Verständnisses und der übrigen kirchlichen Lehren. Andererseits sind 3

16

E. Schlink, Die Aufgaben . . ., S. 90.

theologische Gemeinsamkeiten möglich, auch wenn ausdrückliche Dogmen zu dem betreffenden Thema nicht oder nur unvollständig vorliegen. So ist z.B. die orthodoxe Lehre von der Tradition nicht als Dogma zu betrachten, und es liegt auch in den lutherischen Bekenntnisschriften keine vollständige Definition des Traditionsbegriffes vor. In der folgenden Untersuchung geht es also um die theologische Auffassung der orthodoxen und der evangelischen Kirche über die zu behandelnden Themen. Die Frage stellt sich angesichts der geschichtlichen Wandlung des theologischen Denkens dahingehend, ob eine Entwicklung im Sinne einer Überwindung der traditionellen theologischen Positionen stattgefunden und ob diese zu einer Annäherung der Standpunkte geführt hat. Prinzipiell wird man die Theologien verschiedener Kirchen nicht ipso facto als sich voneinander abgrenzend und sich gegenseitig ausschließend betrachten. Sie können vielmehr als gegenseitige Ergänzung und Bereicherung und als Beitrag zum Verständnis der Heilswahrheit in ihrer katholischen Weite verstanden werden. Als solche gehörten sie zu der Mannigfaltigkeit der Katholizität der frühen ungeteilten Kirche. Nachdem aber diese sich gespalten hatte und die getrennten Kirchen sich voneinander entfremdet und sich dogmatisch auseinanderentwickelt hatten, hat sich auch das Verhältnis der Theologien verschiedener Kirchen im Vergleich zu ihrer Stellung zueinander in der frühen Kirche geändert, so daß sie, wenn sie sich nicht gegenseitig ausschließen, da sie ein beträchtliches Maß an Gemeinsamkeiten aufweisen, jedoch nicht mehr selbstverständlich nur als gegenseitige Ergänzung und als Mannigfaltigkeit und Entfaltung der Katholizität der Kirche zu verstehen sind, solange die Lehren der getrennten Kirchen nicht gegenseitig anerkannt und geteilt werden. Deshalb ist es notwendig, diese nach dem Zeugnis der Schrift und der Tradition der frühen Kirche zu befragen, denn nur auf diese Weise könnte eine echte Annäherung zwischen den Kirchen erfolgen mit dem Ziel der Rückgewinnung ihrer Lehreinheit und Gemeinschaft. Es gibt Anzeichen dafür, daß ein kritischer theologischer Denkprozeß eingesetzt hat und eine Überprüfung der überkommenen theologischen Traditionen vorgenommen wird.

17

TEIL I DER GESCHICHTS- UND GESCHEHENSCHARAKTER DER OFFENBARUNG

I. Offenbarung und Geschichte 1. Begriffsbestimmung und Zusammengehörigkeit von Historie und Geschichte als Gegenwärtigkeit der Offenbarung Zum Verständnis der Offenbarung gehört unabdingbar, daß sie nicht aus der Geschichte hervorging, und zugleich, daß sie mit dieser eng verbunden ist. Die Einmaligkeit der Offenbarung stellt die Frage, wie sie nach ihrem historischen Vollzug weiter geschehen soll. In dem „ein für alle Male" der Offenbarung drückt sich ihr einmaliger und zugleich gegenwärtiger Charakter aus. Zwar wurde diese Problematik der zweifachen Bestimmung des Offenbarungsgeschehens in der lebhaften Debatte über den historischen Jesus und Christus des Glaubens der kerygmatischen Theologie erörtert und zum Teil radikalisiert, doch wurde damit keine neue Frage an die Offenbarung herangetragen, die nicht schon von Anfang an zu ihr gehörte. Das Ende der Zeit der unmittelbaren Teilnahme der Augenzeugen an dem Heilsgeschehen in Christus bedeutet nicht zugleich, daß von nun an dieses Ereignis immer weiter in der Vergangenheit zurückliegt und der zeitliche Abstand uns an der Teilnahme an ihm hindert, doch nicht nur so, daß wir durch dessen historische Darstellung an es erinnert werden und von ihm Kenntnis nehmen. Die Frage, wie das vergangene Erlösungswerk Christi zum Gegenwartsgeschehen wird, die sich für alle späteren Generationen stellt 1 , weist auf den Unterschied hin, der zwischen dem historischen Grund des Glaubens und seinem gegenwärtigen Geschehen besteht. Ohne das historisch Einmalige der Christusgeschichte historisch im Sinne des einmalig Geschehenen und des in der Vergangenheit zum ersten Mal in Jesus Christus Vollzogenen — wäre die in der Gegenwart sich vollziehende Heilsgeschichte nicht möglich. Wenn nicht alle Heilsereignisse als historisch gelten, in dem Sinne, daß 1

Vgl. H. Diem, Der irdische Jesus und der Christus des Glaubens, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Hrsg. von H. Ristow und K. Matthiae, 2. Aufl., Berlin 1961, S. 219.

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sie mittels wissenschaftlicher Methoden nachprüfbar und nachweisbar sind, so sind sie jedoch nicht weniger wirkliche Ereignisse. Sie sind fundamentale Ereignisse des Glaubens, die durch die Verkündigung der Kirche, durch Wort und Sakrament erneut geschehen und im Glauben als gegenwärtige Heilsereignisse erfahren werden. So sind sie nicht nur ein für allemal in Jesus Christus damals geschehene, sondern aufgrund dessen auch gegenwärtige Ereignisse. Das Heilsgeschehen in Christus hat in sich die Kraft seiner Vergegenwärtigung. So ist es einmalig und gegenwärtig zugleich. M. Heidegger unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen der Geschichte. Unter Geschichte im Sinne der Historie versteht er zunächst die Wissenschaft von den geschichtlichen Ereignissen oder sie als Gegenstand der Geschichtswissenschaft 2 Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, tritt der objektiv-tatsächliche Aspekt der Geschichte hervor, mit dem „das Geschichtliche als das Vergangene" 3 gemeint ist. Außer diesem statischen Charakter der Geschichte und ihm entgegengesetzt hebt Heidegger den zweiten Sinn der Geschichte hervor, der sich darin bekundet, daß diese eine lebendige und dynamische Wirklichkeit ist, die in ihrer Wirkung nicht zum Stillstand kommt, sondern heute noch andauert, obwohl die geschichtlichen Ereignisse der Vergangenheit angehören: „Hier meint Geschichte das Vergangene, aber gleichwohl noch Nachwirkende Was eine .Geschichte hat', steht im Zusammenhang eines Werdens Geschichte bedeutet hier einen Ereignis- und ,Wirkungszusammenhang', der sich durch ,Vergangenheit', .Gegenwart' und Z u k u n f t ' hindurchzieht." 4 Bei dieser Auffassung von der Geschichte spielt der Begriff des Überlieferns eine wichtige Rolle. Die geschichtlichen Begebenheiten, denen in ihrer Bedeutung eine Bewegung über ihre Zeit hinaus, auf die Zukunft gerichtet, eigen ist, erlöschen nicht in Unwirksamkeit, nachdem sie sich einmal ereignet haben, sondern sie werden überliefert, indem sie weiterwirken. „Geschichte ist das in der Zeit sich begebende spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, daß das im Miteinandersein vergangene' und zugleich überlieferte' und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne als Geschichte gilt." 5 Auch wenn die Offenbarungsereignisse sich von den übrigen geschichtlichen Ereignissen in manchem unterscheiden und ihr voller Sinn nur durch den Glauben erfaßt werden kann, so sind sie nach G. Florovsky nicht weniger geschichtliche bzw. historische Tatsachen. „Gewiß, Fleischwerdung, Auferstehung und Himmelfahrt sind geschichtliche Tatsachen nicht ganz in dem gleichen Sinne oder auf der gleichen Ebene wie das Geschehen unseres täglichen Lebens. Aber sie sind deshalb nicht 2 3 4 5

Sein und Zeit, 11. Aufl., Tübingen 1967, S. 378. Ebenda, S. 378. Ebenda, S. 378 f. Ebenda, S. 379.

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weniger geschichtlich, nicht weniger tatsächlich. Im Gegenteil, sie sind in höherem Sinne geschichtlich, sie sind Ereignisse in einem letzten Sinne. Offenbar kann man ihrer nicht anders als im Glauben völlig gewiß werden. Indessen nimmt sie diese Tatsache nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraus." 6 Obwohl sich der Glaube nicht auf historische Evidenz gründet und die primäre Intention der Evangelien und der übrigen neutestamentlichen Schriften nicht darin bestand, eine vollständige Darstellung des historischen Jesu zu bieten, wird man jedoch ihren historisch-tatsächlichen Charakter nicht übersehen dürfen, obwohl sie in erster Linie als Glaubenszeugnisse zu betrachten sind. So hat die Schrift in sich nach D. Staniloae nicht nur die Eigenschaft, das Wort Gottes zu sein, sondern sie besitzt auch einen gewissen historischen Charakter, so daß die Erlösung, an der wir in der Kirche teilhaben, nicht im luftleeren Raum schwebt 7 Die Verkündigung der Kirche steht nicht losgelöst von der Geschichte Jesu, vielmehr ist sie nur im ständigen Bezug zu dieser möglich. Zu dieser Geschichte haben wir Zugang durch die Historie und mittels der apostolischen Zeugnisse, die auch als historisch-objektive Berichte von dieser Geschichte zu verstehen sind. Die Heilsgeschichte hat sich nicht in einem individualistischen und außergeschichtlichen Bereich, sondern mitten in der Geschichte ereignet. Das Eingehen geschichtlicher Geschehnisse und vor allem der Heilsereignisse in die Historie bedeutet nun nicht, daß die Geschichte sich in der Historie auflöst 8 und über die Zeit hinaus, in der sie geschehen ist, nur noch als vergangene, einmal geschehene und nur zu jener Zeit wirkende Geschichte gilt, an die nur erinnert und die so als factum registriert wird. Wenn dies nicht einmal für die Ereignisse der Profangeschichte zutrifft, desto weniger kann es das Schicksal der Offenbarungsereignisse sein. Die Bedeutung der Geschichte der Offenbarung besteht darin, daß sie nicht nur in der Zeit ihres erstmaligen Ergehens, sondern daß sie in der Verkündigung der Kirche fortwährend geschieht. Sie bliebe nur eine historische Tatsache und von den übrigen geschichtlichen Ereignissen nicht wesentlich unterscheidbar, wenn die Christusgeschichte sich nur einmal ereignet hätte und heute nicht mehr geschähe. Die Heilsgeschichte kann nicht zu einer erstarrten Historie werden, weil sie auf den Glauben hinzielt, in dem sie zur lebendigen Geschichte wird 9 Wenn wir die Begegnung mit Christus nicht wie die Augenzeugen seiner irdischen 6 7 8

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Offenbarung und Deutung, in: Die Autorität der Bibel heute. Hrsg. von A. Richardson und W. Schweitzer, Zürich-Frankfurt 1952. S. 192. Die heilige Tradition. Begriffsbestimmung und ihr Umfang, in: Ortodoxia Nr. 1, 1964, S. 77 (rum.). H. Diem, a.a.O., S. 224; G. Greshake, Historie wird Geschichte. Bedeutung und Sinn der Unterscheidung von Historie und Geschichte in der Theologie R. Bultmanns, Essen 1963. Vgl. E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: ZThK. 51, 1954, S. 133.

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Existenz erleben, die allerdings ihren Glauben an ihn nicht ersetzte, so bleibt er uns jedoch nicht fern, da wir ihm im Glauben begegnen können. An Jesus Christus zu glauben, fiel seinen Augenzeugen und denen, die in der unmittelbar folgenden Zeit lebten, nicht leichter als uns heute. In dem gegenwärtigen Geschehen des Glaubens wird uns betreffend und von uns eigenverantwortliche Entscheidung fordernd die Vergangenheit zur Gegenwart 1 0 . Die Eigenart einer Geschichte, genauer der Christusgeschichte, besteht darin, daß sie nicht ein vergangenes Faktum bleibt, sondern sich auch für uns heute ereignet 1 1 . Der Sinn der Geschichte liegt nicht in der Betrachtung, sondern in der Begegnung. Der Bezug der Erlösungsgeschichte zur Gegenwart prägt das theologische Geschichtsverständnis. Nirgendwo ist das Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart offenkundiger und enger gefaßt als hier. Dies veranlaßt G. Bauer zu folgender Feststellung: „Das rein ,dialogische Verhältnis' zur Geschichte bleibt auf die Theologie beschränkt." 12 Eine radikale Trennung zwischen Historie und Geschichte bzw. zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens wird in der kerygmatischen Theologie R. Bultmanns vollzogen. Als irrelevant und belanglos betrachtet er das Problem des Historischen, wenn es um Christus geht, weil der Glaube an ihn keiner historischen Legitimierung bedarf, ja diese steht sogar im Gegensatz zum Verständnis des Glaubens, der zu seiner Berechtigung keine historischen Beweise benötigt: „Aus der Wahrnehmung des Historischen entspringt er ja gerade n i c h t . " 1 3 Eine Rechtfertigung des Glaubens im Sinne seiner Begründung auf historische Tatsachen kann es nach Bultmann nicht geben. „Wer aber weiter fragen wollte nach der Notwendigkeit, nach dem Recht, nach dem Grund des Glaubens er erhielte nur eine Antwort, indem er hingewiesen würde auf die Botschaft des Glaubens, die mit dem Anspruch, geglaubt zu werden, an ihn herantritt. Er erhielte keine Antwort, die vor irgendeiner Instanz das Recht des Glaubens rechtfertigte. Sonst wäre ja das Wort nicht Gottes Wort; sonst würde ja Gott zur Rechenschaft gezogen; sonst wäre ja Glaube nicht Gehorsam." 1 4 Hier muß wohl ein Unterschied gemacht werden zwischen dem Grund und der Begründung des Glaubens. Wenn es mit dem Wesen des Glaubens unvereinbar ist, nach seiner Begründung zu fragen, kann das jedoch

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P. Althaus, Zur Kritik der heutigen Kerygmatheologie, in: Der historische Jesus S. 244. Vgl. H. Diem, a.a.O., S. 2 2 4 ; G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung. Ein dogmatischer Entwurf, Hamburg-Volksdorf 1954, S. 24, Anm. 36. „Geschichtlichkeit". Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1 9 6 3 , S. 134. Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, 3. Aufl., Heidelberg 1962, S. 13. Glauben und Verstehen, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 1954, S. 37.

nicht gleichzeitig b e d e u t e n , d a ß er auch keinen G r u n d h a t 1 5 . Es wäre nach Bultmann ein arges Mißverständnis, w e n n m a n versuchte, den Glauben durch historische Nachweise zu rechtfertigen, weil dieser „sich n u r auf das Wort der Verkündigung g r ü n d e t " 16 u n d hinter d e m Wort nach seiner Rechtfertigung nicht m e h r gefragt zu werden b r a u c h t : „Für das Wort ist also keine andere Legitimation zu f o r d e r n u n d keine andere Basis zu schaffen, als es selbst i s t . " 1 7 Nach dem Ursprung des Wortes will er nicht mehr fragen, weil dies b e d e u t e n würde, nach einer historischen Begründung des Glaubens zu suchen, die dieser allerdings nicht benötigt, und gegen einen solchen Versuch w e n d e t sich Bultmann kategorisch 18 . Bultmann ist an d e m Problem des historischen J e s u s nicht nur deswegen nicht interessiert, weil es keine Evidenz u n d keine Notwendigkeit für den Glauben darstellt, sondern auch, weil er zwischen d e m irdischen historischen J e s u s u n d dem Christus des Glaubens keine K o n t i n u i t ä t sieht. Er will nicht sagen, daß das Kerygma, das z u m Schlüsselbegriff seiner Theologie geworden ist, den historischen Jesus nicht voraussetzt — im Gegenteil 1 9 . Aber das, was das Kerygma zur Aussage bringt, bezieht sich nicht m e h r auf den historischen J e s u s , sondern auf den nachösterlichen Christus des Glaubens, der nicht in K o n t i n u i t ä t mit d e m χριστός κατά σάρκα20 steht u n d mit ihm nicht m e h r identisch ist. Bultmann bejaht n u r eine K o n t i n u i t ä t zwischen d e m historischen J e s u s u n d dem Kerygma, nicht auch eine zwischen d e m historischen Jesus u n d Christus: „. aus der von mir b e t o n t e n Diskrepanz zwischen dem historischen J e s u s u n d d e m Christus des Kerygmas folgt in keiner Weise, daß sich die K o n t i n u i t ä t zwischen d e m historischen J e s u s und der urchristlichen Verkündigung zerreiße. Ich sage ausdrücklich: zwischen dem historischen J e s u s und der urchristlichen Verkündigung; nicht: zwischen dem historischen J e s u s u n d Christus. Denn der Christus des Kerygmas ist keine historische Gestalt, die mit d e m historischen J e s u s in K o n t i n u i t ä t stehen k ö n n t e " 2 1 Eine zentrale These von Bultmanns existentialer Theologie ist also, daß sich das Kerygma nicht auf das „Wie" u n d „Was" der Geschichte 15 16 17 18

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Vgl. hierzu G. Ebeling, Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann, Tübingen 1962, S. 32. Glauben und Verstehen, Bd. 1, S. 106; ders., Offenbarung und Heilsgeschehen, 1941, S. 66. Glauben und Verstehen, Bd. 1, S. 107. Siehe hierzu R. Slenczka, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi. Studien zur christologischen Problematik der historischen Jesusfrage, Göttingen 1967, S. 105 f. Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft ., S. 8: „Es versteht sich also von selbst, daß das Kerygma den historischen Jesus voraussetzt, wie sehr es seine Gestalt auch mythisiert haben mag. Ohne ihn gäbe es das Kerygma nicht." Glauben und Verstehen, Bd. 1, S. 101. Das Verhältnis der urchristlichen Botschaft . . ., S. 8.

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des irdischen Jesus, sondern lediglich auf das „ D a ß " seiner Existenz und seiner Kreuzigung bezieht. Hierzu beruft er sich auf Paulus und Johannes, die ein historisches Bild von Jesus nicht geliefert hätten. Wenn Paulus vom Kreuz spricht, dann betrachtet er es als Heilsgeschehen und nicht als ein biographisches Moment. Dasselbe gilt auch für Johannes. Obwohl er auf die Menschlichkeit Jesu hinweist, „gibt er aber keinen der Züge der Menschlichkeit Jesu wieder, die etwa den synoptischen Evangelien zu entnehmen wären. Das Entscheidende ist schlechthin das Daß" 2 2 . Das ganze Neue Testament ist nach Bultmann einfach als das dem „Osterereignis entsprungene Wort der Verkündigung" 2 3 , als Kerygma zu verstehen, in dem man vergeblich nach dem historischen Jesus sucht. Er wendet sich nicht nur gegen eine historische Begründung des Glaubens, der zuzustimmen wäre, sondern bestreitet zugleich ohne Einschränkung, daß das Neue Testament historischen Charakter besitzt und folglich, daß aus ihm ein historisches Bild Jesu gewonnen werden kann 2 4 . Wenn dem so ist, erhebt sich die Frage, wie die angenommene Kontinuität zwischen dem Kerygma und dem historischen Jesus noch möglich ist, und wenn sie bejaht wird, warum aufgrund dessen nicht auch eine Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Kerygmas bestehen sollte. Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen, wenn einerseits behauptet wird, daß das Kerygma in Kontinuität mit dem vorösterlichen Jesus steht, und andererseits die These aufgestellt wird, daß das Kerygma sich nicht auf den historischen Jesus bezieht, wie Bultmann gegen diejenigen, die es im Gegensatz zu ihm im Neuen Testament vorhanden sehen, aufrechterhalten will 25 . Wenn er zwischen Jesus und Christus eine Kluft aufreißt, wie könnte dann eine Kontinuität zwischen dem Kerygma, das doch nicht Jesus, sondern den nachösterlichen Christus zum Inhalt hat, und dem historischen Jesus noch bestehen und diese auch verständlich gemacht werden, wenn das Leben und das Wirken Jesu nicht zum Gegenstand des Kerygmas gehören? Die Zurückweisung der Vergewisserung des Glaubens durch die Historie, die wie ein Leitmotiv in seiner Theologie wiederkehrt, ist nicht unvereinbar mit dem historischen Charakter des Neuen Testamentes und in gewissem Sinn mit der Autorisierung des Kerygmas, um die auch Bultmann nicht gänzlich h e r u m k o m m t 2 6 , wenn er auch dessen historischen Gehalt auf ein Minimum reduziert 2 7 Insofern scheint es angebracht, statt von einer Kontinuität eher von einer Diskontinuität bei ihm zu sprechen, die zwischen dem Kerygma und dem nachösterlichen Christus und dem historischen Jesus besteht. Infolgedessen könnte man von einer doppelten Reduktion sprechen, die man bei ihm feststellen 22 23 24 25 26 27

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Ebenda, S. 9. Offenbarung und Heilsgeschehen, S. 67. Das Verhältnis der urchristlichen Botschaft. ., S. 11 ff. Ebenda, S. 15. Vgl. G. Ebeling, Theologie und Verkündigung S. 32 f. und S. 39. Das Verhältnis der urchristlichen Botschaft . . ., S. 9 und S. 11.

könnte, zunächst, daß das ganze Neue Testament nur als Kerygma aufgefaßt wird, und dann, daß dieses nur von dem nachösterlichen Christus zeugt. Wenn Bedenken und Kritik gegenüber der kerygmatischen Theologie angemeldet werden, dann nicht, weil Bultmann das Kerygma als Wortgeschehen in den Vordergrund stellt, sondern weil dabei die Geschichte des irdischen Jesus völlig zurücktritt und vom Kerygma absorbiert wird, und weil Jesus und Christus so voneinander getrennt werden, als handle es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Personen, die nicht das geringste miteinander gemein haben. Nach Bultmann scheint es, daß dem kerygmatischen Christus nichts fremder wäre als der historische Jesus. Berücksichtigt man diese scharfe Trennung und das totale Desinteresse an der historischen Geschichte Jesu in der Bultmannschen Theologie, so scheint die Frage R. Slenczkas berechtigt, „ob mit der aus der theologiegeschichtlichen Situation in der Front gegen die positive Jesusforschung bedingten Reduktion des Historischen bei Bultmann nicht doch letzten Endes das ,extra nos' des Heils in die bloße Form der Anrede, Forderung und des Zuspruchs aufgelöst wird" 2 8 . Wenn dem einerseits zuzustimmen wäre, daß das Neue Testament primär als anredende Botschaft und Glaubenszeugnis zu verstehen ist, so wird man sich andererseits des Eindrucks nicht erwehren können, daß bei Bultmann die Historie der Heilsgeschichte in ihrer Geschichtlichkeit 2 9 aufgeht, so daß die theologische Bedeutung des GeschichtlichObjektiven der irdischen Existenz und des Wirkens Jesu gegenüber dem Kerygma als existentielle Anrede außer acht gelassen wird und hinter dem Kerygma die Frage nach dem historischen Jesus als dem Grund und der Voraussetzung der nachösterlichen Verkündigung nicht mehr gestellt werden darf 3 0 . Nicht die Priorität, sondern die Verabsolutierung und Verselbständigung des Kerygmas von der historischen Tatsache der von der Auferstehung nicht zu trennenden historischen Wirklichkeit und Tätigkeit Jesu, die mit seiner Kreuzigung endete, führte zur Aberkennung des historischen Charakters des Neuen Testamentes. Dazu bemerkt N.A. Dahl: „Diese Enthistorisierung des Neuen Testamentes ist eine durch die Existenzphilosophie mitbedingte ultrapaulinische Einseitigkeit, die den Evangelien nicht gerecht wird." 3 1 28 29 30

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A.a.O., S. 116. Über die vielfältige Bedeutung des Begriffs der Geschichtlichkeit und seine Entwicklungsgeschichte siehe G. Bauer, a.a.O. Glauben und Verstehen, Bd. 1, S. 208: „Man darf also nicht hinter das Kerygma zurückgehen, es als .Quelle' benutzend, um einen .historischen Jesus' mit seinem ,Messiasbewußtsein', seiner .Innerlichkeit' oder seinem .Heroismus' zu rekonstruieren. Das wäre gerade der χριστός κατα σάρκα, der vergangen ist." Der historische Jesus als geschichtswissenschaftliches und theologisches Problem, in: KuD 1, 1955, S. 125 f.

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Gegenüber dieser Auflösung der historischen Geschichte des Heils, die allerdings nicht erst nach Ostern beginnt, in seine existentielle Geschichtlichkeit gehen evangelische Theologen davon aus, daß weder allein im Historisch-Objektiven noch im Existentiell-Geschichtlichen des Heilsgeschehens eine Alternative oder eine ganze Antwort auf die Frage nach dem Verständnis der Offenbarung und ihrem Verhältnis zur Geschichte gegeben wird. Wenn es stimmen würde, daß wir über den historischen Jesus aus dem Neuen Testament nichts wissen können, schreibt G. Ebeling, „dann bliebe uns tatsächlich nur ein geschichtlicher Mythos" 32 . Wenn man nach dem historischen Jesus fragt, muß man allerdings zwischen den einzelnen neutestamentlichen Schriften unterscheiden und darf nicht von allen erwarten, in gleichem Maße von Jesus zu berichten. Die synoptischen Evangelien nehmen hierbei eine besondere Stellung ein, auch wenn sie nicht einfach als rein historische Dokumente zu verstehen sind. Sie sind nach G. Bornkamm vielmehr „in einer merkwürdig intensiven Verbindung Bericht von Jesus Christus und zugleich Bekenntnis zu ihm, Zeugnis der an ihn glaubenden Gemeinde und Erzählung seiner Geschichte" 3 3 . In der kritischen Auseinandersetzung mit der Kerygma-Theologie Bultmanns kristallisierte sich eine Position heraus, die durch die gegenseitige Vermittlung vom Historischen und Geschichtlichen des Heilsgeschehens gekennzeichnet ist und in ihrer unauflöslichen Korrelation als die Grundlage weiterer Überlegungen in der Frage nach der geschichtlichen Bestimmung der Christusgeschichte betrachtet wird. Die Überwindung des einseitigen existentiell-geschichtlichen Verständnisses der neutestamentlichen Botschaft vollzog sich innerhalb der kerygmatischen Theologie und unter Beibehaltung des weitgehend kerygmatischen Charakters des Neuen Testamentes, indem man den Sinn und die Bedeutung des vorösterlichen historischen Jesus für den Glauben wiederentdeckte, gewiß unter anderen Vorzeichen als in der Leben-Jesu-Forschung. G. Bornkamm spricht die Notwendigkeit aus, im Namen des Glaubens nach dem vorösterlichen Jesus und seiner historischen Geschichte zu fragen, die mit der personalen Einheit von Jesus und Christus zusammenhängt und der so engen Verflechtung des Historisch-Berichtenden mit den Glauben bezeugenden Aussagen des Neuen Testamentes entspricht, indem er nichts als verkehrter ansieht, als die Entstehung der Evangelien auf eine historische Grundmotivation zurückzuführen, ohne den Glauben nicht nur als deren Ziel, sondern auch als Ausgangspunkt zu betrachten. „Vielmehr spricht sich darin nur das Bekenntnis: JesusChristus, die Einheit des Irdischen und des Geglaubten aus. Die Evangelien bekunden damit, daß der Glaube nicht mit sich selbst anfängt, sondern von einer vorgegebenen Geschichte lebt, von der gerade um der

32 Jesus und der Glaube, in: ZThK 55, 1958, S. 68. 3 3 Jesus von Nazareth, Stuttgart 1956, S. 12.

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Gegenwart willen, in der der Glaube steht, nun eben doch, wie es in allen Evangelien geschieht, nur im Tempus der Vergangenheit geredet werden d a r f . " 3 4 So sehr Ebeling das Anliegen Bultmanns, wenn es um den mit dem Wesen des Glaubens nicht zu vereinbarenden historischen Legitimationsausweis geht, im Zusammenhang mit dem existentialen Verständnis des Kerygmas und des Glaubens teilt 3 5 , so betrachtet er es als unausweichlich und theologisch berechtigt, das Kerygma nach dem historischen J e s u s zu befragen 3 6 . Wenn man dieser Frage nachgeht, könnte man zunächst meinen, daß sie eine historische Angelegenheit ist, die in den Bereich historischen Denkens fällt. Hinter diesem ersten Anschein erweist sie sich jedoch auch als „spezifisch theologisch", und auferlegt somit eine entsprechende Verpflichtung, und ihre Vernachlässigung ist „als theologisches Versagen" zu verstehen 3 7 . Man kann unmöglich über die historische Geschichte J e s u hinwegsehen, sagt Ebeling, indem man argumentiert, daß das Kerygma „nicht in historischem Interesse von J e s u s als historische Erscheinung spricht. Aber er spricht von Gott in Bezug auf J e s u s , der eine historische Erscheinung w a r " 3 8 . Die Ausklammerung der Frage nach dem vorösterlichen J e s u s ist deshalb nicht zu verantworten, weil das Kerygma zu sehr an seine Person gebunden ist. „Wäre in keiner Weise die Person, auf die sich das Kerygma bezieht, in ihrer Historizität konkret bestimmbar, bestünde also der Bezug des Kerygmas auf J e s u s ausschließlich in Behauptungen, für deren Verständnis J e s u s selbst als eine zufällige und in sich selbst nichtssagende Chiffre irrelevant wäre "39 Mit der Erweiterung des Verständnisses des Kerygmas durch die Einbeziehung seiner unerläßlichen Bezogenheit auch auf den historischen Jesus erscheint der Glaube nicht nur als eine existentielle Entscheidung für Christus, oder wie es H. Conzelmann formuliert, „als heutiger Bezug auf seine P e r s o n " 4 0 , sondern umschließt nach Ebeling auch eine historische Komponente: „Denn offenbar ist der Glaube nicht christlicher Glaube, wenn er nicht Anhalt hat am historischen J e s u s s e l b s t . " 4 1 Damit unterscheidet sich die Position Ebelings von der Bultmanns, obwohl der erstere diesen Bezug des Kerygmas auf J e s u s bei dem letzteren keineswegs überhaupt nicht oder auch nicht im Ansatz vorhanden, jedoch nicht hinreichend entwickelt findet 4 2 . 34 E b e n d a , S. 20. 35 Theologie und Verkündigung ., S. 26—82. 36 E b e n d a , S. 61 f. 37 Ebenda, S. 61. 38 E b e n d a , S. 62. 39 E b e n d a , S. 63. 4 0 J e s u s von Nazareth und der Glaube an den Auferstandenen, in: Der historische J e s u s . ., S. 190. 4 1 J e s u s und der Glaube, S. 67. 4 2 Theologie und Verkündigung, S. 30, Anm. 2, S. 32 f. und S. 59.

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Die erneute Zuwendung zum historischen Jesus, die auf dem Boden selbst der kerygmatischen Theologie erfolgte, ist bei den Wortführern dieser Orientierung, wie Slenczka ihre Motivation kurz zusammenfaßt, „durch die Funktion des Historischen in dem Kerygma begründet" 4 3 . Damit wird über das einfache „Daß" des Kerygmas hinausgegangen, indem es auch auf das „Was" und „Wie" des historischen Jesus bezogen wird. Das Kerygma bildet den Ausgangspunkt der Frage nach dem historischen Jesus und der Ausarbeitung seiner Kontinuität mit der nachösterlichen Verkündigung. Zum historischen Jesus gelangt man durch das Kerygma. Dies ist nach Bornkamm darauf zurückzuführen, daß nach der formgeschichtlichen Forschung ein historisches Jesusbild frei von der „Übermalung" der urchristlichen Verkündigung und dem Glauben der Urgemeinde, wie es die Leben-Jesu-Forschung herzustellen versuchte, aus den Quellen nicht rekonstruiert werden kann, weil die Historie Jesu und seine Überlieferung von dem Glauben an den erhöhten Christus und dem Bekenntnis zu dem Auferstandenen geprägt ist. „An ihrem Anfang steht, wie immer auch sehr verschieden geartet, das Kerygma und nicht eine unmittelbar erreichbare historische Tradition, die dann erst sekundär von Glauben und Theologie der Gemeinde überdeckt wurde."44 Man ist nicht wie die Leben-Jesu-Forschung um ein historisches Bild Jesu bemüht, sondern man versucht, die Bedeutung seiner Historie für den Glauben zu begründen, ohne daß dies zu einer Legitimation des Glaubens führt. Nicht aus rein historischen Überlegungen und auch nicht, um den Glauben als personale Entscheidung zu legitimieren und ihn sicherer zu machen, wie die Angst hiervor bei Bultmann die Frage nach dem historischen Jesus und nach der theologischen Evidenz seiner historischen Existenz und Tätigkeit für den Glauben schon im Keime erstickt, sondern die Beschäftigung mit der Historie Jesu gründet auf der Erkenntnis der theologischen Bedeutung dieser Historie für den Glauben. 4 5 Die Notwendigkeit dieser Fragestellung drängt sich geradezu von den Evangelien her auf. Wenn E. Käsemann von der „Relevanz der Historie für den Glauben" in den Evangelien spricht, so führt er diese Feststellung darauf zurück, daß für die Urgemeinde der irdische Jesus mit dem erhöhten Christus identisch ist.46. Die Begründung dafür, daß die Historie für den Glauben von Bedeutung ist, geht auf die personale Identität des erniedrigten Jesu mit dem auferstandenen Christus zurück. Ostern setzt die irdische Geschichte Jesu voraus, und deshalb muß auch 43 44

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A.a.O., S. 146. Glaube und Geschichte in den Evangelien, in: Der historische Jesus S. 281; ders., Jesus von Nazareth, S. 12: „Wir besitzen keinen einzigen Jesusspruch und keine einzige Jesusgeschichte, die nicht — und seien sie noch so unanfechtbar echt — zugleich das Bekenntnis der glaubenden Gemeinde enthalten oder mindestens darin eingebettet sind." N.A. Dahl, a.a.O., S. 130. Das Problem des historischen Jesus, S. 134.

diese zum Inhalt der nachösterlichen Verkündigung gehören: „Einig war man sich in dem Urteil, daß die Historie J e s u für den Glauben konstitutiv sei, weil der irdische und der erhöhte Herr identisch sind. Der Osterglaube hat das christliche Kerygma begründet, aber er hat ihm seinen Inhalt nicht erst und ausschließlich g e g e b e n . " 4 7 Die unbestreitbare Bedeutung der Historie J e s u für den Glauben wird dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie neben dem Bekenntnis der Urgemeinde zu dem auferstandenen Herrn auch zum Gegenstand der apostolischen Verkündigung gehört, und daß die urchristliche Gemeinde im Bewußtsein der untrennbaren Einheit des irdischen Jesus und des erhöhten Christus die Geschichte des historischen J e s u s in ihrem Bekenntnis aufgenommen hat. Sie erkannte dadurch, daß diese Historie im Glauben lebendige Heilsgeschichte wird, aber auch, daß sie der gegenwärtig geschehenden Geschichte vorgegeben ist. „Das Festhalten an der Historie ist eine Weise, in welcher das extra nos des Heils seinen Ausdruck f i n d e t . " 4 8 Gegenüber Gogartens und Bultmanns existentialem Geschichtsverständnis, das das Historische der Heilsgeschichte abzulösen droht, macht P. Althaus geltend, daß das Kerygma neben seinem gegenwartsbezogenen Anredecharakter zugleich auch historischen Charakter aufweist 4 9 Es genügt nicht, daß das Kerygma als der Grund des Glaubens dargestellt wird. Es muß auch weiter nach dem Grund des Kerygmas gefragt werden. „Denn sein Grund (des Glaubens) ist nicht ein historisch-beziehungsloses ,Kerygma', sondern das Kerygma in seiner Rückbeziehung auf historisch-geschehene Geschichte, insofern also auch diese Historie s e l b s t . " 5 0 Auch nach Althaus geht die theologische Relevanz der Historie für den Glauben auf J e s u s zurück. Die Theologie würde das Kapital der Menschwerdung und seiner irdischen Tätigkeit preisgeben, wenn sie der historischen Frage keine theologische Bedeutung b e i m ä ß e 5 1 . Aus der Auseinandersetzung mit der kerygmatischen Theologie Bultmanns, in der im Namen der historischen Nichtlegitimierbarkeit des Glaubens den neutestamentlichen Zeugnissen der historische Boden entzogen wird, und aus der Geltendmachung der theologischen Relevanz der Historie J e s u wurde deutlich, daß es eine Alternative zwischen dem Einmaligen und dem Gegenwärtigen des Heilsgeschehens nicht geben kann, da sie zwei Aspekte der Offenbarung sind, zwischen denen man zwar zu unterscheiden hat, aber nicht einen zu ungunsten des anderen in der Vordergrund stellen soll, ohne dabei eine einseitige Antwort auf die Frage nach der historischen Wirklichkeit und der geschichtlichen Wirksamkeit des Heilswerkes J e s u Christi zu geben.

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E b e n d a , S. Ebenda. Zur Kritik E b e n d a , S. E b e n d a , S.

141. der heutigen K e r y g m a t h e o l o g i e , S. 2 4 9 . 253. 252.

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In kritischer Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Geschichtsdenken mit seinem Anspruch, die Wirklichkeit ausschließlich „geschichtlich" zu fassen, macht E. Kinder geltend, daß man in der Theologie „ganz ohne die Kategorie des Gegenständlichen" nicht auskommen kann, wie auch die Frage nach dem Verständnis des Heilsgeschehens nur dann gänzlich beantwortet werden kann, wenn die biblische Botschaft zugleich als historischer Bericht und gegenwärtiger Heilszuspruch betrachtet wird 52 . „Die tatsächliche Kirche lebt nicht nur davon, daß das Kerygma je und je verkündigt und der Glaube Ereignis wird, sondern daß das Kerygma auch oberhalb solcher Verkündigung als ,Schrift' da ist. Kerygma ohne historischen Bericht ist Spiritualisierung, historischer Bericht ohne Kerygma ist judaistische Verhärtung." 5 3 Wenn man die Heilsgeschichte entweder nur unter dem Gesichtspunkt ihrer historischen Tatsächlichkeit sieht oder ihren Geschichtsgrund beiseite läßt und sie einfach unter einem existentiell-kerygmatischen Blickwinkel betrachtet, so verfehlt man dadurch den gesamten Sinn der Offenbarung, der sich weder in der einen noch in der anderen Weise erschöpfend darstellen läßt. Welche Konsequenzen sich aus der einen oder der anderen Betrachtungsweise ergeben, schildert Slenczka, indem er zunächst in der Verlagerung des Interesses auf die Hervorhebung der historischen Wirklichkeit Jesu ein Hindernis für die universale Geltung seines Werkes sieht. Überwiegt das Interesse an seiner historischen Existenz, „so gibt es weder nach dem Quellenbefund noch nach den anthropologischen Voraussetzungen eines empirischen Personenverständnisses eine überzeugende Antwort dafür, daß dieses Individuum in seiner mehr oder minder deutlich erkennbaren Zeitbedingtheit von einer universalen, bleibenden Bedeutung sein soll" 5 4 . Wird im Gegensatz dazu die historische Bedeutung Jesu vernachlässigt, so geht dabei der eigentliche Charakter der Offenbarungswahrheit verloren, und sie wird nur eine unter vielen anderen Wahrheiten. „Wird umgekehrt das Interesse ganz auf das Verkündigungsgeschehen konzentriert, so gibt es kein überzeugendes Argument dafür, daß der Inhalt dieser Verkündigung etwas anderes sei als eine zeitlose, ungeschichtliche Idee im objektiven oder subjektiven Sinne." 5 5 Wenn der Unterschied zwischen dem einmaligen und dem gegenwärtigen Aspekt der Offenbarung notwendig ist, dann, mit G. Bornkamm, „um die Zuordnung beider und ihre wechselseitige Durchdringung um so deutlicher zu machen" 5 6 . Es ist dieselbe Christusgeschichte, die an allen Orten und zu allen Zeiten geschieht und sich einmal historisch ereignete. Wenn sie aber hier und 52 53 54 55 56

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Das neuzeitliche Geschichtsdenken und die Theologie. Antwort an Friedrich Gogarten, in: Luthertum, Heft 12, Berlin 1954, S. 21. Ebenda, S. 23. A.a.O., S. 334. Ebenda. Jesus von Nazareth, S. 18.

jetzt geschieht, dann nicht losgelöst von ihrem historischen Ereignis und nur aufgrund ihres erstmaligen und einmaligen Ergehens. In der Einmaligkeit des Heilsgeschehens ist der Bezug des Glaubens und des Kerygmas begründet, und darauf sollte nach W. Pannenberg ,,das Lebensinteresse des Glaubens an der Zuverlässigkeit seines geschichtlichen Grundes" 5 7 theologisch zurückgeführt werden. Ohne diesen Rückbezug auf ein historisches Ereignis würde das Kerygma an Glaubwürdigkeit verlieren. Die Frage nach der historischen Begründung des Glaubens sollte nicht als eine Suche nach der Legitimation im Sinne der Vergewisserung des Glaubens betrachtet werden, der ja Wagnis und Vertrauen bedeutet 5 8 . In gewissem Sinne wird man nicht auf die Legitimation des Kerygmas verzichten können, wenn es nicht zu einer unbestimmten und unverbindlichen Aussage werden soll. Auch nach Pannenberg hat das Kerygma seinen Grund nicht in sich selbst: „Das Wort allein mit seinem bloßen Anspruch auf Wahrheit, abstrakt für sich genommen, kann eben noch nicht zureichender Grund für den Glauben sein". 5 9 Ohne die historische Verkündigungsgeschichte Jesu wäre nach H. Diem die Verkündigung dessen, was er verkündigt hat, gar nicht möglich, „weil die erstere Geschichte in ihrer kontingenten Einmaligkeit in ihrem εφαηαί; der Reell- und Erkenntnisgrund für die zweite Geschichte, die Geschichte der Verkündigung von dieser ersten Geschichte ist" 6 0 . So sehr es einerseits notwendig ist, zwischen der einmaligen Geschichte Jesu und ihrem gegenwärtigem Geschehen zu unterscheiden, so gehört andererseits zur Bestimmung ihres Verhältnisses ihre Kontinuität und Zusammengehörigkeit wesensnotwendig hinzu. Die Einheit und die Identität der einmaligen Ereignisse der Christusgeschichte mit dem gegenwärtigen Heilsgeschehen sind in der personalen Einheit und Identität des historischen Jesus und dem erhöhten Christus begründet. Die gegenwärtige Begegnung mit Christus und die Erfahrung seiner Heilsgnade bleibt immer an seine einmaligen Heilstaten gebunden, weil in der Verkündigung durch Jesus Christus als ihr Subjekt 6 1 dieselben Heilstaten, die er in historischer Einmaligkeit erfüllte, von ihm selbst vergegenwärtigt werden. Eine Grundvoraussetzung der Geschichte besteht nach G. Gloege darin, „daß ,Geschichtliches' sich nicht nur an ,Historisches' binden kànn, sondern notwendig binden muß. Das gilt jedenfalls über das geschichtliche' ins ,Historische' vorstoßenden Offenbarung und ihrer Überlieferung" 6 2 . 57 58 59 60 61 62

Kerygma und Geschichte, in: Grundfragen systematischer Theologie, 2. Aufl., Göttingen 1971, S. 82. Vgl. W. Pannenberg, Einsicht und Glaube, in: Grundfragen ., S. 2 2 3 - 2 3 6 . Kerygma und Geschichte, S. 82. A.a.O., S. 225. Ebenda, S. 225 f. Offenbarung und Überlieferung . ., S. 24, Anm. 36.

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Eine begriffliche Unterscheidung zwischen Historie und Geschichte ist in der orthodoxen Theologie, soweit uns bekannt ist, nicht erfolgt, wohl aber, was darunter zu verstehen ist, nämlich die Herausarbeitung des Unterschiedes zwischen der Offenbarung als vergangenes Ereignis und als gegenwärtig wirksames Handeln Gottes. Eine Diskussion über den historischen Jesus und den Christus des Glaubens, die möglicherweise die Aufspaltung seiner personalen Einheit in Jesus und Christus zur Folge gehabt hätte, wurde in der Ostkirche nicht geführt. Ebenso hat sich hier ein ausschließlich existentielles Geschichtsdenken nicht durchgesetzt. Von einem Vorrang der existenzbezogenen Interpretation des Heilsgeschehens, die die vergangenen Ereignisse in den Schatten stellte, kann nicht die Rede sein, wenn auch gesagt werden soll, daß ein existentielles geschichtliches Denken durchaus geübt wird, doch dieses ist in der orthodoxen Theologie nicht so vorherrschend wie in der protestantischen Theologie, wenngleich dies auch hier nicht für alle Richtungen in gleicher Weise gilt. In dem neutestamentlichen Befund läßt sich weder eine Diskontinuität zwischen Jesus und Christus feststellen oder wenigstens ableiten noch ist darin erkennbar, daß dem vorösterlichen Jesus keine Bedeutung für den Glauben beigemessen wird. Bei aller Anerkennung der Tatsache, daß die neutestamentlichen Autoren ihre Schriften nicht primär aus historischem Interesse verfaßten, sondern diese vorwiegend als Glaubenszeugnisse zu verstehen sind, wird man jedoch den Bezug der neutestamentlichen Zeugnisse auf die historische Geschichte Jesu schwer übersehen können, wenn nicht gerade eine vorgefaßte Meinung auf diese projiziert oder der Hauptcharakter des Neuen Testamentes, der in der Bezeugung des Glaubens besteht, als der einzige und alles andere ausschließende betrachtet wird. Im Gegensatz zu einer Betrachtung der neutestamentlichen Zeugnisse, nach der zu deren Inhalt allein der erhöhte Christus gehörte, die in sich die theologische Folgerung beinhaltet, daß die Historie Jesu für den Glauben irrelevant sei, wird man die unverkennbar vorhandenen und im Text des Neuen Testamentes mit den Glaubensaussagen verflochtenen und in diese hineingenommenen Hinweise auf den historischen Jesus feststellen müssen und sie ebenfalls theologisch auswerten in dem Sinne, daß der Glaube nicht ohne Bezug auf die Historie des vorösterlichen Jesu besteht, ja daß diese in den Glauben hineingehört. Gegenstand der Verkündigung ist nicht nur der im Glauben erfahrene, auferstandene Christus, sondern auch Jesus, wie er von den ihm umgebenden Aposteln erkannt wurde. Der Auferstandene wird nicht isoliert dargestellt, sondern seine Identität mit dem historischen Jesus wird deutlich ausgesprochen: „Diesen Jesus hat Gott auferweckt; des sind wir alle Zeugen So wisse nun das ganze Haus Israel gewiß, daß Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zu einem Herrn und Christus gemacht h a t " (Apg. 2,32 und 36). Für wie wichtig der historische Jesus für die Verkündigung von den 32

Aposteln erachtet wurde, und daß diese sich nicht nur auf den auferstandenen Christus beschränkte, wird in der Wahl Matthias' deutlich 6 3 , denn sonst hätten sie nicht darauf bestanden, daß der Nachfolger des Judas nur einer sein soll, der sie begleitet, als sie mit Jesus zusammen waren (Apg. 1,21). Wenn es für Paulus genügte, Zeuge des Auferstandenen zu sein, um Apostel zu werden, so war ihm der historische Jesus nicht unbekannt, weil er durch die Überlieferung Zugang zu ihm erhielt (1 Kor. 15,3). Die Bedeutung des vorösterlichen Jesus und seiner Historie für den Glauben ist in der Ostkirche weiterhin in der Menschwerdung Gottes in Jesus und in der Präsenz und Wirkung des Hl. Geistes auch in dem historischen Jesus begründet. Wenn der historische Jesus aus der Heilsgeschichte und der Christologie entfernt wird, was ja dann geschieht, wenn für den Glauben nur der auferstandene Christus von Belang ist, dann übersieht man ein wichtiges Kapitel der Christologie, nämlich die Inkarnation des Wortes Gottes, und verkennt zugleich durch die Geringschätzung seiner historischen Tätigkeit und deren Isolierung von dem nachösterlichen Heilswirken Christi, daß die Christologie sich nicht nur auf den erhöhten Herrn beschränkt, sondern sich auch auf den erniedrigten Jesus bezieht und daß diese die beiden Abschnitte der Heilsökonomie in ihrer Zusammengehörigkeit umfaßt. Der irdische ist nicht nur der Mensch Jesus, sondern er ist Gott und Mensch zugleich. In seiner irdisch-menschlichen Gestalt offenbart sich Gott selbst. In ihm offenbarte sich nicht nur Gott in der Geschichte, sondern Jesus offenbarte sich selbst als Gott: ,,Wer mich sieht, der sieht den Vater" (Joh. 14,9). „Glaubet mir, daß ich im Vater und der Vater in mir ist " (ebd., V. 12). Obwohl Jesus sich bis zum Tode am Kreuz erniedrigte (Phil. 2,8), hörte er in seiner ganzen historischen Existenz nicht auf, zugleich Gott zu sein 64 In ihm ist Gott Mensch geworden. Wer seiner irdischen Existenz und Tätigkeit nur als der eines bloßen Menschen Anerkennung zollt, der mißachtet nicht einfach den Menschen Jesus, sondern Gott in Jesus, der untrennbar ist von Jesus als Mensch. Die Verkündigung und das Wirken des historischen Jesus sind nicht die irgendeines Menschen, mag er auch ein besonderer sein. Jesu Wort und Handeln entspringen der göttlichen Kraft, die er in sich hat: „Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünden zu vergeben " (Matth. 9,6). Nur weil er im Besitz göttlicher Vollmacht war, konnte er diese auch seinen Aposteln geben: „Er sonderte aber die Zwölf zusammen und gab ihnen Gewalt und Macht " (Lk. 9,1).

63 64

Vgl. M. Burrows, Der historische Jesus und die Lehre von der Inkarnation, in: Der historische Jesus ., S. 4 8 9 . Vgl. D. Staniloae, Das Bild Christi in der Ostkirche: Jesus Christus, die Gabe und das höchste Wort Gottes, in: Ortodoxia, Nr. 1, 1973, S. 6 (rum.).

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So handelte und verkündigte Jesus in seiner irdischen Tätigkeit nicht nur wie die Propheten im Alten Testament in göttlichem Auftrag, sondern mehr als diese war er nicht nur Mensch, sondern auch Gott zugleich. Dies gilt nicht nur nach seiner Auferstehung, vielmehr auch schon vorher seit seiner Inkarnation und während seines ganzen historischen Wirkens. Die Offenbarung fängt deshalb nicht mit seiner Auferstehung an, sondern vollzieht sich auch durch den historischen Jesus, und sie ereignet sich nicht zuerst in individueller Innerlichkeit des eigenen Glaubens, sondern sie ergeht zunächst in historischen Geschehnissen, aufgrund deren dann der Glaube entsteht. Dieser kann nicht auf sich selbst beruhen und wäre ein unbestimmter Glaube, würde er seinen Grund nicht in historischen Heilsereignissen haben. Wenn der Glaube nur auf den nachösterlichen Christus bezogen wird, so wird ihm dadurch die historische Grundlage entzogen, und die in der personalen Einheit Jesu Christi gegründete Zusammengehörigkeit seines Heilswerkes, das sich vor und nach der Auferstehung erstreckt, wird aufgehoben, wobei das irdische Heilshandeln Jesu so gut wie unberücksichtigt bleibt. Bei einer Geringschätzung des historischen Jesu für den Glauben wird weiterhin die Mitwirkung des Hl. Geistes bei der Offenbarung in Jesus Christus außer acht gelassen. Die Auffassung, daß der Glaube an den Taten des historischen Jesus uninteressiert sei, steht auch im Gegensatz dazu, daß Jesus im Hl. Geist handelte. Wenn sein Gottsein für die Bedeutung seines Wirkens nicht berücksichtigt wird, übersieht man, daß „Gott diesen Jesus von Nazareth gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und K r a f t " (Apg. 10,38). Auch während seiner irdischen Existenz war Jesus von dem Hl. Geist erfüllt: „Und Jesus kam wieder in des Heiligen Geistes Kraft nach Galiläa" (Lk. 4,14). Als Mensch empfängt Jesus den Hl. Geist wie die Propheten Israels, aber auch noch mehr als sie, denn als Sohn Gottes, schreibt Staniloae, ist er mit dem Hl. Geist ewig vereint: „Als die göttliche Hypostase, die sich die menschliche Natur zu eigen gemacht hat, ist Christus eins mit dem Hl. Geist auch in seinem Menschsein. In dem Mensch gewordenen Sohn Gottes ist der Hl. Geist hypostatisch anwesend, so wie er in ihm auch vor seiner Menschwerdung war >>65 Die Präsenz und die Wirkung des Hl. Geistes nicht nur in dem erhöhten Christus, sondern auch in dem historischen Jesus ist ein Grund dafür, daß man die Bedeutung der historischen Heilsgeschichte für den Glauben nicht vernachlässigen und den Glauben an den auferstandenen Herrn nicht radikal von seiner vorösterlichen Geschichte trennen darf. Man sollte aber nicht nur, was den historischen Jesus und die theologische Relevanz seiner Historie für den Glauben betrifft, die Pneumatolo-

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Der Heilige Geist in der Offenbarung und in der Kirche, in: Ortodoxia, Nr. 2, 1974, S. 2 3 4 (rum.).

gie ernsthafter in Betracht ziehen, sondern auch, wenn es um das gegenwärtige Geschehen seiner historischen Geschichte geht. Obwohl der Glaube als eine existentielle und personale Entscheidung gilt, so entsteht er nach Nissiotis nicht außerhalb des Hl. Geistes und der Kirche. „Es ist nicht ein psychologisches, emotionelles Erlebnis oder ein leichtgenommener Mystizismus, sondern im Glauben des Einzelnen ist es ein Ergebnis dessen, was er nur in der Kirche durch die Macht des Heiligen Geistes erfährt. Dies ist auch der Grund, warum es unmöglich ist, ohne eine gefestigte Theologie des Hl. Geistes das Problem des Glaubens auf existentielle Weise zu behandeln." 6 6 Eine existentialistische Glaubensinterpretation, die den Hl. Geist als die Kraft, in der Christus gegenwärtig wird und in der der Glaube entsteht, nicht einbezieht, verliert die Verbindung mit der historischen Geschichte Jesu, mit dem der Hl. Geist eins ist. Es gehört nicht zum Werk des Hl. Geistes, neue Glaubensinhalte zu setzen, sondern eben das, was Jesus Christus vollbracht hat, gegenwärtig, lebendig und wirksam zu machen. Ohne den Hl. Geist kommen entweder die historischen Heilsereignisse nicht mehr zu ihrer Aktualisierung, oder die gegenwärtige Erfahrung des Heils im Glauben wird von ihrem historischen Grund isoliert und droht zu einem unbestimmten allgemeinen Glauben zu werden, der nur zufällig und unverbindlich auf Jesus von Nazareth hinweist. Der Hl. Geist verbindet die Offenbarung mit der Überlieferung, in der das „extra m e " des Glaubens zu einem gegenwärtigen „pro m e " wird. An der Untrennbarkeit des Christus des Glaubens von den konkreten Heilsereignissen des irdischen Jesu, der auch zum Bezugsobjekt des Glaubens gehört, wird das Verhältnis zwischen dem historischen und dem geschichtlichen Charakter der Offenbarung deutlich. Das Heilsgeschehen ist nach der Lehre der Ostkirche nicht nur ein personales Geschehen, das sich „pro m e " im Glauben ereignet, sondern auch und zuerst ein der personalen Glaubensentscheidung vorgegebenes objektives Heilsereignis. Wenn sie die historische Tatsächlichkeit und die Externität, das „extra n o s " des Heils betont, dann nicht, um das hic et nunc der Erlösungsgeschichte zu schwächen, sondern um auf die historische Grundlage des gegenwärtigen Heilsgeschehens hinzuweisen, ohne die dieses auch nicht möglich sein kann. Es kann nicht darum gehen, der Vergangenheit oder der Gegenwart der Christusgeschichte den Vorrang zu geben, denn auf diese Weise verliert man entweder die Verbindung zu dem Heute des Heilsgeschehens, oder im Namen einer aktualistischexistentialistischen Heilserfahrung geht die Beziehung zu den historischeinmaligen Heilsereignissen als ihrem Grund verloren. Wenn es zwischen dem historischen und dem gegenwärtigen Geschehen der Offenbarung zu unterscheiden gilt, so sollte dies jedoch nicht zu 66

Die Einheit von Schrift und Tradition, von einem östlich-orthodoxen Standpunkt aus, in: ö k u m R s 14, 1965, S. 278.

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einer Scheidung dessen verleiten, was in Wirklichkeit untrennbar ist. So wie zwischen dem historischen J e s u s und dem erhöhten Christus keine Scheidelinie gezogen werden kann, so wenige Gründe gibt es dafür, das heutige Glaubensgeschehen von der damaligen Erlösungsgeschichte zu trennen. Wegen einer deutlichen Unterscheidung zwischen diesen beiden Aspekten der Offenbarung und wegen einer genaueren Erkenntnis ihrer Bedeutung ist man geneigt, sie voneinander zu isolieren und sie somit aus ihrer Zusammengehörigkeit zu reißen. Wenn man die verschiedenen Aspekte einer Wirklichkeit voneinander trennt, so wird jeder für sich genommen nicht mehr das sein, was er innerhalb der gesamten Wirklichkeit bedeutete 6 1 . Zwischen dem historischen und dem gegenwärtigen Heilsgeschehen besteht ein unlösbarer ursächlicher Zusammenhang, weil es sich in der Tat um eine einzige Wirklichkeit handelt, die sich nicht nur in der Vergangenheit ereignete, sondern auch jetzt geschieht und nach vorne gerichtet ist. Die Offenbarung kann nur als Ganzes verstanden werden, d.h. als eine Wirklichkeit, die zugleich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogen ist. Man kann sie deshalb nicht nur als Gegenwartsgeschehen betrachten, ohne sie zugleich in ihrer Beziehung zu den historischen Heilsereignissen in J e s u s Christus und in ihrer eschatologischen Auswirkung zu sehen. Dazu schreibt Nissiotis: „ D a s J e t z t der Bibel steht dadurch im Mittelpunkt des Kreuzes und verbindet in horizontaler Linie die Vergangenheit mit der Zukunft und in vertikaler Linie Ewigkeit und Zeit. Es gibt in der biblischen Sprache kein J e t z t , das abgesondert und definiert werden k a n n . " 6 8 In gleichem Maße, wie einem absolut werdenden Glaubensexistentialismus entgegenzutreten ist, gilt es auch, einer Verengung des Offenbarungsverständnisses durch eine positivistische Historisierung des Heilsgeschehens entgegenzuwirken. Die Offenbarung ist nicht nur eine historische Wirklichkeit, und sie kann nach Florovsky nicht einfach vergangen sein 6 9 Das einmalige historische Ergehen der Offenbarung stellt die Grundlage für ihren gegenwärtigen Vollzug dar. Im Vergleich zu den Ereignissen der säkularen Geschichte geschah die Offenbarung nicht nur einmal, sondern sie wird auch heute im Glauben lebendige und gegenwärtig wirksame Heilsgeschichte. 7 0 Das Verhältnis zwischen Historie und Geschichte der Offenbarung in ihrem objektiven und existentiellen Verständnis ist jenes einer gegenseitigen Vermittlung und eines Aufeinanderverweisens. Die von J e s u s Christus erfüllten Heilstaten, die seine Zeitgenossen als eine lebendige, sie angehende Geschichte erlebten, sind Historie geworden, damit sie für 67 68 69 70

36

Vgl. D. Staniloae, Das Bild Christi ., S. 12. Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 2 8 1 . O f f e n b a r u n g und Deutung, S. 191. N.A. Nissiotis, Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 278.

alle Generationen wiederum wirksame Gegenwartsgeschichte des Heils wird 7 1 . Dies wird ermöglicht durch die Vermittlungsfunktion der Tradition, die an der Hl. Schrift orientiert ist und mit ihr eine Einheit bildet.

2. Transzendenz

und Geschichte

im Prozeß der

Offenbarung

Wenn hier die Frage nach der Transzendenz und Geschichte der Offenbarung aufgeworfen wird, dann angesichts einer immanenten Gefahr, von der das Verständnis der Offenbarung schon immer bedroht war, wenn die eine oder die andere in den Vordergrund gerückt wird. Zur Bestimmung der Offenbarung m u ß in gleichem Maße berücksichtigt werden, daß sie eine geschichtliche wie auch transzendente Wirklichkeit ist, die zwar in die Geschichte ein-, aber nicht in ihr aufgeht. Die Frage nach der Transzendenz der Offenbarung hat zweifellos ihre Berechtigung, da man sich vor allem mit ihrem geschichtlichen Charakter zu befassen scheint. Die Selbstkundgabe Gottes setzt den Menschen in seiner geschichtlichen Realität als Partner in der Bewegung voraus. Die Wirklichkeit der alttestamentlichen und der Christusoffenbarung versteht sich als eine Tat Gottes am Menschen in seiner Geschichte. G o t t o f f e n b a r t sich in der Geschichte, d.h. er redet den Menschen an, handelt und begegnet ihm, so daß das ganze Heilsgeschehen einen zutiefst geschichtlichen Charakter trägt. Der Mensch wird nicht aus der Geschichte herausgerissen, um in die Gemeinschaft mit Gott, die durch die O f f e n b a r u n g entsteht, einzutreten. Die Selbsterschließung Gottes findet nach G. Florovsky nicht in einer transempirischen Begegnung mit den Menschen statt: „Wer G o t t begegnen will, braucht deshalb der Zeit oder der Geschichte nicht zu e n t f l i e h e n . " 7 2 Die durch die Offenbarung gestiftete und gefestigte Gemeinschaft mit G o t t entzieht dem Menschen nicht seine innerweltlichgeschichtliche Existenz. „Denn Gott begegnet dem Menschen in der Geschichte, das heißt auf dem Boden des Menschentums, mitten im täglichen L e b e n . " 7 3 Nur im Rahmen einer geschichtlichen Wirklichkeit kann die Heilswirklichkeit zum Inhalt menschlicher Erfahrungen werden. Die Frage nach dem Heil kann nach W. Pannenberg nicht so beantwortet werden, daß man dabei die Geschichte ausschließt: „Alle theologischen Fragen und A n t w o r t e n haben ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte "74.

71 72 73 74

Vgl. H. Diem, a.a.O., S. 2 2 5 . Offenbarung und Deutung, S. 187. Ebenda, S. 187. Heilsgeschehen und Geschichte, in: Grundfragen . .

S. 22.

37

Gott enthüllt sich mittels geschichtlicher Ereignisse. Die Geschichtsbezogenheit ist nach G. Gloege eine Grundeigentümlichkeit göttlicher Offenbarung 7 5 . Zum Verständnis der Offenbarung in der Geschichte gehört ihre Tatsächlichkeit. Für P. Althaus wird die historische Tatsächlichkeit zu einem der Hauptanliegen seiner Theologie der Offenbarung. An der geschichtlichen Person Jesu Christi erweist sich ihr konkreter Charakter. „Die Wahrheit des Evangeliums bedeutet die historische Tatsächlichkeit der Geschichte Jesu ." 7 6 . Das Heil in Christus ist ein „Stück echter Geschichte" 7 7 . Das Evangelium „redet also ohne Zweifel von einer geschichtlichen Tatsache als entscheidender Wirklichkeit zwischen Gott und Mensch" 7 8 . Auf der ganzen Linie ist die Offenbarung geschichtlich. Sie ereignet sich nicht außerhalb der Geschichte auf geheime und mysteriöse Weise 79 . „Man kann sagen, die Offenbarung sei Gottes Weg in der Geschichte. Und sein Höhepunkt wurde erreicht, als Gott selbst und für immer in die Geschichte einging: als Wort Gottes ,Fleisch' und ,Mensch' wurde «80 Wenn die Offenbarung geschichtlich ist, bedeutet das noch nicht, daß sie nur eine geschichtliche Wirklichkeit ist. Ihr Geschichtscharakter, der in der Person Jesu Christi seine höchste Bestätigung erfährt, wird nicht zu ihrer allumfassenden Bezeichnung. Sie ist in vollem Sinne geschichtlich, aber auch zugleich mehr als nur geschichtlich. Unendlich anders als die Welt und der Mensch übersteigt Gott in seiner Existenz und in seiner Wirkungskraft alles, was als menschlich möglich vorstellbar sein kann. Die Transzendenz als umschreibende Wesenseigenschaft Gottes in seiner Absolutheit gegenüber der Welt und den Menschen soll nicht verstanden werden als ein räumlicher, der Menschenwelt entfernter Bereich, in dem sich Gott, seine Transzendenz bewahrend, aufhält, um zu bestimmten Zeiten in sie einzugreifen. Eine solche deistische Vorstellung der Transzendenz und der Existenz Gottes widerspricht dem christlichen Offenbarungsverständnis. Der unausdenkbare Unterschied zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, der einerseits den Menschen und seine Welt und andererseits Gott kennzeichnet, bedeutet jedoch nicht einen absoluten Gegensatz zwischen dem in seiner Transzendenz sich offenbarenden Gott und dem

75 76 77 78 79 80

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Offenbarung und Überlieferung S. 24. Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, 4. Aufl., Gütersloh 1958, S. 110. Ebenda. Ebenda, S. 105. W. Pannenberg, Hrsg., Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961, S. 98. G. Florovsky, Offenbarung und Deutung, S. 189.

Menschen, zwischen Offenbarung und Geschichte 8 1 . Dieses Verhältnis ist jedoch zugleich davon bestimmt, daß die Menschen und ihre Geschichte unter dem Zorn und dem Gericht Gottes stehen. Als Ereignis der Selbstenthüllung Gottes geschieht die Offenbarung immer in der räum-zeitlichen Dimension der Geschichte. In seiner absoluten Transzendenz bedient sich Gott der Geschichte, um sich den Menschen zugänglich zu machen. Die Menschen erfahren dadurch in der Geschichte und Immanenz die unmittelbare Nähe des transzendenten Gottes. Die Gleichzeitigkeit der Immanenz und der Transzendenz zeigt sich am deutlichsten in der Menschwerdung Gottes. C. Sîrbu umschreibt die Inkarnation des Wortes als „die Immanenz in Transzendenz und die Transzendenz in Immanenz" 8 2 . In der ganzen Heilsgeschichte zeigt sich Gott als der transzendente und der immanente zugleich. Obwohl wir, nach E. Schlink, im Glauben mit Christus vereint sind, bleibt er weiterhin unser Gegenüber: „Hier gilt weder Transzendenz noch Immanenz in systematischer Isolierung. Beide schließen sich in Gottes Handeln am Menschen gerade nicht aus." 8 3 Nach P.N. Trembelas sind die Transzendenz und die Immanenz nicht als zwei nacheinander folgende Seinsweisen Gottes, sondern als Eigenschaften zu verstehen, die er gleichzeitig besitzt. Gott ist transzendent und gleichzeitig in der Geschichte anwesend und wirkend 84. Die Offenbarung bedeutet nicht einen Verlust der Transzendenz Gottes. Sowohl von einem Verlust der Transzendenz als auch davon, daß der transzendente Gott unzugänglich wäre, kann in der orthodoxen Theologie und Frömmigkeit nicht die Rede sein. Hier werden nicht jene Extrempositionen vertreten, die entweder zu einem Transzendenzverlust führen oder, um die Transzendenz Gottes zu retten, seine Immanenz preisgeben, um so eine unüberwindliche Kluft zwischen Immanenz und Transzendenz herzustellen. Die Theologie kann den Weg zu Gott in beiden Fällen versperren: sowohl indem sie ihn auf das Naturhafte und Geschichtliche reduziert als auch dadurch, daß sie ihn in seiner Transzendenz einschließt. Wenn Transzendenz und Geschichte zwei Aspekte der einen Offenbarungswirklichkeit darstellen, so muß das Geschichtliche und das Göttliche der Offenbarung in ihrem Verhältnis bewahrt werden, ohne daß das eine von dem anderen absorbiert wird. Als maßgebendes Korrektiv für die Integrierung der Transzendenz und der Immanenz der

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D. Staniloae, Jesus Christus oder die Wiederherstellung des Menschen, Sibiu 1 9 4 3 , S. 4 8 (rum.). Die Menschwerdung als Offenbarung, in: Ortodoxia Nr. 4, 1970, S. 517 (rum.). Die Struktur der dogmatischen Aussage als ökumenisches Problem, in: Der kommende Christus ., S. 58. Ύρεμπέλα, Ασγματκή της Ορθοδόξου καθολικής 'Εκκλησίας, τομ. I, Αθήναι 1959, S. 95.

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Offenbarung dient die Menschwerdung des Wortes Gottes. In der personalen Einheit Jesu Christi als Gott und Mensch erfahren wir die Transzendenz und die Immanenz in einer einzigen Verschmelzung. Von dem rechten Verständnis der Menschwerdung hängt auch nach Sîrbu das rechte Verständnis der Offenbarung ab, das gleichermaßen ihre „Projizierung in einer stummen Transzendenz wie auch ihr völliges Abgeschlossensein in der Immanenz" ausschließt 8 5 . Durch Immanentismus und Transzendentalismus allein wird die Wirklichkeit der Offenbarung nicht erfaßt. Die Geschichte ist eine Grundbestimmung der menschlichen Existenz. Sie ist die räum-zeitliche Wirklichkeit, in der sich Gott und Mensch begegnen, in der die Tat Gottes mit der der Menschen sich eng verflicht. Der historische Charakter der Offenbarung schließt ihre Transzendenz nicht aus, diese ist aber kein Produkt der Geschichte. Die Transzendenz der Offenbarung ist nicht durch die Geschichte bedingt, sondern die letztere ist ein Aspekt der Offenbarung, die nach K. Barth die bestimmende Größe gegenüber der Geschichte darstellt. „Offenbarung ist nicht ein Prädikat der Geschichte, sondern Geschichte ist ein Prädikat der Offenbarung. Man kann und muß wohl zuerst im Hauptwort Offenbarung sagen, um nachher erklärend Geschichte zu sagen." 8 6 Die Transzendenz, die die Abgrenzung und den Horizont unseres Wissens und Wirkens darstellt, kann nicht von der Geschichte und vom Menschen her authentisch gedacht werden. Bei der engen Verflechtung der Offenbarung mit der Geschichte wird man nicht übersehen, daß zwischen beiden ein unumkehrbares Verhältnis besteht und daß die letztere nach Staniloae nur als das Medium der Offenbarung dient und nicht in einer kausalen Beziehung zu ihr steht: „Der Sinn der Geschichte liegt darin, daß sie das Medium, in dem die Offenbarung vermittelt wird, darstellt. Nicht die Geschichte bringt die Offenbarung hervor und diese wird nicht durch eigene Kraft der Geschichte ermittelt." 8 7 Und doch stellen sich Offenbarung und Geschichte trotz ihrer Andersartigkeit nicht als zwei parallel zueinander verlaufende Ebenen dar, die sich niemals begegnen können. Der Sinn der Offenbarung besteht in der Tat darin, daß sie als transzendente Wirklichkeit geschichtlich vermittelt wird. Gott offenbart sich innerhalb der Geschichte und der Welt, in der der Mensch seine irdische Existenz verbringt. Das soll nicht heißen, daß Gott sich mit der Welt oder mit der Geschichte bis zu seiner Auflösung und Entpersonalisierung identifiziert. Wenn aber Gott den Menschen mit seiner Welt und in der Geschichte transzendiert, so soll dies nicht zu

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Die Menschwerdung ., S. 525. KD 1,2, S. 64. D. Staniloae, Jesus Christus . . ., S. 36.

dem Gedanken veranlassen, daß er sich außerhalb des Welt- und Geschichtshorizontes befände, denn dann wäre unsere Beziehung mit ihm nach S. Bulgakov nicht mehr möglich: „Gott ist unerreichbar außerhalb seiner Beziehung zu der Welt." 8 8 Die absolute Transzendenz und Überlegenheit Gottes hält ihn nicht in der Höhe und Ferne und außerhalb der Menschheitsgeschichte. Die absolute Transzendenz Gottes wird durch die Offenbarung absolute Nähe und unmittelbare Innerlichkeit seiner Anwesenheit. Die wahre Transzendenz können die Menschen nach Staniloae nicht in philosophischen Systemen, sondern in Jesus Christus erfahren, weil wir in ihm „dem Absoluten in einer konkreten Person" begegnen 8 9 Seine Transzendenz und seine ontologische Identität mit sich bewahrend wirkt Gott durch die Offenbarung in Christus in der Geschichte. Die Anwesenheit und die Wirksamkeit Gottes in der Welt verstehen sich aber nicht als eine ontologische Undifferenziertheit zwischen Gott und der Welt, durch die er wirkt. Die immanente Transzendenz Gottes hebt nicht den Unterschied zwischen Gott und der Welt auf. Dieses Verhältnis wird von S. Bulgakov so dargestellt, daß die Untrennbarkeit zwischen Gott und der Welt nicht pantheistisch verstanden wird, im Sinne einer Aufhebung ihrer ontologischen Grenzen. Die Beziehung Gottes zu der Welt wird durch den Unterschied, der zwischen beiden besteht, nicht zerstört. 9 0 Um das rechte Verhältnis zwischen Gott und der Welt auszudrücken, gebraucht er den Begriff „Panentheismus" im Unterschied und als Gegensatz zum Pantheismus. 9 1 Dazu muß wiederum mit Staniloae gesagt werden, daß „Gott als höchste personale Realität nicht in einer substantiellen Kontinuität mit uns und mit der Welt steht " 9 2 . Dieselbe klare Unterscheidung zwischen dem, was zu der Welt gehört und dem, was in der Offenbarung enthüllt wird, trifft auch Althaus: „ ,Gott' offenbart sich, das heißt auf alle Fälle, daß uns etwas anderes kund wird als diese Welt, d.h. als das, was wir als in Raum und Zeit wirklich erfahren. Es handelt sich also um das, gemessen an der Wirklichkeit der Welt, Jenseitige', Transzendente, um eine Wirklichkeit, die von aller unserer Weltwirklichkeit unterschieden ist." 9 3 Der geschichtliche Charakter der Offenbarung bedeutet keineswegs eine Einschränkung und einen Selbstverzicht Gottes auf seine Transzendenz, der in der Horizontalität der Geschichte seine Grenze erfährt. Gott hat sich zwar in Jesus Christus selbst erniedrigt bis zu dessen Tod am Kreuz (Phil. 2,8), aber in seiner völligen Selbstlosigkeit ist er zugleich transzen88

Du Verbe incarné (Agnus Dei), traduit du russe par Constantin Andronikof, Paris 1943, S. 41. 89 Jesus Christus ., S. 53. 90 A.a.O., S. 41. 91 Ebenda, S. 4 1 - 4 2 . 9 2 Jesus Christus ., S. 7. 9 3 Die christliche Wahrheit . . ., S. 22.

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dent. Bei Gott gilt beides zugleich: seine Erniedrigung und seine Transzendenz. Staniloae spricht von dem Paradoxon der gleichzeitigen Erniedrigung und Unveränderbarkeit Gottes 9 4 Wenn Gott Mensch wird und wie ein Mensch stirbt, hört er nicht auf, gleichzeitig Gott zu sein. Die Immanenz und die Historizität sind nicht Stadien, die Jesus erreicht, nachdem er seine Transzendenz aufgegeben hat. „Gott liefert sich aus, ohne sich aufzugeben." 9 5 Die Geschichte wird nicht ein Ersatzbegriff für die Offenbarung und Gott, der von diesem Zeitpunkt an eine bloß geschichtliche Wirklichkeit wird und nicht mehr. Die Transzendenz Gottes kann sich nicht in der Horizontalität der Geschichte beschränken und mit ihr Gott selbst, sondern der letzteren wird die Erschließung zur Transzendenz ermöglicht. Der sich offenbarende und in die Geschichte eingetretene Gott verliert nicht auf diesem Wege die Identität mit sich selbst. Aber als vollkommenes Wesen und völlig unabhängig in seinem Personsein bedarf Gott keiner anderen Wirklichkeit, um in sich selbst zu existieren. Nicht aus der Existenznotwendigkeit Gottes versteht sich seine Offenbarung innerhalb der Geschichte, als trüge diese Tatsache zur Vollendung seines eigenen Seins bei. Die Begegnung mit ihm in der Geschichte und die Erfahrung seiner wirkenden Anwesenheit in unseren von der Liebe getragenen zwischenmenschlichen Beziehungen stehen nicht für die einzige Seinsweise Gottes, als würde sich hier das ganze Mysterium seiner personalen Existenz erschöpfend ausdrücken 9 6 . In der Erschließung seiner Transzendenz, die durch die Offenbarung erfolgt, bleibt Gott weiterhin transzendent. Gott existiert auch in sich unabhängig von der Welt. In seinem Sein ist Gott unabhängig von den Menschen und der Welt. In dem gott-menschlichen Personsein Jesu Christi zeigt sich, wie der sich selbst offenbarende Gott innerhalb der Geschichte das Heil bewirkt, ohne dadurch seine Transzendenz preiszugeben oder in sich nur eine geschichtliche Wirklichkeit zu werden. Jesus Christus ist ein Beweis dafür, wie der ungreifbare und alles übersteigende Gott sich selbst in der Geschichte vermittelt und den Menschen begegnet. Wenn auch die Offenbarung mehr als eine geschichtliche Wirklichkeit ist und als Ganzes erfahren werden soll, so soll ihre Tatsächlichkeit bei aller ihrer Bedeutung jedoch nicht der einzige Weg sein, der zu der Einsicht in die Fülle dieses göttlichen Geschehens führte. Zwischen Glaube und Geschichte besteht keine Konkurrenz und Ausschließlichkeit. Die Geschichte soll nicht losgelöst vom Glauben betrachtet wer94 95 96

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Gott ist Liebe (1 Joh. 4,8), in: Ortodoxia Nr. 3, 1971, S. 3 7 7 (rum.). Ebenda, S. 3 6 8 . Diesen Eindruck vermittelt das Buch des anglikanischen Bischofs J.A.T. Robinson, Honest to God, London 1963; Deutsche Ausgabe: Gott ist anders, München 1963.

den; denn damit der Mensch erkennt, daß hinter diesen Geschichtstaten Gott als offenbarendes Subjekt steht, benötigt er die Augen des Glaubens und die erhellende Kraft des Hl. Geistes. Man muß Geschichte und Glauben zusammen als Ort der Offenbarung sehen, als eine umfassendere und in sich nicht widersprüchliche Wirklichkeit, in der sich Gott offenbart. In der personalen Einheit Jesu Christi sollten die Geschichte und der Glaube ihre vorbildliche Verhältnisbestimmung finden. Wie der irdische Jesus nicht ein anderer ist als der göttliche Christus, so daß man den einen in der Geschichte und den anderen im Glauben erleben kann, sondern eine Person, die Gott und Mensch zugleich ist und der man im Glauben und in der Geschichte begegnet, so soll die Geschichte nicht als dem Glauben entgegengesetzt und von ihm losgelöst betrachtet werden. Was geschichtlich geoffenbart wird, ist auch Inhalt des Glaubens, und was man als Offenbarung glaubt, nimmt geschichtliche Gestalt an. Der Glaube erweitert den Horizont, vertieft den realen Sinn der geoffenbarten Ereignisse und gewährt den Menschen die Teilhabe an dem heilenden Geschehen der Offenbarung. Der Glaube ist von den geschichtlichen Offenbarungsereignissen nicht getrennt, obwohl er nicht aus deren geschichtlicher Evidenz entsteht. Durch den Glauben an die geschichtliche Offenbarung entdeckt der Mensch nach Florovsky mehr, als man in und aus der Geschichte erfährt. „Nur der Glaube entdeckt die neue Dimension und begreift das historisch Gegebene in seiner vollen und letzten Wirklichkeit." 9 7 Einen Beweis für die Zusammengehörigkeit von Geschichte und Glauben sieht Florovsky in der Bibel überhaupt. Die Apostel und die Evangelisten überlieferten ein historisches und ein göttliches Bild Jesu Christi 98 . Zu der Notwendigkeit der Offenbarung in der Geschichte gehört nach Althaus unentbehrlich der Glaube. Auf die Schrift Pannenbergs „Offenbarung als Geschichte", in der allerdings der Glaube nicht ausgeschlossen wird, formuliert er seine Antwort: „Offenbarung als Geschichte und Glaube". Wie aus dieser Formulierung und aus dem Inhalt dieses Aufsatzes zu entnehmen ist, kann man ohne diese zwei Momente nicht „auskommen" 9 9 . Zur geschichtlichen Offenbarung „gehört als unentbehrliches Moment das Wirken des Hl. Geistes, das Geschehen des Glaubens hinzu" 1 0 0 . Ähnlich wie bei Florovsky ist es der Glaube, „der den Sinn, die Bedeutung des Geschehenen erfaßt" 101. Geschichte und Glaube sind für den Heilsplan Gottes untrennbar der Ort, an dem Gott dem Menschen begegnet. 97 98 99

Offenbarung und Deutung, S. 193. Ebenda, S. 193. Offenbarung als Geschichte und Glaube. Bemerkungen zu W. Pannenbergs Begriff der Offenbarung, in: ThLZ 87, 1962, S. 326. 100 Ebenda, S. 3 3 0 . 101 Ebenda, S. 3 2 6 .

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Das volle Verständnis der Offenbarung deckt sich nicht mit einer einseitigen Gott-Mensch-Beziehung, die sich auf der vertikalen Ebene vollzieht und den Menschen in seiner Isoliertheit angeht. Man könnte leicht geneigt sein zu glauben, daß die orthodoxe Kirche aufgrund ihres ausgeprägten doxologischen und liturgischen Charakters sich mehr in diese Richtung entwickelt hat und daß sie deshalb weniger die historische Dimension beachten würde. Zeit und Raum würden sich in ihrer liturgischen Verklärung und in ihrer anbetenden Haltung so verflüchtigen, daß sie hinter einem eschatologischen Einbruch zurücktreten. Dies würde zu der Annahme verleiten, wie es S. Agouridis formuliert, daß „Gott und die Geschichte sich nicht mehr auf einer horizontalen, jüdisch-christlichen und biblischen Linie in der Perspektive einer göttlichen Ökonomie (Heilsgeschichte), sondern auf einer vertikalen und kreisförmigen Linie unter dem Einfluß der griechisch-alexandrinischen Theologie begegn e n " 102. Diesen Gedanken nimmt Agouridis zum Anlaß seiner Darstellung über das Verhältnis zwischen Gott und Geschichte in der orthodoxen Theologie. Er gesteht ein, daß die oben erwähnte Orientierung sich in der orthodoxen Theologie feststellen läßt, macht aber deutlich, daß dies nicht eine vorherrschende Tendenz ist, sondern denjenigen Theologen zugeschrieben werden muß, die im Kreis der Anachoreten, der Mönchtheologen, zu finden sind. Die offizielle Theologie der Kirche hält die biblische horizontale Dimension der Offenbarung für wahr und findet in der Theologie der Kirchenväter (vor allem des Basilius des Großen, Gregorius von Nyssa und Johannes Chrysostomos) die Grundzüge des Verhältnisses von Geschichte und Offenbarung. Agouridis fügt gleichzeitig hinzu, daß es sich hier eigentlich nicht um zwei verschiedene und voneinander getrennte theologische Strömungen handelt, sondern um zwei Aspekte der einen Wirklichkeit, die in ihrer Ganzheit durch diese beiden Tendenzen zum Ausdruck kommt, so daß Gott dem Menschen nicht nur in einer vertikalen Geschichte, sondern auch in der Horizontalität der Geschichte begegnet. Die eine schließt die andere nicht aus; vielmehr müssen beide integriert und einem dialektischen Verhältnis zueinander gesehen werden 1 0 3 . Man würde sonst entweder in einen ungeschichtlichen Mystizismus verfallen oder der vertikalen Dimension verlustig gehen. Die vertikale Verbindung mit Gott ist nur dadurch möglich geworden, daß Gott sich in der Horizontalität der Geschichte geoffenbart und damit der Geschichte eine transzendente Dimension eröffnet hat. Aus der Menschwerdung Jesu Christi, auf die man immer zurückkommen muß, um das Verhältnis zwischen Offenbarung und Geschichte in ihrer in Jesus Christus ursprünglich maßgeblich gegebenen Bestimmung zu

102 Dieu et Histoire, in: Contacts, Revue Française de l'Orthodoxie 19, 1967, S. 69. 103 Ebenda, S. 69.

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sehen, geht eindeutig hervor, wie eng verbunden und gegenseitig bedingt der geschichtlich-horizontale und der vertikale Aspekt des Offenbarungsereignisses sind.

3. Die Einheit und die Kontinuität

der

Offenbarung

Die alttestamentliche Offenbarung ist auf die Z u k u n f t hin orientiert. Im Vergleich mit dem kreisförmigen, zyklischen Ablauf der Geschichte in den alten Religionen entwickelt sich die Geschichte des israelischen Volkes geradlinig, schaut in die Z u k u n f t und erwartet von ihr die Erlösung. Diese Tendenz empfängt sie von der in ihr geschehenen Offenbarung, die sich zu einem Ziel in der Z u k u n f t hin bewegt. Die kreisförmige Auffassung des Geschichtsablaufes wird nach E. Schlink durch das Evangelium überwunden. „Das kreisförmige Denken wird entschränkt, da durch das Evangelium die Gegensätze zwischen Licht und Finsternis, Sünde und Gnade, Leben und T o d , G o t t und Welt, diesem und dem k o m m e n d e n Aon aufgebrochen werden und nicht als Polaritäten innerhalb eines geschlossenen Kreisgefüges, nicht als bleibende komplementäre Größen zu bezeichnen sind." 1 0 4 Die vorchristliche Offenbarung erfährt ihre Vollendung in der geschichtlichen Person Jesu Christi und hat in ihm das Zentrum, zu dem die alttestamentliche Offenbarung hinführt. Die Offenbarung des Alten und des Neuen Testamentes stehen in einer inneren Kontinuität und bilden zusammen eine einzige Heilsrealität. Ihre Trennung würde auch eine Trennung innerhalb des dreieinigen Gottes bedeuten. Im Grunde sind die Offenbarungsakte, die einer göttlichen Person zugeschrieben werden, nicht losgelöst von der Mitwirkung aller göttlichen Hypostasen zu sehen. N.A. Nissiotis weist auf die Einheit der Offenbarung und die volle Anwesenheit und Mitwirkung der drei göttlichen Personen in jedem Offenbarungsakt hin: ,,. jede der göttlichen Hypostasen hat an der ganzen Heilsökonomie vollen Anteil" 105. Jesus Christus ist die Mitte und die Vollendung der Offenbarung. Über ihn hinaus gibt es keine Offenbarung mehr. In ihm erreicht sie die höchste Stufe und beweist sich als einziges Heilsgeschehen. Er ist die Mitte der Offenbarung, weil in ihm die vergangenen und die zukünftigen Heilsereignisse Gegenwartsgeschehen werden. Es ist das Besondere der Offenbarung in Christus, daß weder die Vergangenheit noch die Zuk u n f t aus der Gegenwart herausfallen. Die vergangenen und die noch ausstehenden Endereignisse, die sich eigentlich in Jesus Christus vorweg ereignet haben, können nicht als getrennte Teiloffenbarungen angese104 Die Struktur der dogmatischen Aussage S. 61. 105 Die Theologie der Ostkirche im ö k u m e n i s c h e n Dialog. Kirche und Welt in orthodoxer Sicht, Stuttgart 1968, S. 52.

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hen werden, vielmehr gehören sie zu der einen Offenbarungswirklichkeit, die auch in der Gegenwart geschieht. Was geschehen ist und was in der Z u k u n f t geschehen wird, hat einen unmittelbaren Bezug zu dem Gegenwartsgeschehen der Offenbarung. Die Zukunft als „noch nicht" eingetreten wird „schon j e t z t " antizipatorisch erfahren. Die einseitige Zuwendung zu der Vergangenheit, Gegenwart oder Z u k u n f t der Offenbarung wird dem Heilsgeschehen in Christus nicht gerecht, denn in ihm umfaßt die Offenbarung die ganze Zeit und wird in ihrer Einheit und Ganzheit sichtbar, so daß sie weder allein der Vergangenheit noch der existentiellen Gegenwart oder ausstehenden Zukunft angehört, vielmehr rekapituliert Christus in sich in einem untrennbaren Geschehen alle Offenbarungsereignisse, die uns in derselben Einheit und Kontinuität widerfahren sollen. Kontinuität und Einheit sind zwei Aspekte derselben Offenbarungswirklichkeit. Sie beziehen sich auf das Ganze der Offenbarung, die in sich unteilbar und nicht reduzierbar auf einen Akt des Heilsgeschehens ist. Man kann die Menschwerdung Christi nicht von der auf sie hinzielenden alttestamentlichen Offenbarung isolieren oder seine Auferstehung, ohne sie in das Ganze der Offenbarung eingefügt zu sehen. Denn überall geht es um denselben Gott, der sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist und als Subjekt und Inhalt aller Heilsereignisse offenbart. Der Grund der Zusammengehörigkeit und der Kontinuität der Offenbarungsereignisse soll nicht in dem „Geschichtszusammenhang", um einen Ausdruck Pannenbergs zu gebrauchen, gesehen werden, in dem die geschichtlichen Ereignisse vermittelt werden, und in deren Kontext auch die Heilsereignisse geschehen, vielmehr darin, daß sich in allen Heilsakten derselbe Gott offenbart und sie als Subjekt bewirkt. Die Einheit und die Kontinuität der Heilsgeschehnisse erklärt sich nicht aus dem Zusammenhang, in dem die geschichtlichen Ereignisse stehen, sondern daraus, daß sie das personale Werk desselben Gottes sind, der in allen seinen Taten mit sich selbst identisch bleibt und sich im inneren Gefüge der Geschichte offenbart. Alle Heilsereignisse bezeugen denselben Gott. Dasselbe Subjekt und derselbe Inhalt, die sie gemeinsam haben, verbindet sie miteinander. Die Geschichte ist nach Pannenberg der indirekte Selbsterweis Gottes, und deshalb gehört nach ihm die Kontinuität und die Einheit der Offenbarungsereignisse zu der allgemeinen Struktur der Universalgeschichte, die als ein einheitliches und in ihrer Entwicklung zusammenhängendes Ganzes verstanden wird. Die Selbstoffenbarung Gottes ist ein in sich zusammenhängendes Heilswerk, zu dem jedes Geschehen als Teil zu dem ganzen Offenbarungsereignis gehört und seinen vollen Sinn nur im Lichte des Ganzen erhält 106 . 106 Stellungnahme zur Diskussion, in: Neuland in der Theologie, Bd. 3, Hrsg. J.M. Robinson und J.B. Cobb, Zürich 1967, S. 3 3 1 .

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Die Offenbarung umfaßt den ganzen Horizont der Geschichte. Der Einheit und der Universalität der Geschichte entspricht die Einheit und die Universalität der Offenbarung. Jesus Christus hat die Geschichte auch in ihrer zukünftigen Dimension vorgezeichnet. P. Brunner schreibt hierzu: „Denn in Jesus Christus ist das eschatologische Heil Gottes verwirklicht. In Jesus ist die auf die Verwirklichung dieses Heils hinzielende Geschichte selbst an ihrer Vollendung und an ihrem Ende angelangt. Damit ist aber durch das Heilshandeln Gottes in Jesus das Ende der Geschichte selbst aufgebrochen." 1 0 7 Obwohl das Ende der Geschichte noch aussteht, ist in Christus die Universalität und die Ganzheit der Offenbarung schon verwirklicht, weil in seiner Auferstehung die eschatologischen Ereignisse proleptisch geschehen sind. Ausdrücklich werden diese Gedanken in der vierten These Pannenbergs über die Offenbarung formuliert: „Die universale Offenbarung der Gottheit Gottes ist noch nicht in der Geschichte Israels, sondern erst im Geschick Jesu von Nazareth verwirklicht, insofern darin das Ende allen Geschehens vorwegereignet ist." 108 Nach der Abgeschlossenheit der Offenbarung in Christus bleibt die weiterlaufende Geschichte nicht außerhalb des Offenbarungsgeschehens, denn durch den „eschatologischen Charakter des Christusgeschehens als Vorwegnahme des Endes aller Dinge" 109 umfaßt die Offenbarung die gesamte Geschichte. ,Geschichtscharakter' der Offenbarung bedeutet, daß diese in der ganzen Zeit der Geschichte geschieht, auch nachdem der Prozeß der historischen Offenbarung abgeschlossen ist. Die Offenbarung geschieht immer weiter, indem sie durch den Hl. Geist vergegenwärtigt wird n o . In ihrer Entwicklung würde sich die Offenbarung nicht als ein einheitliches Ganzes darstellen, wenn die einzelnen Momente und Akte nicht in einer Kontinuität stünden. Die Kontinuität ist ein Grundprinzip der Offenbarung. Die Ereignisse der Offenbarung werden nicht in ihrer singulären Bedeutung überliefert, sondern in ihrer Zugehörigkeit zu dem ganzen Heilsgeschehen v e r m i t t e l t l n . Durch die Überlieferungsgeschichte wird nicht nur der Sinn der damals geschehenen Offenbarungstaten enthüllt und vermittelt, so daß das geschichtliche Ereignis hinter seiner Bedeutung irrelevant zurückbleibt. Der Sinn der Offenbarung läßt sich weder auf das geschichtliche Faktum noch auf dessen Bedeutung allein reduzieren. Die Geschichte der 107 Zur Lehre v o m Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, in: Leiturgia, Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Bd. I, Kassel 1954, S. 2 1 3 . 108 Offenbarung als Geschichte, S. 103. 109 Ebenda, S. 105. 110 W. Pannenberg, Stellungnahme zur Diskussion, S. 3 2 3 . 111 W. Pannenberg, Theologie als Geschichte, in: Neuland in der Theologie, Bd. 3, S. 3 0 6 .

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Offenbarungsereignisse ist von deren existentieller Erfahrung nicht zu trennen. Pannenberg wendet sich sowohl gegen einen historischen Positivismus als auch gegen die Auflösung der Geschichte in die Geschichtlichkeit der O f f e n b a r u n g im Sinne der kerygmatischen Theologie. Das F a k t u m und seine Bedeutung k ö n n e n nicht getrennt werden 1 1 2 . Die Bedeutung ist immer der Sinn eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses. Im Lichte der Offenbarung Gottes greifen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Z u k u n f t als zeitliche Bestimmung der Geschichte ineinander und weisen aufeinander hin. Wie die Vergangenheit, so werden auch proleptisch die zukünftigen Heilsereignisse in der Gegenwart erfahren. Heilserfahrung, die keine Rückbeziehung zu den einmal geschehenen Ereignissen hat und die gleichwohl die Z u k u n f t nicht einbezieht und nicht auf sie hinzielt, wäre eine unbestimmte Offenbarung. „Eine von Vergangenheit und Z u k u n f t isolierte Gegenwart bliebe l e e r . " 1 1 3 Wenn sich die Geschichte aus den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen konstituiert, die in einem „Bezugshorizont" zueinander stehen, dann gilt die hier vorausgesetzte Einheit und Kontinuität auch für die Heilsereignisse Gottes, die sich ebenfalls geschichtlich vollziehen. Obwohl in dieser Kontinuität und Gesamtheit der Offenbarungsgeschichte jedes einzelne Geschehen seine eigene Bedeutung besitzt und sich das Ende der Geschichte im Christusgeschehen vorweg ereignet hat 1 1 4 , so entsteht dennoch der Eindruck, daß der Schwerp u n k t der Offenbarung bei Pannenberg mehr auf das eschatologische Endgeschehen verlagert wird und so die Gegenwart des Christusgeschehens der Zukunftserwartung untergeordnet ist, wenn sich der volle Sinn der Offenbarung n u r vom Ende der Geschichte her e r ö f f n e t 1 1 5 . Wenn für die Offenbarung im Alten Testament gilt, daß sie auf die messianische Z u k u n f t ausgerichtet war, so gilt dies nicht in gleicher Weise für die Offenbarung in Jesus Christus. Das vergangene Christusgeschehen, das sich ständig vergegenwärtigt, bildet die Mitte der ganzen Offenbarung, wobei deren eschatologischer Charakter unbestritten bleibt. Wir sind nicht n u r in der H o f f n u n g , wie einst das Volk Israel erlöst, sondern auch in der Gegenwart des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, in dem auch wir die Garantie für unsere Auferstehung erhalten.

4. Die Offenbarung

als Tat und Wort

Gottes

Die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte ereignet sich nach den biblischen Zeugnissen als Handeln Gottes am Menschen. Sie erweist sich 112 113 114 115

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Kerygma und Geschichte, in: Grundfragen S. 82. Stellungnahme zur Diskussion, S. 3 4 1 . Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, S. 128. Offenbarung als Geschichte, S. 95 ff.

als eine eingreifende Tat innerhalb der von den Menschen getragenen Geschichte. So wird jene Vorstellung überwunden, die in der Offenbarung vorwiegend Lehre und Wissensmitteilung gesehen hat. Dieser sachhaften Bestimmung der Offenbarung wird die Auffassung entgegengesetzt, nach der sich die Offenbarung als personale Tat Gottes in der Geschichte vollzieht. Die Offenbarung, schreibt Oepcke, ist „recht eigentlich Handeln Gottes, Aufhebung seiner wesenhaften Verborgenheit, Selbstdarstellung zur Gemeinschaft" 1 1 6 . Das Verständnis der Offenbarung als Geschichtswirklichkeit setzt das Wirken Gottes durch Geschichtstaten voraus. In der raumzeitlichen Bedingtheit der Geschichte erschließt sich Gott durch die Geschichtsereignisse, die er selbst bewirkt. Die Geschichtstaten bilden die Sprache, in der der Mensch den ihn anredenden Gott vernimmt. Gloege hebt den Tatcharakter der Offenbarung hervor: „Gottes Offenbarung bedeutet stets ein Gottesgeschehen, ein Gottes-Tun: Gott kommt, Gott tritt auf. Gott handelt am Menschen, indem er ihm seinen Willen e r ö f f n e t . " 117 Die Selbstoffenbarung Gottes ist wesentlich Tatoffenbarung. Die Geschichte des Volkes Israel, die von der rettenden Hand Gottes geleitet wird, bietet ausreichende Beispiele dafür, daß viele seiner geschichtlichen Ereignisse von Gott eingeleitet wurden und nur durch die göttliche Macht erfüllt werden konnten. Der Geschichtscharakter der Offenbarung wurde von Pannenberg herausgearbeitet, wobei das Offenbarungsgeschehen hauptsächlich als Tat Gottes in der Geschichte gesehen wird. So berechtigt und notwendig sich einerseits der Hinweis auf die Offenbarung als geschichtliches Handeln gegenüber einer einseitigen Reduzierung der Offenbarung auf Wortund Sprachgeschehen erweist, so neigt Pannenberg andererseits dazu, die Bedeutung der Wortoffenbarung zu verringern und die Tatoffenbarung zu verselbständigen und absolutzusetzen, wenn er die Funktion des Wortes im Offenbarungsprozeß nur „als Vorhersage, als Weisung und als Bericht" 1 1 8 verstanden wissen will. Und doch sind die Geschichtstaten Gottes nicht das einzige Mittel seiner Offenbarung. Diese ist zugleich Tat- und Wortoffenbarung. Neben dem offenkundigen Aspekt der Offenbarung als geschichtliche Tat Gottes gilt in gleichem Maße, daß die Offenbarung sich auch als Wortgeschehen ereignet. Tat- und Wortoffenbarung gehören untrennbar zusammen. Das Wort und die Tat sind das eigentliche Medium, in dem sich Gott offenbart. Wort und Tat als Mittel seiner Offenbarung weisen aufeinander hin und sind voneinander nicht zu trennen. Durch das offenbarende Wort werden die Geschichtstaten Gottes als solche erkennbar, und nur in Bezug auf das Heilshandeln Gottes ergeht das 116 α π ο κ α λ ύ π τ ω , T h W N T III, S. 575. 117 Offenbarung und Überlieferung, S. 23. 118 Offenbarung als Geschichte, S. 100.

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prophetische Wort. Das Wort ist ein konstitutives Moment der Tatoffenbarung. Durch die ganze Offenbarungsgeschichte hindurch begleitet das Wort die Heilstaten Gottes. Das Besondere der alttestamentlichen Offenbarung besteht eben darin, daß neben die von Gott gewirkten Heilstaten das offenbarende Wort tritt. Dies läßt sich nicht nur von allen alttestamentlichen Taten Gottes sagen, sondern drückt sich auch sehr deutlich in der Christusoffenbarung aus. Jesus Christus als Vollendung der Offenbarung bedeutet nicht nur, daß es keine über ihn hinausgehende Offenbarung mehr geben kann, sondern auch, daß sich in ihm der innere Zusammenhang der Wort- und Tatoffenbarung in der Einheit seines Wortes und seiner Tat ausdrückt. Jesus hat seinen Tod und seine Auferstehung nicht nur verkündet, sondern auch in der Tat erfüllt. Die Tat folgt nach seinem Wort; das Wort wird Tat. Seine Kreuzigung und seine Auferstehung sind von seinem sich auf sie beziehenden Wort begleitet. Nachdem die Heilsereignisse historisch erfüllt wurden, werden sie durch das Wort und durch das Sakrament gegenwärtige Heilstaten Gottes. Das Wort erfüllt auch eine deutende, den Sinn der Offenbarungstat Gottes erschließende Funktion. Es wäre indessen unzureichend, das Wort Gottes nur auf eine interpretierende und die Offenbarungsereignisse erleuchtende Funktion zu reduzieren. Das Wort hat über diese hinaus eine offenbarende Funktion und ist Ort des Offenbarungsgeschehens. Seit der Reformation ist dies ein zentrales Thema der evangelischen Theologie. Als Ausdruck des Willens Gottes besitzt das Wort Wirkungskraft. Die Wirksamkeit des Wortes Gottes wird von Luther deutlich da herausgestellt, wo er von dem Wort im Zusammenhang mit dem Abendmahl Christi spricht. So ist es nicht ein „Deutelwort" oder „Nachwort", sondern ein „Tätelwort", „das schafft, was es lautet" 1 1 9 Was Gott spricht, erfüllt er auch in der Tat. Seine Worte bewirken, was sie aussagen. So ist sein Wort „verbum efficax" 1 2 0 . Gott ist das wirkende Subjekt seiner Worte: „Du gibst das Wachstum des Wortes, Du, die Wirksamkeit des Wortes, nicht wir", schreibt Luther zu Psalm 1 0 7 n i . Das Wort Gottes ist nicht wie das Wort des Menschen. Gottes Wort ist zugleich Gottes Tat. Sein Wort hat Tatcharakter, „denn wenn Gott spricht, spricht er auf die wirksamste Weise (efficacissime loquitur)" 1 2 2 . Gott offenbart sich in seinem Wort; was Gott ist und was er will, erschließt und bewirkt er in seinem 119 WA 26, 2 8 2 f. bei E. Kinder, Was bedeutet „Wort Gottes" nach dem Verständnis der Reformation, in: KuD 12, 1966, S. 2 1 - 2 2 . 120 Über die Wirksamkeit des Wortes bei Luther, siehe Albert Brandenburg, Gericht und Evangelium. Zur Worttheologie in Luthers erster Psalmvorlesung, Paderborn 1960, vor allem S. 95 f. 121 WA 4, 216; bei A. Brandenburg, a.a.O., S. 95. 122 WA 3, 3 4 7 , 13 und 25; bei A. Brandenburg, a.a.O., S. 95.

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Wort. Das Wort, sagt Luther, „hat und vermag alles, was Gottes ist" 123 . Deshalb ist das Wort nicht unpersönliches Mitteilungsmittel, sondern Vollzugsort des Offenbarungsgeschehens 124 . Der Heilige Geist handelt durch das Wort, schreibt E. Schlink: „Gottes Wort ist also nicht nur der objektive Erkenntnisgrund für alle Aussagen über Gott, sondern schenkt auch die subjektive Möglichkeit, den offenbarenden Gott zu erkennen, nämlich den Heiligen Geist, der in dem Worte handelt." 125 Das Wort Gottes ist tatkräftig. Es hat taterfüllende Wirkung. Als Tat und Kraft Gottes bringt uns das Evangelium nicht nur die Botschaft von der Versöhnung, sondern versöhnt uns mit Gott durch das Kreuz Christi. 126 Im Hinblick auf die personale Einheit von Wort und Tat in Jesus Christus sollte es nicht möglich sein, die Offenbarung Gottes einseitig auf sein Wort oder auf seine Tat zu reduzieren. Die Untrennbarkeit von Wort und Tat im Vollzug der Offenbarung und ihre innere Zusammengehörigkeit zeigt sich auch darin, daß das Wort in sich Tatcharakter hat und die Tat zum Wort, zum sprechenden Zeugnis über die gottesgeschichtlichen Ereignisse wird. Jesu Wort ist nach W. Loew „Bestandteil seines Handelns und hat die Kraft der Verwirklichung". 127 Die innere Zugehörigkeit von Wort und Tat findet in Jesus Christus ihren eminenten Ausdruck, denn er ist das wirkende Wort Gottes. Im ursprünglichen Sinne des hebräischen Dabar bedeutet das Wort wirksame, dynamische Macht 128 . Die Welt ist durch das Wort Gottes geschaffen (Psalm 33,6; Joh. 1,3). In der ganzen Geschichte der Offenbarung sind das Wort und die Tat Gottes aufeinander und zueinander gerichtet. Beide, das Wort und die Tat, machen die Fülle der Offenbarung aus. P. Brunner schreibt, daß sowohl das Wort als auch die Tat Mittel der Offenbarung sind und haben „in gleichen Maßen Offenbarungscharakter" und deshalb sind „das geschichtliche Ereignis und das Wort von diesem Ereignis unlösbar verbunden". 129 Ebenso wird man das Wort nicht als das einzige Mittel der Offenbarung betrachten dürfen. Gott hat seine Worte auch durch Taten bestätigt, die er in der Geschichte bewirkt hat, so daß neben dem Wort die Taten Gottes nach C. Sîrbu nicht nur eine fundamentale Form der Offenbarung darstellen, vielmehr wird durch sie auch die Offenbarung, die durch das Wort geschieht, verstärkt 130 Im ganzen gesehen, bemerkt 123 GK IV 26 (S. 6 9 4 ) . Den Zitaten liegen die „Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche", 3. verbesserte Aufl. Göttingen 1956, zugrunde. 124 E. Kinder, Was bedeutdet „Wort Gottes", S. 22. 125 Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, 3. Aufl., München 1948, S. 57. 126 E. Schlink, Der Kult in der Sicht evangelischer Theologie, in: Der kommende Christus ., S. 118. 127 RGG, S. 1819. 128 W. Bulst, Offenbarung. Biblischer und theologischer Begriff, Düsseldorf 1960, S. 48. 129 Zur Lehre vom Gottesdienst . . . S. 211. 130 A.a.O., S. 5 2 7 .

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Staniloae, kann kein Beispiel dafür gegeben werden, daß den Worten Gottes keine Taten entsprächen, die er entweder in der Vergangenheit, heute, oder in Zukunft nicht erfüllt 131 . Insofern hat Pannenberg recht, wenn er die Offenbarung als Tatoffenbarung bezeichnet. Das Wort trägt auch dazu bei, daß sie als solche gilt, wenn dem Wort unbestreitbar auch eine deutende Funktion zukommt. In der Frage: „Warum kommt gerade Jesus Christus die Aufgabe zu, den Menschen zu erlösen? ", verbirgt sich nach Staniloae der tiefste Sinn der Offenbarung durch das Wort 1 3 2 . Diese Frage ist im engen Zusammenhang damit zu sehen, daß in dem vierten Evangelium Christus das Wort Gottes genannt wird. Daß in der Offenbarung nicht einfach Lehren vermittelt werden, wird an der Einheit zwischen Wort und Person in Jesus Christus deutlich. Durch den Sohn als dem Wort Gottes wird die Offenbarung vollendet, kann nur bedeuten, daß der Sinn der Offenbarung primär in der Herstellung der Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen zu sehen ist, gerade weil sie durch das Wort Gottes geschieht, das eine Person ist. Staniloae begründet das Verständnis der Offenbarung als eine Kommunion Gottes mit dem Menschen von dem Verständnis des Wortes und der Person her, die auf Mitteilung und Beziehung hin ausgerichtet sind. „Die Intentionalität zur Kommunion", die die Person und das Wort als deren Ausdruck prinzipiell kennzeichnet 1 3 3 , ist in der Person Jesu Christi und in seinem Wort im höchsten Grade verwirklicht 134 . Daraus folgt, daß die Offenbarung vor allem als Selbstmitteilung und personale Begegnung Gottes mit dem Menschen zu verstehen ist und daß das Wort der Offenbarung zunächst einen Ruf Gottes nach den Menschen und ein Angebot der Gemeinschaft mit ihm bedeutet. Durch Jesus als Wort werden uns nicht primär Kenntnisse von Gott vermittelt, sondern Gott als Person uns nahegebracht 1 3 5 . Neben dieser ersten Bedeutung des Wortes, das eine gemeinschaftsfördernde Wirkung einschließt, erfüllt es auch die Funktion, den Sinn der Wirklichkeit zu erhellen. Die Wirklichkeit der Offenbarung wird nicht nur in der Gemeinschaft mit Gott erlebt, sondern durch das Wort wird sie auch verständlich gemacht und ihr Sinn erkannt. Durch das Wort wird also nicht nur die Kommunion erzielt, sondern auch die ihr zugrundeliegende Wirklichkeit eröffnet. Das Wort sollte auch zur Erfüllung dieses Zwecks verstanden werden, wenn man seine eben erwähnte Bedeutung dem Offenbarungsverständnis zugrundelegt; dieser Zweck sollte allerdings nicht losgelöst und verselbständigt von der ersteren zur

131 Die Offenbarung durch Akte, Worte und Bilder, in: Ortodoxia Nr. 3, 1968, S. 354 (rum.). 132 Jesus Christus . ., S. 73. 133 Ebenda, S. 75. 134 Ebenda, S. 76. 135 Ebenda, S. 74.

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Geltung gebracht werden: „Das Wort als Sinn hängt von dem Wort als Kommunion ab und soll immer in dieser Abhängigkeit bleiben." 1 3 6 Damit wird die Offenbarung nicht allein als Aufruf zur Gemeinschaft verstanden, sondern sie umschließt auch einen objektiven Sinngehalt und liefert eine neue Erkenntnis. Gott überliefert nicht nur sich selbst als handelnde Person, sondern auch vieles über sich selbst, und insofern bedeutet die Offenbarung auch einen Glaubensinhalt, in dem enthalten ist, wer und wie Gott ist, wie zum Beispiel, daß Gott Liebe (1 J o h . 4,8), treu und gerecht (Lk. 20,21), reich an Barmherzigkeit ist (Eph. 2,4) 1 3 7 . Neben ihrer Bedeutung als Tat Gottes vermittelt die Offenbarung nach E. Schlink auch eine Erkenntnis Gottes: „Erkenntnis der Weisheit ist aber nicht nur Erkenntnis der rettenden Tat, die Gott am Kreuz und durch das Wort vom Kreuz am Glaubenden tut, sondern zugleich Erkenntnis Gottes, der solches tut Das Wort am Kreuz ist nicht nur Gott als der, der Liebe ist. Wir empfangen hier nicht nur die Gerechtigkeit, die Gott uns durch sein Wort schenkt, sondern wir erkennen durch dieses Wort, daß Gott gerecht ist." 1 3 8 Die Überwindung einer einseitigen gegenständlichen Auffassung des Heilsgeschehens, die die neutestamentliche Botschaft nicht zu fassen vermochte, durch ein geschichtliches und existentielles Denken, das dem Neuen Testament mehr eignet, soll nun nicht heißen, daß in der Offenbarung keine Lehren mehr enthalten sind, seien sie dogmatischer oder ethischer Natur, und daß man in ihr nicht mehr nach objektiven Inhalten zu suchen hat.

5. Die Gemeinsamkeit

und der Unterschied zwischen und Geschichte

Offenbarung

Aus der Feststellung, daß die Geschichte der Ort ist, an dem die Offenbarung tathaft und worthaft geschieht, soll nicht gefolgert werden, daß die Geschichte mit der Offenbarung identisch wäre im Sinne einer Verobjektivierung der Offenbarung durch die Geschichte. Durch die Geschichtsbestimmtheit der Offenbarung geht das eigentliche Wesen der Offenbarungstaten und des Wortes Gottes nicht verloren. Die Geschichte ist nicht der Offenbarung gleich, wenn auch diese in der Geschichte geschieht. Die Offenbarung bewahrt in den Geschichtsereignissen ihre eigene Identität. Was geoffenbart wurde, ist nicht ein Produkt der Geschichte, geschieht aber als ein geschichtliches Ereignis. Von einer Trennung der Offenbarung der Geschichte kann nicht die Rede sein, wohl aber von einer Unterscheidung. Gott wirkt zwar auch in der allge-

136 Ebenda, S. 79. 137 Vgl. G. Gloege, Offenbarung, in: RGG IV, Sp. 1161 f. 138 Weisheit und Torheit, in: KuD 1, 1955, S. 15.

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meinen Weltgeschichte, doch das allgemeine Wirken Gottes in der Geschichte bleibt in ihr verborgen. Die Geschichte der Offenbarung läuft nicht parallel zu der Weltgeschichte, sondern mitten in deren Verlauf. Diese einheitliche Perspektive der Heils- und der Weltgeschichte und die Wirkung Gottes in der allgemeinen Weltgeschichte, die sich schon bei den Kirchenvätern findet, die eine Theologie der Geschichte entwickelt haben, sollte nicht dazu verleiten, den Unterschied zwischen der Geschichte und der Offenbarung und den zwischen dem besonderen Wirken Gottes in der Offenbarung und seinem allgemeinen Handeln in der Geschichte zu übersehen. Eben um diese Unterscheidung ist Nissiotis im folgenden bemüht: „Wenn wir behaupten, daß Christus automatisch überall gegenwärtig ist, verfallen wir leicht in eine Art natürlicher ,christlicher' Theologie und übersehen, daß Gott in Christus und im Heiligen Geist in besonderer Weise h a n d e l t . . Es sei nochmals betont, daß Gott in seiner Schöpfung immer gegenwärtig war — auch vor der Offenbarung Christi — und daß er auch heute außerhalb der Kirche am Werke ist. Gleichzeitig muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß Gott seit seiner persönlichen Offenbarung in Christus und Pfingsten auch auf andere Weise handelt. Er ist in der Schöpfung allgemein gegenwärtig, daneben kann man jedoch auch von einer konkreteren und persönlicheren Gegenwart sprechen." 1 3 9 Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Handlungsweisen Gottes muß beibehalten werden, denn in der Offenbarung geht es um die besondere, personale Selbstmitteilung Gottes. Und wenn Gott sich in der Geschichte mitteilt, lassen sich seine Offenbarungsereignisse nicht mit den übrigen Geschichtsereignissen verwechseln, oder können im Strom der Geschichte nicht mehr identifiziert werden. Geschichte und Offenbarung können keine austauschbaren Begriffe werden. Die Offenbarung geschieht zwar in der Geschichte, doch die Bedeutung und die Wirkung von Gottes Heilstaten dürfen nicht mit den allgemeinen Ereignissen der Weltgeschichte verwechselt werden. Wenn durch die geschichtlichen Offenbarungsereignisse das Wesen Gottes geoffenbart wird, wie Pannenberg meint, weil „das Offenbarungsgeschehen nicht als seinem Wesen äußerlich gedacht werden kann — sonst wäre es nicht Offenbarung seines Wesens" 140 , dann muß diese enthüllende Funktion selbstverständlich nur auf die Offenbarungsereignisse beschränkt bleiben, wie Pannenberg es auch versteht, sonst würden alle geschichtlichen Begebenheiten ein Ausdruck des Wesens Gottes sein, was nur aus einer Identifizierung von Offenbarung und Geschichte erfolgen könnte. Man kann nicht sagen, daß sich das Wesen Gottes in allen von ihm bewirkten Geschichtstaten gänzlich ausdrückt. K. Barth 139 Theologie der Ostkirche S. 2 4 0 - 2 4 1 . 140 Offenbarung als Geschichte, S. 97.

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schreibt hierzu, daß „. Gott der Offenbarer identisch ist mit seinem Tun in der Offenbarung, identisch auch mit dessen Wirkung" 1 4 1 . Gott ist in seiner Wirkung anwesend, aber diese ist nicht mit Gott gleichzusetzen. Gott ist mehr als seine Wirkung, durch die er sich uns offenbart und durch die wir ihn erfahren. Es käme einer Einschränkung Gottes gleich, wenn Gott nur das wäre, was er bewirkt hat, weil er sich nur soviel geoffenbart hat, wie wir das Heil benötigen. An der Unterscheidung zwischen den Offenbarungs- und Geschichtsereignissen muß festgehalten werden, um die Offenbarungslehre vor fremden pantheistischen Gedanken zu bewahren und um die Offenbarung als eine eindeutige und bestimmte Tat Gottes in der Geschichte aufzufassen. Nicht die ganze Geschichte ist Offenbarung. Offenbarung „als" Geschichte, wie es Pannenberg formuliert, ist als ein Hinweis auf die Geschichtsbestimmtheit und auf die geschichtliche Entwicklung der Offenbarung zu sehen; sie geschieht in der Geschichte der Menschheit, auf die sich ihre Wirkung erstreckt. Die Partikel „als" sollte in ihrem komparativen Charakter genommen werden und nicht als eine Verbindungsvokabel zweier identischer Begriffe. Die Bedeutung und die Besonderheit der Offenbarung gegenüber der allgemeinen Geschichte, in deren Rahmen sie sich ereignet, wird durch das offenbarende Wort Gottes, das zu seinen Offenbarungstaten wesentlich gehört, sichtbar. Das die Offenbarungereignisse begleitende Wort stellt gegenüber der allgemeinen Geschichte die Eigentümlichkeit der Offenbarung heraus. Daß es eine bestimmte Offenbarung gibt, die die Menschen innerhalb der geschichtlichen Entwicklung anspricht, wird durch das wirkende Wort, das alle Geschichtstaten Gottes in ihrem Heilssinn deutet, deutlich gemacht. Durch das Wort wird die ganze Offenbarung, eine auf das Heil der Menschen gerichtete Tat Gottes, von der übrigen Geschichte herausgehoben 1 4 2 Zusammenhängend mit der Menschheitsgeschichte und sich mitten in dieser entfaltend, hebt sich die Offenbarung des Alten und des Neuen Testamentes, in der sich Gott selbst erschließt und den Menschen persönlich begegnet, von der Profangeschichte ab.

141 KD I, 1, S. 312. 142 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 5, Einsiedeln, Köln, Zürich 1965, S. 126 f; Zur Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarung und Geschichte, siehe A. Scherrer-Keller, Wesen und Auftrag der Kirche aus der Sicht neueren rumänisch-orthodoxen Theologie, Zürich 1972 (Fotodruck), S. 135.

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II. Offenbarung als gegenwärtiges und personales Geschehen

Das vergangene Offenbarungsgeschehen hat in sich Gegenwarts- und Zukunftsdimension. Die Offenbarung hat nicht nur Vergangenheit, sondern sie ist als geschichtliche Offenbarung zugleich auf die Gegenwart und auf die Zukunft bezogen. Das gegenwärtige Heilsgeschehen ist wiederum von der Vergangenheit der Offenbarung bestimmt, so wie es auch von der Zukunft der Endereignisse mitbestimmt ist. In der Gegenwart der Heilserfahrung begegnen sich die Vergangenheit und die Zukunft als gewesene und kommende Offenbarungsereignisse, die in Jesus Christus Heilsgegenwart gewesen waren und durch seine Selbstvergegenwärtigungskraft zu einem die Existenz aller Menschen immer bestimmenden Gegenwartsgeschehen werden. Die historisch erfüllte Offenbarung hat von Gott als ihrem Subjekt in sich die Fähigkeit, immer Gegenwartsgeschehen zu werden. Die Gegenwart des Heilsgeschehens verbindet uns mit der Vergangenheit der von Christus einmalig erfüllten Heilstaten und mit denen des Alten Testamentes und zugleich auch mit der Zukunft der eschatologischen Endereignisse, die in ihm vorgeschehen sind. Es gibt nicht nur eine vergegenwärtigte Vergangenheit, sondern auch eine vergegenwärtigte Zukunft. In Jesus Christus wird die Zukunft zu einer Dimension der Gegenwart. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Heilsgeschehens greifen ineinander über. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft des Heils gehören in das Gegenwartsgeschehen hinein und werden gegenwärtig erlebt. Derselbe Jesus Christus, der für uns gestorben ist und am Ende der Geschichte wiederkommen wird, begegnet uns und gibt uns Anteil jetzt in unserer gegenwärtigen Existenz an seinem Kreuzestod und Auferstehung und an seiner kommenden Herrlichkeit. Die Gegenwart ist nicht ein zeitlicher leerer Raum, der von Vergangenheit und Zukunft abgegrenzt wäre und sich außerhalb der Heilsgeschehnisse befände. Die Vergegenwärtigung des Erlösungswerkes Jesu Christi geschieht im Gottesdienst der Kirche, in dem durch das Wort und durch die Sakramente Christus selbst am Menschen handelt. 56

A) Wort und Sakrament

in der evangelischen

Theologie

Die übliche Formel „Wort und Sakrament" erweist sich als ungeeignet, das für die evangelische Theologie verbindliche Verhältnis zwischen den beiden Heilsmitteln wiederzugeben. Sie erweckt den Eindruck, als seien Wort und Sakrament zwei wesentlich verschiedene und voneinander getrennte Weisen der Heilszueignung. Denkt man daran, daß das Sakrament in der evangelischen Theologie als eine andere Gestalt des Wortes gilt, so wird verständlich, warum diese Formel als ungenügend und ungenau auf Kritik s t ö ß t 1 Sie deutet eher darauf hin, daß das Wort und das Sakrament verschiedenartige Wirkungsmittel des Evangeliums sind, die wenig miteinander gemeinsam haben. Das Hauptanliegen der evangelischen Theologie, die das Wort als Hauptmittel der Heilszueignung betrachtet, das selbst in dem Sakrament das konstitutive Moment darstellt, wird durch die Nebeneinanderstellung von Wort und Sakrament verdeckt. Die Wort-Sakramentformel drückt gerade das nicht aus, was für das Sakramentsverständnis in der evangelischen Theologie so wichtig ist, nämlich, daß das Wort nicht nur Heilsmittel neben dem Sakrament ist, sondern auch in das Sakrament hinein als ein wesentlicher Faktor hinzugehört. In zweifacher Hinsicht ist das Wort Heilsmittel: Das Wort der Verkündigung und das Wort des Sakraments.

1. Pneumatischer

Geschehenscharakter

des Wortes

Auch außerhalb des Sakramentsvollzuges ist das Wort Heilsmittel. Verbum dei bedeutet hier soviel wie opus dei. Auf die göttliche Heilsmacht des Wortes bei Luther wurde an einer anderen Stelle hingewiesen 2 Bedeutend für die evangelische Theologie im Anschluß an das Wortverständnis der Reformation ist der Geschehenscharakter des Wortes Gottes. Das Wort vermittelt den Menschen das erlösende Handeln Gottes. Im glaubenden Zuhören des Wortes geschieht in der „Tat", was das Wort aussagt: Gott handelt und wirkt das Heil in den Menschen. Der Sinn des Wortes Gottes besteht nach dem reformatorischen Verständnis eben darin, wie E. Kinder darüber schreibt, daß das Wort in erster Linie nicht als Belehrung und Enthüllung göttlicher Wahrheiten und Geheimnisse zu verstehen ist, sondern als gegenwärtig geschehende Erlösungstat Gottes. „Das ganze Pathos, mit dem die Reformation für das ,Wort Gottes' eintritt, haftet an dem soteriologisch gefaßten Begriff des Evangeliums." 3 1

2 3

E. Kinder, Zur Sakramentslehre, in: NZStTh 3, 1961, S. 158. Ders. Was bedeutet „Wort Gottes" S. 24; G. Ebeling, Erwägungen zum evangelischen Sakramentsverständnis, in: Wort Gottes und Tradition, 2. Aufl., Göttigen 1966, S. 218. Siehe oben S. x x , Anm. 119 ff. Was bedeutet „Wort Gottes" . . ., S. 15.

57

Das Wort Gottes ist heilswirkendes Wort. Das Wesen des Wortes Gottes erblickt G. Ebeling in seiner Wirkungs- und Geschehenskraft. Er geht von dem reformatorischen Wortverständnis aus, „wo nach dem Wort als solchem wesenhaft Geschehen eigen i s t " 4 Wort und Wirken fallen bei Gott zusammen. Was das Wort ist, zeigt sich an seiner Wirkung. Das Wesen des Wortes offenbart sich für Ebeling in seiner Wirkung und ist durch sie bestimmt. „Das Wesen des Wortes erreicht man deshalb nicht mit der Frage, was das Wort enthüllt, sondern mit der Frage, was das Wort wirkt, was es ausrichtet, welche Zukunft es e r ö f f n e t . " 5 Der Geschehenscharakter des Wortes würde unverständlich, würde man nicht von dem Werk des Heiligen Geistes sprechen. Das Wortgeschehen hat eine pneumatische Dimension. Das Wort ist Werkzeug des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist erschließt den Menschen den Sinn des Wortes Gottes. Dazu sagt Luther: „Denn es mag niemand gott noch gottes wort recht verstehen, er habs denn on mittel von dem heyligen geist. . " 6 . Das Verhältnis zwischen dem Heiligen Geist und dem Wort wird sehr deutlich ausgedrückt, wenn Luther von der Unterscheidung zwischen dem inneren und äußeren Wort spricht. Das äußere geschriebene Wort der Schrift und gesprochene Wort der Verkündigung würden wirkungslos bleiben, wenn nicht das innere Reden Gottes durch den Heiligen Geist hinzukäme. Man würde das Wort Gottes nicht richtig hören können, und das Wort würde nicht das Wort der Gnade sein ohne die innere Wirkung des Heiligen Geistes: ,,nec in adultis et audientibus verbum dei audietur, nisi intus spiritus incrementum det. Ideo verbum virtutis et gratiae est, simul dum aures pulsat, intus spiritum infundit. Quod si spiritum non infundit, nihil differt audiens a surdo." 7 Der Heilige Geist ist der, der in dem äußeren Wort das lebendige und wirkende Wort Gottes vernehmbar macht. Das innere Verhältnis zwischen dem Wort und dem Heiligen Geist nimmt in der Theologie Luthers einen wichtigen Platz ein. R. Prenter, der diesem Thema in der Theologie Luthers nachgegangen ist, hebt die Bindung des Heiligen Geistes an das Wort als sein Werkzeug hervor 8 Der Geschehenscharakter des Wortes beruht im Grunde auf der Wirkung des Heiligen Geistes, der das Heilswerk Christi in seinem Wort vergegenwärtigt. „Nur als Träger der realen Gegenwart Christi ist das Wort Gottes Wort. Losgelöst von ihm ist es nur Buchstabe. Aber Christi reale Gegenwart ist ein Wunder, das Wunder nämlich, das der Heilige Geist tut, wenn er Jesu Auferstehung dadurch auf Erden kundmacht, daß er

4 5 6 7 8

58

Erwägungen ., S. 221. Das Wesen des christlichen Glaubens, 3. Aufl., München und Hamburg 1967, S. 183. WA VII, 5 4 6 , 24. WA VII, 5 0 9 , 2. Spiritus Creator, 2. Aufl., München 1954, S. 1 0 7 - 1 3 3 ;

den Auferstandenen im verkündigten Wort real gegenwärtig werden läßt." 9 Das Wort geschieht aufgrund des in ihm wirkenden Heiligen Geistes, der Jesus Christus in allen seinen Heilstaten vergegenwärtigt. Die Vermittlung der Gegenwart Christi in seinem Wort ist das Werk des Heiligen Geistes. Die Gegenwart Christi durch den Heiligen Geist soll eine Gewähr dafür sein, daß seine personale Gegenwart nicht in eine ideelle und abstrakte Gegenwart entartet, so wie er etwa in seiner Lehre gegenwärtig wäre, da „das Werk des Geistes darin besteht, den auferstandenen lebendigen Christus, Christus ipse im Wort zu vergegenwärtigen" 1 0 . E. Kinder sieht das Verhältnis zwischen Wort und Geist bei Luther dadurch bestimmt, daß das Wort „geisthaltig" und der Heilige Geist an das „äußerliche Wort" gebunden ist 1 1 . Luther erwähnt in einem Atemzug die Heilsnotwendigkeit des Wortes und die Zueignung durch den Heiligen Geist des in dem Wort verkündigten Evangeliums. Das Heilswerk Christi würde verborgen bleiben und in Vergessenheit geraten, wenn es das Wort der Verkündigung nicht gäbe und der Heilige Geist es uns nicht darbieten würde: „Daß nun solcher Schatz nicht begraben bliebe, sondern angelegt und genossen würde, hat Gott das Wort ausgehen und verkünden lassen, darin den heiligen Geist gegeben, uns solcher Schatz und Erlösung heimzubringen und zueignen." 12 Die Vollmacht des rettenden Verkündigungswortes, das in der Vollmacht des Kreuzessieges Jesu gründet, wird von Ρ Brunner in einen engen Zusammenhang mit dem Heiligen Geist gebracht. „Der in der Kirche ausgegossene Geist aber bringt die Aktualisierung dieser Siegesvollm a c h t . " 1 3 Die gottesdienstliche Christus-Anamnese ist „Pneumagegenv/art", „geistgewirkte Gegenwart", dessen, wovon die Worte der Anamnese berichten 1 4 . Alles, was in Jesus Christus geschah, das in ihm vollzogene und beschlossene Heilshandeln wird durch das mit seiner Vollmacht ausgestatteten und von ihm eingesetzten Mittel des Wortes lebendige Gegenwart. Jesus Christus ist in seinem Wort gegenwärtig, nicht aufgrund der Erinnerung an seine vergangenen damals vollzogenen Heilstaten, sondern es ist eine lebendige, die Existenz des Menschen ansprechende und bestimmende Gegenwart Jesu, denn das Wort erinnert nicht nur, sondern geschieht wirksam. 1 5 Die Wirklichkeit des Wortes hat einen Bezug zu der Geschichte des Heils und ist zugleich gegenwärtig geschehende Heilswirklichkeit. „In der Tat, 9 10 11 12 13 14 15

Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 131. Was bedeutet „Wort Gottes" GK. III, 3 3 - 3 9 (S. 654). Zur Lehre v o m Gottesdienst . Ebenda, S. 210. Ebenda, S. 209 f.

., S. 18. S. 209.

59

zwischen dem Heilsgeschehen und der apostolischen Kunde von diesem Geschehen besteht ein ,unlösliches Ineinander'." 1 6 Das Wort Gottes berichtet nicht nur über die geschichtlichen Heilstaten Christi, vielmehr sind diese im Wort in ihrer pneumatischen Dynamik und Heilsfülle eingeschlossen, so daß im Wort vom Kreuz sich das Kreuzesgeschehen aktualisiert. Die Gegenwart Jesu Christi ist für P. Brunner eine „pneumatische, wortgebundene Selbstvergegenwärtigung" 17 . Die tatkräftige Erfüllung des Verkündigungswortes ist das Werk des Heiligen Geistes. Das Wort ist schöpferisches heilshandelndes Wort, weil in ihm der Heilige Geist wirkt und das, was es aussagt, zum Gegenwartsgeschehen macht. Deshalb spricht P. Brunner von dem „pneumadurchwirkten Wort" 1 8 . Die Heils Vollmacht des Wortes ist einer der prägnantesten Charakterzüge der evangelischen Theologie. Hierfür kann sie sich auf Luthers Aussage berufen, der über das Wort sagt: „Es hat und vermag alles, was Gottes ist." 19 Seine Vollmacht hat Jesus bewiesen, indem er das Kreuz und den Tod besiegt hat und auferstanden ist. Eben diese seine Vollmacht hat der auferstandene Christus seinen Worten übertragen. Jesus Christus, sagt P. Brunner, hat seine Worte mit seiner Vollmacht ausgestattet. Deshalb ist er in seinen Worten mit seiner ganzen Vollmacht gegenwärtig. „Es ist die Vollmacht des verherrlichten Gottmenschen, aus der die Wortverkündigung der Apostel und der apostolischen Kirche entspringt. Der Kreuzessieg Jesu ist der Ursprung, in dem die Stiftung der apostolischen Wortverkündigung gründet. Die Vollmacht dieses Sieges, die Vollmacht dieses Siegers ist die Vollmacht des von ihm gestifteten rettenden Wortes." 2 0 Vielleicht hat dieses unerschütterliche Vertrauen in die Allmacht des Wortes, die ein Merkmal der evangelisch-lutherischen Kirche und Theologie ist, die Heilsnotwendigkeit des Sakramentes überschattet und aus diesem ein nicht völlig gleichrangiges und manchmal vernachlässigtes Instrument des Heils gemacht. Daß es in der evangelischen Theologie zu einer Überbetonung und einseitigen Verabsolutierung des Wortes gekommen ist, erkennt man an den mahnenden Stimmen aus dem eigenen Lager. In diesem Sinne fragt V. Vajta: „Müßte sich die evangelische Theologie nicht von Luther und der lutherischen Reformation her gegen eine sakramentslose Theologie der Überbetonung des (Heils) Wortes abgrenzen? " 21 P. Brunner macht auf dasselbe Problem aufmerksam, wenn er das Verhältnis zwischen der Wortverkündigung und dem

16 17 18 19 20 21

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Ebenda, S. 2X4. Ebenda, S. 217. Ebenda. Siehe S. 50 f. Anm. 119 ff. A.a.O., S. 208. Teilhaben am Heil: Sakrament und Glaube, in: LR 15, 1965, S. 161.

Sakrament der Eucharistie untersucht und davon überzeugt ist, „daß die Abendmahlspraxis unserer Kirche einer tiefgreifenden Erneuerung bed a r f . " 2 2 Es wäre sicher nicht falsch, wenn man die Ursache der Möglichkeit, einen Wortgottesdienst zu feiern, ohne die Eucharistie zu vollziehen oder das Abendmahl als Anhängsel zum abgeschlossenen Gottesdienst zu halten, in der Selbsteffizienz und Absolutheit des verkündigten Wortes vermuten würde, das schon allein heilswirksam ist. Nicht gegen die Heilswirksamkeit des Wortes wenden sich evangelische Theologen, sondern dagegen, daß diese das Sakrament nicht überflüssig machen soll, oder daß es nur zur Bestätigung und Sichtbarmachung des Wortes vollzogen wird. Der Sinn und die Funktion des Abendmahls besteht nach P. Brunner nicht hauptsächlich darin, es „als bestätigendes und versiegelndes Unterpfand zur mündlichen Predigt" hinzuzuziehen oder es durch eine Versinnlichung und Sichtbarkeit des gehörten mündlichen Wortes zu erreichen. S o wenig er dies bestreitet, wehrt er sich jedoch gegen ein an das Wort einfach angehängtes Abendmahl: „Unter dem Bilde von dem angehängten Siegel könnte sehr leicht die Abendmahlsfeier doch wieder als etwas erscheinen, das dem eigentlichen Brief Gottes an die Menschen, dem mündlichen Wort, eben nur angehängt ist, um unser Mißtrauen in die Zuverlässigkeit dieses Briefwortes zu überw i n d e n . " 2 3 Das Sakrament darf auch nicht „als notwendige Ergänzung" zum Wort betrachtet werden, denn dann würde, wie G. Ebeling sagt, selbst das solo verbo der Reformation in Frage gestellt werden 2 4 Zwei Entgleisungen von dem rechten Verhältnis zwischen Wort und Sakrament hat E. Schlink im Auge, wenn er sagt, daß das Wort weder einfach als Hinführung zum Abendmahl betrachtet werden soll, noch die Eucharistie allein als Vergewisserung des Wortes vollzogen werden darf 2 5 Die Heilswirksamkeit des Wortes ist ein unbestreitbarer Grundsatz der evangelischen Theologie und Kirche, die im wesentlichen wortgebunden und wortbestimmt sind. Daß sie Theologie und Kirche des Wortes sind oder so bezeichnet werden können, soll jedoch nicht auf eine Verminderung der Bedeutung der Sakramente hindeuten. Bekommt diese Bezeichnung eine exklusive, allein auf das Wort begrenzte Bedeutung, die eine Geringschätzung der Sakramente impliziert, so wird einer solchen Verallgemeinerung durch das Interesse Luthers an den von ihm anerkannten Sakramenten und von vielen Theologen, die in dieser Tradition stehen, widersprochen. Eine Tendenzentwicklung, die die theologische Aufwertung der Sakramente zum Ziel hat, ist nicht zu übersehen. In diesem Sinne spricht G. 22 23 24 25

A.a.O., S. 3 3 3 . Ebenda. Erwägungen S. 217. Der Kult in der Sicht evangelischer Theologie, in: Der k o m m e n d e Christus S. 119.

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Ebeling von einer Abkehr von den Irrtümern der Theologie der zwei vorausgegangenen Jahrhunderte und von einer Rückkehr zu den Grundsätzen der Reformation und stellt dabei fest, daß Themen wie Sakrament, Liturgie, Dogma und Kirche theologisch neu gedacht werden und „eine überraschende Aufwertung erfahren" 2 6 . Auch er sieht die einseitige Entwicklung der Lehre vom Wort und tritt für ihre Ergänzung durch den Ausbau der Sakramentslehre ein 27.

2. Das reformatorische

Sakramentsverständnis

Zunächst soll nach der Bedeutung gefragt werden, die die Reformation dem Sakrament beimißt. Mit dieser Rückwendung zu der Sakramentstheologie der Reformation sind Fragen verbunden, wie die, ob dadurch, daß das Wort als Hauptmittel der Heilszueignung gilt, nicht ipso facto auch eine Abwertung des Sakramentes erfolgt, oder die Frage, ob die starke Hervorhebung des mündlichen Wortes nicht zu einer Vergeistigung und zur Verflüchtigung des das Sakrament mitkonstitutiven Elementes geführt hat. Daß dies oft so verstanden wurde oder dazu tendiert, so verstanden zu werden, läßt sich an der von den evangelischen Theologen immer wieder gestellten Frage ablesen, wenn sie das Problem des Sakramentes behandeln und sich dabei fragen, ob die Heilsmacht des Wortes als Hauptgnadenmittel die Notwendigkeit des Sakramentes nicht problematisch macht. Mit der Verringerung der Zahl der Sakramente durch die Reformation sollte jedoch nicht auch die Heilswirksamkeit des Sakramentes in Frage gestellt werden. Die starke Reduzierung der sieben auf zwei oder drei Sakramente schließt nicht ein, daß die Bedeutung des Sakramentes als Heilsmittel niedriger geschätzt wurde. Beide, das Wort und das Sakrament, sind für die Reformation Mittel des von Gott gewirkten und den Menschen zugesprochenen Heils. Es ist schwierig, von der lutherischen Reformation her eine Geringschätzung des Sakramentes gegenüber dem Wort zu vertreten, ohne sich von einer subjektiv-spekulativen Bewertung der reformatorischen Lehre freimachen zu können. Denn dort heißt es, daß Gott die Menschen durch Wort und Sakrament rechtfertigt und daß der Heilige Geist durch beide den Menschen zugesprochen wird: „nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur spiritus sanctus." 28 Ebenso in der Apologie: „Per haec enim, videlicet per verbum et sacramentum operatur spiritus sanctus." 29 Das Ver-

26 27 28 29

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Worthafte und sakramentale Existenz, in: Wort Gottes und Tradition, S. 199. Ebenda, S. 215. C A V , 2 (S. 58). XXIV, 45 (S. 3 6 9 - 3 7 0 ) .

bindungspartikel „ e t " steht hier eindeutig für eine Zuordnung zwischen Wort und Sakrament und nicht für eine Unterordnung. Man wird nicht sagen können, daß der Heilige Geist sich durch das Wort intensiver und wirksamer mitteilt als durch das Sakrament, genausowenig wie man behaupten kann, daß das Sakrament unentbehrlich für die Heiligung des Menschen ist, weil es ausreichend durch das Wort geschieht. Solche Gedanken lassen sich von der lutherischen Bekenntnisschrift her nicht belegen. Das Sakrament ist für die lutherische Reformation dem Wort koordiniert, ebenso heilsnotwendig wie das verbum vocale. In gleichem Maße, wie das Wort zu dem Evangelium gehört, ist auch das Sakrament eine Gestalt des Evangeliums. Die Sakramente sind, wie Fr. Brunstäd im Sinne lutherischer Auffassung sie bezeichnet, „Willensgestalt göttlichen Handelns" 3 0 . Sie sind von Gott eingesetzte Handlungen, Zeichen göttlichen Willens, durch welche Gott als ihr eigentliches Subjekt seine Verheißungen erfüllt. Die Bekenntnisschriften nennen sie, „signa et testimonia voluntatis Dei erga nos" 3 1 . Durch sie wirkt Gott, was er verheißen hat. Als heilsübermittelnde Handlungen, „eben Verheißung in Funktion", wie H. Fagerberg sie darstellt 3 2 , sind die Sakramente wie das Wort unentbehrliche Gnadenmittel, durch die das durch Jesus Christus erworbene Heil den Menschen zuteil wird. Für die lutherische Reformation gilt, daß das Sakramentsverständnis sich nicht aus einem allgemein gefaßten Sakramentsbegriff ableiten läßt. Man ist nicht zuerst an der Ausbildung eines allgemeinen Sakramentsbegriffs interessiert. Ausgangspunkt der Betrachtungen über die Sakramente bilden vielmehr die neutestamentlichen Gegebenheiten, die biblischen Berichte über die Sakramente. Dies spiegelt sich, wie E. Schlink 3 3 bemerkt, in dem Aufbau der CA wider, wo zuerst das Sakrament der Taufe und des Abendmahls behandelt werden und danach unter der Überschrift „De usu sacramentorum" eine Definition des Sakramentes folgt (Kap. XIII). Dieselbe Verfahrensweise hat E. Kinder im Auge, wenn er in diesem Falle das Denken Luthers als „positivistisch" bezeichnet im Unterschied zu dem vorgefaßten übergeordneten Sakramentsbegriff in der katholischen Theologie oder zu der nur signifikativen Bedeutung des Sakramentes nach der reformierten Theologie 3 4 . Steht einmal fest, daß die Sakramente von Jesus Christus gestiftet und befohlen wurden, erübrigt sich die Frage, ob es Sakramente geben soll und ob sie nützlich seien.

30 31 32 33 34

Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, Gütersloh, 1951, S. 136. CA XIII, 1 (S. 68). Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften von 1 5 2 9 bis 1537, Göttingen 1965, S. 169. Theologie ., S. 252. Zur Sakramentslehre, S. 167.

63

Sind die Sakramente von Jesus Christus eingesetzt, hängt ihre Notwendigkeit nicht von einer überzeugenden Begründung seitens des Menschen ab. Ihr Stifter sollte besser gewußt haben, welche Funktion dem Sakrament im Heilsprozeß zukommt und wie er durch die Sakramente die Menschen erreicht und sich ihnen als der gegenwärtige Herr mitteilt 3 5 . Das Mandatum Christi soll die ultima ratio der Sakramente sein. Die Sakramente sind nach der lutherischen Reformation neben dem Wort grundsätzlich Mittel der Heilszueignung. Ihre Wirkung wird nicht weniger geschätzt als die des Wortes. Zwischen der Wirksamkeit des Wortes und der des Sakramentes besteht kein Intensitätsunterschied, so daß man nicht sagen kann, daß durch das Wort mehr geschehe als durch das Sakrament. Vom Wort und vom Sakrament wird in gleichem Maße gesagt, daß sie wirksame Mittel der Rechtfertigungsgnade sind: „Et sacramenta et verbum propter ordinationem et mandatum Christi sunt efficacia." 3 6 Die volle Heilswirksamkeit des Sakramentes wird von der Reformation nicht bestritten, obwohl sie das gepredigte Wort des Evangeliums im Mittelpunkt des Heilsgeschehens und dessen Vergegenwärtigung gestellt hat. Die Hervorhebung des Wortes als Hauptgnadenmittel sollte jedoch im Prinzip nicht bewirken, daß aus dem Sakrament ein Heilsmittel zweiten Ranges wird. Die Überlegungen Luthers über das Sakrament der Taufe und des Abendmahls stehen am Anfang der Reformation für ein koordiniertes Verhältnis zwischen Wort und Sakrament und für eine nicht geringere Heilswirkung des Sakramentes gegenüber dem Wort. Die starke Herausstellung des Wortes innerhalb des Sakramentes, auf das als auf ein bestimmendes Moment sie mit Nachdruck hinweist, das das Sakrament zum Sakrament und zum Mittel der Gnadenzuteilung macht, war wiederum nicht mit der Absicht verbunden, ein spiritualistisches Sakramentsverständnis zu entwickeln, in dem das natürliche Element vernachlässigt und gering geschätzt wird. Erscheinungen solcher Art, an denen es nicht gefehlt hat, können sich schließlich nicht auf Luther berufen, der sich im Kampf mit den Schwärmern gegen eine solche Tendenz entschieden gewehrt hat. In Luthers Sakramentsverständnis ist das natürliche Element durchdrungen von dem Wort Gottes, so daß aus beiden eine sakramentale Einheit entsteht. Das Sakrament besteht aus der Vereinigung des göttlichen Wortes und dem natürlichen Element. Für das Sakrament sind beide mitkonstitutiv. Ohne das Wort oder ohne das Element gäbe es auch kein Sakrament. Obwohl es das Wort Gottes ist, das dem Sakrament die Wirkkraft gibt, geschieht das nur durch das Medium des für jedes Sakrament bestimmten Elementes, das von der göttlichen Kraft des Wortes 35 36

64

Ebenda, S. 144. CA VIII, 2 (S. 62).

durchdrungen ist. Das Element ist vom Wort getränkt und hat in sich die Dynamik des Wortes Gottes. Beide, das Wort und das natürliche Element, gehören untrennbar zusammen und sind ineinander wirksam. So schreibt Luther über die Taufe: „Die Taufe ist nicht allein schlecht Wasser, sondern sie ist das Wasser, in Gottes Gebot gefasset und mit Gottes Wort verbunden." 3 7 Nicht nur das Wort ist im Wasser, sondern auch das Wasser im Wort. Dieses ineinander und voneinander Durchdrungensein wird zugleich vom Wort und vom Wasser gesagt 38 . Wie in Eph. 5,26 schreibt Luther: „Die Taufe ist nicht anders denn Gottes Wort im Wasser." 39 Das Wasser wird in der Taufe eins mit dem Wort Gottes. Diese sakramentale Einheit kann als Gottes Wort im Wasser oder als Wasser in Gottes Wort umschrieben werden. Das Sakrament der Taufe beruht darauf, daß im Taufwasser Gott „sein Wort darein geben und gepflanzt h a t " 4 0 und „daß man beileib die zwei, Wort und Wasser, nicht voneinander scheiden und trennen lasse. Denn wo man das Wort davon sondert, so ists nicht ander Wasser, denn damit die Magd k o c h e t . " 4 1 . Ist das Wasser ohne das Wort nur „schlecht Wasser" 4 2 , so wird das Wasser der Taufe durch das Wort Gottes „ein göttlich, selig, fruchtbarlich und gnadenreich Wasser "43. In der Bestimmung des Sakramentes beruft sich Luther oft auf Augustine kurze Formulierung: „Accedit verbum ad elementum et fit sacram e n t u m . " Diesen kurzen Spruch findet er „so eigentlich und wohl geredet, daß er kaum ein bessern gesagt h a t " 4 4 . Die Zustimmung Luthers zu dem Sakramentsverständnis Augustins bezieht sich nicht nur auf das verbum, sondern auch auf das elementum. Das „corporale vel materiale elementum" tritt in seinem Sakramentsverständnis angesichts der eindeutig wichtigeren Bedeutung, die er dem Mandats- und Verheißungswort einräumt, nicht zurück, vielmehr ist es eine mitkonstitutive Komponente 4 5 Hier macht sich ein Unterschied zwischen Luther und Melanchthon bemerkbar. In seiner Definition der Sakramente, bemerkt H. Fagerberg, ersetzt Melanchthon das Wort Elementum durch Ritus, Handlung, Ceremonia oder opus sacrum 4 6 . In der Apologie schreibt Melanchthon dazu: „Sacramenta vocamus ritus, qui habent mandatum Dei et quibus addita

37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

K K T f . 2 5 - 2 7 (S. 5 1 5 ) . E. Schlink, Theologie S. 205 und S. 208. AS:C III, 16 (S. 4 4 9 ) . G K T f . 4 2 f. (S. 696). GK IV, 1 8 - 2 0 (S. 695). K K T f . 17 (S. 5 1 6 ) . G K I V , 12 f. (S. 696). GK IV, 41 f. (S. 709). Siehe dazu A. Peters, Evangelium und Sakrament nach den Bekenntnissen der lutherischen Reformation, in: Oecumenica 1970, S. 148, S. 156 ff. A.a.O., S. 172.

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est promissio gratiae." 4 7 An einer anderen Stelle schreibt er, wie das Wort durch die Ohren das Herz berühre, so bewege auch der Ritus durch die Augen das Herz: „Sicut autem verbum incurrit in aures, ut feriat corda: ita ritus ipse incurrrit in oculos, ut moveat corda." 4 8 Das Sakrament als Ritus veranschaulicht und bewirkt bei Melanchthon die Sichtbarkeit des Wortes. Für A. Peters „scheint Melanchthon in der Haltung eines Menschen zu verharren, welcher bei einer Taufhandlung zusieht, oder welchem die gesegnete Hostie gezeigt wird. In Taufe und Abendmahl schauen wir doch nicht nur einer heiligen Zeremonie zu, wir werden unmittelbar konfrontiert mit den Schöpfungsgaben, wir werden Übergossen mit dem ,Gotteswasser' (GK IV,14), wir nehmen das gesegnete Brot zu uns und trinken aus dem Kelch; in der Beichte werden uns die Hände aufgelegt" 4 9 Der Unterschied zwischen Melanchthon und Luther artikuliert sich darin, daß Melanchthon von Augustin nicht den Begriff „elementum" übernimmt, sondern „signum", Zeichen für die Definition der Sakramente verwendet, das nicht unbedingt ein stoffliches Element bezeichnet. Im Vergleich zu Melanchthon erhält das Element neben dem Wort in Luthers Sakramentsverständnis eine bedeutendere Stellung. Im Anschluß an den Ausspruch Augustins sagt er: „Wenn das Wort zum Element oder natürlichen Wesen kömmpt, so wird ein Sakrament daraus." 5 0 Wie bei der Taufe, wo das natürliche Wasser durch das Wort Gottes „ein gnadenreich Wasser des Lebens" 5 1 wird, so gilt diese Bestimmung auch bei dem Sakrament des Abendmahls. Das Einsetzungswort als Vergebungswort 5 2 zusammen mit den Elementen von Brot und Wein machen das Sakrament des Altars aus, das „der wahre Leib und Blut des Herrn Christi. 1 , 5 3 ist. Wie bei der Taufe, so gilt auch grundsätzlich für das Abendmahl das Einswerden des Wortes mit Brot und Wein, die man voneinander nicht trennen soll: ,,Nu stehen da Gottes Worte, die in sich begreifen und fassen den Leib Christi, daß er da sei. Darum, wie das Wort und Glaube not ist, so ist auch der Leib, im Wort gefasset, uns not, auf daß unser Glaube recht sei und mit dem Worte sich reime, weil die beiden, Wort und Leib, nicht zu scheiden sind." 5 4 Luther stellt in aller Deutlichkeit heraus, daß das Sakrament auf dem Ineinander von Wort und Sakrament beruht. Ist das Taufwasser ohne das Wort einfaches Wasser, so gilt dies auch für das Abendmahl: „Das ist wohl wahr, wenn du das Wort davon tuest oder ohn Wort ansiehest, so

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Apol. XIII, 3 (S. 292). Apol. XIII, 5 (S. 292). A.a.O., S. 187. GK IV, 3 1 - 3 3 (S. 6 9 4 ) . K K T f . 19 (S. 5 1 6 ) . Vgl. dazu E. Schlink, Theologie . GK Abm. 23 f. (S. 709). WA 23, 267.

., S. 2 2 0 .

hast du nichts denn lauter Brot und Wein." 5 5 Aufgrund dieser sakramentalen Untrennbarkeit zwischen Wort und Element oder weil beide konstitutiven Elemente so miteinander verbunden sind, kann mit E. Schlink gesagt werden, daß der Glaube zugleich am Wort und Wasser hängt. „Wer das Wasser der Taufe nicht empfängt, empfängt auch nicht die Verheißung des Wortes der Taufe. Gott wirkt die Seligkeit nicht nur durch das Wort, sondern durch Wort und Wasser, durch das Wort im Wasser und das Wasser im Wort. Wasser und Wort sind nun ineinander." 5 6 Damit wird hier zugleich auf die Heilsnotwendigkeit des Sakramentes hingewiesen. In die Wirksamkeit des Sakramentes wird das materielle Element von Luther unmißverständlich einbezogen. Energisch wendet er sich gegen die „Schwärmergeister", die die Unvereinbarkeit des Wortes Gottes mit dem natürlichen Element predigen und im Wasser der Taufe nicht das Wort Gottes sehen oder „Die Taufe und öberkeit nicht weiter ansehen denn als Wasser im Bach und Topfen Ii 57

Wenn das Taufwasser das „heilsame göttliche Wasser" 58 ist, und wenn das Wort und der Wein des Abendmahls „wahrhaftig Christus Leib und Blut" 5 9 sind, so sind doch solche Aussagen nicht im Sinne einer natürlichen Theologie zu verstehen 6 0 . Wasser, Brot und Wein besitzen in sich selber nicht eine solche Kraft. Sowohl die skotistische Meinung, nach der weder durch das Wasser noch durch das Wort die Abwaschung der Sünde geschehe, sondern durch Gottes Willen, als auch jene, die Luther Thomas von Aquin zuschreibt, nach der die Vergebung der Sünden nicht durch das Wort, sondern durch das Wasser erfolgt, dem Gott geistliche Kraft verleiht, lehnt Luther ab 6 1 . Entscheidend für Luther ist, daß die Heilswirksamkeit der sakramentalen Elemente nur vom Wort Gottes her zu verstehen ist, von dem sie nicht zu trennen sind. Das Taufwasser befreit von den Sünden „nicht des natürlichen Wesens halben, sondern daß hie etwas Edleres dazu kömmpt. Denn Gott selbst sein Ehre hinansetzet, sein Kraft und Macht daran legt" 62 . Das Wort Gottes ist die Mitte des Sakramentes: „Denn das ist der Kern in dem Wasser: Gottes Wort oder Gebot und Gottes Namen "63 Ähnliches gilt auch für das Abendmahl, wo kraft der Einsetzungsworte Brot und Wein Leib und Blut Christi sind: „Das Wort (sage ich) ist das, das dies Sakrament machet und unterscheidet, daß es nicht lauter Brot 55 56 57 58 59 60 61 62 63

G K A b m . 1 5 - 1 8 (S. 710). Theologie ., S. 208. GK Tf. 42 f. (S. 703). G K T f . 35 (S. 697). G K A b m . 20 (S. 710). Siehe dazu E. Schlink, Theologie SA:C III Tf. 5 (S. 4 5 0 ) . G K T f . 1 7 - 2 0 (S. 694). G K T f . 8 - 1 0 (S. 6 9 4 ) .

S. 206 f.

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und Wein, sondern Christus Leib und Blut ist und heißet." 6 4 Deshalb sollen die Sakramente nicht nach ihrer äußeren Form betrachtet werden, vielmehr soll darin das kraftvolle Heilswort gesehen werden. „Darümb lehren wir, allezeit, man solle die Sakramente und alle äußerlich Ding, so Gott ordnet und einsetzt, nicht ansehen nach der groben äußerlichen Larven (Erscheinung), wie man die Schalen von der Nuß siehet, sondern wie Gottes Wort darein geschlossen ist." 6 5 Die Sakramente sind auf Gottes Wort gegründet 6 6 und deshalb sind sie Gottes Tat. Gottes Wort in Sakramenten ist heilswirksames Gottes Werk. In Sakramenten handelt Gott selbst: „Die Taufe ist nicht unser, sondern Gottes Werk." 6 7 Mit Berücksichtigung des natürlichen Elementes richtet sich jedoch die ganze Aufmerksamkeit Luthers im Sakrament auf das Wort Gottes, auf das es eigentlich in der Wirkung des Sakramentes allein ankommt. Das handelnde Subjekt des Sakramentes ist Gott selbst durch sein Wort, das E. Schlink als „Täter im sakramentalen A k t " 6 8 nennt. Über die Taufe sagt Luther: „Denn durchs Wort kriegt sie die Kraft, daß sie ,Bad der Wiedergeburt' ist " 6 9 Wenn das Taufwasser gnadenreiches Wasser ist, so ist dies nicht eine Eigenschaft des Wassers, „sondern an Gottes Wort und Gepot liegt es alles." 7 0 Hauptsache im Sakrament ist das Wort Gottes, wie es Luther auch im Abendmahl zum Ausdruck bringt: „So hast du hie sein Leib und Blut aus Kraft dieser Wort, so zu dem Brot und Wein k o m m e n . " 7 1 Luthers Sakramentsverständnis ist von den Gedanken beherrscht, daß allein das Wort Gottes das Sakrament bestimmt. Alles, was im Sakrament geschieht, bewirkt Gott durch sein Wort. Das Wort ist im Sinne Luthers, wie E. Schlink es bezeichnet, „sakramentsschaffendes Wort" 7 2 , oder: „Das Wort ist monergistisch der Täter beim Entstehen des Sakramentes." 7 3 Die wesentliche und allein sakramentsbestimmende Funktion des Wortes bedeutet jedoch nicht, daß die Elemente außerhalb der gnadenspendenden Wirkung des Sakramentes liegen. Das Wort Gottes, das die Elemente aus ihrem natürlichen Zustand heraushebt und „in der freien 64 65 66 67

68 69 70 71 72 73

68

GK Abm. 3 2 - 3 6 (S. 709). G K T f . 3 7 - 4 0 (S. 694). Über das Abendmahl schreibt Luther in GK Abm. 43 f. (S. 710): „Denn es ist nicht gegründet auf Menschen Heiligkeit, sondern auf Gottes Wort." GK Tf. 6 f. (S. 698); GK Tf. 4 0 - 4 4 (S. 6 9 2 - 6 9 3 ) : „Denn in Gottes Namen getauft werden, ist nicht von Menschen, sondern von Gott selbst getauft werden; darumb ob es gleich durch des Menschen Hand geschieht, so ist es doch wahrhaftig Gottes eigen Werk ." Theologie ., S. 206. G K T f . 14 f. (S. 696). G K T f . 34 (S. 701). GK Abm. 13 f. (S. 711). Theologie S. 220. Ebenda, S. 207.

Entscheidung der göttlichen Einsetzung erfaßt und umschließt" 7 4 , macht sie zum Mittel des gegenwärtig wirkenden und sich selbst erteilenden Gottes. Das Wort verleiht dem Element seine göttliche Wirkung und macht es zum Ort, an dem der anwesende Gott wirkt. Das Wasser bei der Taufe, das Brot und der Wein im Abendmahl sind in das Geschehen des Verheißungswortes wenn auch in unterschiedlicher Weise 75 hineingenommen. Die verheißenden Einsetzungsworte des Abendmahls erfüllen, was sie versprechen, indem sie Brot und Wein in ihren Dienst nehmen und bewirken, daß der Leib und das Blut Christi unter den irdischen Gaben den Gläubigen ausgeteilt werden. Der wahre Leib und das wahre Blut Christi im Abendmahl vermitteln sich nicht nur „worth a f t " , sondern leibhaft, obwohl es das Wort ist, das bewirkt, daß Brot und Wein Leib und Blut Christi sind. Auf die Frage: „Was ist das Sakrament des Altars? " antwortet Luther: „Es ist der wahre Leib und Blut des Herrn Christi, in und unter dem Brot und Wein durch Christus Wort uns Christen befohlen zu essen und zu trinken." 7 6 Das Wort steht bei Luther nicht im Gegensatz zum Sakrament, das ja auch materielle Elemente einbezieht. Zwischen Wort und den nötigen sakramentalen Elementen gibt es bei ihm keine Spaltung und Unvereinbarkeit. Um die Menschen in ihrer geistig-leiblichen Existenz zu erreichen, bedient sich Gott entsprechender Mittel. Die Menschwerdung Jesu Christi ist ein unverkennbarer Beweis dafür, daß die leibliche Gestalt von Gott in den Wirkungsbereich seiner Gnade hineingenommen wurde. In das Heilsgeschehen der Sakramente, die in Jesus Christus als Ursakrament 7 7 ihr Vorbild haben, sind auch Elemente dieser Welt aufgenommen und zu Werkzeugen des Geistes gemacht worden. Selbst das Wort des Evangeliums gehört nach Luther in die äußere Ordnung, durch die die Gnade Gottes mitgeteilt wird. Gott vermeidet nicht, den Menschen das Heil durch die äußeren sinnlich faßbaren Mittel nahezubringen. Als ein sich im Inneren des Menschen geistig vollziehender Prozeß ist der Glaube auch an äußere Dinge gebunden. , J a , es soll und muß äußerlich sein, daß man's mit Sinnen fassen und begreifen und dadurch ins Herz bringen könne, wie denn das ganze Evangelium eine äußerliche mündliche Predigt ist." 7 8 Die Begegnung Gottes mit dem Menschen, seine Ankunft und Gegenwart im Innern des Menschen geschieht nicht außerhalb dieser äußerlichen Ordnung, sondern mittels und inmitten der weltlichen Existenz, die von Gott nicht übersprungen wird. Deshalb schreibt Luther: „Summa, was Gott in uns tuet und wirket, will er durch solch äußerliche Ordnung wirken." 7 9 Als geistige 74 75 76 77 78 79

Ebenda, S. 2 1 8 . Ebenda, S. 221. GK Abm. 2 3 - 2 6 (S. 709). S. hierzu A. Peters, a.a.O., S. 148 f. G K T f . 4 - 8 (S. 6 9 7 ) G K T f . 8 - 1 0 (S. 6 9 7 ) .

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Wesen führen die Menschen zugleich eine leibliche Existenz, die in den Heilsprozeß einbezogen ist. In der Heilsgegenwart Gottes durch die Sakramente ist der ganze Mensch in der Einheit seiner geistigen und leiblichen Existenz aufgenommen. Die Teilnahme des Menschen am Christusgeschehen ist nicht nur eine geistig-seelische, sondern auch eine leibliche Kommunion, wie Luther es in Bezug auf das Abendmahl zum Ausdruck bringt: „Der Mund, der Hals, der Leib, der Christusleib isset, soll seinen Nutz auch davon haben, daß er ewiglich lebe und am Jüngsten Tage auferstehe zur ewigen Seligkeit. Das ist die heimliche Kraft und Nutz, der aus dem Leibe Christi im Abendmahl gehet in unsern Leib." 8 0 Luthers Sakramentsverständnis entwickelt sich aus einer Parallele zu der Inkarnation, die als Vorbild hinter seinen Gedanken steht, in der die Gottheit mit der Menschheit unlösbar eins geworden ist. Das Menschliche wird durch diese Vereinigung mit göttlicher Kraft ausgestattet zum Medium des Göttlichen. So wird auch das Wasser der Taufe durch das Wort Gottes gnadenreiches Wasser, das „mit Gottes Wort und Ordnung verleibet ist , und Brot und Wein werden durch das das Abendmahl stiftende Wort Leib und Blut Christi. Aus diesem Rückbezug zu der Inkarnation des göttlichen Logos, der, wenn er auch selten ausgedrückt wird, doch bestimmend bleibt, verliert Luther „die leibbezogene Realität" der Taufe und des Abendmahls nicht aus den Augen, die A. Peters bei ihm als einen wichtigen Aspekt herausstellt 8 2 . Entsprechend der unlösbaren Einheit zwischen Wort und Element im Sakrament erfolgt auch die Teilnahme des inneren und des äußeren Menschen am sakramentalen Gegenwartsgeschehen Jesu Christi, der sich in seinem Heilszuspruch an den inwendigen und auswendigen Menschen richtet und sich ihm durch Wort und Element mitteilt. Leib und Seele werden durch Element und Wort der Heilsgegenwart Gottes teilhaftig. So ist das Abendmahl „tröstliche Arznei, die Dir helfe und das Leben gebe beide an Seele und Leib. Denn wo die Seele genesen ist, da ist dem Leib auch geholfen" 8 3 . Auch in der Taufe wird der leibhaftige Mensch mit berücksichtigt: „Weil nu beide Wasser und Wort eine Taufe ist, so muß auch beide Leib und Seele selig werden und ewig leben, die Seele durchs Wort, daran sie gläubt, der Leib aber, weil er mit der Seele vereinigt ist und die Taufe auch ergreifet, wie er's ergreifen k a n n . " 8 4 Die heilswirkende Kraft des Sakramentes geht auch von dem Element aus aufgrund seiner Einheit mit dem Wort. Es wirkt nicht aus sich selbst heraus, sondern aus seinem Zusammenschluß mit dem Wort.

80 81 82 83 84

70

WA 23, 259, 4. G K T f . 39 f. (S. 6 9 6 ) . A.a.O., S. 166. GK Abm. 17—20 (S. 721). G K T f . 8 - 1 4 (S. 700).

3. Glaube und

Sakrament

Die gegenwärtige Wirksamkeit des Heilsgeschehens ist nicht als eine magische oder mechanische Wirkung zu verstehen, die mit dem Vollzug der Sakramentshandlung eintritt. Das Sakrament gehört untrennbar mit dem Glauben zusammen. Die Reformation hat dem Verhältnis von Sakrament und Glauben eine eigene Prägung gegeben, indem sie dem Glauben eine wichtige Funktion bei der Wirkung der Sakramente zuerkannt hat. Sie hat den Akzent nicht auf das sakramentale Geschehen, sondern auf den mit ihm zusammenhängenden Glauben gelenkt. Die Betonung der Notwendigkeit des Glaubens für die Wirksamkeit der Sakramente durch die Reformation sieht E. Kinder im Zusammenhang mit dem sie konstituierenden Stiftungswort. Der Glaube steht in enger Relation mit dem Wort, an das ja geglaubt wird. „Zum Heil wirken die Sakramente nur da, wo sie im Glauben an das durch sie wirkende Heilszusagewort empfangen werden. Die Reformation sieht die Sakramentshandlungen innerhalb der Relation von Verbum (als mandatum und promissio) und fides, wie sie ja überhaupt die ,gratia' als personales Handeln Gottes am Menschen auffasste und nicht als .objektiv' übermittelte Substanz oder K r a f t . " 8 5 Das Problem des Verhältnisses zwischen Sakrament und Glaube kreist um die Frage, ob der Glaube dem Empfang der Sakramente vorausgehen soll, oder ob der Glaube dem Sakrament folgt und durch es erweckt wird. Die Frage, ob der Glaube als Voraussetzung oder Folge des Sakramentsempfanges verstanden werden soll, ist zu keiner Alternative geworden. Die reformatorische Auffassung hierüber trägt eher die Zeichen einer dialektischen Haltung 8 6 . Von den Schriften der Reformation her kann man nicht zu einer eindeutigen und entschiedenen Meinung gelangen, die den Glauben nur als eine Voraussetzung oder nur als ein Ergebnis der Sakramente betrachtet. Unter Berufung auf die Bekenntnisschriften der lutherischen Reformation wird man nur eine Lösung vertreten können, die den Glauben als ante und post sacramentum für notwendig hält, denn sie befürworten zugleich einen Glauben als Voraussetzung und Frucht des Sakraments. So sind das Wort und die Sakramente „instrumenta, per quae Deus movet corda ad credendum "87 oder: „Nam per verbum et sacramenta tanquam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit." 8 8 Die Reihenfolge von Sakrament und Glaube kann auch geändert werden, und so muß der Glaube erst ansetzen, damit die Früchte des Sakramentes empfangen werden: „Der Glaube macht die Person allein wirdig, das heilsame göttliche

85 86 87 88

E. Kinder, Zur Sakramentslehre, S. 152. Ebenda, S. 164. Apol. VII,46 (S. 243). CA V, 2 (S. 5 8 ) . 71

Wasser nützlich zu empfahen." 8 9 So auch über das Sakrament des Altars. An die Frage: „Wer empfähet denn solch Sakrament wirdiglich? " antwortet Luther: „Fasten und leiblich sich bereiten, ist wohl eine feine äußerliche Zucht; aber der ist recht wirdig und wohl geschickt, wer den Glauben hat an diese Wort: für Euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden." 9 0 Die reformatorische Auffassung umschließt den Glauben als ante und post sacramentum, und sie wird von der Mehrzahl der Theologen vertreten. Sie kennzeichnet die Darstellung von E. Schlink über die Sakramente der Taufe und des Abendmahls in ihrem Verhältnis zum Glauben. „Im Glauben also ist die Taufe zu empfangen. Dieser Glaube ist zugleich von der Taufe zu erwarten." 9 1 So begleitet der Glaube als Voraussetzung und Folgo auch das Sakrament des Abendmahls: „Der Glaube empfängt nicht nur Christi Leib zum Nutzen, sondern der Nutzen des Leibes und Blutes Christi ist auch der Glaube." 9 2 Das Sakrament weckt und stärkt den Glauben 9 3 . Im Gegensatz zur Lehre von der Wirkung des Sakramentes ex opere operato, die die Reformation im Zusammenhang mit der Werkgerechtigkeit gesehen hat und scharf kritisierte, bildete sich die für sie bezeichnende Überzeugung, daß nicht das Sakrament, sondern der Glaube an das Sakrament rechtfertigt, wie es bei Luther heißt: ,,Νοη sacramentum sed fides sacramenti iustificat." 9 4 Das Sakramentsverständnis wird von der Rechtfertigung stark geprägt, zugleich wird die personale Entscheidung des Glaubensaktes beim Empfang des Sakramentes in den Vordergrund gestellt, denn ohne den Glauben wirkt das Sakrament nicht: ,,At vero nostrae doctrinae caput est: sacramentum non operari gratiam sine fide." 9 5 An dieser Stelle taucht unvermeidlich die Frage auf, ob der dem Sakrament vorausgehende Glaube nicht synergistisch verstanden wird und ob man nicht somit in Widerspruch mit dem reformatorischen Grundsatz der Rechtfertigungslehre „allein aus dem Glauben" gerät. Eng damit verbunden drängt sich noch eine weitere Vermutung auf, daß das Sakrament ein Werk des Glaubens wäre, wenn der Glaube vorausgesetzt werden soll. E. Schlink schreibt dazu: „In keiner Weise tritt der Glaube synergistisch zum Handeln Gottes in der Taufe hinzu, sondern er ist auch hier bloßes Empfangen." Zu der vermeintlichen Abhängigkeit des Sakramentes von dem Glauben fügt er aus Luther hinzu: „Der Glaube machet nicht die Taufe, sondern empfähet die T a u f e . " 9 6 Betrachtet 89

GK Tf. 34 f. (S. 697). Siehe hierzu E. Schlink, Theologie . S. 212 ff. und S. 240 ff. 90 KK Abm. 1—7 (S. 521). 91 Theologie S. 213. 92 Ebenda, S. 243. 93 Fr. Brunstäd, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, S. 137. 94 WA, 1 , 5 4 4 , 40. 95 WA, 44, 799, 29. 96 Theologie . . . , S. 212. 72

man dieses Problem von dem Gedanken her, daß der Glaube und das Sakrament allein Gottes eigenes Werk sind, so werden diese Widersprüche letztlich aus dem gesamten Kontext der Reformationslehre nicht als unlösbar erscheinen, auch wenn dieses Problem, wie H. Fagerberg feststellt, nicht klar umrissen wurde 9 7 . Es wird kaum noch notwendig sein, am Ende dieses Abschnittes auf die Bedeutung der Sakramente für die Reformation hinzuweisen, denn sie sind, wie hier versucht wurde, mit dem Wort die von Gott selbst eingesetzten Gnadenmittel zu seiner Selbstvergegenwärtigung. Niemand wird behaupten können, daß Luther die Sakramente wegen der besonderen Bedeutung des Wortes für weniger heilsbedeutend gehalten hat, sondern er „stellt Wort und Sakrament einfach nebeneinander", wie Fr. Brunstäd dazu sagt 98 ; Gott bedient sich in gleichem Maße des Wortes und des Sakramentes, um sich uns in seiner Heilsgegenwart mitzuteilen, worauf Luther ausdrücklich hinweist, wenn er das „mündlich Wort" als das „eigentliche Ampt des Evangelii" betrachtet 9 9 Im Anschluß daran bemerkt Fr. Brunstäd, daß das Nebeneinander von Wort und Sakrament in dem Reichtum der göttlichen Gnade begründet ist. „Wichtig ist, daß es verschiedene Art göttlichen Handelns ist, in der sich Gott in Wort und Sakrament an uns wendet." 100 Es wäre nicht im Sinne lutherischer Auffassung, aus der zentralen Stellung des Wortes als Mittel der Heilszueignung ein „axiomatisches unausschliessliches Prinzip" 1 0 1 abzuleiten und dabei den Sakramenten eine nur nebensächliche Bedeutung beizumessen. Luther denkt zwar über die Sakramente nur vom Wort Gottes her, hat sie aber, was E. Kinder als bezeichnend für die lutherische Reformation hält, nicht dem Worte subordiniert, sondern koordiniert. In ihrer Funktion als Vergegenwärtigungsmittel des Heilshandelns Christi sind die Sakramente von gleicher Bedeutung wie das Wort. „Die lutherische Auffassung denkt nicht von einem Prinzip, sondern von gegebenen Concreta her. So läßt sie die Predigt des Evangeliums und die Sakramentshandlungen in ihrem je unableitbaren ,Simul' nebeneinander gelten, ohne a priori einen systematischen Ausgleich dazwischen zu versuchen." 102

4. Das Verhältnis zwischen Wort und Sakrament in der neueren evangelischen Theologie Mit dieser lutherischen Grundeinstellung gegenüber dem Wort und Sakrament weiß sich die evangelische Kirche verbunden, und an diese 97 98 99 100 101 102

A.a.O., S. 178. Theologie ., S. 135. SA:C III, 8 und 10 (S. 4 4 9 ) . A.a.O., S. 136. E. Kinder, Zur Sakramentslehre, S. 153. Ebenda, S. 156.

73

Tradition knüpft auch die heutige evangelische Theologie an, wenn sie darauf besteht, daß ihre Kirche nicht nur Kirche des Wortes, sondern auch eine Kirche des Sakramentes ist. Dieser Anspruch läßt sich sowohl im Blick auf die Stellung des Sakramentes innerhalb der lutherischen Reformation als auch im Bezug auf das wachsende Interesse und Bemühen der heutigen evangelischen Theologie aufrechterhalten, indem sie dem sakramentalen Geschehen eine dem Wort gleichkommende Heilsvermittlung zuschreibt und um die Erneuerung des Sakramentsverständnisses und um die Integrierung der Abendmahlsfeier als neben dem Wort entscheidendem und bestimmendem Moment innerhalb des gottesdienstlichen Geschehens bemüht ist. Diese Tendenz wird mit einigen Akzentverschiebungen von den meisten Theologen unserer Zeit vertreten, die in der Kontinuität mit der lutherischen Tradition stehen. In der Frage nach der Bedeutung, die den Sakramenten in der evangelischen Kirche beigemessen wird, zeichnet sich eine Richtung in der evangelischen Theologie ab, die zu einer Aufwertung der Sakramente als Mittel der Heilszueignung tendiert. Das Bemühen um ein tieferes Verständnis des Wortes, das seit jeher ein zentrales Thema dieser Theologie war, schließt die Besinnung auf die Sakramente nicht aus, sondern ein. In der evangelischen Theologie hat sich die Ansicht gebildet, daß das Wesen des Wortes in allen seinen Geschehensweisen nicht wahrgenommen werden kann, wenn nicht zugleich das Sakramentsgeschehen berücksichtigt wird. Ebeling versucht das Wesen des Wortes mit der Hilfe der Sakramente zu erschließen 103 . Für eine gleichwertige Betrachtung der Sakramente mit dem Wort spricht sich W. Eiert grundsätzlich aus. Bestimmend für das Wesen der Kirche und lebenswichtig für ihre Existenz ist die Verkündigung des Evangeliums. Sie ist aber nicht ihr einziges Kennzeichen. Der Auftrag, den die Kirche von ihrem Herrn erhalten und zu erfüllen hat, besteht nicht nur in der Predigt des Evangeliums, sondern auch in Sakramentshandlungen, die ihr in gleichem Maße aufgetragen wurden und „keineswegs bloße Anhängsel der Wortverkündigung gelten können" 1 0 4 Die Aufgabe, die sich daraus ergibt, daß die Sakramente „der Wortverkündigung nicht unter-, sondern nebengeordnet sind", wäre ihre stärkere Berücksichtigung in dogmatischen Abhandlungen, wo sie im Anschluß an die Christologie, Pneumatologie und Ekklesiologie behandelt werden sollten 105 Nach ihm stehen die Sakramente in einem nebengeordneten Verhältnis zum Wort. „Aber gerade dieses Nebeneinander verleiht doch den Sakramenten Selbständigkeit neben der Verkündigung." 1 0 6 Eiert geht es primär nicht um eine Lehre von den Sakramenten, vielmehr geht er von ihrer Einsetzung durch Christus aus und von dem 103 104 105 106

74

Worthafte und sakramentale Existenz, S. 215. Der christliche Glaube, 4. Aufl. Hamburg 1955, S. 3 5 4 . Ebenda, S. 3 5 5 . Ebenda.

Auftrag, den Christus der Kirche auferlegt hat, sie zu vollziehen. Damit lehnt er nicht die Lehre von den Sakramenten ab, um die er auch bemüht ist, sondern gibt dem Vollzug der Sakramente Priorität. „Taufe und Abendmahl sind von der Kirche zu vollziehen, weil es von Christus so bestimmt wurde. Dieser Auftrag wird durch Handeln, nicht durch Lehre erfüllt. Der Vollzug dieser Handlungen ist insofern unabhängig von ihrem theologischen Verständnis, als er nicht daraus begründet werden d a r f . " 1 0 7 Bevor eine Lehre von den Sakramenten entwickelt oder sie geändert wird, sollen sie von der Kirche vollzogen werden. Ihr Vollzug hängt von nichts anderem ab als allein von dem Auftrag des Herrn. Seiner Auffassung von der gleichrangigen Bewertung des Sakramentes mit dem Wort entsprechend, wendet sich Eiert gegen die These von der „reinen Wortkirche", die nicht zuletzt auf eine falsche Interpretation der Augustinischen Definition des Sakramentes als verbum visibile beruht. Eine solche These, die das Sakrament nur als „eine Abart des Wortes oder dessen Bekräftigung" betrachtet, kann sich nicht auf Luther berufen, der ja in seinen Schriften die Sakramente als von Gott eingesetzte Gnadenmittel dargestellt hat 1 0 8 . Auf das Proprium der Sakramente und ihren Bezug auf das Wort konzentrieren sich die Überlegungen P. Althaus über das Wort und das Sakrament. Die Eigentümlichkeit und die Wortbestimmtheit des Sakramentes als „Gestalt des Wortes 109 sind die beiden Pole, zwischen denen sich seine Gedanken bewegen. Das Wort und das Sakrament gehören zum Evangelium, und durch Verkündigung und Vollzug der Sakramente wird es von der Kirche verwaltet. Die Kirche kommt ihrem Auftrag nach, das Evangelium zu verkündigen, nicht nur durch die Predigt, sondern auch, indem sie die Sakramente vollzieht. Damit ordnet Althaus die Sakramente in ihrer Heilswirkung dem Wort zu, „in denen kraft ihrer Stiftung Gottes gegenwärtiges gnädiges Handeln durch Jesus Christus geschieht und vom Glauben empfangen wird" u 0 . Bezeichnend für seine Auffassung ist, daß er der Analyse über die besondere Bedeutung des Sakramentes die Voraussetzung zugrundelegt, die für das evangelische Sakramentsverständnis entscheidend ist, nämlich daß auch die Sakramente Wort sind 111 . Das personale gegenwärtige Handeln Gottes am Menschen geschieht hauptsächlich durch das Wort, das uns in Gestalt der Verkündigung und des Sakramentes anspricht. Das Sakrament steht hier unter dem Hauptbegriff des Wortes. Die Besonderheit des Sakramentes beruht nicht auf einen wesentlichen Unterschied gegenüber dem Wort, sondern sie kommt darin zum Ausdruck, daß das 107 108 109 110 111

Ebenda. Ebenda, S. 356. Die christliche Wahrheit, S. 5 3 8 . Ebenda, S. 537. Ebenda. 75

Sakrament im Vergleich zu dem Wort eine andere Gestalt der Verkündigung darstellt. 1 1 2 Eine besondere Bedeutung des Sakramentes sieht Althaus darin, daß es offenkundig den Aktcharakter des Wortes herausstellt, der im Verkündigungswort oft dadurch verhüllt bleibt, daß es intellektualistisch mißverstanden wird. Das Wort tritt im Sakrament als verbum actúale heraus 113 . Das Sakrament macht das Handeln Gottes offenkundiger und fordert einen Akt der Entscheidung im Vergleich zu dem an alle Menschen gerichteten und nicht immer verbindlich gehörten Wort der Verkündigung. Weiterhin erscheint das Wort im Sakrament nicht nur als verbum actúale, sondern auch als verbum externum 1 1 4 , und so sichert das Sakrament die „Objektivität" des Wortes gegen eine gewisse Gefahr des Subjektivismus, von dem das Zeugnis der Verkündigung nicht immer frei bleibt. Andere wichtige Eigenschaften des Sakramentes bestehen darin, daß es immer den einzelnen anspricht und von dem an ihn gerichteten Gnadenwillen Gottes bewußter gemacht wird als das an die ganze Gemeinde gerichtete Wort. „Es bringt also den personalen Sinn des Evangeliums zur Geltung und ist ein Riegel gegen den religiösen Kollektivism u s . " 1 1 5 Gleichzeitig hat das Sakrament kirchenbildende Kraft, gerade indem es an den einzelnen herantritt und ihn in die Gemeinde einverleibt. Diesmal erweist sich das Sakrament als ein Schutzwall gegen den „kirchenlosen Individualismus" 1 1 6 . Zu diesen Wesensmerkmalen gehört schließlich die Leiblichkeit des Sakramentes, die der Leiblichkeit des Menschen entspricht und sie in der Verheißung und Hoffnung auf das Heil einbezieht. Deswegen ist das Sakrament eine Garantie „gegen den Spiritualismus im Verständnis des Heils" 1 1 7 . Alle diese Eigenschaften des Sakramentes sind auch dem Wort eigen, sprechen hier aber nicht in gleicher Weise die Menschen an. Daraus ist aber nicht zu schließen, daß die Sakramente eine andere Gnade vermitteln würden oder eine andere Gabe hätten, die über das Wort hinaus wirkt. Ihre Besonderheit „liegt nicht im Gehalte, sondern in der Gestalt" 1 1 8 . Weil einerseits das Sakrament auf dem Wort beruht und andererseits es das Wort besser als in der Verkündigung zur Geltung bringt, kann Althaus sagen: „Das Sakrament wird nur vom Worte aus recht verstanden, aber auch das Wort nur von seiner Gestalt als Sakrament aus." 1 1 9 Aber auch wenn die Tendenz, das Sakrament neben das Wort zu stellen, 112 113 114 115 116 117 118 119

76

Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda.

S. 538. S. 539. S. 541. S. 542.

nicht zu übersehen ist, bleibt doch der Eindruck bestehen, daß eine völlige Gleichsetzung des Sakramentes mit dem Wort bei Althaus nicht erfolgt. Behauptet er einerseits, daß in den Sakramenten G o t t selbst sein gnädiges Handeln vergegenwärtigt, j a in ihnen das Wort so wirksam heraustritt, wie es dem Wort der Verkündigung nicht gelingt, oder spricht er von ihrer Heilsnotwendigt, so vertritt er andererseits fast im gleichen Atemzug auch ihre Entbehrlichkeit 1 2 0 . Die Unentbehrlichkeit des Wortes, aber die Entbehrlichkeit des Sakramentes sprechen nicht in gleicher Weise von der Heilsnotwendigkeit zweier Heilsmittel gleichen Ranges. Das Wort kann das Sakrament ersetzen, nicht aber umgekehrt 1 2 1 . Sicher geht Althaus mehr von einem Notfall aus, wenn er davon redet 1 2 2 , kann man aber daraus eine geringere Heilsnotwendigkeit und -Wirkung des Sakramentes ableiten? Der Notfall soll j e d o c h nicht zu einer im allgemeinen weniger bedeutenden Funktion des Sakramentes führen: „Aber das heißt nicht, daß jemand durch das Entbehren der Sakramente des Heils verlustig ginge. Das Evangelium, durch das er selig wird, ist ihm auch auf andere Weise als durch die Sakramente nahe und kann von ihm auch ohne die Sakramente im Glauben ergriffen werden. S o ist das Sakrament als eine besondere Gestalt des Evangeliums nicht in gleicher Weise unentbehrlich für uns wie das Evangelium selbst." 1 2 3 Sicher sind die Sakramente nicht das ganze Evangelium, sie gehören aber unbedingt dazu. Wird es dadurch nicht verkürzt, wenn die Sakramente wegfallen können? Die Einsetzungsworte allein reichen wohl auch nicht aus, wenn man das Blut und den Leib Christi empfangen will, ohne das Sakrament des Abendmahls zu vollziehen, wie es J e s u s Christus selbst getan und befohlen hat. Wird durch die mögliche Entbehrlichkeit des Sakramentes auch nicht auf das Wort verzichtet, das zum Evangelium gehört, nämlich auf die Worte der Sakramente, die Luther für „summa et compendium evangelii" 1 2 4 gehalten hat? Das Denken über das Sakrament ist weitgehend Denken über das Wort. Das Sakrament ist nur eine andere Art. Die Beschäftigung mit dem Sakrament dient zugleich zur Vertiefung des Wortgeschehens. Dieser Grundsatz, der beim Wort beginnt und beim Wort endet, prägt vor allem das Sakramentsverständnis G. Ebelings, das als verbozentrisch bezeichnet werden kann. Im Grunde ist das Sakramentsverständnis nur als Wortgeschehen zu verstehen, das im Sakrament besonders geprägt und expliziert wird, aber nicht über das hinausgeht, was nicht im Wort impliziert eingeschlossen wäre 1 2 s . Dies wird vor allem deutlich ausgedrückt, wenn Ebeling von der Besonderheit der Sakramente gegenüber dem 120 121 122 123 124 125

Ebenda, S. 5 4 5 . Ebenda, S. 5 4 6 . Ebenda, S. 5 4 5 ff. Ebenda. Zitat nach A. Peters, a.a.O., S. 1 6 0 . Erwägungen . . ., S. 2 2 4 .

77

Wort spricht, die eigentlich nicht eine Überbietung des Wortes bedeutet, „sondern (. .) gerade in der Weise seinen Grund haben (muß), wie das Sakramentsgeschehen Wortgeschehen ist" 1 2 6 Selbst in ihrer Besonderheit weisen die Sakramente nicht über etwas Wesentliches hinaus, was das Wort in sich nicht hätte und wodurch die Sakramente wirksameres Heilsmittel als das Wort wären, vielmehr „dient (es) also — dem Wesen des Sakramentes entsprechend — nur der um so deutlicheren und tieferen Erfassung dessen, was es eigentlich um das Evangelium als Wortgeschehen ist" 121 '. Als ein anderes Genus des Wortes erfüllen die Sakramente eine Funktion, die dazu beiträgt, daß das Wortgeschehen tiefer erfaßbar wird. Die Besonderheit der Sakramente würde sich darauf reduzieren, „wie" das Wortgeschehen im Sakramentsgeschehen sich selber stärker herausstellt. Das wäre also eine Sache des Ausdrucksvermögens des Sakramentes, das nichts über einen wesentlichen Unterschied in der Wirksamkeit der Heilszueignung besagt, der einen Vorrang des Sakramentes vor dem Wort begründen würde. Wenn die Sakramente nicht ein Mehr an Wirksamkeit als das Wort darstellen, so soll man ihr Spezifikum nicht übersehen, das ihre Notwendigkeit und Funktion als Heilsmittel rechtfertigt. Die Besonderheit des Sakramentes besteht nach Ebeling darin, daß es „nach verschiedenen Seiten hin in einzigartiger Weise unterstreicht, was zum Wesen des Evangeliums als Wortgeschehen gehört " 1 2 8 . Das Sakramentsverständnis Ebelings trägt in sich die klare Tendenz, die Sakramente in ihrem Dienst am Wort darzustellen, als die Mittel, die in explizierter und nuancierter Weise das Wort intensiver und umfassender in seinem Wirkungsgeschehen zur Geltung zu bringen, „wie das durch das mündige Wort im allgemeinen nicht geschehen k a n n " 129. Hier knüpft er an die von Augustinus geprägten Begriffe von „signum" und „verbum visibile" an, die das Wortgeschehen im Sakramentsgeschehen „zeichenhaft zu verdeutlichen, zu unterstreichen, sinnenfällig zu machen" 1 3 0 versuchen, indem er diese Ausdrücke zugleich einer hermeneutisch-kritischen Überprüfung unterstellt. Auch wenn die Sakramente in ihrer Besonderheit nicht „im Ausbrechen aus dem bloßen Wortgeschehen bestehen" 1 3 1 , so bietet dies auch keinen Grund, auf sie zu verzichten, sie als Heilsmittel zu vernachlässigen oder sie aus ihrer Zusammengehörigkeit und Einheit mit dem Wort zu trennen. Zu dem von Jesus Christus erworbenen Heil, das von der Kirche ausgeteilt wird, gehört die „Zweiheit von Wort und Sakrament ebenso aber auch ihre Einheit als nicht getrennt nebeneinander stehender, son126 127 128 129 130 131 78

Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda. Ebenda, Ebenda,

S. 217. S. 218.

S. 219. S. 217.

dem auf dasselbe Zeil gerichteter, aufeinander bezogener und ineinandergreifender Gnadenmittel" 1 3 2 . Ebeling ist in seiner Darstellung bemüht, die Sakramente nach zwei Seiten hin abzugrenzen, sowohl gegen eine Abwertung als auch gegen eine Überbewertung der Sakramente in ihrem Verhältnis zu dem Wort. Die Vorzüge der Sakramente, die er herausstellt, beziehen sich darauf, daß die Sakramente „die Grundsituation, aus der das Evangelium entsprungen ist, mit geradezu penetranter Nachdrücklichkeit betonen" 1 3 3 , oder daß sie auf die Grundsituation des Menschen bezogen sind und nachdrücklich herausstellen, „daß das Evangelium in unserem leiblichen, geschichtlichen Dasein eschatologisch angehendes Wort ist, d.h. unsere Weltsituation zur eschatologischen macht, als eschatologisch offenbart" 1 3 4 . Als den Sakramenten eigen fügt Ebeling noch ihre ekklesiologische Dimension, ihre „gemeinschaftbildende Kraft hinzu" 1 3 5 . Aber auch wenn Ebeling über Vorzüge der Sakramente spricht und ihnen einen gewissen Vorrang, „eine nichtabsolute, aber faktische Unersetzlichkeit" 1 3 6 zuerkennt, läßt er doch keinen Zweifel daran, daß sie nicht mehr als das Wort als Heilsmittel gelten. „So wenig sie gering zu achten sind, kommt ihnen doch neben dem Wort nicht in strengstem Sinne Heilsnotwendigkeit hinzu." 137 Man kann kaum vermeiden, bei Ebeling wie auch bei Althaus von einer Verbalisierung des Sakramentes zu sprechen, und dies trotz ihres Bemühens, die Vorzüge des Sakramentes herauszuarbeiten. Sie fassen das Sakrament als das „verbum visible" auf, berücksichtigen aber das Sakrament nicht als ein einheitliches Ganzes und als ein eigentliches Mittel der Heilszueignung und glauben, der Besonderheit des Sakramentes durch die Herausstellung seiner Andersartigkeit als dem Wort unterschiedliche „Gestalt" der Verkündigung gerecht zu werden. Im Sakrament sehen sie nur das Wort. Die Vorzüge des Sakramentes, um die Althaus und Ebeling bemüht sind, tragen nur dazu bei, die Eigenschaften des Wortes in Gestalt des Sakramentes darzustellen. Das Sakrament ist nur eine Art des Wortes. Das Sakrament wird auf das Wort reduziert. Das Sakrament erscheint als Hilfsmittel, durch das die vielfältige Wirkung des Wortes als Hauptmittel der Heilszueignung deutlicher als in Gestalt des mündlichen Wortes hervortritt. Die Vorzüge des Sakramentes sind immer die Vorzüge des Wortes, obwohl sie als die dem Sakrament eigene dargestellt werden. Es entsteht unvermeidlich der Eindruck der Abhängigkeit des Sakramentes von dem Wort. Geht man von dieser Auffassung vom Sakrament als einer anderen Art des Wortgeschehens aus, so ist es nur verständlich, wenn Althaus von der Entbehrlichkeit des Sakramentes spricht, oder wenn es möglich ist, nur Wortgottesdienst zu feiern, ohne anschließend den Sakramentgottesdienst zu vollziehen. Es handelt sich bei Althaus und 132 Worthafte S. 2 0 1 . 134 Ebenda, S. 226. 136 Ebenda, S. 2 1 8 .

133 Erwägungen ., S. 2 2 5 . 135 Ebenda. 137 Worthafte . ., S. 2 1 2 . 79

Ebeling um eine Trennung vom Wort und Element im Sakrament und um eine Geringschätzung des mit dem Wort durchtränkten sakramentalen Element, die dem Verständnis des Sakramentes wohl nicht angemessen ist. Wenn die Lehre von den Sakramenten beim Wort ansetzen muß und von ihm auszugehen hat, so soll sie im ständigen Bezug auf das Wort entwickelt werden und wiederum zum Wort führen. Sie soll letzten Endes dazu beitragen, das Wesen des Wortes schärfer in den Blick zu bekommen, „sein(en) Ereignischarakter, seine Externität, sein(en) Gemeinschaftsbezug, sein(en) Entscheidungscharakter, sein Abzielen auf den ganzen Menschen, seine eschatologische Relevanz" 1 3 8 Eine restlose Zuordnung und Gleichsetzung des Sakramentes mit dem Wort vertritt E. Kinder. Außer Diskussion steht für ihn die Existenz und die Heilsnotwendigkeit der Sakramente. Ein sakramentsloses Christentum gehört nur in den Bereich wirklichkeitsfremder Abstraktionen und wäre nichts anderes als ein hypothetisches rein apriorisch gedachtes Christentum. Die Sakramente gehören vielmehr zu den „Urelementen" des Christentums und sind „unableitbare Grundgegebenheiten der geschichtlichen Weiterwirkung des Heilshandeln Gottes in Jesus Christus, gleich ursprünglich wie all das andere, was die neutestamentliche Urverkündigung davon bezeugt" 1 3 9 . Er geht auch in seinem Nachdenken über die Sakramente von der reformatorischen Grundeinstellung aus, die beim Wort Gottes ansetzt. Die Sakramente werden bei Kinder nicht von dem Wort der Verkündigung abhängig gemacht, dem sie „grundsätzlich koordiniert sind", sondern von dem „einen schöpferischen wirkenden Wort Gottes in seiner ganzen ,Gefülltheit', das hinter beiden steht und durch beide ergeht" 140 . Hier gründet seine Auffassung über das Wort und Sakrament als zweier gleichnotwendiger Heilsmittel, die aufgrund der Tatsache, daß in beiden das Wort Gottes wirkt und gegenwärtig ist, nicht in einem über- oder untergeordnetem Verhältnis gedacht werden können. Man braucht nicht das Sakrament abzuschwächen, um die Wirkung des Wortes stärker in den Vordergrund zu stellen. Das eine Evangelium wird durch das Wort der Verkündigung und durch die Sakramente mitgeteilt. Eine Rivalität oder eine Priorität des einen oder des anderen verkennt den Gnadenwillen Gottes, sich uns durch beide mitzuteilen. Als „eigenmächtige Abstraktion" betrachtet er die Tendenz, nur eine der beiden Wirkungsgestalten des Evangeliums gelten zu lassen und prinzipiell einander überzuordnen, entweder die Predigt, eine Neigung, die er als protestantische Gefahr bezeichnet, oder einseitig nur die Sakramente, was er als die katholische Gefahr ansieht. „Bleibt man der Urbevollmächtigung gehorsam, statt ihr so oder so ein eigenes Prinzip zu substituieren, 138 Ebenda, S. 216. 140 Ebenda, S. 157.

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139 Zur Sakramentslehre, S. 143.

so wird man beiderlei Gestalten im Zusammenwirken miteinander und in wechselseitiger Bezogenheit aufeinander gelten lassen." 1 4 1 Auch um eine aufwertende Bedeutung des Sakramentes bemüht, gelangt P. Brunner zu ähnlichen Schlußfolgerungen, die darin bestehen, daß die Sakramente gleich notwendig und heilswirksam wie das Wort sind, und daß er das Wortgeschehen mit dem Sakramentsgeschehen im engen Zusammenhang und als eine Einheit betrachtet. Mit den besonderen Merkmalen des Sakramentes, durch das das Wort in seiner vielseitigen Bedeutung und Wirkung bestätigt und deutlicher erfaßbar gemacht wird, Erläuterungen, die er für richtig hält und bejaht, ist jedoch nicht der Kern des Problems hinreichend getroffen, um das es eigentlich geht, nämlich um das Wesen der sakramentalen Handlungen und um ihre Heilswirksamkeit im Verhältnis zu dem Wort. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheinen die Sakramente dem mündlichen Wort nur als angehängt, damit das verkündigte Wort richtig verstanden wird 142. Dieses Verhältnis glaubt Brunner an Hand der Abendmahlsanamnese zu umschreiben. Das Wort der Verkündigung wird hier in einem unmittelbaren Bezug zu dem anamnetischen Worte gesehen. Die eucharistische Anamnese schließt auch die Christus-Anamnese des Verkündigungswortes ein. Der ganze Gottesdienst hat durch die Verkündigung und die Abendmahlsfeier anamnetischen Charakter. Er steht von Anfang bis zum Ende unter dem Gebot: Gedenket meiner. Die Christus-Anamnese im Abendmahl hat nach Brunner „ihren besonderen, streng exklusiven Charakter", doch bildet sie eine Einheit mit der Anamnese des verkündigten Wortes. Der Gottesdienst stellt eine einheitliche Bewegung dar, die von dem Wort der Predigt zum Abendmahl hinzielt. ,,Es handelt sich also bei der Hauptgestalt des Gottesdienstes um einen Schritt, um eine Bewegung von der reinen Wortanamnese zur Anamnese des Mahls. Diejenigen, die diesen Schritt noch nicht vollziehen können, sollen in dem Bewußtsein erhalten werden, daß ihnen in ihrem Gottesdienst noch etwas Entscheidendes fehlt Diejenigen aber, die den Schritt von der reinen Wortanamnese zur Anamnese des Mahls tun, wissen darum, da sie von vornherein in einer einheitlichen anamnetischen Bewegung begriffen sind, die erst beim Mahl im Essen und Trinken zum Abschluß kommt Die Einheitlichkeit von Wort- und Sakramentsgottesdienst liegt in der Dynamik der einen Christus-Anamnese, die im apostolischen Wort und im Mahl des Herrn, in dem Schritt von dem einen zum anderen geschieht." 1 4 3 War bei P. Althaus davon die Rede, daß die Sakramente fehlen können, ohne daß man des Heils verlustig geht, so vertritt P. Brunner die Meinung, daß diejenigen, die nur das Wort der Predigt gehört haben, ohne den Schritt zum Sakrament zu vollziehen, wissen sollen, daß ihnen 141 Ebenda, S. 158. 142 Zur Lehre v o m Gottesdienst, S. 333. 143 Ebenda, S. 334.

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„etwas Entscheidendes fehlt". Die Bewegung vom Wort zum Sakrament deutet auf eine Steigerung hin. Hier ist das Sakrament mehr als nur eine andere Gestalt des Wortes.

B) Sakrament und Wort in der orthodoxen

Theologie

Fragt man nach der Stellung, die das Wort und das Sakrament in der orthodoxen Theologie einnehmen, so kann die Antwort nur heißen, daß das Sakrament im Verhältnis zum Wort in den Vordergrund tritt. Die etwas vernachlässigte Bedeutung des Wortes drückt sich darin aus, daß sich in keinem orthodoxen Lehrbuch der Dogmatik, soweit es uns bekannt ist, ein Abschnitt über das Wort findet. Hr. Androutsos bemerkt, daß in den orthodoxen „symbolischen" Büchern des 17. Jahrhunderts keine Angaben über das Wort als Mittel der göttlichen Gnade gemacht werden 1 . Eine Theologie des Wortes hat sich in der Ostkirche nicht entwickelt. Es sollte jedoch nicht verstanden werden, daß hier dem Wort keine Bedeutung beigemessen wird, im Gegenteil, nur daß diesem in der traditionellen orthodoxen Theologie nicht dieselbe Stellung wie in der evangelischen Theologie eingeräumt wird und daß dem Wort als Heilsmittel nicht die gleiche Bedeutung wie dem Sakrament zukommt. Es wäre sicherlich unzutreffend, aus der ungleichmäßigen Stellung des Wortes gegenüber dem Sakrament in der orthodoxen Theologie zu schließen, daß die Funktion des Wortes Gottes für die orthodoxe Kirche von nebensächlicher Bedeutung sei. Hier muß mit allem Nachdruck gesagt werden, daß der Glaube der Kirche an das Wort Gottes und die Weise, wie es von der Kirche aufgenommen und erlebt wird, nicht in entsprechendem Gleichgewicht mit dessen theologischer Bewertung steht. Hier hat die theologische Arbeit nachzuholen; sie steht hier hinter der Glaubenswirklichkeit der Kirche zurück. Denn zum Gehalt des orthodoxen Glaubens gehört auch, daß das Wort Gottes Mittel der Heilserlangung ist. Dies widerspiegelt sich nicht gerade in gebührendem Maße in den theologischen Arbeiten.

1. Das Sakramentsverständnis

in der orthodoxen

Theologie

Das Sakrament ist für die orthodoxe Theologie das Hauptmittel der Heilszueignung. Schon bei einer äußeren Analyse der theologischen Arbeiten über das Sakrament oder über die Sakramente im einzelnen, die in keinem Vergleich zu denen über das Wort stehen, kann man leicht den Eindruck einer untergeordneten Stellung des Wortes gewinnen. Dies 1

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Συμβολική, 'εξ 'εποψεως 'Ορθοδόξου. "ev'\Qr\vaí 1930. Da die Originalschrift nicht erhältlich war, wird nach der rumänischen Übersetzung zitiert: J. Moisescu, Simbolica, Craiova 1955, S. 236.

drückt P.N. Trembelas eindeutig aus. Die Vergegenwärtigung und die Übereignung der Heilsoffenbarung Gottes geschieht nach ihm im vollen Sinne nur durch die Sakramente. Das Wort wird von ihm nicht dem Sakrament gleichgesetzt: „Ohne die Kraft des Gebetes und der Predigt des Wortes Gottes zu mißachten, zählen wir sie jedoch nicht zu den spezifischen Mitteln, durch die die Gnade erteilt wird; diese sind allein die göttlich angeordneten Sakramente." 2 Dem Wort kommt eine mehr einführende und für den Empfang der Sakramente vorbereitende Funktion zu. Die Gnade, die das Wort vermittelt, ist nicht gleich mit der der Sakramente; das Wort leitet die Gläubigen zu den Sakramenten, es ist die vorbereitende Vorstufe zu den heilsspendenden Sakramenten. Das Hören des Wortes Gottes wie das Gebet „tragen vor allem zu der Wirkung der vorbereitenden Gnade und zu dem nachträglichen Wachstum des Lebens in Christus bei. Die Gewährung dieses Lebens und die Gründung der neuen Schöpfung in Christus ist das Werk der Sakramente". 3 Diese Auffassung von dem Wort Gottes ist mehr rational bestimmt. Das Wort ergeht mehr zur Belehrung, erfüllt mehr eine Aufklärungsfunktion und vermittelt den Gläubigen das nötige Wissen um das Heilsgeschehen, dessen Gnade sie dann durch die Sakramente empfangen. Bleibt man nur beim Hören des Wortes stehen, so bleibt deshalb auch die Gnadenvermittlung unvollständig 4 Wenn Trembelas die Funktion des Wortes auch mehr als Didache und Vorbereitung für das Sakrament versteht, womit man der Wirkung des Wortes Gottes sicher nicht voll gerecht wird, so sollte jedoch die Zusammengehörigkeit zwischen Wort und Sakrament nicht übersehen werden, die er an biblischen Beispielen herausstellt, nämlich daß dem Hören des Wortes der Empfang des Sakramentes folgen muß 5 Die Verbindung zwischen Wort und Sakrament und die Forderung, daß man sich nicht nur mit dem Hören des Wortes begnügen muß, sollte wiederum nicht auf die Unzulänglichkeit des Wortes, das Heil zu vermitteln, zurückgeführt werden, wie das für ihn der einzige Grund zu sein scheint, die Sakramente als die einzigen Mittel zu empfehlen, durch die man an dem Erlösungswerk Christi teilnehmen kann: „Weil man durch sie allein in den Leib Christi einverleibt und der Erlösung teilhaftig werden k a n n " . 6 Während die Sakramente hauptsächlich als die eigentlichen Mittel der Heilsübereignung dargestellt sind 7 , betrachtet Trembelas das Wort als sekundäres, nebensächliches Gnadenmittel, das dem Sakrament nur auf allgemeine Weise 8 zugeordnet werden kann. Obwohl der Heilige Geist 2 3 4 5 6 7 8

Dogmatique de l'Eglise Orthodoxe Catholique, Bd. 3, Chevetogne 1966, S. 9. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 12 f. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 11, 14.

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nach Trembelas auch durch das Wort handelt und die Menschen zum Glauben ruft 9 , betrachtet jedoch das Wort nicht als dem Sakrament gleichwertiges Mittel, das, wenn auch auf eine andere Weise, zum Empfang der Heilsgnade dient. Eine ähnliche Auffassung von der Heilsbedeutung des Wortes im Vergleich mit den Sakramenten vertritt ein anderer griechischer Theologe, Androutsos. Im allgemeinen betrachtet er das Wort neben dem Sakrament als Mittel der göttlichen Gnade 1 0 . Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Wort mit dem Sakrament gleichgesetzt wird. Die Wirkung des Wortes ist nicht nur nicht identisch mit der des Sakramentes, insofern es anderer Natur ist, sondern bleibt unter dem heilswirkenden Vermögen der Sakramente: „Das Wort Gottes, sei es in der Bekehrung und in der Erneuerung, sei es später im Stadium der Heiligung, kann nicht im gleichen Sinn wie die Sakramente als Träger der Gnade betrachtet werden seine Wirkung ist nicht dieselbe wie die der Sakramente, die notwendigerweise Gnadenmittel sind." 1 1 Auch wenn Androutsos das Wort als Grundlage des Sakramentes betrachtet und es als unentbehrlich für das Sakramentsverständnis gelten läßt, bleibt das Sakrament doch in eminenter Weise Heilsmittel. Das Wort ist nicht in gleicher Weise Gnadenmittel. ,,Es ist die Grundlage, auf die sich die Ökonomie und der Gebrauch der Sakramente stützen, aber es ist nicht wie die Sakramente an die Gnade gebunden." 1 2 Das Heil wird durch das Wort anders als durch das Sakrament vermittelt. Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden, wenn dies nur gemäß der Andersartigkeit des Wortes und des Sakramentes die Heilsvermittlung auf verschiedene Weise geschehen würde und mit einer anderen Intensität. Sicher bezieht sich Androutsos auch auf diesen Charakterunterschied, der mit der eigenen Natur des Wortes und des Sakramentes zusammenhängt, doch dadurch, daß diese Unterscheidung auch auf die Besonderheit des Sakramentes als Gnadenmittel hinweist, vollzieht er eine Rangordnung im Sinne einer Unterordnung des Wortes gegenüber dem Sakrament. Problematisch wird es, wenn man diese Unterscheidung selbst innerhalb des Sakramentes vollzieht. Einerseits erkennt Androutsos an, daß das Sakrament sich auf das Wort stützt und es als Wesenselement zu dem Sakramentsverständnis hinzugehört, zugleich sagt er aber, daß das Wort nicht wie das Sakrament an das Heil gebunden ist. Die Unterscheidung und die Hervorhebung des Sakramentes von dem dazu gehörenden und mitkonstitutiven Wort stellt dann die Frage, worin die spezifische sakramentale Gnadenvermittlung bestünde, wenn das Wort nicht untrennbar miteinbezogen wird. Ohne das Wort gibt es auch kein Sakrament.

9 Ebenda, S. 12 f. 10 A.a.O., S. 235. 11 Ebenda, S. 236. 12 Ebenda.

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Denselben Unterschied zwischen Wort und Sakrament hinsichtlich ihrer Wirksamkeit macht auch D. Staniloae. Auch nach ihm sind allein die Sakramente recht eigentlich Heilsmittel, während die Wirkung des Wortes der des Sakramentes nicht gleichkommt: „So ist das Sakrament mehr als das Wort; das Wort kann nicht auf dieselbe Stufe mit dem Sakrament gestellt werden. Deshalb betrachtet die orthodoxe Kirche das Wort als Vehikel der Gnade nicht gleich dem Sakrament." 1 3 Es ist bemerkenswert, daß edle Überlegungen über das Verhältnis zwischen Wort und Sakrament von dem Wort der Verkündigung als zweite Form der Heilsvermittlung ausgehen und sich weniger auf das Wort innerhalb des Sakramentes und auf das Wort der Schrift beziehen. Hierzu sollte noch erwähnt werden, daß die Meinung von der Zweitrangigkeit des Wortes als Heilsmittel und vor allem darüber, daß das Wort nur eine vorbereitende Vorstufe zum eigentlichen Empfang der Heilsgnade durch die Sakramente darstellt, scheinbar auf ein bestimmtes Wortverständnis zurückzuführen ist, das zwar der allgemeinen Auffassung vom Wort entspricht, den Sinn des Wortes Gottes jedoch nicht genau trifft. Hinter der Auffassung, daß das Wort nur eine einführende und vorbereitende Funktion für den Empfang der Gnade durch das Sakrament erfüllt, verbirgt sich ein intellektualistisches Wortverständnis, nach dem die Hauptfunktion des Wortes in seiner noetischen Komponente besteht. Das Wort wird vorwiegend als Träger eines Sinngehaltes und als Instrument der Übermittlung eines geistigen Gehaltes gesehen. Wird das Wort vorwiegend als Erkenntnismittel und Informationsträger verstanden, so wird dadurch das Wesen des Wortes Gottes nicht erschöpft. Durch das Wort geschieht etwas; es hat Geschehenscharakter. Das Wort ist Mittel, durch das Gott am Menschen handelt. „Herr, sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund" (Matth. 8,8). „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig. " (Hebr. 4,12). Die Wirksamkeit des Wortes geht auf die Kraft Gottes zurück, die seinem Wort innewohnt (1 Tness. 2,13; Lk. 1,37). Die Wirkung des Wortes beschränkt sich nicht nur darauf, daß durch dieses etwas über Gott und sein Heilswerk mitgeteilt wird, sondern mit ihm wird auch die Kraft Gottes, die Heilsgnade, übermittelt, „. nehmet das Wort an mit Sanftmut, das in euch gepflanzt ist, welches kann eure Seelen selig machen" (Jak. 1,21). Wenn in der orthodoxen Theologie Bezug darauf genommen wird, daß das Wort nicht wie das Sakrament an die Heilsgnade gebunden ist, so wird damit nur ein Unterschied zwischen der Heilswirksamkeit des Wortes und des Sakramentes gemacht, der jedoch nicht als eine Absage an das Wort als Heilsmittel zu verstehen ist. Neben dem Sakrament ist auch das Wort Heilsmittel, nur nicht im gleichen Maße wie dieses.

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Das Wesen der Sakramente in den drei Konfessionen, in: Ortodoxia Nr. 1, 1956, S. 21 (rum.).

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Auch das orthodoxe Sakramentsverständnis schließt das Wort als ein entscheidendes Moment ein. Das Wort und die sakramentalen Elemente und Handlungen gehören zu dem äußeren Teil des Sakramentes. Den scholastischen Kategorien von Form und Materie, die auch von der orthodoxen Dogmatik übernommen wurden, ziehen einige orthodoxe Theologen in der Analyse des Sakramentes die Einteilung in den äußeren und den inneren Aspekt vor 1 4 Was unter den Begriffen Materie und Form verstanden wurde, fällt jetzt unter den äußeren Teil des Sakramentes. Mit dem inneren Aspekt ist die göttliche Gnade gemeint, die durch das Sichtbare des Sakramentes von Gott mitgeteilt wird. Das Wort und die Elemente machen den äußeren Teil des Sakramentes aus und sind für das Sakrament unentbehrlich. Das Wort ist ein bestimmendes und entscheidendes Moment des Sakramentes. Auf das Wort als Bestandteil des Sakramentes wird in jeder orthodoxen Dogmatik hingewiesen. Was das Verhältnis des Wortes zu dem Sakrament betrifft oder die Frage, welche Funktion dem Wort innerhalb des Sakramentes zukommt, so könnte diesem Problem in der orthodoxen Theologie mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Funktion des Wortes sollte theologisch in dem Maße zu Buche schlagen, in dem es von der Kirche in ihr liturgisch-sakramentales Leben einbezogen wird. Auch für die orthodoxe Theologie gehört das Wort in das Sakrament hinein. Sie übernimmt die Gedanken Augustins, nach denen das Sakrament aus der Zusammengehörigkeit des Wortes mit dem Element besteht: „Tolle aquam non est baptismus. Tolle verbum, non est baptismus" 1 S , oder die klassische Formel: „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum." 1 6 Gerade was mit diesem Verbum hier gemeint ist, sollte noch mehr berücksichtigt werden. Wenn in der orthodoxen Theologie der Akzent nicht auf das Wort gelegt wird, aber auch nicht auf das Element, so ist die Erklärung hierfür darin zu sehen, daß im Mittelpunkt des Sakramentes keines von seinen Konstitutivelementen steht, sondern das Sakrament als solches und ganzes als Heilsmittel gilt, in dem das Wort und das Element so vereint sind, daß es mit dem Wesen des Sakramentes nicht vereinbar wäre, wenn seine Wirkung dem einem oder dem anderen zugesprochen würde. Als zweites Heilsmittel neben dem Wort ist das Sakrament nicht einfach eine zweite Bezeichnung für das Wort. Die göttliche Gnade wird im Sakrament nicht durch das Wort erteilt, als würde es mit dem Element nicht eine unlösliche Einheit bilden oder als ob die Gnade durch das Wort nur angekündigt und versprochen und nicht durch das Sakra14 15 16

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Trembelas, a.a.O., Bd. 3, S. 18 f., 29; Die dogmatische und symbolische Theologie, Bd. 2, S. 829 f.; Androutsos, a.a.O., S. 241 f. In J o h . Evang. XV,4, MPL, 35, 1512. In J o h . Evang. L X X X , 3 , MPL, 35, 1840.

ment übermittelt würde. Nach der orthodoxen Lehre sind die Sakramente nicht nur Symbole für die göttliche Gnade, sondern durch sie wird realiter die Gnade erteilt, die durch sie versprochen wird. Das sakramentale Element, das Wasser bei der Taufe, das Brot und der Wein im Abendmahl etc. besitzen aus sich als Naturelemente keine sakramentale Kraft. Aus ihrem natürlichen Zustand werden sie erst durch die Konsekration zu sakramentalen Elementen, zum Träger der heilswirkenden göttlichen Gnade erhoben. Ohne die Konsekration bleiben die natürlichen Elemente, was sie sind, und können keine übernatürliche Funktion erfüllen. Mit den Worten von Augustinus: „Detrahe verbum, et quid est aqua nisi aqua?" 1 7 Das Taufwasser befreit die Menschen von der Sünde nicht kraft seiner natürlichen Funktion, sondern weil in ihm die Worte und die göttliche Kraft des Herrn wirken. Nur weil durch die Konsekration das materielle Element in den pneumatischen Wirkungsbereich hineingenommen wird und dadurch Träger göttlicher Kraft wird, hat es eine sakramentale Funktion. Ohne die Anamnese und die Epiklese könnten Wein und Brot nicht in wahren Leib und in wahres Blut Christi umgewandelt werden. Das Sakrament besteht in der Einheit des natürlichen Elementes mit der göttlichen Kraft, die durch die Epiklese das sakramentale Element durchdringt und dadurch in den Menschen wirkt. Diese sakramentale Einheit konstituiert sich der orthodoxen Theologie entsprechend aus dem Element und der göttlichen Heilskraft, um die durch Verbum und konsekratorische Formel gebetet wird. Entscheidend dabei ist die göttliche gnadenspendende Wirkung, die die Elemente dafür bestimmt, worum in der Konsekration gebetet wird: Reinigung von den Sünden durch das Taufwasser, Brot und Wein werden Leib und Blut Christi in der eucharistischen Umwandlung. Nach der Konsekration sind die natürlichen Elemente erfüllt mit der heilswirkenden Kraft Gottes oder sind selbst Blut und Leib Christi, wie es im Sakrament des Abendmahls geschieht.

2. Die Zusammengehörigkeit der eucharistischen Anamnese und Epiklese Obwohl in der orthodoxen Kirche die Lehre von den Sakramenten nicht in dogmatischen Definitionen festgelegt wurde, vertritt die östliche Theologie die Auffassung, daß die Konsekration und die Umwandlung der eucharistischen Gaben während des Epiklesegebets geschieht. Dies sollte jedoch nicht getrennt von dem verba testamenti, den Einsetzungsworten, gesehen werden. Die Anamnese, die durch die Einsetzungsworte vollzogen wird, und die Epiklese stehen nicht als zwei in sich abgeschlossene Momente einander gegenüber. Die Wandlung der 17 Ebenda. 87

eucharistischen Elemente ist nicht isoliert von den Worten des Herrn zu betrachten. Hier wäre an die Haltung und die Praxis der alten Kirche zu erinnern, bei der man feststellt, daß sie den Zeitpunkt der Umwandlung nicht punktuell fixiert hat. Das entspricht auch der Bemerkung von Trembelas über den allgemeinen Charakter der Epiklese in der Didache der Apostel 1 8 . Ähnlich äußert sich auch P. Evdokimov 1 9 . Die Anamnese und die Epiklese gehören zu dem großen Danksagungsgebet. Die ganze βύχαριστία hatte epikletischen Charakter 2 0 . J . Betz, der dieses Thema in der früheren Kirche untersucht hat, stellt dazu fest, daß mit der Epiklese nicht nur ein einzelnes Gebet der Anaphora gemeint war, sondern daß das ganze Eucharistiegebet, zu dem auch der Einsetzungsbericht gehörte, als solche galt. „Die Epiklese heißt das gesamte Danksagungsgebet, sofern es konsekratorische Kraft besitzt. Damit bestätigen wir von neuem eine Erkenntnis der früheren Forschung, daß man im ganzen christlichen Altertum nicht den Einsetzungsbericht allein, sondern den Einsetzungsbericht mitsamt den ihn umgebenden Gebeten als Konsekrationsform angesehen h a t . " 2 1 In diesem übergreifenden und einheitlichen Aktgefüge, das ursprünglich im ganzen Epiklesecharakter hatte, in dem die eucharistische Umwandlung nicht auf einen bestimmten Moment innerhalb des großen Danksagungsgebets fixiert wurde, konzentrierte und lokalisierte man im Laufe der Zeit im Westen und im Osten das Konsekrationsmoment in dem Einsetzungsbericht bzw. in dem einen Konsekrationsgebet. In der umfassenden eucharistischen Epiklese, die bis zum Vaterunser reichte, traten die Einsetzungsworte und die Epiklese als wichtige Momente hervor 2 2 . Diese Tatsache findet ihren Niederschlag auch in den Schriften mancher Kirchenväter, die sowohl den Einsetzungsworten als auch dem Epiklesegebet eine konsekratorische und umwandelnde Funktion zuerkennen. Fr. Heiler stützt sich auf eine Reihe von Kirchenvätern, die auch im folgenden herangezogen werden, nach denen die Umwandlung entweder während der Einsetzungsworte oder des Epiklesegebets und nach einigen während der beiden geschieht, und schließt daraus, daß für die alte Kirche die Umwandlung der eucharistischen Gaben die beiden Momente einschließt 2 3 . Irenäus erklärt, daß das Mysterium der Eucharistie darin besteht, daß Brot und Wein das Wort Gottes aufnehmen und dadurch Leib und Blut Christi werden 2 4 . Im Anschluß an 1. Tim. 4 , 5 geschieht die Konsekra18 19 20 21 22 23 24

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A.a.O., S. 1 7 2 . L'Esprit S a i n t . S. 1 0 1 . Siehe hierzu F. Heiler, Urkirche und Ostkirche, München 1 9 3 7 , S. 2 5 6 . Die Eucharistie in der Zeit der griechischen Väter, Bd. 1 / 1 , Freiburg 1 9 5 5 , S. 331. F. Heiler, a.a.O., S. 2 5 6 . Ebenda, S. 2 5 6 ff. Adv. hear. V , 2 , 3 : Όποτε ουν και το κεκραμένον ποτήριον, και ο yeyouùç άρτος

επιδέχεται

τόνλ&γον τον θεον, και -γίνεται ή εύχαριστία

σώμα

χριστού.

tion der eucharistischen Elemente nach Orígenes sowohl durch das Wort Gottes als auch durch das Gebet (αΎίαξόμβνον διά λόγου θεού και èvrevljeojç)25. An einem anderen Ort erwähnt er allein das Gebet, und so spricht er von den dargereichten Broten, die durch das Gebet heiliger Leib werden ( σ ώ μ α γείΌμε^ους διά την εϋχην äyiov π ) 2 6 . Basilius beruft sich auf die Epiklese, um auf die nichtgeschriebene Tradition hinzuweisen. Auch wenn er von der großen Kraft der Worte der Epiklese spricht, gehören doch die Worte der Schrift zu der im weiten Sinne gefaßten Epiklese. So redet er von den dem biblischen Bericht vorausgehenden und nachfolgenden G e b e t e n 2 7 . Während Kyrii von J e r u s a l e m 2 8 die Konsekration auf das Gebet der Epiklese fixiert, weil der Wein und das Brot erst nach der Anrufung des Heiligen Geistes Blut und Leib Christi werden, werden von J o h a n n e s Chrysostomos die Einsetzungsworte und die Epiklese hervorgehoben. Die Einsetzungsworte des Herrn bewirken, daß Brot und Wein in seinen Leib und sein Blut umgewandelt werden. Die Worte, die der Priester im Namen J e s u spricht: „Dies ist mein L e i b " , bekommen die Kraft und die Gnade von G o t t . Durch diese Kraft, die das Wort Gottes besitzt, werden die eucharistischen Elemente verwandelt 2 9 Um zu erläutern, was im Abendmahl durch die Worte des Herrn geschieht, zieht er eine Parallele zu Genesis 1 , 2 8 : „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die E r d e . " Wie diese Worte nur einmal gesprochen wurden, ihre Wirkungskraft sich aber darin erweist, daß sich die Menschheit weiterhin vermehrt, so sind auch die einmal von J e s u s Christus gesprochenen Worte in der Eucharistie bis zu seiner Wiederkunft wirksam 3 0 . An einer anderen Stelle führt Chrysostomos die Herabkunft des Heiligen Geistes durch das Gebet ein. So wie Elias durch sein Gebet bewirkte, daß sich Feuer aus dem Himmel auf das Opfer herabsenkte, so erfleht der Priester durch das Gebet die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die dargebrachten eucharistischen G a b e n 3 1 . Auch Gregor von Nyssa erklärt eindeutig, daß das Brot und der Wein im Abendmahl durch das Wort Gottes und durch das Gebet geheiligt und Leib und Blut Christi werden. Wir glauben, sagt er, daß das Brot durch 25 26 27

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Comment, in Matth. MPG 13, 9 4 8 D. Ctr. Cel. Lib. 8, 3 3 , MPG 11, 1 5 6 5 . De Spiritu Sancto, PG 3 2 , 1 8 8 : Où yàp δ έ τούτοις ερχούμετα ών ο 'Απόστολος, ήτόΕύαγγέλων επεμνήσθη, ά λ λ α και π ρ ο λ έ γ α μ ε και έπιλέ^ομεν ετερα, ώς μεγάλης έχοντα προς το μυστήριοι> την ίσχήν, è κ της ά-γράφου διδατκαλίας παραλαβόντες. Cat. Myst. 1, PG 3 3 , 1 0 7 2 : ¿jarreρ yàp ò άρτος και ò οίνος της ευχαριστίας, προ της ayίaς έπικλήσεως της προσκυνητής Τριάδος, άρτος ην και οίνος λιτός- έπικλήσεως δ έ yεvoμèvoς, ò μεν άρτος yíναιται σώμα χριστού, ο δ έ οίνος αίμα χριστού. Vgl. Fr. Heiler, a.a.O., S. 2 5 8 , dort weitere Hinweise. Homil. de proditione Judae 1,6, PG 4 9 , 3 8 0 : Σχήμα πληρών εστηκεν ο ιερεύς, τα ρήματα φθey-γόμενος εκείνα ·ήδέ δήναμης και ή χάρις τού θεού εστι. Τούτο μου έστί το σώμα, φησί. τούτο τό ρήμα μεταρρυθμίζει τα προσκείμενα. Ebenda. De Sacerd. Lib. III, PG 4 8 , 6 4 2 .

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das Wort Gottes in den Leib des Wortes Gottes verwandelt werden τον τω λόγω τοϋ Θεού ά·~γιαξόμενον αρτον εις σώμα τοϋ θεού λόγου μεταποιείσθαι πιστεύομαι32. In der Folge dieser Gedanken erwähnt Gregor von Nyssa auch, daß das Brot durch das Wort und das Gebet geheiligt wird (δια λόγου θεού και εντεύξεως); das Brot wird in ähnlicher Weise geheiligt, wie der Apostel sagt (1 Tim. 4,5),durch das Wort und durch das Gebet; nicht aber durch Essen und Trinken wird es in den Leib des Wortes verwandelt, sondern es wird in den Leib des Wortes durch das Wort umgewandelt, wie das Wort selbst sagte: „Dies ist mein Leib." 3 3 Im Anschluß und zum Abschluß des patristischen Zeitalters soll noch Johannes Damascenos erwähnt werden, der diese Periode rezipiert und sie wiederum synthetisch wiedergibt. Auch seine Auffassung über den Zeitpunkt der Konsekration unterscheidet sich nicht wesentlich von der der früheren Vertreter der östlichen Patristik, vielmehr ist sie von dieser geprägt. Auch nach ihm geschieht die eucharistische Umwandlung durch verba testamenti und durch die Herabkunft des Heiligen Geistes durch das Epiklesegebet. Zuerst weist er auf die Wirksamkeit des Wortes Gottes hin, durch das Gott alles ins Leben gerufen hat. Unmittelbar danach fügt er die Worte des Herrn hinzu: „Das ist mein Leib", und „das ist mein Blut", und: „Das tuet zu meinem Andenken." So wie das Bestehen der Schöpfung aufgrund der Wirksamkeit des Wortes andauert, das sie aus dem Nichts zur Existenz herausrief, so ist auch in der Eucharistie der Herr präsent durch die Macht seiner Stiftungsworte. Anschließend fügt Damascenos hinzu, daß die Ankunft Christi durch die Anrufung und die Kraft des Heiligen Geistes geschieht (δια της επικλήσεως, ή τοϋ à.γιου πνεύματος επισκιάξουσα δϋναμις.. .) 34 . Um das Wunder der Eucharistie zu verdeutlichen, stellt er sie in eine Parallele zu der Inkarnation. Auf die Frage Marias, wie diese geschehen soll, antwortet der Engel: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten" (Luk. 1,35). Hier erhält Damascenos die Antwort darauf, was in der Eucharistie geschieht: „Und nun fragst du, wie das Brot Leib Christi und der Wein und das Wasser Blut Christi wird. Ich sage dir: Der Heilige Geist steigt herab und bewirkt das, was Denken und Begreifen übersteigt." 35 Die Auffassung, daß die Konsekration auf die Bitte um den Heiligen Geist erfolgt, hat sich in der Ostkriche schon früh gebildet, und sie wurde mit der Zeit vorherrschend, so daß sie bei Nikolaus Kabasilas in den Vordergrund tritt. Die Einsetzungsworte wirken nach ihm mehr virtuell und erinnern an die erste Abendmahlsfeier. Sie sind nach Kaba32 33 34 35

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Or. Cat. 37 D, MPG 4 5 , 9 6 . Ebenda, S. 9 7 . De fide orth. Lib. 4, 13, MPG 9 4 , 1 1 4 1 . Ebenda.

silas mehr als ein erzählender Bericht zu verstehen und können dann erst wirksam werden, wenn die Epiklese folgt, die eigentlich die Gaben heiligt 36 . Auch in den „symbolischen Büchern" der orthodoxen Kirche wird der Epiklese konsektratorische Funktion zugeschrieben. Während in der Confessio Orthodoxa 3 7 die Wandlung durch die Herabkunft des Heiligen Geistes erfolgt, ereignet sich die Heiligung nach der Confessio Dosithei 3 8 durch die Einsetzungsworte und die Anrufung des Heiligen Geistes. Obwohl die östliche Tradition die Vollendung der Konsekration der eucharistischen Elemente in der Epiklesebitte betrachtet, vollzieht sich der Umwandlungsakt nicht getrennt von den Einsetzungsworten. Fr. Heiler sieht auch in der „Symbolsprache des liturgischen Gestus" den Glauben der orthodoxen Kirche an die Kraft der Worte Christi ausgedrückt. Der Priester richtet die Worte an die dargebrachten Gaben und deutet mit der Hand auf ihre Anwendung, auf das Brot und auf den Kelch. „Auch das feierliche Amen, mit welchem in allen orientalischen Liturgien die Gemeinde sowohl die über dem Brot wie die über dem Kelch gesprochenen verba testamenti beantwortet, ist ein deutliches Zeichen für die konsekratorische Kraft der Einsetzungsworte." 3 9 Die starke Hervorhebung der Epiklese in der orthodoxen Theologie läßt nicht auf eine Geringschätzung der Einsetzungsworte schließen, die ja auch bei den Kirchenvätern besondere Beachtung fanden und die die Umwandlung auch bewirken. Selbst orthodoxe Theologen, die an der Epiklese als dem Zeitpunkt der Umwandlung festhalten, sehen sie in einem engen Zusammenhang mit den Einsetzungsworten. Es wäre nicht möglich zu behaupten, daß allein die Epiklese ausreichen würde oder nur sie das Geschehen der Eucharistie vollkommen macht. Trembelas schreibt dazu: „Man kann nicht behaupten, daß allein die trinitarische Epiklese genügt, um das ganze Sakrament vollkommen zu machen", denn „die Epiklese gründet auf dem Heilsgebot: Solches tut zu meinem Gedächtnis". 4 0 J . Karmiris faßt die Meinung der orthodoxen Theologen zusammen und schreibt dazu: „Die orthodoxen Theologen haben mit Recht die Einsetzungsworte und die Epiklese in einem untrennbaren und einheitlichen Ganzen vereint." 4 1 Die orthodoxe Auffassung ist eigentlich in der Zusammengehörigkeit von Einsetzungsworten und Epiklesegebet zu sehen, obwohl sie manchmal unter der starken Betonung der Epiklese als Umwandlungsformel 36 37 38 39 40 41

Liturgiae expositio, MPG 150, 4 2 5 ff. I, 107, ed. E.J. Rimmel, S. 180. Decr. 15, ed. Rimmel, S. 4 5 1 . A.a.O., S. 2 6 1 . A.a.O., S. 177. Zitiert nach Trembelas, a.a.O., S. 177.

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o f t auch von den orthodoxen Theologen nicht genug zur Sprache gebracht wird 4 2 Die Überzeugung der orthodoxen Kirche, daß die Heiligung der eucharistischen Elemente während der Epiklesebitte ihren Höhepunkt erreicht, soll nicht auf die geringere Bedeutung zurückgeführt werden, die dem Wort Gottes hier zugeschrieben wird. Sie muß vielmehr in einem anderen Zusammenhang gesehen werden, der auf eine andere Tatsache hinweist, die die orthodoxe Auffassung im allgemeinen kennzeichnet. Sie muß aus der Sicht ihrer Pneumatologie analysiert werden. Die den Einsetzungsworten unmittelbar folgende Epiklesebitte soll ein Ausdruck dafür sein, wie eng Christologie und Pneumatologie zusammengehören. Die Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl wie sonst auch seine Gegenwart geschieht durch den Heiligen Geist, an den sich das Epiklesegebet richtet. Wenn die orthodoxe Kirche daran glaubt, daß durch die Herabkunft des Heiligen Geistes die Gaben umgewandelt werden, negiert sie nicht gleichzeitig die Wirksamkeit der Einsetzungsworte, sie glaubt nur, daß die Umwandlung durch den Heiligen Geist geschieht 4 3 Die Epiklese ersetzt nicht die Heilswirkung der Einsetzungsworte. Das liturgisch-eucharistische Memorial, die Worte der Anamnese erfüllen nicht nur eine Erinnerungsfunktion an die erste Abendmahlsfeier und seine Einsetzung durch Jesu Christus, sondern jedesmal, wenn die Eucharistie gefeiert wird und die Worte Jesu über das Brot und den Wein ausgesprochen werden, ist Jesus Christus in seiner Person gegenwärtig. Die Präsenz Jesu in seinen Worten wird von P. Evdokimov hervorgehoben. Durch das Sprechen Gottes geschieht, was er sagt: „Gott spricht und es geschieht; die Gläubigen nehmen an dieser prophetischen Dimension des Wortes Gottes teil, das Akt, Parousie, d.h. Offenbarung, Erscheinen, Präsenz ist." 4 4 Die Worte Jesu haben nicht nur eine erhellende und deutende Funktion, sondern sie sind wirksame Heilsworte. Die Heilsbedeutung des Wortes muß in das orthodoxe Sakramentsverständnis grundsätzlich hineingenommen werden. Jesus ist nicht ohne den Heiligen Geist, und das nicht, weil er die göttlichen Vollmachten nicht hätte, sondern weil beide mit Gott dem Vater zusammengehören. Hier stehen sich nicht die Worte Jesu und die Worte der Kirche gegenüber. Sie glaubt nicht mehr an die Erhörung ihres Gebets als an das Wort Gottes, sondern sie glaubt einfach an die Kraft Gottes, die durch den Heiligen Geist das Brot und den Wein in Leib und Blut Christi umwandelt. Der Heilige Geist bewirkt auch nicht etwas anderes als die Worte Jesu. Deshalb gehört auch die Epiklese mit den Einsetzungsworten zusammen, und so müssen sie auch miteinander ge42

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Ein Beispiel hierfür ist das rumänische Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 2, S. 873, w o die Einsetzungsworte nur als ein einführender historischer Teil betrachtet werden, nur als „Rechtfertigung dessen, was danach folgt" Vgl. Ρ Evdokimov, L'Esprit Saint dans la tradition orthodoxe, Bibliothèque Oecumenique 10, Paris 1969, S. 100 ff. La Prière de l'Eglise d'Orient, Castermann—Paris—Tournai 1966, S. 15.

sehen werden. P. Evdokimov sieht die einen einzigen Akt: Die Gegenwart „Christus spricht die Einsetzungsworte Vater um die Sendung des Hl. Geistes, die Gaben und die Kirche k o m m t . " 4 5

Anamnese und die Epiklese ids des Herrn im Heiligen Geist. aus und die Epiklese bittet den der heiligenden Kraft, die über

Die Anamnese und die Epiklese sind nicht zwei voneinander unabhängige Momente, als ob Jesus Christus von dem Heiligen Geist getrennt wäre. Die Wahrnehmung zweier aufeinander folgender Akte, die für uns Menschen nicht anders zu vollziehen wären, soll nicht die eine Wirklichkeit der pneumatischen Realpräsenz Christi im Abendmahl verdecken. Von dieser Sicht her könnte die Kritik P. Brunners 4 6 an der Epiklese der orthodoxen Kirche ihre Schärfe verlieren, wenn man das Werk des Heiligen Geistes als Mitwirkung in das Werk Jesu Christi miteinbezieht, um die es der orthodoxen Kirche mit der Epiklese eigentlich geht. Die Epiklese ist kein Beweis für die Ohnmacht des Wortes, sondern sie ist ein Gebet, damit der Heilige Geist in seiner Wesenseinheit mit Christus das, was die Worte aussprechen, mit dem Leben Jesu erfüllt. Die perichoretische Einheit des Wortes Gottes als trinitarischer Person mit dem Heiligen Geist ist der Grund für die Wortgebundenheit des Geistes. Der Heilige Geist durchdringt die Christuswirklichkeit. Er ist nicht nur an die Person Jesu Christi gebunden, sondern auch an seine offenbarenden und heilswirkenden Worte, in denen Christus gegenwärtig ist. Von diesem trinitarischen Hintergrund aus könnte auch der Zusammenhang zwischen der Epiklese und der Anamnese gesehen werden. Die Wesenseinheit zwischen dem Wort Gottes und dem Heiligen Geist soll der Grund für die pneumatisch durchwirkte eucharistische Realpräsenz Jesu Christi sein. Auch die Worte Jesu haben eine pneumatische Dimension, und die Kirche betet, damit sie erfüllt werden. Die Christologie ist hier pneumatische Christologie. Durch die Epiklese werden keineswegs die Worte Jesu vergessen. Die orthodoxe Kirche sieht Jesus Christus im Heiligen Geist in die Kirche kommen, und die Epiklese ist ein Ausdruck dafür. Sie versteht die Einsetzungsworte nicht christomonistisch, sondern erlebt sie in ihrer pneumatischen Fülle. Die Epiklese soll in einer dynamischen Einheit mit den Worten Jesu stehen. Die Umwandlung wäre nicht erfolgt, wenn Jesus Christus zu dem Brot nicht gesagt hätte: „Das ist mein Leib", und zu dem Wein, „das ist mein Blut" Die Kirche betet um die Herabkunft des Heiligen Geistes über die eucharistischen Gaben, damit geschehe, was die Worte sagen. Die Christuspräsenz ist eine pneumatische Präsenz. Jedes Sakrament, nicht nur das Abendmahl, hat in der orthodoxen Kirche seine Epiklese. Die Ankunft des Geistes ist zugleich Gegenwart Christi. Die Sakramentslehre 45 46

L'Orthodoxie, S. 2 4 9 - 2 5 0 . A.a.O., S. 349.

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der o r t h o d o x e n Kirche hat einen ausgeprägten pneumatischen Charakter. In der Mitte des Sakramentes steht die heilshandelnde Wirkung des Heiligen Geistes. 4 7 Von daher ist auch die starke Betonung der pneumatischen Parousie Christi im Sakrament des Abendmahls zu verstehen, in dem die o r t h o d o x e Kirche die intensivste Präsenz und Wirkung J e s u Christi erlebt. Hier teilt sich Jesus in seiner ganzen personalen Wirklichkeit mit, nicht nur in der Geistigkeit seiner Person, sondern zugleich in der Konkretheit seiner gekreuzigten Leiblichkeit. Deshalb hat die Eucharistie die höchste Heilswirkung, weil hier die Gegenwart J e s u im Brot und Wein Realpräsenz ist. Die Eucharistie, schreibt D. Staniloae, ist das „Mysterium der vollkommenen Präsenz und der intensivsten Wirkung J e s u Christi in der Kirche und durch sie in der Welt" 4 8 .

3. Die Kommunion

des Wortes

Gottes

Weiß sich die o r t h o d o x e Kirche an die Sakramente des Herrn gebunden, so ist sie zugleich auch dem Heilswort ihres Herrn verpflichtet. Sie ist eine Kirche des Sakramentes, weil sie den Sakramenten in ihrem gottesdienstlichen Leben eine zentrale Stellung einräumt, nicht weil sie wortlose Sakramente feiert. Es gibt kein Sakrament in der o r t h o d o x e n Kirche, das nicht das Wort der Heiligen Schrift einschließt. In der o r t h o d o x e n Liturgie wird nicht nur die Eucharistie gefeiert, sondern zugleich das Wort verkündigt. In der Mitte des ersten Teils der Liturgie steht die Verlesung aus den Schriften der Apostel und aus den Evangelien und ihre Auslegung durch die Predigt. In der Wortverkündigung des Evangeliums glaubt die Gemeinde, die Stimme ihres Herrn zu vernehmen und dadurch in seiner Gegenwart zu sein. Aus dieser Überzeugung ist auch die o r t h o d o x e Frömmigkeit entstanden. Auf den Knien verfolgen die Gläubigen den Auszug des Priesters mit dem Evangelium aus dem Altarraum, und so hören sie auch voller E h r f u r c h t die Verlesung aus der Schrift. Sie verhalten sich so, als würden sie in dem verkündigten Wort das Wort Gottes sehen. Das Wort wird hier nicht als Aufklärungsmittel über das Heilswerk Christi aufgefaßt, sondern empfangen in der Macht des göttlichen Verkünders. Das Wort des Evangeliums ist hier Wort Gottes und die Gegenwart Gottes in seinem Wort. Die Gemeinde hört es, als ob sie Jesus selbst zu sich sprechen hörte, und als ob sie Jesus selbst in Gestalt des Wortes vor sich sehen würde. Dieser Glaube spiegelt sich im Gesang und in der A n t w o r t der Gemeinde wider: „ K o m m t , lasset uns anbeten und niederfallen vor Christus." Die Achtung gegenüber der Heiligen Schrift und dem verkündigten Wort gleicht der, die die Gemeinde Christus selbst bezeugen würde. Der Glaube der

47 48

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P. Evdokimov, L'Orthodoxie, S. 249. Die Theologie der Eucharistie, in: Ortodoxia Nr. 3, 1969, S. 3 4 3 (rum.).

orthodoxen Kirche an die Gegenwart Jesu in den Worten des Evangeliums verbindet sie mit dem Glauben der frühen Kirche an die Heilsnacht des Wortes Gottes. J . Tyciak weist auf die Uberzeugung und die große Bedeutung hin, die die orthodoxe Kirche dem Wort als Heilsmittel beimißt, wenn er schreibt: „Vom inkarnierten Gotteswort sind alle Worte des Evangeliums durchdrungen. Das Evangelium ist das hörbare Wort, wie der Mensch Christus das schaubare Wort ist." 4 9 Im Hören des Wortes nehmen die Gläubigen Jesus selbst in sich auf. Es ist eine Art Fleischwerdung Christi der Natur des Wortes entsprechend. Das mündige hörbare Wort hat Sakramentscharakter. ,,Das Hören des Wortes ist also Eingeburt des Logos in uns. Lauschen auf Gottes Wort heißt dieses empfangen. Im Hören geschieht geheimnisvolle Empfängnis, ein Fleischwerden des göttlichen Wortes in u n s . " 5 0 Das Wort ist mit der Person Christi unlösbar verbunden. Im Glauben der orthodoxen Christen, wie er sich im Gottesdienst ausdrückt, besteht zwischen dem Wort Gottes und dem personalen Wirken Jesu Christi so eine innige Verbindung, daß man das Wort als stellvertretend für die Person Jesu betrachtet. Das Wort wird Sakrament. Im Wort geschieht das Mysterium der Parousie des Herrn, der fleischgewordene Logos Gottes begegnet den Gläubigen und teilt sich ihnen als der gekreuzigte und der Auferstandene in seinen Worten mit. In diesem Sinne spricht P. Evdokimov von der „Eucharistie des Wortes" 5 1 . Er zieht hier eine Parallele zwischen der Anwesenheit Jesu in der Eucharistie und in seinem Wort. In Analogie dazu redet er von dem „eucharistischen Verzehr des Wortes" 5 2 . In der eucharistischen Kommunion ißt man den Leib und trinkt das Blut Christi. Beim Hören des Wortes des Evangeliums vollzieht sich auch eine Art Kommunion mit dem Logos Gottes. Das Wort ist eine Weise göttlichen Handelns am Menschen. Dieser Glaube der orthodoxen Kirche an die wirksame Anwesenheit Jesu Christi in seinem Wort wird von P. Evdokimov deutlich ausgedrückt, indem er diese mit dem Sakrament der eucharistischen Realpräsenz vergleicht. Neben dem Empfang des Abendmahls zur Erlangung des Heils weist er noch auf das Wort Gottes als Mittel zur Teilnahme am ewigen Leben hin: „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben " (Joh. 6,54), „aber auch": „Wer mein Wort hört der hat das ewige Leben" (Joh. 5,24) 53 . Damit wird eindeutig gesagt, daß Gott nicht nur im Sakrament, sondern auch im Wort heilshaft auf die Menschen wirkt. Die Gegenwart Gottes in seinem Wort bedeutet, daß geschieht, was gesagt wird. Im Hören des Wortes gibt Jesus uns Anteil an seinen Heilstaten,

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Handbuch Düsseldorf Ebenda, S. La Prière Ebenda, S. Ebenda.

der Ostkirchenkunde. Hrsg. E. von Ivánka, J. Tyciak, P. Wiertz, 1971, S. 265. 268. ., S. 163. 164.

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die er in seinem Wort für uns vergegenwärtigt. Gerade dies will P. Evdokimov bewußtmachen, wenn er Wort und Eucharistie zusammenbringt. Diese Gedanken vollzieht P. Evdokimov im Anschluß an Orígenes, der in Analogie zu dem eucharistischen Mahl von der Kommunion mit der Schrift spricht s 4 Hieronymus sieht auch in dem Wort die Möglichkeit, den gekreuzigten Christus zu empfangen, wie man in der Eucharistie seinen Leib ißt und sein Blut trinkt 5 5 . Gregor von Nazianz 5 6 spricht auch im Vergleich zu der eucharistischen Kommunion von einer „manducatio" Christi durch die Schrift, was auf die Präsenz Jesus in seinem Wort schließen läßt. Wie die Parusie des Herrn im Abendmahl durch den Heiligen Geist geschieht, geschieht auch die A n k u n f t des Herrn in seinem Wort durch den Heiligen Geist. Die Ephiphanie Jesu Christi in seinem Wort ist ein pneumatisches Geschehen. Auch das Hören des Wortes und die Lesung der Schrift setzen nach P. Evdokimov die Epiklese voraus 5 7 . Gerade dieser Vergleich der Präsenz Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie mit seiner Gegenwart im Wort, nach der „eucharistischen Weise" seiner Gegenwart, dem wir auch bei einigen Kirchenvätern schon in den ersten Jahrhunderten begegnen, die auch in der orthodoxen Kirche großes Ansehen genießen, läßt darauf schließen, daß die Teilnahme am Erlösungswerk Christi durch das Sakrament und durch das Wort geschieht. Beide sind Mittel der Gegenwart Jesu Christi und in ihm durch den Heiligen Geist Mittel seiner gegenwärtig werdenden Heilsoffenbarung in der Kirche. Das Sakrament schließt das Wort nicht aus, vielmehr setzt es es voraus, und beide gehören untrennbar zusammen. Nur durch beide geschieht und vermittelt sich das ganze Christusgeschehen in seiner Kirche. Alternative oder Priorität von Wort und Sakrament kann es nicht geben, da Jesus Christus durch beide wirkt und beide von ihm zur Erlangung des Heils eingesetzt wurden. Durch beide wird totus Christus in der Kirche gegenwärtig. In dem ausgeprägten sakramentalen Leben der orthodoxen Kirche wird der Raum des Wortes Gottes nicht eingeschränkt. In dem orthodoxen Gottesdienst und besonders in der orthodoxen Liturgie spiegelt sich die Stellung wider, die in der orthodoxen Kirche das Wort und das Sakrament einnehmen, sowie das Verhältnis zwischen den beiden Gnadenmitteln. Die Wortverkündigung des Evangeliums und die Feier der Eucharistie sind die beiden Grundpfeiler der orthodoxen Liturgie. Die orthodoxe Liturgie versteht sich als ein einheitliches Ganzes. 54 55

56 57

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Comment, in Matth. XVI, MPG, 13,1734. Comment, in Ecclesiasten, MPL 23, 1092: Porro quia caro Domini verus est cibus, et sanquis eius verus est potus, juxta αναγωγής, hoc solum habemus in praesenti saeculo bonum, si vescamur carne eius, et cruore petemur, non solum in mysterio (Eucharistia) sed, etiam in Scripturarum lectione. Oratio XLV, 16, MPG 31, 645. La Prière . . . , S. 164.

In der Mitte des ersten Teils der Liturgie steht die Verkündigung des Evangeliums, so wie ihr zweiter Teil auf die Feier des Abendmahls konzentriert ist. Doch Wortverkündigung und Sakramentshandlung sind nicht voneinander abgegrenzt und stehen auch nicht beziehungslos zueinander, vielmehr setzen sie sich gegenseitig voraus und weisen aufeinander hin. Das eine kann nicht ohne das andere gefeiert werden. Die Liturgie kann weder aus dem Wortgottesdienst noch allein aus dem Sakramentsgottesdienst allein bestehen. Die Zusammengehörigkeit von Wort- und Sakramentsgottesdienst in der Einheit der Liturgie beruht darauf, daß die orthodoxe Liturgie eine Darstellung und pneumatische Vergegenwärtigung des gesamten Ablaufs des Heilsweges J e s u Christi, von seinem Auftreten als Verkündiger des Wortes bis zu seinem blutigen Opfer am Kreuz und zu seiner Auferstehung sein will. Die Liturgie vergegenwärtigt Christus als den G e k o m m e n e n , den Gegenwärtigen und den Kommenden. In der Liturgie hört man die Stimme des Herrn, nimmt teil an seinen rettenden Taten und folgt ihm auf dem Wege nach Golgatha. In der Evangeliumsverkündigung hören wir seine Worte, und im Sakrament der Eucharistie folgen wir ihm auf dem Wege zum Kreuz umd empfangen seinen für uns geopferten Leib und sein für uns vergossenes Blut. Er hat nicht nur das Wort verkündigt und sich im Wort geoffenbart, sondern sich in der Wirklichkeit seines Lebens geopfert, das Abendmahl gestiftet und es mit den Aposteln gefeiert. Deshalb kann es nicht nur Wort oder nur Sakrament geben. Jesus Christus hat seine Gegenwart an Wort und Sakrament gebunden. Die Annahme, daß das Wort Heilsmittel ist, macht die Notwendigkeit des Sakramentes als Gegenwart des Herrn nicht überflüssig. Dasselbe gilt auch umgekehrt. Die orthodoxe Liturgie integriert beide Heilsmittel und bezieht sie aufeinander. Einerseits führt das Wort des Evangeliums zu dem geopferten Wort Gottes in der Eucharistie. Andererseits findet die eucharistische Konsekration nicht statt ohne vorausgehende Verkündigung des Evangeliums. Die orthodoxe Liturgie bietet einen seit Jahrhunderten erlebten Beweis für die Zusammengehörigkeit von Wort und Sakrament. Diese Tatsache wird auch dadurch symbolisiert, daß auf demselben Tisch im Altarraum sowohl die Heilige Schrift bewahrt als auch die Umwandlung der eucharistischen Gaben vollzogen wird. P. Evdokimov hebt die Zusammengehörigkeit von Wort und Sakrament in der orthodoxen Liturgie hervor. Was das Wort des Evangeliums verkündet, geschieht in der Eucharistie: Die Gegenwart des H e r r n . 5 8 Die Struktur der orthodoxen Liturgie, die auf Wort und Sakrament beruht, zeigt, daß es nicht genügt, wenn in der Kirche nur das Wort oder nur das Sakrament gefeiert wird. Das Opfer am Kreuz, das wir in der Eucharistie erleben, ist die Bestätigung seiner Worte. Deshalb muß der ganze Weg durchschritten werden. In der Liturgie soll auch die ortho58

L ' O r t h o d o x i e , S. 2 5 2 .

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doxe Theologie das richtige Verhältnis zwischen Wort und Sakrament finden, und das noch so starke sakramentale Leben der o r t h o d o x e n Kirche soll keineswegs das Wort verdrängen oder es nur als Lehrmitteilungswort verstehen. Im Worte des Evangeliums spricht u n d handelt Jesus Christus selbst. Die personale und wirkende Präsenz Jesu steht nicht nur in Verbindung mit dem Sakrament, sondern Jesus macht seine Heilstaten auch im Wort in der Kirche gegenwärtig, wenn die Eucharistie als Sakrament im Vergleich zum Wort die höchste Stufe seiner Präsenz und den H ö h e p u n k t unserer Vereinigung mit dem gekreuzigten und dem auferstandenen Christus darstellt. Die Heilswirksamkeit des Wortes steht immer im Zusammenhang mit der Eucharistie, denn die Worte des Evangeliums gründen sich auf das Opfer des fleischgewordenen Wortes Gottes. Die Worte der Schrift sind mit dem Leben des gekreuzigten Christus erfüllt. Deshalb ergeht das Wort des Evangeliums im Hinblick auf das gekreuzigte Wort des Abendmahls. Das Wort des Evangeliums steht nicht getrennt von dem Wort, dem Sohn Gottes, der sich in der Eucharistie für uns weiter opfert. Hier offenbart sich der innere Zusammenhang zwischen dem Wort und Sakrament.

A) Das personale Offenbarungsverständnis der evangelischen Theologie

in

Aus der Neubesinnung auf die alt- und neutestamentlichen Schriften, die in der neueren evangelischen Theologie erfolgte, in der die Frage nach dem Eigentlichen der christlichen Botschaft neu gestellt wurde, vollzog sich eine Wandlung und eine an der Schrift näher orientierte Bestimmung des herkömmlichen Offenbarungsverständnisses. Gegenüber einem in der Theologie lange Zeit vorherrschenden objektivistischen Offenbarungsverständnis bildet sich die Auffassung, daß die Offenbarung primär als personales Begegnungsgeschehen zu verstehen ist. Der Inhalt der Offenbarung besteht nicht hauptsächlich aus Wahrheiten oder Lehren, die Gott den Menschen k u n d t u t . G o t t , schreibt E. Schlink, „ist kein Gegenstand der Erkenntnis und Aussage, wie Gegenstände sonst, die man wahrnehmen, untersuchen, begreifen, definieren kann. Sondern er begegnet uns im Evangelium als der Herr, der uns fordert und uns beschenkt und als dieser Herr im Reichtum seiner Herrlichkeit vom ganzen Menschen und somit vom Menschen in allen seinen personalen Beziehungen geehrt werden will So wenig einerseits in der Offenbarung von Wahrheitenmitteilung abstrahiert werden sollte, so würde es andererseits eine Einengung ihres Verständnisses bedeuten, wenn man sie einzig auf diese reduzieren 1

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Die Struktur der dogmatischen Aussage . . ., S. 35—36.

würde. Es geht nicht um eine Offenbarung über Gott, sondern um einen selbstoffenbarenden Gott, der zu den Menschen spricht und kommt, so daß er diesem persönlich begegnet. Das „Selbst" der Offenbarung bedeutet nicht nur, daß Gott der Offenbarende ist, der etwas über sich enthüllt, sondern auch daß er der ist, der dem Menschen persönlich begegnet. Nach Althaus handelt es sich nicht um die Offenbarung „von etwas, sondern die Selbstbezeugung einer Person, in ihrem mich Angehen, mich Kennen, mich Meinen, Rufen, R i c h t e n " 2 . Damit verlagert sich die Frage nach der Offenbarung aus dem kognitiven in den existentiellen Bereich. Die Offenbarung wird als das Geschehen gesehen, in dem sich Gott und Menschen begegnen. Sie stiftet eine personale Beziehung zwischen Gott und Mensch. Der Anstoß zum personalen Denken in der Theologie und zu einem personalen Verständnis der Offenbarung erhielt diese von dem dialogischen Personverständnis F. Ebners und M. Bubers, die ihrerseits von dem biblischen Personverständnis stark beeinflußt waren. Gemeinsam ist beiden der Gedanke, daß das Selbstbewußtwerden und das Erlangen der personalen Identität sich im dialogischen Gespräch mit einem anderen vollzieht. In der personalen Begegnung entsteht und entwickelt sich der Mensch als Person und versteht sich als solche. In der Frage nach dem eigentlichen Ich schreibt F. Ebner: „Die Sache ist sehr einfach: Dessen Existenz liegt nicht in seinem Bezogensein auf sich selbst, sondern — und das ist der Umstand, auf den alles Gewicht fällt — in seinem Verhältnis zum D u . " 3 Nicht nur in der Bezogenheit auf den Mitmenschen kommt das Ich zum Bewußtsein seines Selbst, sondern vor allem auf das Du Gottes bezogen erfährt sich der Mensch als Person. Die „dialogische Bezogenheit" 4 der Menschen untereinander ist in der personalen Bezogenheit des menschlichen Ich auf das göttliche Du angelegt. Außerhalb der dialogischen Beziehung gibt es keine bewußte Personverwirklichung. W. Joest bringt die beiden Momente der mitmenschlichen interpersonalen Beziehung und der Gottesbeziehung des Menschen, in der die erste „real begründet ist", zusammen und stellt sie in einen inneren Zusammenhang 5 Behaupten die Vertreter des dialogischen Personalismus, daß unsere Mitmenschen nicht Wissensobjekte sind, sondern als Personen und als anredende Subjekte zu verstehen sind, um aus dieser Beziehung zu unserer Selbsterkenntnis und der des Partners zu gelangen, so stellt sich die Aufgabe für die Theologie umso dringender, die Beziehung des

2 3 4 5

Die christliche Wahrheit, S. 27. Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, 2. Aufl., 1952, S. 25. B. Langemeier, Der dialogische Personalismus, Paderborn 1963, S. 86. Die Personalität des Glaubens, in: KuD 7, 1961, S. 39.

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Menschen zu der absoluten Person Gottes als personal und zwischen zwei Subjekten geschehende Begegnung zu verstehen. So unbestritten die Auswirkung des personalen Denkens auf die Theologie auch war, kann dies jedoch nicht bedeuten, daß das personale Verständnis der Offenbarung und des Glaubens erst seit dem dialogischen Denken in der Theologie überhaupt bekannt ist. Das Verständnis des Offenbarungsgeschehens, wie auch das Verhältnis des Menschen zu Gott und überhaupt das Seinsverständnis in der Theologie Luthers zeichnen sich nach G. Ebeling durch einen ausgesprochen personalen Charakter aus und werden von Luther mittels der Kategorie der Relation aufgefaßt 6 . E. Schlink weist darauf hin, daß das personale Denken ein konstitutives Element in der Theologie Luthers ist, indem er unter diesem Gesichtspunkt eine Gegenüberstellung des theologischen Denkens Luthers und der „ontologischen Grundstruktur des aristotelischen Denkens" 7 vornimmt. „Demgegenüber ist der Ansatz des Denkens und der Aussagen Luthers ein völlig anderer. Er setzte ein bei der geschichtlichen Begegnung Gottes mit dem Menschen, und zwar bei dem geschichtlichen Ereignis des eigenen Getroffenwerdens durch Gottes gnädiges Wort. Er kannte keinen Standort abseits von dem Geschehen zwischen Gott und Mensch " 8 Die Kategorien, in denen die GottMensch-Beziehung aufgefaßt wird, sprechen für einen eindeutig personalen Charakter dieser Beziehung, der sich durch eine existentiell-geschichtliche Prägung auszeichnet. G. Gloege, der die verschiedenen Formen des theologischen Personalismus in der geschichtlichen Entwicklung des theologischen Denkens zu identifizieren versucht, stellt Luthers „konkreten Personalismus" heraus. „Luther denkt konkret personal. Konkret, d.h. als der Mensch, der ,coram Deo' sein Leben empfängt." 9

1. Personale Anrede Gottes und Antwort

des Menschen

Die Offenbarung ist keine allgemeine neutrale Wahrheitenmitteilung, sondern die personale Selbsterschließung Gottes, der die Menschen durch seine Botschaft anspricht und sie zur personalen Entscheidung herausfordert. Der Heilige Geist, der durch das biblische Offenbarungszeugnis in Menschen wirkt, bewegt sie zur Antwort: „Die durch das Evangelium ergehende göttliche Anrede kann nicht ohne die Antwort des Glaubenden bleiben. Das Evangelium ist Kraft Gottes, die weiter wirken will durch die Glaubenden." 1 0 6 7 8 9

Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, S. 219 ff. Weisheit und Torheit, S. 6. Ebenda, S. 4. Der theologische Personalismus als dogmatisches Problem, in: KuD 1, 1955, S. 25. 10 E. Schlink, Die Struktur der dogmatischen Aussage . . ., S. 25.

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Im ursächlichen Zusammenhang mit der dialogischen Grundstruktur der Offenbarung sieht E. Schlink die Grundformen der theologischen Aussage, die er als Antwort auf die Liebe des zu den Menschen sprechenden Du Gottes des Evangeliums betrachtet, in diesem Sinne auch dann, wenn die Antwort als Glaubenszeugnis sich an den Mitmenschen richtet. Beide Antworten gehören bei ihm untrennbar zusammen 1 1 . Ohne auf alle Formen der Antwort des Glaubens einzugehen, die E. Schlink analysiert, sei hier nur auf das Gebet hingewiesen, da es sich hier um eine ausdrückliche Form des Glaubens handelt, in der der Glaubende sich unmittelbar persönlich dem Du Gottes zuwendet. Der Mensch redet hier mit Gott, indem er ihm dankt und ihn bittet. ,,So vollzieht sich im Hören des Wortes und in den Antworten des Gebets ein Gespräch zwischen Gott und Mensch, in dem der Mensch angeredet zu dem Ich wird, das Gott als Du preisen, fragen, bitten, ja bestürmen darf." 1 2 Hinzu kommt noch die Auffassung, die E. Schlink vertritt, daß das Ich des Gebets nicht isoliert von dem Wir der Gemeinde steht. 1 3 Dieser Gedanke sei hier erwähnt, weil die Einbeziehung des Wir in das Ich des Dank- und Bittgebets und darüber hinaus in jede personale Hinwendung zu Gott eine Korrektur des individualistischen und existentialistischen Personverständnisses darstellt. Das personale Offenbarungsverständnis bedeutet keineswegs eine Isolierung und Vereinsamung des Menschen. Von Gott personal angesprochen zu sein und ihm wiederum auf persönliche Weise zu antworten, heißt nicht, daß jeder ein in sich abgeschlossenes Individuum ist, das nur eine vertikale Beziehung zu Gott unterhält oder vor ihm keine Verantwortung für den anderen Menschen trägt. Die Offenbarung isoliert die Menschen nicht untereinander, sondern diese werden in der Offenbarung in ihrem Miteinander und Füreinander angesprochen, als Mitglieder einer Gemeinde, oder um eine Gemeinde zu bilden. „Gewiß, Gott reißt den Menschen durch das Evangelium heraus aus seiner Vereinzelung, in der er sich gegen Gott und den Mitmenschen versperrt, Gott deckt ihn auf als Glied eines sündigen Geschlechts und versetzt den Glaubenden in die Gemeinschaft des Gottesvolkes, der neuen Menschheit." 14 Von der Offenbarung her läßt sich weder ein Individualismus noch eine Art christlicher Kollektivismus begründen, in dem die Gläubigen als einzelne Personen aufgelöst werden. Das Ich und das Wir dürfen nicht voneinander isoliert und verabsolutiert werden. Die Liebe zu Gott schließt die Liebe zu den Mitmenschen ein. Die Ich-Du-Gottbeziehung ist nicht möglich ohne die Liebe zu den Mitmenschen. Wir stehen nicht nur in einer Ich-Du-Beziehung und Verantwortung gegenüber einzelnen Menschen, sondern auch zum Wir. Personale Beziehung ist nicht nur als 11 Ebenda, S. 25. 12 Ebenda, S. 26. 13 Ebenda. 14 Ebenda.

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eine Beziehung im Singular, von Person zu Person zu verstehen, sondern zugleich als eine Verantwortung für die ganze Menschheit. Die personale Heilserlangung geschieht nicht in einer Isolierung von der Gemeinschaft, sondern der Mensch empfängt seine personale Erlösung, indem er in Gemeinschaft mit den anderen steht. Personale Existenz und personale Beziehung mit Gott geben keinen Anlaß dazu, egoistisch um das eigene Heil besorgt zu sein. Die Erlösung empfängt der Mensch nicht in der Isolierung. Hier meldet sich eine Überwindung des dialogischen Personalismus an, der zweifellos als Anstoß zur Vertiefung und Bewußtwerdung des ohnehin in der Offenbarung begründeten personalen Denkens angesehen werden soll. Die Ich-Du-Beziehung schöpft aber nicht den ganzen Sinn des personalen Verhältnisses aus. Durch sie ist die Gefahr eines vereinsamten und isolierten Ich-Du-Verhältnisses nicht ausgeschlossen. Durch das „Wir", das zu der Ich-Du-Beziehung hinzutritt, wird eine neue Dimension der personalen Beziehung eröffnet. Deshalb auch die berechtigte Frage P.H. Jorgensens: „Man muß deshalb der von der Ich-Du-Philosophie geprägten Theologie die Frage stellen: Sind wir (ich und du) Gott gegenüber niemals auch ein ,wir'? — Nicht nur ich und du? Begegnet uns Gott nicht auch als einem ,wir'? — Kommt er nicht zu uns als Gemeinde? Eine Gemeinde im neutestamentlichen Sinne ist doch nicht die Summe der einzelnen Christen." 1 5 Gehört einerseits der Einzelne in die Gemeinschaft der Gläubigen hinein, so muß andererseits gesagt werden, daß das persönliche Betroffensein von der Botschaft des Evangeliums dadurch nicht unmöglich gemacht wird. In der Verbundenheit des einzelnen Ich mit dem Wir bleibt jeder ein Subjekt, das sich persönlich entscheidet und die Begegnung mit dem verkündigten Wort Gottes persönlich erlebt. So bleiben die Begegnung, die Entscheidung und die Erfahrung, die der Mensch mit der Heilsbotschaft Gottes macht, höchst personale Akte, die durch die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft ihren personalen Charakter nicht verlieren, sondern dieser wird dadurch eher verstärkt.

2. Seinshaftes und aktualistisches

Offenbarungsverständnis

Versteht man die Person im strengen aktualistischen Sinne, nachdem der Mensch sich nur in seinen subjektiven Entscheidungen, in den jeweiligen Momenten seiner personalen Beziehungen als Person erweist, so überträgt sich dieser aktualistische Personbegriff auch auf die Personalität der Offenbarung. Entsteht die Person erst in der aktuellen Begegnung, im Akt der personalen Entscheidungssituation, dann bestimmt dieser grundsätzlich aktualistische Charakter auch die Auffassung von

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Die Bedeutung des Subjekt-Objektverhältnisses für die Theologie. Der TheoOnto-Logische Konflikt mit der Existenzphilosophie, Hamburg 1 9 6 7 , S. 4 3 6 .

der Offenbarung. Die Aktualität des Personverständnisses besäße eine Entsprechung in der Offenbarung als Akt. Die Strukturveränderungen, die dadurch entstehen, bezeichnet R. Rössler in seiner Auseinandersetzung mit der Theologie E. Brunners, der zusammen mit Fr. Gogarten als Hauptvertreter eines personalen Aktualismus innerhalb des Protestantismus gilt, als „eine Gewichtsverlagerung des Offenbarungsgeschehens in die Begegnungswirklichkeit oder Entscheidungssituation hinein "16. Wenn man die Offenbarung im Sinne eines aktualistisch-existentiellen Personalismus versteht, so läuft man Gefahr, den ganzen Sinn des göttlichen Heilsgeschehens auf die Gegenwarts- und Existenzbezogenheit des Evangeliums zu reduzieren. Das Wesen der Offenbarung bestünde dann im Akt, aus den Akt-Momenten der unkontinuierlichen GottMensch-Begegnungen. Aktualität und Existentialität als Kategorien der Personalität weisen nur auf das subjektive Moment der im Glauben geschehenen Begegnung mit der Heilsbotschaft hin. Auf diese Weise bestünde die Offenbarung nur aus den diskontinuierlichen Akten des im Glauben existentiellen Konfrontiertseins mit dem Evangelium, das in seiner Existenz von diesen abhängig gemacht würde. Einer solchen Reduzierung des Person- und Offenbarungsverständnisses auf die aktualistisch-existentielle Beziehung, und der Auffassung, daß durch die personalistischen Kategorien das ganze Ereignis der Offenbarung umfassend dargestellt werden kann, steht in der evangelischen Theologie eine Richtung gegenüber, die eine Abgrenzung von dem personalistischen Lösungsversuch und zugleich dessen Ergänzung darstellt und in ihren Argumenten und der Lösung dieses Problems bis auf die Theologie Luthers zurückgreift. Sie mißt dem theologischen Personalismus eine große Bedeutung bei, unterstreicht aber wie Gloege: „Die personalistischen Kategorien reichen zum vollen Verstehen weder des Alten noch des Neuen Testamentes aus. Sie treffen Wesentliches, ja Entscheidendes: das jeweils Wesentliche und das jeweils Entscheidende. Aber sie sind unzureichend. "17 Worauf es in der kritischen Auseinandersetzung mit dem personalistischen Denken aktualistischer Prägung ankommt, läßt sich daran erkennen, daß die Aktualität und die Subjektivität der Glaubenserfahrung nicht möglich und nicht verständlich sein kann ohne einen Rückzug auf die objektive Offenbarung. Der Aktualität muß die Ontologie der Offenbarung hinzugefügt werden, und in dieser muß die Voraussetzung für jede personale Begegnung mit dem Heilshandeln Gottes gesehen werden. Eben dieser Aspekt wird von R. Rössler hervorgehoben, wenn er fragt: „Was bedeutet das Reden von den sogenannten Objektiven der Offenbarung, von heilsgeschichtlicher Perfektizität, von der im Kreuz

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Person und Glaube, München 1965, S. 163. Der theologische Personalismus . . ., S. 34.

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Christi geschehenen Versöhnung und Rechtfertigung, von jenem selbstgenügsamen extra nos des Glaubens, denn anders als daß es sich dabei um eine aller personalen Begegnung vorausgehende, eigenständige Wirklichkeit handelt? Eine Wirklichkeit, die eben nicht erst im Akt der Begegnung konstituiert wird, sondern eine in aller Begegnung bereits vorausgesetzte Realität und Seinsmächtigkeit besitzt? " 1 8 Der aktualistische Personalismus ist deshalb nur eine halbe Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Wesen des Heilsgeschehens. Demgegenüber fordert Gloege die „Wiederaufnahme der weiterhin vernachlässigten ontologischen Problematik"19 Nach seiner Grundthese, die er in der Geschichte des christlichen Denkens begründet wissen will, stützt sich das personale Denken auf ,,eine(r) vorgegebene(n) ontologische(n) Grundposition" 2 0 . Selbst in der Theologie Luthers wird die Zusammengehörigkeit des ontologisch-objektiven und des existentiell-subjektiven Aspekts der Offenbarung bestätigt: „Der konkrete Personalismus Luthers setzt die Ontologie des altkirchlichen Dogmas, seine Trinitätslehre und Christologie voraus Das ontologische ,extra me' der Gottestat begründet das personale ,pro me' " 2 1 . Weiterhin stellt Gloege die maßgebende Haltung Luthers gegenüber dem Objektivismus und dem Aktualismus dar. Luther wendet sich mit Nachdruck gegen die beiden, wenn sie einseitig verabsolutiert werden. In seinem Kommentar zum Römerbrief wird die Stelle, an der der Apostel Paulus das Ontologische „durch Christus" und das Personale „durch den Glauben" (5,1—2) als zwei Momente derselben Heilstat Gottes zusammenstellt, von Luther interpretiert, als wende sich hier der Apostel „gegen die Vermessenen, die darauf vertrauen, ohne Christus zu Gott Zugang zu haben, wie wenn für sie genüge, daß sie geglaubt hätten. Und so wollen sie allein durch den Glauben (sola fides), nicht durch Christus, sondern an Christus vorbei Zutritt zu Gott haben, als ob sie weiterhin nach Empfang der Rechtfertigungsgnade Christi nicht mehr bedürfen". Diesen, die meinen, allein durch die Subjektivität des Glaubens ohne den geschichtlichen Christus den Weg gefunden zu haben, empfiehlt Luther weiter: „Und doch ist beides notwendig: Zwar Glauben zu haben, aber trotzdem noch gleichzeitig (simul) Christus in Ewigkeit, der in solchem Glauben der Mittler ist." 2 2 Dieselbe ablehnende Haltung zeigt Luther auch denen, die sich auf die ein für allemal geschehene Erlösungstat Christi verlassen, ohne durch den eigenen Glauben an ihr teilzunehmen. Gegen diejenigen, die dem objektiven Heilsgeschehen in 18 19 20 21 22

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A.a.O., S. 1 6 3 . Der theologische Personalismus . S. 3 8 . Ebenda, S. 3 9 . Ebenda. WA, 5 6 , 2 9 8 , 1 7 ; bei G. Gloege, Mythologie und L u t h e r t u m . Das Problem der Entmythologisierung im Lichte lutherischer Theologie, in: L u t h e r t u m , Heft 5, Berlin 1 9 5 2 , S. 1 0 4 .

Christus mit ihrem personalen Glauben nicht antworten, wendet sich Luther in gleichem Maße: „ . gegen die, die allzu sicher einherstolzieren, durch Christus, nicht durch den Glauben, wie wenn sie so durch Christus gerettet würden, daß sie selbst nichts zu tun und nichts vom Glauben zu zeigen brauchten. Die haben einen allzu großen, besser: überhaupt keinen G l a u b e n " 2 3 Die eingeführten Texte lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Weder Objektivismus noch Aktualismus des Heilsgeschehens werden von Luther bekämpft. Wogegen er sich energisch wendet, ist die einseitige Haltung der Christen, die einerseits die Offenbarung als ein rein subjektives Heilsgeschehen betrachten, so daß die Heilsereignisse an sich nicht eine dem Glauben vorangehende und eigenständige Heilswirklichkeit darstellen, sondern erst im Glauben zu einer existentiellen Wirklichkeit werden. Andererseits greift er diejenigen an, deren Zuversicht einseitig auf dem einmaligen Christusgeschehen gegründet ist, in dem die ganze Menschheit objektiv und potentiell erlöst wurde, und sich nicht mehr darum bemühen, durch den Glauben an den geschichtlichen Heilstaten Christi teilzunehmen. S o geht es Luther nicht darum, das eine oder das andere in den Vordergrund zu stellen, sondern wie er selbst sagt: und doch ist beides notwendig". Die Stellungnahme Luthers in der Verhältnisbestimmung zwischen Objektivismus (Ontologie) und Aktualismus, die bis heute ein aktuelles Thema in der Theologie geblieben ist, erweist sich als von großer Bedeutung, wenn man berücksichtigt, daß man sich nicht selten auf ihn berufen hat, um einen reinen Aktualismus der Offenbarung zu begründen; und doch nicht weniger wahr ist aber, daß Luther auch viel Wert auf den objektiven Aspekt des Heilsgeschehens legte. Der Glaube kann nicht aus sich selbst entstehen und auch nicht auf sich beruhen. Bonhoeffer, der um die gegenseitige Bezogenheit von Akt und Sein bemüht ist, schreibt darüber: „Der Glaube stößt auf ein dem Akt vorgeordnetes Sein, er hängt an diesem Sein, weil er sich selbst in es hineingezogen weiß als eine besondere Bestimmtheit dieses Seins. Das Sein ist nicht vom Glauben abhängig, im Gegenteil weiß der Glaube das Sein als von sich und seinem Sein oder Nichtsein völlig unabhängig. Eben daran hängt alles, daß er sich nicht irgendwie als bedingend oder gar schöpferisch, sondern gerade als durch dies Sein bedingt und geschaffen weiß."24 Gerade das personale Denken und die existentialistische Interpretation in der Theologie stellen wesensnotwendig die Frage nach dem Sein der Offenbarung und seinem Ausdruck im theologischen Denken. Die ontologische Problematik muß ihren bestimmten Platz in der Dogmatik ein23 24

WA 56, 299, 1 7 - 1 9 ; bei G. Gloege, Mythologie und Luthertum, S. 105. A k t und Sein. Tranzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, München 1956, S. 96.

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nehmen, sonst würde sich, wie Gloege warnt, eine „Transubstantion des Dogmas in ,reines Kerygma' " vollziehen, die „den prinzipiellen Verzicht auf die Verbindlichkeit und Gültigkeit bezeugter Wahrheiten schlechthin" mit sich bringen würde 25 . Die Anerkennung der Offenbarung als eine objektive Heilswirklichkeit, die in sich „Seinsmächtigkeit" besitzt, ist ein Bekenntnis zu dem verbum externum, den fleisch gewordenen Wort Gottes 26 . Zeichnet sich die protestantische Theologie durch ein besonderes Interesse für die Aktualität und Subjektivität des Heilsgeschehens aus — eine Tendenz, durch die sie schon an ihren Anfängen hervorgetreten ist und die in der Auseinandersetzung mit der katholischen Theologie, von der das Objektive in den Vordergrund gestellt wurde, ihren guten Grund hatte —, so soll jedoch auch der ontologische Aspekt der Offenbarung mitberücksichtigt werden, ohne den es ja theologisch nicht möglich ist, von ihrer Aktualität zu sprechen. Für Gloege, der im Alten und Neuen Testament ausreichende Aussagen mit einem ontologischen Gehalt findet, ist die ontologische Problematik eine unerläßliche Aufgabe der Theologie, an der diese nicht vorbeigehen darf, mag sie noch so sehr an der Heilsgegenwärtigkeit interessiert sein 2 7 . Zum Gehalt des Neuen Testamentes gehören nicht nur die personalen Erlebnisse vieler damals lebender Menschen mit Christus, sondern es steht auch in ihm geschrieben, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Alle Heilstaten Jesu Christi werden zu solchen nicht erst in der aktuell geschehenden Begegnung mit jedem Menschen, sondern sie sind auch außerhalb dieser personalen Erfahrung wirkliche Ereignisse. „Offenbarung heißt Selbstbestimmung Gottes bis ins Ontisch-Vorfindliche hinein. Gottes Verspruch geschieht unter Darreichen von vorfindlich-verfügbaren Pfändern. Gott hat sich selbst verpfändet in dem historischen Jesus von Nazareth, im Wort, im Sakrament Der etwaige Akt unseres Unglaubens macht Gottes Selbstverpfändung nicht unwirksam ,"28 Die ontologischen Aussagen, die die Schrift des Alten und des Neuen Testamentes enthält, finden eine Parallele in den seinshaften Aussagen, die der Mensch in verschiedenen Formen der Antwort seines Glaubens macht. Im Zusammenhang mit dem ontologischen Gehalt, der sich in den Antwortsformen ausdrückte, in denen die Kirche ihren Glauben 25 26

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Der theologische Personalismus . S. 38. G. Gloege, Mythologie und Luthertum, S. 105 bemerkt, „. daß sich Luther weit stärker gegen den Aktualismus als gegen den Objektivismus abgrenzt. Er hat es o f f e n b a r aus dem Wissen heraus getan, daß der Objektivismus in seinem Gegenstande selbst die Möglichkeit in sich trägt, sich j e und j e aktualisieren zu lassen; daß aber der Aktualismus in ganz anderer Weise von der Gefahr der Verkümmerung bedroht ist". Der theologische Personalismus . ., S. 36. Ebenda, S. 4 1 .

bezeugte, r ä u m t E. Schlink ein Mißverständnis aus, das zu einem Vorwurf führte, der der altkirchlichen dogmatischen Entwicklung gemacht wurde. Dieser Vorwurf bestand darin, daß durch die Ü b e r n a h m e der ontologischen Begriffe der griechischen Philosophie in die Formulierung der trinitarischen u n d christologischen dogmatischen Entscheidungen die Reinheit des Evangeliums nicht m e h r b e w a h r t würde. Diesem Vorwurf begegnet E. Schlink, indem er darauf hinweist, daß die Verwendung der metaphysischen Begriffe der alten Philosophie nicht zu einer E n t f r e m d u n g von dem w a h r e n Sinn des Evangeliums geführt h ä t t e , d e n n sie werden mit einem Inhalt gefüllt, der ihre philosophische Bed e u t u n g verändert h a t . Es handelt sich u m eine „ I n d i e n s t n a h m e " und nicht u m ihre Absolutsetzung für die Theologie. „Die metaphysischen Begriffe haben sich hierbei in der Theologie keineswegs ungebrochen durchgesetzt, sondern sie haben bei dieser Indienstnahme für die gottesdienstliche Homologie erhebliche Veränderungen d u r c h g e m a c h t . " 2 9 Deshalb k a n n nicht davon gesprochen werden, daß die ontologischen Aussagen der christlichen D o g m e n u n t e r dem Einfluß der philosophischen Ontologie entstanden sind. Vielmehr gibt es eine theologische Ontologie, die ihren G r u n d in der O f f e n b a r u n g h a t . Die Seinsaussagen des Dogmas sind nicht als eine N a c h a h m u n g oder Ü b e r n a h m e der philosophisch-ontologischen Begrifflichkeit durch die Kirche u n d ihre Theologie zu verstehen, sondern sie sind selbst in der O f f e n b a r u n g gegeben u n d entstehen aus d e m lebendigen Dialog der Kirche mit dem sie ansprechenden Wort Gottes. Bezeichnend als Seinsaussagen sind die Doxologien. Der ausgesprochen ontologische Gehalt der Doxologie ist keineswegs im Z u s a m m e n h a n g mit der ontologischen Begrifflichkeit der griechischen Philosophie zu verstehen, sondern er hat seinen Ursprung im kirchlichen Leben. E. Schlink weist darauf hin, daß schon in der altkirchlichen Gemeinde u n d in den neutestamentlichen Schriften die Doxologie als eine bes t i m m t e A n t w o r t zu verzeichnen ist, die einen ontologischen Gehalt a u f w e i s t 3 0 . Die Eigenart dieser F o r m der A n t w o r t des Glaubens besteht darin, daß der Glaubende einfach G o t t anbetet u n d preist, o h n e ihn dabei u m etwas zu b i t t e n . In der Doxologie geht es allein um G o t t , so wie er immer war u n d sein wird. Die Kirche b e k u n d e t in der Doxologie G o t t e s ewiges u n d unveränderliches Sein. Hier geht es nicht u m einen G o t t , der nur in der p u n k t u e l l e n E r f a h r u n g und Begegnung des Menschen mit ihm existiert, sondern u m den G o t t , der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist, wie E. Schlink es zum Ausdruck bringt: ,,Es geht in der Doxologie nicht n u r u m G o t t e s geschichtliche Tat, sondern um G o t t selbst, u m seine ewige Wirklichkeit." 3 1 29 30 31

Wandlungen im protestantischen Verständnis der Ostkirche, in: Der kommende Christus S. 2 2 3 ; Vgl. J . M e y e n d o r f , Living Tradition, New York 1978, S. 8. Wandlungen S. 223. Die Struktur der dogmatischen Aussage . . ., S. 28.

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Aus der personalen Begegnung mit G o t t , die nur aufgrund des objektiven Heilsgeschehens möglich ist, entwickelt sich eine A n t w o r t der glaubenden Gemeinde, in der das auf die Momente der Begegnung begrenzte Erlebnis überstiegen wird. Die subjektiv-aktualistische Erfahrung mündet in die ontologische Aussage über G o t t ein. „So stellen sich in der doxologischen Entfaltung Seins-, Wesens- und Eigenschaftsaussagen ein, mit denen Gottes ewige, alle Geschichte umgreifende Selbigkeit gepriesen w i r d . " 3 2 Die Aussagen der Doxologie beschränken sich also nicht auf die diskontinuierlichen Akte der personalen Gotteserfahrung, sondern beziehen sich auf den immer seienden und mit sich gleichbleibenden G o t t , der allein ewig und Ursprung seiner selbst ist (Aseität). Die ontologischen Aussagen der Doxologie, wie sie auch sonst in den verschiedenen A n t w o r t e n des Glaubens v o r k o m m e n , schließen die personale Heilserfahrung ein, auch wenn diese vor edlem in der Doxologie nicht ausdrücklich zur Sprache k o m m t . Die Ontologie der Offenbarung und ihre personale Erfahrung gehen ineinander über, und n u r durch beide kann die Wirklichkeit des Heilsgeschehens erfaßt werden.

B) Das Offenbarungsverständnis der orthodoxen Theologie

aus der Sicht

Auch für die o r t h o d o x e Theologie gilt, daß sie die Offenbarung vor allem als Wahrheitenmitteilung betrachtete. Die o r t h o d o x e n Theologen erkennen selbst, daß in der Gotteslehre Gedanken aus der griechischen Philosophie übernommen wurden, wie zum Beispiel die Auffassung von Gott als einer ewigen und unveränderlichen Substanz, die unter dem Einfluß der Scholastik, in der die aristotelische Philosophie überlebte, den Gottesgedanken beeinflußt hat. „We have thus dogmatic theology built more or less after the pattern of scholastic theology with its dependence u p o n ,data' and p r o p o s i t i o n s ' schreibt A. S c h m e m a n n 1 . Mittels des metaphysischen Substanzbegriffes bildete sich eine Gottesvorstellung, die auch das Gottesbild der christlichen Lehrbücher beeinflußte. Bezeichnend für diesen Gottesgedanken ist die ontologische Kategorie der ewigen und unveränderlichen Substanz, wie das Sein Gottes aufgefaßt wurde. Im R a h m e n dieser metaphysischen Ontologie aristotelischer Prägung erwecken das substantialistische Verständnis der Person Gottes und die ontologische Gott-Mensch-Beziehung weniger den Eindruck eines lebendigen und dynamischen, geschichtlich handelnden Gottes und eines Menschen, der seiner personalen Beziehung mit G o t t b e w u ß t ist u n d sich persönlich durch Gottes Botschaft angespro32 1

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Ebenda, S. 28. Liturgy and Theology, in: The Greek Orthodox Theological Review, Brookline, Massachusetts Bd. 17, 1972, S. 96.

chen und gefordert fühlt, auf diese zu antworten, sondern vielmehr eines übergeschichtlichen Gottes und eines Menschen, der ontologisch und virtuell durch die Menschwerdung Christi seine Rettung gesichert und sich in sie einbezogen weiß. Dieses Gottesbild kann mit dem Verständnis einer unmittelbaren Wirkung Gottes in der Geschichte oder, wie Staniloae sich ausdrückt, mit dem „lebendigen Gott der Schrift, des Gebetes und der Liturgie" 2 nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Nissiotis bemerkt, daß die Lehre von dem dreieinigen Gott bei den östlichen Kirchenvätern nicht in Definitionen und als ein formuliertes Dogma festgehalten wurde, „vielmehr wurde sie wesentlich als Gottes unendliche und unbegrenzte Gnade verstanden, die im Leben der Kirche und in der Bibel offenbar wird". 3 Jene intellektualistisch-objektivistischen Züge des Gottes- und Offenbarungsverständnisses, die auch die orthodoxen dogmatischen Schriften kennzeichneten, lassen sich zum Teil auch aus ihrer Anpassung und Anlehnung an die westlichen Theologien erklären. Trotz dieses Einflusses ging das für die östliche Theologie kennzeichnende Verständis der Offenbarung nicht völlig verloren. Ein nichtorthodoxer Beobachter stellt fest, daß die orthodoxen Theologen „die Offenbarung nicht als objektives Sprechen Gottes betrachten, das wegen seiner göttlichen Autorität angenommen werden muß, sondern vielmehr als Geheimnis, als die den Geist durchdringende Wirksamkeit Gottes, die durch den inneren religiösen Sinn im Herzen empfangen wird. Und mehr als eine Lehre halten sie die Offenbarung für ein lebendiges F a k t u m " 4 Die personale Bestimmung fehlt eigentlich nicht gänzlich, doch herrscht im ganzen der Eindruck vor, daß die Offenbarung als Wahrheitenmitteilung definiert wird. Man schreibt zwar, wie P. Rezus, daß Gott „sein Wesen und seinen Willen offenbart", oder daß „durch die Offenbarung Gott in eine Beziehung mit den Gläubigen e i n t r i t t " 5 , doch überwiegt auch bei ihm in seinen früheren Aufsätzen die Auffassung, daß die Offenbarung aus übernatürlichen Wahrheiten besteht. Dieselbe Bestimmung der Offenbarung als Wahrheitenmitteilung kennzeichnet auch ihre Darstellung bei P.N. Trembelas 6 Der personale Charakter der Offenbarung, den man bisher nicht in gebührendem Maße entwickelt hat, wird doch in den meisten dogma2 3 4

5

6

Gott ist Liebe, S. 366. Theologie der Ostkirche, S. 19. Th. Spácil, Doctrina theologicae Orientis separati de revelatione, fide, dogmate. Pars prima: Doctrina theologiae Orientis separati exponitur, Orientalia Christiana XXXI 2, Romae 1933, S. 3 8 1 , nach G.G. Blum, a.a.O., S. 75. Die christliche Lehre von der Struktur der göttlichen Offenbarung aus einem interkonfessionellen Gesichtspunkt, in: Ortodoxia Nr. 1, 1956, S. 58 und 61 (rum.). A.a.O., S. 79.

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tischen Abhandlungen mehr impliziert betrachtet. So wird in dem rumänischen Lehrbuch der Dogmatik, in dem die Offenbarung leider viel zu kurz behandelt und der Fundamentaltheologie überlassen wird, diese nicht nur als Wahrheitenmitteilung definiert, sondern zugleich ihr personaler Charakter als „Selbstoffenbarung" Gottes herausgestellt 7 Beispiele solcher Art, die vermehrt werden könnten, widersprechen trotzdem nicht der Tatsache, daß auch in der orthodoxen Theologie die Offenbarung weniger als personale Mitteilung Gottes denn als göttliche Wahrheitenmitteilung gesehen wurde. Bezeichnend dabei ist, daß ein solches Verständnis nicht so sehr in Einklang mit der Denk- und Lebensweise der alten und der orthodoxen Kirche steht, nach der Gott vielmehr in seiner Offenbarung erlebt wird, der Mensch an seinem Heilsgeschehen teilnimmt und sich mit Gott vereint, als daß er bestrebt wäre, Gott in abstrakten Begriffen zu erfassen. Aus der Theologie der Kirchenväter und vor allem aus dem Leben der Kirche und ihrem Gottesdienst ergibt sich ein Offenbarungs- und Gottesverständnis, das sich durch einen ausgesprochenen Personalcharakter auszeichnet. V. Lossky, der über den Sinn der „Schau Gottes" bei den Kirchenvätern schreibt, stellt in der Auffassung von Klemens von Alexandrien und Orígenes über die Erkenntnis Gottes „Elemente einer religiösen Spekulation und einer intellektualistischen Geistigkeit" fest, die, wenn sie auch nicht allein in ihrem Denken bestimmend waren, doch eine Anpassung an die hellenistische Geisteswelt und eine Neigung zum Intellektualismus und zu einer spekulativen Kontemplation beweisen 8 . Die intellektualistische Prägung der Gotteserkenntnis bei Klemens und Orígenes ist aber nicht für die ganze alte Kirche bezeichnend, vielmehr zeugt dies von einem Anfangsstadium in der Begegnung der Kirche mit der griechischen Philosophie, die dann von der Kirche „von Grund auf umgeformt und überwunden wird" 9

1. Die trinitarische und christologische des Personverständnisses

Bestimmung

Wenn für die patristische Theologie das Problem der göttlichen Hypostasen vorrangig war und sie intensiver als die Personbestimmung des Menschen beschäftigte, so war diese auch ein wichtiges Thema, das von 7 8 9

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Die dogmatische und symbolische Theologie, Bd. 1, Bukarest 1 9 5 8 , S. 170 (rum.). Schau Gottes, Deutsche Ausgabe, Zürich 1964, S. 52. Ebenda, S. 53; Zu dem Anteil der griechischen Philosophie an der Entwicklung des altkirchlichen Dogmas, der jedoch nicht zur Verfälschung der geoffenbarten Wahrheit führt, vgl. E. Benz, Geist und Leben der Ostkirche, S. 3 7 f.

vielen Kirchenvätern in Zusammenhang mit den biblischen Aussagen über den Menschen als Bild und Ebenbild Gottes behandelt wurde, wenn sie auch keine ausgesprochene Anthropologie entwickelten. 1 0 Im Mittelpunkt der christlichen Anthropologie steht der Personbegriff, der im Lichte der Trinitätslehre und der Christologie betrachtet wird. Dieser trinitarische und christologische Ansatzpunkt des theologischen Personverständnisses ist für V. Lossky bei einem theologischen Denken, das auf die Offenbarung gründet, selbstverständlich. 11 Die Bestimmung der Person und des personalen Denkens in der orthodoxen Theologie erfolgt nicht aufgrund einer immanenten anthropologischen Analyse des Personbegriffes. Die Auffassung von der Person Gottes bildet sich nicht erst aus der Analogie mit der Person des Menschen, aus einer anthropologischen Projizierung auf Gott. Auf diesem Weg vom Menschen zu Gott wäre der Mensch derjenige, der Gott nach seinem Bilde schafft. Die Frage nach der Person des Menschen läßt sich von Gott her beantworten. Der Mensch ist von Gott nach seinem Bilde geschaffen (Gen. 1,27). Die in der Offenbarung enthaltene Behauptung, der Mensch trage in sich das Bild Gottes, bestimmt nach P. Evdokimov grundsätzlich seinen „theomorphischen" Personcharakter: Nicht der Mensch schafft Gott nach seinem Bild, sondern umgekehrt. Nicht die Idee Gottes ist anthropomorphisch, sondern die Idee des Menschen ist theomorphisch. 1 2 Es kann nicht geleugnet werden, daß sich der Mensch in der Beziehung zu anderen Menschen realisiert. Der tiefere Sinn seines Personseins eröffnet sich jedoch für ihn nur in der Beziehung mit der Person Gottes. Die menschliche Person steht in einem Bezugshorizont mit der göttlichen Person. Außerhalb dieser Beziehung wird sich der Mensch nicht gänzlich verstehen und definieren können, wozu Nissiotis schreibt: die Person des Menschen definiert sich nicht durch sich selbst. Sie muß neuerschaffen werden und sich im Hl. Geist wiederfinden" 13 Das Personverständnis in der orthodoxen Theologie geht von der Personalität Gottes aus und sieht in ihr die Personalität des Menschen begründet. Sie vertritt ein theozentrisches und ein christozentrisches Personverständnis. Der Personbegriff bildet sich nicht aus abstrakten Reflexionen, son10

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Vgl. B. Zenkowsky, Das Bild v o m Menschen in der Ostkirche, Stuttgart 1951, S. 7 f. Zum Verständnis der orthodoxen Anthropologie aus der Sicht der altkirchlichen Theologie siehe folgende Beiträge in: Contacts. Revue française de l'orthodoxie, X X V Année Nr. 84, 4 e trimestre, Paris 1973: P. Nellas, Théologie de l'Image: essai d'anthropologie orthodoxe, S. 259—286; D. Staniloae, L'homme image de Dieu dans le m o n d e , S. 287—309; Chr. Yannaras, Person et Communion, S. 310—316; J. Coman, Eléments d'anthropologie dans les œuvres de Saint Justin, martyr et philosophe, S. 31 7—337. A l'image et à la ressemblence de Dieu, Paris 1967, S. 110. Les Ages de la vie spirituelle, Paris 1964, S. 53. Vers une théologie existentielle. Reflexions sur l'ouvrage de P. Evdokimov: L'Orthodoxie, in: Contacts 13, 1961, S. 43.

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dem ist primär am lebendigen Dialog Gottes mit den Menschen orientiert, der sich im ganzen Offenbarungsprozeß vollzogen hat. Chr. Yannaras versteht die Offenbarung als Aufruf Gottes als Person zu einer personalen Beziehung mit den Menschen. 1 4 Mit dem trinitarischen Dogma, dem „Herz der orthodoxen Theologie", wie 0 . Clément es nennt 1 5 , bildet sich der Personbegriff in der alten Kirche, wo er von der personalen intertrinitarischen Beziehung bestimmt war. Von der trinitarischen Terminologie: Ousia, Prosopon, Hypostase, die sich auf die dreipersonale Wesenseinheit Gottes bezieht, können aufschlußreiche Gedanken für das Personverständnis des Menschen abgeleitet werden. Hierzu bemerkt Evdokimov, daß in der Theologie der Väter das Mysterium des Menschen im Lichte des trinitarischen Dogmas analysiert wurde. 1 6 Das intertrinitarische Leben der dreigöttlichen Hypostase ist von ihrer gegenseitigen Beziehung bestimmt. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist stehen in einer hypostatischen personalen Beziehung zueinander. „Die Hypostase wird durch ihre Beziehung Vater, Sohn, Heiliger Geist, bestimmt." 17 Daher bedeutet Hypostase oder Person sich selbst transzendieren in der Begegnung mit einem anderen, Eröffnung für eine Beziehung 18 . Das trinitarische Leben ist eine Existenz in der Kommunion. Aus der Offenbarung erfahren wir, daß Gott Liebe ist, und daß er die Menschen liebt und sich für sie geopfert hat (Joh. 3,16). Diese Begriffe: Kommunion, Liebe und Opfer, spielen in der orthodoxen Theologie eine bedeutende Rolle, weil hier die Art der Beziehung Gottes mit den Menschen meistens so dargestellt wird. Sie zeugen von einer dynamisch-personalen Gott-Mensch-Beziehung, von der Lebensgemeinschaft zwischen Gott und Menschen. Zur Erkenntnis Gottes gelangt der Mensch innerhalb dieser Beziehung. Die Liebe ist ein Schlüsselwort für das Personverständnis. Wenn von der Liebe Gottes zu den Menschen, die die Antwort, die Liebe des Menschen erwecken soll, oder von der Liebe zwischen den Menschen gesprochen wird, dann kann nur von einer zwischenpersonalen Beziehung die Rede sein. Wenn Gott Liebe ist, bedeutet dies zuerst, daß die drei göttlichen Personen ein von der Liebe getragenes interpersonales Leben führen. Zuerst gibt es in Gott eine interpersonale Beziehung, die er nicht nur auf den trinitarischen Kreis begrenzt, sondern in sie werden auch die Menschen einbezogen. Eine Beziehung ist nur auf einer personalen Ebene möglich. Als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist sind die drei göttlichen Hypostasen eine 14 15 16 17 18

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A.a.O., S. 3 1 2 . L ' h o m m e c o m m e lieu théologique, in: Contacts 13, 1 9 6 1 , S. 2 9 3 . Mystère de la personne humaine, in: Contacts 2 1 , 1 9 6 9 , S. 2 8 3 . P. Evdokimov, Die Frau und das Heil der Welt, München 1 9 6 0 , S. 5 4 . P. Evdokimov, Mystère de la personne humaine, S. 2 8 5 .

bestimmte Person, gerade weil sie in einer Beziehung miteinander stehen. Durch Jesus Christus sind auch die Menschen als „Kinder Gottes" in eine Sohnschaftsbeziehung zum himmlischen Vater einbezogen. In Christus, der personifizierten Gott-Mensch-Beziehung, wird das personale Offenbarungsverständnis auch christologisch begründet. In ihm ist Gott in die äußerste Nähe des Menschen gekommen, so nahe, daß eine göttliche Person selbst Mensch geworden ist. Das Ereignis der Menschwerdung ist in der orthodoxen Kirche so lebendig, daß es für die Theologie nicht zu übersehen war, welche Konsequenzen sich daraus für das Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung ergeben. Durch den Begriff der Vereinigung wird die Gott-Mensch-Beziehung in geeigneter Weise beschrieben. In Jesus Christus begegnet Gott nicht einfach dem Menschen; Gott wird Mensch, das Göttliche und das Menschliche vereinigen sich in der gott-menschlichen Person Jesu Christi. Durch die Vereinigung und die Teilnahme wird in der orthodoxen Theologie die besondere Art der Gott-Mensch-Beziehung ausgedrückt. Mit der trinitarischen dogmatischen Entscheidung von Nicäa, ebenso mit der christologischen Formulierung von Chaicedon bildet sich in der Kirche der ersten Jahrhunderte eine Auffassung von der Person, die die griechische Philosophie nicht kannte. Diese beschäftigte sich vielmehr mit dem Problem der Natur und dem des Wesens. Sie war in dieser Hinsicht mehr eine „Wesens"-Philosophie, ohne daß sie bis zu dem Begriff der Person vorgedrungen wäre, wie H. Urs von Balthasar in seinem Buch über Maximus den Bekenner bemerkt 1 9 Nestorius und Eutyches konnten die griechische Dimension der „Natur" und der „Wesenheit" nicht überwinden. „Ihr Fehler war es, die Synthese auf der Ebene der Natur selbst zu suchen und sie dann als Synthese naturhafter Vermögen (Nestorius) oder als naturhafte Einheit (Eutyches) zu beschreiben. Die Lösung bleibt also so lange unmöglich, als man keine andere Seinsdimension kennen will als die der ,Natur' oder der .Wesenheit' — die Dimension der alten griechischen Philosophie." 2 0 Der Begriff der Person und der Beziehung, durch die sich im Grunde der Mensch als Person behauptet und verwirklicht, entsteht auf christlichem Boden. „Die Entdeckung dieser Dimension, die sich mit der Nichtidentität von Wesen und Dasein, Essenz und Existenz als dem fundamentalsten Sachverhalt alles weltlichen Seins eröffnet, ist eine Frucht des christlichen Bewußtseins, dem allererst die Beziehung zwischen Schöpfergott und wurzelhafter Kontingenz der Welt aufgegangen war. Dieselbe Beziehung aber war es, an der zum erstenmal auch der volle

19 20

Kosmische Liturgie. Das Weltbild M a x i m u s ' des Bekenners, 2. Aufl., Einsiedeln 1961, S. 209. E b e n d a . S. 2 0 7 .

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Begriff und das metaphysische Wesen des Personseins ablesbar wurde "21 Das geschlossene eindimensionale ontische Denken der griechischen Philosophie wird durchbrochen. Eine statische Welt der Essenz- und Wesensbegriffe sieht sich vor eine neue Seinsdimension gestellt. Bedeutend an der Formulierung des christologischen Dogmas war nicht nur, daß hier die Person als eine neue Kategorie in Erscheinung tritt, sondern auch, daß sie nicht vom Wesen, von der Natur getrennt zu verstehen ist. Person und Sein gehören zusammen. In diesem Sinne schreibt Evdokimov: „Die Person ist eine Weise der Existenz, die das Gesamt eines Wesens durchdringt und es persönlich' macht. Sie ist zugleich Inhalt und Träger dessen, dem das Wesen angehört, und in welchem es lebt". 2 2 Das christologische Dogma erweist sich von grundlegender Bedeutung für das theologische Personverständnis. Die Vereinigung des Menschen mit Gott vollzieht sich aufgrund der personalen Kommunikation der Gottheit mit der Menschheit, die in der hypostatischen Union in Christus eine konkrete Wirklichkeit wird. Die syrische Jakobus-Liturgie drückt dies so aus: „Du hast verbunden, o Herr, deine Gottheit mit unserer Menschheit, und unsere Menschheit mit deiner Gottheit, dein Leben mit unserer Sterblichkeit, und unsere Sterblichkeit mit deinem Leben; du hast empfangen, was unser war und hast uns das Deinige gegeben, zum Leben und zum Heil unserer Seelen, dir sei Ruhm in Ewigkeit." 2 3 Jesus Christus hat die Beziehung zu einer wesentlichen Dimension der Person gemacht. Die Person des Menschen erfährt in der Vereinigung mit Gott eine theandrische Dimension. In Christus, schreibt Evdokimov, „ist die menschliche Natur vergöttlicht und in eine göttliche Person hypostasiert" 2 4 . An der Menschwerdung seines Sohnes zeigt sich vor allem, daß Gott sich persönlich offenbart. Gott wird Mensch in Christus, führt eine irdische Existenz und offenbart sich als ein lebendiger Gott, der sich nicht begnügt, Prinzipien aufzustellen, sondern dem Menschen entgegenkommt, unseren Leib annimmt und in uns wohnt.

2. Die personale Struktur des Gottesdienstes als Wirkungsbereich des Heiligen Geistes und die Theologie Besondere Bedeutung für die Bildung einer personalen Auffassung von der Offenbarung kommt dem Gottesdienst zu. Das Leben in der Kirche, vor allem der Gottesdienst, werden mit der Theologie in einen engen 21 22 23 24

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Ebenda. S. 2 0 7 - 2 0 8 . Die Frau und das Heil der Welt, S. 55. Bei N. von Arseniew, Ostkirche und Mystik, München 1943, S. 92. Die Frau und das Heil der Welt, S. 57.

Zusammenhang gebracht, weil sie in der alten Kirche in besonderer Weise zusammengehören. Das Verhältnis zwischen Theologie und Gottesdienst läßt sich an der Festsetzung der Dogmen verdeutlichen. Die altkirchlichen Dogmen sind von dem gottesdienstlichen Leben der Kirche nicht zu trennen. Die doxologische Struktur des Dogmas, das sich eben nicht als eine intellektualistische Durchdringung und Formulierung des Heilsgeschehens versteht, zeugt von seinem inneren Zusammenhang mit dem Gottesdienst, in dem es auch angewendet wurde. Das Dogma ist nicht ein Produkt einer rationalen und abstrakten Betrachtung über das Heilswerk Gottes und auch kein Versuch, die Offenbarung in den Grenzen des Verstehens zu formulieren. Im Rahmen des Gottesdienstes, wo das Dogma seinen „Sitz im Leben" hat, muß es mit dem gesamten Gottesdienst als eine Antwort des Glaubens der Kirche auf die personale Offenbarung Gottes verstanden werden. Das Dogma in der alten Kirche wurde wie der Gottesdienst und in Zusammengehörigkeit mit ihm als Antwort des Glaubens verstanden. E. Schlink stellt in dieser Hinsicht die Gemeinsamkeit der orthodoxen mit der alten Kirche heraus, wenn er schreibt, ,,. daß die Ostkirche in eben derselben Struktur dogmatischer Aussagen bleiben wollte und geblieben ist, in der die dogmatische Entwicklung der alten Kirche begonnen hatte: in der Struktur der doxologischen Homologie, die die im Gottesdienst versammelte Gemeinde anstimmt und Gott darbringt. In der Ostkirche ging es nicht nur um die Erhaltung des Wortlautes des nun einmal Formulierten und in der Kirche Üblichen, sondern sie ist der Struktur des altkirchlichen Ansatzes treu geblieben, nämlich der Struktur eines solchen Bekennens, das gottesdienstlicher Lobpreis und verpflichtende Lehre zugleich ist" 2 5 . Der Gottesdienst entwickelt sich als Antwort der Gemeinde an Gott entsprechend dem Verständnis der Offenbarung als personales Sprechen und Handeln Gottes an den Menschen. Staniloae sieht einen Charakterzug der orthodoxen Kirche darin, daß hier „Gottes Schöpfungs- sowie Erlösungswerk nicht ein Gegenstand theoretischer Lehre, sondern begeisternden Lobes ist, genau wie für den Psalmisten des Alten Bundes" 2 6 . Anhand der Stellung des Dogmas innerhalb des Gottesdienstes ließe sich auch die Frage nach dem Ort und dem Verständnis der Theologie in der alten Kirche als implizit gegeben beantworten. Es ist nicht zufällig, daß das altkirchliche Dogma mit dem Gottesdienst eng verbunden ist. E. Benz hebt den engen Zusammenhang zwischen dem Dogma und der Liturgie in der orthodoxen Kirche hervor. Das Dogma wird hier nicht nur als eine theoretische Abgrenzung gegenüber den Irrlehren betrachtet, sondern sie erfüllt auch eine gottesdienstliche Funktion: „Liturgie und Dogma, Anbetung und Bekenntnis, Gebet und theologische Meditation 25 26

Wandlungen ., S. 226. Einige charakteristische Merkmale der Orthodoxie, in: Kyrios 10, 1970, S. 15.

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und Spekulation sind also nicht zu trennen. Das Dogma ist ein Bestandteil der lebendigen Anbetung." 2 7 Das Dogma wird nicht in theologischen Kreisen gedacht und formuliert, die ihrerseits nicht innerhalb der Kirche stünden, so daß es der Kirche „von außen" her normativ aufgesetzt würde. Die Entstehung des Dogmas und seine Eingliederung in den Gottesdienst sind nicht isoliert zu sehen von der Stellung, die die Theologie in der alten Kirche einnimmt. Die Theologie steht hier nicht für sich allein, sondern in innigster Verbindung mit dem Leben der Kirche. Geht sie nicht vom Leben der Kirche aus, läuft sie Gefahr, sich zu einem System zu entwickeln, einem Selbstprodukt theoretischer Konstruktionen verschiedener Theologen, die über Gott und seine Offenbarung reflektieren. A. Schmemann ist der Meinung, daß sich selbst in der orthodoxen Theologie, die sich in der Kontinuität mit der liturgischen und doxologischen Theologie der ökumenischen Konzilien verstanden wissen will, das ursprüngliche Verhältnis zwischen Liturgie und Theologie gelockert hat, und glaubt deshalb, von einer Krise der Theologie und der Liturgie sprechen zu müssen 28 . Das Verhältnis zwischen der Liturgie, Theologie und Kirche interessiert deshalb, weil es sich für das personale Verständnis des Heilsgeschehens als höchst relevant erweist. Eine unpersonale und versachlichende Darstellung der Offenbarung steht in einem Zusammenhang mit der Entfremdung der Theologie von der Kirche, in der das Christusgeschehen durch die Einwirkung des Heiligen Geistes vergegenwärtigt wird. Die Wiedergewinnung des personalen Verständnisses des geschichtlichen Heilswerkes von der heutigen Theologie ist wiederum nicht isoliert zu sehen von ihrer wachsenden Bewußtwerdung, daß sie eine Theologie der Kirche, in der Kirche und für die Kirche sein muß. Die Krise, von der Schmemann spricht, bestünde nach ihm in der Entfremdung der „lex credendi" von der „lex orandi" 2 9 . Das hat natürlich Folgen sowohl für die Liturgie als auch für die Theologie. Für die erstere bedeutet es, daß „the liturgy ceased to be viewed and experienced as the epiphany of the Church's faith, as the reality of her experience as Church and, thereforeas the source of her theology" 3 0 . Ohne die „lex credendi" wird die Liturgie allmählich synonym mit Kult und Ritus, so daß ihre ursprüngliche Bedeutung verlorengeht. Für die Theologie sind die Konsequenzen nicht weniger negativ. Die Ursache dieser Krise, in die die orthodoxe Theologie gerät, ist nach Schmemann in ihrer „western captivity" zu sehen. Unter dem Einfluß der westlichen Theologie werden die innere Einheit und das Gleichgewicht zwischen der „lex 27 28 29 30

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Geist und Leben der Ostkirche, 2. Aufl., München 1971, S. 39. Liturgy and Theology, S. 8 6 - 1 0 0 . Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 91.

credendi" und der „lex orandi" gestört, die sie in ihren Anfängen charakterisierten. Die westliche Theologie hat sich zu „an objective or scientific theology" entwickelt 31 . Die lebendige Einheit mit der „lex orandi" ist dadurch gebrochen. Die Krise der östlichen Theologie beginnt dort, wo sie eine „objektive" Theologie wird. Sie unterstellt sich dadurch einer Wandlung, die sie wesentlich verändert und sie von ihrem ursprünglichen Sinn entfernt. Um diesen Unterschied hervorzuheben, kehrt Schmemann zum patristischen Zeitalter zurück, in dem die Theologie eng verbunden mit dem gottesdienstlichen Leben war und aus diesem hervorging. Der Glaube und das Leben der Kirche im Gottesdienst gehörten so zusammen, daß das eine nicht ohne das andere verstanden werden konnte, und beide bildeten für die Theologie eine einzige Wirklichkeit, in der diese ihre Quelle hatte. Das Leben der Kirche war von der Erfahrung des Glaubens bestimmt. Die Theologie war „a part and a fruit of that experience" 3 2 , in der sich der Glaube widerspiegelte. Dieser wurde nicht als Aneignung göttlicher Wahrheiten aufgefaßt, sondern als eine „relationship to certain events: the Life, Death, Ressurection and Glorification of Jesus Christ a relationship which makes her a constant .witness' and participant' of those events, of their saving, redeeming, life — giving and life — transfiguring reality" 3 3 . Weder der Glaube noch die Erfahrung der Kirche bildeten allein das Kriterium der Theologie. Es muß betont werden, daß diese Erfahrung nicht irgendeine war, sondern das Erlebnis des Glaubens. Der Inhalt und der Bezugspunkt der Theologie war der Glaube als Erfahrung und Gottesbeziehung. 34 Die Theologie ist an den Glauben der Kirche, der sich in ihrem gottesdienstlichen Geschehen offenbart, gebunden. Sie schöpft nicht aus sich selbst. Betrachtet die Theologie den Glauben nicht als Inhalt der Lebenserfahrung der Kirche, so ist sie eher dazu geneigt, die Offenbarung abstrakt darzustellen. Analysiert die Theologie dagegen den Glauben als ein im Gottesdienst erlebtes Ereignis, in dem die Kirche die Präsenz ihres Herrn erfährt, so gewinnt sie von daher ein lebendiges und personales Offenbarungsverständnis. Die Theologie soll von dem in der Kirche erlebten Glauben ausgehen und zu ihm führen. „In this sense, it is never autonomous, never self-contained and self-sufficient." 35 Die Krise der östlichen Theologie, von der Schmemann spricht, ist zugleich ein liturgisches und ein theologisches Problem. Es könnte auch

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Ebenda, S. 8 9 . 3 2 Ebenda, S. 9 0 . 3 3 Ebenda. Ebenda. Das Verständnis der Theologie als Zeugnis wird hier offenkundig. Vgl. hierzu: N.A. Nissiotis, Die Aufgabe einer Theologie der Kirche, in: KuD 2 3 , 1 9 7 7 , S. 4 8 ff. A. Schmemann, Liturgy and Theology, S. 9 6 .

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nicht anders sein bei der engen Verbindung der Theologie mit der Liturgie. Die Überwindung dieses Zustandes wird erreicht durch ,,a liturgical critic of theology and a theological critic of the liturgy" 3 6 zur Rückgewinnung jener lebendigen Einheit zwischen Liturgie und Theologie. Die Ausführungen von Schmemann sind ein wichtiger Beitrag sowohl für den Hinweis auf die Bedeutung der Liturgie und des in ihr erlebten Glaubens für die Theologie als auch für die Hervorhebung jenes ursprünglichen Sinnes der Theologie, der in der Liturgie, in der erlebten Einheit von „lex credendi" und „lex orandi" tief verwurzelt war. Die Zusammengehörigkeit von Theologie und Liturgie war auch eine Garantie dafür, daß die Offenbarung nicht als ein System von Wahrheiten, vielmehr als ein personales Geschehen und in personalen und erfahrungsmäßigen Kategorien aufgefaßt wurde. Fraglich bleiben aber die Behauptungen Schmemanns, daß die Theologie und die Liturgie der orthodoxen Kirche wirklich in einer so tiefen Krise stecken, auch wenn man seine Kritik im gewissen Maße als berechtigt und als Mahnung betrachtet. Sicher kann ein Einfluß der westlichen auf die östliche Theologie nicht angezweifelt werden 31. Man muß auch zugestehen, daß das ursprüngliche Verhältnis zwischen Theologie und Liturgie mit der Zeit an Substanz verloren hat. Es wäre indessen nicht ganz zutreffend anzunehmen, die östliche Theologie sei dem westlichen Einfluß völlig erlegen und ihre Krise sei allein dem westlichen Einfluß zuzuschreiben. S. Bebis spricht vielmehr von einer Krise, die die Kirche und die Theologie immer — auch in ihren Blütezeiten — begleitet hat. „Were not the two first centuries of the Christian Church centuries of crisis? What about the times of the Great Ecumenical Councils? " 3 8 So wenig man über solche kritische Bemerkungen hinwegsehen sollte, so wenig wird man weder von einem leeren liturgischen Ritualismus noch von einem abstrakten theologischen Intellektualismus in der orthodoxen Kirche und Theologie sprechen. Das liturgische Leben dieser Kirche hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Offenbarung von den Gläubigen als ein personales Geschehen erlebt wird. Die orthodoxe Liturgie, in der das Erlösungsgeschehen in Christus anschaulich gemacht 36 37

Ebenda, S. 95. Zu den westlichen Einflüssen auf die Theologie der Ostkirche vgl. die Referate auf dem Athener Kongreß, in: Procès-Verbaux du Premier Congrès de Théologie Orthodoxe à Athènes, Hrsg. H.A. Alivisatos, Athen 1939, von Erzb. Chrysostomos, Die äußeren Einflüsse auf die orthodoxe Theologie im XVI. und XVII. Jahrhundert, S. 1 9 3 - 2 0 8 ; M. Dyovunniotis, Die äußeren Einflüsse auf die orthodoxe Theologie, besonders seit der Eroberung Konstantinopels, S. 209—211; G. Florovsky, Westliche Einflüsse in der russischen Theologie, S. 212—231. Dieser Einfluß wirkte sich nach Florovsky als eine Entfremdung zwischen Theologie und kirchlichem Leben aus, vor allem S. 229. 38 Liturgy and Theology: A Response, in: The Greek Orthodox Theological Review, Bd. 77, 1972, S. 111.

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und durch die Einwirkung des Heiligen Geistes gegenwärtig wird, vermittelt daher nicht primär eine Lehre oder etwas über Gott, sondern in ihr wird Christus gegenwärtig. In der Liturgie hören, begegnen und empfangen die Gläubigen im Hl. Geist J e s u s Christus. Alles, was in der Liturgie geschieht, deutet auf die personale Begegnung mit Gott hin. Die gesamte Liturgie ist in besonderer Weise ein Gespräch der Kirche mit Gott, sei es, daß die Gläubigen ihm danken, Fürbitte für sich selbst oder für den Mitmenschen vorbringen oder ihn in doxologischen Hymnen lobpreisen. Hier begegnen und erfahren die Gläubigen Gott unmittelbar in allen seinen Heilstaten, die jetzt für sie im Hl. Geist wiederum geschehen. Wie der ganze Gottesdienst ist die Liturgie die Antwort des Menschen auf die Heilstaten Gottes und als Mittel zu verstehen, durch das Gott am Menschen wirkt. ,,Gott wirkt auf die Gläubigen durch den Kult, durch die heiligen Sakramente, und die Gläubigen fühlen es und teilen Gott mit, was sie f ü h l e n . " 3 9 D e s h a l b ist der Gottesdienst eine Widerspiegelung des Heilsgeschehens im Menschen, der seine Zustimmung und Anerkenntnis zum Ausdruck bringt. Nach Nissiotis ist der Gottesdienst „nicht in erster Linie eine Initiative des Menschen, sondern Gottes Erlösungstat in Christus durch den Heiligen Geist Wir bringen zurück, was er uns dargebracht hat und weiterhin darbringt durch die K r a f t des Parakleten, seines Geistes, indem er zum Gottesdienst versammelte Gemeinschaft zu diesem Zweck vereint"40. Indem die Kirche das Wort verkündet und die Sakramente feiert, bleibt sie in personaler Beziehung mit Christus. Diese Gewißheit bekunden die Priester und die Gläubigen während der Liturgie, indem sie sich gegenseitig mit den Worten begrüßen: „Christus ist in unserer Mitte. Er ist es und wird es sein." In der Sprache der Liturgie zeigt sich, daß es hier um einen lebendigen Dialog und um eine personale Beziehung zwischen Gott und Menschen geht. Gott wird überall mit Du angesprochen. Im Gebet sprechen die Gläubigen mit Gott, fühlen sich unmittelbar mit ihm in Beziehung: „Dir singen wir, dich segnen wir, dir danken wir, Herr, und beten zu dir, unser G o t t . " 4 1 Als Antwort der Kirche auf die personale Offenbarung Gottes ist der Gottesdienst von demselben Charakter geprägt. Dieser ist aus dem Dialog der Kirche mit der Offenbarung, aus dem Glauben an sie und als solcher unter der Wirkung des Heiligen Geistes entstanden. Der Gottesdienst hat eine biblische Grundlage. Wegen der Fülle symbolischer Handlungen und Bilder wird dies oft übersehen. Das liturgische und sakramentale Leben der orthodoxen Kirche lassen den Eindruck 39 40 41

D. Staniloae, Einige charakteristische Merkmale ., S. 16. Die Theologie der Ostkirche ., S. 114. Der o r t h o d o x e Gottesdienst, Bd. 1, Hrsg. S. Heiz, Mainz S. 2 4 3 .

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entstehen, daß hier der Bibel weniger Raum zugeteilt wird. Im Gottesdienst sind biblische Texte und Ereignisse aufgenommen. In ihm nimmt die Lesung aus den Evangelien und den anderen Büchern der Bibel einen wichtigen Platz ein. Man könnte den Gottesdienst als eine Paraphrase, als eine Umschreibung der göttlichen Offenbarung betrachten. „Every prayer and hymn of each Liturgy, Sacrament, or service includes Scriptural material and expresses some Biblical event .", schreibt D.I. Constantelos 4 2 , der den hohen biblischen Gehalt der drei orthodoxen Liturgien und einiger Sakramente herausgearbeitet hat. Im Gottesdienst wird die Offenbarung als Inhalt der HI. Schrift transparent und anschaulich dargestellt. Die Botschaft der Schrift wird im Gottesdienst durch die Kraft des Heiligen Geistes eine lebendige Wirklichkeit, gegenwärtig ergehende Heilstat Gottes an der im Glauben an Christus versammelten Gemeinde. Der Gott des Gottesdienstes ist nicht ein abstrakter, sondern ein lebendiger Gott, der sich der Menschen erbarmt, wie aus diesem liturgischen Gebet der Chrysostomos-Liturgie deutlich wird: „Herr, unser Gott, nimm auf dieses eindringliche Gebet deiner Knechte; erbarme dich unser nach der Größe deiner Barmherzigkeit. Laß herabkommen dein Mitleid über uns und dein ganzes Volk denn ein erbarmender und menschenliebender Gott bist du, und dir senden wir Verherrlichung, dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist ." Staniloae beschreibt die der Orthodoxie eigene Denkweise, die vor allem im Gottesdienst zum Ausdruck kommt, folgendermaßen: „Der orthodoxe Gläubige verachtet nicht die Reflexion über Gott und sein Erlösungswerk, doch macht er diese Reflexion im Geist des Zwiegesprächs mit Gott, es ist eine Reflexion des Partners, der Gott lobt, ihm dankt und von ihm etwas verlangt, es ist eine Reflexion im lebendigen Rahmen des Dialogs, in der Erfahrung des göttlichen Geheimnisses." 4 3 Die Erfahrung Gottes schließt die theologische Reflexion über Gott nicht aus. Die gottesdienstlichen Aussagen sind nicht ein Ergebnis rationaler Durchdringung des Gottesgeheimnisses, sondern die Widerspiegelung der Gotteserfahrung. Die Aussagen, die über Gott gemacht werden, sind nicht ein Produkt menschlichen Denkens, sondern nach Nissiotis die Widerspiegelung des Wortes Gottes in diesem, das durch den Heiligen Geist erleuchtet wird 4 4 . Die Bedeutung, die die orthodoxe Theologie der Pneumatologie beimißt, wurzelt im Glauben der Kirche, daß sie das Heilsgeschehen im Heiligen Geist gegenwärtig erlebt. Die Vergegenwärtigung der Offenbarung ist das Werk des Heiligen Geistes. Im gottesdienstlichen Ge42 43 44

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The Evangelical Character of the Orthodox Church, in: Journal of Ecumenical Studies, Bd. 9, 1972, S. 5 4 8 . Einige charakteristische Merkmale S. 16—17. Remarques sur le renouveau de la théologie systématique, in: La Pensée Orthodoxe, Paris 1966, S. 132.

schehen der Kirche gibt der Hl. Geist den Gläubigen Anteil an dem Erlösungswerk Christi und stellt sie in eine lebendige und personale Beziehung mit Gott. Der Hl. Geist offenbart uns nach Staniloae „die göttliche Realität nicht durch intellektuelle Theorie, sondern als geheimnisvolles L e b e n " . 4 5 Das personale Erleben des Heilswerkes Christi ist nur im Heiligen Geist möglich (1. Kor. 12,3). Basilius von Cäsarea schreibt in seiner Abhandlung über den Hl. Geist: „ E s gibt überhaupt keine Gabe, die ohne den Heiligen Geist der Schöpfung z u k o m m t . " 4 6 Zum Heilsgeschehen in Christus gehört auch die Mitwirkung des Hl. Geistes. Die Erfüllung der Offenbarung im Leben der Kirche ist das Werk des Hl. Geistes. Die Begegnung mit Christus geschieht nur durch den Hl. Geist. „Christus ist allein im Geist und durch den Geist in seiner Kirche gegenwärtig", schreibt Nissiotis, der auf eine etwas vernachlässigte Funktion der Pneumatologie innerhalb der Christologie hinweist. Weiter fügt er hinzu: „Christus darf niemals vom Geist Gottes getrennt werden. Seine Fleischwerdung und Auferstehung sind das Werk des Lebensspenders, des Parakleten." 4 7 Die drei göttlichen Hypostasen bekunden nicht sich allein, vielmehr gibt jede Zeugnis von den anderen und setzt die Mitwirkung der anderen voraus, auch dann, sagt V. Lossky, wenn ein Teil der Offenbarung einer bestimmten Person zugesprochen wird 4 8 . Deshalb soll nicht nur von einer pneumatologischen Christologie, sondern in gleichem Maße auch von einer christologischen Pneumatologie gesprochen werden. J e s u s Christus teilt sich den Menschen im Heiligen Geist mit, und was der Heilige Geist bezeugt und erfüllt, ist die Person und das Heilswerk J e s u Christi. Lossky weist die Zusammengehörigkeit von Christologie und Pneumatologie hin. J e s u s Christus bewirkt die Einheit seines mystischen Leibes durch den Hl. Geist, während der Hl. Geist sich den Menschen durch Christus mitteilt. 4 9 Die pneumatologische Christologie, die von der Kirche vor allem in der Liturgie während der eucharistischen Verwandlung der Opfergaben und auch während des gesamten Gottesdienstes als ein gegenwärtiges Geschehen erlebt wird, und ihre bedeutende Stellung in der orthodoxen Theologie war eine der Hauptursachen, die die Verobjektivierung und die intellektualistische Entartung des Offenbarungsverständnisses verhindert haben, oder dafür, daß sie nur eine Randerscheinung in der orthodoxen Theologie geblieben ist.

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E i n i g e c h a r a k t e r i s t i s c h e M e r k m a l e . ., S. 15. Ü b e r den Heiligen G e i s t . Ü b e r s e t z t v o n M. B l u m , F r e i b u r g / B r . , 1 9 6 7 , S . 8 7 . Die T h e o l o g i e der O s t k i r c h e S. 67. V . L o s s k y , E s s a i sur la t h é o l o g i e m y s t i q u e d e l'Eglise d ' O r i e n t , A u b i e r , Montagne 1 9 4 4 , S. 1 5 7 . E b e n d a , S. 163.

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3. Personales Offenbarungsverständnis in der neueren orthodoxen Theologie Das personale Verständnis des Heilsgeschehens besitzt in der Ostkirche eine lange Tradition, die an den Kirchenvätern anknüpft, die sich von dem Zwang des Systems des logisch-rationalen Denkens der griechischen Philosophie befreit und sich dem Logos als Person zugewandt haben. Das zentrale Thema der patristischen Theologie ist nicht so sehr die theoretische Erkennbarkeit Gottes, sondern dessen Erfahrung in der personalen Beziehung zu ihm. Die zahlreichen und lebhaften Kontroversen in der alten Kirche lassen keinen Zweifel daran, daß das Geheimnis des Offenbarungsgeschehens nicht auf erkenntnismäßigem Wege zu erfassen ist. In ihrem Kampf mit dem Arianismus machten die Kirchenväter geltend, daß das Wesen Gottes nicht faßbar ist und daß sich sein Mysterium unserem diskursiven Denken entzieht. Die intellektualistische alexandrinische Mystik eines Clemens und Orígenes, die der hellenistischen heidnischen Welt das Evangelium in einer ihr vernehmbaren Weise vertraut machen wollte 5 0 , wird bald mit der Theologie der Kappadozier überwunden 51 . Die Gefahr des Intellektualismus, die mit dem Arianismus laut wurde, und seine Ablehnung durch die Kirche beweist, daß die Erkenntnis der Offenbarung anderer Natur ist als der des logischen Denkens. V. Lossky 5 2 und P. Evdokimov 53 , die das Problem der Erkenntnis Gottes in der patristischen Theologie untersucht haben, heben hervor, daß in der Theologie der östlichen Kirchenväter Gott nicht als Gegenstand der Erkenntnis betrachtet wird, vielmehr als ein lebendiger Gott, mit dem wir in einer personalen Beziehung stehen. Wenn auch der Mensch Gott in seinem Wesen nicht erfassen kann, so kann er ihn doch in der Offenbarung erleben. Die Antinomie zwischen der kategorialen Erkenntnis und dem Offenbarungsgeheimnis bleibt für die patristische Theologie bestehen und ist für sie ein Beweis, daß die göttliche Wahrheit anderer Art ist als die, die den Gegenstand rationaler Erkenntnis ausmacht. In der lebendigen Erfahrung Gottes, die der Mensch im Gebet und während des Gottesdienstes macht, werden die Grenzen der Erkenntnis überwunden. Die Theologie der Väter, bemerkt Nissiotis, bleibt nicht an einem spekulativen und systematischen Denken haften, sondern sie gab dem von dem Mysterium Gottes und seiner Gnade durchdrungenen kirchlichen Leben den Vorrang und orientierte sich an der dynamischen Erfahrung des Heils in der Kirche 54 . 50 51 52 53 54

122

V. Lossky, Schau Gottes, S. 36—55; P. Evdokimov, La connaissance de Dieu, selon la tradition orientale, Lyon 1967, S. 46. P. Evdokimov, La connaissance de Dieu, S. 51 f. Schau Gottes. La connaissance de Dieu, S. 39—82. Remarques . . ., S. 129.

Ähnliches wie für die Dogmen, die nicht als abstrakte metaphysische Definition verstanden wurden 5 5 , gilt auch für die Theologie der patristischen Zeiten, als sie nicht theoretische Sätze und Definitionen aufstellte, sondern sich, nach der Bemerkung Schmemanns, als eine Darstellung der lebendigen Erfahrung der Kirche verstand 5 6 . Die Teilnahme an der Offenbarung Gottes war für sie nicht eine erkenntnismäßige, sondern sie versteht sich als eine personale Beteiligung. Es ging nicht primär darum, etwas über G o t t zu wissen, sondern Gott selbst zu begegnen und ihn zu erleben. Die Väter, die das philosophische Denken ihrer Zeit kannten, blieben, wie Evdokimov sagt, nicht bei einer begrifflichen Theologie, sondern „sie strebten nach einer Erkenntnis, die Liebe wird, nach einer energetischen und dynamischen T h e o l o g i e . " 5 7 Es kann selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß es in der Offenbarung auch um ein Wissen und Erkennen geht. Die Erkenntnis ist der Erfahrung Gottes koimpliziert. Dies ist nicht eine blinde Erfahrung, die die Reflexion über Gottes Heilstaten ausschließt, doch die Offenbarung kann nicht als reine Lehre betrachtet werden, und ihr Sinn wird nicht ausgeschöpft, wenn sie mit Hilfe rationaler Erkenntnis untersucht und durch eine intellektuelle Aufnahme angeeignet wird. Es gibt nicht eine intellektuelle Erlösung, sondern eine personale, die den Menschen in seiner ganzen Person angeht. Das zentrale Thema der patristischen Theologie besteht nicht darin, die Offenbarung mittels logischer Denkkategorien zu erfassen, vielmehr ist sie darum bemüht, die Beziehung Gottes mit den Menschen zum Ausdruck zu bringen und zu vertiefen. Die Begriffe der Teilhabe und der Vereinigung mit G o t t , die bei den Vätern eine große Rolle spielen, bestärken den Eindruck, daß in der Mitte ihrer Theologie die lebendige Erfahrung und Beziehung mit G o t t gestanden hat. Deshalb entsteht auch ihre Theologie aus dieser Erfahrung und führt zur Vertiefung dieser Erfahrung. Evdokimov nennt sie „von der Erfahrung bestimmter Weg der Vereinigung mit G o t t . " 5 8 Zur Bewußtwerdung und zur Ausbildung einer personalen Auffassung von der Offenbarung hat die christozentrisch orientierte Theologie der Väter wesentlich beigetragen. Ihre starke Zuwendung zu der konkreten Person J e s u Christi hat eher dazu geführt, daß diese Theologie den Weg der Vereinigung mit Christus, den Inhalt und den Sinn der Beziehung mit G o t t zu beschreiben bemüht war, statt theoretisch über das Chri55

56 57 58

P. Evdokimov, La connaissance de Dieu, S. 1 7 — 1 8 : „Alle dogmatischen Kämpfe für die Wahrheit während der ökumenischen Konzilien verteidigten keine formelle, theoretische und abstrakte Erkenntnis, sondern ihre Absicht war es, den einzigen rettenden und damit höchst lebensnahen Weg deutlich zu machen, nämlich die Vereinigung mit G o t t . " A.a.O., S. 9 0 . La connaissance de Dieu, S. 2 0 . Ebenda, S. 18.

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stusgeschehen zu reflektieren und es in ein Begriffssystem einzuordnen. Evdokimov charakterisiert die Theologie der Väter als eine Theologie, die sich nicht in ein System zwingen läßt; sie orientiert sich an dem liturgischen „Opus Dei" und entwickelt sich o f t in der Nähe, in der Form des Gebets und des Gesprächs mit G o t t 5 9 Nissiotis bezieht sich auf dasselbe Verständnis der Offenbarung, wenn er den eucharistischen Charakter der Theologie der Väter hervorhebt 6 0 . Die Theologie der Väter ist nicht isoliert von den großen dogmatischen Entscheidungen der frühen Kirche zu sehen. Deshalb kann es nicht verwundern, daß ihre Theologie von demselben Geist beherrscht wurde, da ja viele unter ihnen an diesen beteiligt waren. Die Zusammengehörigkeit von Kult und Dogma, wie sie in der frühen Kirche zu einer erlebten Wirklichkeit wurde, prägt auch die Theologie der Kirchenväter. In diesem engen Zusammenhang mit dem Gottesdienst als eucharistische, dankende, bittende und doxologische Antwort auf die Heilstaten Gottes steht auch das Verständnis des Heils in der patristischen Theologie. Hier geht es nicht um einen reinen intellektualistischen Erkenntnisakt, sondern um eine Einstellung der ganzen Person, die sich zu dem offenbarenden Gott verhält. Deshalb spricht Nissiotis von einer theologischen Erkenntnis in der Anerkenntnis und Dankbarkeit. 6 1 Die Theologie der östlichen Kirchenväter ist auf die personale Beziehung des Menschen mit Gott ausgerichtet. Als ein gemeinsames Merkmal dieser Theologie gilt die Unmöglichkeit, auf rationalem Wege Gott in seinem Wesen zu erkennen. Was Gott in seinem Wesen ist, sagt Gregor von Nyssa in seiner Schrift „Das Leben Moses", kann nicht erfaßt und beschrieben werden 6 2 . Die mystische Erfahrung und die Vereinigung, die die personale Beziehung mit Gott ausdrücken, lassen sich weder mit einer intellektualistischen und abstrakten Kontemplation, mit einer intellektualistischen Mystik, noch mit einer passiven sentimentalen Versenkung und Auflösung in Gott identifizieren 63 , sondern sind eine Beziehung und Vereinigung, wie Lossky sagt, „des ganzen Menschen mit dem ganz gegenwärtigen G o t t " 6 4 . Die ablehnende Haltung dieser Theologie gegenüber einem intellektualistischen Gottesverständnis, das Gott unter Erkenntnisgegenstände einreiht, bedeutet nicht, daß die Rolle des Denkens und der 59 60 61 62

Ebenda. Remarques . S. 131. Ebenda, S. 131. La vie de Moïse, in: Sources Chrétiennes. Introduction, Texte Critique et Traduction, de J. Daniélou, S.J., 3 è m e edition, Paris 1968, S. 213: ά λ λ α και

πάση νοητή φύσει της θείας ουσίας την γνώσιν ανέφικτον είναι τη άποφάσει ταύτη διοριζόμενος. 63 64

124

Ν.Α. Nissiotis, La théologie en tant que science et en tant que doxologie, in: Irénikon Bd. 33, Chevetogne 1960, S. 301. Schau Gottes, S. 132.

theologischen Reflexion geringgeschätzt werden, sondern sie wendet sich damit gegen den Versuch, Gott und das Offenbarungsgeschehen in ein System hineinzuzwingen, das von rationalem und logischem Denken beherrscht wird, in dem für die lebendige Erfahrung Gottes kein Platz mehr bleibt. Im Gegensatz zu einer intellektualistischen Gotteserkenntnis, mit der sich die Väter der Ostkirche auseinandergesetzt haben, da der Einfluß der griechischen Philosophie noch lebendig war, nimmt in ihrer Theologie, die sich stark an der Heiligen Schrift orientierte, die personale Beziehung des Menschen mit Gott eine bedeutende Stellung ein. So hat die orthodoxe Theologie in der Theologie der Kirchenväter eine weitreichende Tradition eines personalen Denkens, wenn auch nicht zu übersehen ist, daß sie sich nicht immer auf der Linie des patristischen Denkens bewegte und von einer objektivierenden Deutung der Offenbarung nicht unberührt geblieben ist. In dieser Hinsicht erweist sich die Kritik Schmemanns, die sich im Vergleich zu den meist apologetischen Darstellungen orthodoxer Theologen durch ein Mehr an Sachlichkeit auszeichnet, als berechtigt. Die Überwindung eines sachhaften Verständnisses der Offenbarung, die auch in der neueren orthodoxen Theologie erfolgte, fällt mit ihrer erneuten stärkeren Zuwendung zu der patristischen Theologie zusammen, in deren Folge sie sich von einer statisch-ontologischen Denkart zu befreien versucht und neben dem historisch-objektiven und ontologischen Verständnis auch eine dynamisch-lebendige Betrachtung des Heils gewinnt. Die Personalität der Offenbarung bedeutet nicht nur, daß sich Gott als Person offenbart, sondern in seinem Personsein sucht er die Menschen und stellt sich mit ihnen in eine personale Beziehung. Jesus Christus nimmt die Sünde der Menschen auf sich und tritt für sie vor Gott ein. Die Offenbarung zeigt Gott nicht in sich, sondern in seiner personalen Existenz für die Menschen. Das Wort Gottes ist Mensch geworden, nicht damit Gott sich in seinen unbegrenzten Existenzmöglichkeiten zeigt, sondern damit der Mensch gerettet werde. Das war nach Florovsky das Hauptanliegen der Theologie der Väter: „In Patristic theology the Mystery of Christ has been always presented and interpretated in the perspective of Salvation. It was not just a speculative problem. It was rather an existential problem. Christ came to solve the problem of man's destiny." 6 5 Die Menschwerdung des Sohnes Gottes ist nicht eine abstrakte oder symbolische Vereinigung Gottes mit dem Menschen, sondern ein wirkliches personales Geschehen, das von seiner Tat am Menschen zeugt. Für Nissiotis ist die theologische Erkenntnis ebensowenig eine objektive Erkenntnis im üblichen Sinn, wie wenig Gott Objekt dieser Erkenntnis ist. „Wenn Gott zum Objekt wird, bedeutet dies, daß der Schöpfer selbst zum Geschöpf seines Geschöpfes wird." 6 6 65 66

The Ethos of the Orthodox Church, in: EcRev, Bd. 12, Genneva 1960, S. 194. La théologie en tant que science . . S. 300.

125

Gegenstand der Theologie ist die personale Mitteilung Gottes in der Offenbarung und die personale Teilnahme des Menschen am Heilsgeschehen. Die Wirksamkeit der Selbstmitteilung Gottes, die in Christus durch den Heiligen Geist allen Menschen im Glauben zuteil wird, muß nicht nur als eine historische Tat betrachtet werden, die in der Theologie zum abstrakten Gegenstand wird, sondern diese hat sich mit der konkreten und personalen Teilnahme des Menschen an dem Heilsgeschehen in Christus zu beschäftigen, die nur deswegen möglich ist, weil Gott sich mitgeteilt hat. Der Bezug der Theologie auch auf die gegenwärtig geschehende Christusgeschichte wird sie daran hindern, die Offenbarung gegenständlich und abstrakt zu betrachten. Die personale Mitteilung Gottes bedeutet aber nicht, daß das Wesen Gottes sich in einem ständigen Werden befindet. Für Staniloae ist weder der Gott, der völlig unbeweglich ist, noch der, der notwendigerweise einem Werden unterworfen ist, eine freie Person. Person ist nur ein Gott, der „wesenhaft immer derselbe bleibt und verschiedener Handlungen in völliger Freiheit fähig ist" 6 7 Die Akte der Offenbarung sind Handlungen Gottes als Person. In ihrer Vielfalt und Verschiedenheit offenbart Gott seine Liebe zu den Menschen. In ihnen teilt sich Gott den Menschen mit, denn sie sind nicht leere Handlungen, die von ihm nichts offenbaren würden. Die Selbstmitteilung Gottes in seinen nach außen gerichteten Akten ist nicht so zu verstehen, als wären diese Handlungen Gottes seine einzige Existenzweise. In seiner personalen Mitteilung geht Gott in die Beziehung mit den Menschen ein, aber nicht in ihr auf. Staniloae erläutert dies so: ,,Ιη Wirklichkeit besteht darin das Geheimnis der Person, nicht nur bei Gott, sondern auch bei den Menschen, einerseits teilt er sich mit, andererseits besteht sie unvermindert in sich . " 6 8 Die Existenz Gottes ist nicht von seinen Offenbarungsakten abhängig; er unterliegt keinem inneren Zwang und keiner Notwendigkeit, so daß er auch aufhören würde zu existieren, wenn er sich nicht offenbarte. Vielmehr ist seine personale Mitteilung eine freie Entscheidung seines Willens, und er will, daß die innertrinitarische personale Beziehung sich auch auf die Menschen erstreckt und sie in einer personalen Gemeinschaft mit ihm einschließt. Die orthodoxe Auffassung von den Akten Gottes will gerade die personale Existenz und Wirkung Gottes in seiner Offenbarung darstellen. Nach Lossky ist Gott in seinem Handeln selbst gegenwärtig und wirkt in seinen Akten unmittelbar persönlich — nicht als eine entfernte Ursache: „Die orientalische Tradition kennt keine übernatürliche Ordnung, die zwischen Gott und der geschaffenen Welt stünde, und wie eine neue Schöpfung zu ihr hinzuträte Das .geschaffene' übernatürliche existiert für sie nicht. Nur in der Schöpfung wirkt Gott als Ursache . . . In 67 68

126

Gott ist Liebe, S. 369. Ebenda, S. 371.

den Energien ist G o t t , existiert Er, t u t er sich ewig k u n d . Sie sind eine göttliche Seins weise, an der wir Anteil gewinnen, wenn wir die Gnade e m p f a n g e n . Sie sind, auch in der geschaffenen u n d vergänglichen Welt die reale Gegenwart G o t t e s in allen Dingen, die m e h r ist als die bloße ursächliche Gegenwart in dem von I h m Bewirkten." 6 9 In der Menschwerdung Gottes in J e s u s Christus finden die o r t h o d o x e n Theologen einen eminenten Beweis des personalen Offenbarungsverständnisses. Mit d e m Hinweis auf den Logos des Johannesevangeliums argumentiert Staniloae, daß es in der O f f e n b a r u n g um Gottes personale Mitteilung geht. Gerade d a d u r c h , daß mit diesem Namen eine Person gemeint ist, nämlich J e s u s Christus, der nicht in einer „ k o n t e m p l a t i v e n Einsamkeit, sondern in der Beziehung l e b t " , zeigt sich, daß hier das Wort nicht als Sinn oder als eine unpersönliche Idee dargestellt wird, sondern der Evangelist hier von J e s u s Christus spricht, in dem „sich G o t t selbst uns n ä h e r t , nicht aber als Sinn, denn dann blieben wir doch allein, sondern in seiner personalen N ä h e " 7 0 . Die O f f e n b a r u n g vermittelt nicht eine für G o t t stellvertretende Botschaft. G o t t ist nicht nur der Urheber dieser Botschaft, sondern in ihr ist er selbst wirkend anwesend. „Das Christentum b e d e u t e t nicht eine von G o t t gesendete B o t s c h a f t , sondern G o t t selbst, der in die Welt g e k o m m e n ist, als Objekt der O f f e n b a r u n g . G o t t ist O b j e k t u n d Subjekt der O f f e n b a r u n g zugleich. Er zeigt sich, teilt sich den Menschen mit, m a c h t sich als Inhalt der Ich-Du-Beziehung mit d e m Menschen u n d bleibt zugleich Subjekt dieser Beziehung, die er g r ü n d e t . " 7 1 Ähnlich b e t r a c h t e t auch Sirbu die Menschwerdung als eine personale K o m m u n i kation Gottes mit d e m Menschen: „In der Inkarnation findet die große Begegnung des Menschen mit G o t t s t a t t . " 72 G o t t hat in seiner Offenbarung nicht an erster Stelle Lehren u n d Wahrheiten mitteilen wollen, wenn diese auch nicht auszuschließen sind. Die Wandlung von einem vorwiegend Lehroffenbarungsverständnis zu einem personalen Offenbarungsverständnis hat sich auch in der o r t h o d o x e n Theologie vollzogen 7 3 . P.I. Bratsiotis b e t r a c h t e t die O f f e n b a r u n g als „Selbstmitteilung Gottes Ü b e r m i t t l u n g göttlichen Lebens u n d göttlicher K r a f t "74.

69 70 71 72 73

74

Die Mystische Theologie der morgenländischen Kirche. Aus dem Frz. von Miryam Prager OSB, Köln 1961, S. 1 1 3 - 1 1 4 . Jesus Christus . ., S. 74. Ebenda, S. 98. Die Menschwerdung als Offenbarung, S. 5 2 2 . Dies trifft für die rumänische orthodoxe Theologie ebenfalls zu. Vgl. P. Rezus und C. Strbu, Fundamentaltheologische Bemühungen in der rumänischen Theologie, in: Ortodoxia, Nr. 4, 1971, S. 528 (rum.). Offenbarung-Bibel-Tradition und Kirche, in: Die Autorität der Bibel heute, S. 19.

127

Zusammenfassung Aus dem Anspruch der Offenbarung, an alle Menschen gerichtet zu sein, ergibt sich, daß sie nicht nur als einmalige, sondern zugleich als immer neue gegenwärtige Tat Gottes zu verstehen ist. Die Transzendenz der Offenbarung bedeutet nicht, daß Gott sich den Menschen außerhalb ihres geschichtlichen Daseins durch eine innere vertikale Einwirkung offenbart. Zum Eigentümlichen der Offenbarung gehört nicht nur, daß sie gemäß ihrem göttlichen Ursprung wie auch Inhalt eine transzendente Wirklichkeit ist, sondern daß sie als solche sich innerhalb der Geschichte ereignet und zu einer geschichtlichen Tatsache wird. Da die Offenbarung Gott selbst zu ihrem Subjekt hat und als seine Tat gilt, ist sie nicht nur als ein Ereignis zu verstehen, das nach seinem einmaligen unwiederholbaren Vollzug der Vergangenheit angehört, sondern sie erweist sich auch in der Geschichte als wirksam und wird in der Kirche durch Wort und Sakrament gegenwärtige Heilstat Gottes am Menschen. Entsprechend diesen beiden Bestimmungen der Offenbarung als einem vergangenen Ereignis und als aktuellem Handeln Gottes gilt sie als historisch einmalige und zugleich geschichtliche im Sinne der gegenwärtig geschehenden Heilstat Gottes. Die Wirklichkeit der Offenbarung kann in ihrer gesamten Bedeutung weder allein auf dem Wege eines objektiven Historismus noch abgetrennt von ihrem einmaligen historischen Ereignis nur als ein existentiell-geschichtliches Geschehen betrachtet, erfaßt werden. Ohne „extra nos" gibt es auch kein „pro m e " des Offenbarungsgeschehens. Beide bilden eine unlösbare ontologische Einheit, die in der personalen Einheit und Identität des historischen Jesu mit dem erhöhten Christus als Subjekt und Objekt des historischen und gegenwärtigen Erlösungsgeschehen begründet ist. Der Glaube entsteht aus und zehrt von der ein für alle Male historisch geschehenen Christusgeschichte. Weder wird der Glaube als der Inhalt der Offenbarung in der orthodoxen Theologie als eine mehr historische und objektive Tatsache betrachtet, noch wird er in der evangelischen Theologie als ein nur existentielles Geschehen aufgefaßt. Genausowenig wie die starke Bindung der orthodoxen Kirche an die Tradition, die zweifellos auch das Moment der Bewahrung des apostolischen Glaubens einschließt, rechtfertigt die Bedeutung, die dem Wort als existentielle Anrede in der evangelischen Theologie beigemessen wird, die Annahme, daß die Offenbarung jeweils nur historisch oder aktualistisch verstanden wird. Gerade weil die Geschichte der Offenbarung nicht parallel zu der Menschheitsgeschichte verläuft, sondern diese inmitten der Geschichte geschieht und die Offenbarungsereignisse mit denen der Menschheitsgeschichte verflochten sind, gilt es, die Heilsereignisse von den übrigen der allgemeinen Geschichte abzuheben und ihre Eigentümlichkeit von dem 128

Strom der übrigen geschichtlichen Ereignisse zu unterscheiden. Wenn Gott in der ganzen Geschichte der Menschheit wirkt, auch außerhalb seiner Offenbarung in Christus, so besteht jedoch ein Unterschied zwischen seinem allgemeinen und speziellen personalen Wirken in der Offenbarung. Deshalb können die Heilstaten Gottes nicht mit allen Ereignissen der Weltgeschichte gleichgesetzt werden. Zur Besonderheit der Offenbarung gehört weiter, daß sie die personale Tat Gottes am Menschen ist und nicht eine Idee oder eine S u m m e von Lehren und Wahrheiten, wenn auch damit nicht geleugnet werden soll, daß sie Lehren und Wahrheiten enthält, nur daß diese nicht primär unter dem Begriff der Offenbarung zu verstehen sind. In der Offenbarung geht es vor allem um die personale Selbsterschließung Gottes, der sich durch seine Worte und Taten, durch die er in der Geschichte auf die Menschen wirkt, ihnen mitteilt. Beide, das Wort und die Tat, gelten als Mittel der Offenbarung, und durch beide wird ihre personale Bestimmung zum Ausdruck gebracht. Das Wort und die Tat sind aufs engste mit dem Begriff des Handelns Gottes verbunden. Sowohl in der evangelischen als auch in der orthodoxen Theologie gelangte man zu einem personalen Offenbarungsverständnis. Das Evangelium ist heilswirkender Zuspruch Gottes. Durch die biblische Botschaft handelt G o t t am Menschen und teilt ihnen nicht ein System von objektiven Lehren und Wahrheiten, sondern seine Heilsgnade mit. Die neuere evangelische Theologie knüpfte dabei an die Theologie Luthers an, dessen theologischer Grundsatz personal und von dem Verständnis des Evangeliums als Heilshandeln Gottes geprägt war. Die biblische Botschaft hat Gott nicht nur als ihr Objekt, vielmehr ist er das wirkende Subjekt, das durch sie uns näherkommt und auf uns wirkt. Der personale Charakter der Offenbarung kann nun nicht bedeuten, daß die Theologie auf ontologische und objektive Aussagen verzichten muß, als ob diese im Gegensatz zu der Personalität der Offenbarung stünden. Das Offenbarungsverständnis umfaßt ontologische und aktualistische Aussagen. Ebenso setzte sich das personale Verständnis der Offenbarung in der orthodoxen Theologie durch, vor allem durch ihre Rückwendung zu der Theologie der alten Kirche, die bestrebt war, zu einer vertieften personalen Erfahrung des Glaubens zu verhelfen. Der Bezug der Theologie zu dem konkreten Leben der christlichen Gemeinde ist in der alten Kirche unverkennbar. Sie entwickelt sich nicht losgelöst von der Kirche, steht in ihrem Dienste und führt zu dieser hin, weil es für sie ein primärer Grundsatz war, daß die Offenbarung die Erlösung der Menschen in der Kirche bedeutet und daß in ihr Gott selbst am Werke ist. Die Offenbarung wird als Erlösung aufgefaßt. Der enge Zusammenhang der Theologie mit dem gottesdienstlichen Geschehen der Kirche und das Verständnis der Offenbarung als Erlösung, an der man in der Kirche in personaler Beziehung mit Christus teilhat, haben wesentlich zu dem personalen Verständnis der Offenbarung beigetragen.

129

TEIL II DIE T R A D I T I O N

I. Die Tradition aus der Sicht der evangelischen Theologie 1. Kritik und Zustimmung in Bezug auf die

der Reformation Tradition

Mit der Reformation verbindet sich eine radikale Infragestellung der Tradition. Woran sich vor allem die unerbittliche Kritik der Reformation an der Tradition entzündete, entnimmt man dem Sachregister der „Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche", wo Tradition im Plural verwendet und mit „Menschensatzungen" übersetzt wird. Darunter werden Vorschriften, Sitten und Gebräuche verstanden, die in der mittelalterlichen Kirche zu den bekannten Mißständen führten. Auf diese vom Menschen erfundenen Bräuche bezieht sich die Augsburgische Konfession: „Darüber wird gelehret, daß die Satzungen und Traditionen, von Menschen dazu gemacht, daß man dadurch G o t t versuhne und Gnad verdiene, dem Evangelio und der Lehre vom Glauben an Christus entgegen seind." 1 Da die Bekenntnisschriften keine differenzierte Terminologie in Bezug auf die verschiedenen Bedeutungen der Tradition gebrauchen und der Begriff der Tradition meist mit menschlichen Lehren und Gebräuchen assoziiert wurde, blieb die Tradition, wie K.E. Skydsgaard dazu bemerkt, ein „für evangelische Betrachtungsweise immer stark belasteter Ausdruck"2. Geht man von diesem Begriff der Tradition aus, so versperrt sich von vornherein der Zugang zu dem eigentlichen Traditionsverständnis, und man erhält ein mit Vorurteilen belastetes Bild von der Einstellung der Reformation zu der Tradition. Die Bedeutung der Tradition für die Reformation zeigt sich nach E. Schlink in der tatsächlichen Anwendung der Tradition: „Die Stellung der Tradition wird noch nicht erkannt,

1 2

XV, 15 ff. (S. 6 9 - 7 0 ) . Schrift und Tradition. Bemerkungen zum Traditionsproblem in der neueren Theologie, in KD 1, 1955, S. 169. 131

wenn man allein ihren Traditionsbegriff berücksichtigt. Vielmehr ist zu untersuchen, welchen Gebrauch sie faktisch von der Überlieferung gemacht h a t . " 3 Die heftige Kritik der Reformation an der Tradition beschränkte sich nicht nur auf die kirchlichen Traditionen als „Menschensatzungen", wie diese in der mittelalterlichen Kirche praktiziert wurden, die sie für „unchristlich und v e r d a m m p t " 4 erklärte, sondern erstreckte sich auch auf die Väter der alten Kirche. Die Schrift erkannte sie als den einzigen Träger des Wortes Gottes an; an ihr müßte alles geprüft und bewertet werden. Die Schrift ist die Garantie für die Reinheit der apostolischen Botschaft. a) Luther Eine zweifache Tendenz kennzeichnet die Haltung der Reformation gegenüber den Kirchenvätern. Einerseits ist sie darum bemüht, die Übereinstimmung mit den Vätern der alten Kirche nachzuweisen, auf die sie sich oft beruft, andererseits wird ihre Autorität angezweifelt und ihnen viel Kritik erteilt. Ihre Tradition ist nicht mehr als Menschenlehre, und deshalb sind sie dem Irrtum ausgesetzt. Dazu schreibt Luther: „Iam quanti errores in omnium patrum scriptis inventi s u n t . " 5 Luther, der seinen Gegnern gegenüber von sich behauptet: „Denn ich habe die Veter auch gelesen. Ich habe mehr gelesen, denn sie m e i n e n " 6 , geht grundsätzlich davon aus, daß die Schriftauslegung der Väter nicht entscheidend und normativ sein kann und daß ihre Tradition nichts Neues und nicht mehr aufweisen kann, als die Schrift selbst enthält. Alle stehen unter dem Urteil der Heiligen Schrift. Die Schriften der Väter sollen nicht als eine Instanz betrachtet werden, die den Sinn der Schrift normativ auslegen, denn ihre Schriften stehen nicht neben der Heiligen Schrift, sondern sie selbst berufen sich auf sie und stützen sich immer in dem, was sie lehren, auf die Schrift. „Quod si non ita est, cur Augustinus et sancti patres, quoties vel pugnant vel docent, ad sacras literas ceu prima principia veritatis recurrant et sua vel obscura vel infirma illarum luce et firmitate illustrant et confirmant? " 7 Die Schriften der Väter brauchen die Bestätigung durch die Schrift und nicht umgekehrt: „verba divina esse apertiora et certiora omnium hominem, etiam suis propriis verbis, ut quae non per hominum verba, sed hominum verba per ipsa docentur, probeantur, aperiantur et firman-

3

4 5 6 7

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Zum Problem der Tradition. Thesen für ein ökumenisches Gespräch zwischen Theologen der evangelischen und der orthodoxen Kirche, in: Der kommende Christus. S. 197. AS:C XIII, 19 (S. 461). WA 7, 98. WA 50, 519. WA 7, 98.

t u r . " 8 Nur die Worte der Schrift werden verba divina genannt und gelten als „prima principia" 9 Der Schrift allein kommt absolute Autorität und Unfehlbarkeit zu und ihr sind alle Väter unterworfen, deren Schriften die Heilige Schrift nicht erhellen und ergänzen, sondern deren Wert hängt davon ab, wie sie sich von dieser leiten lassen und mit ihr übereinstimmen 10. Die Unverbindlichkeit der Tradition der Väter und ihr Charakter einer Menschenlehre wird in den Bekenntnisschriften mit der Tatsache begründet, daß die Väter selbst untereinander uneinig sind und daß viele von ihnen sich geirrt haben: ,,Et patrum magna dissimilitudo est. Homines errant et labi ac decipi p o t e r a n t . " 1 1 Luther bewertet ihren Dienst am Evangelium unterschiedlich. Sie „blieben auff dem gründe, das ist, im glauben Christi, werden selig und heissen Gottes heiligen, haben gleichwohl heu, stro, holtz, das durchs feur der Heiligen Schrift muß verbrennen" 12. Man soll sich deshalb nicht mit ihren Schriften begnügen und sie nicht als Norm für den Glauben betrachten: „Es gilt nicht, daß man aus der heiligen Väter Werk oder Wort Artikel des Glaubens m a c h t . " 1 3 Trotz aller Achtung für ihre Leistungen soll man zu der Quelle der Wahrheit und des Lebens gehen, die nur die Heilige Schrift ist, wie es Luther am Beispiel von Bernard von Clairveaux erläutert, über den er schreibt: „das er die heiligen Veter wol hochhalte, aber nicht alles achte, was sie gered haben, setztet ein solche ursach und gleichnis: Er wolle lieber aus dem Born selbs, weder aus den bechlin trinken, wie denn alle Menschen thun, wo sie aus der quelle mügen trinken." 14 Luthers Bewertungsskala der altkirchlichen Väter reicht von anerkennenden Äußerungen, wenn er sie zur Untermauerung seiner Auffassung heranzieht, bis zu Behauptungen wie dieser: „Denn wo S. Augustinus aus der Veter zal geworffen wird, so sind die andern nicht viel werd "15 Luthers Beurteilung der Väter erfolgt aus ihrer Gegenüberstellung zu der Heiligen Schrift. Die Schrift ist die einzige Norm christlichen Glaubens: „Es heisst, Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand, auch kein Engel." 1 6 Die Tradition kann der Schrift nichts hinzufügen, und sie kann sich nicht neben die Schrift stellen,

8 9 10 11 12 13 14

15 16

WA 7, 98. WA 7, 98. WA 7, 100. Apol. XXIV, 95 (S. 3 7 5 ) ; WA 50, 5 4 2 . WA 50, 544. Vgl. hierzu E. Schlink, Theologie . S. 25 f. AS:B II, 19 (S. 4 2 1 ) . WA 50, 5 2 0 . Vgl. B. Hägglund, Verständnis und Autorität der altkirchlichen Tradition in der lutherischen Theologie der Reformationszeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, in: Oecumenica, 1 9 7 1 / 7 2 , S. 35 ff. WA 50, 526. AS:B II, 2 3 - 2 5 (S. 4 2 1 ) .

133

auch wenn sie ihre Notwendigkeit der Schrift gegenüber als deren Auslegerin beansprucht. Das wäre unvereinbar mit dem Absolutheitsanspruch der Schrift. Die Auslegung der Väter stellt keine Autorität neben der Schrift dar; „ N o l o omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare, nec eam meo spirito aut ullorum hominum interpretan, sed per seipsam et suo spiritu intelligi v o l o . " 1 7 Die dunkleren und schwerer verständlichen Stellen der Schrift werden durch andere deutliche erhellt und dadurch, daß man sie in dem Gesamtkontext der Schrift interpretiert. Dieser Methode haben sich auch die Väter bedient, die sich in ihren Behauptungen auf die Schrift gestützt und ihre Überlegungen nicht erfunden, sondern aus der Schrift abgeleitet haben: „Drumb ist zu wissen, das die schrifft on alle glose ist, die sonne und ganzis licht, von welcher alle lerer yhr licht empfahen, und nicht widderumb Wo die vetter ettwas leren, so trawen sie yhrer lere nit, sorgen, sie sey zu finster und ungewiß, und lauffen yn die schrifft, nemen eynen klaren spruch daraus, damit sie yhr ding erleuchten wenn sie eynen ort der schrifft auslegen, so thun es nit mit yhrem eygen synn oder wort (denn wo sie das thun, wie o f t geschieht, da yrren sie gemeyniglich), sondern bringen eynen andern ort erzu, der klarer ist, und also schrifft mit schrifft erleuchten und auslegen." 1 8 Damit will Luther beweisen, daß die Schriften der Väter nicht Norm des Glaubens sein können, da sie ihrerseits auf die Schrift verweisen. In seiner Schrift „ V o n den Konziliis und Kirchen" (1539) beruft er sich auf Augustinus, wenn dieser in einem Brief an Hieronymus schreibt, daß er allein die Heilige Schrift für nicht irrig hält, sonst die anderen Schriften der Väter nur in dem Maße als richtig betrachtet, wenn sie das, was sie behaupten, durch die Schrift beweisen. Weiterhin erwähnt Luther, daß Augustinus schreibt, daß man den Glauben nicht an seinen Schriften, sondern an der Heiligen Schriften vergewissern und auf sie stützen soll 1 9 Luthers Einstellung zu den Vätern soll jedoch nicht als eine ablehnende Haltung angesehen werden trotz seiner manchmal scharfen Äußerungen ihnen gegenüber, vielmehr als eine kritische Beurteilung. Ihre Schriften, in denen sich ihre Treue zu der apostolischen Botschaft widerspiegelt, und ihre auf ihnen beruhende Autorität will er nicht bestreiten, denn sonst würde er sich widersprechen, wenn er sie in seinen Schriften heranzieht, was j a nicht selten geschieht. Worauf es Luther grundsätzlich ankommt, ist ihre kategorische Unterordnung unter die Heilige Schrift: „die schrifften unser Veter müssen der Heiligen Schrift nicht gleich hoch, sondern ein wenig herunter h a l t e n . " 2 0 Die Anerkennung, die er ihnen zukommen läßt, geht darauf zurück, daß sie um das Wort Gottes 17 18 19 20

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WA 7, 9 8 - 9 9 . WA 7, 6 3 9 . WA 5 0 , 5 2 4 ; WA 7, 9 9 . Vgl. A u g u s t i n u s , D e T r i n i t a t e , M P L 4 2 , 8 6 9 : m e i s literis q u a s i c a n o n i c i s s c r i p t u r i s i n s e r v i r e . " WA 5 0 , 5 4 5 .

„Noli

bemüht waren: „ipsi in verbo dei pro suo tempore laboraverunt." 2 1 Das ist der Hauptgrund, aus dem er auf sie zurückgreift. Sie werden als eine Autorität anerkannt nicht um ihretwillen, sondern weil sie in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift gestanden, und nur insofern sie in ihren Schriften die Heilige Schrift aufgenommen haben. Die Tradition der Väter hat eine relative Autorität und ist ihrem Urteil ständig unterstellt. Ihre Bedeutung beruht allein darauf, daß sie empfangen und bewahrt haben, was die Apostel verkündigten und nicht, weil sie es mit neuen Lehren ergänzt hätten: „kein heylig vatter hab die gewalt zu ordnen und machen ein artickel des glaubens oder Sakrament, das die schrifft nit geordnet und gemacht h a t . " 2 2 Der Wert der Schriften der Väter wird an ihrem Schriftgehalt gemessen. Ihre Glaubwürdigkeit erweist sich in dem Maße, in dem sie die Heilige Schrift in ihren eigenen Werken wiedergeben. Man soll ihnen nur vertrauen, wenn sie sich an die Schrift hielten und mit ihr argumentierten: „und aller vetter bucher muß man mit bescheydenheit lessen, mit yhn glewben, sondern drauffsehen, ob sie auch klare spruch füren und die schrifft mit heller schrifft vorklerenn." 2 3 Selbst Augustinus, seinen großen Meister, würde er nicht akzeptieren, wenn er sich nicht auf Schriftstellen bezöge 2 4 . Die Schrift ist das Kriterium, nach dem die Väter beurteilt werden, j e mehr sie auf die Schrift hinwiesen und sie als Beweis für eigene Überlegungen heranzogen, desto wertvoller sind auch ihre Schriften: „wilcher vatter das am besten kann, der ist der beste " 2 S Die biblische Substanz ihrer Schriften verschafft ihnen Autorität. Man soll sie als Vorbilder und Begleiter betrachten, um den Weg zur Schrift zu finden und sich dann allein auf diese zu verlassen: „Man soll der vetter lere nit weytter brauchen, denn ynn die schrifft zu kummen, wie sie kummen. sein, und als denn bey der schrifft alleyn bleyben." 2 6 Eindeutiger und positiver als zu der Tradition der Väter steht Luther zu der altkirchlichen dogmatischen Überlieferung. Die lutherische Reformation hatte ein vitales Interesse daran, sich in die Kontinuität mit der Lehre der alten Kirche zu stellen. Ihren Protest wollte sie nicht als einen Ausbruch aus der Kirche verstanden wissen; sie glaubte vielmehr, weiter im Zusammenhang der Lehre mit dieser Kirche zu stehen. Der Wunsch und der Anspruch, zu der einen Kirche zu gehören, stellte ihr unvermeidlich die Frage nach der Lehrtradition der alten Kirche. Hier gab es

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WA 7, 100. WA 7, 6 3 2 . Vgl. C.H. Ratschow, Der angefochtene Glaube, Gütersloh 1957, S. 2 0 6 ff.; B. Hägglund, a.a.O., S. 37. WA 7, 6 3 9 . AS:B II, 17 (S. 4 2 1 ) . WA 7, 6 3 9 . WA 7, 6 4 1 .

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keine Wahl zwischen einer Entscheidung dafür oder dagegen, denn dadurch hätte sie nicht einfach dieser Tradition zugestimmt oder sie verneint, sondern sich die Frage gestellt, ob sie Anteil an der einen Kirche Christi habe oder nicht. Deshalb steht nicht zur Diskussion, ob sie sich damit richtig verhalten hat, wenn sie sich für die Anerkennung und die Übernahme des altkirchlichen Dogmas entschieden hat. Dies als Inkonsequenz und Abweichung von dem reinen reformatorischen Biblizismus zu betrachten, wurde inzwischen als ein Mißverständnis aufgedeckt. Was Loofs z.B. dazu schreibt, wird kaum von jemand vertreten und wird hier nur noch erwähnt, um auf einen solchen Irrtum hinzuweisen: „Die Entwicklung der lutherischen Reformation würde zu einem anderen dogmengeschichtlichen Abschluß gekommen sein, als es schließlich der Fall war, wenn Luther die Konsequenz, die aus seinen Grundgedanken folgen, vollständig geltend gemacht hätte. Die gebliebenen Fragmente des Alten haben schon bei Luther selbst die Geltung der neuen Gedanken beschränkt, bei den Späteren ihre Verkümmerung verursacht." 2 7 In einem noch genaueren Satz schreibt er über die Haltung Luthers gegenüber der alten dogmatischen Tradition der Kirche, „daß die kritische Anwendung seiner Grundgedanken vor den drei sogenannten ökumenischen Symbolen und den in ihnen enthaltenen altkirchlich dogmatischen Formeln Halt gemacht h a t " 2 8 . Denselben Irrtum hat auch A. von Harnack begangen. Auch nach ihm liegt in der theologischen Auffassung Luthers hinsichtlich der Übernahme der dogmatischen Tradition der frühen Kirche ein Widerspruch vor. Bedauernd wirft er Luther vor, daß er sich von der alten dogmatischen Überlieferung nicht völlig befreit habe, und deshalb glaubt er von „unüberwundenen Elemente(n) in Luthers Theologie" zu sprechen und festzustellen, daß Luther „soviel Altes, ja das altkatholische Dogma selbst" beibehalten hat. Obwohl die alte dogmatische Tradition der Kirche nach Harnack mit der Konzeption Luthers unvereinbar wäre, hat der Reformator zu seiner Enttäuschung diese trotzdem nicht überwinden können: „Wenn er auch im Prinzip die Freiheit des Schriftverständnisses verlangt hat, so steckte er doch noch selbst tief in dieser Überlieferung drinnen." 2 9 Diese Stimmen, die sich gegen die Aufnahme des altkirchlichen Dogmas von der lutherischen Reformation wandten, seien hier erwähnt, nicht weil sie für den lutherischen Protestantismus repräsentativ wären oder nachhaltig auf die heutige evangelische Theologie wirkten, sondern weil sie selbst durch ihre Kritik den Beweis für das Festhalten Luthers an den Lehrentscheidungen der früheren christlichen Jahrhunderte erhärten. Die Übernahme dieser Tradition durch Luther kann unmöglich als Beweis dafür dienen, daß es ihm nicht mehr gelang, konsequent bis ans Ende zu gehen und sich auch von ihr zu befreien. So ist sie nicht ein „ R e s t " in

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Dogmengeschichte, 4. Aufl., Halle 1906, S. 740. Ebenda, S. 750. Lehrbuch der Dogmengeschichte, 5. Aufl., Bd. III, Tübingen 1932, S. 8 6 3 ff.

seiner Theologie, den er nicht mehr loswerden konnte, sondern er hat sie bewußt aufgenommen und sah sich dabei keinem Widerspruch ausgesetzt. Sie ist nicht als Überbleibsel, sondern als eine Notwendigkeit für die Reformation zu betrachten, und deswegen wird ihr eine wichtige Stellung in der Theologie Luthers eingeräumt, auf deren besondere Bedeutung erst in der Theologie unserer Zeit nachdrücklich aufmerksam gemacht wurde. Es hat an Versuchen nicht gefehlt, Luthers Wertschätzung des altkirchlichen Dogmas zu gering einzuschätzen oder sie minimalisierend umzudeuten, wie es am Beispiel von O. Ritsehl deutlich wird, der in seinem Werk über die Dogmengeschichte des Protestantismus um die Herausstellung des Biblizismus Luthers bemüht ist und nicht mehr dessen volle Wertschätzung der altkirchlichen Lehre zum Ausdruck bringt 3 0 Doch solche Darstellungen zeugen mehr von einer Projektion eigener Vorstellungen in die Theologie Luthers, die man noch radikaler und reformatorischer sehen möchte, als sie in Wirklichkeit war. Solchen Versuchen, die in die Haltung Luthers etwas anderes hineininterpretieren möchten, könnte man die fragende Antwort E. Kinders entgegenstellen: „Warum aber hätte Luther überhaupt, wie er es doch tat, die altkirchlichen Symbole, vor allem das Apostolikum in Kirche, Verkündigung, Unterweisung und Theologie so kräftig neu ans Licht, zu Ehren und zur Geltung gebracht? " 3 1 Aber auch diejenigen, die der positiven Haltung Luthers zu dem frühen Dogma der Kirche keine Begeisterung entgegenbringen, sind sich in der Tatsache seiner Übernahme durch die Reformation einig 3 2 . J e n e Interpretationsversuche, die Luther lieber vom altkirchlichen Dogma befreit sehen möchten, verraten wenig Interesse an dem historischen Zusammenhang des reformatorischen Christentums. Dem stehen die nachdrücklichen Äußerungen Luthers gegenüber, keine neue Kirche gründen zu wollen und seine Absicht, die Gemeinsamkeit mit der alten Kirche zu bewahren. Nicht als ein neuer Anfang, sondern als Erneuerung sollte die Reformation verstanden werden. Als auf einen wesentlichen Charakterzug der lutherischen Bekenntnisschriften weist E. Schlink auf ihre Tendenz hin, im Konsensus mit der frühen Kirche zu bleiben 3 3 . Luther selbst hat dies öfter bekannt. In seiner Schrift „wider Hans Worst' 1 (1541) unternimmt er den Versuch, gegen die katholischen Anschuldigungen, daß die Reformation von der alten Kirche abgefallen ist, zu beweisen, daß er und idle, die seine Lehre teilen, zu der alten, wahren Kirche gehören: „Wie aber, wenn ich beweiset, das wir bey der rechten alten Kirche blieben, j a das wir die rechte alte Kirche 30 31 32 33

Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. I, Leipzig 1908, S. 271 ff. Der Gebrauch des Begriffs „ ö k u m e n i s c h " im älteren Luthertum, in: K D 1, 1955, S. 184. F.W. Kantzenbach, Das Ringen um die Einheit der Kirche im J a h r h u n d e r t der R e f o r m a t i o n , Stuttgart 1957, S. 24 f. Theologie . . ., S. 4 3 ff.

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sind . " 3 4 Die Zustimmung zu dem Glauben dieser Kirche ist ein Zeichen der Gemeinsamkeit mit ihr: „Denn wer mit der alten Kirche gleich glaubt und hellt, der ist von der alten K i r c h e . " 3 5 Luthers Protest gegen R o m richtete sich nicht gleichzeitig gegen die Kirche der ersten christlichen Jahrhunderte und der nachfolgenden Zeiten, vielmehr wollte er in dem Konsensus mit dieser sein und sich ihr zugehörig wissen, denn, wie er selbst sagt: „es fährlich ist und erschrecklich, etwas zu hören oder zu glauben wider das einträchtiglich Zeugnis, Glauben und Lehre der ganzen heiligen christlichen Kirchen, so von Anfang her nun über 1500 J a h r e in aller Welt einträchtig gehalten h a t . " 3 6 Es war für ihn von großer Bedeutung, schreibt E. Kinder, in diesen allgemeinen Konsensus hineinzugehören, „denn er wollte kein biblischer Abenteurer und Freibeuter, kein religiöser, spiritualistischer Individualist und kein kirchlicher Revolutionär sein" 3 1 . An dem vitalen Interesse Luthers, sich im Konsensus mit der alten Kirche zu befinden, zeigt sich, daß er davon überzeugt war, daß es keine Kirche geben kann, die nicht im Glauben in Übereinstimmung mit der alten Kirche steht. Luther erkennt das Glaubenszeugnis der alten Kirche an und die Notwendigkeit, keine neue Lehre, die nicht im Einklang mit diesem steht, einzuführen: „ m a n soll keine Lehre annehmen, die nicht das Zeugnis hat von der alten reinen Kirche, dieweil leichtlich zu verstehen, daß die alte Kirche hat alle Artikel des Glaubens haben müssen, nämlich alles, so zur Seligkeit nötig i s t . " 3 8 Der bewußte und so deutlich artikulierte Glaube Luthers, in die Lehrtradition und in die Erkenntnisgemeinschaft mit der alten Kirche hineinzugehören, bildet ein wesentliches Moment seiner Theologie, das nicht übersehen werden darf. Die Überzeugung Luthers, in der historischen Kontinuität und in der Gemeinschaft der Glaubenstradition zu stehen, muß deshalb, wie H. Fagerberg schreibt, in jeder Deutung seiner Theologie mitberücksichtigt werden, wenn nicht etwas Wesentliches von ihr aufgegeben werden soll 3 9 P. Althaus bemerkt zu der Haltung Luthers gegenüber der alten Kirche, daß er Elemente kirchlicher Tradition übernommen hat, wie z.B. die Kindertaufe, obwohl es nicht ausdrücklich in der Schrift angeordnet ist, so daß es berechtigt ist, von der Verbindlichkeit der Tradition zu sprechen, sofern diese auf dem gesamtkirchlichen Konsensus beruht und der Schrift nicht widerspricht. Von einem „Bibelabsolutismus" kann bei Luther nicht die Rede sein, denn er „begrenzt weder das christliche Dogma noch die ethische Weisung des Evangeliums auf das ausdrücklich in der Schrift Ausgesprochene. Er fordert nicht, daß das Wahrheitsgut 34 35 36 37 38 39

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WA 51, 4 7 9 . WA 5 1 , 4 8 1 . WA 30.3, 5 5 2 . Der Gebrauch WA 50, 12. A.a.O., S. 50.

., S. 184.

der Christenheit auf die biblische Lehre zu reduzieren sei. Der Heilige Geist hat nicht nur die Apostel, sondern (wenngleich mit einem von Luther deutlich betonten Unterschied) auch seither die Christenheit geleitet. Daraus ergibt sich das Recht und die Gültigkeit der christlichen Tradition" 4 0 . Die Absicht Luthers, die Kontinuität mit der alten Kirche nicht zu unterbrechen und die Lehrtradition dieser Kirche zu bewahren, war nicht nur eine formelle Loyalitätserklärung, sondern wurde auch mit Inhalt erfüllt. Den schwerwiegenden Beweis hierfür liefert die Übernahme der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Die alten Glaubenssymbole der Kirche, das Apostolicum, das Nicaenum und das Athanasianum wurden von Luther besonders hochgeschätzt, und ihre inhaltlichen Aussagen fanden seine ungeteilte Zustimmung. Damit bekannte er sich zu dem wichtigsten Teil der altkirchlichen Tradition. Die drei Symbole nehmen eine wichtige Stellung in der Theologie Luthers ein. In Wirklichkeit stimmte Luther mit dem dogmatischen Gehalt der drei Glaubensbekenntnisse nicht auf eine abstrakte und theoretische Weise überein, vielmehr waren sie für ihn ein lebendiges Glaubenszeugnis der alten Kirche, auf das er immer wieder zurückgreift und das er zur Stützung seiner eigenen Auffassungen oft einführt. Sie sind für ihn ein sicherer bestätigender Beweis für den Glaubenskonsensus mit der alten Kirche und ein Zeichen für die Übereinstimmung mit der rechten alten Kirche, wie Luther selbst in seiner Schrift „Die drei Symbole oder Bekenntnis des Glaubens Christi" (1538) zum Ausdruck bringt: „Hab ich zum überflus die drey Symbola (die man so nennet) oder bekenntnis zusammen wollen lassen deudsch ausgehen, welche ynn der ganzen Kirchen bisher gehalten, gelesen und gesungen sind, damit ich abermal zeuge, das ichs mit der rechten Christlichen Kirchen halte, die solche Symbola oder bekenntnis bis daher hat behalten." 4 1 Der Glaubenskonsensus mit der alten Kirche, der sich in der Annahme dieser Symbole ausdrückt, gibt Luther die Zuversicht, der rechtgläubigen Kirche anzugehören. Dem, was die alte Kirche durch diese Symbole bekennt, will er nichts Neues hinzufügen, noch etwas für unwichtig erklären. So führt er einmal das Apostolicum ein, das er am meisten gebrauchte und besonders schätzte, um das Festhalten der Reformation an dem Glauben der frühen Kirche zu beweisen: „kann es niemand leugnen das wor der Apostel Symbolen, den alten Glauben der alten Kirchen, aller ding (völlig) gleich mit yr halten, gleuben, dingen, bekennen, nichts newes drinnen machen noch zusetzen, damit wir ynn die alte Kirche gehören und einerley mit jhr sind " 4 2 . Seine uneingeschränkte Zustimmung zu den inhaltlichen Aussagen der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse

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Die Theologie M. Luthers, Gütersloh 1962, S. 288. WA 50, 262. WA 51, 4 8 1 .

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drückt sich in seinen Worten der Wertschätzung aus, mit denen er sie beurteilt, wobei er dabei die geistgewirkte Gabe der alten Kirche indirekt lobt, die das Wesentliche des Glaubens in treffenden Aussagen formulierte. Über das Apostolicum urteilt Luther: „Das erst Symbolum der Apostel ist zwar (wahrlich) das aller feinest, das kurtz und richtig die Artickel des Glaubens gar fein fasset und auch den kindern und einfälltigen leichtlich zu lernen ist." 4 3 Das Athanasianum, das denselben Glaubensinhalt wie das erste hat, nennt Luther „ein schütz Symbolon" ist „lenger und streicht den einen Artickel reichlicher aus umb der Arianer willen, nemlich wie Ihesus Christus Gottes einiger Son und 1144 unser Herr sey Auf diese ersten Glaubensbekenntnisse folgt das Symbolum Augustini und Ambrosii, das sog. Tedeum 4 5 als das dritte, dessen doxologischer Charakter hervorgehoben wird: „Es ist gleichwohl ein fein Symbolum oder bekenntnis (wer auch der Meister ist) jnn sanges weise gemacht, nicht allein den rechten glauben zuerkennen, sondern auch darin Gott zu loben und dancken." 4 6 Als Anfang dazu wird noch das Nicaenum hinzugefügt, dessen Glaubensinhalt Luther so bejaht und das ihm so richtig erscheint, daß er die Schrift dazu nicht mehr anführen will, da dieses Bekenntnis über die göttliche Trinität ein so deutliches Zeugnis ablegt. „Aus dem newen Testament will ich dis mal nichts füren, denn darin ist von der Heiligen Göttlichen Dreyheit oder Dreyfaltigkeit alles klerlich und gewaltiglich bezeugt, das im alten Testament nicht so helle heraus gestrichen, aber doch auch gewaltiglich angezeigt ist." 4 7 Die altkirchlichen Glaubenssymbole waren für Luther nicht nur ehrwürdige Dokumente aus den Anfangszeiten des Christentums von historischer Bedeutung, die von damaligen kirchlichen und theologischen Problemen berichteten. Er bejaht und schätzt sie nicht nur im geschichtlichen Abstand für ihre Geltung in der alten Kirche, sondern er macht sich das Glaubensbekenntnis, von dem sie zeugen, zu eigen. Es wird für ihn „mein Zeugnis und Bekenntnis", wie Luther es in der Vorrede zu den Schmalkaldischen Artikeln nennt 4 8 . Im ersten Teil dieser Artikel legt er ein Glaubensbekenntnis im Sinne vom Apostolicum und Athanasianum vor. Die Trinitätslehre und die Christologie, die den Inhalt dieses Bekenntnisses ausmachen, die er als die „hohen Artikel der göttlichen Majestät" 4 9 bezeichnet, sind ein Beweis dafür, wie sich Luther an die alten Glaubenssymbole gehalten hat, an denen er nichts auszusetzen oder sie in Zweifel zu ziehen hatte. Der Glaube, den sie bezeugen, steht 43 44 45 .46 47 48 49

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WA 5 1 , 2 6 2 . WA 51, 2 6 2 - 2 6 3 . Vgl. hierzu E. Kinder, Der Gebrauch ., S. 189. WA 50, 2 6 3 . WA 50, 5 8 3 . 2 0 (S. 4 0 9 ) ; vgl. E. Kinder, Der Gebrauch . . S. 187. 10 f. (S. 4 1 4 ) .

über jeder Diskussion: „Diese Artikel sind in keinem Zank noch Streit." 5 0 So vollzieht sich die Zustimmung Luthers zu den Glaubensbekenntnissen der alten Kirche in einem Akt der Aneignung. Sie galten auch für ihn in der Beweiskraft ihres Glaubenszeugnisses. Er übernimmt sie nicht in passiver Weise, sondern argumentiert mit ihnen, bezieht sich auf sie und bekennt sich dadurch zu ihrem Glaubenszeugnis. Das Glaubensbekenntnis der Symbole wird zum eigenen Bekenntnis 5 1 . Auch die dogmatischen Entscheidungen der vier ökumenischen Konzilien werden von Luther anerkannt und besitzen ihre Geltung, wie vor allem aus seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" hervorgeht. Hier wird das Verhältnis der Reformation zu der alten Kirche in seinen Grundzügen umrissen. Was die dogmatischen Beschlüsse der ersten vier ökumenischen Konzilien betrifft, auf die sich Luthers Gedanken beziehen 5 2 , so wird ihre dauerhafte Gültigkeit bejaht: „Denn der rechten Concillen Decret müssen jmer bleiben, wie sie denn auch jmer blieben sind, zwar (vor allem) die Hauptartickel, darumb sie Concilium worden sind und heissen." 5 3 Soweit sie Artikel des Glaubens setzten, sind sie ernstzunehmen, und man soll sich an sie halten. Sie sind verpflichtend, „denn es ist je nicht so zuschertzen mit Artickeln des Glaubens von Anfang her, und so weit die Christenheit ist, eintrechtiglich gehalten wie man schertzen mag mit Bepstlichen odder Keiserlichen rechte odder andern menschlichen tradition der Veter odder Concillen" 5 4 . Damit wird nicht gesagt, daß alles, was die Konzilien beschließen, eingehalten werden muß. R. Ratschow macht auf die Unterscheidung Luthers zweier Kategorien von Konzilsbeschlüssen aufmerksam 5 5 Neben den Glaubensangelegenheiten handeln sie von weniger wichtigen Problemen, die mehr den Bedürfnissen der Zeit entsprechen und deshalb auf jene bestimmte geschichtliche Lage der Kirche beschränkt sind, „zu jhrer Zeit n o t t u r f f t " Solche Entscheidungen der Konzilien, die sich auf die „zeitlichen, vergänglichen, wandelbaren sachen" 5 6 bezogen, haben keinen verpflichtenden Charakter mehr und deshalb „billig weltlich zu achten sind; nicht den Artikeln des Glaubens zu vergleichen, auch nicht als ein ewiges zu halten (denn sie sind vergangen und verfallen), sondern das Konzil hat müssen solche leibliche Stücke, als zu ihrer Zeit zufällig und notdürftig, auch mit müssen verrichten, die uns zu unserer Zeit nichts mehr angehen" 5 7 Im Gegensatz dazu verdienen die Glaubensent-

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Ebenda, 1 (S. 4 1 5 ) . Vgl. Hierzu J. Koopmans, Das altkirchliche Dogma in der Reformation, München 1955, S. 100. Luther zieht nur die ersten vier Konzilien in Betracht, wie in: WA 50, 6 0 5 . WA 50, 563. WA 30.3, 5 5 3 . A.a.O., S. 2 0 4 f. WA 50, 6 0 6 . WA 50, 5 5 9 f.

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Scheidungen der ökumenischen Konzilien Anerkennung, und ihre Geltung reicht über die Zeit, in der sie beschlossen wurden, hinaus. Sie sind ein Glaubenszeugnis der ganzen Kirche und sollten auch allgemein verpflichtend sein. Die Verbindlichkeit der altkirchlichen Symbole und der dogmatischen Beschlüsse der ökumenischen Konzilien beruht nicht auf ihnen selbst, insofern hinter ihnen der Glaubenskonsensus der alten rechten Kirche steht, sondern allein darauf, daß sie sich als schriftgemäß erweisen 58 . Dies ist der entscheidende Grund dafür, daß Luther sie übernimmt und sie für die Reformation Geltung besitzen. Die Annahme des altkirchlichen Dogmas durch die lutherische Reformation geht nicht auf die Autorität jener Kirche zurück, die es formulierte. Luther kennt dafür keine anderen Gründe, seien sie historischer, liturgischer oder sonstiger Natur 5 9 Sein hohes Alter und seine allgemein anerkannte Wertung genügen nicht, um es für die ganze Zeit der Kirche auf der Erde zu empfehlen. Aus seiner Überzeugung heraus, daß die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse aus der Wahrheit der Schrift schöpfen, und daß sie „die klassische exemplarisch bekennende Zusammenfassung des zentralen und entscheidenden Sachgehaltes der Heiligen Schrift" 6 0 darstellen, als die sie E. Kinder betrachtet, nimmt Luther sie an. Man findet in der Theologie Luthers keinen anderen schwerwiegenderen Grund für die Annahme der dogmatischen Entscheidungen der alten Kirche. J . Koopmanns, der die Funktion des altkirchlichen Dogmas in der Reformation herausgearbeitet hat, sieht in der Schriftgemäßheit der dogmatischen Tradition dieser Kirche den einzigen Beweggrund für Luther, diese zu übernehmen 6 1 . Deswegen kann sich Luther für das Apostolikum so begeistern: „wie eine Biene das Honig aus mancherlei schönen, lüstigen Blümlin zusammen zeucht, also ist diess Symbolum aus der lieben Propheten und Apostel Büchern, das ist, aus der ganzen heiligen Schrift fein kurz zusammen gefasset, für die Kinder und einfältigen Christen, dass mans billig nennet: der Apostel Symbolum oder Glauben; denn es ist also gestellet, daß mans nicht hätte besser und feiner so kurz und klar können fassen" 6 2 . Luther will keine anderen Kriterien für die Über-

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E. Schlink, Theologie S. 4 6 ; E. Kinder, Der Gebrauch S. 182; R. Ratschow, a.a.O., S. 2 0 4 ff. E. Kinder, DerGebrauch . ., S. 182. Zu der Beurteilung des Apostolicum durch Luther schreibt er: „ V o n kleinen Schwankungen abgesehen hielt Luther das Apostolicum für apostolischen Ursprung, d o c h argumentierte er hier stets von der Schriftgemäßheit seines Inhaltes her niemals historisch. Historisch gesehen legte er auf die apostolische Verfasserschaft keinen besonderen Wert." (S. 182, Anm. 11). Ebenda. A.a.O., S. 25: „Luther ist völlig überzeugt davon gewesen, daß die Bekenntnisse nichts anderes seien als Zusammenfassungen der Lehre der Hl. Schrift zum Dienst an der Gemeinde." WA 41, 2 7 5 .

nähme des Dogmas gelten lassen. Nur wegen der substantiellen Übereinstimmung der dogmatischen Entscheidungen mit der Schrift in ihren inhaltlichen Aussagen haben sie für ihn Geltung. Nachdem er das Apostolikum in seinem Großen Katechismus aufgenommen hat, empfiehlt er es mit der Bemerkung: „weil in diesen dreien Stücken kürzlich, gröblich (leichtverständlich) und aufs einfältigste verfasset ist alles, was wir in der Schrift h a b e n . " 6 3 Nur weil die Kirche der ökumenischen Konzilien das Wort Gottes aufnimmt und sie sich in ihrer Lehre an die Schrift hält, ist auch ihr Urteil über die Häretiker gültig. In diesem Falle wird sie „Schülerin" Jesu genannt und „Meisterin", die über den rechten Glauben entscheidet. „Die Christliche Kirche hatt Arrium, Pelagium und alle andere Ketzer geurtteilt und verdammet nicht, das sie Herrin werhe über das Wortt Gottes, sondern das sie sich dahin ergeben hat in das wortt gottes und das sie eine Schülerin ist dieses mannes und seines wortts oder lehre. Daher wird sie eine Meisterin über alle und aus diesem wortt hat sie beschlossen, das diese lehre recht jhene aber unrecht ist." 6 4 Wenn Luther das altkirchliche Dogma nur aufgrund seiner Schriftgemäßheit übernimmt, so ist es nur folgerichtig, daß diese dogmatische Tradition nicht über die Schrift hinausgehen kann. Die Kirche hat in den ökumenischen Konzilien mit den beschlossenen Dogmen „keinen neuen Artikel des glaubens gestellet" 6S Die Glaubensbekenntnisse und Konzilsentscheidungen können keinen neuen Glauben proklamieren, der nicht in der Schrift begründet ist: „Setzen sie aber etwas neues im Glauben oder guten werken, so sey gewis, das der Heilige Geist nicht da sey, sondern der unheilige geist mit seinen Engeln." 6 6 Die Wahrheiten christlichen Glaubens, die in dem Dogma fixiert wurden, haben die Konzilien nicht erfunden. „Und wo die Heilige Schrift nicht gethan und gehalten hette, were die Kirche der Conzilij und Veter halben nicht lange blieben. Und zu warzeichen: Woher habens die Veter und Conzilia, was sie leren oder handeln? Meinstu, das sie es zu jrer Zeit erst erfunden oder vom Heiligen geist jmer ein neues jnen eingegeben sey? Wodurch ist denn die Kirche bestanden vor solchen Conzilien und Vetern? " 6 7 Im Vergleich zu der Schrift findet sich in dogmatischen Entscheidungen der frühen Kirche nicht die ganze Wahrheit christlichen Glaubens 6 8 . Die Lehre, von der die Konzilien handelten und die sie beschlossen, ist in der Schrift viel umfassender enthalten 6 9 63 64 65 66 67 68 69

Vorr. 1 9 - 2 1 (S. 557). WA 33, 365. WA 50, 6 0 5 . WA 50, 6 0 6 . WA 50, 547, 5 5 1 . WA 50, 546. WA 50, 605.

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Das grundsätzlich Entscheidende an den Überlegungen Luthers zu den altkirchlichen Glaubenssymbolen und Konzilsbeschlüssen ist ihre Bindung an die Schrift. Zu den Heilswahrheiten der Schrift vermögen sie nichts hinzuzufügen. Damit spricht Luther der dogmatischen Tradition ihre Eigenständigkeit ab. Sie wird, wie Ratschow es formuliert, „aus ihrer eigenständigen Rolle verdrängt" 7 0 . Die Glaubenswahrheiten, die sie umfaßt, gehen in ihrer Ganzheit nicht über die Schrift hinaus. Dabei ist Luther der Uberzeugung, daß die Offenbarung gänzlich in der Schrift niedergeschrieben wurde, denn nur so ist es zu erklären, daß er die Tradition auf eine völlig abhängige Stellung gegenüber der Schrift verweist. Sie gilt nicht aus sich, sondern in ihrem Bezug auf die Schrift. Die Konzilien haben nicht neue Artikel des Glaubens gesetzt, sondern ihn im Sinne der Schrift bezeugt: „Denn die Artickel des Glaubens müssen nicht auff erden durch die Conzilio als aus neuer heimlicher eingebung wachsen, sondern von Himmel durch den heiligen Geist öffentlich gegeben und offenbart sein, sonst sinds nicht Artickel des glaubens "71 Die Tatsache, daß Luther der Tradition Grenzen setzt, und sie der Schrift kategorisch unterstellt, bedeutet jedoch nicht, daß sie unwichtig und verwerflich wäre. Die Rückverweisung der Tradition auf die Schrift, ohne die sie nach ihm nicht denkbar wäre, soll nicht heißen, daß sie nicht mehr verpflichtend, j a sogar überflüssig ist. Wenn ihr an sich keine Autorität zukommt, sondern nur insofern und weil sie mit der Schrift übereinstimmt, dann besitzt sie jedoch durch die Teilhabe an der Schrift eine unleugbare Autorität; sie wird dadurch, wie Ratschow sagt, „selbst ein Stück der Wahrheit, die nicht zugrunde g e h t " 7 2 . Luthers Übernahme des altkirchlichen Dogmas beweist dies; er macht sie allerdings von dessen Schriftgemäßheit abhängig. Hat die Tradition diese Probe einmal bestanden, so tritt er für sie ein. Unter dieser Voraussetzung ist sie verbindlich. Luther hat also die Bedeutung der Tradition durchaus erkannt. Ratschow sieht in Luthers Einstellung zu der Tradition eine doppelte Position 7 3 Einerseits steht die Tradition nicht als zweite Größe neben der Schrift, die in sich und aus sich gilt. Ihr Wert und ihre Richtigkeit erweisen sich in ständiger Bezogenheit auf die Schrift. Der Glaube, den sie bezeugt, ist so lange richtig, wie er sich mit der Schrift deckt. Wo die Tradition aber andererseits mit der Schrift übereinstimmt, besitzt sie Geltung und Autorität. Sie wird niemals mit der Schrift gleichgesetzt, sondern stets auf diese bezogen. Luther mißt der altkirchlichen dogmatischen Tradition Bedeutung bei, soweit sie nichts anderes als Schriftwahrheiten erstrebte. Ratschow erklärt die positive Einstellung Luthers zur Tradition damit, daß er sie „als Sammlerin und Bewahrerin der vielen Schriftwahrheiten in c o n c r e t o " 7 4 auffaßte. 70 71 72 73 74

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A.a.O., S. 206. WA 50, 551. A.a.O., S. 207. Ebenda, S. 207 f. Ebenda, S. 208.

Die Annahme der Tradition erfolgt über die Schrift. Sie ist in der inhaltlichen Übereinstimmung der Tradition mit der Schrift tief begründet. Diese Tradition, die mit dem Glauben der Schrift übereinstimmt, ihn gegen Irrlehren verteidigt und nichts anderes zum Ziel hat als die Schriftwahrheiten aufrechtzuerhalten, hat als Bewahrerin der Schrift Anteil an der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Sie wird von Luther hochgeschätzt, und an sie hielt er sich. Ganz in diesem Sinne schreibt er einmal über ein Glaubenssymbol, das zu dieser Tradition gehört: „Hie hab ich ein klein Büchlin, welches heisset das Credo, darin dieser Artikel stehet; das ist meine Bibel, die ist so lange gestanden und stehet noch unumbgestossen; da bleib ich bey, da bin ich auff getaufft, darauff lebe und sterbe ich, weiter laß ich mich nicht weisen." 7 5 Die Gründe für die Übernahme der drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse sollen nicht in kirchenpolitischen Erwägungen gesucht werden, wenn diese auch eine Rolle gespielt haben mögen 7 6 Die positive Einstellung Luthers zu der Tradition hierauf zu beschränken, hieße, die tieferliegende Motivation zu verkennen. E. Schlink versteht die Annahme der altkirchlichen Tradition durch die Reformation als biblisch begründet 7 7 . Die Anerkennung der Tradition durch Luther geht auch nach E. Kinder auf die „substantielle Schriftgemäßheit ihrer inhaltlichen Aussage" zurück. 7 8 Ebenso betrachtet J . Koopmanns diese Motivation Luthers als grundlegend: „Innerlich stand er der Tradition als solcher vollkommen frei gegenüber." 7 9 Das es Luther mit der Anerkennung des altkirchlichen Dogmas nicht darum ging, nur formell zu beweisen, daß er aus der Glaubensgemeinschaft mit der alten Kirche nicht herausgetreten ist, zeigt sich an der häufigen Verwendung des Dogmas in seinen Predigten und Katechismen. Es erhielt dadurch einen „Sitz" im Leben der Gemeinde. Mit dem Dogma hat sich Luther o f t in seinen Predigten beschäftigt 8 0 . Koopmanns weist auf die Bedeutung des Dogmas und seiner Anwendung in der Praxis des kirchlichen Dienstes hin und stellt dabei fest, daß einerseits das Dogma in der Kirche nicht anerkannt wird, wenn es in der Schrift nicht begründet ist; andererseits aber wird keine Auslegung der Schrift als richtig akzeptiert, wenn sie nicht im Einklang mit dem Dogma der Kirche steht, „so daß man das Dogma eine Regel für die Exegese nennen k a n n " 8 1 . 75 76 77 78 79 80

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WA 37, 55. Vgl. J. Pelikan, Die Tradition im konfessionellen Luthertum, in: LR 1 9 5 6 / 5 7 , S. 2 2 9 ; E. Kinder, Der Gebrauch ., S. 184. Theologie ., S. 38 ff. Der Gebrauch S. 184. A.a.O., S. 26. Diesem Thema hat L. Ihmels eine Untersuchung gewidmet: Das Dogma in der Predigt Luthers, Leipzig 1912. Diese Arbeit konnte hier nicht berücksichtigt werden. A.a.O., S. 119.

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Die Tatsache, daß Luther das Dogma in seine Katechismen und Predigten einbezieht, erhärtet mit der Beweiskraft der Praxis die These von seiner Übernahme des altkirchlichen Dogmas und schwächt die Behauptung derer ab, die ihr die angemessene Bedeutung für die Reformation aberkennen. Wenn auch Luther allein der Schrift göttliche Autorität zuerkennt und der Überlieferung das Recht abspricht, aus sich Artikel des Glaubens zu setzen, so kann seine Haltung dennoch nicht als reiner Biblizismus bezeichnet werden, wie es zum Beispiel bei O. Ritsehl geschieht 82 Das Verständnis der Schrift als alleinige Quelle der Offenbarung schließt die Überlieferung nicht aus. Wie eindeutig das reformatorische Anliegen in den Schmalkaldischen Artikeln auch ausgesprochen ist: „Gottes Wort soll Artickel des Glaubens stellen und sonst niemand auch kein Engel" 8 3 , so wäre es doch unrichtig, dieses Biblizismus zu nennen, denn, wie Ratschow schreibt, „die Lutheraner spicken ihre Aussagen weder mit Schriftzitaten noch leiten sie sie aus Schriftaussagen in ihrem Wortlaut ab" 8 4 Luther hat daraus, daß der Glaube nur auf dem Wort der Schrift gründet, keineswegs die Folgerung gezogen, daß dies der Existenz und der Funktion der Überlieferung in der Kirche widerspräche. Welch große Bedeutung der Überlieferung der alten Kirche zukommt, hat er dadurch bewiesen, daß er sie selbst übernahm. Im Großen Katechismus bezeichnet er die Glaubensartikel des Apostolikums sogar als von Gott geoffenbart: „Denn da hat er selbes offenbaret und aufgetan den tiefsten Abgrund seines vaterlichen Herzens und eitel unaussprechlicher Liebe in allen dreien Artikeln." 8 5 Obwohl Luther die Übernahme der altkirchlichen dogmatischen Tradition vollzog, geschah dies, ohne die absolute Autorität der Schrift im geringsten in Frage zu stellen. Seine Stellung gegenüber der Tradition blieb kritisch genug, und ihre der Schrift untergeordnete Rolle wurde von ihm immer wieder beschworen. Seine Haltung wurde jedoch nicht immer einsichtig und mit der entsprechenden Differenziertheit beurteilt. Die stets kritische Beurteilung der Tradition, die er forderte, und ihre Unterwerfung unter die Schrift bedeuten keineswegs, daß er der Tradition ablehnend gegenüberstand. Wenn er überzeugt war, daß sie mit der Schrift übereinstimmte, akzeptiert er sie. Mit der prinzipiellen Zustimmung der Reformation zu der altkirchlichen Tradition ist jedoch nicht gleichzeitig der Beweis erbracht, daß die Tradition der alten Kirche gänzlich übernommen wurde, ebensowenig wie sich damit der Nachweis der Identität der Lehre mit der der alten Kirche erübrigt. Hier wird nur die grundsätzliche Haltung der Reformation gegenüber dem Phänomen der Tradition an einigen geeigneten Beispielen untersucht. 82 84 85

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A.a.O., S. 275. 83 Siehe Anm. 16. A.a.O., S. 2 7 1 ; vgl. H. Fagerberg, a.a.O., S. 60. III, 2 8 - 3 1 (S. 660).

b) Melanchthon Auch die von Melanchthon verfaßten Schriften räumen der altkirchlichen Tradition einen wichtigen Platz ein. Am Anfang der Augsburgischen Konfession wird viel Wert darauf gelegt, zu beweisen, daß die Reformation die Absicht hatte, an der Lehre der alten Kirche festzuhalten und kein „neues Dogma" aufzustellen. Die Zustimmung zu der dogmatischen Tradition wollen vor allem die ersten Artikel dieser Schrift beweisen 8 6 . Im ersten trinitarischen Artikel wird „lauts des Beschlluß Concilii Nicaeni gelernt, daß ein einig gottlich wesen sei doch drei Personen in demselben einigen gottlichen Wesen " 8 7 Im dritten Artikel bekräftigt die Augsburgische Konfession auch ihre Treue zur Christologie der alten Kirche. Mit dem abschließenden Satz „lauts des Symboli Apostolorum"ss bekennt sich Augustana noch einmal ausdrücklich zu dem Glauben der alten Kirche. Es bedarf wohl kaum großer Mühe festzustellen, daß hier nicht nur der Inhalt, sondern weitgehend auch die Formulierungen des Dogmas übernommen werden. Die der Confessio Augustana zugrunde liegende Zustimmung zu der Tradition der alten Kirche tritt noch einmal an deren Schluß hervor, wo versichert wird, „daß bei uns nichts, weder mit Lehre noch mit Ceremonien, angenommen ist, daß entweder der heiligen Schrift oder gemeiner christlichen Kirchen zu entgegen w ä r e " 8 9 Wenn auch die Confessio Augustana eine so nachdrückliche Loyalitätsbekundung gegenüber der Tradition aufweist, so ist ihr Bekenntnis davon bestimmt, daß die Schrift die einzige absolute Norm der kirchlichen Lehre ist 9 0 . Die gewichtige Stellung, die sie der Tradition zuerkennt, setzt deren Übereinstimmung mit der Schrift voraus. Dies ist auch der Grund, aus dem sie zur Annahme empfohlen wird, nämlich, wenn sie „dem reinen göttlichen Wort und christlicher Wahrheit gemäß" 9 1 ist. Das in der Augustana niedergelegte Bekenntnis ist „in heiliger Schrift klar gegründet und darzu gemeiner christlicher, ja auch romischer Kirche, so viel aus der Väter Schriften zu vermerken, nicht zuwider noch entgegen" 9 2 . Die Richtigkeit dieses Bekenntnisses wird von Melanchthon zuerst mit der Begründung auf der Schrift, dananch erst mit seiner Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche untermauert. Anders als in der Confessio Augustana, wo er grundsätzlich Luthers Auffassung teilt, scheint die Haltung Melanchthons gegenüber der Tradition in seinen weiteren Schriften zu sein. Der größere Raum und die Gewichtigkeit, die er in seiner Argumentation der altkirchlichen Tradition gewährt, wurden oft als Auflockerung des reformatorischen sola Scriptura und als Abgleiten in Traditionalismus verstanden. Er hätte sich mit der Zeit von dem Standpunkt, den er am Anfang mit Luther 86 88 90 92

Vgl. hierzu Pelikan, a.a.O., S. 231 f. III, 25 (S. 54). Vgl. E. Schlink, Theologie , , S . 23 ff. Ebenda, 1 - 5 (S. 83d).

87 89 91

1 , 4 - 8 (S. 50). Beschl. 2 1 - 2 5 (S. 134). Beschl. 17 f. (S. 83c).

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gemeinsam vertrat, langsam distanziert, so daß neben der ursprünglich einzig bestimmenden Norm der Schrift die Autorität der Tradition hervortritt. Vor allem O. Ritsehl hielt ihm vor, sich „auf diese schiefe E b e n e " 9 3 begeben zu haben und stellte ihn als den Urheber des Traditionalismus in der protestantischen Theologie dar 9 4 . Diese Wandlung im theologischen Denken Melanchthons würde sich bemerkbar machen in seiner Schrift „De ecclesia et de autoritate verbi Dei" (1539). Von der ersten Ausgabe seiner Loci (1521), wo er noch auf der Grundlage der Schrift steht, bis zur dritten Ausgabe derselben (1559) bahnt sich eine Entwicklung an, an deren Ende sein deutlicher Traditionalismus stünde. Auch nach R. Seeberg habe Melanchthon den Standpunkt seiner ersten Zeit, als er sich Luther anschloß, allmählich verlassen und „immer mehr in die Bahn der dogmatischen Tradition" 9 5 eingelenkt. Die Auffassung dieser einmal einflußreichen Werke wird von den neueren Deutungen der Melanchthon-Theologie nicht mehr geteilt, die einen tieferen Einblick in seine Theologie gewonnen haben und den Standort der Tradition in seinen Schriften nun umsichtiger und differenzierter beurteilen 96 . Es kann nicht geleugnet werden, daß das Traditionsargument in der Theologie Melanchthons eine größere Rolle spielte als bei Luther. Entscheidend bei seiner Hinwendung zu der patristischen Tradition — mag ihr auch sprachlich-humanistisches Interesse zugrunde liegen — ist jedoch ihre theologische Motivation. Nicht aus einer Vorliebe für die griechische Sprache wendet er sich in seinen Schriften so oft den Kirchenvätern zu, sondern weil er von der Richtigkeit der Lehre der alten Kirche überzeugt ist. Darin liegt der Grund dafür, daß er auf sie zurückgreift, nämlich um zu beweisen, daß die neue evangelische Lehre nicht erst eine Erfindung der Reformation ist. Die fast ständige Heranziehung der Tradition neben dem Schriftbeweis machte Melanchthon des Traditionalismus verdächtig, und dies nicht, weil er die Tradition vorgezogen hätte, sondern sie neben der Schrift als zweite Garantie für die rechte Lehre der Kirche betrachtete. Der Ertrag der heutigen Forschung besteht eben darin, gezeigt zu haben, daß der Anwendung des Traditionsbeweises durch Melanchthon prinzipiell jedoch kein anderes Traditionsverständnis zugrundeliegt, ais im Rahmen des reformatorischen Schriftprinzips möglich ist. Nach P. Fraenkel kann in späteren Schriften Melanchthons von einer radikalen Änderung in Richtung auf einen grundsätzlichen Traditionalismus hin 93 A.a.O., S. 275. 94 Ebenda, S. 2 7 6 - 3 4 0 . 95 Lehrbuch der Dogmengeschichte, IV/1, 4. Aufl. Graz 1954, S. 429. 96 Hier ist an erster Stelle die für dieses Thema entscheidende Arbeit von P. Fraenkel zu erwähnen: Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philip Melanchthon, Geneva 1961. Einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Traditionsproblems in Melanchthons Theologie leistet auch H.R. Ratschow, a.a.O., S. 2 0 9 - 2 2 3 .

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nicht die Rede sein, vielmehr von einer Ausweitung der schon am Anfang gegebenen und mit dem Schriftprinzip zu vereinbarenden Funktion der Tradition für die Bestimmung der rechten Kirchenlehre. „ E x pansion rather than fundamental change, seems to be the key-word for the history of Melanchthon's use of the patristic a r g u m e n t . " 9 7 Es kann einfach nicht behauptet werden, daß Melanchthon die Tradition später entdeckte, während er in seinen früheren Schriften einen reinen Biblizismus vertrat: „Melanchthon does not seem either to have gone through a revolutionary change of attitude in this matter, or through a period when he set aside his patristic interests for a theology in which they played no p a r t . " 9 8 Zu einer falschen Einschätzung des Stellenwertes der Tradition in der Theologie Melanchthons würde die Annahme verleiten, daß die absolute Autorität der Schrift die Tradition ausschließt oder im Gegensatz zu ihr steht. Prinzipiell besteht zwischen beiden kein Widerspruch: ,,the appeal to the supreme authority of Scripture included rather than excluded the patristic a r g u m e n t " 9 9 Der große Unterschied, der zwischen Luther und der späteren Auffassung Melanchthons gesehen wurde, erwies sich nach den neueren Untersuchungen als das Ergebnis eines allzu allgemeinen Vergleichs, bei dem die verschiedenen Aspekte des Traditionskomplexes, die die beiden Reformatoren j a von einem anderen Gesichtspunkt beleuchten, nicht in Betracht gezogen wurden 1 0 °. Zwischen der ersten Ausgabe der Loci, in der sich Melanchthon nur sporadisch auf die Väter bezieht und der letzten Ausgabe, wo er sich eingehend mit dem Dogma der alten Kirche befaßt, liegt nicht die Entfernung zwischen Schriftprinzip und Traditionalismus. Wenn Melanchthon in seinen ersten Loci nur wenig Interesse an der Tradition zeigt und sie dann später gerade als Norm für die Richtigkeit der Kirchenlehre heranzieht, so wird dieser Unterschied von Ratschow nicht als eine Ab Schwächung des Schriftprinzips erklärt, sondern darin begründet, daß dort, wo Melanchthon mit der Tradition argumentiert, er sich meist auf die ecclesia visibilis bezieht, die er mit Hilfe der Tradition bestimmen will 1 0 1 . Der Unterschied als solcher ist nicht auf eine grundsätzliche Änderung in der Auffassung Melanchthons von Schrift und Tradition zurückzuführen, sondern ergibt sich notwendigerweise daraus, daß er vor allem die Konkretheit der Kirche im Auge hat. Ratschow erläutert diese These mit dem Hinweis darauf, daß Melanchthon sich in den ersten Loci auf die ecclesia invisibilis bezieht, wogegen er in den letzten Loci die Kirche als institutionelle Größe behandelt 1 0 2 . Melanch97 A.a.O., S. 44. 98 Ebenda, S. 43. 99 Ebenda, S. 44. 100 J . Koopmanns, a.a.O., S. 29 ff.; K..H. Ratschow, a.a.O., S. 208 ff. 101 A.a.O., S. 209 f. 102 Ebenda, S. 209.

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thons Rückverweis auf die Tradition entspricht auch der neuen Lage der reformatorischen Kirche, die sich inzwischen gebildet und organisiert hat; von dieser Kirche redet er in den Loci von 1559 „wie sie kirchenordnungsgemäß geworden ist und phänomenologisch beschrieben werden kann" 1 0 3 . Diese Kirche besteht nun aus „membra visibilia" und hat ein „ministerium Evangelii publicum". Er versteht sie als eine konkrete Wirklichkeit: „non de idea Platonica, sed de visibili Ecclesia loquuntur, in qua sonat vox Evangelii et in qua ministerium Evangelii conspicitur, per quod patefecit se Deus et per quod est efficax." 104 Zu den wesentlichen Bestimmungsmomenten dieser ecclesia visibilis gehört neben der Verkündigung des Evangeliums, der Verwaltung der Sakramente und einem bestimmten Ministerium auch die „vera doctrina" 1 0 5 . Solange Melanchthon die ecclesia visibilis im Auge hat und sie definieren will, ist er auch bemüht zu zeigen, daß die reformatorische Kirche in der Lehrtradition der alten Kirche steht. Wie Luther, so argumentiert auch Melanchthon neben der Schrift mit der Tradition, wenn er seine Position gegenüber den Schwärmern stärken will. Hier war es besonders notwendig, die Tradition der alten Kirche heranzuziehen, denn die Schwärmer argumentierten immer nur mit der Schrift. Luther und Melanchthon hatten in der Tradition ein Argument mehr, mit dem sie ihre Überzeugung stützen konnten. Im Gegensatz zu einem spiritualistischen Verständnis der Schwärmer wiesen Luther und Melanchthon mit Nachdruck auf das Gestalthafte und Konkrete des Christentums, auf die ecclesia visibilis hin. Wenn die Tradition nach reformatorischer Auffassung zu dem Glauben, den die Schrift allein hervorruft, nichts Neues hinzufügt, kann die reformatorische Kirche sie trotzdem nicht entbehren, „denn sie erlaubt es, dem evangelischen Kirchentum Katholizität, d.h. Verbindung mit der Kirche, zu erweisen, die ursprünglich und die Zeiten hindurch als ,wahre' Kirche angesprochen werden m u ß " 106 . Die Tatsache, daß Melanchthon auf den Traditionsbeweis großen Wert legt und daß er die dogmatische Tradition 1 0 7 als unentbehrliche Instanz für die Reinerhaltung der geoffenbarten Glaubenswahrheiten anerkennt, bedeutet jedoch nicht eine substantielle Änderung der reformatorischen Rangordnung von Schrift und Tradition, wie oft angenommen wurde. Melanchthons Traditionsverständnis birgt nicht die Tendenz, den Rahmen des sola Scriptura zu sprengen und ihre Autorität als einzige Offenbarungsquelle zu verringern. Gerade aus der Schrift „De ecclesia et de

103 Ebenda, S. 210. 104 Loci praecipui atheologici von 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl, Hrsg. R. Stupperich, Studienausgabe (SA), Bd. II/2, 1953, S. 4 7 5 . 105 Ebenda, S. 4 7 6 ; Vgl. Ratschow, a.a.O., S. 2 1 0 . 106 K.H. Ratschow, a.a.O., S. 2 1 0 - 2 1 1 . 107 De ecclesia et de autoritate verbi Dei ( 1 5 3 9 ) , SA, Bd. I, S. 3 3 7 : „Loquor autem de dogmatibus, non de humanis traditionibus. Nam dogmata volebat esse firma et perpetua. Ritus humanos non volebant esse perpetuos aut immutabiles."

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autoritate verbi Dei", in der vor allem ein ausgesprochener Traditionalismus Melanchthons gesehen wurde, soll hier auf seine deutlichen Aussagen hingewiesen werden, in denen er der Heiligen Schrift allein die absolute Autorität zuerkennt, Artikel des Glaubens zu setzen. In dieser Schrift, in der der dogmatischen Tradition der alten Kirche große Bedeutung beigemessen wird und ihre Autorität nach O. Ritsehl „mit der unbedingten und grundlegenden Autorität der Heiligen Schrift" 1 0 8 verbunden wird, verweist Melanchthon jedoch eindeutig die Geltung dieser Tradition auf das Wort Gottes zurück. Die Kirche ist eine Garantie für das rechte Verständnis der Schrift 1 0 9 . Melanchthon bejaht die Autorität der Kirche: ,,qui dicitur Ecclesia, audiendum esse" n o , der Normcharakter ihrer Lehre aber geht auf das Wort Gottes zurück, das von ihr ausgeht: „Audiamus igitur docentem et admonentem Ecclesiam, sed non propter Ecclesiae autoritatem credendum est; nam Ecclesia non condii artículos fidei, tantum docet ac admonet. Verum propter verbum Dei credendum est ." 111 Bei Melanchthon findet sich dieselbe Motivation für die Anerkennung der dogmatischen Lehrtradition der Kirche wie bei der Übernahme der Glaubenssymbole durch Luther: „propter verbum Dei" Die Autorität, die die Kirche besitzt, ist nicht die eigene, sondern die des Wortes Gottes, das sie verkündet und auslegt. In der Ausübung ihrer Funktion als „custos verbi Dei" 1 1 2 hat sie wahre Autorität. Vor allem an zwei Beispielen stellt Melanchthon den Wert der Überlieferung heraus. Wenn Demosthenes im Prolog des Johannesevangeliums gelesen hätte: „in principio erat Verbum", so hätte er nicht wissen können, ohne aus der kirchlichen Überlieferung entnommen zu haben, daß dieses Verbum eine Person bedeutet 1 1 3 . Deshalb kann Servet, der die samosatenische Irrlehre vertritt, auch nicht verstehen, daß es sich hier um eine göttliche Person handelt, weil er von der kirchlichen Überlieferung nichts wissen will und sich von ihr nicht belehren läßt. Dieselbe unentbehrliche Funktion der Überlieferung in Bezug auf die Schrift erörtert Melanchthon am Beispiel Simsons. Die Philister hätten sein Rätsel nicht ohne Delilas Hilfe erraten können. Die Kirche „docet, manet, testatur", was in der

108 A.a.O., Bd. I, S. 288. 109 De ecclesia ., S. 336: „Si repudiamur autoritas Ecclesiae, conceditur deinde nimis magna licentia petulantiae ingeniorum, nam reiectis Ecclesiae sententiis, multi exeogitabunt novas et impias interpretationes Scripturae." 110 Ebenda. 111 Ebenda. 112 Loci ( 1 5 5 9 ) (SA), Bd. II/2, S. 4 8 3 . 113 De ecclesia S. 3 3 7 : „Fortassis Demosthenes n o n cogitaret de persona si legeret: In principio erat Verbum. Sed auditor admonitus ab Ecclesia, quod verbum s i g n i f i e d personam scilicet Filium Dei, adiuvatur iam ab Ecclesia docente et admonente et articulum credit non propter Ecclesiae autoritatem, sed quia videt hanc sententiam habere firma testimonia in ipsa Scriptura "; Vgl. Ratschow, a.a.O., S. 213.

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Schrift steht, und deshalb muß alles, was sie lehrt, in ihr begründet sein: „habeant firma testimonia verbi Dei." 1 1 4 In diesem Sinne versteht Melanchthon auch die Worte Augustinus: „Evangelio non crederem, nisi me Ecclesiae moveret autoritas." Der Glaube entsteht aus dem Evangelium, während die Kirche es lehrt und bezeugt. „Non sentit Augustinus, maiorem esse Ecclesiae autoritatem quam verbi divini, aut Ecclesiam posse abolere artículos in verbo Dei traditos, sed sentit Ecclesiam esse doctricem et testem." 1 1 5 Auch die dogmatischen Entscheidungen der ökumenischen Konzilien sind der Autorität der Schrift nicht ebenbürtig. Dies spricht Melanchthon in Bezug auf das Nicenum aus 1 1 6 Die Synoden stellen nicht aus sich Artikel des Glaubens auf, sondern sie formulieren diese auf Grund der Schriftwahrheit: „non gignunt nova dogmata, sed tantum profitentur sententias prius in scriptis Propheticis et Apostolicis traditas." 1 1 7 Die Unentbehrlichkeit der Überlieferung nach der Theologie Melanchthons unterscheidet seine Auffassung nicht grundsätzlich von Luthers Standpunkt über das Verhältnis zwischen Schrift und Tradition. Den Grundsatz, daß allein die Schrift Ursprung und Kriterium göttlicher Wahrheit ist und daß nur sie Artikel des Glaubens setzen darf, erhält er mit Luther ungebrochen aufrecht 1 1 8 . Der Grund des Glaubens ist allein die Heilige Schrift: ,,fides non nititur Ecclesia autoritate, sed ipsa voce Evangelii." 1 1 9 Die Schriftbezogenheit der Überlieferung, die auch in das Traditionsverständnis Melanchthons hineingehört, stellt diese in ein abhängiges Verhältnis zur Schrift, nach der der Inhalt ihrer Aussagen kritisch gemessen werden soll. Als allgemeine Regel gilt: „nihil pro articulo fidei habendum esse, quod non palam scriptura d o c e t . " 1 2 0 In Bezug auf die Schrift haben auch die Konzilien ihre dogmatischen Entscheidungen gefällt: „De divinitate filii credo Nicaeno concilio, quia scripturae credo, quae Christi divinitatem tarn clare nobis probat ." 1 2 1 . Die Schrift ist der Bezugspunkt und der Maßstab für die Überlieferung. Sie ist der Index für die ganze Lehre der Kirche. Als diese über die Häresien von Samosatenern und Arianern urteilte: „Index erat verbum Dei, id est, testimonia ex Evangelio . " l 2 2 . Diese Auffassung vertritt Melanchthon auch in der Zeit der letzten Loci-Ausgabe. Er stellt die Schrift über die Tradition, indem er nur der Schrift die Gewalt zuerkennt, das absolute Urteil zu fällen. Man muß sich an beide halten; er trifft jedoch

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De ecclesia . ., S. 339. Ebenda. Ebenda, S. 338. Ebenda; CR 23, 200 (Enarratio Symboli Niceni). K.H. Ratschow, a.a.O., S. 215 f.; Fr. Kantzenbach, a.a.O., S. 103 f. De signis monstrantibus Ecclesiam (SA), Bd. II/2, S. 495. Loci (1521) (SA), Bd. II/l, S. 60. Vgl. Ratschow, a.a.O., S. 212 f. Ebenda, S. 61. Loci (1559), S. 482.

eine Unterscheidung, was ihre Aussagekraft betrifft: „Hoc discrimen considerandum est. Non contemnamus docentem Ecclesiam, et tarnen iudicem esse sciamus ipsum verbum Dei." 123 Die Bedeutung der Überlieferung liegt in ihrer Übereinstimmung mit der Schrift und in der Aneignung der Schriftwahrheit. Sie darf der Schrift nicht widersprechen. Zwischen der Lehre der Kirche und dem Wort Gottes muß Übereinstimmung bestehen: ,,Sed in Ecclesia volet sententia congruens cum verbo Dei et confessione piorum "I24 Autorität gilt solange, wie ihre Aussagen schriftgemäß sind, oder wie Ratschow dazu schreibt: „Die Überlieferung hat Wert als zutreffende Schriftaussage." 1 2 5 Sie braucht die Bestätigung durch das Wort Gottes und bewährt sich durch ihren Dienst an der Schrift, indem sie als wegweisende Deutung die Schrift vor falschen Interpretationen schützt 126 . Auch für die evangelische Theologie gilt, wie E. Schlink zum Ausdruck bringt, daß die Schrift im allgemeinen Konsensus der Kirche verstanden werden muß: „Kein einzelner kann ohne die Kirche bekennen." 127 In der dogmatischen Überlieferung hat die alte Kirche die Schriftwahrheit explizit formuliert und zusammengefaßt und somit eine Beständigkeit und Festigkeit der Lehre erreicht: „nam dogmata volebant esse firma et perpetua." 128 Vor allem das Verständnis der Überlieferung als „testimonium", nicht als theoretische und abstrakte Festlegung der Lehre, sondern als lebendiges Zeugnis von der Schrift ist für Melanchthons Auffassung von der Tradition bezeichnend. Der Existenzbezug der Lehre der Kirche sowie ihre Schriftbezogenheit treten im Begriff des „testimonium" deutlich hervor 1 2 9 Die hohe Bewertung der dogmatischen Tradition durch Melanchthon erfolgt aus seiner Überzeugung heraus, daß in ihr die alte Kirche das Wesentliche des Schriftinhaltes zusammengefaßt hat. So bekennt er sich zu den drei altkirchlichen Symbolen, die in dem prophetischen und apostolischen Wort enthalten sind 130. Überhaupt spielt bei Melanchthon das Alter der Überlieferung eine große Rolle aufgrund ihrer Nähe zum apostolischen Zeitalter. Sie ist das 123 124 125 126 127 128 129

Ebenda, S. 483. Ebenda, S. 482. A.a.O., S. 215. De ecclesia . S. 336. Theologie ., S. 46. De ecclesia . ., S. 337. K.H. Ratschow, a.a.O., S. 214: „Uns scheint die Anwendung dieser ZeugnisKategorie auf die Überlieferung wichtig zu sein, denn damit sagt Melanchthon aus, daß die Überlieferung eben das Ziel hat, in die Schrift zu leiten und mehr nicht." 130 CR 3, 986.

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Vehikel, durch das das apostolische Wort uns erreicht und eine Garantie für die Sukzession der rechten Lehre der Kirche 131 . Melanchthon macht sich die Formel Tertullians zu eigen, wonach das Erste das Rechte sei 132 . Dabei soll jedoch nicht einfach das hohe Alter der Tradition ein Beweis für ihre Richtigkeit sein, vielmehr ist damit ihre Treue zu der apostolischen Lehre gemeint 1 3 3 . Melanchthon identifiziert primum mit verum aufgrund der substantiellen Übereinstimmung zwischen dem apostolischen Wort und der früheren Tradition der Kirche. Die Tradition erhält ihr Gewicht dadurch, daß sie den Inhalt der Schrift zusammenfaßt und in „definierter Gestalt" 1 3 4 vermittelt. Es ist deshalb durchaus im Sinne der Auffassung Melanchthons von dem Verhältnis zwischen Schrift und Tradition, wenn P. Fraenkel seine Untersuchung über Melanchthons Traditionsverständnis mit der Folgerung abschließt, daß die Schrift und Tradition nicht als zwei einander ergänzende Quellen der apostolischen Lehre betrachtet werden sollen, sondern als „different parts of the same line of doctrinal continuity from the original revelation down to the present" 1 3 S . Aufgrund ihrer inhaltlichen Übereinstimmung mit der Schrift „in eo senso" wird die Tradition von Melanchthon nach der Schrift als Kennzeichen für die eine katholische Kirche angeführt 1 3 6 . Die höchste Bewertung der Tradition findet ihren Ausdruck in der Aussage, daß Gott sich auch in Symbolen geoffenbart hat: „sicut se patefecit in scriptis propheticis et apostolicis, et in symbolis." 1 3 7 Sicherlich steht im Hintergrund des Gedankens, daß die Schrift und die Symbole göttliche Lehre seien, die Voraussetzung, daß die altkirchlichen Glaubenssymbole den Inhalt der Schrift kurz zusammenfassen und darlegen 138 . Wie in der

131 P. Fraenkel, a.a.O., S. 187. 1 3 2 De ecclesia S. 3 2 7 : „hanc regulam tenedum esse adversus omnes haereses, rectum esse, quacunque primum est, adulterinum vero quocunque posterius." 133 Ebenda: „Et quidem vocat primum, q u o d Apostoli certo tradiderunt, sic enim ipse esse interpretatur." Vgl. Ratschow, a.a.O., S. 2 1 2 f.; B. Hägglund, a.a.O., S. 44. 134 Ratschow, a.a.O., S. 213. 135 A.a.O., S. 3 6 1 . 136 CR 24, 3 9 8 . 137 CR 9, 733. Fr. Kantzenbach, a.a.O., S. 105 sieht in solchen Aussagen den Nachweis einer Tendenz in der Theologie Melanchthons, der Tradition eine nebengeordnete Stellung gegenüber der Schrift einzuräumen, teilt jedoch nicht die Auffassung O. Ritschis, daß es zwischen Luther und Melanchton, was die Tradition betrifft, einen wesentlichen Unterschied gäbe (S. 108). 138 Ursach, warum die Stende, so der Augspurgischen Confession anhangen (1546) (SA), Bd. I, S. 4 1 : „Das ist aber unser Christliche meinung, darauff wir beruwen, das diese leer, welche Got seiner Kirchen durch öffentliche gewisse zeugnuß geben hat, die gefasst ist in den Profeten und Apostel schrifft und Symbolis, gewißlich wahrhafftige Götliche leer sey, dadurch Got ime eine ewige Kirche samlet und Seligkeit gibt . . .". Vgl. Fr. Kantzenbach, a.a.O., S. 106.

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Schrift, so hat sich die göttliche Lehre auch in den Symbolen bewahrt 1 3 9 . Melanchthon kann die Glaubensbekenntnisse neben der Schrift erwähnen, weil er beide in ihren inhaltlichen Aussagen einig sieht. Wenn der Tradition in der Theologie Melanchthons auch eine bedeutende Rolle zukommt, so hält er jedoch an der Absolutheit der Schrift fest. Die neueren Deutungen des Traditionsverständnisses Melanchthons haben den Beweis erbracht, daß die bedeutendere Stellung der Tradition, die sie in Melanchthons Theologie einnimmt, diese jedoch nicht von ihrer Schriftabhängigkeit und -gebundenheit löst, aber auch, daß die Tradition eine eigene und deshalb unentbehrliche Funktion in der Kirche erfüllt. Ratschow faßt die Funktion der Tradition nach Melanchthon kurz zusammen: „Sie legt nicht das Fundament wie Apostel und Propheten. Sie gründet auch nicht den Glauben wie das ministerium verbi. Sie sichert das Fundament auf Ständigkeit hin ab und befestigt damit den G l a u b e n . " 1 4 0 Das Ernstnehmen der Kirche als ecclesia visibilis erklärt auch, warum das Phänomen der Tradition in der Theologie Melanchthons eine zunehmende Bedeutung gewinnt. Luther und Melanchthon wollten schließlich in der Kontinuität mit der dogmatischen Tradition der alten Kirche bleiben, und diese Absicht zieht sich wie ein roter Faden durch die ganzen Bekenntnisschriften hindurch b ; s zum „Catalogus Testimoniarum", der am Ende der Konkordienformel beigefügt wurde. Am Anfang derselben Schrift verpflichtet sich die evangelische Kirche, sich an die altkirchlichen Symbole zu halten, „nämlich das Symbolum Apostolicum, Symbolum Nicaenum und Symbolum Athanasii: bekennen wir uns zu denselben und vorwerfen hiermit alle Ketzereien und Lehr, so denselben zuwider in die Kirche Gottes eingeführt worden seind" 141 . Das Selbstverständnis und den Wert der Tradition bekunden die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, indem sie einerseits darum bemüht sind, in das Glaubensbekenntnis der alten Kirche einzustimmen 1 4 2 , und andererseits, indem ihnen eine ähnliche Autorität wie diesem 1 4 3 entgegengebracht wird, ohne daß sie sich als deren Ablösung verstehen, vielmehr wollen sie die altkirchliche dogmatische Tradition in sich aufnehmen. So stehen die Bekenntnisschriften nicht beziehungslos zu einer vorausgehenden Tradition. Wenn ihnen nur eine begrenzte Autorität in Vergleich zu den Bekenntnissen der alten Kirche zusteht, so gelten sie für die evangelisch-lutherische Kirche als normative Tradition. Dazu G. Ebeling: „ E s liegt also offen genug zu Tage, daß

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C R 7, 737. A.a.O., S. 215. S u m m . Begr. 1 6 - 2 1 (S. 768). Siehe hierzu E. Schlink, Theologie . Ebenda, S. 39 und S. 46.

., S. 43 ff.

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für die konkrete Existenz des Protestantismus keineswegs die Schrift allein konstitutiv ist, sondern auch eine bestimmte kirchengeschichtliche Tradition, und zwar neben vieler belastender, entstellender Tradition auch eine normgebende Tradition, zusammengefaßt etwa in den Bekenntnissen der Reformationszeit. Es wäre Torheit, dies bestreiten, dies nicht wahrhaben, dies sich nicht theologisch zum Problem werden lassen zu wollen. Der Protestantismus würde in der Tat sich selbst preisgeben, wenn er die Bindung an diese seine kirchengeschichtliche Tradition, also die Bindung an die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts preisgäbe." 1 4 4 c) M. Chemnitz In seinem „Examen Concilii Tridentini" 1 4 5 verfolgt M. Chemnitz dieselbe Richtung in Bezug auf die Tradition wie in der Konkordienformel, unter die er auch seinen Namen setzt. Die kritische Auseinandersetzung mit der tridentinischen Traditionslehre und ihre Ablehnung ergibt sich nicht aus einer prinzipiellen Abneigung gegenüber der Tradition. In der Analyse und Begründung dafür, daß sie von den Lutheranern nicht angenommen werden kann, bedient sich Chemnitz im größeren Teil seiner Argumentation der Hilfe der Tradition. Die Zurückweisung der Traditionslehre von Trident trifft nicht die Tradition im allgemeinen, sondern richtet sich überwiegend gegen den Konzilsbeschluß, wonach die mündlich überlieferte apostolische Tradition als zweite Glaubensquelle gleichen Ranges mit der Schrift gilt. Sieht man von der Ablehnung dieser Traditionslehre ab, so kann die Darstellung Chemnitz' über die Tradition als positiv bezeichnet werden. Allein die Tatsache, daß er acht „genera traditionum" unterscheidet und „jedes von ihnen auf seine Berechtigung hin untersuchte", wie O. Rizschl 1 4 6 nicht gerade zustimmend feststellt und ihn deshalb in Melanchtons' Traditionalismus einreiht, spricht dafür, daß die Tradition von Chemnitz als ein ernstzunehmendes Phänomen betrachtet wird. Sein Traditionsverständnis geht im wesentlichen nicht über den reformatorischen Grundsatz hinaus, vielmehr unternimmt er eine für die Reformation notwendige Darstellung des Stellenwertes der Tradition. Gerade in der Auseinandersetzung mit der katholischen Traditionslehre, die er auf der Grundlage des sola scriptura betreibt, wird der Rahmen umrissen, in dem er die Tradition akzeptiert. Wie weit sein Traditionsverständnis reicht, zeigt sich an den acht Bedeutungen, die er im Traditionsbegriff unterscheidet, die im folgenden untersucht werden.

144 Die Geschichtlichkeit der Kirche S. 89; E. Kinder, Schrift und Tradition, in: Die Katholizität der Kirche, Hrsg. H. Asmusen und W. Stählin, Stuttgart 1957, S. 15 ff. 145 Hrsg. von Ed. Preuss, Berlin 1861. 146 A.a.O., Bd. I, S. 3 7 5 ff.

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Unter dem ersten Genus traditionum versteht er die Heilige Schrift, das heißt das, was Jesus Christus und die Apostel ursprünglich mündlich überlieferten und was danach schriftlich niedergelegt wurde 147 . Das Hauptargument, das den Beweis für seine These liefert, daß das, was die Kirche verkündigt, sie von den Aposteln empfing und dies mit der Schrift identisch ist, entnimmt Chemnitz der Tradition selbst. Cyprian, Basilius und Irenäus zieht er zur Bekräftigung seines Beweises heran dafür, daß die Kirche die Predigt der Apostel treu weiterüberliefert hat. Dieselbe Heilswahrheit der apostolischen Botschaft wird von der Kirche verkündet: ,,unam et solam eam veritatem quam ab Apostolis acceperat, quam etiam Ecclesia tradidit, praedicavit." 148 Wichtig war dabei die Frage, ob die Traditionslehre der Kirche, die auf die apostolische Verkündigung zurückgeht, „alia et diversa ab ea quam in scripturam comprehensam" enthält 149 . Diese Frage, sagt Chemnitz weiter, wurde von der katholischen Kirche in Tridentinum positiv beantwortet. Demgegenüber lag Chemnitz hauptsächlich daran, an Hand der Tradition zu beweisen, daß die Väter, auf die er zurückgreift, nicht anders gedacht hätten, als daß die Tradition, die die Kirche von den Aposteln empfing, inhaltlich identisch mit der Schrift sei. Wenn Irenäus von Polycarp schreibt, daß das, was er von den Aposteln über den Herrn Jesus Christus, ,,de virtutibus et doctrina ejus audierit", die nicht aufgeschrieben wurden, „non chartis, sed cordi inscripsisse", soll nach M. Chemnitz jedoch nicht als ein Argument „pro traditionibus extra scripturam" geltend gemacht werden. Irenäus fügt weiter hinzu, daß diese Traditionen, die Policarpus von denen, die selbst „Verbum vitae viderant" erhalten hat, im Einklang mit der Schrift stehen: „πάντα σύμφονα τάις "γραφαϊς, omnia sanctis Scripturis consona." 1 5 0 Damit wird nicht verneint, daß es Traditionen gab, die von den Aposteln stammten, die in der Schrift nicht expressis verbis enthalten sind. Die Worte σύμφονα und consona bejahen die Existenz einer solchen Tradition, die mit der Schrift nicht in der Form, wohl aber inhaltlich übereinstimmte. Es kann nicht angenommen werden, daß die Apostel dieselben Aussagen wiederholten, die schriftlich fixiert wurden. Sie legten selbstverständlich die Botschaft des Evangeliums aus, machten sie verständlich und zogen aus ihr praktische Konsequenzen für das Leben der Christen, übertrugen es auf die gottesdienstlichen Versammlungen entsprechend der neuen christlichen Lehre. Chemnitz gesteht ein, daß die Apostel mündlich viel mehr überlieferten als geschrieben steht 151 147 148 149 150 151

Examen Concilii Tridentini, S. 70. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 71. Ebenda, S. 71: „Apostoli multa tradiderunt viva voce: Apostolici ab Apostoli ex traditione vivae vocis multa acceperunt, quae suis postea discipulis rursus tradiderunt."

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Alles, was in der Tradition schriftgemäß ist, verdient geachtet und gehalten zu werden: „Et nos eorum nihil rejecimus, sed omnia quae Scripturis sanctis consentanea sunt, suspicimus et veneramur." 1 5 2 Mit secundum genus traditionum meint Chemnitz die Tradition der Kirche, die ununterbrochen im Laufe der Zeit die biblischen Schriften treu bewahrte, die uns „quasi per manus traditi sunt" 1 5 3 . Sie bezeugte und bestätigte die Wahrhaftigkeit und die Echtheit der kanonischen Schriften. Die Tradition der Kirche hat uns die Bücher der Schrift anvertraut. Die Kirche erkannte nur jene Traditionen an, die an die Schrift gebunden waren, „se obligatam esse ad vocem doctrinae sonantis in Scriptura" 154. Diese Tradition, die uns die Schrift übermittelte, nimmt Chemnitz an: „Et hanc traditionem, qua nobis in manum dan tur sacrae Scripturae libri, reverenter accipimus." 1 5 5 Als drittes genus traditionum behandelt Chemnitz die Glaubenstradition, wie sie im apostolischen Symbol dargelegt und von Irenäus und Tertullian besonders geschätzt wurde. Die dogmata fidei, die die Kirche im Symbol zusammenfaßte, geht auf die apostolische Tradition zurück, die in der Kirche lebendig erhalten wurde. Der Wert dieser Tradition steht außer Diskussion. Das zentrale Problem, auf das Chemnitz immer wieder zurückkommt, um das in der Kontroverse gerungen wird, besteht in der Frage, ob die Kirche auf dem Wege der Tradition von den Aposteln substantiell etwas mehr empfing als in der Schrift geschrieben wurde. Die kategorische Verneinung dieser Frage durch die Lutheraner, zu denen Chemnitz zählt, bedeutet keineswegs eine Abwertung dieser Tradition, der er große Achtung entgegenbringt. Im Glaubenssymbol verdichtet sich die ganze Schrift 1 5 6 . Das apostolische Glaubensbekenntnis ist die Quintessenz der Tradition. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Glaubensartikel auch in der Schrift wiederfinden 1 5 7 . So werden die dogmata fidei als summa totius scripturae und als Kern der apostolischen Tradition betrachtet 1 5 8 . Deshalb kann aus der Tradition nicht bewiesen werden, daß sie Glaubensartikel enthält, die sich aus der Schrift nicht nachweisen lassen, wohl aber den „consensum verae traditionis Apostolicae cum Scriptura" 1 5 9 . 152 153 154 155 156 157

Ebenda, S. 71. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 76. Ebenda, S. 74: „ N o n igitur aliquod aliud dogma fidei ex traditione proferunt et probat, praeter ilia, quae in Scriptura continentur: sed eadem, et ilia ipsa dogmata, quae in Scriptura comprehenduntur, ostendunt et probant etiam ex traditione." 158 Ebenda, S. 74: „quid ist illud, quod ex traditione probant: et sunt illi ipsi articuli fidei, quos S y m b o l u m Apostolicum complectitur. Illos autem in Scriptura multis manifestis testimoniis, nullum est dubium." 159 Ebenda.

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Mit der Auslegung der Schrift durch die Tradition stellt Chemnitz an vierter Stelle eine andere Dimension der Tradition heraus. Der Tradition k o m m t besondere Bedeutung zu in ihrer Funktion als Auslegung der Schrift. In der Tradition der Kirche leben die Lehre der Apostel und ihr Verständnis des Evangeliums weiter. Irenaus und Tertullian weisen deshalb so nachdrücklich in ihren Auseinandersetzungen mit den Häretikern auf die Tradition hin, weil ohne sie die Gefahr bestünde, die Schrift falsch zu interpretieren. Die Tradition ist die legitime Auslegung der Schrift (legitima expositio). Sie ist unentbehrlich zum rechten Verständnis der Schrift. Die Autorität der Tradition als Schriftauslegung begründet Chemnitz darin, daß die Apostel auch ihre Interpretation des Evangeliums überliefert haben. Die Apostel haben nicht nur ihre Schriften hinterlassen, sondern von ihnen empfing die Kirche auch das Verständnis der Heilsbotschaft. Es sind nicht die eigenen Überlegungen der Kirche über das Evangelium, die in der dogmatischen Tradition zusammengefaßt wurden. Sie versteht die Schriften aus der allgemeinen Auslegung der Apostel und in der Kontinuität der apostolischen Lehre. Ihr besonderer Wert besteht deshalb eben darin, daß die Schriftauslegung der Tradition auf die Apostel zurückgeht, worauf Chemnitz ausdrücklich hinweist: „Nullum eium est dubium primitivam Ecclesiam accepisse ab Apostolis, et a viris Apostolicis. non t a n t u m t e x t u m (sicut loquimur) Scripturae, verum etiam legitimam et nativam ejus interpretationem, quam quia primitiva Ecclesia, ad ilia usque tempora sine fictione custodierat, ita ut certis documentis probare p o s s e t . " 1 6 0 Gerade weil die mündliche Tradition die Auslegung der Heilsbotschaft durch die Apostel enthält, wird man ihre Bedeutung noch höher einschätzen müssen. Zu der Tradition gehören auch jene Dogmen, auf die sich die Väter beziehen, obwohl sie nicht ausdrücklich in der Schrift enthalten sind, jedoch mit Sicherheit von ihr abgeleitet werden können 1 6 1 Chemnitz erläutert dieses f ü n f t e Genus traditionum am Beispiel von ομοούσιος, der sich nicht in der Schrift befindet und deshalb von den Arianern als aypcupov abgelehnt wurde. In Zusammenhang damit vertraten die Väter jedoch die Auffassung, daß es prinzipiell nicht möglich sei, Dogmen zu beschließen, die nicht aus der Schrift begründet werden können. Wenn sie nicht wörtlich in der Schrift stehen, so müssen sie jedoch darin mitenthalten sein: „licet vocabulum non exstat in Scrip tura, rem ipsam tarnen habere certissima Scripturae testimonia." 162 Die personale Union, die zwei Naturen in Christus sowie die Kindertaufe, sprechen für diese Art

160 Ebenda, S. 77. 161 Ebenda, S. 78: „Quintum genus Traditionum constituemus illud, quod Patres aliquando ita vocant ilia dogmata, quae non totidem literis et syllabis in Scriptum ponuntur, sed bona, certa, firma et manifesta ratiocinatione, ex perspicuis Scripturae testimoniis colliguntur." 162 Ebenda, S. 80.

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von Tradition, die, wenn sie in der Schrift nicht eindeutig zu finden sind, doch in ihr nachgewiesen werden können 1 6 3 . Mit dem Konsensus Patrum unterscheidet Chemnitz einen weiteren Aspekt des umfassenden Traditionsbegriffs, der wegen seiner Bedeutung ebenso beachtet zu werden verdient. Die Vorwürfe, die gegen die Lutheraner erhoben werden, daß sie das Zeugnis des kirchlichen Altertums nicht schätzten, weist er zurück und entgegnet mit einer Würdigung der Tradition der Väter und des altkirchlichen Konsensus, den auch sie suchen: „inquirimus consensum verae, eruditae et purioris antiquitatis, et Patrum testimonia, quae Scripturae consentanea sunt, amamus et magnifacimus." 1 6 4 Zuerst muß dem Wort Gottes gefolgt werden als judex aller Lehre in der Kirche und danach ihrem Zeugnis. Die Väter haben sich als die Verteidiger der rechten Lehre nach der Schrift erwiesen (fideles custodes doctrinae), und deshalb soll auf ihr Zeugnis als rechte Auslegung der Schrift nicht verzichtet werden. Als die Väter gegen die Häretiker die wahre Lehre der Kirche verteidigten, richteten sie sich nach dem Wort Gottes und nach der Tradition der Kirche. Ebenso schreibt Chemnitz, daß mit dem Wort der Schrift auch die Confessio verae Ecclesiae mitgehört werden soll: ,,Ita J u d e x est verbum Dei, et accedit purae antiquitatis confessio." 1 6 5 Den Wert der altkirchlichen Tradition stellt er noch einmal heraus, wenn er am Beispiel von Servetus behauptet, daß keine Lehre gegen das Zeugnis der alten Kirche aufgenommen werden kann 1 6 6 . Unter den Begriff der Tradition fallen auch die kirchlichen Riten, Bräuche und Handlungen, die aufgrund ihres Alters auf die Apostel zurückgeführt wurden 1 6 7 . Diese Traditionen gehören nicht zu den dogmata fidei und sind auch nicht in der Schrift enthalten, sondern wurden „extra et praeter scripturam recipienda" 1 6 8 . Obwohl Basilius, schreibt Chemnitz, sie „dogmata sine scripto" nennt, versteht er sie nicht als Glaubensartikel, sondern als Riten. Dabei handelt es sich nicht um noch andere Dogmata fidei, die aus dem Zeugnis der Schrift nicht nachgewiesen werden können. Auch wenn die Apostel Riten, die sich nicht in der Schrift befinden, eingeordnet und der Kirche überliefert haben, was Chemnitz durchaus bejaht 1 6 9 , soll jedoch ein Unterschied zwischen der 163 164 165 166

Ebenda. Ebenda, S. 81. Ebenda, S. 81. Ebenda, S. 81: „Sentimus etiam, nullum dogma in Ecclesia novum, et cum tota antiqui tate pugnans recipiendum." 167 Ebenda, S. 85: ,,quos propter antiquitatem ad Apostolos retulerunt." 168 Ebenda, S. 84. 169 Ebenda, S. 85: „Apostolos igitur ritus quosdam ordinasse et tradidisse Ecclesiis, ex scripsis ipsorum certo constat: Et verisimile est, quosdam etiam alios externos ritus, qui in Scriptura annotati non sunt, ab Apostolis traditos esse."

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Lehre und dem Ritus gemacht werden 1 7 0 . Die Tatsache aber, daß es solche Traditionen gibt, kann nicht als Beweis dafür angesehen werden, daß sie etwas Neues und wesentlich mehr als die Schrift darstellten. In Wirklichkeit sind sie nur Ausdruck bzw. konkrete gottesdienstliche Gestaltung der christlichen Lehre, oder wie Chemnitz es ausdrückt: „exercitium et usum ejus doctrinae quae in scripturae testimoniis comprehensa e s t . " 1 7 1 Die Kirche ist aber nicht im gleichen Maße an diese Traditionen gebunden wie an die Einhaltung der Lehre. Gegenüber den Riten hat sie die Freiheit, diese zu verändern oder zu ersetzen. 1 7 2 Im letzten genus traditionum wendet sich Chemnitz gegen die Traditionslehre des tridentinischen Konzils, nach dem solche Traditionen, die den Glauben und die Sitten betreffen, ohne aus dem Zeugnis der Schrift ihre Legitimation nachweisen zu können, doch mit gleicher Ehrfurcht und Frömmigkeit wie die Schrift selbst angenommen und verehrt werden sollen 1 7 3 . Chemnitz verwirft idle Traditionen, die sich nicht auf die Schrift berufen und mit ihr nicht übereinstimmen. Die Tradition läuft nicht parallel zur Schrift als zweite Quelle des Glaubens, die die Schrift ergänzt. Die Annahme solcher Traditionen, deren Inhalt nicht auf die Schrift zurückgeführt werden kann, sind für die Kirche gefährlich und für den Glauben schädlich 1 7 4 . Voraussetzung und zugleich Bedingung für die Anerkennung der Tradition soll ihr biblischer Bezug sein. Damit hält auch er sich an das für die Reformation geltende Kriterium, nach dem die Tradition nicht wahllos und apriori abgelehnt, sondern an der Schrift geprüft werden soll. Wenn sie mit der Schrift übereinstimmt, wird sie anerkannt und geschätzt: „nos non simplicer omnes traditiones rejicere quae enim aut in Scriptura continentur, aut Scripturae consentaneae sunt, illas non i m p r o b a m u s . " 1 7 5 Chemnitz' ausführliche und differenzierte Analyse des Traditionsbegriffes ist ein Beweis aus der Reformationszeit dafür, daß die Ansätze Luthers und Melanchthons für ein kritisches, aber auch positives Traditionsverständnis die Grundlage schufen für eine Anschauung über die Tradition, die auf dieser Basis weiterentwickelt werden kann und deren Bedeutung auch in der reformatorischen Kirche nicht übersehen wird. Wie sich aus Chemnitz' Darstellung der Tradition ergibt, weiß sich die reformatorische Kirche auch der dogmatischen Tradition der alten Kirche verpflichtet und erkennt sie nach der Schrift als Norm der wahren christlichen Lehre an. Die Schrift ist zwar der Richter und besitzt absolute Autorität, sie wird aber im Konsensus und in der Kontinuität der 1 7 0 E b e n d a , S. 8 5 : „ S i c u t igitur discrimen est inter d o c t r i n a m , et inter r i t u s . " 171 E b e n d a , S. 8 5 . 1 7 2 E b e n d a , S. 8 6 : „ D o c t r i n a m enim universalis et perpetua est, ritus vero circumstantiis mutari libere p o s s u n t . " 173 E b e n d a . 1 7 4 E b e n d a , S. 8 7 . 175 E b e n d a , S. 9 9 .

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Tradition verstanden. Die Darstellung Chemnitz' könnte als ein Plädoyer für die Tradition nach dem reformatorischen Verständnis betrachtet werden. In der Durchführung seiner Auseinandersetzung mit dem tridentinischen Traditionsverständnis sowie in seinen Überlegungen über die verschiedenen Bedeutungen der Tradition argumentiert er hauptsächlich mit patristischen Belegstellen. Die häufige Berufung auf die patristische Tradition, die seine Untersuchung über die Tradition prägt, soll über ihren Gebrauch als Methode hinaus auch von dem tatsächlichen Wert dieser Tradition zeugen. d) J . Gerhard Neben dem „Examen Concilii Tridentini" von Chemnitz, in dem die Ablehnung des tridentinischen Traditionsverständnisses keine fundamentale Ablehnung der Tradition im allgemeinen bedeutet, zeigt J o h a n n Gerhard kurze Zeit danach in seinen „Loci Theologici" 1 7 6 , wie sich eine so häufige Verwendung der Tradition mit der Einschränkung ihrer Bedeutung vereinbaren läßt. Die Bewertung der Tradition durch Gerhard bleibt zwar im Grunde im Rahmen lutherischen Traditionsverständnisses, steht aber im Zeichen der anhaltenden Auseinandersetzung mit der katholischen Traditionslehre, deren Kritik und Ablehnung nicht ohne Auswirkungen auf seine Einstellung zu der altkirchlichen Tradition blieben. Nachdem Gerhard „de perfectione et de perspicuitate Scripturae sacre" und jene als ,,norma ac regula dogmatum et controversiarum in Eccle« a " 1 7 7 als unbestreitbare Lehre darstellt, erkennt er die Tradition an, nur soweit sie nichts anderes als die Schrift lehrt. Die Schrift enthält alles, was für das Heil des Menschen notwendig ist. Ihre Vollkommenheit ist dogmatischer Natur 1 7 9 . Es sollen keine anderen Glaubensartikel angenommen werden als die, die in der Schrift bezeugt sind, denn alles, dessen der Mensch zu seiner Heilung bedarf, „perspicue in ea sunt proposita" 1 7 9 . Vollkommenheit und Klarheit der Schrift sind auf diese Weise eng miteinander verbunden. Auch wenn in der Schrift weniger verständliche Stellen vorhanden sind, so erklären sie sich aus deren gesamtem Kontext 1 8 0 . Die Tradition der Väter, von der Gerhard allerdings reichlichen Gebrauch macht, wird zwar geschätzt, sie kann aber zum Licht der Schrift nichts hinzufügen. Das Verhältnis stellt sich gerade umgekehrt: „patres non inferunt lucem in Scripturam, sed ex Scriptura lucem commentariis suis m u t u a n t u r . " 1 8 1

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Berlin ab 1 8 6 3 . Loci Theologici, Bd. I. Vgl. dazu Kap. XVIII, XX, XXI, XXII. Ebenda, S. 157. Ebenda, S. 182. Ebenda. Ebenda, S. 185.

Die Schriften der Väter, die seiner Beurteilung nach auch viele Mängel aufweisen' 8 2 , betrachtet er jedoch als hilfreiche Kommentare zum Verständnis der Schrift 1 8 3 . Der „scripturae perspicuitate" wird dadurch, daß die Schriften der Väter als eine Hilfe für das richtige Schriftverständnis herangezogen werden, nicht widersprochen, denn die unverständlichen Stellen der Schrift beweisen nicht, daß sie selbst unvollkommen ist, vielmehr offenbaren sich hierin unsere eigenen Schwierigkeiten und Schwächen 1 8 4 . Mit der „sufficientia d o g m a t u m " 1 8 5 der Schrift ist die Traditionslehre des tridentinischen Konzils unvereinbar. Die traditiones άγραφους 1 8 6 lehnt Gerhard ab mit der Begründung, daß das, was von Christus und den Aposteln heilsnotwendig geoffenbart wurde, in der Schrift enthalten ist 1 8 7 . Auch wenn die Apostel mehr viva voce als schriftlich verkündeten Q o h . 16,12), ist dies kein gewichtiges Argument zugungsten der Tradition, wie sie vom tridentinischen Konzil vertreten wurde, denn das Wesentliche 1 8 8 wurde in die Schrift aufgenommen. Gerhard spricht den nichtgeschriebenen Traditionen nicht jeglichen Wert ab. Ihm geht es dabei nicht darum, daß die nichtgeschriebenen Traditionen ohne Verlust entbehrt werden können, sondern darum, daß sie nicht ohne Bezug auf die Schrift existieren oder auch nicht andere Glaubenswahrheiten als die der Schrift hervorbringen können. Er versteht die Tradition nicht mehr als das Zeugnis der Kirche von der Schriftwahrheit. Die regula fidei, wie die Väter das Apostolikum nannten, widerspricht weder der Schrift noch ergänzt sie sie mit anderen Glaubensartikeln. Der Glaube, der in der Tradition fixiert wurde, darf nicht mehr und nicht weniger umfassen als das, was aus der Schrift hervorgeht: „Scriptum et fides nostra sunt aequalis latitudinis. Fides nec plus nec minus debet amplecti quam est in Scripturis revelatam." 1 8 9 Neben der Behandlung der Tradition als Schriftauslegung im ersten Locus „de Scriptura sacra" analysiert Gerhard das Traditionsproblem noch im Locus „de Ecclesia", wo der Konsensus „in doctrina cum ecclesia a n t i q u a " als eine „ n o t a Ecclesiae" dargestellt wird 1 9 0 . Er erkennt, daß die dogmatische Übereinstimmung mit der Lehre der alten 182 183 184 185 186 187

Ebenda, S. 205. E b e n d a , S. 182. E b e n d a , S. 183. E b e n d a , S. 157. E b e n d a , S. 171 ff. E b e n d a , S . 177: „ E r g o nihil quicquam corum, quae fuere necessaria, Christus in a p o s t o l o r u m institutione praetermisit. Vicissima apostoli omnia necesaria in scriptis suis p r o p o s u e r u n t . " 188 Ebenda, S. 180: „ C o n c e d i u m s , J o h a n n e u m et reliquos apostolos plura predicasse viva voce, quam literis mandasse, sed tarnen necessaria ab ipsis scripta sunt." 189 Ebenda, S. 200. 190 Ebenda, Bd. V, Berlin 1867 S. 4 5 3 f f .

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Kirche ein Kennzeichen der Kirche sein muß. Doch die dogmatische Lehre der alten Kirche wird nur dann als Norm betrachtet, wenn sich herausstellt, daß diese identisch ist mit der apostolischen Lehre, so wie sie in der Bibel niedergeschrieben wurde. Erweist sie sich als solche, „facile concedimus consanguinatatem cum illa antiqua doctrina" 1 9 1 . Die Anerkennung der altkirchlichen Tradition bezieht sich nur auf die ersten fünf Jahrhunderte. In jener Zeit hat die Kirche die apostolische Lehre treu bewahrt, und deshalb kann man sie für jene Zeit als wahre Kirche bezeichnen. Danach wurde die apostolische Lehre allmählich mit menschlichen Traditionen vermischt . Auch die Kirchenväter der ersten fünf Jahrhunderte werden entsprechend geschätzt 193 . Wenn ihre Schriften Beachtung verdienen, sind sie jedoch nicht in sich als Norm zu betrachten, zumal sie selbst ihre Schriften unter die Autorität der Heiligen Schrift stellten und alles, was sie lehren, an der Schrift zu belegen versuchten 194 Anders als den Schriften der Kirchenväter weiß sich die evangelische Kirche der dogmatischen Lehre der alten Kirche verbunden. Sie glaubt von sich, die Glaubenstradition der alten Kirche übernommen und mit ihr gemeinsam zu haben. Auch Gerhard liegt sehr viel daran, den Glaubenskonsensus mit ihr herauszustellen 195 . Auch wenn Gerhard viel mehr darum bemüht war, herauszustellen, daß „Scripturam esse normam universalem, primariam et principalem" und an ihr „omnis doctrina exigenda ist" 1 9 6 , verzichtet er deshalb nicht auf den Glaubenskonsensus mit der alten Kirche als eine wichtige nota ecclesiae. Dieses inbrünstige Bekenntnis zu der Schrift als „principium theologiae unicum, immotum et proprium" 1 9 7 macht die Zustimmung zu der Glaubenstradition der alten Kirche nicht überflüssig. Wer dieser Tradition widerspricht und sie nicht hält, widerspricht zugleich der Schrift aufgrund der Tatsache, daß die Tradition mit ihr übereinstimmt. Die Auffassung Gerhards über Schrift und Tradition bleibt im Rahmen des reformatorischen Verständnisses. Eine Akzentverschiebung zuungunsten der Tradition macht sich jedoch bei ihm bemerkbar. Ihre Bedeutung wird durch den Hinweis geschwächt, daß letzten Endes nicht die dogmatische Tradition als nota ecclesiae zu betrachten ist, sondern die Schrift, weil sie ihre Lehre von der Schrift abzuleiten hat, um angenommen zu werden. Dieser Gedanke, daß sich die Tradition in ihren

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Ebenda, S. 4 5 3 . Ebenda, S. 4 5 4 . Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 4 6 0 : „Nura ecclesiae evangelicae consanguinitate doctrinae cum veteri ecclesia apostolorum temporibus p r ó x i m a sint conjunctae. Nos constanter illud affirmamus ac in singulis controversiis consensum illum doctrinae demonstramus." 1 9 6 Ebenda, S. 4 5 4 . 197 Ebenda, Bd. I, S. 8.

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dogmatischen Aussagen nicht von der Schrift unterscheiden soll, von der sie abhängig ist, entspricht durchaus dem reformatorischen Traditionsverständnis. Es kann jedoch auch zu einer Entleerung des Wertes der Tradition führen, wenn man nur im Auge behält, daß die Bedeutung der Tradition im Grunde allein auf die Schrift zurückzuführen ist 198 . Dadurch wird einmal mehr die Absolutheit der Schrift hervorgehoben, statt zugleich aus der Übereinstimmung mit der Schrift den Wert der Tradition herzuleiten. Gerhard scheint mehr an der Hervorhebung der Schrift als der einzigen Norm des Glaubens und der Theologie interessiert zu sein, wozu er sich der Tradition als eines Argumentes mehr bedient, statt zugleich auch die Bedeutung der Tradition gerade aus ihrer Schriftgemäßheit abzuleiten, ohne dadurch den reformatorischen Boden zu verlassen oder die Autorität der Schrift zu gefährden. Die E n t f r e m d u n g von der Tradition, die in der Folgezeit der lutherischen Orthodoxie zu verzeichnen ist, entwickelte sich zweifellos im Zusammenhang mit und aus dem Gegensatz zu der katholischen Traditionslehre von Trident. G. Ebeling sieht in der Notwendigkeit, die absolute Autorität der Schrift gegenüber dem katholischen Traditionsverständnis zu behaupten, ein Hindernis für eine tiefere Beschäftigung der Reformation mit der Tradition und für die Bewußtwerdung ihrer theologischen Relevanz 199. Die Dogmatisierung der Tradition von der katholischen Kirche in Trident führte auch nach E. Kinder zu einer stärkeren Ablehnung der Geltung der Tradition von der lutherischen Orthodoxie 2 0 0 .

2. Neubesinnung auf das Problem der Tradition in der zeitgenössischen evangelischen Theologie Es ist eine weitverbreitete Meinung in der evangelischen Theologie, die schon ihre ersten Früchte getragen hat, daß das Verständnis der Tradition, so wie es bis in unser J a h r h u n d e r t hinein überliefert wurde, reformbedürftig ist und der Neubesinnung bedarf. Das Phänomen der Tradition, das o f t als unevangelisch galt 1 , hat n u n eine neue theologische Wertung erfahren, nachdem es schon immer einen festen Sitz im Leben der evangelischen Kirche gehabt h a t 2 Durch eine kritische Überprüfung der evangelischen Haltung gegenüber der Tradition und durch 198 Ebenda, Bd. V, S. 380—381: „Scriptura est unica regula theologie veritatis, ergo etiam ex Scriptura Veritas ecclesiae demonstranda." 199 „Sola scriptura" und das Problem der Tradition, in: Wort Gottes und Tradition, 2. Aufl., Göttingen 1966, S. 94. 2 0 0 Schrift und Tradition, S. 25. 1 G. Ebeling, „Sola scriptura . .", S. 92. 2 E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 19.

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die Erforschung der eigentlichen Stellung der Reformation zu dem Problem der Tradition zeigte sich, daß die Abneigung gegen diese, die sich im L a u f e der Zeit eingeschlichen hatte, auf ein Mißverständnis des reformatorischen Traditionsverständnisses zurückzuführen ist. Nach E. Kinder fand „eine grundsätzliche Verschiebung" des gegen bestimmte, mit Eigenwert und Heilskraft versehene „traditiones h u m a n a e " gerichteten reformatorischen Protestes auf den Traditionsbegriff im allgemein e n 3 statt. Aus dem berechtigten, aber begrenzten Protest gegen gewisse menschliche Bestimmungen, die als gnadenvermittelnde Traditionen galten, bildete sich ein Pauschalurteil, das sich gegen die Tradition als Ganzes richtete und sie als solche in Mißkredit rückte. Erst durch die ernsthafte Beschäftigung und unvoreingenommene Zuwendung zum Traditionsproblem wurden die Mißverständnisse und Vorurteile aufgedeckt, die das Verständnis von der Tradition in der reformatorischen Kirche lange Zeit belasteten. Man hatte dabei vorher übersehen, daß diese negative Einstellung gegenüber der Tradition im Grunde das Ergebnis einer falschen Einschätzung und Verallgemeinerung des reformatorischen Protestes war. Es war übersehen worden, daß die Bekenntnisschriften den Wert der Tradition anerkannten, indem sie bewußt an die altkirchliche Tradition anknüpften und in der Kontinuität mit ihr bleiben wollten, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde und es heute in der evangelischen Theologie unbestreitbar feststeht. Ein traditionsloses reformatorisches Christentum wäre nicht nur eine Selbsttäuschung, sondern zugleich eine Selbstverneinung. Die Kritik Luthers an der Überlieferung, schreibt G. Gloege, „gipfelte nicht in dem Vorwurf, daß die Kirche zu viele oder daß sie überhaupt Überlieferungen, sondern darin, daß sie eine falsche Uberlieferung habe. Auch er kennt und übt den Traditionsbeweis. Auch er steht in einer Traditionskette von .Zeugen der Wahrheit', die ihn über die Mystiker des Mittelalters mit den Vätern der alten Kirche verbindet; der alten .rechtmäßigen Kirche' "4 Mit Nachdruck wird in der evangelischen Theologie der Gegenwart die Überzeugung vertreten, daß jene Haltung gegenüber der Tradition, die irrtümlich von der Reformation abgeleitet wurde, gerade nicht zu deren Grundsätzen und zum Wesen der evangelischen Kirche gehört. Sieht man von den falschen Traditionen, die sie mit Recht anprangerte, ab, so steht jedoch die lutherische Reformation kirchlichen Traditionen positiv gegenüber, die sie auch „kräftig praktizierte" 5 , und sie hatte keineswegs die Absicht, mit dem „ S o l a scriptura" ein Anti-Traditionsprinzip einzuleiten. Denn sie behielt selbst viele Traditionen bei, wie E. Schlink dazu bemerkt, die im Laufe der Kirchengeschichte entstanden und die 3 4 5

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Ebenda, S. 13. Offenbarung und Überlieferung, S. 17. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 13 und S. 11.

der Schrift nicht w i d e r s p r a c h e n 6 . Ihr A u f t r e t e n gegen die falschen „traditiones h u m a n a e " geschah, wie E. Kinder formuliert, nicht „im Namen der Subjektivität oder der geschichtslosen U n m i t t e l b a r k e i t " 7 u n d somit gegen j e d e Art von Tradition, vielmehr wollte sie diese am Evangelium prüfen. Eben darin liegt nämlich der Ertrag u n d der Verdienst der heutigen evangelischen Theologie, gezeigt zu haben, daß die Tradition von den Anfängen auch dieser Kirche an immer als ein Wesenselement zu ihrer geschichtlichen Existenz hinzugehört, o h n e die sie den Auftrag, das Evangelium weiterzugeben, nicht erfüllen k ö n n t e . Es wäre eine rein theoretische K o n s t r u k t i o n , die eines tieferen Verständnisses des Evangeliums e n t b e h r t e , sich die Kirche außerhalb der Tradition vorzustellen; d e n n das Evangelium selbst r u f t notwendigerweise die Tradition auf den Plan. Deshalb auch die legitime u n d nicht zu verneinende Frage E. Kinders: „Gibt es nicht auch kirchliche Traditionen, die durch das Evangelium selbst gewirkt, durchaus für den Zentralgehalt der Heiligen Schrift, das Evangelium, stehen u n d eine von G o t t gegebene Hilfe für seine Erfassung, Bewahrung u n d richtiger Weiterverkündigung sind? " 8 Eine Überprüfung u n d theologische Bewertung der Tradition wurden unvermeidlich u n d stellten sich für die evangelische Theologie auch aus dem ö k u m e n i s c h e n Dialog, durch den sie mit d e m Problem der Tradition neu k o n f r o n t i e r t wurde. D e n k a n s t ö ß e in Richtung einer Neubesinnung auf die Bedeutung der Tradition e m p f i n g sie auch durch die Einsichten des m o d e r n e n geschichtlichen Denkens und der Existenzanalyse, die unabhängig von kontroverstheologischen und konfessionsbedingten Überlegungen, die Tradition als ein S t r u k t u r e l e m e n t geschichtlicher menschlicher Existenz herausstellten 9 Wenn die Tradition ein Grundprinzip der Geschichte ist, u n d wenn sich die Existenz des Menschen u n t e r geschichtlichen Bedingungen e n t f a l t e t und zutiefst geschichtliche Existenz ist, wieviel m e h r ist die christliche Kirche, die aus der Heilsgeschichte lebt, auf die Tradition angewiesen, da sie j a diese als Gegenwartsgeschehen erlebt. Mit den Heilstaten J e s u Christi sieht H . F r . von C a m p e n h a u s e n auch die Tradition gegeben, ohne die auch der Glaube nicht bestehen k a n n : „Die Bejahung u n d Bewahrung der Überlieferung ist mit d e m Christusglauben selber gegeben: als Glaube an die b e s t i m m t e geschichtliche Erscheinung u n d A u f e r s t e h u n g des Herrn ist er von A n f a n g an ein Zeugnis gebunden u n d kann ohne dessen Fortbestehen in einer wie immer gedachten ,Überlieferung' nicht d a u e r n . " 10 6 7 8 9 10

Zum Problem der Tradition ., S. 201. A.a.O., S. 17. Zum Problem der Tradition ., S. 17. Vgl. hierzu L. Goppelt, Tradition nach Paulus, in: KuD 4, 1958, S. 2 1 3 ; G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche ., S. 31. Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1953, S. 163.

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Die Tradition geht nicht auf die Kirche zurück, als wäre sie von ihr ins Leben gerufen worden. Sie hat ihren Ursprung nicht in der Kirche, auch wenn sie mit der Kirche so unlösbar verbunden ist, sondern sie gründet zusammen mit ihr auf der Offenbarung Gottes, wie es Gloege prägnant formuliert: ,jViit der Offenbarung kam die Überlieferung. Denn wir können und wollen von keiner anderen Offenbarung wissen als von der überlieferten." 1 1 Damit wird die Existenz und die Notwendigkeit der Tradition in der Offenbarung Gottes verankert. Abgesehen davon, wie ihre Bedeutung eingeschätzt wird, existiert sie in der Tat ohnehin dort, wo die Kirche ihrem Auftrag nachkommt, das Evangelium zu verkündigen. Außerhalb der Tradition kann die Kirche die Offenbarung nicht als Gegenwartsgeschehen erleben. Zur Geltung, die die Tradition in der neueren evangelischen Theologie erlangt hat, trug nicht zuletzt die historisch-kritische Forschung des Neuen Testamentes wesentlich bei. Sie ist auf eine lebendige und reiche Tradition in der Urgemeinde gestoßen und hat deren Bedeutung in ein neues Licht gerückt 1 2 . Das Problem der Tradition kann man nicht erörtern, ohne dabei die Schrift einzubeziehen. Die theologische Aufwertung der Tradition, die in der evangelischen Theologie erfolgte, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem neuen Verständnis des „sola scriptura". Die Neubesinnung auf die Bedeutung der Tradition schließt auch eine Überprüfung der Lehre von der Schrift ein. Ebenso wie das Problem der Tradition bedarf nach G. Ebeling auch das reformatorische „sola scriptura" eines erneuten Überdenkens und Interpretierens 1 3 ; denn der Wert der Tradition hängt eng mit dem Verständnis der Schrift zusammen. Die Geringschätzung, die die Tradition lange Zeit in der evangelischen Theologie erfuhr, geht auf ein Mißverständnis zurück, nach dem das reformatorische „sola scriptura" traditionsfeindlich sei und somit im Gegensatz zu dieser stünde 1 4 . Der Grundgedanke, von dem die neuere Deutung des Traditionsverständnisses getragen ist, ist die Wiederherstellung des ursprünglichen re forma torischen Verhältnisses zwischen Schrift und Tradition, nach dem das „sola scriptura" die Tradition nicht ausschließt und die beiden sich nicht im Gegensatz zueinander befinden. a) Die gegenseitige Bezogenheit von Evangelium und Tradition Zwischen Evangelium und Tradition besteht eine innige Verbindung. Beide bedingen sich wechselseitig. Damit wird die Tradition nicht auf dieselbe Ebene mit dem Evangelium gestellt. Das neutestamentliche 11 A.a.O., S. 39. 12 L. Goppelt, Tradition nach Paulus, 213. 13 „Sola scriptura" ., S. 91. 14 G. Ebeling, „Sola scriptura" . . ., S. 92, 98 ff.; ders., Die Geschichtlichkeit. S. 50; E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 9 ff.

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.,

Evangelium bleibt höchste Norm und Prüfstein der Tradition. Die Bezogenheit des Evangeliums auf die Tradition geschieht nicht aufgrund dessen eigener Unvollkommenheit. Die Tradition setzt das Evangelium voraus, sie ist erst mit dem Evangelium möglich. Wenn das Evangelium auf die Tradition angewiesen ist, dann deshalb, weil es selbst diese ins Leben gerufen hat. Das Evangelium stiftet die Tradition und nimmt sie in seinen Dienst, um weiter überliefert zu werden. Dazu schreibt E. Kinder: „Anders als durch Tradition kann das Evangelium gar nicht wirkend in der Kirche geschehen und durch die Kirche weiterwirken." 1 5 Die Bezogenheit des Evangeliums auf die Tradition ist mit dem Wesen und dem Inhalt des Evangeliums gegeben und steht mit der Natur der Tradition als mündlicher Weitergabe in einem inneren Zusammenhang. Das neutestamentliche Evangelium kann nicht gegenständlich und schriftlich bewahrt und überliefert und von den kommenden Generationen auf diese Weise aufgenommen werden 1 6 Das Evangelium ist nicht eine Lehre oder eine Weltanschauung; es ist eine Wahrheit, die jedoch nicht theoretisch verstanden und aufgenommen werden kann, sondern die Wahrheit als personale Wirklichkeit Gottes, der in der Geschichte für die Rettung des Menschen handelt. Die Verkündigung der Heilsbotschaft heute, die davon bestimmt ist, was in Jesus Christus geschah, besteht nicht einfach darin, den „Sachgehalt" des neutestamentlichen Evangeliums weiterzugeben. Dies wäre, nach P. Brunner, eine Reduktion des Evangeliumsverständnisses: „Es gehört allerdings zum Wesen des Evangeliums, daß es keineswegs reduziert werden kann auf die Weitergabe dessen, was Christus gelehrt h a t . " Weiter fügt er hinzu, „daß der Inhalt des Evangeliums im eigentlichen Sinn des Wortes gerade in der Bezeugung dessen besteht, was bei Christus, mit Christus, durch Christus geschehen ist" 17 Das Evangelium wird nicht wie eine Lehre weitergegeben, sondern es geschieht, wenn es überliefert wird. In den apostolischen Schriften ist es bezeugt worden und es geschieht durch die Tradition in der lebendigen Weitergabe der apostolischen Zeugnisse. So wird im folgenden unter dem Evangelium sowohl das neutestamentliche Evangelium als auch das heute verkündigte Evangelium verstanden, das in der Tradition hic et nunc geschieht. Diesem zweifachen Verständnis des Evangeliums entspricht auch ein zweifaches Verständnis der Tradition: die Tradition als Inhalt und als Akt. Mit der Bezogenheit von Evangelium und Tradition wird zunächst auf das gegenwärtige durch die Verkündigung erfolgte Geschehen des Evangeliums und auf den dynamischen Aspekt der Tradition hingewiesen, aber so, daß das heutige Geschehen in dem Evangelium als Inhalt der apostolischen Tradition und der Schrift ihre Grundlage hat.

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Schrift und Tradition, S. 18. Ebenda. Schrift und Tradition, in: Pro Ecclesia, Berlin und Hamburg 1962, S. 23.

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Damit das, was Jesus Christus verkündigte und alles, was mit ihm geschah, weiter in der Kirche wirkt, befahl er seinen Aposteln, es zu verkündigen und somit weiterzugeben. Als Wort Gottes und Zeugnis von den Heilstaten Jesu der mit der Kraft des Heiligen Geistes ausgestatteten Apostel wohnt dem Evangelium die göttliche Heilsmacht Jesu inne, so daß es nicht in sich ruhen oder wie ein zusammengefaßter Bericht weitergegeben werden kann. Das Evangelium, schreibt E. Kinder, „kann in der Kirche weder rein gegenständlich noch rein biblizistisch aufgenommen, behauptet und weitergegeben werden" 1 8 . Deshalb erging es von Jesus Christus als mündliche Botschaft und von den Aposteln als mündliches Zeugnis von der eschatologischen Heilstat Gottes in Christus. Es gehört zum Wesen des Evangeliums, daß es nicht schriftliches, sondern mündliches Wort ist 1 9 Als „mündlicher Zuruf der Vergeb u n g " wird es nach E. Schlink recht verstanden 2 0 . Das Evangelium erging als viva vox, als Kunde und Heilszuruf Jesu an den Menschen, und so ergeht es auch heute in der Anrede des mündlichen Wortes von den in Christus erfüllten Heilstaten. Das Wort des Evangeliums ist nicht als Träger eines Sachgehaltes, das lehrt und Kenntnisse vermittelt, vielmehr als „wirkendes Wort, Machtspruch und Vollzugswort" zu verstehen und nur als solches, schreibt G. Gloege, bewirkt es, daß Jesu Heilsgeschichte gegenwärtiges Gnadensgeschehen wird 2 1 . Die ursprüngliche Form, in der das Evanglium vernommen wurde, war die des mündlich verkündigten Wortes 2 2 . Wie er es selbst auch tat, hat Jesu seinen Aposteln nicht zu schreiben geboten, sondern sie zu verkündigen gesandt. Die Schriften, die von ihnen entstanden, hatten nur eine stellvertretende Funktion für ihre personale Präsenz 2 3 . Bevor Schriften erschienen, lebte die Kirche bis in das zweite Jahrhundert hinein aus der mündlichen Weitergabe des Evangeliums. Nicht die Bibel steht am Anfang des Christentums, vielmehr ist sie der schriftliche Niederschlag der vorausgehenden mündlichen Verkündigung der Apostel 2 4 . Bei Jesus und bei seinen Aposteln ist die mündliche Verkündigung die dem Wesen des Evangeliums angemessene Form seiner Weitergabe. G. Ebeling hebt den inneren Zusammenhang hervor, der nach dem reformatorischen Verständnis zwischen dem Inhalt des Evangeliums und der Mündlichkeit seiner Weitergabe besteht und beruft sich damit auf Luther, nach dem 18 19 20 21 22

23 24

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Schrift und Tradition, S. 18. G. Ebeling, „Sola scrip tura" ., S. 102. Theologie ., S. 270. Das Evangelium und die Gegenwart, Berlin 1948, S. 7. G. Bornkamm, Evangelien, in: RGG, S. 749: „Die mit dem Begriff verbundenen Ausdrücke des Redens und Hörens und die Synonima „Wort" (Ô λόγος) und die „Predigt" (τό κήρυγμα) zeigen, daß Evangelium hier immer die mündliche Botschaft bzw. ihren Inhalt meint." E. Schlink, Zum Problem der Tradition S. 197; P. Brunner, Schrift und Tradition, S. 33. Ρ Brunner, Schrift und Tradition, S. 33; G. Ebeling, „Sola scriptura", S. 100.

das Wesen des Evangeliums nicht als Schrift, sondern als mündliche Botschaft zu erfassen sei und auf diese Weise überliefert wird. „Darumb auch Christus selbs nichts geschrieben, sonden nur geredt hatt, und seyn lere nit schrifft, sonder Evangeli, das ist eyn gutt botschafft odder vorkundigung genennet hatt, das nitt mit der feddern, sondern mit dem mund soll getrieben werden." 2S Die Heilsgnade des Evangeliums, zu der die Menschen aufgerufen werden, sagt Luther, kann nicht in Buchstaben und Schrift gefaßt und durch diese ihnen erteilt werden, sondern sie wird ihnen durch das Wort der Verkündigung zuteil: „Evangelion aber heysset nichts anders, denn ein predig und geschrey von der genad und barmherzigkeytt Gottis durch den herren Christum mit seynem todt verdienet und erworben. Und ist eygentlich nicht das, das ynn buechern stehet und ynn buchstaben verfasset wirtt, sondernn mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt, und eyn stym, die da ynn die ganz wellt erschallet und öffentlich wirt ausgeschryen, daß mans uberai h ö r e t . " 2 6 Dem Wesen des Evangeliums entsprechend soll die Art, in der es in der Kirche weitervermittelt wird, die der mündlichen Überlieferung sein, die selbst von Jesus Christus eingeführt und praktiziert wurde: „Darumb ist die kirch eyn mundhaws, nit eyn fedderhaws Auch so ist des newen testaments und Evangeli artt, das es mundlich mit lebendiger stym soll gepredigt und getrieben wird. Auch Christus selbs nichts geschrieben, auch nitt befolhen hatt zu schreyben, sondern mundlich zu predigen." 2 7 Im Zusammenhang mit dem Verständnis des Evangeliums als lebendiger Wirklichkeit und wirkendem Handeln Gottes, das im Akt der mündlichen Weitergabe und im Vollzug der Sakramente unter uns gegenwärtig wird, soll nach k.E. Skydsgaard das Wortverständnis der Reformation gesehen werden, das nicht von dem geschriebenen, sondern von dem mündlich verkündigten Wort bestimmt ist 2 8 . Vor dem geschriebenen Wort der Schrift wurde das Evangelium durch das lebendige Wort der Verkündigung überliefert. Das in dem Wort Gottes vollzogene Heil kann nicht in dem geschriebenen Wort verschlossen bleiben. Das Evangelium als rettendes Wort Jesu Christi muß deshalb als direkte Anrede Gottes durch das mündliche Wort, in dem Jesus selbst am Werke ist, verkündet werden. Das neue Verständnis, das die evangelische Theologie von der Tradition gewinnt, geht auf die Überlegung zurück, daß das Evangelium wesensgemäß in mündlicher Verkündigung überliefert wird. Die Frage, ob es Tradition geben soll oder nicht, oder ob sie für die Heilszueignung notwendig ist, kann nicht ernsthaft angezweifelt werden, ohne daß man 25 26 27 28

WA 10, 1, 1, 17. WA 1 2 . 2 5 9 . WA 10, 1, 2, 48. Tradition und Wort Gottes, in: Schrift und Tradition, Hrsg. K.E. Skydsgaard und L. Vischer, Zürich 1963, S. 144.

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dadurch das Evangelium selbst mißversteht. Denn die Tradition ist nicht eine unter vielen Möglichkeiten, durch die das Evangelium zu uns kommt und auf die eventuell verzichtet werden kann, sondern sie ist mit dem Evangelium gegeben und eigentlich die sachgemäße Art und das Mittel, durch das es für uns gegewärtig wird. Die theologische Vernachlässigung der Tradition steht im Grunde im Gegensatz zu dem Bemühen um ein tieferes Verständnis des Evangeliums. Das Ernstnehmen der Tradition durch die evangelische Theologie weist auf die tiefere Einsicht hin in das Verhältnis, das zwischen Tradition und Evangelium besteht. Mit der Anerkennung einer engen Verflechtung zwischen Evangelium und Tradition gewinnt man, wie E. Kinder schreibt, „einen neuen Sinn und ein neues Verständnis für echte kirchliche Tradition, die von dem Evangelium als Geschichtsmacht hervorgerufen wird und um des Evangeliums willen theologisch nicht ohne positive Bedeutung ist" 2 9 Der gekreuzigte und der auferstandene Christus ist die Mitte des Evangeliums. Es trägt in sich die göttliche Macht, durch die Jesus Christus das Heilsgeschehen ein für allemal vollbracht hat. Der Apostel Paulus nennt deshalb das Evangelium die Kraft Gottes, die alle selig macht, die daran glauben (Rom. 1,16). Weil im Evangelium Christus persönlich handelt, hat es von ihm auch die Kraft, weitergegeben zu werden. Diese unbändige Kraft Gottes, die von dem Evangelium ausgeht, weil es das Wort des Lebens ist (Phil. 2,16), setzt die Tradition, durch die es weiterwirkt, voraus. So verweist das Evangelium selbst auf die Tradition. Mit dem Evangelium ist auch die Tradition mitgegeben. Nach Roloff „drängt das Evangelium, gerade weil es Tat des in Christus wirkenden Gottes ist, weiter auf die Entfaltung in der Botschaft, der άκοή" 3 0 . Um Glauben hervorzurufen, muß das Evangelium gepredigt und überliefert werden. Der Glaube entsteht aus dem mündlich verkündigten Wort des Evangeliums (Rom. 10,17). Für den Apostel Paulus sind diese drei Momente, das mündlich verkündigte Wort, das Evangelium und der Glaube, eng miteinander verbunden (Eph. 1,13). Der Glaube gründet auf dem Evangelium, bedarf aber der Überlieferung, damit das Wort des Evangeliums die Menschen anspricht und sie zum Glauben bewegt. Das Evangelium erweckt Glauben und läßt daraufhin Tradition entstehen. Deshalb ist die Tradition nicht ein fremdartiges Element, das dem Evangelium hinzugefügt wurde, vielmehr ist sie wie auch der Glaube mit dem Evangelium gegeben und in ihm tief verwurzelt 3 1 . So eng einerseits Evangelium, Tradition und Glaube miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind, so sollen jedoch andererseits 29 30 31

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Schrift und Tradition, S. 29. Apostolat, Verkündigung-Kirche, Gütersloh 1965, S. 87. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 31 f.

der Unterschied, der zwischen ihnen besteht, und die bestimmte Bedeutung, die jedem in der Heilszueignung zukommt, nicht übersehen werden. Das neutestamentliche Evangelium bezieht hier eine zentrale und normative Stellung gegenüber der Tradition und dem Glauben, deren Existenzgrund es ist und in Bezug zu dem ihre Richtigkeit ständig bewiesen werden muß. Echte christliche Tradition und rechter Glaube an Christus entstehen nur aus dem Evangelium mittels der Tradition. G. Ebeling weist auf das Angewiesensein des Glaubens auf die Tradition hin: „Wäre das Wort des Glaubens — das Neue Testament nennt es Evangelium — nicht in dieser Weise der mündlichen, der persönlichen Weitergabe zu uns gelangt, so wüßten wir nichts vom G l a u b e n . " 3 2 Der Glaube entsteht nicht aus der Tradition. Diese ist im Grunde nur Medium und Instrument 3 3 , durch das das Evangelium weiterwirkt, das eigentlich den Glauben hervorruft, jedoch nicht auf eine mystische Weise, in der Vertikalität eines zeitlosen, unmittelbaren Erleben jedes einzelnen Subjekts, sondern durch die horizontal verlaufene Bahn der Tradition 3 4 . Gottes Heilshandeln in Christus, das Evangelium, bleibt immer die Stimme von „ o b e n " , die die Menschen zum Glauben ruft und löst sich nicht auf in dem Strom der „Glaubensgemeinschaftsüberliefer u n g " 3 5 , durch die es weiter wirksam wird. S o ist der Bezug des Glaubens auf das Evangelium und auf die Tradition nicht von gleicher Art. Das erstere ist sein Existenzgrund, während die letztere ein Mittel ist, durch das das neutestamentliche Evangelium weitergeschieht und Glauben bewirkt. Die Tradition vermittelt den Glauben, sie ist nicht sein Ursprung. Die Tradition kann j e d o c h Glauben hervorrufen, insofern es sich um die apostolische Urtradition handelt. Als bevollmächtigtes Zeugnis besitzt das Wort der apostolischen Verkündigung die Kraft, Glauben zu bewirken. Das Verhältnis der apostolischen Tradition zu dem Evangelium Christi ist von besonderer Art. An ihrer eigenen Verbindung zeigt sich nicht nur der einzigartige Wert der apostolischen Tradition, sondern darüber hinaus auch die bleibende Geltung der Tradition in der Kirche. Die Heilsnotwendigkeit des Evangeliums verleiht auch der apostolischen Tradition, in der es bezeugt wird, eine ähnliche Bedeutung. Dies ist darin ausgesprochen, daß J e s u s Christus die Apostel als Zeugen gerufen und gesandt hat, um sein Evangelium weiterzugeben. Diese Tatsache ist nach P. Brunner ein Beweis dafür, daß die Tradition eine Einrichtung Christi ist 3 6 . Als beauftragte und bevollmächtigte Zeugen erhält die Bezeugung der Apostel einen besonderen, einmaligen Wert. In der Tra32 33 34 35 36

Das Wesen des christlichen Glaubens, S. 2 4 . E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 16. Ebenda, S. 31 und 3 5 . Ebenda, S. 3 8 . A.a.O., S. 25 f.

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dition ist deshalb das Evangelium im Akt der Weitergabe gegenwärtig wirksam. Evangelium und Tradition gehören untrennbar zusammen, sie befinden sich nach G. Gloege „in lebendiger Aussprache miteinander." 3 7 Das Evangelium ist der Kerninhalt der apostolischen Tradition, d.h. Jesus Christus, der Herr und Sohn Gottes, sein Tod und seine Auferstehung als eschatologisches Heilsgeschehen 38 . Damit ist die Frage des Verhältnisses zwischen Evangelium und der Tradition gestellt. b) Einheit und Unterschiedlichkeit von Evangelium und Tradition Wie bei keinem anderen Verfasser der neutestamentlichen Schriften finden sich bei Paulus aufschlußreiche Gedanken über das Verhältnis der Tradition zum Evangelium. Die neutestamentlichen Studien, die diesem Problem nachgegangen sind, stoßen zuerst auf einen scheinbar unlösbaren Widerspruch zwischen zwei Arten von Aussagen des Apostels über die Herkunft des Evangeliums. In 1 Kor. 15,1—5 setzt Paulus das Evangelium, das er verkündet, mit der Tradition gleich und stellt es als Tradition dar. Zur Bestätigung, daß hier das Evangelium als Tradition übergeben wird, wurde auf die Terminologie aufmerksam gemacht, die eindeutig auf einen Traditionsprozeß hinweist 3 9 Gerade der Kerninhalt des Evangeliums, der in einer festen Formel zusammengefaßt wurde, die auf die palästinisch-jerusalemische Urgemeinde zurückführt 4 0 , wird als Tradition empfangen und weitergegeben: „denn ich habe euch vor allem übergeben, was ich selbst empfangen habe: daß Christus gestorben ist .". L. Goppelt bemerkt, daß Paulus die Ausdrücke, die typisch für den Traditionsvorgang sind (παρελάσετε und παρέδωκα), mit den Termini der Verkündigung und dem daraus entstandenen Glauben (εΟηγγελισάμηρ und έπιστειίσατε) verbindet 4 1 . So tut Paulus den Korinthern das Evangelium kund, indem er es ihnen in einer geprägten Tradition, die auch er übernahm, weitergibt. In der Tradition wird das Evangelium entfaltet und dargestellt. Es wird formuliert und in kerygmatischen Aussagen inhaltlich fixiert. Die promissio Dei erreicht die Menschen in der Gestalt der Überlieferung. Das ist auch die Funktion der den Korinthern überlieferten Tradition, nämlich, ihnen das Evangelium zu Gehör zu bringen. Sie orientiert sich 37 38 39

40 41

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Offenbarung und Überlieferung, S. 33. G. Bornkamm, Evangelien, S. 749. O. Cullmann, Die Tradition als exegetisches und theologisches Problem, Zürich 1954, S. 13; L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 215 f.; J. R o l o f f , a.a.O. S. 85. L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 2 1 9 ; J. R o l o f f , a.a.O., S. 84. Tradition nach Paulus, S. 2 1 6 .

am Evangelium und ist nur dessen Entfaltung, wahrend dieses als ihr inneres Prinzip gilt 4 2 . Das Verhältnis zwischen Evangelium und Tradition am Beispiel der Traditionsformel des 1. Kor. 15,3—5 stellt Rollof folgendermaßen dar: „Diese Überlieferungen sind in sich noch nicht eùayyéXiov, sondern menschliche λόγοι, die den Gesetzen menschlicher Überlieferung aufbewahrt werden. Wenn sie aber in das Kraftfeld des eùayyéXiov Ίησοϋ χριστού geraten, so werden sie diesem völlig integriert; sie werden selbst eùayyéXiov. Allerdings so, daß sie nicht mehr von diesem ablösbar sind." 4 3 Auch an einer anderen Stelle zeigt sich, daß Paulus seine Verkündigung als eine Weitergabe des Evangeliums versteht, andernfalls könnte er nicht sagen, daß das Wort, das die Thessaloniker durch seine Predigt empfingen göttliches Wort sei (1. Thess. 2,13); Auch hier ist das Evangelium der Inhalt der mündlichen Verkündigung des Apostels, das die Gemeinde unter der Gestalt des menschlichen Wortes „als Gottes Wort" empfing. Nach Goppelt handelt es sich hier auch um eine Tradition, die in feststehenden Sätzen formuliert und überliefert wurde 4 4 . In einem gewissen Gegensatz zu den Aussagen des Apostels Paulus, nach denen er das Evangelium aus der geschichtlich vorausgehenden Tradition empfing, was den Beweis für die Untrennbarkeit des Evangeliums von der Tradition erbringt, würde sich seine Behauptung in Gal. 1,12 befinden, daß er sein Evangelium außerhalb der Tradition empfangen habe: „Ich tue euch kund, liebe Brüder, daß das von mir verkündigte Evangelium nicht menschlicher Art ist; denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch Offenbarung Jesu Christi." Hier scheint Paulus grundsätzlich zu bestreiten, was er bezüglich desselben Evangeliums im 1. Kor. 15,3—5 sagte. In Wirklichkeit geht es Paulus hier weder darum, das zu widerlegen, was er im 1. Kor. 15 aussagte, noch besteht zwischen diesen beiden Stellen ein Widerspruch, vielmehr handelt es sich in Gal. 1,11—12 um einen anderen Aspekt seines Evangeliums und um eine Erweiterung des Traditionsverständnisses. Diese beiden Aussagen stehen nicht unvereinbar nebeneinander und dürfen nicht getrennt betrachtet werden, sondern bilden zwei verschiedene Momente einer Gesamtperspektive, in die sie sich integrieren lassen. Wenn Paulus den Galatern schreibt, daß er sein Evangelium nicht aus der Tradition empfing, sondern direkt durch die Offenbarung Jesu Christi, so kann man diesen Gedanken nicht gegen die Existenz und Funktion der Tradition vorbringen. Paulus geht es hier vielmehr darum, zum Ausdruck zu bringen, daß das Evangelium, das er verkündet, auf den apostolischen Auftrag zurückgeht, den er wie die

4 2 J. R o l o f f , a.a.O., S. 86. 4 3 Ebenda, S. 88. 4 4 Tradition nach Paulus, S. 219.

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anderen Apostel unmittelbar von Jesus Christus empfangen hat 4 5 , wie er zu Beginn dieses Briefes (1,1) ausdrücklich schreibt. Die Berufung und die Sendung hat Paulus nicht aus der Tradition, sondern unmittelbar von Christus erhalten, und so ist auch sein Evangelium „nicht menschlicher Art", sondern er hat es durch die Offenbarung des Herrn empfangen. Weil er Apostel in vollem Sinne des Wortes ist, bedarf er nicht einer Legitimierung seines Evangeliums durch die Tradition, denn er übt seine apostolische Tätigkeit kraft der Bevollmächtigung durch Christus aus. Dieses Evangelium läßt sich nicht gegenständlich nachweisen, sondern ist ihm in der „unmittelbaren Selbstdarbietung des erhöhten Herrn zur Gemeinschaft δι άποκαλύψεως Ίησοϋ χριστού"46 zuteil geworden. So geht es in Gal. 1,11 — 12 um den Zusammenhang zwischen dem apostolischen Auftrag und dem Inhalt dieses Auftrages, dem Evangelium, das zugleich empfangen wurde: „so liegen Berufung, Sendung und Übergabe des Evangeliums ineinander." 4 7 Mit dem Hinweis darauf, daß Paulus das Evangelium nicht durch die Vermittlung der Tradition empfangen hat, will er auf die Herkunft des Evangeliums aufmerksam machen. Das Evangelium, das er verkündet, stammt nicht von Menschen, sondern von Jesus Christus. Daß er sich an dieser Stelle nicht gegen die Überlieferung des Evangeliums durch die Tradition richtet, kann an einem anderen Beispiel erläutert werden, bei dem es sich zweifellos um eine überlieferte Traditionsformel handelt, die er übernommen hat, von der er aber, ohne sich zu widersprechen, zugleich sagen kann, daß er sie vom Herrn empfangen hat. Es handelt sich um die Abendmahlstradition im 1. Kor. 11,23—25. Über die Einsetzungsformel des Abendmahles, die er aus der Tradition kennt, äußert er sich ausdrücklich:„'Εγώ yàp παρέλαβον άπό τού κυρίου, ο και παρέδοκα ύμίν (V.23). Über die Wendung άπό του κυρίου besteht unter den Auslegern dieses Textes weitgehend die Übereinstimmung 4 8 , daß sie die Tradition nicht ausschließt — hier wird sie als sicher vorausgesetzt —, vielmehr weist Paulus auf die Herkunft der Abendmahlsworte hin. Er will damit sagen, daß die Einsetzungsworte erst von dem geschichtlichen Jesus stammen. Die Formel „vom Herrn" ist von Paulus nicht nur geschichts-, sondern zugleich auch gegenwartsbezogen. Er verweist mit ihr nicht nur auf den geschichtlichen, irdischen Christus, als das erste Kettenglied der Abendmahlsparadosis, sondern auch auf den erhöhten Herrn, der gegenwärtig durch die Abendmahlsworte zu der Gemeinde redet und als Subjekt dieser Paradosis ihre Weitergabe selbst vollzieht. Nach O. Cullmann kann dieser Ausdruck „vom Herrn" als 45

Vgl. O. Cullmann, Die Tradition S. 16 f.; L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 219; J. Roloff, a.a.O., S. 87. 46 J. Roloff, a.a.O., S. 87. 47 Ebenda. 48 O. Cullmann, Die Tradition S. 18; L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 222; J. Roloff, a.a.O., S. 84.

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eine unmittelbare Mitteilung verstanden werden, ohne deswegen eine Übermittlung durch die Tradition auszuschließen 4 9 . Im Grunde stehen die beiden Äußerungen des Apostels keineswegs im Widerspruch zueinander, und wenn jede sich als eine richtige Aussage des Apostels erweist, so geben nur beide zusammengenommen eine ausreichende Antwort auf die Frage, wie das Evangelium weitergeschieht. Die beiden scheinbar widersprüchlichen Aussagen des Apostel Paulus, nach denen er einerseits behauptet, das Evangelium unmittelbar von Christus und andererseits es aus der Tradition empfangen zu haben, lassen sich nach O. Cullmann deshalb miteinander vereinbaren, weil der erhöhte Christus sich in der Tradition selbst überliefert und vergegenwärtigt. „Paulus kann also die ,Apokalypsis' vor Damaskus und die apostolische Tradition einander gleichstellen, weil in beiden der gekreuzigte Christus in unmittelbarer Weise wirkt." 5 0 Aus der vorhergehenden Analyse der beiden wichtigsten Texte, die eine Schlüsselstellung für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Evangelium und der Tradition einnehmen und meistens als Grundlage dafür herangezogen werden, läßt sich nun ihr Verhältnis näher bestimmen. Hierbei ist es von grundsätzlicher Bedeutung, ob man von der einen oder der anderen der beiden Aussagen ausgeht und jede für sich allein gelten läßt. Vor allem zwei Deutungsrichtungen zeichnen sich ab, je nachdem, welche von den beiden paulinischen Aussagen zur Ausgangsposition gemacht wird. Nach einer Forschungsrichtung, wie der der existentiell-kerygmatischen Theologie und den von dieser geprägten Orientierungen, wird die Tradition nicht als ein eigentlicher und unentbehrlicher Faktor zur Weitergabe des Evangeliums betrachtet. Hier wird die Tradition durch das Kerygma ersetzt als Mittel der unmittelbaren Vergegenwärtigung des Evangeliums. Tradiert wird das Evangelium nur im Akt der hic et nunc sich vollziehenden Verkündigung. Das Evangelium kann nicht in Traditionsformeln fixiert und überliefert werden, weil es, wie Ebeling sagt, die eschatologische Tat Gottes in Jesus Christus ist und nur im Wortgeschehen der jeweils ergangenen Verkündigung weitergegeben wird. Ebe49

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Während O. Cullmann den Ausdruck „vom Herrn" nur auf den erhöhten Christus bezieht (Die Tradition S. 18), sieht L. Goppelt dagegen damit den geschichtlichen und den erhöhten, gegenwärtigen Herrn gemeint und zeigt dadurch, daß diese „Evangeliumstradition" geschichtlich und zugleich gegenwärtig von Jesus Christus stammt (Tradition nach Paulus, S. 223). Dieser Ausdruck wird auch von J. Roloff ähnlich interpretiert: „So betont Paulus, hier, daß die von ihm aus der Überlieferung übernommenen Abendmahlsworte auf den Herrn, und zwar auf den irdischen Herrn, zurückgehen. Er beruft sich auf den Urheber der Tradition, läßt aber die Zwischenglieder aus. Denn nicht sie sind es, die die Rechtmäßigkeit der Tradition garantieren, sondern allein das άπό του κσρίου (a.a.O., S. 87). Die Tradition . . ., S. 20 und 24.

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ling anerkennt den Wert der Tradition als Zeugnis von der geschichtlichen Offenbarung und die absolute Notwendigkeit der Bindung der Kirche an das ursprüngliche Christuszeugnis 51 . Das, was weitergegeben werden soll, ist das geschichtliche Heilsgeschehen, das der historische, aber auch der gegenwärtige Existenzgrund der Kirche ist. Unter Tradition versteht Ebeling scheinbar nur den gegenwärtigen Vollzug des einmal Geschehenen, „die fort und fort sich vollziehende Bezeugung dieser eschatologischen Tat Gottes in Jesus Christus " 5 2 Die Tradition als geschichtliches Zeugnis und als Bericht von dem einmaligen Heilsgeschehen in Christus tritt bei ihm gegenüber der Tradition als gegenwärtige Erfahrung der Tat Gottes zurück. Von Tradition kann mehr dann die Rede sein, wenn durch die Verkündigung das geschichtliche Heilsgeschehen Gegenwartsgeschehen wird. Das geschieht zwar nicht ohne Bezug zu dem ursprünglichen Zeugnis, doch bleibt die Tradition ein gegenwärtiger Vollzug der jeweiligen Verkündigung. Das Heilsgeschehen wird als Tat Gottes überliefert „in der Weise des Zeugnisses von einem bestimmten Geschehen in der Geschichte und darum aufgrund des ursprünglichen Zeugnisses von diesem Geschehen. Aber nicht als historisches, sondern als verkündigtes und damit gegenwärtiges Geschehen ist es Inhalt der Tradition Das zu Tradierende selbst ist darum seinem Wesen nach nicht fixierbar" 5 3 . Ebeling unterscheidet zwischen dem Heilsgeschehen und der Tradition. Die Tat Gottes in Jesus Christus, das Evangelium, ist nicht fixierbar, sondern nur dessen Bezeugung, die eigentlich „nicht die eschatologische Tat Gottes selbst ist, sondern deren geschichtliche und darum immer schon jeweilige Bezeugung" 5 4 . Dieser Unterschied bleibt auch dann bestehen, wenn es um das ursprüngliche Zeugnis geht. Auch wenn bei ihm der Bezug auf das ursprüngliche Zeugnis nicht fehlt, setzt er doch eindeutig den Akzent auf die Verkündigung als Ort und Mittel der Weitergabe des Evangeliums. Tradition ist bei ihm Gegenwartsgeschehen, Bezeugung der gegenwärtigen Tat Gottes in Christus in der Verkündigung. Im Sinne der kerygmatischen Theologie ist die Weitergabe des Evangeliums auf die in dem Kerygma sich vollziehende Tradition beschränkt. Das Evangelium bedarf nach R. Bultmann zu seiner Überlieferung nicht der Tradition, sondern des Kerygmas, das wiederum weder an der geschichtlichen Tradition interessiert ist, noch durch diese legitimiert zu werden braucht 5 5 . Das Evangelium wird auf das einfache „ D a ß " des eschatologischen Christusgeschehen reduziert, das sich wesensgemäß nur durch das Kerygma vollzieht. „Die Tradition ist deshalb nicht die 51 52 53 54 55

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Die Geschichtlichkeit der Kirche ., S. 66. Ebenda, S. 67. Die Geschichtlichkeit der Kirche ., S. 67. Ebenda, S. 68. Das Verhältnis des urchristlichen Christuskerygmas zum historischen J e s u s , in: Der historische J e s u s und der kerygmatische Christus . . ., S. 234.

historische Überlieferung, die die Kontinuität des historischen Geschehens begründet, sondern die Predigt der Gemeinde, in der J e s u s Christus im Geiste gegenwärtig i s t . " 5 6 Seinerseits bezieht sich das Kerygma nicht auf die Tradition oder auf eine tradierte Formulierung oder Darstellung des Evangeliums, weil es als bloßes Faktum des Christusgeschehens und das Kerygma als aktuelles Wortgeschehen verstanden werden. Zwischen Evangelium und Tradition kann nach der kerygmatischen Theologie kein notwendiger organischer Zusammenhang bestehen. Das Evangelium ist nicht auf die geschichtliche Tradition angewiesen, die als geprägtes und formuliertes Zeugnis die Grundlage für die Verkündigung bildete, von dem sich diese herleiten ließe. Statt von Evangelium und Tradition wird hier von Evangelium und Kerygma gesprochen. Das Evangelium wird nicht durch die Tradition überliefert; zwischen beiden besteht keine wesenhafte Verbindung. Die Tradition tritt gegenüber dem Kerygma als jeweils neue Entfaltung der Evangeliumsbotschaft zurück 5 7 Wird nach dieser theologischen Orientierung zwischen Evangelium und Tradition eine scharfe Trennungslinie gezogen 5 8 , so wird nach einer anderen Auffassung der Akzent auf ihre Zusammengehörigkeit gelegt. Danach wäre der Inhalt des Evangeliums in geprägten Traditionsformeln zusammengefaßt. Schon in den ersten Anfängen der christlichen Gemeinden entstanden nach J . N . D . Kelly bekenntnisartige Formeln, in denen die geoffenbarte Wahrheit in Glaubenssätzen dargestellt w u r d e 5 9 Er führt Paulus als Zeugen dafür an, daß dieser Prozeß schon früh in der Kirche eingesetzt hat, da er selbst in seinen Schriften sich oft auf die überkommene Paradosis b e r u f t 6 0 . Geprägte Glaubenssätze sollten nach Kelly bis in das apostolische Zeitalter zurückgehen. „Auch war dieses Bekenntnis nicht eine vage und nebelhafte Aussage ohne Schärfe des 56 57

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R. Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, 2. Aufl., Tübingen 1954, S. 472. Von denselben Grundgedanken geht auch K. Wegenast in seiner Untersuchung aus: Das Verständnis der Tradition bei Paulus und in den Deuteropaulinen, Neukirchner Verlag 1962. A u f g r u n d der Aussage des Paulus, er habe das Evangelium unmittelbar von Christus empfangen (Gal. 1,11 — 12), zieht er die Folgerung, daß das Evangelium keine Formel oder Tradition sein kann. Paulus versteht unter dem Evangelium „nicht die Uberlieferung eines geprägten Kerygmas, sondern die Kundgabe eines f a c t u m s durch G o t t " (S. 44). „Verkündigung heisst also für Paulus nicht Überlieferung, sondern Proklamation Christi als Heil und Gerechtigkeit." (S. 45) Auch wenn Paulus sich auf die Tradition bezieht, wie er in 1 Kor. 15 es tut, dann nicht, weil sie ein Mittel zur Weitergabe des Evangeliums ist, sondern nur weil er in ihr sein Evangelium bestätigt sieht (S. 65 und 68 f.). Vgl. J . R o l o f f , a.a.O., S. 88 f.; L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 2 1 7 ; ders., Die apostolische und nachapostolische Zeit, Göttingen 1962, S. 104 f. Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie. Aus dem Englischen übersetzt von K. Dockhorn, Göttingen 1972, S. 14 ff. Ebenda, S. 17.

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Umrisses; seine Hauptmerkmale waren klar genug d e f i n i e r t . " 6 1 H. von Campenhausen stellt für die vorkanonische Zeit fest, daß sich die Tradition nicht zufällig bildet und keine unbestimmte, jeweils neu improvisierte Lehre ist. „Sie ist zunächst ausschließlich mündlich, aber von höchster geistiger Bedeutung, also keinesfalls beliebig, sondern sie strebt nach dauernder Geltung und tendiert darum zu einer mehr oder weniger festen und bleibenden G e s t a l t . " 6 2 Diese konzentrierten Formeln — wie in 1 Kor. 15,3—5 — dienten zur Weitergabe und Verkündigung des Evangeliums. Die Entstehung und die Bildung formelhafter Traditionen sind Ausdruck der Tatsache, daß die frühe Kirche sich als „eine glaubende, bekennende, predigende Kirche" verstand und den inneren Drang e m p f a n d , ihren Glauben in ihren Institutionen, in der Verkündigung und in der Liturgie zum Ausdruck zu bringen. Für den Glauben an das Evangelium erweist sich die Tradition geradezu als unerläßlich 63 . Auch O. Cullmann hebt die Einheit zwischen Evangelium und Tradition hervor. Ihre Einheit b e r u h t darauf, daß in der apostolischen Tradition der erhöhte Christus wirkt 6 4 . Deshalb sucht auch Paulus die Tradition der anderen Apostel, obwohl er auch Zeuge des auferstandenen Herrn ist und von ihm das Evangelium empfangen hat, weil nicht „jeder Apostel als Augenzeuge alle Ereignisse überliefern" kann und „jede von Aposteln überlieferte Paradosis als direkte O f f e n b a r u n g Christi erachtet wurde"65. Gegenüber diesen Auffassungen von der Verhältnisbestimmung zwischen Evangelium und Tradition, die einerseits auf eine Trennung und andererseits auf eine enge Verbindung und Identität abzielen, zeichnet sich in der theologischen Forschung eine andere Tendenz ab, die zugleich Identität und Differenz zwischen Evangelium und Tradition und eine historische und kerygmatische Tradition vertritt. Wie Jesus Christus, das Wort Gottes „Fleisch w u r d e " , in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig w o h n t (Gal. 2,9), und wie die Kirche als die eschatologische Gemeinde in der Geschichte existiert, so ist nach Goppelt die christliche Tradition historisch und zugleich kerygmatisch-pneumatisch. „Dieser Doppelcharakter der Tradition entspricht dem Wesen des Christusereignisses wie der Kirche; er kennzeichnet daher alle Arten echter christlicher T r a d i t i o n . " 6 6 Darin findet er die A n t w o r t auf die Frage, die sich im 1. Kor. 15 stellt, nämlich die, wie sich die Tradition, die ge-

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Ebenda, S. 18. Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968, S. 124. N.D. Kelly, a.a.O., S. 15. Die Tradition als exegetisches S. 24. Ebenda. Die apostolische und nachapostolische Zeit, S. 105; ders., Tradition nach Paulus, S. 215 und 217.

schichtlich festgelegte und überlieferte Traditionsformel zu dem Kerygma verhält. Die tradierte Zusammenfassung des Evangeliums, die das Urkerygma aufnimmt, ist für Paulus „die normative Konstante und Quelle der Predigt". Aufgrund dieser Evangeliumstradition entwickelt er seine Verkündigung. Das eine kann es nicht ohne das andere geben: „Nur in solcher Beziehung auf die Predigt lebt diese Tradition, aber umgekehrt gibt es auch nur durch solche Tradition auf die Dauer Predigt des Evangeliums."61 Die feste Formel, die Paulus weitergibt, ist nicht nur historische Tradition, sondern er nennt sie Evangelium, das nur im Glauben durch die Verkündigung aufgenommen und weitergegeben werden k a n n 6 8 . Die Predigt des Apostels, durch die er das Evangelium den Problemen jeder Gemeinde entsprechend aktuell darlegt, ist auf die Tradition bezogen. Die Tradition, deren Inhalt das Evangelium ist, wird nicht als eine historisch festgelegte Formel mechanisch weitergegeben, sondern als die, die Verkündigung erzeugt und in der „esc hato logisch-pneumatischen Predigt"69 aktualisiert überliefert wird. Die Verkündigung bleibt an die apostolische Tradition gebunden, weil nur die Apostel das Evangelium unmittelbar von Christus empfangen haben und in besonderer Weise bevollmächtigt waren. Deshalb sind alle anderen Menschen auf die apostolische Bezeugung des Evangeliums angewiesen. „Weil diese Unmittelbarkeit zum Christusereignis den Aposteln eigentümlich ist, ist für alle Nichtapostel das Evangelium nur als Tradition von den Aposteln her d a . " 7 0 Paulus bestätigt die Existenz und den Wert der ihm überkommenen Tradition, aus der er das Evangelium vernimmt. Würde sie das Evangelium nicht zum Ausdruck bringen, wüßte er sich ihr nicht verpflichtet, wie Campenhausen feststellt: „Auch Paulus bekennt sich zu einer älteren, von Christus ausgehenden und ihn betreffenden Tradition. Sie steht für ihn in Kraft und fordert Anerkennung, mag ihr Umfang, stofflich gesehen, auch gering s e i n . " 7 1 Die apostolische Tradition ist, wie Goppelt überzeugend darlegt, auch ein historisches Zeugnis; das Urkerygma war durchaus „auch historisches Augen- und Ohrenzeugnis der bevollmächtigten Zeugen Das Urkerygma sagt nicht nur: Der Herr wurde auferweckt, sondern ,er ist dem Kephas erschienen, darauf den Zwölfen' " 7 2 Das Anliegen Goppelts gilt in gleichem Maße auch dem pneumatischen Charakter der Tradition, wonach das überlieferte Evangelium Gegenwartsgeschehen wird, ohne den die geschichtliche Tradition zur Gesetzestradition wird.

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L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 2 1 8 . L. Goppelt, Die apostolische und nachapostolische Zeit, S. 1 0 4 f. L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 2 1 7 . Ebenda, S. 2 1 9 . Die Entstehung ., S. 1 2 6 . L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 2 2 1 .

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Diese beiden Momente versucht er in einem einheitlichen Begriff der Tradition zu integrieren. Die Tradition ist aus dem Drang des Evangeliums nach „Externität" 73 , nach Begegnung mit dem Menschen in seiner geschichtlichen Existenz in Gestalt mündlicher Verkündigung hervorgegangen. Verkündigung und Tradition fallen nach Gloege in ihren Anfängen in einem Akt zusammen: „Wird Jesus als der Offenbarer Gottes verkündet und wird damit Gottes Gerechtigkeit vollstreckt, so entsteht eben dadurch geschichtliche und historische Überlieferung." 7 4 Die geschichtliche Tradition ist auch nach Kinder aus dem Evangelium, aus dem in der pneumatischen Verkündigung geschehenden Evangelium geboren. 7 5 Die Tradition ist deshalb aufgrund ihres Ursprunges nicht nur historische, sondern zugleich kerygmatisch-pneumatische Tradition, weil sie nur kraft des Heiligen Geistes im Glauben aufgenommen und weitergegeben werden kann. Wie das Evangelium pneumatisch durch die apostolische Tradition weitergegeben wurde, so geschieht es weiter aufgrund des historisch geprägten und überlieferten apostolischen Zeugnisses. Die pneumatisch geschehende Tradition, in der Jesus Christus gegenwärtig am Werke ist, setzt mit Notwendigkeit die geschichtlich ursprüngliche Christustradition voraus, die nach Skydsgaard den Sinn hat, den Glauben der Kirche am geschichtlichen Heilswerk zu befestigen, um nicht „ein zeitloses, ungeschichtliches und mystisches Erlösungserlebnis zu werden" 7 6 . Wird die Zusammengehörigkeit von Evangelium und Tradition bejaht, so sollte zugleich mit der inhaltlichen Identität zwischen Evangelium und Tradition auch von der Differenz gesprochen werden, die zwischen beiden besteht. Indem die Tradition das Evangelium zur Sprache bringt, vollzieht sich seine Weitergabe. Die Kraft der Weitergabe hat die Tradition jedoch nicht aus sich, sondern sie erhält sie aus dem Evangelium. Skydsgaard drückt dies folgendermaßen aus: „Die Tradition ist die Überlieferung eines Evangeliums, dessen Mittelpunkt und Inhalt der gekreuzigte, auferstehende und erhöhte Herr selber ist. Der Inhalt dieser Überlieferung ist in jedem Punkt und zu jedem Augenblick größer und mehr als die geformte Tradition selbst." 7 7 Man kann das Evangelium nicht von der Tradition scheiden, denn nur durch die Tradition haben wir Zugang zum Evangelium 78 . Ihre Verschiedenheit ist darin begründet, daß das Evangelium von Jesus Christus 73 74 75 76 77 78

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G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung, S. 40. Ebenda, S. 30. Schrift und Tradition, S. 18. Ebenda, S. 173. Schrift und Tradition, S. 173. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit. . ., S. 6 7 - 6 8 .

herrührt, während die Tradition von den Menschen gebildet, empfangen und weitergegeben wird 79 . Man wird hier sicher hinzufügen müssen, daß der Inhalt der Tradition nicht von Menschen erfunden und es nicht einfach kraft des Menschen übernommen und überliefert wird. Diese Unterscheidung ist berechtigt, wenn sie sich auf die Form, den äußeren Prozeß der Tradition bezieht, denn das eigentliche Subjekt und Objekt der Tradition ist Jesus Christus selbst, und sie wird kraft des Heiligen Geistes empfangen und weitergegeben 80 . Durch die Weitergabe des Evangeliums mittels der Tradition löst es sich nicht in dieser auf. Das durch die Tradition horizontal und chronologisch vermittelte Evangelium, die seine geschichtliche Kontinuität garantiert, verliert dadurch nicht seine Eigenmacht, sondern bleibt nach E. Kinder stets gegenwärtiges und vertikales Geschehen: „Die ,Vertikale' wird hier nicht in die ,Horizontale' aufgelöst, sondern in der ,Horizontalen' und durch sie hindurch bleibt stets die .Vertikale'." 81 Die Wechselbeziehung und die Differenz zwischen Evangelium und Tradition artikulieren sich vielleicht am deutlichsten in der dienenden Funktion der Tradition gegenüber dem Evangelium 82. Sie ist Instrument und Medium, durch die das Evangelium weitergegeben wird und weiterwirkt. Indem die Tradition das Evangelium in sich aufnimmt, es entfaltet und durch sich selbst zur Wirkung bringt, ersetzt sie das Evangelium nicht, denn sie selbst besteht nur so lange, wie sie aus dem Evangelium schöpft und sich zum Mittel seiner Weitergabe macht. So ist die apostolische Tradition aus dem Evangelium entstanden, und sie hatte nur den Zweck, es zu verkünden. Deshalb konnte Paulus auch im 1. Kor. 15,3—5 die Tradition als Evangelium bezeichnen 83 und in einer überkommenden Traditionsformel dieses weitergeben, weil er feststellte, daß sie den Inhalt des Evangeliums wiedergab — kurzum, weil sie Tradition κατά τοϋ eùayyeXiov war 84 . Evangelium und apostolische Tradition stimmen inhaltlich überein; sie sind zwei verschiedene, doch untrennbare Größen. Ihr Verhältnis wird nach Roloff durch die Gleichzeitigkeit ihrer Identität und Differenz bestimmt 85 .

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F. Hahn, Das Problem „Schrift und Tradition" im Urchristentum, in: Ev. Theol. 1970, S. 4 5 8 . O. Cullmann, Die Tradition ., S. 8 ff.; Κ. E. Skydsgaard, Schrift und Tradition, S. 174; E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 3 7 ; E. Schlink, Zum Problem der Tradition . S. 196. Schrift und Tradition, S. 3 8 ; G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung, S. 4 0 f. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 37 ff. J. R o l o f f , a.a.O., S. 88; H. Fr. von Campenhausen, Die Entstehung ., S. 127. J. R o l o f f , a.a.O., S. 86. Ebenda, S. 88 ff.

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c) Die Autorität der Schrift gegenüber der nachapostolischen kirchlichen Tradition Durch die Entstehung der apostolischen Schriften und den Abschluß des neutestamentlichen Kanons wird die Funktion und die theologische Bedeutung der Tradition nicht hinfällig. Selbst wenn die apostolische Tradition aufgezeichnet und ihr Normcharakter auf die in dem biblischen Kanon aufgenommenen apostolischen Schriften beschränkt wurde, so hört die Tradition doch nicht auf, weiterzubestehen und Mittel für die Weitergabe des Heilsgeschehen zu sein. Die Zeit der Tradition geht nicht zu Ende mit der Schriftwerdung und Abgrenzung der apostolischen mündlichen Tradition und ihrer Festlegung im biblischen Kanon. α) Die Schrift als Urzeuge der apostolischen Botschaft und ihr innerer Bezug zur Tradition Dem Inhalt nach ist die Schrift identisch mit der apostolischen Tradition. Über diese Identität schreibt Skydsgaard: „Die Schrift ist Urzeuge der echten Tradition. Sie ist historisch gesehen selbst ein Stück urchristlicher Tradition, sowohl Resultat einer Tradition als Ausdruck für den Inhalt dieser Tradition." 8 6 Die Schrift war nicht das ursprüngliche Mittel der Offenbarung und der Heilsverkündigung. Es gab eine Zeit, in der die Kirche ohne den neutestamentlichen Kanon auskam 8 7 . Die Schriften, in denen sich die apostolische Verkündigung niederschlägt, waren nicht in der Absicht verfaßt, die Botschaft des Evangeliums, die ursprünglich mündlich überliefert wurde, zu ersetzen, sondern sie entstanden aus einer Notsituation heraus und erfüllten eine stellvertretende Funktion für den nicht anwesenden Apostel 8 8 . Sie sandten Briefe an ihre Gemeinden, wenn sie nicht in der Lage waren, das lebendige mündliche Wort persönlich auszurichten. Deshalb, schreibt P. Brunner, ist ein großer Teil der neutestamentlichen Schriften in Briefform verfaßt worden 8 ? Die neutestamentlichen Schriften entstehen innerhalb des breiten Stromes der apostolischen Tradition, die ursprünglich die eigentliche Form war, in der sich durch die mündliche Verkündigung die Bezeugung der rettenden Heilstat Gottes in Jesus Christus vollzog. So nehmen die neutestamentlichen Schriften einen Teil der mündlich ergehenden apostolischen Tradition auf und machen sich zum zuverlässigen Zeugen dieser Tradition. Die mündliche Tradition geht den neutestamentlichen Schriften geschichtlich voraus; inhaltlich stimmen sie mit dieser überein, ob86 87 88 89

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Schrift und Tradition, S. 177. Vgl. P. Brunner, a.a.O., S. 33; H. Rückert, Schrift, Tradition und Kirche, in: Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie, Tübingen 1972, S. 316. P. Brunner, a.a.O., S. 33. Ebenda.

wohl die apostolische Tradition nicht in ihrem gesamten Umfang in der Schrift niedergelegt wurde. Dazu schreibt Luther: „Alterum mysterium est, in Ecclesia non satis esse libros scribi et legi, sed necessarium esse dici et audiri. Ideo enim Christus nihil scripsit, sed omnis dixit, Apostoli pauca scripserunt, sed plurima dixerunt." 9 0 Die kanonischen Schriften des Neuen Testamentes decken sich also nicht mit der ganzen Fülle der apostolischen Tradition. Sie sind nach P. Brunner „ein Bestandteil des breiten Stromes der gesamten apostolischen Überlieferung selbst", und er räumt ein, ohne aber dadurch die absolute und einzigartige Autorität der Schrift zu schwächen, daß die mündliche Überlieferung der Apostel nicht restlos in den neutestamentlichen Kanon eingegangen ist: „Es wäre auch töricht behaupten zu wollen, daß in jenem breiten Strom mündlicher apostolischer Überlieferung nicht solche Inhalte angetroffen werden können, die stofflich über die im Kanon fixierte Tradition hinausgehen." 9 1 Die Frage, die sich nach der Kanonisierung des Neuen Testamentes unumgänglich stellt, ist nämlich, ob danach die mündliche Tradition überhaupt noch etwas gilt. Diese Frage stellt sich um so eindringlicher angesichts der Exklusivität, die für das reformatorische „sola scriptura" beansprucht wird. Daß die apostolische Tradition in der Kirche auch nach dem Abschluß des neutestamentlichen Kanons mündlich weitergeht, kann nicht bestritten werden. Wenn die Schrift die apostolische Tradition aufnimmt und sie in schriftlicher Gestalt festhält, löst sie dadurch die Tradition als mündliche Weitergabe des Heilsgeschehens nicht ab. Die Schrift selbst verweist auf die Tradition, von der sie stammt und die sie in schriftlicher Gestalt wiedergibt. Die Schrift ist in ihrer inneren Struktur von der Tradition geprägt. „Die Tradition, aus der die Schrift erwachsen ist, ist die Tiefendimension der Schrift."92 Gerade dann, wenn man um ein tieferes Verständnis der Schrift bemüht ist, sollte man das Problem der Tradition nicht außer acht lassen. Eben wenn es darum geht, sie als alleinige Glaubensquelle zu verstehen, kann dies nicht geschehen, ohne zugleich das Phänomen der Tradition einzubeziehen. Unter diesem Zeichen spricht Ebeling davon, daß das reformatorische sola scriptura „interpretationsbedürftig" und als gegen Fehldeutungen neu zu überprüfen sei, die sich im Namen des Schriftprinzips bis zur Traditionsfeindlichkeit entwickelt haben 9 3 . Entgegen solchen Mißverständnissenmöchte er festhalten: „Das ,sola scriptura' ist so wenig traditionsfeindlich, daß es vielmehr selbst eine bestimmte Art von Traditionsprinzip ist." 9 4 90 91 92 93 94

WA 5, 5 3 7 . A.a.O., S. 36; E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 75; O. Cullmann, Die Tradition ., S. 4 3 ; H. Rückert, a.a.O., S. 31 7. L. Goppelt, Tradition nach Paulus, S. 232. „Sola scriptura" ., S. 91 ff.; H. Rückert, a.a.O., S. 326. Ebenda, S. 98.

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Die Hervorhebung der Tradition als der Schrift historisch und sachlich vorausgehende und für ihre Entstehung grundlegende Wirklichkeit der Heilsvermittlung, die auch die Schrift in ihrer inneren Struktur bestimmt und weiterhin begleitet, verbindet sich in der evangelischen Theologie nicht mit einer Abschwächung der einzigartigen Autorität und dem Alleinanspruch der Schrift, normative und einzige Quelle des Glaubens zu sein. Die Wiederentdeckung der Tradition und ihre Bedeutung für die Schrift sind nur als bis jetzt unausgeschöpfte und aus einer neuen Lage heraus ans Licht getretenen Aspekte des Traditionsverständnisses zu betrachten, die keineswegs das reformatorische Schriftprinzip in Frage stellen, denn eine solche Entwicklung erfolgte aus einem tieferen Verständnis des „sola scriptura" selbst 95 . Die Exklusivität der Schrift als alleinige Norm des Glaubens kann dadurch nicht als preisgegeben angesehen werden, denn G. Ebeling will „die unbestreitbar notwendige Besinnung auf das Traditionsproblem nur als radikale Besinnung auf das ,sola scriptura' verantwortlich durchführen" 9 6 . Damit sind der Raum und die Grenzen angezeigt, innerhalb deren eine Entwicklung des Traditionsgedankens in der evangelischen Theologie möglich ist. Zugleich kann auch nicht gesagt werden, daß mit dem Stand des jetzigen Traditionsverständnisses dieser Raum der möglicherweise noch weiterführenderen und umgreifenderen Traditionsbestimmung im Rahmen des ,sola scriptura' gänzlich ausgeschöpft ist, auch wenn derzeit andere Perspektiven und Aspekte des Traditionskomplexes noch nicht im Blickfeld erscheinen. Das gegenwärtige Stadium, das eine Wiederentdeckung der theologischen Bedeutung der Tradition kennzeichnet, wird man wohl nicht als Endpunkt der Entwicklung verstehen. Auch aus dem Verständnis der Schrift als Wort Gottes folgt, daß die Wahrheit der Schrift nicht in Buchstaben eingefangen werden kann und daß der Grund, aus dem die apostolische Tradition schriftlich niedergelegt wurde, nicht darin bestand, die Offenbarung Gottes schriftlich aufzubewahren. Durch die Schriftwerdung der apostolischen Tradition soll die Dynamik und die Lebendigkeit des mündlich ergangenen und des die Heilsgnade erteilenden apostolischen Wortes nicht verlorengehen. Der Sinn der Heiligen Schrift liegt bestimmt nicht darin, das Zeugnis vom Christusgeschehen einfach in Buchstaben wiederzugeben und nur eine Garantie für seine Aufbewahrung zu sein. Dazu Ebeling: „Das Zeugnis von Jesus Christus ist der Kirche nicht gegeben als ein einfach und unverändert zu Konservierendes und in seiner historischen Ursprünglichkeit immer nur zu Wiederholendes und zu Rezitierendes." 9 7 Kinder bemerkt, daß Gottes offenbarendes Reden sich primär in Geschehnissen ereignet und nicht in einem Buch. Die Wirksamkeit der Offenbarung besteht jedoch nicht in „ihrem reinen faktischen Gesche95 96 97

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Ebenda, S. 97. Ebenda, S. 98. Die Geschichtlichkeit. .

S. 82.

hensein", sondern indem sie wiederum Wortgeschehen in der Verkündigung wird 9 8 . Die Schrift kann nicht von der Tradition getrennt und hermetisch in sich abgeschlossen bestehen. Sie hat ihren Ursprung in der mündlichen Überlieferung und mündet als lebendiges Wort Gottes in diese ein, erzeugt Tradition und bleibt stets ihr normativer Wegweiser. Das Neue Testament ist deshalb kein schriftliches Konservierungsmittel des apostolischen Zeugnisses, das, nachdem es aus der Tradition entstanden ist, nun keinen Traditionsbezug mehr aufweist. Nach P. Brunner ist die Schrift in die Tradition eingebettet: „Weil die Schriften des Neuen Testamentes im Anfang stets von der lebendigen Stimme des Evangeliums umgeben sind, sind sie von Anfang an in der Kirche aufgeschlossene, redende Schriften. Der Kanon der Heiligen Schrift ist kein Koran; er ist nicht vom Himmel auf die Erde gefallen. Er hat sich aus dem Strom der mündlich überlieferten Evangeliumsverkündigung herauskristallisiert, um jeweils in diesem Strom wieder einzugehen . die Schrift (ist) kein versiegeltes Buch, sondern eine redende S t i m m e . " 9 9 Das evangelische Schriftverständnis kann keineswegs gegen die Tradition gerichtet sein, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Herkunft der Schrift, sondern auch angesichts der Tatsache, daß sich die Schrift gegenüber der Tradition nicht verschließt, vielmehr sich selbst als traditionsfördernd erweist 1 0 0 Eine Verneinung der Tradition kann nicht von der Schrift her bewiesen werden. W. Andersen schreibt im Gegenteil: ,,Wir haben erkannt, daß die Berufung auf die Heilige Schrift ein J a zur Tradition impliziert, und zwar nicht nur zur apostolischen Überlieferung, sondern zugleich auch zu dem Akt der Rezipierung dieser Schriften durch die K i r c h e . " 1 0 1 Der Drang zur Weitergabe und die Kraft, von der das apostolische Zeugniswort begleitet und getragen wird, kommt nicht zum Stillstand, wenn das mündliche Wort schriftliche Gestalt annimmt. Deshalb kann es nicht heißen, daß seit der Kanonisierung der apostolischen Tradition die Funktion der Weitergabe auf das schriftliche Wort beschränkt bleibt. Das mündliche gnadenvermittelnde apostolische Wort wird nicht durch das schriftliche Wort ersetzt, das j a einfach nur zur Bewahrung und Wiedergabe der ersten Zeugnisse von dem Heilsgeschehen in Christus dient, vielmehr ist das Wort der Schrift selbst als lebendiges Wort zu verstehen, weil es die Menschen in ihrer konkreten geschichtlichen Existenz anspricht und weil es den lebendigen Christus vermittelt, der im Wort gegenwärtig handelt, wenn es mündlich verkündigt wird 1 0 2 . 98

Urverkiindigung der Offenbarung Gottes. Zur Lehre von den „Heiligen Schrift e n " , in: Zur Auferbauung des Leibes Christi. Festgabe für P. Brunner, hrsg. von E. Schlink und A. Peters, Kassel 1965, S. 18. 99 A.a.O., S. 37. 100 G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit . ., S. 67. 101 Die Verbindlichkeit des Kanons, in: Fuldaer Hefte 12, Berlin 1960, S. 30. 102 K . E . Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S. 144 f.

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Im Verständnis der Schrift als Wort Gottes, das im Überlieferungsgeschehen wirksames Wort wird, tritt die Zusammengehörigkeit von Schrift und Tradition deutlich hervor. Die Schrift bedarf der Tradition, damit das apostolische Zeugnis vom Christusgeschehen nicht in ihr verschlossen bleibt, sondern in der Überlieferung Gegenwartsgeschehen wird. Nach Ebeling begegnet uns das Wort Gottes nicht anders als durch die Überlieferung 103 . Als die Mitte der apostolischen Tradition ist das Evangelium auch der Kerngehalt der Schrift. Der Bezug des Evangeliums zu der mündlichen Tradition bleibt weiterhin bestehen, auch nach der schriftlichen Festlegung der apostolischen Tradition. Das Evangelium kann nicht in den Buchstaben der Schrift ruhen und in geschriebenen Worten wie in Behältern weitergegeben werden. Wie in der Zeit der Apostel, als das Evangelium durch die mündliche Tradition übermittelt wurde, so bleibt es auch nach der Schriftwerdung ihrer Tradition auf die Überlieferung bezogen und es wirkt und geschieht in der mündlichen Weitergabe, denn das Evangelium ist seinem Wesen nach mündliche Botschaft und nicht geschriebenes Wort 1 0 4 . Die Öffnung der Schrift zur Tradition und ihre Bezogenheit auf diese wird in der evangelischen Theologie von der „Sache" der Schrift, von dem Evangelium her begründet. Sie beruht auf der Tatsache, daß ein innerer Zusammenhang zwischen dem Evangelium als Inhalt der Schrift und seiner mündlichen Weitergabe durch die Tradition besteht. In diesem Sinne besteht nach G. Ebeling zwischen dem „sola scriptura" und der Tradition ein notwendiger Zusammenhang, der darauf zurückzuführen ist, daß die Schrift sowohl auf das Verkündigungsgeschehen zurückweist, aus dem sie stammt, als auch auf das Verkündigungsgeschehen hinweist, in das sie einmünden soll 105 . Ohne das „sola scriptura" abzuschwächen, ist die evangelische Theologie darum bemüht, seinen Horizont zu erweitern und seinen Sinn neu zu durchdenken und zu vertiefen, so daß sie in der Struktur des „sola scriptura" selbst den Bezug auf die Tradition als ein mitkonstitutives Element erblickt. Die Schrift bleibt Norm der Tradition, aber das Evangelium, das in der Schrift bezeugt ist, gelangt zu uns nicht ohne den Zugang der Tradition. Das Wort Gottes, das die Schrift enthält, ist auf die Überlieferung ausgerichtet, es will nach P. Brunner „aus seiner schriftlichen Gestalt hervorbrechen und zu einer mündlichen Verkündigung . werden" 1 0 6 . Zweck der Schrift ist es nicht, die Funktionen der Tradition zu übernehmen, vielmehr soll sie Garantie für die Echtheit der ursprünglichen apostolischen Tradition sein und Grundlage für die mündliche Evangeliumsver103 104 105 106

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„Sola scriptura" Ebenda, S. 102. Ebenda. A.a.O., S. 35.

., S. 98.

kiindigung. „Die schriftliche Gestalt des apostolischen Zeugnisses ist also jeweils nur Durchgangsstation für seine sich stets erneuernde mündliche G e s t a l t . " 1 0 7 Die Schrift soll zur Überlieferung des Evangeliums dienen. Sie mündet in die Tradition ein, weil das Wort Gottes nicht geschriebenes, statisches Wort, sondern lebendiges Wort ist, das verkündet und gehört werden muß, um Glauben zu erwecken. Das entspricht auch der Auffassung Luthers, der nach Gloege die Bibel nicht optisch, sondern akustisch verstand 1 0 8 . Das geschriebene Wort Gottes der Schrift ist lebendiges Wort, weil hinter ihm J e s u s Christus als das „Herz und Kern der B i b e l " steht. 1 0 9 Weil das Christusgeschehen als der Glaubensinhalt der Schrift nicht gegenständlich in ihr bewahrt wird, kann das Evangelium nicht einfach bei dem geschriebenen Wort bleiben, sondern bewirkt durch seine Kraft, daß das heilszusprechende Wort der Schrift in das mündliche Wort der Verkündigung e i n g e h t n o . Gerade die Auffassung von der Schrift als das lebendige Wort Gottes, die für die evangelische Theologie so kennzeichnend ist und die ihr so eigene Überzeugung, daß durch das mündliche Wort der Verkündigung das Christusgeschehen vergegenwärtigt wird, zeigt, welcher notwendige Zusammenhang zwischen Schrift und Tradition bestehen soll. Ihr gegenseitiges Aufeinanderangewiesenseinist auf dem Wesen des Evangeliums als mündlich verkündigter Heilsbotschaft begründet. Dieser Sachverhalt entspricht nach E. Kinder „der Eigenart des Evangeliums und ist grundsätzlich von ihm selbst hervorgerufen und uns von G o t t vorgeordnet" 1 1 1 . Deshalb kann H. von Campenhausen am Ende seiner Untersuchung über die Entstehung der Bibel die Feststellung treffen: „Die Bibel gilt niemals als einzige Quelle des christlichen Glaubens. Sie ist stets begleitet von der lebendigen Christusverkündigung und -lehre, die der Kirche schon im Entstehen eingestiftet und vom Heiligen Geist getragen ist. Die Kirche lebt in diesem Sinne immer zugleich und zuerst aus der Tradition."112 ß) Die Schrift als Norm der Tradition Die Schrift wird stets von der Tradition begleitet. Sie setzt die Tradition nicht nur voraus, sondern ruft sie zugleich hervor. Das Evangelium als der Kerngehalt der Schrift verlangt danach, bezeugt und überliefert zu 1 0 7 Ebenda. 1 0 8 Zur Geschichte des Schriftverständnisses, in: Das Neue Testament als Kanon, Hrsg. E. Käsemann, Göttingen 1 9 7 0 , S. 25. 1 0 9 R. Bring, Luthers Anschauung von der Bibel, in: Luthertum, Heft 3, Berlin 1 9 5 1 , S. 2 1 . 1 1 0 E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 4 7 . 111 Ebenda, S. 5 2 . 1 1 2 Die Entstehung ., S. 3 7 9 .

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werden. Die Vergegenwärtigung der Heilsoffenbarung geschieht nicht einfach durch die Schrift, sondern durch die Verkündigung der Christusgeschichte, die aus dem ursprünglichen apostolischen Zeugnis entsteht, das nun in der Schrift enthalten ist: „Und nicht als Rezitation des Zeugnisses der ersten Zeugen, sondern als durch dieses Zeugnis erzeugte Verkündigung vollzieht sich die Weitergabe der Tradition." 1 1 3 P. Brunner betrachtet die Schrift deshalb als ,,Durchgangsstation" und „dienendes Mittel" für die mündliche Verkündigung 114 . Weil die Schrift „nach rückwärts" und „nach vorwärts" von der Tradition umgeben ist, soll der Versuch, ihren Wert und ihre Identität herauszustellen, wie E. Kinder mit dem Hinweis auf die Theorie der Verbalinspiration der altprotestantischen Orthodoxie schreibt, nicht zu einer „supranaturalen Herausisolierung" der Schrift aus der Geschichte führen 1 1 5 . Die Vernachlässigung der Tradition, in der durch die Einwirkung des Heiligen Geistes das Heilsgeschehen als Inhalt der Schrift lebendige und gegenwartsbezogene Heilswirklichkeit wird, bezeichnet Kinder als „unsachgemäße Abstraktion und Vergewaltigung der Wirklichkeit", als ob es dem Wesen der Heilsoffenbarung gemäß möglich wäre, sie in statisch fixierter Form weiterzugeben 1 1 6 . Mit der Bejahung des reformatorischen Schriftprinzips will man zugleich die Anerkennung der Lehre von der Tradition als miteinbegriffen verstehen 117 . Was in der konkreten Existenz der evangelischen Kirche von ihrer Entstehung an Wirklichkeit war, erfährt nun auch seine theologische Bewertung 1 1 8 Doch die Wandlung im Traditions Verständnis, die in der neueren evangelischen Theologie erfolgte, hat nicht zu einer wertmäßigen Gleichstellung von Schrift und Tradition geführt oder ihren Autoritätsunterschied aufgehoben. Die Anerkennung der Tradition vollzog sich gleichzeitig mit der Berufung auf die alleinige absolute Autorität der Schrift. Der Tradition kommt nicht dieselbe Autorität zu wie der Schrift, wenn auch durch sie die Weitergabe des Glaubens geschieht. Obwohl zwischen Schrift und Tradition ein „lebensvolles Wechselverhältnis" besteht, so ist doch ihr Verhältnis als das zweier „abgestufter Dignitäten" bestimmt 1 1 9 . Weil das apostolische Amt un wiederholbar ist und der apostolischen Tradition deshalb eine einmalige Bedeutung für die ganze Existenz der Kirche zukommt, hebt sich der neutestamentliche Kanon aus dem 113 114 115 116 117 118 119

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G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit. S. 67. A.a.O., S. 35. Schrift und Tradition, S. 46. Ebenda, S. 47. G. Ebeling, „Sola scriptura" S. 140; W. Andersen, a.a.O., S. 30. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit . ., S. 89. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 49.

Strom der mündlichen Überlieferung besonders hervor als die sichere Wiedergabe des ursprünglichen apostolischen Zeugnisses. Den Grund für den einzigartigen Wert der kanonischen Schriften des Neuen Testamentes sieht E. Schlink darin, daß hier im Vergleich mit der Tradition die apostolische Botschaft „rezipiert" und nicht „formuliert" wurde, und in der Authentizität ihrer Apostolizität 1 2 0 . Damit werden nicht zuerst historische oder sonstige Kriterien bei der Feststellung der echten Überlieferung der Apostel ausschlaggebend, sondern theologisch-dogmatische Überlegungen geltend gemacht. Die Notwendigkeit der Herausstellung der Schriften, die die authentische Überlieferung des Heilsgeschehens wiedergeben, stellte sich der Kirche mit der Zunahme der Gefahr ihrer Entstellung, die mit der Entfernung der apostolischen Zeit immer bedrohlicher wurde, und hängt eng damit zusammen, daß nur die apostolische Botschaft einmalig und deshalb grundlegend für die Kirche aller Zeiten ist. Aus der Erkenntnis der Kirche, daß nur die apostolische Tradition bevollmächtigtes Zeugnis von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist, die ein für allemal geschah, sah sie sich verpflichtet, die echte von der unechten Tradition abzugrenzen und ihre unverfälschte Weitergabe zu sichern. P. Brunner kennt kein absolut zuverlässiges Mittel oder keine Einrichtung in der Kirche, obwohl er das Amtscharisma in Betracht zieht, die die Reinerhaltung der ursprünglichen apostolischen Tradition gewährleisten könnte. Ein formales äußerliches Mittel wie die „nuda successio apostolica" kann auch keine Sicherheit dafür verschaffen, daß der Verkündigung der Apostel nicht fremde Elemente hinzugefügt werden. Die „materielle Übergabe" des apostolischen Zeugnisses und dessen substantielle Identität können nur in der Gestalt der Schrift garantiert werden 1 2 1 . Nur in der Schrift begegnet uns nach Skydsgaard die echte apostolische Tradition 1 2 2 . Die Tatsache, daß gerade die Schriften, die zum Neuen Testament gehören, von den anderen ausgesondert wurden und daß die Kirche in ihnen die Echtheit der apostolischen Botschaft erkannte, verleiht ihnen eine Sonderstellung gegenüber der ungeschriebenen Tradition. In den Schriften des neutestamentlichen Kanons hörte die Kirche die Stimme der Apostel und machte die Erfahrung, daß in ihrer Botschaft Jesus Christus spricht und wirkt, der sie bevollmächtigt hat, das zu bezeugen, was ihnen im Zusammensein mit ihm geoffenbart wurde. Deshalb gehört ihr Zeugnis auch zu der Offenbarung Gottes 1 2 3 . Nach dem Abschluß der neutestamentlichen Schriften und ihrer Kanonisierung werden diese in der evangelischen Theologie zur einzigen Glaubensnorm erhoben: 120 121 122 123

Zum Problem der Tradition A.a.O., S. 29 ff. Schrift und Tradition, S. 177. W. Andersen, a.a.O., S. 41.

S. 197.

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„Diesen kanonischen Charakter, der dem apostolischen durch sein besonderes Verhältnis der Christusgeschichte selbst eignet, können wir nur dem geschichtlich vorliegenden klaren apostolischen Zeugnisse zuerkennen ,"124 Mit der Bildung des neutestamentlichen Kanons wollte die Kirche eine Norm schaffen, indem sie die authentischen Glaubenszeugnisse sammelte, an die sich die übrige Tradition zu halten hatte. Obwohl der Strom der mündlichen Überlieferung breiter war 1 2 5 und weiterlief 126 , umfaßten die neutestamentlichen Schriften das Wesentliche der apostolischen Tradition. „Wir haben außerhalb des Neuen Testamentes keine einzige Schrift, von der wir sagen müßten, sie gehört eigentlich in den Kanon hinein." 1 2 7 Diese Überzeugung drückt auch CuIImann aus: „Die Forderung, die im Kanon eingeschlossenen Schriften als Norm zu betrachten, Schloß die Erkenntnis in sich, daß sie genügen."128 Durch die Entscheidung, die die Kirche bei der Auswahl der Schriften getroffen hat, erkannte sie, daß nur diese Schriften die echte apostolische Bezeugung des Evangeliums darstellen; deshalb wird man nur an ihnen gemessen zwischen der rechten und der falschen Tradition unterscheiden können. „Hier ist die Richtweisung, der Kanon für alle weitere Tradition gegeben, woran diese sich zu bemessen hat, ob es wirklich die Christusgeschichte als Heilshandeln Gottes ist, die in ihr weiter tradiert wird." 1 2 9 Durch die Abgrenzung und die Abgeschlossenheit des neutestamentlichen Kanons wird ein wesentlicher qualitativer Unterschied zwischen den apostolischen Schriften un der ganzen übrigen Tradition gemacht. Als dem apostolischen Wort kommt diesen Schriften als maßgebender Bezeugung des Heilsgeschehens eine bleibende und richtungsweisende Bedeutung zu. Den Beweis für ihre Richtigkeit kann diese nicht aus sich selbst erbringen, sondern sie bedarf der Prüfung und der Bestätigung durch die Schrift, von deren Autorität sich keine Tradition befreien kann und durch die allein wir mit der Christusgeschichte in Verbindung kommen können als der Erstform ihrer geschichtlichen Bezeugung. 130 Mit der Festlegung der kanonischen Schriften des Neuen Testamentes zieht die Kirche eine deutliche Trennungslinie zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Zeit 1 3 1 . Die Zeit des irdischen Wirkens Jesu Christi und dem der Apostel war die Zeit der Offenbarung und der

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E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 42. P. Brunner, a.a.O., S. 31 und 33. E. Schlink, Zum Problem der Tradition, S. 198. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit. S. 53. Die Tradition ., S. 46. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 41. Ebenda. O. Cullmann, Die Tradition . . ., S. 4 2 ff.

Gründung der Kirche, die unwiederholbar ist. Die normative Bedeutung der apostolischen Tradition übernimmt nun die Schrift als das ursprüngliche Zeugnis der Apostel, nachdem die Kirche die authentischen apostolischen Schriften sorgfältig im Kanon aufgenommen hat. Die mündliche Tradition hatte normativen Charakter nur zu Lebzeiten der Apostel und der Augenzeugen 132 . Diese Autorität, die auch den apostolischen Schriften eigen war, bevor sie kanonisiert wurden 1 3 3 , übertrug sich, meint man in der evangelischen Theologie, nach der Festlegung des Kanons auf die darin enthaltenen Schriften. Weil auch andere Traditionen den Anspruch erhoben, als apostolische bezeichnet zu werden, konzentrierte sich die Autorität der apostolischen Tradition vorwiegend auf die in den Schriften aufgenommene. Dazu O. Cullmann: „Mit der Kanonbildung war gesagt: wir verzichten von nun an darauf, die andern, von den Aposteln nicht aufgeschriebenen Traditionen als Normen anzuerkennen; gewiß können andere ursprüngliche apostolische Traditionen bestehen, aber als apostolische Norm betrachten wir einzig, was in diesen Büchern aufgeschrieben steht." 1 3 4 Die Bildung des Kanons stellt die darin enthaltenen Schriften auf dieselbe Ebene mit der apostolischen Tradition und erkennt ihnen dieselbe Autorität zu. Die Heilige Schrift ist der Markstein, der zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Tradition steht. In der Kirche gibt es keine andere Autorität, die imstande wäre, die Wahrheit des Evangeliums rein zu bewahren, außer der Schrift 1 3 5 . „Allein von ihr aus kann darum echte Autorität in der Kirche sich geltend machen." 136 Die Kanonisierung der apostolischen Schriften bedeutet eine Verlagerung und eine Konzentration der einmaligen Autorität der apostolischen Tradition auf die Schrift, die von nun an das einzige Wahrheitskriterium wird, während die Tradition nach der Kanonbildung in einem untergeordneten Verhältnis zu ihr steht. Die gleichwertige Bedeutung, die anfangs die mündliche und die schriftliche Tradition hatten, übernahm nun die Schrift als die alleinige Autorität, wobei gesagt werden soll, daß diese Entscheidung nicht ein Akt der Apostel, sondern der nachapostolischen Kirche war. Die Dualität der Autorität der geschriebenen und der mündlichen apostolischen Tradition während der Zeit der Apostel, die zugleich ihre Einheit bedeutete, wird mit der Anerkennung des neutestamentlichen Kanons aufgehoben. Die Schrift bietet allein die Garantie für die Ursprünglichkeit und Reinheit der apostolischen Zeugnisse und macht den Unterschied zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Zeit deutlich.

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Ebenda, S. 45. Ebenda, S. 4 4 ; P. Brunner, a.a.O., S. 33. Die Tradition ., S. 46. O. Cullmann, Die Tradition ., S. 45; P. Brunner, a.a.O., S. 36. K.E. Skydsgaard, Schrift und Tradition, S. 177.

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Dieser Unterschied, der an der Schrift offenkundig wird — denn dies ist eigentlich nach Cullmann der Sinn des neutestamentlichen Kanons, „unter die apostolische Tradition einen Strich" 1 3 7 zu setzen —, weist auf ein Gegenüber von den Aposteln und ihren Nachfolgern hin. P. Brunner spricht dies nachdrücklich aus: „Die Kanonizität dieser Schriften bringt das grundsätzliche, unaufhebbare Gegenüber zwischen Apostel und Nichtapostel, zwischen Fundament und Bau der Kirche zum Ausdruck. Wer den Kanon als Kanon anerkennt, spricht damit aus, daß der Richter, der allein in Vollmacht über Echtheit und Unechtheit apostolischer Überlieferung entscheiden kann, dieser Kanon selbst i s t . " 1 3 8 Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es einen wesentlichen Unterschied zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Zeit gibt. Apostel gab es nur einmal. Das apostolische Zeugnis ist einmalig und für die irdische Existenz der Kirche grundlegend. Sie empfängt die Heilsoffenbarung Gottes nur aus dem apostolischen Zeugnis, das j a ihr Grund ist. Die nachapostolische Kirche und ihre Tradition sind mit dem Zeugnis der Apostel nicht zu verwechseln. Es ist wahr, daß die nachapostolische Kirche mit ihrer Tradition in der apostolischen Tradition eine absolute richtungsweisende Norm hat, von der sie sich nicht losreißen und verselbständigen kann. Der Unterschied zwischen den Aposteln und den Nichtaposteln, die doch ihre Nachfolger sind, dem apostolischen Zeugnis und dem Zeugnis der nachapostolischen Kirche, soll nicht übersehen werden. Die apostolische Tradition als ein Gegenüber zu der Tradition der nachapostolischen Kirche soll dahingehend verstanden werden, daß sie der Maßstab für diese ist, aber nicht als etwas völlig anderes, das die rechte Tradition der Kirche ausschließt und jede Beziehung zwischen Schrift und Tradition unmöglich macht. In Wirklichkeit sind Schrift und Tradition auch nach der Festlegung des Kanons aufeinander angewiesen, was nicht bedeutet, daß beiden die gleiche Autorität zukommt. Gegenüber der kirchlichen Tradition hat die Schrift eine einzigartige Bedeutung und bleibt für sie die letzte Norm und das absolute Wahrheitskriterium; zwischen beiden gibt es jedoch ein lebendiges Wechselverhältnis. Der Abschluß des neutestamentlichen Kanons bedeutet nicht ein Absterben der Tradition, vielmehr begleitet und dient sie der Schrift weiter, indem sie dieser unterstellt ist. E. Schlink sieht die Bedeutung der Tradition nach der Abgrenzung des Kanons in ihrer dienenden Funktion gegenüber der Schrift 1 3 9 . Die Schrift ist nach E. Kinder nicht vom Gesamtleben der Kirche isoliert zu sehen, aber sie identifiziert sich nicht mit ihm bis zum Verlust ihrer Selbstidentität, denn innerhalb des Gesamtlebens der Kirche sind nicht alle seine mitkonstitutiven Elemente gleich, vielmehr gibt es 137 O. Cullmann, Die Tradition S. 45. 138 P. Brunner, a.a.O., S. 36 und S. 37. 139 Zum Problem der Tradition . . . S. 198.

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auch hier eine „Struktur", in der nicht alles „kanonische Dignität" besitzen kann 1 4 0 . Wohl steht die Schrift über dem ganzen Leben der Kirche und ihren Traditionen und bestimmt sie, aber sie tut das, indem sie sich nicht in einem geschichts- und bezugslosen Absolutum befindet, sondern innerhalb des Gesamtkomplexes kirchlichen Lebens, in dem sie sich zu erweisen und über das sie in Vollmacht des apostolischen Zeugnisses letzten Endes allein zu entscheiden hat, und darüber, ob das, was hier tradiert wird, auch in Wirklichkeit der Heilsoffenbarung dient und ihr entspricht 141 Ihr Verhältnis zueinander ist nicht eines „zwischen zwei gleichwertigen Polen, sondern zwischen zwei abgestuften Dignitäten, wo aber doch keins ohne das andere sein kann" 1 4 2 γ) Die Tradition als Glaubensantwort der Kirche auf das Wort der Schrift: Schriftauslegung und Bekenntnis Weil die Tradition ein „ekklesiologisches Phänomen" 1 4 3 ist, kann nicht von der Verbindung gesprochen werden, die notwendigerweise zwischen Schrift und Tradition besteht, ohne in diesem Zusammenhang die Kirche miteinzubeziehen. Wie die Kirche in ihren Anfängen nicht auf ein Buch gegründet wurde, sondern auf die mündliche Verkündigung der Apostel und der Urgemeinde, so soll das Wort Gottes nicht in der Schrift verschlossen bleiben, sondern in die lebendige Tradition der Kirche einmünden. Im Gegensatz zu einem subjektiven und individualistischen Verständnis ist die Schrift nach Kinder zuerst das Buch der Kirche: „Man trifft den Skopus der Bibel nicht richtig, wenn man sie nicht in dem pneumatischen Raum der Kirche liest. Die Heilige Schrift ist Kanon nicht im geschichtslosen Raum, sondern so, daß sie im Lebensraum der Kirche aufgeschlagen und verkündigt wird." 1 4 4 Darin, daß die Kirche der Weitergabe der Offenbarung dient und daß in ihren Glaubenserfahrungen und -antworten Jesus Christus im Heiligen Geist wirkt, sieht Kinder die theologische Bedeutung, die man nicht nur der Urkirche der apostolischen Zeit oder der Kirche, die den Kanon bestätigt hat, sondern auch der späteren Kirche zuerkennen soll 14S . Die Glaubenserfahrungen der Kirche bedeuten jedoch keine substantielle Ergänzung der Offenbarung selbst, die, als ein für alle Male dargebracht, keiner Hinzufügung mehr bedarf 1 4 6 . 140 141 142 143 144

Schrift und Tradition, S. 42. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 49. G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung, S. 41. Schrift und Tradition, S. 49; K.E. Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S 146 f. 145 Schrift und Tradition, S. 47. 146 Ebenda, S. 47 f.

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Die ekklesiologische Dimension der Schrift, die in der letzten Zeit in der evangelischen Theologie immer mehr zur Geltung gebracht wird, geschieht unter Wahrung der absoluten Autorität der Schrift, die ihre vollmächtige Stimme jedoch nicht von außerhalb des Lebensvollzuges der Kirche ertönen läßt, sondern mitten in der Kirche laut wird. Hier hat sie nach Skydsgaard ihre Souveränität zu beweisen: „Genau diese Stellung in der Kirche bedingt die Autorität der Schrift, und genau an diesem Punkte sagen die Reformatoren ihr sola scriptural147 Für Luther ist die Kirche durch das Wort Gottes ins Leben gerufen: „Ecclesia est creatura verbi." 1 4 8 Unter diesem Wort, auf dem die Kirche gründet, versteht Luther nicht erst die Schrift, sondern das Wort Gottes, das schon, bevor die Schrift kanonisiert wurde, als mündlich verkündigtes Wort die Urgemeinde sammelte. Durch dieses Wort entsteht und auf ihm besteht die Kirche: „Tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo Dei." 1 4 9 Damit ist das Verhältnis zwischen Wort und Kirche als eines zwischem dem Schöpfer und dem Geschöpf bestimmt. Die Kirche steht unter dem Wort Gottes und bleibt so lange erhalten, wie sie das Wort gehorsam hört, ihr ganzes Leben nach ihm richtet und sich von ihm durchdringen und bestimmen läßt. Die vorrangige Stellung des Wortes gegenüber der Kirche, die nicht nur für seine mündliche Gestalt als Verkündigung gilt, sondern auch für die Schrift beansprcht wird, stellt nun die Frage, wie diese reformatorische Grundsatzlehre damit zu vereinbaren sei, daß die Sammlung und die Abgrenzung der neutestamentlichen Schriften sich innerhalb der Kirche als ihr Werk vollzog und ihre Existenz voraussetzt. Liefert diese historische Tatsache nicht gerade ein Argument gegen das reformatorische „sola scriptura" und einen Beweis für eine der Schrift nebengeordnete Autorität der Kirche? Soll neben dem Schriftprinzip nicht auch das Traditionsprinzip bejaht und das erste nicht als Folge des zweiten angesehen werden? Kommt im Schriftpinzip nicht auch das Traditionsprinzip zur Sprache, wenn der neutestamentliche Kanon auf der Entscheidung der nachapostolischen Kirche beruht? Diese Fragen, die an die evangelische Theologie gerichtet werden, oder die man sich in ihr selbst stellt, um den eigenen Standpunkt zu erläutern 1 5 0 , können hier nicht alle positiv beantwortet werden und werden außerdem nicht als mit dem „sola scriptura" unvereinbar betrachtet. Wenn auch für die evangelische Theologie unumstritten ist, daß der neutestamentliche Kanon ein Werk der Kirche ist, so wird die Festle147 148 149 150

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Tradition und Wort Gottes, S. 147. WA 6, 560. Vgl. K.E. Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S. 144 f. WA 7, 721. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit S. 5 0 f.; ders., „Sola scriptura" . 104 ff.; K.E. Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S. 146.

., S.

gung des Kanons durch die Kirche nicht als ein Beweis für ihre Unfehlbarkeit betrachtet 1 S 1 . Dies zeigt sich darin, daß prinzipiell eine Erweiterung oder eine Reduktion des neutestamentlichen Kanons möglich ist, gerade deswegen, weil die Kirche nicht absolute Autorität besitzt und nicht unfehlbar handelt, obwohl sie sich bei der Auswahl der neutestamentlichen Schriften und ihrer Kanonisierung richtig entschieden hat. G. Ebeling kann dazu beides zugleich sagen: nämlich daß einerseits der evangelischen Theologie eine Revision der Schrift freistünde, obwohl er gleichzeitig daran zweifelt, ob es sinnvoll wäre, von ihr Gebrauch zu machen, „als sei es überhaupt möglich und darum notwendig, zu einer unfehlbaren Kanonabgrenzung zu gelangen" 152 . Andererseits stellt er fest: „Wir haben außerhalb des Neuen Testamentes keine einzige Schrift, von der wir sagen müßten, sie gehörte eigentlich in den Kanon hinein." 1 5 3 Durch diese Freiheit, die in der evangelischen Theologie gegeben ist — wenigstens grundsätzlich die Grenzen des Kanons offenzuhalten 1 5 4 , wenn praktisch die Notwendigkeit seiner Revidierbarkeit nicht oder noch nicht besteht —, will man vermeiden, daß die Autorität der Schrift von der Autorität der Kirche abgeleitet wird, und zum Ausdruck bringen, daß bei der Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften nicht ihre formale Abgrenzung entscheidend war, sondern das Selbstzeugnis dieser Schriften, das im Grunde allein für ihre Kanonizität bestimmend ist. Die evangelische Theologie betrachtet die Kanonabgrenzung als ein Bekenntnis der Kirche zu diesen Schriften, und deshalb kommt ihrer Entscheidung nicht dieselbe Autorität wie den kanonischen Schriften zu, weil Schrift und Bekenntnis nicht gleichzusetzen sind. Formal gesehen ergibt sich, wie Ebeling dazu bemerkt, „die paradoxe Feststellung", daß der neutestamentliche Kanon, als Bekenntnis der Kirche mit der Schrift nicht gleichzusetzen ist, 1 5 5 eben weil dem Bekenntnis nicht gleiche Autorität wie der Schrift zukommt. Um diesem Dilemma zu entfliehen, kann man andererseits die Bedeutung der Kanonabgrenzung durch die Kirche nicht dadurch umgehen, daß man glaubt, den Umfang der Schrift aus der Schrift selbst zu beweisen, um den Kanon mit der der Schrift eigenen Autorität zu versiegeln. Dies wäre auch deshalb nicht möglich, weil sich in der Schrift nirgendwo eine solche Stelle befindet, aus der die Zahl der dazu gehörenden Schriften zu entnehmen ist. Zu diesem in der Schrift fehlenden Beweis fügt Ebeling noch hinzu, daß eine Bestätigung des Kanons mit der Autorität der Schrift selbst ihre

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G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit S. 51. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 53. W.G. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, in: Das Neue Testament als Kanon, S. 91. 155 Die Geschichtlichkeit . . S. 52. 197

Autorität schon als anerkannt voraussetzen müßte, um beweiskräftig zu sein, was wiederum nicht ohne die Autorität der Kirche möglich wäre 156 . Wenn allgemein anerkannt ist, daß der Kanon ein Produkt kirchlicher Tradition ist, bedeutet dies für die evangelische Theologie jedoch nicht, daß aus dieser historischen Tatsache eine sachliche Gleichwertigkeit der Kirche mit der von ihr festgelegten Schriftensammlung abgeleistet werden kann. Die Autorität, mit der die Kirche die vorhandenen Zeugnisse überprüfte, ist nicht gleich mit der der Schriften, die sie kanonisiert hat. Das bedeutet, daß die Autorität der kanonischen Schriften nicht in der Autorität der Kirche gründet. Die Autorität, die die Schrift besitzt, wird ihr nicht von der Kirche verliehen. Das Urteil über die Kanonizität der neutestamentlichen Schriften bildet sich die Kirche aus den Erfahrungen mit ihnen, die sie vor allem im gottesdienstlichen Geschehen macht, so daß die Entscheidung, die sie darüber trifft, ihren Grund nicht in sich selbst hat, sondern mit dem apostolischen Charakter der zum Kanon gehörenden Schriften zusammenhängt. Die Kirche verleiht diesen Schriften nicht eine Autorität, die sie in sich selbst nicht hätten, sondern sie erkennt durch ihr Urteil ihren apostolischen Charakter an — und daß in ihnen die Heilsbotschaft laut wird. Die Entscheidung der Kirche über diese von ihr ausgewählten Schriften ist ihr Bekenntnis zu ihnen und ihre bestätigende Antwort, daß sie aus ihnen das Evangelium am unmittelbarsten hört. Es ist deshalb die Autorität dieser Schriften selbst, die die Kirche anerkennt und durch die Kanonisierung proklamiert 157 . Die Schrift empfängt ihre Autorität nicht von der Kirche, sie hat sie vielmehr in sich und aus sich, weil sie die apostolische Bezeugung des Evangeliums ist. Ihre Autorität ist nicht formaler, sondern inhaltlicher Natur. Auf der wirkenden Kraft des Wortes Gottes sieht Fr. Brunstäd ihre Autorität begründet: „Nicht die formale Art der Entstehung begründet die Geltung ihres Inhalts, sondern ihr zentraler Inhalt gibt ihr die Geltung und die Autorität. Also man kann so sagen, nicht formales, sondern inhaltliches Schriftprinzip. Nicht gesetzlicher Biblizismus, weil es in dem Buch zwischen den zwei Deckeln steht . ., sondern weil uns durch sie das Evangelium mitgeteilt wird." 1 5 8 Die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften durch die Kirche ist ein Akt der Anerkennung und der Bestätigung ihrer Autorität. Sie haben sich selbst wegen ihres evangelischen Inhaltes aufgedrängt. Daß sie nicht erst nach ihrer Kanonisierung als normative Autorität galten, zeigt sich auch daran, daß sie sich schon vorher durchgesetzt hatten und in gottesdienstlichen Versammlungen in Gebrauch waren. Als „kanoni-

156 G. Ebeling, „Sola scriptura" S. 105. 157 L. Goppelt, Die apostolische . ., S. 112. 158 Theologie . . S. 21.

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sehe" Schriften galten sie de facto schon vor der offiziellen Erklärung der Kirche, die j a nichts anderes tat als das zu bestätigen, was sich „längst kraft seines selbstmächtigen ,Sach'gehaltes als Autorität erwiesen h a t t e " 1 5 9 . Die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften durch die Kirche hat Bekenntnischarakter. In der Anerkennung des Kanons antwortet die Kirche auf das Wort Gottes, das sie aus diesen Schriften vernimmt. Sie steht zu diesen Schriften in einem Antwort-Verhältnis. Sie spricht nicht das erste Wort, sondern antwortet auf Gottes Wort 1 6 0 . Um das Verhältnis von Schrift und Kirche zu verdeutlichen, zieht Brunstäd eine Parallele zwischen Johannes dem Täufer und J e s u s Christus. Dieser „erkennt Christus an, autorisiert ihn aber nicht. Nicht weil er ihn anerkennt, ist Christus Christus, sondern weil er es ist, wird er von J o h a n n e s anerkannt. S o ist es mit der Schrift und der K i r c h e " , 6 1 . Wenn der Kanon auch ein Werk der Kirche ist, so hat die Schrift jedoch sachliche Priorität vor der Kirche. S o gewiß einerseits in der evangelischen Theologie eine scharfe Trennungslinie zwischen der Autorität der Schrift und der Kirche gezogen wird, und diese dem geoffenbarten Wort der Schrift völlig unterstellt wird, so ist man andererseits darum bemüht, auch die Bedeutung der Kirche bei der Entstehung und der Abgrenzung der neutestamentlichen Schriften zur Geltung zu bringen. Auch wenn der Inhalt dieser Schriften geoffenbart ist und nicht von der Kirche erfunden wurde, so wie auch ihre Autorität nicht von der Kirche hergeleitet werden kann, so bleibt das Neue Testament doch in bestimmter Weise ein Werk der Kirche. Die „experientia e c c l e s i a e " 1 6 2 w a r ein wichtiges Moment bei der Auswahl der zum Neuen Testament gehörenden Schriften. Der Glaubenserfahrung der Kirche, auf der die Anerkennung der apostolischen Schriften gründet, wird man große Bedeutung beimessen müssen, wenn man sie wie Ratschow nicht isoliert von dem „testimonium spiritus saneti in e c c l e s i a " 1 6 3 sieht. Die theologische Bedeutung der Kanonisierung des Neuen Testamentes durch die Kirche, die Kinder als ein „gewichtiges Stück kirchlicher T r a d i t i o n " ' ^ b e z e i c h net, beruht auf der Präsenz und dem Wirken des Heiligen Geistes, der nicht nur dem apostolischen Zeugnis, sondern auch der weiteren Kirche verheißen wurde, sicher nicht losgelöst*von diesem, sondern indem sie sich an es hält 1 6 S .

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E. Kinder, Urverkündigung der O f f e n b a r u n g ., S. 26. E. Schlink, Theologie S. 36 ff. A.a.O., S. 25. C.H. Ratschow, Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht systematischer Theologie, in: Das Neue Testament als K a n o n , S. 255. 163 Ebenda. 164 Schrift und Tradition, S. 13. 165 E b e n d a , S. 40 und S. 54.

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Die Glaubensentscheidungen der Kirche, denen auch die Kanonisierung der Schrift unterzuordnen ist, sind nicht eine freierfundene Antwort, die die Kirche von sich aus gibt, ohne auf das Wort Gottes zu hören. In ihrer Glaubensantwort ist das apostolische Wort aufgenommen. Das Heilswort bewirkt im Heiligen Geist die Glaubensantwort der Kirche. Skydsgaard zieht hieraus die Folgerung: „Das Christusbekenntnis der gläubigen Gemeinde ist nichts anderes als die Botschaft des Neuen Testamentes selbst. So nahe sind Bibel und Kirche verbunden." 1 6 6 Die Kirche ist die „Werkstatt" 1 6 7 des Heiligen Geistes, der in ihr die Intention des Wortes in Erfüllung bringt. Auch wenn das Wort Gottes mit der Kirche nicht identifiziert werden kann 1 6 8 , widerspiegelt sich in der Antwort der Kirche die an sie gerichtete Heilsbotschaft der Schrift. Deshalb wird das Wort Gottes nicht recht gehört und recht verstanden, ohne daß man die Antwort der Kirche auf das apostolische Zeugnis mitanhört. Wer Jesus Christus sucht, sagt Luther, muß die Kirche befragen: „Darumb wer Christum finden soll, der muß die Kirchen am ersten finden. Wie wollt man wissen, wo Christus were und seyn glawbe, wenn man nit wiste, wo seyn glawbiger sind? Und wer etwas von Christo wissen wil, der muß nit yhm selbs trawen noch eyn eygen brück ynn den hymel bawen durch seyn eygen vornunfft, sondernn zu der Kirchen gehen, dieselb besuchen und fragen." 1 6 9 In und durch die Glaubensgemeinschaft der Kirche begegnet man dem lebendigen Christus der Schrift. Die Kirche darf keinen anderen Christus als den des apostolischen Zeugnisses verkünden. So gehören die Schrift und die Kirche untrennbar zusammen 17°. Die Untrennbarkeit von Schrift und Kirche Iäßt sich auch innerhalb der Schrift feststellen. Ihre Zusammengehörigkeit beschränkt sich nach Kinder nicht nur darauf, daß sowohl die Schriften des Alten als auch des Neuen Testamentes in den Glaubensgemeinden entstanden sind, sondern sie findet ihren Ausdruck auch darin, daß selbst im kanonischen Text der Bibel die unter dem prophetischen und apostolischen Wort entstandene Glaubensantwort der Kirche aufgenommen ist 171 . L. Goppelt stellt bei Paulus fest, daß er nicht nur das Urkerygma und die Evangeliumsüberlieferung als Tradition kennt, sondern außerdem auch Traditionen, „die aus der Deutung und Anwendung dieser Oberlieferung in der jeweiligen kirchlichen Situation entstanden. Er kennt, in der heutigen Terminologie geredet, neben der apostolischen auch eine kirchliche Tradition" 1 7 2 . Auch Gloege sieht im Kanon nicht nur Offen166 167 168 169 170 171 172

200

Tradition und Wort Gottes, S. 147. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 52. W. Andersen, a.a.O., S. 44. WA 10, 1, 1, 140. Vgl. K.E. Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S. 147. K.E. Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S. 147. Urverkiindigung der Offenbarung ., S. 24. Die apostolische . . ., S. 105.

barung Gottes, sondern auch eine aus ihrer Übernahme entstandene kirchliche Tradition 1 7 3 . Die Schrift enthält nicht nur zusprechendes Heilswort, sondern auch darauf bezogenes antwortendes Glaubenswort der Kirche. „Dieses beides, der vollmächtige Zuruf im Namen des Herrn an die Gemeinde und die ihn aufnehmenden Antwortreaktionen der Gemeinde, liegen in den biblischen Schriften derart ineinander, daß es in vielen Fällen kaum möglich ist, es voneinander abzuheben. Im Neuen Testament liegt weder feines' apostolisches Urkerygma vor, noch nur ,Gemeindetradition', sondern beides liegt ineinander, und man muß so sorgfältig und redlich wie möglich zwischen beiden unterscheiden α 174

Die von dem heilsbringenden Offenbarungswort erzeugte Glaubensantwort der Kirche, soweit sie im Neuen Testament aufgenommen wurde, besitzt kanonische Dignität, wenn auch nicht in gleicher Weise wie das apostolische kirchengründende Wort 175 . Auch der unter dem Zuspruch des Heilswortes entstandene Glaubensausdruck der Kirche gehört in die Heilige Schrift hinein und besitzt kanonische Autorität, weil alles, was die Schrift als apostolische Traditionen enthält, auf Jesus Christus als der Mitte der Schrift bezogen ist und sein Heilsgeschehen zur Aussage bringt. Auch die Tradition der Kirche, die nicht in die Schrift hineingenommen wurde, und die nach der Kanonisierung des Neuen Testamentes unter dem Beistand des Heiligen Geistes und auf die Verkündigung des apostolischen Zeugnisses hin entstand, erweist sich theologisch als bedeutend, weil sie als Auslegung der Schrift in einem bestimmten Verhältnis zu dieser steht. In der evangelischen Theologie wird diese Tradition nicht ids eine selbständige Größe angesehen, die sich selbst das Kriterium ihrer Existenz setzt. Im Grunde kommt die Autorität der Tradition von ihrem Inhalt her und nicht davon, daß sie eine tradierende Instanz ist. Es kommt nicht einfach auf den actus tradendi an, sondern entscheidend dabei ist das traditum. Deswegen besteht die Verbindlichkeit auch der apostolischen Tradition nicht darin, daß sie apostolisch ist, vielmehr beruht sie auf ihrem geoffenbarten Sachgehalt 176 . Die nachapostolische kirchliche Tradition darf keine neuen Offenbarungen enthalten, die über die von Christus und den Aposteln vollzogene Offenbarung hinausgehen. Weil nur die apostolische Tradition, die in der Schrift niedergelegt und als verbindliche Norm proklamiert wurde, einmalig und endgültig das Heilsgeschehen bezeugt, ist der Glaube

173 174 1 75 176

Offenbarung und Überlieferung, S. 43. E. Kinder, Urverkündigung der Offenbarung Ebenda. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 44.

., S. 25.

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der späteren Kirche von diesen apostolischen Zeugnissen abhängig und an sie gebunden. Die Offenbarung ist nicht nur abgeschlossen, sondern auch schriftlich festgelegt. Der Glaubensgehalt der Schrift kann durch Elemente aus der kirchlichen Tradition nicht vermehrt werden. Wenn von einer Entwicklung gesprochen werden kann, so nicht von der der Offenbarungswirklichkeit, wie sie in der Schrift ihren Niederschlag fand, sondern von einer Entwicklung im Sinne einer Erweiterung und Vertiefung unseres Verständnisses von der Offenbarung 1 7 7 . Die kirchliche Tradition hat hauptsächlich eine interpretierende Funktion gegenüber der Schrift. Darin besteht nach Ebeling die Notwendigkeit und die Funktion der Tradition: „Die in der Schrift bezeugte Offenbarung kann nicht recht verstanden werden ohne die in der Kirche repräsentierte Tradition. J a , die Kirche als die Tradition ist gültige Interpretation der in der Schrift bezeugten Offenbarung." 1 7 8 Die kirchliche Tradition steht in einer funktionalen Beziehung 1 7 9 zu der Schrift und ist nicht ihr gleichwertiger Partner. Die Notwendigkeit der Tradition als Schriftauslegung ist für Ebeling mit der Geschichtsgebundenheit der Offenbarung und der Kirche gegeben. Überhaupt faßt er die Kirchengeschichte als die Geschichte der Schriftauslegung auf 1 8 0 . Das geschichtliche Phänomen ist dadurch gekennzeichnet, daß es ein wandelbares und ein unveränderliches Moment vereint 181 . Dieser Struktur der Geschichte muß auch die Kirche Rechnung tragen, auch wenn ihr Grund, der die Offenbarung Gottes ist, unveränderlich und mit sich identisch bleibt. Weil die Kirche in ihrer Geschichte einer Wandlung unterworfen ist, ist es notwendig, daß die Offenbarung, die wohl die Konstante in der Existenz der Kirche darstellt und in sich keiner Veränderung bedarf, von der Kirche in jeder veränderten Lage der Geschichte neu bezeugt und interpretiert wird. Die Kategorie der Auslegung setzt dort ein, wo die Kirche in der Variabilität der Geschichte in neu entstandenen geschichtlichen Bedingungen auf die aktuellen Fragen der Menschheit antwortet, indem sie das geoffenbarte Wort der Schrift verkündet und der Welt Zeugnis von Jesus Christus gibt. Die Kirche hat das Wort Gottes in der geschichtlichen Wandlung jeweils neu auszulegen. Das ursprüngliche apostolische Zeugnis soll neu bezeugt werden. Hier wird die Dienstfunktion der Tradition als Schriftauslegung offenkundig. Die Unveränderlichkeit der Offenbarungswahrheit bedeutet nicht, daß sie hinter der Wandelbarkeit der Geschichte verstummt. Die

177 178 179 180 181

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Ebenda, S. 48. „Sola scriptura" S. 119; ders., Die Geschichtlichkeit . E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 53. Die Geschichtlichkeit . . ., S. 81. Ebenda.

., S. 82 f.

Offenbarung kann trotzdem nicht von der Wandelbarkeit der Geschichte getrennt werden, weil sie mit sich identisch und unveränderlich ist. „Das Verhältnis aber zwischen der Identität und Variabilität, nämlich wie die Variabilität gebunden ist an die Identität und die Identität notwendig eingehen muß in die Variabilität, das erfaßt die Kategorie der Auslegung in seinem strukturellen Zusammenhang." 1 8 2 Wird die Schrift von der Tradition ausgelegt, so ist dies nicht so zu verstehen, als gäbe es neben der Schrift eine andere Quelle ihrer Auslegung oder als stellte die Tradition ein selbständiges hermeneutisches Prinzip dar, vielmehr wird das reformatorische Schriftprinzip voll anerkannt, wenn es auch als hermeneutisches Prinzip gilt. Das „sola scriptur a " wird nach Ebeling erst dann hinreichend verstanden, wenn die Schrift auch als Quelle ihrer Auslegung proklamiert wird 1 8 3 . Wenn Luther die Schrift als „per sese certissima, facilima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans" 1 8 4 bezeichnet, stellt er sie als Quelle eigenen Verständnisses und damit als hermeneutisches Prinzip eigener Auslegung dar. Würde die Schrift nicht die eigene Verstehensquelle sein, könnte auch das „sola scriptura" nicht ohne Einschränkung aufrechterhalten werden. So hat es nicht zuletzt eine hermeneutische Relevanz 18S. Luther erkannte, daß die Schriftauslegung der Prüfstein für die Autorität der Schrift ist 186 . Die Schrift ist durch sich selbst zu verstehen 1 8 7 . Sie ist nicht durch das Heranziehen einer anderen Autorität zu verstehen als vielmehr durch den Geist, in dem sie geschrieben wurde. Als hermeneutisches Prinzip schließt das „sola scriptura" jedoch nicht die Auslegung der Schrift in der Tradition aus. Den reformatorischen Grundsatz, daß die Schrift sich selbst auslegt, versteht Ebeling als „Grundanweisung" und „Auslegungsregel", wonach „die Auslegung nichts anderes soll als den Text selbst zu Worte kommen zu lassen, ihn in dem, was er von sich aus zu sagen, zu erklären und deutlich zu machen hat, zur Geltung zu bringen, ihn also gleichsam in die Situation einer Selbstverständlichkeit' zu bringen" 188. Die Selbstauslegung der Schrift will wohl nicht heißen, daß sie diese selbst vornimmt 1 8 9 und keines anderen Hilfsmittels mehr bedarf, um sich verständlich zu machen. In der Tat ist die Tradition der Kirche die, 182 183 184 185 186 187

Ebenda, S. 82. „Sola scriptura" , S . 119 ff. WA 7, 97. Vgl. G. Ebeling, „Sola scriptura" S. 124. G. Ebeling, „Sola scriptura" ., S. 121. Ebenda, S. 122 f. WA 7, 97: „scripturas non nisi eo spiritu intelligendas esse, quo scriptae sunt, qui spiritus nusquam praesentius et vivacius quam in ipsis sacris suis, quas scripsit, Uteris invenieri potest." 188 „Sola scriptura" ., S. 125. 189 K..E. Skydsgaard, Schrift und Wort Gottes, S. 152.

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die sie auslegt, aber sie tut es nicht aus eigener Erkenntnis, sondern ihre Auslegung ist im Sinne der Schrift, mit Schriftbeweisen, und das, was sie aussagt, entnimmt sie der Schrift und führt wiederum in die Schrift hinein. Selbstsuffizienz und Selbstauslegung der Schrift können nur heißen, daß ihr nichts Wesentliches hinzugefügt werden kann aus dem, was geoffenbart wurde, und daß sie bei ihrer Auslegung keiner anderen Offenbarungsquelle mit zusätzlichen Offenbarungswahrheiten bedarf, die sie erläutern würden. Selbstauslegung der Schrift heißt, das diese aus sich selbst verstanden werden soll, auch wenn das durch die Tradition geschieht. Durch die Auslegung kann nicht mehr ans Licht gebracht werden als das, was im Neuen Testament geschrieben steht. Ihr Glaubensgehalt wird jedoch erst in der Tradition lebendige und wirksame Wirklichkeit. Deshalb kann der hermeneutische Grundsatz der Reformation, daß die Schrift sich selber interpretiert, nicht gegen die Tradition gerichtet sein, als diejenige, die die Schrift aktualisiert, wohl aber gegen sie als ergänzende und aus sich schöpfende Offenbarungsquelle. Um sich selbst zu interpretieren oder durch sich ausgelegt zu werden, ist die Schrift auf die Tradition angewiesen. Die Schrift wird nur durch die Tradition der Kirche überliefert 190 . Um an die Menschen heranzukommen und von ihnen aufgenommen und verstanden zu werden, muß das Wort der Schrift verkündet und ausgelegt werden, was durch die Tradition geschieht. Auf das Bezogensein der Schrift auf die Tradition weist Skydsgaard hin, wenn er sagt: „Eine reine ,objektive' Bibel gibt es nicht, sondern die Bibel existiert immer als das ausgelegte, gehörte und verkündigte Wort. Die Bibel ist uns gegenwärtig in unserem immer erneuten Hören und Auslegen." 191 Angesichts der funktionalen Beziehung der Tradition zur Schrift und aufgrund ihres Aufeinanderangewiesenseins nimmt die Tradition in der Durchführung des Heilsplanes Gottes eine bestimmte Stellung ein, die verlangt, theologisch ernstgenommen zu werden. Gerade wegen der reformatorischen Lehre von der Schrift als sui ipsius interpres, und wenn dieser hermeneutische Grundsatz nicht nur als ein formales Prinzip gelten soll, wird man das Phänomen der Tradition vielmehr berücksichtigen müssen; denn die Schrift kommt zu ihrer Selbstauslegung nicht von allein, vielmehr wird diese erst in der Tradition vollzogen. In der Tat wird die Schrift mittels der Tradition ausgelegt. Die Partikel „selbst" weist nicht auf die unmittelbare praktische Durchführung der Auslegung durch die Schrift selbst hin, sondern darauf, daß es der Geist der Schrift selbst ist, der sie in der Tradition auslegt, und zwar in demselben Geist, in dem sie geschrieben wurde. Die Schrift wird durch sich selbst 190 G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung, S. 43. 191 Schrift und Tradition, in: Wir sind gefragt. Antworten Evangelischer Konzilsbeobachter, Göttingen 1966, S. 54.

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in der Tradition ausgelegt, weil diese nichts anderes zum Ziele hat als die Schrift zur Sprache zu bringen, und weil sich die Tradition nicht anderer Wahrheiten bedient, um die Schrift zu interpretieren, sondern sie innerhalb ihres Inhaltes auslegt. Die Suffizienz der Schrift wäre dann auch so zu verstehen, daß die ganze Offenbarung Gottes in ihr festgehalten wurde und es nichts gibt, was für das Heil notwendig ist, das sie nicht enthielte. Ihre Selbstgenügsamkeit bezieht sich auf ihren Inhalt und besagt nicht, daß die Schrift in ihrer Selbstsuffizienz der Tradition nicht mehr bedarf. Das Gegenteil ist der Fall, denn ihre Suffizienz erprobt sich und kommt zum Ausdruck, indem sie in der Tradition der Kirche lebendige Wirklichkeit wird. Das hermeneutische Prinzip der Selbstauslegung der Schrift fordert gerade die Existenz der Tradition, indem es auf sie angewiesen ist als auf das Medium, durch das es verwirklicht werden kann. Unter Tradition sollte deshalb mehr als nur Schriftauslegung verstanden werden, denn durch sie wird das einmalige Heilsgeschehen Gegenwartsgeschehen. Innerhalb des breiten Stromes der mannigfaltigen kirchlichen Traditionen zeichnet sich das Bekenntnis der Kirche durch eine besondere Bedeutung als Auslegung der Schrift aus 192 Die wichtige Stellung, die sie in der Kirche einnehmen, beruht darauf, daß sie als Summa der Schrift „verpflichtendes Vorbild aller kirchlichen Lehre" sind 193 . E. Schlink leitet die Autorität des Bekenntnisses als Darstellung des Glaubens davon ab, daß es in erster Linie Auslegung der Schrift ist und als solche Geltung als Darlegung des in der Schrift bezeugten Glaubens besitzt 1 9 4 . Zum Wesen des Bekenntnisses gehört, daß es sich zu etwas bekennt. Der Grund des Bekenntnisses ist deshalb nicht in sich selbst zu suchen, sondern darin, worauf es sich bezieht. Für die evangelische Theologie ist der Bezugspunkt des Bekenntnisses die Offenbarung Gottes, wie sie in der Schrift niedergelegt wurde. Die Kirche gründet sich auf die Offenbarung und existiert aus ihr, indem sie das Wort der Schrift ständig hört und sich in einem permanenten Wechselgespräch mit ihm befindet. Sie registriert es nicht einfach oder nimmt es passiv auf, denn Gottes Wort ist Machtwort, das wirkt und zur Entscheidung und persönlichen Verantwortung auffordert. Im Bekenntnis antwortet die Kirche auf das Wort Gottes der Schrift. Das Bekenntnis ist die Glaubensantwort der Kirche auf das an sie gerichtete Wort Gottes, und deshalb kann es nicht Ursprung des Glaubens sein, vielmehr dessen Ausdruck, der ja nicht aus sich, sondern nur aus dem prophetisch-apostolischen Zeugnis der Schrift entstehen kann. Das

192 Hierzu E. Schlink, Theologie S. 35 ff. 193 Ebenda, S. 50. 194 E. Schlink, Theologie . . ., S. 39.

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Bekenntnis ist nicht die Ursache des Glaubens, sondern eher die Reaktion der Glaubensgemeinschaft der Kirche auf den Heilszuspruch des apostolischen Wortes. Wird das Bekenntnis wie von E. Schlink als „bekennende Antwort des Menschen auf Gottes Wort" 1 9 5 aufgefaßt, so kann es nicht antwortende Glaubensäußerung der Kirche und zugleich Quelle ihres Glaubens sein. Gegenüber dem Wort der Schrift stellt Kinder das Bekenntnis auch in der Position der zustimmenden Antwort dar: „Das Bekenntnis ist also grundsätzlich nie das erste Wort, sondern immer das zweite, grundsätzlich re-aktiv und in die Dimension der Antwort gehörend. Das Bekenntnis setzt nicht selbst Wahrheit, sondern bestätigt und anerkennt die ihm von Gott vorgegebene." 1 9 6 Die Kirche bezieht sich nach Gloege auf die Offenbarung und auf das Bekenntnis als auf ihre Gründung und Erhaltung 197. Der Gegenstand des Bekenntnisses ist nicht von der Kirche erfunden; sie schöpft das nicht aus sich selbst, wozu sie sich bekennt, vielmehr gibt sie im Bekenntnis ihre Zustimmung 1 9 8 zu dem Glaubensgehalt der Schrift. Der Glaube der Kirche wird von dem geoffenbarten Wort Gottes hervorgerufen, aber er kann seinerseits den Umfang nicht mit neuen, aus sich selbst hervorgebrachten Inhalten erweitern, eben weil er selbst geschaffen ist. Der Glaube hat sich nach P. Brunner zu dem Bestand der Offenbarung zu bekennen und ihn nicht zu ergänzen 1 9 9 An der Abhängigkeit des Bekenntnisses von der Schrift ändert die Tatsache nichts, daß sowohl die Schrift wie auch das Bekenntnis von dem Evangelium hervorgerufen werden, „beide von Hause aus aus einer Wurzel stammen" und im Evangelium einen gemeinsamen Inhalt haben 2 0 0 . Der Wertunterschied zwischen beiden trotz der Identität ihres Inhaltes liegt in dem Autoritätsunterschied der apostolischen und der nachapostolischen kirchlichen Tradition begründet, denen sie jeweils angehören. So liegt uns in der Schrift das Evangelium aus den apostolischen Zeugnissen vor, während im Bekenntnis dasselbe Evangelium vorhanden ist, „in der exemplarischen Antwort-Reaktion der Kirche" 2 0 1 , jedoch aufgrund seiner apostolischen Bezeugung in der Schrift. Der Unterschied ist nicht inhaltlicher Natur, wenn das Bekenntnis mit der Schrift übereinstimmt. Wenn die Bedeutung des Bekenntnisses nicht in der Bezeugung zusätzlicher Offenbarungsinhalte besteht, die aus der Schrift nicht bekannt 195 196 197 198 199

Ebenda, S. 37. Schrift und Tradition, S. 57. Offenbarung und Überlieferung, S. 41. Gloege, Bekenntnis, in: RGG, S. 995. Bekenntnisstand und Bekenntnisbildung, in: Pro Ecclesia, Bd. 2, Berlin und Hamburg 1966, S. 295. 2 0 0 E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 58. 201 Ebenda.

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sind, so erweist sich j e d o c h das Bekenntnis als unentbehrlich für die Herausstellung des Gesamtinhaltes der Schrift, der j a nicht immer deutlich hervortritt. Die vielfältigen Aussagen der Schrift lassen sich nicht leicht und eindeutig in ihrer Einzel- und Gesamtbedeutung erschließen. Nur die Kirche aufgrund ihrer Erfahrung mit der Schrift ist imstande, deren Inhalt in ihren Glaubensentscheidungen darzustellen 2 0 2 . Im Bekenntnis bezieht sich die Kirche auf die ganze Schrift. Zum Verständnis des Bekenntnisses gehört, daß es nicht nur auf einen Teil der Schrift beschränkt bleibt, sondern in ihm nimmt die Kirche zu dem ganzen Inhalt der Schrift Stellung, den sie interpretiert und zusammenfassend formuliert. Dazu E. Schlink: „Bekenntnis ist keine religiös-individuelle Äußerung. Bekenntnis ist nicht Aufrichtung einer Lieblingsstelle der Schrift. Bekenntnis ist auch nicht die Betonung von Schriftstellen, die nur in einer bestimmten konkreten Lage bedeutsam sind. Bekenntnis ist nicht Ausdruck religiöser Einzelerfahrung und -führung. Die Wahrheit eines Bekenntnisses beruht gerade in der Fülle der Schriftaussagen, die sie bezeugen, und zwar ist Bekenntnis die zusammenfassende Auslegung der gesamten S c h r i f t . " 2 0 3 Darin besteht im Grunde die Autorität des Bekenntnisses, daß es das rechte Verständnis der gesamten Schrift ist. Darum würdigt auch Luther in der Vorrede zum großen Katechismus die altkirchlichen Bekenntnisse: ,,. denn die lieben Väter und Apostel haben also in eine Summa gestellet, was der Christen Lehre, Leben, Weisheit und Kunst sei, wovon sie reden und handeln und womit sie u m g e h e n " 2 0 4 . In diesem T e x t Luthers ist auch der normative Charakter des Bekenntnisses für die Lehre und das Handeln der Kirche unmißverständlich ausgedrückt. Im Bekenntnis wird der Inhalt der Schrift nicht einfach unverbindlich zusammenfassend dargestellt, sondern die Kirche soll sich nach ihm richten und sich an es halten. P. Brunner spricht in diesem Zusammenhang von der kritischen Funktion des Dogmas, mit dem die Kirche dafür gesorgt hat, daß die Verkündigung der Apostel bei dem Übergang aus ihrer schriftlichen in aktuelle mündliche Gestalt nicht entstellt w i r d . 2 0 5 Die Notwendigkeit des Bekenntnisses zeigt sich schon in der mündlichen apostolischen Tradition, wo Vorformen und Ansätze der späteren Bekenntnisse in kurzen, bekenntnisartigen Formeln festzustellen sind 2 0 6 . Das Bekenntnis ist nicht nur eine Erscheinung der Zeit nach der Kanonbildung der Schrift, denn wie P. Brunner dazu feststellt, ,,. . . (war) das Bekenntnis und damit das Dogma eher da als der K a n o n " 2 0 7 . 202 203 204 205 206 207

Ebenda, S. 59. Theologie ., S. 4 1 . GK Vorr. 2 1 - 2 6 (S. 5 5 7 ) . Schrift und Tradition, S. 38. Ebenda, S. 31 und 3 8 ; E. Kamiah, Bekenntnis im NT, in: RGG, S. 991 f. P. Brunner, Schrift und Tradition, S. 38.

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Auch E. Kinder macht für die Autorität des Bekenntnisses sowohl seine Vorfindlichkeit im Neuen Testament als auch das Weiterbestehen und die Verbindlichkeit der „regula fidei" nach der formalen Abgrenzung der apostolischen Schriften geltend 2 0 8 . Parallel zu dem Bemühen der Kirche, die apostolischen Schriften zu identifizieren, und auch, nachdem sie in ihnen die apostolische Botschaft erkannte, verzichtete sie nicht darauf, im Bekenntnis aus der Verschiedenheit dieser Schriften „Summa und Mitte" des Heilsgeschehens bekennend zusammenfassen. So wird die Schrift in ihrer Entstehung und nach ihrer Kanonisierung von dem Bekenntnis begleitet. Die innere Beziehung zwischen Schrift und Bekenntnis ist auch darin begründet, daß das Bekenntnis als Glaubensbezeugung der Kirche unter der Wirkung des Heiligen Geistes entstanden ist, ja, „als Geschenk des Heiligen Geistes" zu verstehen ist 2 0 9 . Der Akt des Glaubens und des Bekenntnisses ist von dem Heiligen Geist gewirkt, der dazu führt, daß der Glaube nicht ein inneres stummes Geschehen bleibt, sondern auch zur Aussage gebracht wird. Das Bekenntnis kommt nach P. Brunner zustande, weil der Glaube als „die vom Geist gewirkte Annahme" des Heilsgeschehens nicht stumm bleiben kann, sondern sich zu ihm bekennt, und so erklärt sich auch, warum das Bekenntnis keinen anderen Inhalt als den der Offenbarung haben kann und darf 2 1 0 . Für das Verständnis und den Stellenwert des Bekenntnisses in der Kirche und in seinem Verhältnis zur Schrift ist es wichtig, seinen pneumatischen Aspekt hervorzuheben, denn dieses ist nicht, wie Gloege betont, „durch Überlieferung zustande gekommener Entschluß, sondern vom Heiligen Geist gewirktes Einverständnis, das Gottes Zuspruch in der Welt wirksam erweist" 2 1 1 . Weil die Bezeugung des Evangeliums im Bekenntnis der Kirche ein „geistgewirkte(r) A k t " 2 1 2 ist, könnte dies zu der Annahme verleiten, daß dem Bekenntnis dieselbe Autorität wie der Schrift zukommt. Die Gleichstellung des Bekenntnisses mit der Schrift mit dem Hinweis darauf, daß im Bekenntnis der Heilige Geist am Werke ist, ist nach E. Schlink deshalb nicht möglich, weil die Kirche den Heiligen Geist nur durch das prophetische und apostolische Wort empfängt 2 1 3 . Wenn die Kirche im Heiligen Geist ihren Glauben an die Heilstaten Gottes bekennt, dann geschieht das, weil ihr der Heilige Geist mit dem geoffenbarten Wort der Verheißung gesandt wurde. Er wird die Kirche in alle Wahrheit leiten (Joh. 16,13), die keine andere Wahrheit ist als die von Christus offenbarte (Joh. 16,14—15). 208 209 210 211 212 213

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Schrift und Tradition, S. 61. E. Schlink, Theologie ., S. 4 1 . Bekenntnisstand ., S. 297. Bekenntnis, S. 9 9 5 . P. Brunner, Bekenntnisstand . ., S. 297. Theologie . . S. 42.

Darauf beruht auch die Autorität des Bekenntnisses, daß es die Bezeugung des Evangeliums zum Inhalt und zum Ziel hat. Das Evangelium, das den gemeinsamen Inhalt der Schrift und des Bekenntnisses ausmacht, verbindet sie miteinander. Beide empfangen ihre Autorität, wenn auch nicht in gleicher Weise, von demselben Evangelium, aus dem sie schöpfen und hervorgegangen sind. 2 1 4 Mit der Abhängigkeit der Wahrheit des Bekenntnisses von der Wahrheit der Schrift ist auch seiner Autorität Grenzen gesetzt. Es hat nur eine abgeleitete und der Schrift grundsätzlich untergeordnete Autorität. Das Bekenntnis kann nicht neben die Schrift gestellt werden, weil es nur das bezeugt, was in der Schrift enthalten ist. In ihrer Botschaft, die sie verkündet, und in ihrem Glauben, den sie bekennt, hat die Kirche von der in der Schrift maßgeblich bezeugten Offenbarung auszugehen. „Das Dogma ist keine Instanz neben, sondern unter dem apostolischen Wort. Es kann darum auch nichts enthalten, was nicht aus der schriftlichen Gestalt des apostolischen Wortes fließt." 2 1 5 Das Bekenntnis soll ja nur als lebendiger Ausdruck des Gesamtinhaltes der Schrift verstanden werden und nicht in Konkurrenz zur Schrift treten, denn es will nicht mehr als „eben Verwirklichung der Autorität der Schrift" sein 216 . Die Schrift setzt dem Bekenntnis nicht nur seine Grenze, sondern verleiht ihm eine besondere Bedeutung in der Kirche 217 . Sein Normcharakter beruht eben darauf, daß es im Einklang mit dem Inhalt der Schrift steht. Das Bekenntnis hat Normcharakter unter der Autorität der Schrift und als Schriftauslegung. Nachdem es von der Schrift ausgeht und sie auslegt, löst es sich von ihr nicht als selbstständig und eigenwertig ab, sondern führt wiederum zur Schrift: „Bekenntnis tritt damit als Lehre der Schrift aus der Schrift heraus und wird nun eine heuristischhermeneutische Hilfe für das Herantreten an die Heilige Schrift." 2 1 8 Nur unter dieser Bedingung, daß das Bekenntnis „unter der Schrift" steht, und das, was es bezeugt, der Schrift entnimmt und der Sache der Schrift dient, gilt es als Norm für die Lehre und Verkündigung der Kirche, weil es nicht eine vereinzelte und subjektive Auslegung der Schrift, sondern „Stimme der ganzen Kirche" 2 1 9 ist und ihm deshalb Autorität als „Richtweisung in die Mitte der Schrift" 220 zukommt. Das Bekenntnis hat wahrhaft Autorität, indem das, was es aussagt, auch als verpflichtend anerkannt wird und sich die Kirche in dem, was sie lehrt und verkündet, nach ihm richtet. Die Wahrheit des Bekenntnisses 214 215 216 217 218 219 220

Fr. Brunstäd, a.a.O., S. 27. P. Brunner, Schrift und Traditon, S. 39. W. Schweitzer, Schrift und Dogma in der Ökumene, Gütersloh 1953, S. 279. Gloege, Bekenntnis, S. 9 9 7 . E. Schlink, Theologie . S. 41. Ebenda, S. 43. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 64.

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kann nicht eine gleichgültige oder nur empfehlenswerte sein, die man beliebig befolgen kann oder auch nicht, denn die Kirche bekennt in ihren Glaubensentscheidungen kraft des Heiligen Geistes, und der Inhalt des Bekenntnisses ist kein anderer als der der Heiligen Schrift. Das Bekenntnis hat einen bindenden Charakter wegen der Wahrheit der Schrift, die es anerkennt und an der es dadurch teilnimmt. Die Bindung an das Bekenntnis ist nach E. Schlink nur eine Konsequenz der Bindung an die Schrift. 2 2 1 Auch nach E. Kinder sind die Bekenntnisse oder die Dogmen, die die Kirche in Bezug auf die zentralen heilsnotwendigen Momente des Christusgeschehens formuliert hat, „für alle gültig und bindend gegeben" 2 2 2 . Die „Bekenntnisgebundenheit der Kirche" 2 2 3 wird nach P. Brunner schon von ihren Ursprüngen her am Taufsymbol sichtbar. Wie sehr es ein wesentlicher Bestandteil ihrer geschichtlichen Existenz ist, wird daran ersichtlich, daß parallel zur Kanonisierung der Schrift auch das Bekenntnis schriftliche Gestalt annimmt, was j a „die bleibende Unveränderlichkeit und die öffentlich bindende Gewalt des Bekenntnisses" 2 2 4 bedeuten soll. Sicherlich will das Bekenntnis nicht in Konkurrenz zur Schrift treten oder dieselbe Autorität wie die Schrift für sich beanspruchen, denn es bleibt in der Dimension der bekennenden Antwort, und deshalb stellt es nicht den Existenzgrund der Kirche und des Glaubens dar, „das ist allein das Evangelium selbst. Aber dies will nicht ohne diese Antwort konstitutiver Faktor sein" 2 2 S . Weil das Bekenntnis ökumenischen Charakter hat 2 2 6 und sich auf die Christen und Kirchen vereinigend auswirken soll, kann es zu dieser Auswirkung nur dann gelangen, wenn es auch als normativ und bindend anerkannt wird. Denn das Bekenntnis setzt Konsensus voraus und schafft Konsensus; es verbindet edle, die im gemeinsamen Bekenntnis Christus und seine Heilsoffenbarung anerkennen. Über die vereinigende Kraft des Bekenntnisses schreibt Brunstäd: „Indem das Bekenntnis sich in der Schriftwahrheit begründet und sich vollzieht, verbindet es alle, die an Christus glauben; es vereinigt in der Wahrheit des Evangeliums. Das Bekenntnis ist concordia, consensus. Und zwar nicht nur der heute Lebenden, sondern auch aller, die j e an Christus geglaubt haben und glauben werden." 2 2 7 Das Bekenntnis verbindet, wenn es als verbindlich angenommen wird. Die Glaubensbekenntnisse und das Dogma der alten Kirche haben einen umfassenden ökumenischen Charakter, nicht nur weil sie aus dem brei-

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Theologie S. 59. Schrift und Tradition, S. 56. Bekenntnisstand ., S. 2 9 8 . Ebenda. E. Kinder, Schrift und Tradition, S. 57. G. Gloege, Bekenntnis, S. 998. A.a.O., S. 237.

ten Konsensus der alten Kirche hervorgegangen sind, sondern auch weil sie über die Grenzen der getrennten Kirchen Autorität besitzen. 228 Die Bekenntnisgebundenheit der evangelischen Kirche und damit die Anerkennung des Bekenntnisses als Norm für die Lehre und die Verkündigung der Kirche beziehen sich nicht nur auf das Bekenntnis und das Dogma der alten Kirche, sondern auch auf die Bekenntnisschriften der Reformation, die nach E. Schlink als Regel gelten sollen, „an der das Denken und Reden der Glaubenden zu prüfen und auszurichten ist. Insbesondere lautet ihr Anspruch, verpflichtendes Vorbild aller kirchlichen Verkündigung und Lehre zu sein" 229. Die grundsätzliche theologische Unterscheidung, die in der evangelischen Theologie zwischen Schrift und Bekenntnis gemacht wird, vollzieht sich jedoch unter der Anerkennung ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer auf dem Evangelium gründenden Einheit 230 . Die Lehre von der Schrift als dem einzigen Grund des Glaubens führt nicht zu ihrer Verabsolutierung und Absonderung von dem Bekenntnis und der Tradition, vielmehr wurden diese wie die Schrift von demselben Evangelium hervorgebracht und nach E. Kinder eng miteinander verbunden: „Weder die Schrift noch das Bekenntnis sind zum theologischen Eigenwort zu verabsolutieren, sondern beide sind von Gott durch die Kirche gegebene Instrumente zur rechten Erfassung des Evangeliums, die wir im ,Zusammenspiel' anwenden sollen, auf daßsich dadurch das Evangelium selbst erweise." 231 d) Zusammenfassung Daß das Phänomen der Tradition als ein Konstitutivelement zum Wesen der Kirche gehört, ohne das sie nicht existieren und ihre Aufgabe nicht erfüllen kann, ist in der evangelischen Theologie zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Der gegenwärtigen Neubesinnung auf das Problem der Tradition, die zu deren Aufwertung führte, legte sie ein neues Verständnis zwischen Schrift und Tradition zugrunde, das sie aus der Überprüfung und Geltendmachung des reformatorischen Ansatzes gewann. Eine dogmatische Entgegensetzung von Schrift und Tradition und eine totale und prinzipielle Infragestellung der Tradition kann nicht auf die Reformation zurückgeführt werden. Mit dem Anspruch auf das „sola scriptura" spricht die Reformation der Tradition jede Selbständigkeit ab, schließt sie aber nicht aus, sondern macht ihre Geltung allein von ihrer Übereinstimmung mit der Schrift abhängig.

228 229 230 231

E. Schlink, Theologie ., S. 46. Ebenda, S. 7, 50 und 62. Ebenda, S. 53. Schrift und Tradition, S. 63.

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Eine eingehende Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Tradition, die dieses in seiner ganzen Tragweite erfaßt, wurde in der Reformationszeit nicht vorgenommen, wohl aber wurde ihrer Beziehung ein Kriterium im „sola scriptura" zugrundegelegt, das in der Anerkennung und Aneignung des altkirchlichen Dogmas eine exemplarische Anwendung fand. Die kritische, aber nicht ablehnende Haltung der Reformation gegenüber der Tradition entwickelte sich in der nachfolgenden Zeit wohl vor allem aus der Abwehrhaltung gegenüber der römisch-katholischen Traditionslehre in einem sogar gegensätzlichen Verhältnis zwischen Schrift und Tradition.. Die Verabsolutierung der Schrift, die zu einem unhistorischen Biblizismus führte, war nur möglich durch ihre Isolierung von der Tradition. Das verbum Dei scriptum wird nicht mehr in seinem lebensvollen Zusammenhang mit der vorausgehenden mündlichen Gestalt der apostolischen Tradition gesehen und mit der mündlichen Verkündigung des Evangeliums, in die es einmünden soll 232 . Gerade an das Verständnis des Evangeliums als viva vox, das für die reformatorische Auffassung von der Schrift grundsätzlich ist, knüpft die gegenwärtige evangelische Theologie an und auf es gründet sie die theologische Bedeutung der Tradition. Das Evangelium ergeht nicht als schriftliches, sondern als mündliches Wort. Die Schrift ist in sich nicht Zweck und Endstation der mündlichen apostolischen Tradition. Sie ist die maßgebliche Bezeugung des Heilsgeschehens, aber so wie ihr die mündliche apostolische Tradition vorausgeht, so ist diese nicht schriftlich fixiert, um Schrift zu bleiben, sondern um wiederum mündlich weiter überliefert zu werden. Die Überwindung der altprotestantischen Gegensätzlichkeit zwischen Schrift und Tradition und das neugewonnene Verständnis ihres Verhältnisses vollziehen sich von der Mitte der Schrift, vom Evangelium aus, und auf dieses gründet sich die Notwendigkeit und die Funktion der Tradition. Das Evangelium ist auf die Tradition angewiesen. Ihre Notwendigkeit ist mit der Heilsnotwendigkeit des Evangeliums gegeben. Die theologische Relevanz, die der Tradition in der evangelischen Theologie zuerkannt wurde, erfolgte nicht auf Kosten des „sola scriptura", das nun in seinem Geltungsanspruch eingeschränkt wurde, vielmehr wurde sie möglich aufgrund des neuverstandenen „sola scriptura", in dessen erweiterten Horizont nun auch die Tradition einbezogen wird. Die Tradition läßt sich von der Schrift nicht mehr wegdenken, aber die Anerkennung ihrer theologischen Relevanz bedeutet nicht eine Abschwächung des „sola scriptura". Die Aufwertung vollzieht sich auf dem Boden der reformatorischen Schriftlehre. Das neue Verständnis von der Tradition hängt wiederum eng mit der Einsicht zusammen, daß Schrift und Kirche notwendigerweise zusam2 3 2 G. Ebeling, „Sola scriptura" . .

212

S. 103.

mengehören. Um richtig verstanden zu werden, muß die Schrift in der Kirche gelesen und ausgelegt werden. Die Schrift hat also eine ekklesiologische Dimension. Sie ist nicht nur in der Kirche entstanden, sondern sie erschließt sich in ihrem tiefen Verständnis in dem pneumatischen Raum der Kirche. Wenn Schrift und Tradition so notwendig zusammengehören und aufeinander angewiesen sind, so soll doch ihre Unterscheidung grundsätzlich bewahrt werden. Schrift und Tradition können nicht gleichgesetzt werden. Der Glaube gründet nur auf der Schrift, und nur sie ist Quelle der Offenbarung, während die Tradition nur das zu bezeugen hat, was die Schrift enthält. Sie steht in einer untergeordneten und funktionalen Beziehung zur Schrift. Sie sind weder voneinander zu trennen noch miteinander gleichzusetzen, denn sie befinden sich nicht auf derselben Ebene: Die Schrift ids Gotteswort besitzt absolute Autorität, während die Tradition als bekennendes und auslegendes Zeugniswort der Kirche der Normierung der Schrift bedarf. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem biblischen Heilswort und der auf es bezogenen Antwort der Kirche schließt den notwendigen Zusammenhang zwischen Tradition und Schrift nicht aus. Um des Evangeliums willen, auf dem auch die Autorität der Schrift gründet, kann die Tradition nicht entbehrt werden, denn nur durch die Tradition wird der geoffenbarte Inhalt der Schrift wirksames Heilsgeschehen.

213

II. Das Traditionsverständnis in der orthodoxen Theologie

Die orthodoxe Kirche wurde häufig als die Kirche der Tradition bezeichnet. Wenn diese schematische Bezeichnung, die man selbst bei vielen orthodoxen Theologen findet, in gewissem Sinne nicht als ganz unzutreffend zu betrachten ist, so stellt sie jedoch eine Vereinfachung dar, denn durch diese Formulierung wird die Tatsache verdeckt, daß die Ostkirche sich zugleich der Schrift verpflichtet weiß, der sie zumindest dieselbe Bedeutung wie der Tradition beimißt, und nicht zuletzt erweist sie sich als auf das Traditionsverständnis der Ostkirche nicht genau zutreffend, vor allem dann, wenn ihre Traditionstreue in Zusammenhang mit einem passiven und einfach konservierenden Traditionalismus gebracht wird. Wenn sich die orthodoxe Kirche selbst als die Kirche der Tradition versteht, dann ist für sie in dieser auch die Schrift einbegriffen, mit der die Tradition ein untrennbares Ganzes bildet, und deshalb darf sie diese nicht als unabhängige Größe betrachten und sich ihr mehr verbunden fühlen als der Schrift. Kirche der Tradition zu sein heißt ja für sie nicht, daß sie primär und vorwiegend ihren Existenzgrund und die Norm für ihr Handeln in der Tradition sieht, die unabhängig von der Schrift und sich selbst genug wäre. Eine „sola traditio" kann es nicht geben. Sie sieht sich ids Kirche der Tradition nur dann richtig verstanden, wenn unter dieser Bezeichnung nicht eine von der Schrift getrennte Tradition verstanden wird, vielmehr bezieht sie sich in ihrer Traditionsgebundenheit zunächst auf die apostolische Tradition als der Urform und dem Ursprung der späteren Schrift und Tradition, deren Wirksamkeit nur durch beide erreicht wird. Hierbei soll gesagt werden, daß bei ihrem lobenswerten Eifer, die apostolische Tradition vollständig zu bewahren und überhaupt an der Apostolizität als einem Grundprinzip der Kirche festzuhalten, auch die Neigung besteht, alle Traditionen in der Kirche auf eine apostolische Herkunft zurückzuführen. Wenn die Ostkirche eine Kirche der Tradition ist, so ist sie dies nicht ohne die Schrift oder mit mehr Tradition und weniger Schrift, vielmehr versteht sie sich als solche, weil sie die Offenbarung und die Schrift als lebendige und gegenwärtig wirksame Tradition erlebt. Tradition und Schrift dürfen nicht zu zwei Alternativen werden, zwischen denen mein 214

sich zu entscheiden h a t , weil das Heilsgeschehen in Christus nur in der Zusammengehörigkeit von Schrift und Tradition zu seinem Ziel gelangt. In diesem Sinne wird die Schrift oder das, was sie aussagt, Tradition, weil sie nicht als Schrift, sondern als lebendige Wirklichkeit erfahren wird. Die Schrift wird auf diese Weise Inhalt der Tradition, und wenn die Orthodoxie Kirche der Tradition genannt wird, so ist darin auch die Schrift als ihre Norm einbegriffen, weil beide eine untrennbare Einheit bilden und ein- und dieselbe Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zum Inhalt haben.

1. Tradition als Mitteilung

der

Offenbarung

Die Frage nach der Offenbarung als einmaliger geschichtlicher Heilstat Gottes und danach, wie sie über ihren vergangenen Erstvollzug hinaus den Menschen vermittelt wird, ist ohne den Begriff der Überlieferung nicht zu beantworten. Die Offenbarung wird mittels der Tradition weitergegeben. Die Berechtigung der Tradition ist in der Offenbarung selbst gegeben. Der Auftrag, den die Apostel vom Herrn empfangen haben, weist eben auf die Überlieferung des Evangeliums hin, die er ihnen in einmaliger Weise als Aufgabe anvertraute (Matth. 28,19). Die Verkündigung des Wortes und die Feier der Sakramente, durch die der Mensch am Christusgeschehen teilhat, gehören als konstitutive Elemente in die Tradition hinein. Die Apostel sollen weitergeben, was Christus ihnen offenbarte. Hier wird die Notwendigkeit der Tradition offenkundig. Sie steht im Dienste der Offenbarung, auf die ihre Existenz selbst zurückgeht. Insofern ist sie keine Erfindung der Kirche und erfolgt nicht erst später als ihr Produkt. Dies festzustellen, ist für die o r t h o d o x e Theologie wichtig, wenn es u m die bleibende Bedeutung der Tradition geht, denn hieran zeigt sich, daß sie keine vorübergehende Erscheinung in der Entstehungszeit der Kirche ist, deren Funktion dann von der Schrift verdrängt würde, vielmehr ist sie eine K o m p o n e n t e der Offenbarung, die so lange bestehen wird, wie diese für die Kirche in ihrem geschichtlichen Dasein grundlegend bleibt. Das Schicksal der Tradition ist mit dem der Offenbarung eng verbunden. Die christliche Tradition ist wohl ein geschichtliches Phänomen, aber nicht aus einer bestimmten, geschichtlich bedingten Lage hervorgegangen, mit der sie auch vergehen würde, sondern eine ständige Erscheinung im geschichtlichen Dasein der Kirche, weil sie in der Offenbarung begründet ist. Ihr Ursprung reicht weiter zurück in die Sendung Jesu durch den Vater (Joh. 1 7 , 7 - 8 ) . Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus steht am Anfang der Überlieferung. Zwischen G o t t , dem Vater, und seinem in die Welt gesandten Sohn findet zuerst ein Prozeß der Überlieferung statt, der dann von 215

Christus mit der Übergabe der Offenbarung an seine Apostel fortgesetzt wird. Wenn der Inhalt der Offenbarung mit dem Tode der Apostel abgeschlossen ist, soll der Akt ihrer Weitergabe fortgesetzt werden. Die Offenbarung zielt auf die Überlieferung ab, weil sie für alle Menschen bestimmt ist. Die Universalität der Offenbarung, nach der sie sich an alle Menschen richtet, schließt die Tradition als Mittel zu ihrer Weitergabe ein. Wenn Christus sagt: „. die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben .", und ein anderes Mal die Apostel zur Verkündigung seiner Offenbarung sendet (Mk. 16,15), bestimmt er dadurch nicht nur den Inhalt dessen, was sie zu verkündigen haben, sondern zugleich auch die Art, wie sie weitervermittelt werden soll, nämlich durch die lebendige Tradition. So geht die Tradition, sowohl was ihren Inhalt betrifft, als auch als actus tradendi auf Christus zurück. Der Apostel Paulus hebt hervor, daß die Überlieferung die Offenbarung zum Inhalt hat und Mittel ihrer Weitergabe ist. Diese Überzeugung steht hinter seinen an die Gemeinden gerichteten mahnenden Worten, an der Überlieferung festzuhalten (2 Thess. 2,15; 1 Kor. 15,1; Phil. 4,9). Nicht nur dort, wo es um die Tradition geht, von der Paulus sagen kann, daß er sie unmittelbar von Christus empfangen hat (Gal. 1,11 — 12), sondern auch dort, wo ihm die Tradition durch menschliche Vermittler zugekommen ist, kann er behaupten, sie „vom Herrn" empfangen zu haben (1. Kor. 11,26), gerade weil er ihren Ursprung in Christus und seiner Offenbarung weiß. Die Notwendigkeit der Offenbarung für das Heil der Menschen macht zugleich die Unentbehrlichkeit der Überlieferung offenkundig, ohne die sie ihr Ziel nicht erreichen könnte, nämlich als geschichtliches Ereignis gegenwartsbezogen zu sein, und so allen Menschen die Teilnahme am Christusgeschehen zu ermöglichen. Offenbarung ohne Überlieferung wäre deshalb unvorstellbar, so wie der Begriff der Überlieferung wesensnotwendig mit dem der Offenbarung verbunden sein muß. Die Notwendigkeit und die dauerhafte Gültigkeit der Tradition ergeben sich weiter aus ihrem apostolischen Charakter, und sie ist im Dienst und in der Stellung der Apostel in der Kirche tief begründet. Die Dauerhaftigkeit der Funktion der Tradition ergibt sich folgerichtig aus ihrer Apostolizität. Der Dienst, zu dem die Apostel berufen wurden, bestand darin, eben das zu bezeugen und weiterzuvermitteln, was in Christus geschehen ist, und versteht sich nur im Hinblick auf die Überlieferung der Offenbarung. Die Aufgabe der Apostel war es, Jesus Christus zu tradieren. Diese Absicht und zugleich Motivation des apostolischen Dienstes läßt sich aus dem 1. Johannesbrief (1,1—3) deutlich erkennen: „Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsern Augen, das wir beschaut haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens . . . was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch." 216

Die Tradition ist eng mit der Einrichtung des Apostolates verbunden, ja sie entsteht aus der Ausübung des apostolischen Dienstes. Die Idee der Tradition ist in dem Plan Christi, die Apostel als seine Nachfolger zu entsenden, beschlossen. Der Begriff der Nachfolge verweist auf die Übergabe und das Fortbestehen dessen, wozu die Nachfolger berufen werden. Mit der Bezeugung des Todes und der Auferstehung Christi durch die Apostel, die für die ganze Zeit der Kirche auf Erden als grundlegende und maßgebliche Tradition gilt, wird zugleich deutlich, daß die Tradition in ihrer vermittelnden Funktion gegenüber der Offenbarung über die Zeit der Apostel hinaus ihre bleibende Bedeutung bewahrt. Tertullian drückt sich in eindeutiger Weise darüber aus, wie die Tradition, die in der Kirche festgehalten wird, durch die Apostel auf Jesus Christus und Gott den Vater zurückgeht: ,,in ea regula incedimus quam ecclesia ab apostolis, apostoli a Christo, Christus a Deo accepit." 1 Die Zurückführung der Tradition auf die Apostel, Jesus Christus und den Vater als ihr Ausgangspunkt, will mit dem Hinweis auf den eigentlichen Ursprung der Tradition zugleich auf ein anderes Moment, das in dieser Tatsache impliziert ist, aufmerksam machen, nämlich darauf, daß die Tradition nicht als eine unabhängige Größe zu verstehen ist, die das Kriterium ihrer Richtigkeit selbst stellte. Die wahre Tradition ist nur die, die ab apostolis, a Christo und a Deo kommt, das heißt, die in der Offenbarung gründet. Sie wird von der Kirche nicht erfunden, und deshalb muß sie stets mit ihrem Ursprung verbunden bleiben und die Identität der Lehre mit diesem bewahren. Irenäus setzt die Überlieferung mit der Wahrheit gleich, weil die Tradition nichts anderes zum Ziel und zum Inhalt hat, als die Offenbarung zu überliefern und inhaltlich identisch mit ihr zu sein. Die Tradition, die die Apostel in der ganzen Welt verkündet haben, wird jeder in jeder Kirche finden, die die Wahrheit sehen will 2 Der Gedanke einer engen Verflechtung von Überlieferung und Offenbarung tritt bei Irenäus deutlich hervor 3 Die ganze Wahrheit, die Jesus Christus für die Erlösung der Menschen geoffenbart hat, ließ er seinen Aposteln zuteil werden, und diese haben sie in ihrer Ganzheit der Kirche öffentlich weitergegeben. Es trifft nicht zu, wie die Häretiker behaupten, daß die Apostel „verborgene Geheimnisse" (recondita mysteria) wußten, die sie nicht allen überliefert hätten, sondern nur einem 1 2

3

De praescr. haer. 37, 1; MPL 2, 50. Adv. haer. III, 3, 1; MPG 7, 1. „Traditionen! itaque apostolorum in toto m u n d o maifestam, in omni Ecclesia adest respicere omnibus qui vera velint videre." Vgl. E. Flesseman — van Leer, Tradition, Schrift und Kirche bei Irenäus, in: Schrift und Tradition, Hrsg. K.E. Skydsgaard und L. Vischer, Zürich 1963, S. 4 6 f.; G.G. Blum, Offenbarung und Überlieferung. Die dogmatische Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanums im Lichte altkirchlicher und moderner Theologie, Göttingen 1971, S. 86—93; H. Holstein, Die Überlieferung in der Kirche, Köln 1967, S. 5 0 - 5 9 . 217

gewissen Kreis von Eingeweihten 4 . Obwohl es sich u m zwei verschiedene Begriffe handelt, ist die Überlieferung mit der Offenbarung so eng verbunden, daß bei ihm die O f f e n b a r u n g als die überlieferte und die Überlieferung als die von der O f f e n b a r u n g h e r k o m m e n d e und sie vermittelnde dargestellt werden. Die O f f e n b a r u n g ist nicht in sich abgeschlossen, sondern sie geht in die Überlieferung über. Nur jene gilt als wahre Tradition, die aus der Offenbarung entsteht. Die Apostolizität ist die Garantie für ihre göttliche H e r k u n f t . Der Gegenstand der apostolischen Tradition, auf der die Kirche gebaut und die ihr anvertraut wurde, ist nach Tertullian das, was Christus den Aposteln offenbarte und von diesen mündlich und schriftlich überliefert w u r d e 5 Die Überlieferung bezieht sich auf die Gesamtheit der geoffenbarten Lehre, wobei die Idee der Kontinuität und der Identität mit der Offenbarung und dem Zeugnis der Apostel zu Wesenselementen des Traditionsverständnisses gehören. Dies geht aus der Behauptung des Athanasius hervor, daß die Kirche auf der Überlieferung gründet, die von Christus gegeben, von den Aposteln verkündet u n d von den Vätern bewahrt w u r d e 6 . Für die Berechtigung und den Geltungsanspruch der Tradition genügt allein die Tatsache nicht, daß sie aus der Verkündigung Christi und der Apostel hervorgegangen ist, sondern wichtig ist zugleich auch, daß sie sich als mit der Offenbarung inhaltlich identisch erweist. Diese beiden Momente bestimmen im wesentlichen die Überlegungen der alten Kirche über das Phänomen der Tradition. An den Zeugnissen der alten Kirche läßt sich deutlich erkennen, daß die Tradition göttlicher und apostolischer H e r k u n f t ist und daß das Phänomen der Tradition, mag es auch eine Erscheinung und ein Wesenselement menschlicher Existenz überhaupt sein, sowohl hinsichtlich ihres Inhaltes als auch ihrer F u n k t i o n als lebendiger und dynamischer Akt des Empfangens und Weitergebens auf die Offenbarung Gottes in Christus zurückzuführen ist. In ihrer F u n k t i o n als Vermittlerin der Offenbarung kann die Tradition nicht entbehrt werden, vor allem deshalb, weil sie eine Einrichtung Christi ist und als solche zur Durchführung des Heilsplans gehört. Obwohl die Kirche mit der Tradition unlösbar verbunden ist, entsteht diese nach Staniloae nicht als Werk der Kirche erst nach der apostolischen Zeit, sondern sie n i m m t ihren Ausgangspunkt bei den Aposteln, und deshalb besitzt sie für alle Zeiten normativen C h a r a k t e r 7 Ähnlich 4 5

6

Adv. haer. III, 3, 1. A.a.O., 21 (33).

Ep. I ad Serap. 28, MPG 26, 593—594: Ίδωμεν

δέ όμως και προς τούτοις και

αύτην τη ν εξ άρχής παράδοσιν και διδασκαλίας και πίστα* της κατόλικης Έκκλησίασ,ην ò μεν κύριος' εδωκεν, οί δ è απόστολοι έκήρυ'ξαν και οί πατέρες ¿φύλαξαν. Έν ταύτη yàp ή'Εκκλησίατεθεμελίωτα •• 7

218

Die Heilige Tradition, S. 78.

sieht J . Kaloghirou den dauerhaften Charakter der Tradition in der Offenbarung gegeben und ihre Existenz mit der absoluten Geltung der Offenbarung verbunden. 8 Die in der Offenbarung tief verwurzelte Berechtigung der Tradition und ihre grundsätzliche Bedeutung als Vermittlerin der Offenbarung, wie an den Zeugnissen der Schrift und der altkirchlichen Väter zu belegen ist, bilden auch die Grundlage des orthodoxen Traditionsverständnisses. Für die orthodoxe Kirche ist die Tradition nicht nur die erste Form, in der die Offenbarung von Jesus und seinen Aposteln überliefert wurde, sondern aufgrund dieser Tatsache, die von Christus geschaffen und von ihm als die geeignete Form zur Vermittlung seiner Offenbarung praktiziert wurde, ist die Tradition für sie ein permanentes Mittel zur Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens. Ihre Anerkennung und Schätzung der Wirklichkeit der Tradition bezieht sich nicht nur auf den Zeitabschnitt, in dem die Offenbarung mündlich überliefert wurde, bis zum Erscheinen der neutestamentlichen Schriften und ihrer Aufnahme im Kanon, vielmehr erstreckt sie sich darüber hinaus und neben der Existenz der Schrift auf die ganze Zeit der Kirche.

2. Schrift und Tradition in der alten Kirche Die orthodoxe Theologie stützt ihre Auffassung von Schrift und Tradition auf das theologische Zeugnis der alten Kirche und glaubt, das Problem ihres Verhältnisses in deren Sinne zu lösen. Mit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften tritt neben der ursprünglichen mündlichen Weitergabe der apostolischen Botschaft eine zweite Form der apostolischen Tradition auf. Beide gehören aber zu der apostolischen Paradosis und haben sie zu ihrem Inhalt. Dies geht daraus hervor, daß Paulus den Thessalonikern schreibt, sie sollen an den Traditionen festhalten, die sie être δια λόγου è tre δι επιστολής ημών empfangen haben (2. Thess. 2,15). Beide stehen im Dienste der apostolischen Tradition, und auf beide Weisen übermittelt Paulus seine Botschaft. Der Unterschied, der zu dieser Zeit zwischen beiden Arten der Weitergabe des apostolischen Evangeliums besteht, ist rein formeller Art. Was mündlich öder schriftlich überliefert wird, ist gleichermaßen anzunehmen. Im Laufe der Zeit und mit der Zunahme der Schriften, ihrer Anerkennung und Anwendung in gottesdienstlichen Versammlungen werden die mündliche und die schriftliche Überlieferung zwei deutlich zu unterscheidende Weisen, durch die die Offenbarung übermittelt wird. In der nachapostolischen Zeit bis etwa zu Irenäus und Tertullian kann man 8

Sacred Tradition: its sources and its task in the Church, in: The Greek Orthodox Theological Review, Bd. 10, 1965, S. 115.

219

zwar von einer Ausbildung und genaueren Bestimmung des Traditionsbegriffes nicht sprechen. Selbst der Begriff der Tradition kommt kaum vor, die Realität aber, die damit gemeint ist und mit anderen naheliegenden Begriffen umschrieben wird, ist unverkennbar 9 Der Unterschied zwischen Tradition und Schrift impliziert jedoch keine gegenseitige Abgrenzung oder Einteilung ihres Bezugsobjektes, so daß jede von der anderen inhaltlich verschieden wäre und sich nur auf einen Teil der gesamten Offenbarung beschränkte. Nur weil die Tradition die ganze apostolische Lehre enthält, kann Irenäus sagen, daß man das Heil, falls es die Schrift nicht gäbe, aus der Tradition empfangen würde 10 : Für Irenäus, schreibt H. Frh. von Campenhausen, stimmen die Schrift und die Tradition „in ihrem Lehrgehalt völlig überein, und die Schrift soll die Lehre der Kirche gegen alle Zweifel gerade bestätigen" 1 1 . Der Grund, aus dem Irenäus den Gedanken der Sukzession in seiner Auseinandersetzung mit den Häretikern heranzieht, ist eben, um den Beweis der Identität der Tradition mit der apostolischen Lehre zu erbringen. Gegenüber diesen weist er auf die ununterbrochene Folge der Priesterreihe in der Kirche als eine Garantie für die Echtheit der Tradition hin, ,,quae est ab Apostolis, quae per successiones presbyterorum in Ecclesiis custoditur" 1 2 . Überhaupt ist es das Anliegen seiner ganzen Argumentation, hervorzuheben, daß in der Tradition der Kirche die ganze Offenbarung durch die Apostel bezeugt ist. Deshalb widerlegt er die Behauptung der Häretiker, daß die Apostel nicht alles wußten, was mit Christus geschah, oder daß sie nicht alles öffentlich verkündeten, sondern einiges als geheime Tradition den „Vollkommenen" anvertrauten 1 3 . Demgegenüber betont er, daß die Apostel eine vollkommene Erkenntnis der Wahrheit hatten (habuerunt perfectam agnitionem) 1 4 und alles kannten, was geoffenbart wurde. Die Apostel haben die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, und so besitzt jeder einzelne in gleichem Maße das Evangelium Gottes: „omnes pariter et singuli eorum habentes Evangelium D e i . " 1 5 Der Kirche wurde die apostolische Verkündigung vollständig anvertraut. Wie in eine reiche Schatzkammer (quasi in depositorium dives) haben die Apostel in die Kirche ausnahmslos alles hineingetragen, was zu der Wahrheit gehört (pienissime in earn contulerint omnia quae sint verita9

10

11 12 13 14 15

J . Beumer, Die mündliche Überlieferung als Glaubensquelle, Freiburg, Basel, Wien 1 9 6 2 , S. 1 5 - 2 2 ; Y . M . J . Congar, Die Tradition und die Traditionen, Bd. I, Mainz 1 9 6 5 , S. 4 0 . Adv. haer. III, 4, 1. „Quid autem si ñeque apostoli quidem Scripturas reliquissent nobis nonne oportebat ordinem sequi traditionis, quam tradiderunt iis quibus c o m m i t t e b a n t E c c l e s i i s ? " Die Entstehung ., S. 2 1 3 . Adv. hear. III, 2, 2; III, 3, 1. Ebenda. Ebenda, III, 1, 1. Ebenda.

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tis). Deshalb wird sie der Eingang zum Leben genannt (vitae introitus) 1 6 . Weil der Heilige Geist in der Kirche ist, ist auch sie im Besitz der Wahrheit. Die Gnade und die Wahrheit sind durch den Heiligen Geist in der Kirche: „Ubi enim Ecclesia, ibi et Spiritus Dei et ubi Spiritus Dei, illie Ecclesia, et omnis gratia: Spiritus autem v e r i t a s . " 1 7 Für Irenaus ist die Richtschnur weder die Tradition noch die Schrift, sondern die Wahrheit selbst, wie sie von Gott geoffenbart und von den Aposteln bezeugt wurde: ,,Habentes itaque regulam ipsam veritatem" 18 . Die apostolische Verkündigung des Evangeliums besitzt absolute Autorität und von daher die Schrift und die Tradition 19 Irenaus kann gegenüber den Häretikern, die die Schrift beliebig interpretierten, auf die Tradition hinweisen, weil er der Überzeugung war, die er zu beweisen versuchte, daß in ihr die Predigt der Apostel von der Offenbarung Christi unvermindert und unverfälscht weiterlebt. Mit dem Hinweis auf die Tradition will er den Wert und die Autorität der Schrift nicht abschwächen, vielmehr einen lebensvollen Zusammenhang zwischen Schrift und Tradition herstellen. Ebenso wie es bei Irenäus zum Verständnis der Tradition gehört, daß sie die Vollständigkeit der apostolischen Lehre darstellt, vertritt er zugleich auch die Auffassung, daß diese auch in der Schrift gänzlich niedergelegt wurde. Wenn er dies von der Tradition behauptet, so hindert es ihn jedoch nicht daran, auch der Schrift dasselbe zuzugestehen: rectissime scientes, quia Scripturae quidem perfectae sunt, quippe a Verbo Dei et Spiritu ejus dictae . " 2 0 . Es ist dieselbe Botschaft des Evangeliums, die die Apostel zuerst mündlich verkündigten und danach in ihren Schriften niederlegten 2 1 . Wichtig ist für Irenäus, daß sowohl die Tradition als auch die Schrift in Form und Inhalt auf die Apostel zurückgehen, und dies ist für ihn von grundsätzlicher Bedeutung, wenn es um den Glaubenswert dessen geht, was die Schrift und die Tradition enthalten. Der Gedanke einer Konkurrenz zwischen Schrift und Tradition ist Irenäus fremd. Diese würde nur dann entstehen, wenn eine von beiden die Lehre der Apostel unvollständig wiedergäbe. Mit Recht stellt Flesseman-van Leer fest: „Man kann bei Irenäus nicht die geringste Spur von dem Gedanken finden, daß die Schrift oder die Tradition die Offenbarung nur teilweise bewahren. Nur die Art, in der sie der Kirche bewahrt geblieben ist, ist d o p p e l t . " 2 2 Der Schriftbeweis spielt in der Argumentation von Irenäus eine durchaus zentrale Rolle. Die Fülle der Texte aus dem Alten und vor allem aus 16 17 18 19 20 21 22

Ebenda, III, 4, 1. Ebenda, III, 24, 1. E b e n d a , II, 28, 1. Vgl. E. Flesseman-van Leer, a.a.O., S. 59. A.a.O., II, 28, 2, Ebenda, III, 1, 1. A.a.O., S. 56.

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dem Neuen Testament macht deutlich, welches Gewicht er den Schriftaussagen bei der Durchführung seiner Argumentation einräumt. Lehrmeinungen, wie die der Häretiker, die in der Schrift nicht enthalten sind (de iis quae non sunt scripta legentes) 23 , weist er kategorisch zurück. Ihre eigenwilligen Lehren, die weder in der Schrift noch in der Tradition enthalten sind (Evenit itaque, neque Scripturis, neque Traditioni consentire eos) 2 4 , erweisen sich als Irrtümer. Irenäus hebt zugleich die Einheit und die Einstimmigkeit der Schrift hervor, die er als eine polyphone Symphonie darstellt: και δια της των λέξεων πολυφωνίας έν σύμφωνον μέλος èv ήμίν αισθήσεται. Da die ganze Schrift von Gott eingegeben ist, stimmt sie überein: και πάσα Γραφή 8 e δη μένη ημιν άπό θεού σύμφωνος25. Das Verhältnis von Schrift und Tradition kommt vor cillem dort zum Ausdruck, wo sich Irenäus gegen das Schriftverständnis der Häretiker wendet. Diese mißbrauchten die Schrift, indem sie einzelne Aussagen aus ihrem Kontext rissen und versuchten, die Parabeln des Herrn, die Aussagen der Propheten und die Worte der Apostel ihren Lehren anzupassen. Sie mißachten die Ordnung und den Zusammenhang der Schrift und verändern ihren Sinn 26 . Gegenüber dem Umgang der Häretiker mit der Schrift, die jeder nach seinem Verständnis deutet, was ja unvermeidlich zur Verschiedenheit ihrer Lehren führte, stellt Irenäus die Einheit der Lehre der gesamten Kirche heraus, die einen und denselben Glauben hat, den sie in der ganzen Welt verkündet 2 7 . Die Schriftauslegung der Häretiker nennt er eine offenkundige Erdichtung (manefesta igitur expositionis eorum transfictio) 2 8 ; diese sind „von der Wahrheit abgefallen" (deciderunt a veritate), weil sie sich von der Kirche getrennt haben 2 9 . Weil die apostolische Tradition der Kirche anvertraut wurde, kann man nur in ihr die Wahrheit finden. Für Irenäus gilt, daß nur die Verkündigung der Kirche wahr und zuverlässig ist (Ecclesiae quidem predicatio vera et firma), während die Häretiker, die die Schrift außerhalb der Kirche zu lesen und zu verstehen suchen, aus diesen Gründen nicht zur Wahrheit gelangen. Die Schrift muß man in der Kirche lesen und sich dabei von ihrer Tradition leiten lassen 30 . Die Kirche bewahrt die Schriften und verhilft durch ihre von den Aposteln stammende Tradition zur Erkenntnis ihres wahren Sinns. In der Kirche werden die Schriften treu bewahrt, ohne daß ihnen etwas hinzugefügt oder etwas von ihnen weggelassen wird.

23 24 25 26 27 28 29 30

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Adv. haer. I, 8, 1. Ebenda, III, 2, 2. Ebenda, II, 28, 3. Ebenda, I, 8, 1 ; I, 9, 1 - 4 . Ebenda, I, 10, 3. Ebenda, I, 9, 2. Ebenda, IV, 26, 2. Ebenda, V, 20, 1 - 2 .

Hier werden sie unverfälscht gelesen, sorgfältig und ohne Blasphemie erklärt 3 1 . Nach dem hermeneutischen Grundsatz, der hier deutlich ausgesprochen wird, kann die Schrift nur in der Kirche und im Lichte ihrer Tradition richtig verstanden werden. J . Coman stützt auf diese Aussage von Irenäus den Gedanken, daß die Hauptaufgabe der Tradition in der unversehrten Übermittlung der Schrift besteht 3 2 . Weiter vergleicht Irenäus die Kirche mit dem Paradies in der Welt und die Schriften mit den Bäumen, von deren Früchten die Gläubigen essen dürfen. In der Kirche sollte man Schutz suchen, in ihrem Schoß sich erziehen und mit den göttlichen Schriften ernähren lassen 33 . Die Tradition der Kirche legt die Schrift aus. Nur weil die Tradition mit der Schrift inhaltlich identisch ist und von demselben Geist, der hinter den Worten der Schrift steht, geleitet ist und beide auf die Apostel zurückgehen, findet die Schrift in der Tradition ihre richtige Auslegung 3 4 . Der Inhalt der Tradition ist auch der Inhalt der Schrift, weil beide denselben Ursprung und Gegenstand haben. Die Schrift und die Tradition werden in ihrer Geltung und Berechtigung auf die apostolische Tradition zurückgeführt, und nach der apostolischen Lehre, die beide gemeinsam zum Inhalt haben, gehören sie untrennbar zusammen. Denselben Grundgedanken wie Irenäus von der göttlichen und apostolischen Herkunft der Tradition und vom rechten Schriftverständnis nur in der Kirche durch ihre Tradition vertritt auch Tertullian, wenn er den Häretikern kurzerhand die Auslegung der Schrift in seiner „De praescriptione haereticorum" verbietet. Die Tradition verbindet die späteren Kirchen mit der apostolischen Gemeinde und durch sie sind sie auch apostolische Kirchen, weil sie denselben Glauben bekennen 3 5 . Durch die Tradition ist die Kontinuität der Lehre in der Kirche gewährleistet. Aufgrund desselben apostolischen Glaubens befinden sich die Kirchen im Band der Einheit miteinander und bleiben in der Kontinuität und Gemeinschaft mit der ersten Gemeinde der Apostel. 3 6 Weil die Apostel ihre Lehre der Kirche überliefert haben, kann nur sie die Schriften wahrhaftig auslegen 37 . 31

32 33 34 35 36 37

Ebenda, IV, 33, 8: sine fictione Scripturarum tractatio pienissima, ñeque additamentum ñeque ablationem recipiens; et lectio sine falsatione, et secundum Scripturas expositio legitima, et diligens, et sine periculo, et sine balsphemia". Die heilige Tradition im Lichte der Kirchenväter, in: Ortodoxia Nr. 2, 1956, S. 169 (rum.). A.a.O., V. 20, 2. „confugere autem ad Ecclesiam, et in ejus sinu educari, et Dominicis Scripturis enutriri." Vgl. Anm. 19 und 22. A.a.O., 21 (33): „Communicamus cum ecclesiis apostolicis, quod nulli doctrina diversa: hoc est testimonium veritatis." Ebenda, 20 (32). Ebenda 19 (31): „Cuius sint scripture? A quo et per quos et quando et quibus sit tradite disciplina qua fiunt Christian!? Ubi enim apparuiret esse veritatem et

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Auch Tertullian, für den die Tradition der Kirche die apostolische Überlieferung enthält 3 8 und ihre Achtung als unausweichliche Bedingung für das rechte Verständis der Schrift mit geradezu gesetzlicher Intransingenz fordert 3 9 , läßt zugleich keinen Zweifel an dem Gedanken der Vollkommenheit der Schrift aufkommen. „Adoro scripturae plenitudin e m . " 4 0 Es ist von großer Bedeutung, daß Irenäus und Tertullian, die zum Traditionsverständnis in der alten Kirche grundsätzlich beigetragen und in der Tradition das Weiterbestehen der apostolischen Überlieferung gesehen haben, gleichzeitig in unmißverständlichen Aussagen die wesenhafte Vollständigkeit der in der Schrift niedergelegten apostolischen Bezeugung der Offenbarung bekunden. Wenn sie Aussagen über die Vollständigkeit der Schrift machen oder in der Tradition das apostolische Evangelium erkennen, so gelten diese nicht als zwei sich gegenseitig ausschließende Positionen. Ihre Richtigkeit wäre nicht in Frage gestellt, wenn beide aufrechterhalten würden oder wenn Vollständigkeit für beide beansprucht würde. Bei den Kirchenvätern finden sich eigentlich nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, daß die Vollkommenheit der Schrift oder der Tradition nur dann angenommen werden kann, wenn sie nur für eine gelten soll. Wenn ausgesagt wird, daß die Schrift vollständig sei, oder daß sich in der Tradition die ganze Fülle der apostolischen Überlieferung wiederfinde, so wird man zwischen beiden Behauptungen keinen Gegensatz sehen können. In konfessioneller Voreingenommenheit hat man zu leicht übersehen, daß die Väter der alten Kirche zugleich auch von der Vollkommenheit der Schrift überzeugt waren, auch wenn für sie die Tradition eine lebendige Wirklichkeit war, in der sie die Gegenwart der gesamten apostolischen Verkündigung erlebten. Aus einer gewissen Vorliebe für die Tradition hat man in der orthodoxen Theologie vor allem jene Argumente der Kirchenväter bewertet, die der Bedeutung der Tradition gewidmet waren, ohne zugleich in gleichem Maße ihre Überlegungen über die Vollkommenheit der Schrift einzubeziehen und sie theologisch zum Tragen zu bringen. Der Gedanke der Vollkommenheit der Schrift hat sich in letzter Zeit nur mühsam durchgesetzt und nicht ohne Bedenken seitens einiger Theologen. Doch Irenäus und Tertullian sind nicht die einzigen in der alten Kirche, die nicht nur von der konkreten und dynamischen Koexistenz von Schrift und Tradition, sondern zugleich auch davon zeugen, daß in jeder die ganze Offenbarung enthalten ist.

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disciplinae et fidei christianae, illic erit Veritas scripturarum et e x p o s i t i o n u m et o m n i u m traditionum christianorum. " Adv. Marc., Lib. 1,21, MPL 2, 270: et non alia agnoscenda erit traditio apostolorum, quam quae hodie apud ipsorum Ecclesias editur". Über die besonderen Züge des Traditionsverständnisses Tertullians verglichen mit dem des Irenäus vgl. H. Holstein, a.a.O., vor allem S. 67. Adv. Hermog. 22 MPL 2, 218.

Nach Origines m u ß das, worauf sich der Glaube gründet, in der Schrift u n d in der Tradition e n t h a l t e n sein 4 1 . Andere Glaubenswahrheiten als die der Schrift, die j a vom Heiligen Geist inspiriert w u r d e , sind nicht Gegenstand des Glaubens: nullius alterius possibilitatis esse credimus exponere, a t q u e in h o m i n u m Cognitionen! p r o f e r r e , nisi ejus solius Scripturae quae a Spiritu sancto inspirata est, id est, evangelicae a t q u e apostolicae, nec n o n legis ac p r o p h e t a r u m , sicut ipse Christus asser u i t " 4 2 . Dasselbe kann Orígenes auch von der Tradition sagen. Ebenso gehört es z u m Kennzeichen w a h r e n Glaubens, daß er nicht im Widerspruch z u m Inhalt der Tradition steht: „. ilia sola credenda est Veritas, q u a e in nullo ab ecclesiastica et apostolica discordant t r a d i t i o n e " 4 3 . Es b e s t e h t kein G r u n d zu der A n n a h m e , daß die ursprüngliche mündliche F o r m der Ü b e r m i t t l u n g der O f f e n b a r u n g mit dem Erscheinen der n e u t e s t a m e n t l i c h e n Schriften a u f h ö r t zu existieren, weil diese schriftlich e r f a ß t wird. D a m i t t r e t e n Schrift u n d Tradition nicht in K o n k u r renz zueinander, auch wenn die Schrift den Vorzug h a t , die Integrität des apostolischen Evangeliums zu garantieren, eben weil diese schriftlich festgehalten ist u n d als solche auch als Orientierung für die Tradition dient. Sie b e s t e h e n miteinander, u n d dies zeigt sich auch darin, daß mit der A n e r k e n n u n g der A u t o r i t ä t der Schrift, die sie durch ihre Kanonisierung erlangt, die Tradition weiterhin n e b e n der Schrift geschätzt wird u n d die Beweiskraft eines Argumentes aus ihr nicht an Bedeutung verliert. Die Schrift wird zwar als v o l l k o m m e n a n e r k a n n t , gilt aber niemals allein, sondern sie wird ständig in Begleitung der Tradition gesehen. Sie ist der lebendige K o m m e n t a r der Schrift. Irenäus u n d Tertullian stellen die Auslegungsfunktion der Tradition deutlich heraus, wenn sie gegen die Häretiker geltend m a c h e n , d a ß die Schrift n u r in der Tradition richtig zu verstehen sei. Dazu schreibt Hilarius: „Qui extra Ecclesiam positi sunt, nullam divini sermonis capere possunt intelligentiam."44 Der wahre Glaube ist nach Athanasius derjenige, der sowohl mit der Schrift als auch mit der Tradition in Ü b e r e i n s t i m m u n g s t e h t 4 5 . Auch Athanasius spricht eindeutig genug von der Suffizienz der Schrift in Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt. Αυτάρκεις μέν yàp eiaiv ai äyiai και deôveoTOt Γραφαί προς την της αλήθειας άπαγγβλίαν46. Die Tradition der Väter stellt er im Anschluß an diese Aussage als erstrebenswerte D e u t u n g der Schrift d a r 4 7 41

Vgl. J. Beumer, a.a.O., S. 25 und 26. Dort auch Belegstellen.

42

Περί Αρχών MPG 11, 146.

43 44

Ebenda MPG 11, 116. In Matth. 13,1 MPL 9, 9 9 3 .

45 Ep. ad Adelph. MPG 26,1080: ημών 8è ή πίστις έστίν ορθή και έκ διδασκαλίας άποστολικής όρμωμένι και παραδόσεως των πατέρων, βεβαιουμένη έκ re Νέας και Παλαιάς Αιαθήκη, τών μέν προφητών λεόντων. 46

Or. ctr. gent. 1,3 MPG 25, 4.

47 Ebenda: Είσι δέ και πολλοί τών μακαρίων ημών διδασκάλων

εις ταύτα 225

Die Autorität, die die Väter der Schrift zuerkennen, ist unmißverständlich. Nichts darf geglaubt und für wahr gehalten werden, was sich nicht an der Schrift belegen läßt. Der Beweis durch die Schrift erhält eine grundlegende Bedeutung und ist für die Lehre der Väter absoluter Maßstab. Wenn es um die göttlichen Geheimnisse des Glaubens geht, so darf nach Cyrill von Jerusalem nichts angenommen werden, das nicht in der Schrift enthalten ist. Seinen Worten soll man nicht glauben, wenn sie durch die Schrift nicht bestätigt werden. Der Glaube stützt sich auf die göttlichen Schriften und nicht auf irgendwelche erfundenen Gründe 48 . Es gibt keine Glaubenswahrheiten, will Cyrill hiermit sagen, die nicht in der Heiligen Schrift enthalten wären. Das ganze Dogma des Glaubens findet Cyrill auch in den kurz gefaßten öffentlichen Formulierungen und den Glaubensbekenntnissen der alten Kirche: έν ολίγοις τοϊς στίχοις το πάν bcr/μα της π ί σ τ ε ω ς irepLλαμβάνομβ ν49 Nach Athanasius waren die Väter bei dem Konzil von Nizäa darum bemüht, ihre Entscheidungen im Sinne der Schrift zu treffen 5 0 . Für Kyrill von Alexandrien sind die Propheten, die Apostel und die Evangelisten, die vom Heiligen Geist erfüllt waren, Quellen des Heils 51 . Aus dem Verständnis der Kirchenväter von der Heiligen Schrift läßt sich mit Klarheit erkennen, daß sie diese als vollkommene Glaubensquelle betrachteten und sich ihrer fundamentalen Bedeutung bewußt waren. Die angeführten Stellen aus ihren Schriften, wird man nicht nur als gelegentliche und isolierte Äußerungen ansehen, vielmehr als Ausdruck ihrer Einstellung gegenüber der Schrift, die in der Mitte ihrer Überlegungen und Tätigkeit stand und unter deren Urteil sie selbst ihre eigenen Schriften stellten. Wenn die Schrift alle Wahrheiten des Glaubens enthält, die heilsnotwendig sind, so soll jedoch ihre Suffizienz, die sich auf ihren objektiven Inhalt bezieht, nicht so verstanden werden, daß sie der Tradition nicht mehr bedarf. Die Hochschätzung, die die Kirchenväter der Schrift zollten, ist offenkundig, und es kann nicht bestritten werden, daß sie sie als συνταχθέντες λόγοι οίς èàv τις εντΰχοι, έίσεται μεν, πως την των Γραφών έρμηνείαν, ής δέ ορέγεται γνώσεως τυχείν δυνήσεται. 48 Cat. IV,17 MPG 33, 476—477: Αείγάρ περί τών θείων και άγιων της πίστεως μυστήριοι*, μηδέ το τυχόν άνευ τών θείων τταραδίδοσθαι Γραφών, και μη άπλώς πιθανότησι και λόγων κατασκευαΐς παραφέρεσθαιΜήδε έμοί τφ ταύτά σοι λέγοντι, άπλώς πιστεύσης, έάν την άπόδειξιν τών καταγγελλομένων, άπό τών θείων μη λάβης Γραφών. Ή σωτηρία yàp αύτη της πίστεως ήμών, ούκ έξ εύρεσιλογίας, άλλα έξ άποδείξεως τών θείων έστί Γραφών. 49

Cat. V , 12 MPG 33, 6 2 0 - 6 2 1 .

50 De deer. Nie. syn. 20 MPG 25, 452: διά τούτο ή σύνοδος, τούτο νοούσα, καλώς όμοούσιον εγραψεν. 51 Ad reg. de recta fide or. altera MPG 76, 1337: Σωτηρίου δέ πηγάς είναι φαμεν τούς άγιους προφήτας, εύαγγελιστάς τέ και άποστόλους. 226

maßgebliche Norm des Glaubens anerkannten, aber ebenso wahr ist, daß sie niemals allein galt. Zwar tritt die Schrift in den Vordergrund, gehört aber immer mit der Tradition zusammen. Die Bedeutung der Schrift für die Tradition soll mit der der Tradition für die Schrift ergänzt werden. Im Sinne der Kirchenväter wird man vom Miteinander von Schrift und Tradition sprechen, denn die Schriftauslegung und die Weitergabe der in ihr bezeugten Offenbarung wären ohne die Tradition nicht möglich. Die Berufung auf die Tradition selbst bei den Vätern, die eindeutige Aussagen über die Vollkommenheit der Schrift machten, spricht dafür, daß diese allein nicht genügte, auch wenn sie alle Glaubenswahrheiten enthält. Einige Aussagen der Kirchenväter, wonach die Heilige Schrift nicht alles enthielte, was geoffenbart wurde, führten zur Entstehung jener zwei Quellen-Theorie, die auch in der orthodoxen Theologie geteilt, jedoch in der letzten Zeit revidiert wurde. Ihr zufolge würde die Schrift durch die Tradition ergänzt, der wir auch andere Offenbarungswahrheiten verdanken, als uns aus der Schrift bekannt ist. Als besonders gewichtiges Argument hierfür führte man den Text von Basilius dem Großen an, in dem davon die Rede ist, daß von den Dogmen und den Verkündigungen (Kerygmata), die die Kirche bewahrt hat, einige aus der geschriebenen Lehre und andere aus der apostolischen Überlieferung empfangen wurden; sie sind èv μυστηρίω überliefert worden. Beide haben dieselbe Bedeutung für die Glaubensfrömmigkeit. 5 2 Aus der sich anschließenden Aufzählung derjenigen Elemente der Tradition, die in der Schrift nicht aufgezeichnet wurden, ergibt sich, daß es sich vor allem um liturgische Riten und Gebräuche handelt wie diese: sich bekreuzigen, sich während des Gebetes nach Osten wenden, die eucharistische Epiklese, die Segnung des Wassers und des Öls bei der Taufe und bei der Salbung, das dreifache Untertauchen des Täuflings und die Absage an den Teufel 5 3 . Dieser Text, auf den man sich o f t berief, um für die Selbständigkeit der Tradition gegenüber der Schrift zu argumentieren, weil hier angeblich der Beweis erbracht wird, daß die Tradition auch andere Wahrheiten als die Schrift enthielte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ungeeignet zur Begründung der Theorie von Schrift und Tradition als zwei voneinander unabhängigen Quellen der Offenbarung. Es ist bezeichnend, daß die Beispiele, die Basilius aus der ungeschriebenen Überlieferung anführt, dem liturgischen Bereich zuzuordnen sind. Dies wird auch durch seine Aussage unterstrichen, daß diese in der Schrift nicht zu findenden Traditionen èv μυστηρίω überliefert wurden.

52

De Spiritu Sancto, X X V I I M P G 32, 188A: Των èv τη Εκκλησία πεφυλα-γμένων δο-γμάτων και κηρυγμάτων τα μέν έκ της εγγράφου 8ώασκαλίας ξχομεν, τά δε έκ τχς των άποστόλων -παραδόσεως διαδοθέντα ήμίν èv μυστηρίω παρεδεξάμετα &περ άμφότερα την αύτην ισχύν έχει προς την εύσέβειαρ.

53

Ebenda, 188 Β.

227

Darunter wird nicht eine Überlieferung im geheimen verstanden im Sinne der Arkandisziplin, wie diese Stelle o f t übersetzt wurde, sondern der Hl. Basilius stellt hier eine enge Verbindung zwischen der Tradition und dem sakramentalen Leben der Kirche her. Florovsky versteht den Ausdruck èv μύστηρίω nicht so, als handle es sich um Traditionselemente, die im Verborgenen überliefert wurden, sondern mittels der Sakramente, ,,by the way o f mysteries" 5 4 Diesen ungeschriebenen Traditionen, die durch das sakramentale Leben überliefert wurden, mißt Basilius neben der Schrift eine große Bedeutung für den Glauben bei, so daß ihre Mißachtung eine Einschränkung und Vernachlässigung des Evangeliums bedeutete s s . Einer solchen Behauptung liegt der Gedanke zugrunde, daß die ungeschriebenen Riten einen inneren Bezug zum Evangelium aufweisen und daß man durch sie an ihm teilhaben kann. Wenn man die ungeschriebenen Traditionen verwirft, wird dadurch das Evangelium beeinträchtigt. Entscheidend für das Verständnis von der Tradition und deren Verhältnis zur Schrift ist nun der Wert, den man den von Basilius angegebenen Beispielen zugesteht. Ihre Überbewertung führte einmal dazu, daß man in der Tradition eine zweite unabhängige Quelle der Offenbarung sah, durch die auch andere Glaubenswahrheiten als die Schrift übermittelt werden. Wenn Basilius die ungeschriebene Überlieferungen für so wichtig erachtet, daß selbst das Evangelium Schaden nimmt, wenn man sich nicht an sie hält, so stellt sich nun die Frage, welche die in der Schrift nicht enthaltenen Offenbarungswahrheiten sind, die man nur in der Tradition findet. V o n Basilius jedenfalls werden sie nicht genannt, und ihm geht es eigentlich auch nicht darum, Schrift und Tradition als zwei Quellen verschiedener Wahrheiten nebeneinander zu stellen, wie man durch die irrtümliche Ubersetzung des τά μέν τά δε als teils teils angenommen hat. Er weist in der Tat auf die Bedeutung der ungeschriebenen Tradition hin, aber diese kann nicht nur darauf beruhen, daß sie auch andere Offenbarungswahrheiten als die Schrift enthält. Das Dogma und das Kerygma werden sowohl auf die Schrift als auch auf die Tradition zurückgeführt, und deshalb kommt beiden aufgrund ihres Inhaltes, der im T e x t bezeichnenderweise unter Kerygma und Dogma angegeben ist, eine gleiche Autorität zu. Nach dieser allgemeinen Feststellung über die Bedeutung der Tradition, in der nicht explizit davon die Rede ist, welche Dogmata nur aus der Tradition bekannt sind, wie zu erwarten wäre, wenn er sich auf bestimmte bezogen hätte, folgt dann eine genaue Angabe von Riten aus

54

The Function of Tradition in the Ancient Church, in: The Greek Orthodox Theological Review, Bd. 9, 1 9 6 3 - 6 4 , S. 194.

55 A.a.O., 188 Β: Et yàp έπιχεφήσαιμεν τά ά-γραφα τών έθών ώς μη με-γάλην ξημιούντες τό Εύαγγέλιον • μάλλον δέ βίς δνομα φιλόν περιιστώντες το κήρνγμα.

228

der ungeschriebenen Überlieferung, die er mit der Frage beschließt: aus welcher Schrift k o m m t es? έκ ποίας έστί γραφής;56 Wenn sich einerseits hinter den genannten Beispielen keine neuen Glaubenswahrheiten verbergen, über die gesagt werden könnte, daß sie aus der Schrift nicht zu entnehmen sind, so soll andererseits nicht übersehen werden, daß Basilius auf einen bestimmten Aspekt der ungeschriebenen Überlieferung hinweisen wollte, nämlich auf ihren liturgischen Charakter, und deshalb wird man seine Beispiele nicht für irrelevant ansehen und als einfache Riten und Gebräuche abtun dürfen. Fragt man danach, welche Offenbarungswahrheiten sie zum Ausdruck bringen und welche Bedeutung für die Heilszueignung den einzelnen angegebenen Riten zuzuschreiben ist, so wird man zwischen ihnen unterscheiden müssen, und die Antwort wird nicht sehr ergiebig sein, wenn man von denjenigen, die sich auf die Sakramente beziehen, absieht. Wichtig ist jedoch für Basilius nicht der Ertrag des Glaubensinhaltes, der von ihm angegebenen Beispiele aus der Tradition gegenüber der Schrift, sondern der Hinweis auf den Zusammenhang, der zwischen Dogma und Kerygma und zwischen Schrift und Tradition b e s t e h t 5 7 Von großer Bedeutung für die Erläuterung dieses Problemkomplexes erweist sich der liturgische Aspekt der Tradition 5 8 , der durch seine Beispiele in den Vordergrund gestellt wird und der durch das Verständnis des Dogmas in der alten Kirche mitberücksichtigt werden muß. Man wird deshalb von den einzelnen Beispielen zu der damit gemeinten Sache übergehen müssen, die das Hauptanliegen von Basilius darstellt, nämlich, daß das Dogma in den gottesdienstlichen Lebensvollzug der Kirche hineingehört. S o wie die liturgischen Riten nicht inhaltslose äußere Formen sind, so gilt auch für das Dogma, daß es nicht das Ergebnis einer abstrakten theologischen Reflexion ist, daß es vielmehr sich aus der gottesdienstlichen Erfahrung des Glaubens herauskristallisiert hat, und daß die liturgischen Formeln Träger eines Glaubensinhaltes sind und zu seiner Übermittlung dienen. Von daher versteht man, warum Basilius das Dogma mit der im Gotttesdienst geschehenden Tradition so eng verbindet. Das Dogma, das bei ihm für die im Glauben aufgenommenen Offenbarungswahrheiten steht und den Inhalt der Überlieferung darstellt, ist in gottesdienstlichen Formen enthalten, die aus der Offenbarung entstanden sind. Zum Verständnis des Dogmas gehört, daß es historisches und pneumatisches Geschehen zugleich ist, in dem die Offenbarung als historischobjektives Ereignis zu einer im Glauben subjektiv und gegenwärtig erlebte Wirklichkeit des Heilsgeschehens wird, so wie diese beiden Mo-

56 57 58

Ebenda, 188C. Zur Interpretation von Kerygma und Dogma und ihrem Bezug auf das Traditionsverhältnis des Basilius siehe G . G . B l u m , a.a.O., S. 1 1 0 — 1 2 6 . Vgl. hierzu G . S . Bebis, T h e C o n c e p t o f T r a d i t i o n in the Fathers of the C h u r c h , in: T h e Greek O r t h o d o x Theological Review, B d . 15, 1 9 7 0 , S. 3 8 ff.

229

mente, die im Kerygma vereint sind, in der Liturgie als ein ganzheitliches Geschehen gefeiert und erfahren werden. G.G. Blum bemerkt, daß Basilius dadurch den Begriff der Tradition als ein dynamisches und ganzheitliches Phänomen erweitert hat, indem er den neugeprägten Dogmenbegriff und das Kerygma als dessen reflexiven Ausdruck hineingenommen hat 5 9 . Wenn Basilius auf das Kerygma und das Dogma hinweist, die von den Aposteln durch die ungeschriebene Tradition übermittelt worden sind, dann meint er damit den auf die Offenbarung gegründeten Glauben, der nun als gelebter und persönlich angeeigneter Glaube zu verstehen ist. Darin sollte auch der Grund liegen, aus dem Basilius, nachdem er von dem Dogma gesprochen hat, das durch Schrift und Tradition überliefert wird, es für die Tradition an Beispielen konkretisiert. Das hinter diesen Beispielen stehende Dogma meint denselben Glauben, der auch in der Schrift bezeugt ist. Man kann unmöglich annehmen, daß hinter jedem der Beispiele ungeschriebener Tradition, die er angibt, ein Dogma steht, und so von einigen Dogmen oder Offenbarungswahrheiten sprechen, die nur durch die Tradition überliefert werden. Basilius hat vielmehr das Dogma der Glaubenswahrheit im allgemeinen im Auge, das in Schrift und Tradition enthalten ist, aus dem dann bestimmte Dogmen entstehen. Daß es sich bei der Tradition nicht um zusätzliche Offenbarungswahrheiten handelt, dafür spricht einfach auch die Tatsache, daß, wenn Basilius sich am Anfang des Kapitels XXVII auf die von den Aposteln stammenden Dogmata beruft, etwas anderes zu verstehen ist als Dogmen im späteren Sinne des Wortes, denn bekanntlich haben die Apostel keine Dogmen formuliert. Florovsky macht darauf aufmerksam, daß zu dieser Zeit der Begriff des Dogmas nicht genau und endgültig festgelegt wurde. Nach ihm ist der Begriff des Dogmas so zu verstehen: „dogmata were for him the total complex of ,unwritten habits' — τά ¡Γγραφα των έθών, or, in fact, the whole structure of liturgical and sacramental life" 6 0 . Die liturgisch-sakramentale Ordnung der Kirche beruht auf dem Glauben, den sie enthält und der durch sie vergegenwärtigt und überliefert wird, so wie bei der Taufe mit der liturgischen Formel das trinitarische Dogma übermittelt und im Glauben angenommen wird. Die Existenz und die Berechtigung liturgisch-sakramentaler Riten sind einzig durch ihren dogmatischen Gehalt zu legitimieren. Wenn Florovsky sagt: „In fact, .tradition' to which St. Basil appeals, is the liturgical practice of the Church" 6 1 , so soll man jedoch als ihr Grundmoment den Glauben sehen, der sich vom Glauben der Schrift in nichts Wesentlichem unterscheidet, außer daß er hier zum lebendigen Glauben wird.

59 60 61

230

A.a.O., S. 121 und 125. The Function of Tradition . . ., S. 194. Ebenda, S. 195.

Aufgrund der unlösbaren Verbindung zwischen dem Glauben und den liturgisch-sakramentalen Formen als Glaubensausdruck liegt es nahe, dort, wo Basilius von den Dogmata spricht, statt von Glaubenswahrheiten zu sprechen, die nur in der ungeschriebenen Überlieferung enthalten sind, daran zu glauben, daß es sich eher um liturgisch-sakramentale Riten handelt, die er dann gleich namentlich erwähnt, aber so, daß darin der geoffenbarte Glaube impliziert ist. So könnte er von den Dogmata der Tradition reden, ohne daß dadurch von einer Insuffizienz der Schrift und von ihrer Ergänzung durch die Tradition die Rede zu sein braucht. Der Glaube der Schrift findet sich in der Tradition wieder. In der Liturgie, in Sakramentshandlungen und in allen gottesdienstlichen Formen wird der Glaube der Schrift dargelegt und entfaltet, ihr Inhalt wird dadurch jedoch nicht erweitert. In der kirchlichen Tradition handelt es sich nur um eine Entfaltung der apostolischen Tradition, nicht aber um eine substantielle Veränderung des Inhaltes der Schrift durch Hinzufügung neuer Glaubensinhalte. Die hohe Bewertung der Tradition durch Basilius hat andere Gründe, als daß er in ihr eine die Schrift ergänzende Offenbarungsquelle sah. Daß er die Schrift nach ihrem Glaubensgehidt für nicht ergänzungsbedürftig hielt und sie als Norm des Glaubens betrachtete, zeigt sich darin, daß er die Tradition der Väter nicht um ihretwillen akzeptierte, sondern weil diese sich auch nach der Schrift richteten. Uns reicht es nicht, sagt Basilius, daß es die Tradition der Väter ist, Άλλοι) τούτο ήμϊν έξαρκεΐ, ÖTL των πατέρων παράδοσις, diese folgten auch dem Willen der Schrift, τ φ βουλή ματ L της Γραφής ήκολούθησαν62. Die Schrift ist das Kriterium der Lehre, η θβόπνβυστος ήμϊν διαιτησάτω Γραφή 63 Man wird einerseits nicht alles, was als ungeschriebene Tradition gilt, als direkt von den Aposteln stammend betrachten, auch wenn es in völliger Übereinstimmung mit deren Lehre steht, so wie andererseits unter der Tradition nur eine später entstandene Tradition gesehen werden soll. Wenn Basilius nicht die ganze ungeschriebene Tradition mit der apostolischen Überlieferung identifiziert, so läßt er jedoch keinen Zweifel daran, daß jene in der ungeschriebenen Tradition weiterbesteht. Er beschränkt den Bereich des Apostolischen nicht nur auf die Schrift, sondern findet es auch in der ungeschriebenen Tradition: ,,'A ποστολικόν δ è οΐμαι και τοταις άγραφοις παραδόσεσι παραμένει"64 Wenn es um den Glaubensgehalt der Tradition geht, wird man die verschiedenen ungeschriebenen Traditionen nach ihrem Glaubensgehalt zu befragen haben und nicht schon in der Tatsache ihres Vorhandenseins neue geoffenbarte Grundwahrheiten des Glaubens sehen, die ja nur in der ungeschriebenen Tradition zu finden sind. 62 63 64

De Spiritu Sancto, VII MPG 3 2 , 9 6 A . Ep. 189,3 MPG 3 2 , 6 8 8 . De Spiritu Sancto, XXIX MPG 3 2 , 2 0 0 B .

231

Selbst die doxologische Formel: „Ehre sei Gott dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist", die seine Gegner als άγρά^ως ablehnten 6 5 , die ja einen gewichtigeren dogmatischen Gehalt aufweist als die angegebenen Riten und Bräuche, könnte jedoch nicht als Beweis für eine über den Inhalt der Schrift hinausgehende ungeschriebene Tradition dienen, denn man könnte nicht behaupten, daß das trinitarische Dogma und die absolute Gleichheit des Heiligen Geistes mit dem Vater und dem Sohn, um die es dem Hl. Basilius geht, in der Schrift nicht enthalten sind oder von ihr nicht abgeleitet werden können, auch wenn es in dieser nicht so deutlich ausgedrückt ist wie in der Tradition. Ein weiteres Zeugnis aus der alten Kirche mehr allgemeineren Charakters findet sich bei Epiphanius ohne nähere Angabe, ob es sich auf die Glaubensinhalte bezieht, wenn behauptet wird, daß das, was die Apostel verkündeten, nicht alles aus der Schrift zu empfangen sei, und deshalb soll man gleichfalls der Tradition folgen, in der die Apostel auch anderes überliefert haben 66 . In seinem Kommentar zum 2. Thessalonikerbrief bemerkt der Hl. Johannes Chrysostomos zum Kap. 2,15, daß daraus mit Deutlichkeit hervorgeht, daß die Apostel nicht alles brieflich, sondern vieles auch mündlich überliefert haben. Das eine und das andere ist in gleichem Maße glaubwürdig. Deshalb halten wir auch die Überlieferung der Kirche für glaubwürdig 67 . Mit der Absicht, auf ungeschriebene apostolische Traditionen hinzuweisen, führt Chrysostomos ein anderes Mal das Gebet für die Verstorbenen an 68 . Auf Beispiele aus dem Kult und der Disziplin der Kirche stützt Hieronymus seine Behauptung: „Etiam si scripturae auctoritas non subesset, totius orbis in hanc partem consensus instar praecepti obtineret. Nam et multa alia, quae per traditionem in ecclesiis observatur, auctoritatem sibi scriptae legis usurpaverunt." Hierzu erwähnt er unter anderem einige Praktiken im Zusammenhang mit der Taufe und dem Fasten und schließt seine Aufzählung mit den Worten: „multaque alia scripta non sunt, quae rationabilis sibi observatio vindicavit." 69 Beweise solcher Art für die ungeschriebenen apostolischen Traditionen finden sich auch bei Augustinus 70 , wie auch die Feststellung: „sunt 65 Ebenda MPG 32, 193D: αύτήν δέ την όμολο-yíap της πίστεως εις Πατέρα και Τίον και äyiov Πνεύμα έκ ποίων -γραμμάτων ίίχομεν; 66 Adv. haer. Lib. II. MPG, 41, 1048B: Αεί δ è και παρα&όαει κεχρήσθαι oiyàp •πάντα airó της θείας Γραφής δύναται λαμβάνεσθαι. Διό τα μεν έν Ύραφαίς, τα δε èv παρα&όσει παρέδωκαν οί άγιοι άποστολοι. 67

In epist. II ad Thess. cap. II, hom. 4 MPG 62, 488: 'Εντεύθεν

δήλον δτι où

πάντα δί επιστολής παρεδίδοσαν, άλλα πολλά και ά^ράφος ομοίως δ è κάκείνα και ταύτα έστο> άξυόπιστα. ώστε και την παράδοσυν της Έκκλεσίας αξιόπιστοι ήτ ώμετα. 68 69 70

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In epist. ad Phillip, h o m 3 MPG 6 2 , 2 0 4 . Dial. ctr. Lucif. MPL 2 3 , 172 A. Epist. 5 4 , 1 MPL 3 3 , 2 0 0 .

multa quae universa tenet Ecclesia, et ob hoc ab Apostolis praecepta bene creduntur, quanquam scripta non reperiantur." 7 1 Die Praxis der Kindertaufe führte er auf die apostolische Tradition zurück: „Consuetudo matris Ecclesiae in baptisandis parvulis nequaquam spernenda est, neque ullo modo superflua, nec omnino credenda, nisi apostolica esset traditio." 7 2 Eine bedeutende Schrift aus der alten Kirche, auf die sich die orthodoxen Theologen auch berufen, und in der einige wichtige Aspekte des Traditionsverständnisses zur Sprache kommen, stellt das Werk des Vinzenz von Lerinum dar: ,,Commonitorium pro catholicae fidei antiquitate et universitate adversus profanas omnium haereticorum novitates." Von dem seine Überlegungen beherrschenden Gedanken der Reinerhaltung des Glaubens kommt der gallische Mönch auf die Schrift und die Tradition ζμ sprechen als den zwei Weisen, auf die der wahre Glaube bewahrt wird: „duplici modo munire fidem suam, Domino adjuvante, deberet: primum scilicet divinae legis auctoritate, tum deinde Ecclesiae catholicae traditione." 7 3 Daraus geht eindeutig hervor, daß es um denselben Glauben geht, den die Schrift und die Tradition enthalten, und daß diese beiden nicht als zwei Quellen verschiedener Wahrheiten zu verstehen sind, sondern als zwei „modi", durch die ein- und derselbe Glaube bezeugt wird. Wenn die Tradition neben der Schrift erwähnt wird, dann nicht, weil die letztere in ihrem Glaubensgehalt unvollkommen ist. An der Vollkommenheit der Schrift besteht für ihn kein Zweifel: „Cum sit perfectus Scripturarum Canon, sibique ad omnia satis superque sufficiat." 7 4 Ebenso stellt sich nun auch die Frage nach der Berechtigung der Tradition, wenn die Schrift vollkommen ist. Der Grund dafür, daß es die Tradition geben muß, liegt nicht darin, daß durch sie der Inhalt der Schrift vervollkommnet wird: „non quia Canon solus non sibi ad universa sufficiat." 7 5 Die Aufgabe der Tradition und überhaupt ihr Existenzgrund bestehen nicht in der Ergänzung der Schrift, sondern darin, zu ihrem richtigen Verständnis zu verhelfen. 7 6 Weil die Schrift anders von Sabelius und wiederum anders von Arius und Macedonius und von jedem Häretiker, der sich auf die Schrift beruft, anders verstanden wird, ist es notwendig, daß man sie im Sinne der Lehre der Kirche interpretiert, ,,ut propheticae et apostolicae interpretationis linea secundum Ecclesiastici et Catholici sensus normam dirigatur." 7 7 71 72 73 74 75 76 77

De bapt. ctr. Donat. Lib. V, 31 MPL 4 3 , 192. CSEL 2 8 , 1 Ed. J. Zycha, 1894, S. 3 2 7 . Zit. nach J . Beumer, a.a.O., S. 39, Anm. 31. MPL, 5 0 , 6 3 9 - 6 4 0 . Ebenda, 6 4 0 . Ebenda, 6 7 7 . Ebenda, 6 4 0 . Ebenda.

233

Die Kriterien, an denen man die richtige Tradition der Kirche erkennen kann, die allein das rechte Verständnis der Schrift garantiert, sind die Universalität, die Antiquität und der Konsensus, die als Beweise dafür gelten, daß es sich nicht um partikuläre Meinungen, sondern um die maßgebliche Lehre der Kirche handelt: „In ipsa item Catholica Ecclesia magnopere curandum est ut id teneamus quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum e s t . " 7 8 Es ist nicht zu übersehen, mit welchem Nachdruck Vinzenz von Lerinum für die Bewahrung des alten Glaubens eintritt und sich gegen Neuerungen im Glauben wendet, wobei die Funktion der Tradition nach ihm zu einem großen Teil in der Erhaltung der überkommenen und vom allgemeinen Konsensus getragenen Lehre der Kirche besteht 7 9 . In diesem Sinne legt er im Kap. VIII die Stelle aus Gal. 1,8 und im Kap. XXII die Mahnung des Paulus an Timotheus dar, das anvertraute Gut zu bewahren (1. Tim. 6,20 und 2. Tim. 1,14). Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht sein Kommentar dazu, in dem er auf den objektiv gegebenen Inhalt der Tradition hinweist, der von den Menschen weder erfunden noch zu verändern, sondern zu bewahren ist 8 0 . So sehr Vinzenz von Lerinum einerseits auch auf der Unveränderlichkeit des Glaubensgutes beharrt und ein vitales Anliegen an der bewahrenden Funktion der Tradition zeigt, durch die die Identität und die Kontinuität des Glaubens gewährleistet werden, so ist die Tradition für ihn andererseits nicht nur ein Mittel zur Konservierung der geoffenbarten Lehre oder einem statischen Depositum gleich, sondern neben ihrem objektiven gleichbleibenden Inhalt weist er zugleich vor allem im Kap. XXIII auf eine Entwicklung hin, die sich in dem Traditionsprozeß vollzieht und damit auf ihren dynamischen Aspekt. Auch der Glaube kennt einen Fortschritt, allerdings einen, der nicht eine substantielle Änderung der Offenbarung bedeutet. „Sed ita tarnen ut vere profectus sit ille fidei, non permutado." 8 1 Die dynamische Entwicklung der Tradition vollzieht sich auf der Grundlage der objektiven Gegebenheiten des Glaubens und ist nur als Erweiterung und Vertiefung des ein für allemal geltenden und in sich selbst identisch bleibenden geoffenbarten „Sach"-Gehaltes der Tradition und nicht als eine wesenhafte Sinnänderung der Glaubenswahrheiten 82 zu verstehen. Es handelt sich um einen

78 79 80

81 82

234

Ebenda. Vgl. G . G . B l u m , a . a . O . , S . 1 2 7 . A . a . O . , 6 6 7 : „ Q u i d est depositum? id est, q u o d tibi c r e d i t u m est, n o n q u o d a te i n v e n t u m ; q u o d accepisti, n o n q u o d e x c o g i t a s t i ; r e m n o n ingenii, s e d doctrinae, n o n u s u r p a t i o n i s privatae, s e d p u b l i c a e traditionis; r e m a d te p e r d u c t a m , n o n a te p r o l a t a m : in q u a n o n a u c t o r d e b e s esse, sed c u s t o s ; n o n institutor, sed s e c t a t o r ; n o n d u c e n s , sed s e q u e n s . Depositum, inquit, custodi; c a t h o l i c a e fidei talen t u m inviolatum i l l i b a t u m q u e c o n s e r v a . " Ebenda, 6 6 7 - 6 6 8 . Ebenda, 668.

Fortschritt auf der Basis der Unveränderlichkeit des Glaubens, der in der möglicherweise ständig wachsenden menschlichen Erkenntnis derselben Glaubenswahrheiten der Offenbarung besteht 83 . Dieser Fortschritt, der bei ihm allerdings die Zeichen einer mehr intellektuellen 84 Durchdringung des in seinem Sinn nicht zu verändernden Dogmas trägt, wird am Beispiel der Entwicklung des menschlichen und pflanzlichen Organismus verdeutlicht, der in seiner Entfaltung sich nicht wesenhaft von seinem Anfangskern, aus dem er entsteht, entfremdet 8 5 . Auch wenn das Verhältnis von Schrift und Tradition von Vinzenz von Lerinum nicht eingehend dargestellt und nicht direkt zum Objekt seiner Überlegungen wurde, so wird dieses jedoch in seinen Grundzügen so bestimmt, daß die Tradition als die legitime und allein zuverlässige Auslegung der Schrift verstanden wird. Weder die Schrift noch die Tradition gehen inhaltlich über die jeweils andere hinaus. Eine Konkurrenz zwischen Schrift und Tradition läßt sich bei ihm nicht finden. Bejaht er auch die Vollkommenheit der Schrift, so wird sie jedoch nicht gegen die Tradition ausgespielt: „Quando aliquos apostolica seu prophetica verba proferre contra catholicam fidem viderimus, diabolum per eos loqui minime dubitemus." 8 6 Aus den Zeugnissen der alten Kirche sei nur noch Joh. von Damaskus angeführt, der gegen Ende des patristischen Zeitalters, wie schon manche Kirchenväter vor ihm, die Meinung vertrat, daß vieles verehrungswürdig sei, das der Kirche außerhalb der Schrift überliefert wurde. Darunter erwähnt er die bekannten Beispiele des Vollzugs der Taufe durch dreimaliges Untertauchen, das Gebet nach Osten und die Verehrung des Kreuzes 87. Zusammenfassend könnte nun die Folgerung gezogen werden, daß, wenn alle diese Aussagen die verbreitete Überzeugung von der Existenz einer nur mündlich überlieferten Tradition bekräftigen, die größtenteils auf die apostolische Zeit zurückgeht 88 , aber wiederum nicht gänzlich als von den Aposteln selbst eingesetzt betrachtet werden kann 8 9 , man aus dem Bestehen einer in der Schrift nicht aufgezeichneten Tradition jedoch nicht die Meinung vertreten kann, daß die Tradition eine unabhängige zweite Quelle der Offenbarung ist, wenn sich nicht herausstellt, daß 83

84 85 86 87 88 89

Ebenda: „Crescat igitur oportet et multum vehementerque proficiat tarn singulorum quam omnium, tarn unius hominis quam totius Ecclesiae aetatutum ac seculorum gradibus, intelligentia, scientia, sapientia, sed in suo duntaxat genere, in eodem scilicet dogmate." Vgl. G.G. Blum, a.a.O., S. 130. A.a.O., 668: „nihil tarnen de germinis proprietate mutetur: addatur licet species, forma, disiinctio, eadem tarnen cujusque generis natura permaneat." Ebenda, 673. De imag. oratio II MPG 94, 1302 D. Y. Congar, a.a.O., S. 89 und 91. J. Beumer, a.a.O., S. 38.

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diesen Traditionsformen Glaubensinhalte zugrunde liegen, die es in der Schrift nicht gibt. Wenn man die Aussagen der Väter, die auf die Existenz einer nur mündlich überlieferten Tradition hinweisen, und die zu ihrer Bestätigung angeführten Beispiele näher betrachtet, wird man nicht zu der Feststellung gelangen können, daß sie andere Wahrheiten zum Ausdruck bringen als die, die in der Schrift festgelegt wurden. Zu einem solchen Ergebnis ist man bis heute nicht gelangt, vielmehr hat man früher solche Aussagen gelten lassen und auf sie die Auffassung gestützt, daß die Tradition auch andere Glaubensinhalte als die Schrift aufzuweisen hat. Weil man nicht nach den Glaubensinhalten mündlich überlieferter Traditionen gefragt hat, hat man die angegebenen Beispiele, die als Ausdruck bestimmter Offenbarungsinhalte zu verstehen sind, als einen Beweis für andere Wahrheiten betrachtet, die in der Schrift nicht enthalten sind, obwohl sie in der Tat über den Glaubensinhalt der Schrift nicht hinausgehen. Nicht ohne Bedeutung sollten in dieser Hinsicht die Ergebnisse sein, zu denen Y. Congar nach eingehender Untersuchung der ungeschriebenen apostolischen Traditionen gekommen ist, gerade weil sie aus der Reihe katholischer Theologen stammen und heute von ihrer Mehrheit vertreten werden, nämlich, daß es sich bei diesen hauptsächlich um liturgische Bräuche und Praktiken sowie Disziplinhinweise handelt, hinter denen keine neuen Glaubenswahrheiten stehen, die aus der Schrift nicht herzuleiten wären. Die Tradition ist dementsprechend als „eine andere, ergänzende Form der Mitteilung" der Offenbarungswahrheiten zu verstehen, diese aber sind auch in der Schrift „ausreichend und vollkomm e n " wiedergegeben 9 0 . Ein anderer katholischer Theologe, der das Traditionsverständnis in der alten Kirche untersucht hat, stellt wiederum fest, daß sich Schrift und Tradition auf dasselbe Objekt beziehen und daß die echte Aufgabe der Tradition nach der Theologie der Väter die Schrift selber ist, „um deren Umfang festzulegen, ihre Autorität für das christliche Bewußtsein geltend zu machen und ihren Sinn des näheren zu erläutern" 9 1 . Auch in der neueren orthodoxen Theologie mehren sich die Stimmen derer, die nach dem Studium der Tradition im patristischen Denken zu demselben Ergebnis gelangen, nach dem die Tradition eine Auslegungsfunktion gegenüber der Schrift erfüllt und ihr keine neuen Glaubenswahrheiten hinzufügt. In diesem Sinne äußert sich Florovsky hierzu: „Tradition was in the Early Church, first of all, a hermeneutical principle and method. Scripture could be rightly and fully assessed and understood only in the light and in the context of the living Apostolic Tradition, which was an integral factor of Christian existence. It was so, of course, not because Tradition could add anything to what has been 90 A.a.O., S. 91. 91 J. Beumer, a.a.O., S. 37.

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manifested in the Scripture, but because it provided that living context, the comprehensive perspective, in which only the true .intention' and the total .design' of the Holy Writ, resp. of the Divine Revelation itself, could be detected and grasped." 9 2 Nach der Theologie der alten Kirche ist der Unterschied zwischen Schrift und Tradition formaler, nicht inhaltlicher Art. Hinter der Behauptung der Kirchenväter, daß es vieles gibt, das nur durch die Tradition überliefert wurde, wird man jedoch keine neuen Offenbarungswahrheiten sehen dürfen, sondern das, was sie selbst angeben, nämlich gottesdienstliche Formen, die aus der praktischen Anwendung und Entfaltung der Offenbarungswahrheiten zu verstehen sind. Die Schrift umfaßt alles, was heilsnotwendig ist, während die Funktion der Tradition in der Mitteilung, Entfaltung und Auslegung des Heilsgeschehens besteht. In der Auseinandersetzung mit den Häresien wurde die Notwendigkeit deutlich, daß die Schrift nur in der Kirche und von der Tradition her richtig zu verstehen ist. Dabei stellte sich die hermeneutische Funktion der Tradition heraus. Wichtig für das Traditionsverständnis der alten Kirche ist ihr enger Zusammenhang mit dem liturgischen Leben der Kirche. Die Vollkommenheit der Schrift, wie sie von den Kirchenvätern verstanden wird, wertet keineswegs die Tradition ab und kann nur in einem lebensvollen Zusammenhang mit ihr vertreten werden. Weder die Vollkommenheit der Schrift, die die Kirchenväter unmißverständlich zum Ausdruck bringen, noch die Äußerungen meist derselben, daß in der Tradition noch mehr als in der Schrift enthalten sei, schließen sich gegenseitig aus, vielmehr können beide vertreten werden, ohne daß dadurch die Vollkommenheit der Schrift Einbuße erleidet und die Tradition zur unabhängigen und die Schrift ergänzenden Quelle der Offenbarung wird. Diese zwei Arten von Aussagen, die die Kirchenväter über Schrift und Tradition machten, dienten als Ansätze zu zwei Tendenzen unter den orthodoxen Theologen in Bezug auf das Verhältnis von Schrift und Tradition, die im folgenden näher dargestellt werden.

3. Die Überprüfung des Traditionsverständnisses orthodoxen Theologie

in der

Wenn unter den orthodoxen Theologen größtenteils Übereinstimmung besteht, dann bildet ihr Verständnis von der Tradition bestimmt eine Ausnahme. Ihre Uneinigkeit wird man jedoch unter den Meinungsverschiedenheiten einzuordnen haben, die keine tiefgreifende Spaltung bewirken, denn es handelt sich hier um verschiedene theologische Ansich92

The Function of the Tradition S. 187; ähnlich will auch N. Chitescu die Tradition in der alten Kirche verstanden wissen, in: Schrift, Tradition und Traditionen, in: Ortodoxia Nr. 3 - 4 , S. 3 8 1 - 3 9 1 (rum.).

237

ten über ein Problem, das bis jetzt von keinem ökumenischen Konzil verbindlich festgelegt wurde, und nicht um wesentliche Unterschiede in einer dogmatischen Entscheidung der Kirche, die deren Glaubenseinheit in Frage stellen würde. Die Auffassung von der Tradition und ihrem Verhältnis zur Schrift bewegen sich bei den orthodoxen Theologen von dem Verständnis der Tradition als einer die Schrift in manchem ergänzende zweite Quelle der Offenbarung bis dahin, daß sie mit dem Inhalt der Schrift übereinstimmt und zu deren Auslegung dient 1 . Diese letzte Überlegung wird von der Mehrheit der Theologen in Erwägung gezogen, wobei man nicht bei dem einfachen Verständnis der Tradition als bloße Auslegung der Schrift stehenbleibt, sondern diese auch als ein geistgewirktes gottesdienstlich-sakramentales Geschehen betrachtet. a) Die Überwindung des Traditionsverständnisses als Ergänzung der Schrift Bevor jedoch das Traditionsverständnis in der zeitgenössischen orthodoxen Theologie analysiert wird, sollen zunächst unter dem Gesichtspunkt des Schrift-Traditionsverhältnisses jene Schriften aus dem 17. Jahrhundert berücksichtigt werden, die in der orthodoxen Kirche ein gewisses Ansehen genießen und unter dem Namen „Symbolische Bücher" bekannt sind, wobei gesagt werden soll, daß ihnen nur eine relative Autorität eingeräumt wird, die der der altkirchlichen Symbole nicht gleichkommt 2 , und die auch nicht im Sinne der protestantischen Bekenntnisschriften zu verstehen sind. Nicht weiter vertieft als bei den Kirchenvätern finden sich in diesen Schriften inhaltliche Aussagen über die Beziehung zwischen Schrift und Tradition. Das Problem des Verhältnisses von Schrift und Tradition tritt in der Confessio Orthodoxa von Jasi (1643) dort auf, wo es um die Frage geht, wie die Glaubenswahrheiten weitergegeben wurden. Die Kirche empfängt einen Teil von ihnen aus der Schrift und einen anderen Teil aus der mündlichen Tradition, ohne daß aber darauf eingegangen wird, welche die Glaubenswahrheiten sind, die allein durch die Tradition bzw. nur durch die Schrift überliefert wurden. 3 In diesem Bekenntnis von Petru Movila wird darauf bestanden, daß es der Kirche als einem „Pfei1

2

3

238

Auch für diejenigen Theologen, die die Tradition nicht als die Schrift ergänzende Quelle der Offenbarung betrachten, gilt sie jedoch als Quelle der Heilswahrheit. Vgl. J. Karmiris, Abriß der dogmatischen Lehre der o r t h o d o x e n katholischen Kirche, in: Die orthodoxe Kirche in griechischer Sicht, Bd. I, Hrsg. P. Bratsiotis, Stuttgart 1959, S. 24 f. Hrsg. K.J. Kimmel, Monumenta fidei ecclesiae orientalis, Pars I, Jena 1850, S. 60.

1er und Grundfeste der Wahrheit" (1. Thim. 3,15) zuerst zusteht, die Schrift zu deuten: „Ad haec ea etiam instructa potestate est ecclesia, u t per synodas oecumenicas examinare atque approbare queat scripturas."4 Es gehört zu den Grundsätzen der o r t h o d o x e n Lehre, daß die Kirche die höchste Garantie dafür bietet, die Schrift richtig zu verstehen. Diese Auffassung wird in dem Bekenntnis von Dosithe von Jerusalem (1672) besonders hervorgehoben, wo es heißt, daß man an die Schrift glauben muß, aber so, wie sie von der Kirche und ihrer Tradition interpretiert wird. 5 Die Berechtigung dieser Forderung erscheint um so eindringlicher angesichts verschiedener häretischer Auslegungen, die nur möglich waren, weil sie die Tradition der Kirche als Norm der Auslegung nicht erkannten, obwohl sie sich auch an die Schrift zu halten glaubten. Wenn jeder eine andere Meinung verträte, die sich möglicherweise noch änderte, würde sich die Kirche mit ihrem einen Glauben auflösen. 6 Auch in dem von Metrophanes Critopoulos in Helmstädt am Anfang des 17. J a h r h u n d e r t s verfaßten Bekenntnis 7 wird die Bedeutung der Kirche für das Verständnis der Schrift in den Vordergrund gestellt. Die Schrift ist der Kirche von G o t t als ein kostbarer Schatz anvertraut. Der Dienst der Kirche an der Schrift besteht darin, sie treu zu bewahren, so daß ihr nichts hinzugefügt noch etwas von ihr ausgelassen werden darf: μηδέν προστιθβίσα ή άφαφούσα èKeWei'"8 Ebenso k o m m t der Kirche die Aufgabe zu, die weniger verständlichen Stellen der Schrift zu erhellen. Aufgrund des Dienstes der Kirche an der Schrift verdient sie, „columna et f i r m a m e n t u m veritatis" genannt zu w e r d e n 9 Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß der Kirche die Aufgabe der Bewahrung und der Auslegung der Schrift z u k o m m t , aber daß sie sich dadurch der Schrift nicht bemächtigen kann, sondern der in ihr enthaltenen Heilswahrheit zu dienen hat: ώ ς ύποστηρίξουσα και διατηρούσα και όρθοδόξως ταύτη ν έρμηνβύουσα και ταύτης μέχρι θανάτου ύπερασπίξουσα.10 Sowohl in der Schrift als auch in der Tradition ist nach Mitrophanes Christopoulos das Wort Gottes enthalten, so daß es sich auf beide verteilt: Διαιρβϊται δέ το θβϊον ρημα έίς re rò ypanròv και α-γραπτον.11 4

Ebenda, S. 159.

5

Confessio, in: Kimmel, a.a.O., S. 426: Πιστεύομεν την θείον και 'ιερόν -γραφήν

είναι θεοδίδασκον, και διά τούτο ταύτη ¿¿(.ατάκτως πιστεύει» όφείλομεν, οϋκ άλλως μέντοι άλλ' η ώς ή καθολική έκκλησία ταντην ήρμήνευοε και •παρεδωκεν. 6 7 8 9 10 11

Ebenda. Confessio catholicae et apostolicae in Oriente ecclesiae, in: Kimmel, a.a.O., Pars II. Ebenda, S. 106. Ebenda, S. 107. Ebenda. Ebenda, S. 104.

239

Der Traditionsbegriff scheint nach ihm seinen Schwerpunkt im sakramentalen und gottesdienstlichen Leben der Kirche zu haben, wobei der Prozeß der Überlieferung als ein geistgewirktes Geschehen erscheint 1 2 . Dies ist ein wichtiger Aspekt der Tradition, der ihrem Verständnis in der Ostkirche ein eigenes Gepräge verleiht. Der Begriff der Tradition weist auf einen unmittelbaren Bezug zu den Sakramenten und dem Gottesdienst hin, der allerdings auch in der Schrift festzustellen ist. Dieser tritt für die Tradition in einer gewissen Hinsicht noch mehr hervor, nämlich daß hier auch der Vollzug der Sakramente und anderer gottesdienstlicher Formen näher bestimmt wird. Auch in der Schrift werden die Sakramente angeordnet; wie sie aber vollzogen werden, wird in ihr nicht so ausführlich dargelegt 13 . An den oben erwähnten „symbolischen Büchern" läßt sich feststellen, daß die Tradition als eine Quelle der Offenbarung dargestellt wird, die als Ergänzung der Schrift verstanden wird. Dies war bis vor kurzer Zeit eine verbreitete Meinung auch in der orthodoxen Kirche. Diese Auffassung soll am Beispiel einiger ihrer Befürworter erläutert werden, die sie unmißverständlich vertraten, wenngleich auch von vornherein gesagt werden soll, daß ihr Standpunkt sich als nicht frei von Widersprüchen erweist. Wenn Androutsos von der ungeschriebenen Tradition spricht, die der Kirche von den Aposteln überliefert wurde und sich in den Konzilsentscheidungen, in den Schriften der Väter und in der Praxis der Kirche befindet, und dabei ihren dogmatischen und ihren liturgischen Aspekt sowie Anordnungen zur Kirchenführung unterscheidet, so reicht inhaltlich der Umfang seines Traditionsverständnisses über den heilszusprechenden Glaubensgehalt der Schrift hinaus, wenn der behauptet, daß die Tradition Dogmen enthält, die „in der Schrift entweder fehlen oder sich in ihr nur in einer undeutlichen und überschatteten Form wiederfinden" 1 4 . Für ihn ist es nicht annehmbar, daß die Tradition keine anderen Lehren als die Schrift enthalten kann. Entschieden wendet er sich gegen eine solche Auffassung und spricht sich kategorisch dafür aus, daß sich die Tradition nicht auf den Inhalt der Schrift zu beschränken, sondern noch anderes aufzuweisen habe: „Wir drücken deutlich aus, daß die Tradition auch Lehren umfaßt, die in der Schrift nicht oder undeutlich enthalten sind." 1 5 Hierin liegt auch der Grund, aus dem nach ihm die Tradition als mit der Schrift gleichwertige Offenbarungsquelle zu betrachten ist 1 6 . 12

Ebenda, S. 107.

13 Ή μεν yàp αγία yραφή προστακτικών ήμϊν έπιτάττει και μυστήρια • πώς δέ και τίνι τρόπω ταύτα ιερουργητέον, ού λέγει. Ή έκκλητία δέ έξ άγιου πνεύματος κινούμενη τον τρόπον διατάττει, τα πολλά μέντοι έκ της αγίας γραφής συλλéyoυσa. 14 15 16

240

A.a.O., S. 97. Ebenda, S. 98. Ebenda, S. 99.

Androutsos glaubt, daß die Autorität der Tradition geschwächt wird, wenn für jede dogmatische Lehre eine biblische Begründung notwendig ist, als ob es nicht ausreichen würde, sie allein aus der Tradition nachzuweisen. Seine Befürchtung, nach der die dogmatische Festigkeit des orthodoxen Lehrsystems ins Schwanken geriete, wenn für die Gültigkeit jeder dogmatischen Lehre neben dem Beweis aus der Tradition notwendigerweise die biblische Bestätigung hinzukommen muß, ist unbegründet. Es gehört grundsätzlich auch zu der orthodoxen Auffassung, daß jede dogmatische Lehre als unausweichliche Bedingung für ihre Anerkennung auch der biblischen Begründung bedarf. Eine solche dogmatische Lehre, für deren Rechtfertigung der Schriftbeweis nicht notwendig verlangt wird, ist uns unbekannt. Die so eindeutig ausgesprochenen Behauptungen Androutsos', daß die Tradition auch andere dogmatische Lehren als die Schrift enthält, lassen sich wiederum mit seinen eigenen Aussagen nicht vereinbaren, nach denen er die dogmatische Suffizienz der Schrift bejaht: „Es ist deutlich genug, daß die Schrift, wenn sie im Lichte der Heiligen Tradition untersucht wird, als die sich selbst genügende und zugleich vollkommene Schatzkammer christlicher Wahrheiten erscheint." 1 7 Um dies zu bekräftigen, beruft er sich auf einige Kirchenväter und stellt fest, daß diese die Schrift als einen „vollkommenen Kodex der Dogmen" 1 8 betrachteten. Dazu gehört, daß auch nach. Androutsos die Wahrhaftigkeit der Tradition darin zum Vorschein kommt, daß sie der Schrift nicht widersprechen darf 1 9 Mit der von ihm anerkannten Genügsamkeit der Schrift liefert er selbst das Argument gegen seine früheren Äußerungen, denn es kann nicht beides zugleich gesagt werden, nämlich daß zur Tradition einerseits auch andere Glaubenswahrheiten gehören, die in der Schrift nicht zu finden sind, und daß man gleichzeitig andererseits annimmt, daß in der Schrift die Heilswahrheit vollständig bezeugt wurde. Indem die Schrift im wesentlichen als Summe der geoffenbarten Heilswahrheiten anerkannt wird, ist damit ausgeschlossen, daß die Tradition sie in dieser Hinsicht mit heilsnotwendigen Lehren überbieten und ergänzen kann. Um den Gedanken von der Tradition als zweite und die Schrift ergänzende Offenbarungsquelle aufrechtzuerhalten, muß angenommen werden, daß die Heilige Schrift nicht alle Glaubenswahrheiten enthält, die zur Erlangung des Heils notwendig sind, was ja Androutsos auch nicht vertritt, sondern im Gegenteil sich zu der Vollständigkeit des Glaubens der Schrift bekennt. Wichtige Ansätze zum Verständnis der Tradition finden sich in den Ausführungen Androutsos', wenn er von ihrer hermeneutischen Funk17 Ebenda. 18 Ebenda, S. 100. 19 Ebenda, S. 99.

241

tion spricht und davon, daß das eigentlich Vorwiegende der Tradition im Bereich des Sakramentsvollzuges und des Gottesdienstes liegt 20 . Die Tradition ist für ihn „der beste exegetische Kommentar für das Verständnis der Schrift", weil sie die undeutlicheren Stellen der Schrift beleuchtet und den Blick sowohl für ihren Gesamtsinn als auch für einzelne Teile in ihrem einheitlichen Zusammenhang eröffnet 2 1 . Neben Schrift und Tradition tritt bei Androutsos die Kirche besonders hervor, anscheinend jedoch in der Weise, daß sie die Autorität, die sie besitzt, nicht aus ihrer Zusammengehörigkeit mit diesen beiden erhält 2 2 . Die Kirche wird mit einer Autorität ausgestattet, die ihr nicht aufgrund der Einheit mit diesen und als rechtmäßiger Auslegerin der Schrift zusteht, sondern sie besitzt diese auf irgendeine Weise außerhalb dieses Kreises, indem sie vom Heiligen Geist geleitet wird. Sie ist nicht nur Interpret, sondern auch Richter der Quellen der Offenbarung 2 3 . Es ist offenkundig, daß Antroutsos den Bogen überspannt, was die Autorität der Kirche betrifft, und die Tendenz zeigt, sie sogar über Schrift und Tradition zu stellen, oder sie wenigstens als eine andere Instanz mit eigener unabhängiger Autorität neben diese beiden zu setzen. Das ungleiche Verhältnis von Schrift, Tradition und Kirche kommt auch darin zum Ausdruck, daß, während einerseits die Kirche der höchste Richter genannt wird, der von dem göttlichen Ursprung der Schrift und der Tradition zeugt, ihre Autorität andererseits der Bezeugung und der Bestätigung durch Schrift oder Tradition nicht bedarf 2 4 . Es ist nicht notwendig, ihre Autorität von diesen abzuleiten, weil sie sich aufgrund des Versprechens des Herrn immer unmittelbar bewußt war, daß er bei ihr bleibt und seinen Geist entsenden wird, der sie in alle Wahrheit leitet 2 5 . Androutsos' Überlegungen über die Autorität der Kirche und ihr Verhältnis zu der Schrift und der Tradition erwecken den Eindruck, daß das Verbleiben des Herrn in der Kirche und der Beistand des Heiligen Geistes als Ereignisse aufgefaßt werden, die nicht in einem inneren Zusammenhang mit dem geoffenbarten Wort der Schrift und dem lebendigen Zeugnis der Tradition stehen, sondern als ob sie unabhängig davon geschähen und nicht als Folge davon und unter der Bedingung, daß die Kirche die Schrift empfängt und treu bewahrt. Wenn Jesus Christus bis ans Ende der Zeiten in der Kirche bleibt und ihr den Heiligen Geist verspricht, dann nur, wenn sie der Schrift folgt und seine in ihr enthaltenen Worte hört. Der Heilige Geist wird ihr nichts Neues offenbaren, sondern sie in derselben Wahrheit führen, die von Jesus Christus geof-

20 21 22 23 24 25

242

Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 99. Vgl. N. Chitescu, Schrift, Tradition . Androutsos', a.a.O., S. 105. Ebenda, 110 f. Ebenda, 111.

S. 3 9 7 .

fenbart und in der Schrift niedergelegt wurde. So könnte nicht mehr gesagt werden, daß die Autorität der Kirche nicht mehr auf die Schrift und die Tradition begründet zu werden braucht. Jesus Christus will bestimmt keine Kirche, die sich über seine Worte stellt. Jene Kirche verfiele in einen reinen Subjektivismus, wenn sie sich nicht an das Kriterium der Schrift hielte und an die auf die Apostel zurückgehende Tradition, in der sie die konkrete Anwendung und Entfaltung der Glaubenswahrheiten findet. Nur so kann sie auch sicher sein, daß Jesus Christus im Heiligen Geist in ihr anwesend und wirkend ist. Sie besitzt Autorität nicht aus sich selbst, sondern empfängt sie von Jesus Christus, der durch Schrift und Tradition sein einmaliges Heilsgeschehen in ihr immer neu kraft des Heiligen Geistes bewirkt. Bei einigen orthodoxen Theologen könnte leicht der Eindruck entsteh e n , daß sie der Meinung seien, die Kirche besäße ein Kriterium der Wahrheit auch außerhalb der Schrift, nämlich im Heiligen Geist. Hierzu schreibt Staniloae: „Wir meinen aber, daß der Heilige Geist nur zur Bewahrung und zum Verständnis der gegebenen Offenbarung leitet. Er schließt das äußere objektive Kriterium, das dazu dient, um vor einer subjektiven Illusion zu bewahren, nicht aus. Wenn das innere Kriterium des Heiligen Geistes ausreichen würde, warum wurde dann auch noch die Schrift gegeben, oder eine Offenbarung, die überall und für alle Zeiten festgelegt ist? " 2 6 Auch die Autorität der dogmatischen Entscheidungen der ökumenischen Konzilien möchte Androutsos in seiner Auseinandersetzung mit Damalas nicht aus ihrer Übereinstimmung mit der Schrift verstehen, sondern von der Autorität der Kirche her, die sie beschlossen hat: „Demgegenüber ist die Kirche diejenige, die den übernatürlichen Charakter der Schrift bestätigt und die, die das Dogma aus der Schrift und der Tradition als absolut und mit Autorität proklamiert." 27 Dieser Satz aber, der die Autorität der Kirche unterstreichen soll, zeigt sich bei näherer Betrachtung hierzu wenig geeignet, denn er besagt selbst, daß das, was die Kirche tut, nur darin besteht, die Schrift zu bestätigen und das Dogma zu proklamieren. Wenn die Schrift nicht schon einen übernatürlichen Charakter besäße, wie könnte die Kirche sie mit einem solchen ausstatten? In Schrift und Tradition ist das Dogma schon enthalten; die Kirche stellt es heraus und proklamiert es. Auch dieser Akt der Kirche kann unmöglich als Beweis für eine größere Autorität der Kirche gegenüber der Schrift angeführt werden. Dieses Argument, das in der orthodoxen Theologie oft herangezogen wird, spricht für einen nicht zu Ende geführten Gedankengang, denn man gelangt dabei nur zu der Feststellung der Autorität der Kirche, die die neutestamentlichen Schriften kanonisiert und das Dogma formuliert hat, diese jedoch werden nicht 26 27

Die Heilige Tradition . Ebenda, S. 109.

S. 60.

243

erst durch diesen Akt apostolische Schriften, und ihnen wird Autorität als Gottes Wort nicht erst jetzt und von außen her verliehen. Sie sind das, wofür sie die Kirche hält und als das sie sie anerkennt, von sich aus, weil sie die göttliche Offenbarung enthält. Man sollte dabei nicht nur die Autorität der Kirche feststellen, sondern auch die dieser Schriften. Sicherlich stellt sich bei der Kanonisierung des Neuen Testamentes die Autorität der Kirche heraus, aber nicht als eine, die über ihm steht und über es verfügt. Man kommt dabei zu einer Überordnung der Autorität der Kirche über die Schrift, weil man beide in einem Gegenüber und nicht in ihrer Zusammengehörigkeit betrachtet. Die Kirche ist vom Wort Gottes, das sie aus der Schrift hört, durchdrungen und macht die Erfahrung, daß die apostolischen Schriften von der göttlichen Wahrheit erfüllt sind und deshalb ist ihre Entscheidung über sie nicht eine äußere und die einer fremden Instanz, sondern in ihrem pneumadurchwirkten Akt der Kanonisierung tritt die Macht des geoffenbarten Wortes hervor, das in der Kirche spricht und sie mit entsprechender Autorität versieht, weil sie es sich angeeignet hat und es gehorsam aufnimmt. So bestimmt die Kirche nicht souverän über die apostolischen Schriften, sondern in ihr und durch sie setzen sich diese Schriften durch. Die Kirche weiß, daß diese Schriften apostolisch sind und daß in ihnen die Offenbarung Gottes niedergelegt wurde und erkennt sie als solche nicht nur aus ihrer Selbstevidenz, sondern in ihrer Erkenntnis von der in ihnen enthaltenen Offenbarung wird sie durch die ungeschriebene Tradition bestärkt und vergewissert, die auf eine andere Weise dasselbe Heilsgeschehen in Christus bezeugt. Sie konnte bei der Auswahl der neutestamentlichen Schriften nicht mehr und nicht weniger als apostolische Botschaft annehmen als das, was sie aus der ungeschriebenen Tradition kannte, und hatte wiederum in dem, was schriftlich fixiert wurde, ein Kriterium für das, was in der ungeschriebenen Tradition apostolisch war. Es galt als apostolisch, was von beiden Seiten bestätigt werden konnte. Es entspricht durchaus nicht dem Geist der orthodoxen theologischen Tradition, Schrift und Tradition in einem Konkurrenzverhältnis zu sehen. Die Kirche kann nicht die Oberhand über die Schrift gewinnen oder mit ihr rivalisieren, denn sie verkündet nicht mehr, als die Schrift enthält. Wenn Dositheos von Jerusalem, den Androutsos zitiert 2 8 , der Meinung ist, daß das Zeugnis der Kirche nicht weniger wichtig als das der Schrift ist, dann meint er damit nicht, daß der Gegenstand der Lehre der Kirche ein anderer wäre, dem, vergleichbar mit dem Inhalt der Schrift, gleiche Bedeutung zukäme, sondern diesem gleichwertig ist, weil beide inhaltlich identisch sind und die Kirche sich in ihrer Verkündigung an die Schrift hält. Die Kirche steht nicht auf der einen Seite

28

244

Ebenda.

und die Schrift auf der anderen mit ihren verschiedenen Zeugnissen, sondern wir empfangen die Heilsbotschaft der Schrift in der Verkündigung der Kirche. Auf dem Athener Kongreß (1936), wo sich hinsichtlich des Traditionsverständnisses unter den orthodoxen Theologen zwei Tendenzen deutlich abzeichneten, schlug E. Antoniadis 2 9 dieselbe Richtung wie Androutsos ein und vertrat die Ansicht, daß die Tradition, die er als zweite Offenbarungsquelle betrachtet, mit der Schrift absolut gleichzusetzen ist. Das Hauptargument dafür sieht er darin, daß in den neutestamentlichen Schriften nicht die ganze Offenbarung in Jesus Christus enthalten ist, sondern nur ein Teil davon, während der andere durch die Tradition übermittelt wird 3 0 . Die mündliche Überlieferung stellt Antoniadis als die Quelle der neutestamentlichen Schriften dar: „Die Schriften des Neuen Testamentes stellen also eine authentische Tradition dar, ein Zeugnis der kirchlichen Überlieferung, die ihnen als Quelle und Norm diente und die unabhängig von ihnen bestand und neben ihnen herging." 3 1 Antoniadis stellt die mündliche apostolische Tradition über die apostolischen Schriften und glaubt dies damit rechtfertigen zu können, daß die Tradition das Kriterium zur Feststellung und Abgrenzung der neutestamentlichen Schriften war 3 2 Vieles trifft in den Überlegungen von Antoniadis über die Tradition zweifellos zu, das Verhältnis von Schrift und Tradition wird jedoch zu sehr von der Bedeutung der Tradition vor der Feststellung des Kanons bestimmt, ja sogar bevor die neutestamentlichen Schriften erschienen. Auch wenn Antoniadis für eine absolute Gleichsetzung von Tradition und Schrift plädiert, bei der er die Tradition als „erklärend" und „ergänzend" neben die Schrift stellt, gesteht er jedoch ein, daß die Bibel „als höchste Glaubensnorm verehrt wurde" 3 3 . Trotz dieser Feststellung hält er daran fest, daß der Tradition ähnliche Bedeutung und Verehrung wie der Schrift gebührt, da in ihr ein Teil der in der Schrift nicht enthaltenen ursprünglichen apostolischen Überlieferung bewahrt wurde. Dieser nichtschriftlichen apostolischen Tradition, deren Zeit allerdings nach ihm bis ins 8. Jahrhundert, bis zum siebten ökumenischen Konzil hineinreicht 3 4 , begegnet man in der kirchlichen Tradition, und sie ist „teils in der kirchlichen Praxis, teils in den Schriften der apostolischen

29

Die orthodoxen hermeneutischen Grundprinzipien und Methoden der Auslegung des Neuen Testamentes und ihre theologischen Voraussetzungen, in: Procès-Verbaux, S. 1 4 3 - 1 7 4 . 30 Ebenda, S. 146. 31 Ebenda. 32 Ebenda. 33 Ebenda. 34 Ebenda, S. 149.

245

und nachapostolischen Väter, teils in den Beschlüssen der örtlichen und der ökumenischen Synoden enthalten" 3 5 . Die Behauptung, daß die Tradition die Schrift nicht nur erklärt, sondern sie auch ergänzt, läßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn bewiesen wird, daß der Glaubensgehalt der Schrift mit neuen glaubenswürdigen Inhalten aus der Tradition erweitert wird, was von Antoniadis unterlassen wurde. Die absolute Gleichheit der Tradition mit der Schrift, die er beansprucht, erfährt noch einmal eine Einschränkung, wenn er selbst eines der wesentlichen Merkmale der Tradition darin sieht, „daß nur diejenigen Lehren der Tradition wahr sind und Geltung haben, die nicht dem klaren und sicheren Zeugnis des neutestamentlichen Kanons widersprechen" 3 6 . Auch die Ausführungen von Joh. Karmiris über „Bedeutung und Quellen der orthodoxen Dogmen" 3 7 bewegen sich zwischen dem Verständnis der Tradition als die Schrift ergänzend und mit dieser gleichwertig und der Anerkennung der Priorität der Schrift. Im Verhältnis zueinander werden Schrift und Tradition als „zwei gleichwertige(n), gleichrangige^) und gleichstarke(n) Quellen für die dogmatischen Wahrheiten" betrachtet 3 8 . Die Gleichwertigkeit der Tradition mit der Schrift beruht nach Karmiris darauf, daß sie „nicht interpretierenden, sondern auch hinzufügenden und ergänzenden Charakter" hat 3 9 . Ausdrücklich spricht er davon, daß die Schrift „nur einen kleinen Teil der Offenbarung umschließt", während diese der Kirche durch die Tradition gänzlich überliefert wurde und sie deshalb nicht nur „älter", sondern auch „reicher" als die Schrift ist 40 . Wenn dem so ist, daß die Apostel „wirklich nur einen kleinen Teil der an sie ergangenen übernatürlichen Offenbarung schriftlich" überlieferten, ist es dann nicht mehr leicht verständlich, warum der Schrift auch noch der Vorzug gegenüber der Tradition gegeben wird „als der ersten Quelle der christlichen Dogmen" 41 . Die Priorität der Schrift wird von Karmiris damit begründet, daß sie Zeichen göttlicher Inspiration trägt und eine Garantie gegen Veränderung bietet 42 . Eine Inkonsequenz in den Überlegungen von Karmiris über das Verhältnis zwischen Schrift und Tradition zeigt sich dort, wenn er einerseits davon redet, daß die Schrift nur einen Teil der Offenbarung darstellt und deshalb die Tradition als sie ergänzend versteht und anderer35 36 37 38 39 40 41 42

246

Ebenda, S. 148. Ebenda, S. 149. In: Abriß der dogmatischen Lehre Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 21. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

.., S. 15—27.

seits „die Identität der biblischen mit der auf der apostolischen Tradition beruhenden kirchlichen Lehre" 4 3 vertritt, denn wenn die Schrift mit der Tradition inhaltlich identisch ist, dann kann man zugleich nicht mehr der Auffassung sein, daß die Tradition die Schrift ergänzt, es sei denn, daß diese Ergänzung anderer als inhaltlticher, glaubensmäßiger Natur ist. Man könnte Karmiris zustimmen, wenn er von der Tradition als Ergänzung der Schrift spricht, oder davon, daß die Tradition reicher als diese ist, wenn er sich damit nicht auf den Glaubensinhalt der Schrift bezieht, sondern die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten meint, die der Glaube in der Tradition erfahren hat, vor allem im gottesdienstlichen Bereich. Die Überlegung, daß es Dogmen gibt oder geben kann, die nur auf der Tradition begründet werden, wird von ihm überhaupt nicht angestellt, vielmehr wird wiederholte Male betont, daß die Dogmen sowohl auf die Schrift als auch auf die Tradition zurückzuführen sind 4 4 . Aus seiner Behauptung, daß die Dogmen in der Schrift und in der Tradition enthalten sind, könnte wiederum gefolgert werden, daß der Annahme des Ergänzungscharakters der Tradition der Boden entzogen wird, sofern sie auch eine Ergänzung des Glaubens der Schrift bedeutet, wenn an der Begründung des Dogmas in der Schrift festgehalten wird. Die biblische Begründung für die Gültigkeit des Dogmas wird von Karmiris ausdrücklich als notwendig erkannt und sie nicht einseitig der Tradition zugeordnet. Auf den ökumenischen Synoden, sagt Karmiris, wurden keine neuen Dogmen geschaffen, sondern nur ein tieferes Verständnis derselben in der Offenbarung enthaltenen Dogmen erzielt. Sieht man von einigen älteren Lehrbüchern der Dogmatik ab 4 5 , in denen das Verständnis der Tradition von dem Gedanken geprägt wurde, daß diese gegenüber der Schrift eine Ergänzungsfunktion erfüllt, so zeichnet sich im letzten rumänischen Lehrbuch der Dogmatik (1958) eine Uberwindung dieser Auffassung von der Tradition ab, wenn auch hier die Aussage zu finden ist, daß aus der gesamten geoffenbarten Lehre nur ein Teil schriftlich fixiert wurde 4 6 . Indem man darauf besteht, daß die göttliche Offenbarung in der Schrift und in der Tradition enthalten ist, ist man zugleich darum bemüht, der Schrift eine gewisse Priorität zuzugestehen. Auch in diesem dogmatischen Lehrbuch wird der Ansicht beigepflichtet, daß die Tradition die Schrift nicht nur interpretiert, sondern auch ergänzt, allerdings wird diese Behauptung nicht mehr allgemein gehalten, 43 44 45

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Ebenda, S. 20. A.a.O., S. 16 und S. 17. Da hier keine neuen Gesichtspunkte gegenüber den bisherigen Überlegungen auftauchen hinsichtlich der Behauptung, daß die Tradition die Schrift auch dogmatisch ergänzt, sei auf eine eingehende Darstellung verzichtet. Vgl. hierzu N. Chitescu, Schrift und Tradition ., S. 3 9 6 . Die dogmatische und symbolische Theologie, Bd. I, S. 180.

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sondern auf den „liturgisch-rituellen und organisatorisch-kanonischen Bereich" bezogen 4 7 . Mit diesem neuen Gesichtspunkt wird der Zweideutigkeit und der Widersprüchlichkeit der Meinung, daß die Tradition auch andere Lehren als die Schrift enthält und sie deshalb ergänzt, wozu man jedoch Beispiele nicht dogmatischer Natur anführte, ein Ende gesetzt und eine klare Stellungnahme bezogen, wenn es um die Bestimmung des Schrift-Traditionsverhältnisses geht. Daß die Ergänzung der Schrift durch die Tradition nicht dogmatischen Charakters ist, wird unmißverständlich ausgesprochen: „Vom dogmatischen Gesichtspunkt her wurde bis jetzt keine Ergänzung der Schrift durch die Tradition festgestellt außer einigen neuen Präzisierungen und Formulierungen; sie hat nur das entwickelt, was in der Heiligen Schrift kurzgefaßt enthalten ist." 4 8 Wenn man den dogmatischen Inhalt der Tradition betrachtet, kann kein Beweis dafür erbracht werden, daß es Glaubenswahrheiten gibt, die nur der Tradition angehören und sich aus der Schrift nicht herleiten ließen. Im Bezug auf den Glauben, schreibt N. Chifescu, daß es keine Lehre gibt, „die in der Heiligen Tradition entwickelt wäre, die ihre Begründung nicht in der Heiligen Schrift h ä t t e " 4 9 . Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, daß die Auffassung vom ergänzenden Charakter der Tradition, die früher unter den orthodoxen Theologen vertreten wurde, bis in ihre dogmatischen Konsequenzen nicht aufrechterhalten werden kann, da diese Meinung sich auf keinen Beweis stützt, von dem gesagt werden kann, daß er Glaubenswahrheiten betrifft, die aus der Schrift nicht abgeleitet werden können. Bezieht man diese Behauptung indessen auf den gottesdienstlich-rituellen und organisatorisch-kanonischen Bereich, so erweist sie sich als berechtigt und nachweisbar. b) Die Tradition als Auslegung der Schrift. Die dogmatische Tradition als Norm der Auslegung Die Auffassung von der Tradition als Auslegung der Schrift scheint von der Mehrheit der orthodoxen Theologen vertreten zu werden, wobei von vornherein festgehalten werden soll, daß in ihr nicht schon impliziert ist, daß die Tradition im Vergleich zur Schrift weniger wichtig und von sekundärer Bedeutung sei. In seiner 1865 erschienen Schrift Tlepi Άρχων äußert Damalas die Ansicht, daß „die Quelle der Theologie und der Kanon der Lehre und des Lebens der Kirche die Heilige Schrift ist, allerdings wie diese in ihren Grundzügen von der alten Kirche verstanden wurde" 5 0 Die dogmati47 48 49

Ebenda, S. 182; N. Chitescu, Schrift, Tradition . . Die dogmatische . S.' 182. Schrift, Tradition . S. 393.

S. 405.

50 Περί 'Αρχών, Leipzig 1865, S. 203: . .. Öti πηγή της θεολογίας και κανών τού βωυ και τής διδασκαλίας τής εκκλησίας είναι ή αγία Γραφή, ως αυτήν εις τάς ουσιώδεις αυτής άρχάς ή άρχαία καθολική εκκλησία έννοήσεν • • • 248

sehen Entscheidungen der sieben ökumenischen Konzilien werden als die authentische und verpflichtende Lehre der Kirche geschätzt, eben weil sie im Einklang mit der Schrift stehen 5 1 . Nach diesen Überlegungen erscheint die Schrift als der Bezugspunkt der Lehre der Kirche; sie steht nicht allein, ist aber doch als der Kanon und die entscheidende Instanz zu verstehen, nach der sich die Tradition zu richten hat. Noch eingehender ist das Verhältnis von Schrift und Tradition im russischen Katechismus vom Metropoliten Filaret von Moskau behandelt 5 2 . Schrift und Tradition werden als zwei Arten dargestellt, durch die sich die göttliche Offenbarung mitteilt und in der Kirche rein erhalten wird. Im Anschluß an Irenäus (Adv. haer. III, 4) gilt für Filaret die ganze Kirche als Glaubensgemeinschaft der Christen, als Hüterin und Bewahrerin der Überlieferung 5 3 . Nachdem Filaret festhält, daß die Überlieferung das ursprüngliche Mittel war, dessen Jesus und am Anfang auch die Apostel sich bedienten, um die Offenbarung zu verkündigen, stellt er, um die Notwendigkeit der Schrift hervorzuheben, die Frage, wozu sie dann noch gegeben sei. „Dazu, daß die Offenbarung Gottes genauer und unveränderlicher bewahrt werde. In der Heiligen Schrift lesen wir die Worte der Propheten und Apostel gerade so, als ob wir mit ihnen lebten und sie hörten, ungeachtet dessen, daß die heiligen Bücher einige tausend Jahre vor unserer Zeit verfaßt sind." 5 4 Danach erscheint die Schrift als die authentische Darstellung der ursprünglichen prophetischen und apostolischen Botschaft und als die Form, in der ihre Identität garantiert und sie vor der Gefahr der Entstellung am sichersten bewahrt wird. 50 wie Filaret nach der Feststellung, daß die Überlieferung das älteste Mittel zur Verkündigung der Offenbarung war, auf die Notwendigkeit der Schrift hinwies als Garantie für die Reinerhaltung der Offenbarung, um damit zu unterstreichen, daß die geschichtliche Priorität der Tradition die Bedeutung der Schrift nicht schmälern kann, so stellt er dann die Frage, die sich angesichts der besonderen Bedeutung der Schrift für die Offenbarung aufdrängt: „Wozu bedarf man auch jetzt noch der Überlieferung? " In seiner Antwort zeigt er, worin die Funktion der Tradition besteht, nachdem die Schrift kanonische Autorität erlangte: „Zur Anleitung des richtigen Verständnisses der Heiligen Schrift, zur richtigen Vollziehung der Sakramente und zur Aufrechterhaltung der heiligen Gebräuche in der Reinheit, wie sie ursprünglich angeordnet worden sind." 5 5 Ausdrücklich erwähnt er auch, daß das Zeichen der

51 52 53 54 55

Ebenda, S. 48: Ταύτα 5è είναι ή αύθεντική, πηγη των της όρθοδόξου καθολικής έκκλησίασ δογμάτων, έπειδή συμφωνούαι προς την -γραφήν. Ins Deutsche übersetzt von Dr. Blumental, Frankfurt 1872. Ebenda, S. 299. Ebenda. Ebenda, S. 300.

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Richtigkeit der Überlieferung ihre Übereinstimmung mit der Schrift sei und dementsprechend keine andere Tradition anzunehmen ist, die durch diesen Nachweis nicht bestätigt wird 56 . Gegenüber der Tradition räumt Filaret der Schrift Priorität ein und erkennt sie als maßgebend, wenn es um die Frage der Authentizität der Offenbarung geht. Bemerkenswert ist, daß gerade für das Verständnis der Tradition als Auslegung der Schrift Filaret den bekannten Text von Basilius dem Großen anführt, in dem von den Traditionen gesprochen wird, die sich nicht in der Schrift befinden und ungeachtet dessen die Tradition an die Schrift gebunden sieht, statt daraus die Unabhängigkeit der Tradition zu proklamieren. Neben der hermeneutischen Funktion der Tradition tritt bei Filaret auch ihre Bedeutung für den Vollzug der Sakramente und des Gottesdienstes hervor, jedoch in ihrem ganzen Umfang ist sie auf denselben Glauben bezogen, den auch die Schrift bezeugt, und deshalb gilt prinzipiell für ihn, daß die Tradition sich an der Schrift zu orientieren hat. Für den Metropoliten Filaret sind Schrift und Tradition unentbehrliche und zusammengehörende Mittel für die Bewahrung und Übermittlung der Offenbarung. Es läßt sich jedoch nicht übersehen, daß er der Schrift den ersten Rang zuerkennt, während die Tradition als von dieser abhängig betrachtet wird, wenn sie, um angenommen zu werden, die Bedingung erfüllen muß, mit der Schrift übereinzustimmen. Was sie gegenüber der Schrift mehr aufzuweisen hat, stellt nicht eine Ergänzung des in der Schrift enthaltenen Glaubens dar, sondern bezieht sich auf den gottesdienstlichen Bereich, von dem sie auch andere Elemente als die Schrift bewahrt und überliefert hat. So deutet auch G. Florovsky den Sinn der Tradition nach dem russischen Katechismus Filareis: „The holy tradition is complementary to Holy Writ in the sense that it directs the right understanding of Scripture, the right administration of the sacraments, and the preservation of sacred rites in the purity of their original institution Accordingly, tradition does not and cannot anything to Scripture, but only elicits what is contained in Holy Writ and puts it in the right perspective." 5 7 In derselben Richtung wie Damala und Filaret argumentiert D. Balanos, der sich anhand vieler patristischer Belege 58 für die einzigartige und grundlegende Bedeutung der Schrift ausspricht. Nach ihm ließe sich das Verhältnis von Schrift und Tradition nur als zwischen der Quelle der Offenbarung und ihrer Auslegung bestimmen. Balanos weist auf die zentrale Stellung der Schrift in der alten Kirche hin, die darin zum

56 57 58

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Ebenda. Scripture and Tradition . S. 289. Die neuere orthodoxe Theologie in ihrem Verhältnis zur patristischenTheologie und zu den neueren theologischen Auffassungen und Methoden, in: ProcèsVerbaux . . S. 236.

Ausdruck kommt, daß die ökumenischen Konzilien in ihren dogmatischen Entscheidungen die Bestätigung durch die Schrift suchten und diese als absolute Bedingung der Gültigkeit der dogmatischen Beschlüsse betrachteten. Ebenso leiteten die Kirchenväter ihre Lehre aus der Schrift ab und waren darauf bedacht, in allen ihren Überlegungen der Heiligen Schrift nicht zu widersprechen. Die alte Kirche hat niemals „ein Dogma geschaffen oder gutgeheißen, das sich nicht formaliter oder virtualiter auf die Bibel stützt und nur durch die Tradition bezeugt ist" 5 9 Der Hauptgedanke von Balanos über Schrift und Tradition Iäßt sich in dem Satz zusammenfassen, daß „nur die Bibel grundlegend für die Lehre ist, während in der Tradition die authentische Deutung des in der Schrift Gesagten beschlossen liegt" 6 0 . Auch der bulgarische Theologe Stephan Zankov, der von der „grundleg e n d e ^ ) und lebensbeherrschende(n) Stellung" der Schrift in der orthodoxen Kirche spricht, erkennt dieser eine Vorrangstellung gegenüber der Tradition zu. Wenn er die Schrift für die Hauptquelle der Offenbarung hält, schwankt er zwischen dem Verständnis der Tradition und Auslegung und auch als Ergänzung der Schrift: „An erster Stelle steht uns die göttliche Quelle der Heiligen Schrift. Die Tradition ist mehr die Deutung (und Ergänzung) der Schrift." 6 1 Wenn in der orthodoxen Theologie der Heiligen Schrift eine erstrangige Stellung zuerkannt wird, so wird diese jedoch nicht aus ihrer untrennbaren Verbindung mit der Tradition gelöst. Gehört die Schrift der Tradition an, so erhält sie nach S. Bulgakoff innerhalb verschiedener Formen der Tradition eine einzigartige Stellung 62 . Der besondere Wert der Schrift geht darauf zurück, daß sie das Wort Gottes ist, was ja von der Tradition selbst anerkannt wird, und deshalb bleibt sie „eine unabhängige und erstrangige Quelle des Glaubens" 6 3 Indem Bulgakoff einerseits sich die Schrift ohne die Tradition nicht vorstellen kann und an ihrer Zusammengehörigkeit festhält, geht es ihm andererseits darum, daß die Stimme der Schrift in ihrer Koexistenz mit der Tradition nicht überhört und übertönt wird. Das Wort Gottes steht über allem, einschließlich der Tradition. 6 4 Während sich aus der Schrift das unveränderliche Wort Gottes an die Menschen richtet, hat die Tradition im Vergleich dazu einen relativen und historischen Charakter. Die untergeordnete Bedeutung der Tradition wird von ihm mit ihrer Variabilität und ständigen Anpassung an die verschiedenen geschichtlichen Zeitabschnitte und deren Bedürfnisse erklärt 6 5 . 59 60 61 62 63 64 65

Ebenda. Ebenda, S. 237. Das orthodoxe Christentum des Ostens, Berlin 1928, S. 32. L'Orthodoxie, Paris 1958, S. 14. Ebenda, S. 25. Ebenda. Ebenda.

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Aus diesen Überlegungen Bulgakoffs läßt sich schließen, daß er das Phänomen der Tradition nur unter seiner ständigen dynamischen Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse der historischen Epoche in Betracht zieht und die Tradition nur unter diesem Aspekt definiert. Insofern hat er recht, wenn er die Antworten der Tradition an die ständig in Bewegung befindliche geschichtliche Existenz der Menschen, die immer neue Probleme aufwirft und nach deren Lösung verlangt, für geschichtlich und relativ hält. Durch die Tradition werden aber nicht nur zeitbedingte Antworten gegeben, deren Gültigkeit sich auf die jeweilige geschichtliche Situation beschränkt, sondern diese entspringen dem unveränderlich für alle Zeit gültigen Glaubensgehalt der Tradition, der in ihr weitervermittelt wird. Die Tradition ist nicht mit einem Mechanismus vergleichbar, der ständig für die Anpassung des Evangeliums an die Erfordernisse der Zeit sorgt und sich in einem unaufhörlichen Prozeß der Veränderung befindet. Die Tradition ist der Anpassung fähig, weil sie aus der Offenbarung schöpft, die für alle Zeit Gültigkeit besitzt. Das ist das konstante Moment der Tradition und das Kriterium, an dem sie sich in der Aktualisierung der Botschaft orientiert. Indem die geoffenbarten Glaubenswahrheiten in der Tradition aktualisiert werden, vollzieht sich ein Überlieferungsprozeß der Offenbarung, deren Glaubensgehalt durch ihre Aktualisierung sich nicht wesentlich verändert. Die Tradition zeugt nach ihm von der Schrift: „Die kirchliche Tradition legt Zeugnis von der Schrift a b " 6 6 . Der Unterschied besteht darin, daß der Wert der Bezeugung der Tradition dem des Zeugnisses der Schrift untergeordnet ist. Die Schrift ist die ewige Wahrheit Gottes, die unsere Geschichte übersteigt und darüber hinaus sich an das ewige Leben im Jenseits wendet. Bulgakoff spricht von einer Ungleichheit von Schrift und Tradition 6 7 . Die Folge dieser Ungleichheit ist, daß die Tradition nicht Kriterium für die Überprüfung der Schrift sein kann, da sie ja selbst auf die Schrift zurückverweist und dieser nicht widersprechen darf 6 8 . Das Verhältnis zwischen Schrift und Tradition besteht nach ihm darin, daß die Tradition ihre Begründung in der Schrift hat und als deren Auslegung zu verstehen ist 6 9 Nach der Auffassung Bulgakoffs ist der Sinn der Tradition in der Kategorie der Auslegung zusammengefaßt. Sie entsteht durch die Interpretation der Schrift. Die Tradition wird nicht in Verbindung mit der mündlichen apostolischen Überlieferung gesehen, die ja in ihrem wesentlichen Inhalt auch in der Hl. Schrift niedergelegt wurde, aber parallel zu ihr noch weiterlief, sondern sie ist auf die Schrift bezogen. Die Tradition ist allein die durch die Auslegung entstandene Entwicklung

66 67 68 69

252

Ebenda, S. 25. Ebenda. Ebenda, S. 26. Ebenda.

dessen, was in der Schrift auch o f t nur im Keim enthalten ist, und hierzu erwähnt er nicht mehr, daß die Entfaltung des in der Schrift bezeugten Heilsgeschehens in der Kontinuität mit dem von den Aposteln her stammenden Verständnis der Christusgeschichte erfolgt. Die Inspiration der Kirche durch den HI. Geist führt nicht zu neuen Offenbarungen, sondern ist vielmehr als eine Befähigung der Kirche zu verstehen, um den Geist, in dem die Schrift geschrieben wurde, richtig aufzufassen. Es ist bezeichnend, daß Bulgakoff nicht von einer individuellen, sondern von der Inspiration der Kirche spricht, 7 0 aufgrund derer sie allein imstande ist, die Schrift richtig zu interpretieren. Hat die Tradition Autorität als Auslegung der Schrift, so ist sie jedoch bei ihm der Schrift unmißverständlich untergeordnet. Das Verhältnis zwischen Schrift und Tradition ist unauflöslich, aber nicht das zweier gleichberechtigter Partner. Während die Schrift der Tradition kritisch gegenübersteht, kann dies von der Tradition nicht gesagt werden. Es gibt nicht zwei Kriterien der Glaubenswahrheit, sondern nur eines, nämlich die Schrift, auch wenn sie sich in ihrer tieferen Dimension erst in der Tradition erschließt. Gegenüber der Schrift tritt die Tradition bei P. Evdokimov als der lebendige Kommentar der Schrift auf und als Zeugnis, das die Kirche unter der Leitung des in ihr wirkenden Hl. Geistes über das Heilsgeschehen ablegt. Worauf es in der Tradition ankommt, wird mit den Begriffen Bestätigung und Bezeugung umschrieben 7 1 . Durch den Hl. Geist ist Jesus Christus selbst in der Tradition als ihr Subjekt anwesend 7 2 . Evdokimov setzt voraus, daß die Offenbarung in ihrem wesentlichen Glaubensgehalt in der Schrift aufgezeichnet wurde, wenn er in der Tradition die Entfaltung dessen, sieht, was in der Schrift geschrieben steht, und daß alles, was den Glauben betrifft, mit der Schrift begründet werden muß 7 3 . In der Tradition vollzieht sich eine ständige, inhaltlich kontinuierliche Interpretation der Schrift, damit die Heilswahrheit neu verständlich wird und die Menschen immer neu anspricht. Er vergleicht deshalb die Kirche mit einem ständig einberufenen Konzil, das die Glaubenswahrheit interpretiert 7 4 . Das Verständnis der Tradition als Auslegung der Schrift gehört nach den Untersuchungen G. Florovskys zu der Grundauffassung der alten Kirche, die vor allem in ihrer Kritik an der Art, wie die Häretiker die Schrift interpretierten, deutlich hervortritt. Grundsätzlich gehen ihre falschen Lehren darauf zurück, daß sie die Schrift außerhalb der Tradition auslegten. Demgegenüber machte die Kirche geltend, daß man zum 70 71 72 73 74

Ebenda, S. 27. L'Orthodoxie, Neuchâtel-Paris 1959, S. 189. Ebenda. Ebenda, S. 195. Ebenda.

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eigentlichen Sinn der Schrift n u r d u r c h die T r a d i t i o n gelangen k a n n . Besonders in der „regula f i d e i " k o n z e n t r i e r t e sie die H a u p t a s p e k t e des Glaubens u n d b e t r a c h t e t e sie als die N o r m u n d den Schlüssel für die Auslegung der S c h r i f t 7 5 . Florovsky weist darauf hin, d a ß die „regula f i d e i " n i c h t eine der S c h r i f t f r e m d e A u t o r i t ä t darstellt, die ihr von a u ß e n her auferlegt wird, s o n d e r n sich auf denselben Inhalt wie diese bezieht: „It was in fact the same apostolic preaching which has b e e n deposited in writing in t h e b o o k s of t h e N e w T e s t a m e n t . " 7 6 Die Kirche b e h a r r t e d a r a u f , d a ß das Neue T e s t a m e n t n i c h t isoliert von der Tradition zu verstehen sei, weil sie in dieser T r a d i t i o n das apostolische Verständnis der in der S c h r i f t e n t h a l t e n e n O f f e n b a r u n g e r k a n n t e . Dies war der G r u n d , aus d e m sie die Schrift „in the comprehensive c o n t e x t of the total apostolic preaching, which was still vividly r e m e m b e r e d in t h e C h u r c h " 7 7 verstanden wissen wollte. Das Verständnis der S c h r i f t , das die mündliche T r a d i t i o n vermittelte, geht in der B e s t i m m u n g wesentlicher A s p e k t e des Glaubens auf die apostolische Überlieferung zurück, u n d w e n n diese T r a d i t i o n als Leitf a d e n z u m r e c h t e n Verständnis der Schrift n i c h t bis in ihren Wortlaut u n d j e d e Einzelheit hinein m i t dieser identifiziert w e r d e n k a n n , so ist sie j e d o c h in der apostolischen Verkündigung tief verwurzelt. Es ist derselbe Glaube der Apostel, der die Kirche in der dogmatischen T r a d i t i o n in der K o n t i n u i t ä t u n d in wesentlicher Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t der apostolischen B o t s c h a f t z u s a m m e n g e f a ß t h a t , u n d deshalb ist sie a u f g r u n d ihres apostolischen Ursprungs N o r m u n d Garantie für die rechte Auslegung der S c h r i f t 7 8 . Auch w e n n P.N. Trembelas von der ungeschriebenen apostolischen Tradition spricht, die eine andere O f f e n b a r u n g s q u e l l e als die Schrift w u r d e u n d ihr gleiche Dignität wie dieser z u s p r i c h t , 7 9 u n d b e h a u p t e t , d a ß die Schrift n i c h t die ganze apostolische T r a d i t i o n a u s s c h ö p f t e 8 0 , ist er nicht der Meinung, d a ß Schrift u n d Tradition als zwei parallele Offenbarungsquellen m i t unterschiedlichen Glaubensinhalten zu verstehen sind. Nachdrücklich w e n d e t er sich dagegen, d a ß ein Teil der dogmatischen Lehre auf die S c h r i f t u n d ein anderer auf die T r a d i t i o n z u r ü c k z u f ü h r e n sei. Die so d e n k e n , sagt er, h a b e n das Problem n i c h t ausreichend vert i e f t 8 1 . Deutlichen A u s d r u c k f i n d e t in seinen A u s f ü h r u n g e n der Ge75 76 77 78

Scripture and Tradition 183 ff. Scripture and Tradition . Ebenda. Ebenda.

S. 292; ders., The Function of Tradition

., S.

., S. 292.

79 àcr/μαηική της'Ορθοδόξου καθολικής έκκλεσίας Bd. I 'Αθήναι 1959, S. 121. 80 Ebenda, S. 125: χωρίς va δύναται va λεχθή και οτι ή παράδοαις ήντλήθη, έκ της Γραφής, οϋτε δτι ή Γραφή εξήντλησε πλήρως τήν παραδοσιν. 81 Ebenda, S. 125: Έκείνοι, oi οποίοι νομίζουν, δτι μόνον σημεία τινα τής χριστιανικής διδασκαλίας αποδεικνύονται από τής Παραδόσεως και ότι τα υπόλοιπα βεβαιούνται ύπό τής Γραφής, δεν εχουσιν εμβαθύνει εις τα πράγματα 254

danke von der Tradition als Auslegung der Schrift. Während in der Schrift als der ältesten Verkörperung des Evangeliums (ώς της παλαιοτέρας ενσωματώσεως τοϋ EùayyeXiov) die christliche Lehre in ihrer Reinheit und in ihrem ursprünglichen Zustand (èv δλη αυτής τη καθαρότητι και άπλότητή bewahrt wird, dient die Tradition dazu, den tiefen Sinn der Schrift (το βαθύ νοημάτων Γραφών) zu erfassen 82 . Es scheint keinen Widerspruch zu geben, wenn orthodoxe Theologen die absolut gleiche Bedeutung von Schrift und Tradition beschwören und gleichzeitig der Schrift Priorität und einzigartige Autorität zuerkennen. Man könnte jedoch auch eine gewisse Unsicherheit darin bemerken, die daraus resultiert, daß man einerseits an der traditionellen Gleichstellung von Schrift und Tradition festhält und andererseits der verbreiteten Meinung, nach der der Schrift gegenüber der Tradition Vorrang gebührt, zustimmen möchte. 8 3

4. Tradition

und Geist

a) Der liturgisch-sakramentale und charismatische Charakter der Tradition Unter der Tradition als Auslegung der Schrift ist ohne Zweifel auch eine theoretische und intellektuelle Vertiefung der Heilswahrheit zu verstehen. In diesem Prozeß soll die Erleuchtung durch den Hl. Geist mitberücksichtigt werden, der ja auch im Bereich der Erkenntnis wirkt. Die Vernunft steht nicht außerhalb des Einflußbereiches des Hl. Geistes. Betrachtet man die Tradition unter diesem Gesichtspunkt, so erschöpft sich mit diesem Aspekt ihr Wesen bei weitem noch nicht, und das Spezifische des Traditionsverständnisses in der orthodoxen Kirche rückt damit nicht ins Blickfeld. Es wäre unzureichend, den Sinn der Tradition als Auslegung nur auf diesen ihren Aspekt zu reduzieren und diesen zum Merkmal des gesamten Traditionsverständnisses zu machen. Als Auslegung der Schrift und Darstellung der Offenbarung gilt in der orthodoxen Kirche der gesamte Gottesdienst. Dieser nimmt im Prozeß der Übermittlung und Deutung der Offenbarung durch die Tradition eine zentrale Stellung ein. Aus dem Traditionsgeschehen sind die Liturgie, in der die Hauptmomente der Erlösung in Christus dargestellt und miterlebt werden, und der Vollzug der Sakramente nicht wegzudenken, weil sie die Mittel sind, durch die an die Offenbarung nicht nur als eine 82 Ebenda, S. 125. 83 Man wird wohl auch die Position, die G. Papadopoulos im Bezug auf das Verhältnis von Schrift und Tradition einnimmt, als bezeichnend hierfür betrachten: The Revelatory Character of the New Testament and Holy Tradition in the Orthodox Church, in: The Greek Orthodox Theological Review, Bd. 2, 1956.

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vergangene Tat Gottes erinnert, sondern diese als ein aktuelles Geschehen erlebt wird. So u m f a ß t die Tradition auch das gottesdienstliche Leben der Kirche. Hieran zeigt sich, daß durch die Tradition nicht nur theoretische Wahrheiten oder Kenntnisse über die Offenbarung vermittelt werden, sondern diese wird als lebendige Wirklichkeit mitgeteilt. Der Kultus stellt sich als eine in die Tiefe gehende Auslegung des Inhaltes der Schrift dar. Hier vollzieht sich eine liturgische Vermittlung der biblischen Wahrheit, die die Offenbarung in der Dimension einer dynamischen, heilsvermittelnden Tat Gottes darstellt. Im Gottesdienst eröffnet sich die Möglichkeit der personalen Beteiligung am Heilsgeschehen, das in ihm gedeutet und vergegenwärtigt wird. Über diesen ausgeprägten Zug des orthodoxen Gottesdienstes schreibt E. Schlink: „Indem so die Botschaft von der geschichtlichen Heilstat hineingenommen wird in die Anbetung des ewigen Gottes und seines Christus, wird diese Heilstat in der Liturgie erfahren, als geschehe sie inmitten der Gemeinde." 1 Den liturgischen Handlungen kommt in besonderer Weise Auslegungscharakter zu, denn durch sie erfolgt nicht eine theoretische Kenntnisnahme von dem objektiven Inhalt der Schrift, sondern eine unmittelbare participatio an den Heilstaten Gottes in Christus. Die gottesdienstlichen Handlungen sind als eine Auslegung zu verstehen, die in die Wirklichkeit des Erlösungsgeschehens hineinführen und die Teilnahme an ihm ermöglichen. Zwischen der Schrift, dem Dogma und der liturgischen Tradition besteht nach Staniloae eine so enge Verbindung, weil sie alle denselben Gegenstand haben, nämlich die Offenbarung, die im Zeugnis des Neuen Testamentes festgehalten wurde, im Dogma richtig ausgelegt und in der liturgisch-sakramentalen Tradition vergegenwärtigt wird 2 . Zwischen der liturgisch-sakramentalen, der dogmatischen Tradition und der Schrift besteht eine dogmatische Ubereinstimmung. Beide sind auf verschiedene Weise Auslegung und Darstellung unter der Führung des Hl. Geistes derselben Glaubenswahrheit, die in allen ihren heilsnotwendigen Momenten im Neuen Testament niedergelegt wurde. Wird der Inhalt der Schrift im Dogma verständlich gemacht und normativ ausgelegt, so ist dieses für die Ostkirche nicht isoliert von der Liturgie und den gottesdienstlichen Handlungen zu sehen. Was im Dogma gedeutet und in kurzen Formulierungen festgehalten wird, um als Richtschnur für die Auslegung der Schrift zu dienen, findet sich in liturgischen Handlungen, in Hymnen und im Gebet wieder. Der Gottesdienst mit der Liturgie und dem eucharistischen Opfer in seinem Mittelpunkt stellt sich als das gegenwärtig und persönlich in der Glaubensgemeinschaft erlebte und

1 2

256

Die Bedeutung der östlichen und westlichen Traditionen für die Christenheit, in: Der kommende Christus ., S. 234. Die Heilige Tradition . . ., S. 77.

entfaltete Dograa der Kirche dar. Die so enge Beziehung zwischen dem Dogma und der Liturgie in der Ostkirche wird von E. Schlink hervorgehoben, wenn er von der doxologischen Struktur und dem gottesdienstlichen Bezug des altkirchlichen Dogmas spricht: „Charakteristisch aber für die Ostkirche ist es, daß Dogma und Liturgie sich nicht voneinander gelöst haben, sondern daß das Dogma primär als liturgische Aussage formuliert worden ist. Das ostkirchliche Dogma wird im Gottesdienst laut als Aussage des Bekenntnisses und der Doxologie Die altkirchlichen Formulierungen des trinitarischen und christologischen Dogmas waren gottesdienstliche Aussagen oder doch Aussagen, die dem gottesdienstlichen Lobpreis unmittelbar dienen wollten." 3 Weiter bemerkt er, daß im Unterschied zum Westen das Festhalten der Ostkirche an dieser engen Verbindung zwischen Dogma und Gottesdienst hier eine Entwicklung genommen hat, die darin besteht, daß das Bekenntnis seinen „Sitz" im gottesdienstlichen Leben nicht verliert oder diesem die doxologische Struktur der Aussage nicht fremd wird 4 Auf diesem Hintergrund des Zusammenhanges, der zwischen Dogma und Liturgie besteht, wird auch verständlich, warum die Tradition in der Ostkirche weniger als eine Lehre oder als ein System von Wahrheiten aufgefaßt wurde und statt dessen mehr am liturgisch-sakramentalen Leben der Kirche orientiert ist. Aus dieser Grundhaltung erklärt sich, warum die Offenbarung nicht allzu oft in dogmatischen Definitionen formuliert wurde s Durch die Tradition wird nicht so sehr eine Lehre über das, was Jesus Christus zur Erlösung des Menschen vollbracht hat, sondern er selbst im Hl. Geist vermittelt. Es ist derselbe biblische Glaube, auf dem die Tradition gründet und den sie zum Ausdruck bringt, nur daß dieser im gottesdienstlich-sakramentalen Geschehen als lebendige Wirklichkeit erfahren wird. Die Gaben des eucharistischen Mahles, von dem die Schrift berichtet, werden den Gläubigen zuteil, wenn die Eucharistie gefeiert wird und die Menschen an ihr teilnehmen. Es genügt nicht, nur den biblischen Bericht zu lesen und zu wissen, worauf es in dem Sakrament der Eucharistie ankommt, sondern dieses muß auch empfangen werden. Dasselbe gilt auch für die anderen Sakramente. Der Inhalt der Schrift erfährt in der Tradition nicht nur die seinem Sinn getreue Auslegung, sondern wird wirksam gemacht und in der dem Glauben innewohnenden Kraft und Dynamik erlebt. Die liturgisch-sakramentalen Handlungen sind weder inhaltsleere Riten noch magische Formeln; vielmehr weil sie Ausdruck des Glaubens sind und Glauben hervorrufen, handelt hinter ihnen Jesus Christus selbst, der sich in seinen Heilstaten übermittelt 3 4 5

Die Bedeutung S. 235. Ebenda. Vgl. E. Schlink, Die Bedeutung der orthodoxen Kirche für die ökumenische Bewegung. Grundgedanken eines Vortrags, in: θβολογύζ, Έ ν 'Αθήναις 1973, S. 6.

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und deren Heilswirkung der am Gottesdienst teilnehmenden Gemeinde zuteil werden läßt. Daß der Inhalt der Schrift die Grundlage der liturgisch-sakramentalen Tradition darstellt, wird auch aus der Vielzahl biblischer Texte, Bilder und Ereignisse ersichtlich, die in den liturgischen Formulierungen aufgenommen wurden, wie auch in der symbolischen Darstellung der Heilsgeschichte, die zum Themades Gottesdienstes wurde, so daß diese sich aus den liturgischen Akten und Handlungen gänzlich wiederherstellen ließe. Nissiotis stellt den Gottesdienst als eine „Rekapitulation der Menschwerdung des Kreuzes und der Auferstehung Christi" dar 6 Der pneumatologische Charakter der Tradition ist in der orthodoxen Kirche eng mit ihrem liturgisch-sakramentalen Aspekt verbunden. Die Liturgie wie der ganze Gottesdienst und die Sakramente, die zu dem wichtigsten Teil der Tradition gehören, wären ohne die Wirkung des Hl. Geistes nicht nur nicht entstanden, sondern würden ohne die Wirkung des Hl. Geistes die Teilnahme an der Gemeinschaft mit Christus nicht ermöglichen können. Das Erlösungswerk Christi, das das zentrale Thema der liturgisch-sakramentalen Tradition darstellt, bliebe den Menschen eine äußere, unzugängliche Tat ohne den Hl. Geist, in dem und durch den Christus in der Kirche gegenwärtig ist. Die Weitergabe der apostolischen Botschaft und die liturgisch-sakramentale Überreichung der Heilsgnade sind nicht als mechanische Akte zu verstehen, sondern vollziehen sich in der Kraft des Hl. Geistes, durch den die subjektive Aneignung des Heils geschieht. Er bringt die in der Heilstat Gottes in Christus beschlossene Erlösung der Menschheit in Erfüllung, indem er als Lebensspender diese zur erlebten Wirklichkeit werden läßt. In diesem Sinne schreibt Nissiotis: „Mit dem Kommen des Parakleten gewinnt das Heil der Menschheit in Christus eine existentielle, unmittelbare und reale Bedeutung für den Menschen und die Geschichte. Die orthodoxe Kirche sieht Christus als den, der das Werk des Hl. Geistes einleitet, wobei der Geist dann das Heil im Herzen des Menschen und der historischen Kirche vollendet." 7 Die Heiligung, die in der Gemeinschaft mit Christus erfolgt, dem die Gläubigen in der gottesdienstlichen Versammlung begegnen, ist ein Prozeß, der durch den Hl. Geist geschieht. Außerhalb seines Geistes gibt es keinen Anteil an Heilstaten Christi, der nach seiner Himmelfahrt den Geist gesendet hat und sich durch ihn mitteilt. Der Hl. Geist bedient sich gottesdienstlich-sakramentaler Handlungen, die zum Mittel und Träger seiner Heilsgnade zu den Menschen werden. Diese sind von der Gnade des Geistes durchdrungen und werden zum Medium der Gnadenmitteilung 8 6 7 8

258

Die Theologie der Ostkirche, S. 107. Ebenda, S. 64. D. Staniloae, Die Heilige Tradition . .

S. 67.

Rückt der liturgische und sakramentale Aspekt der Tradition in den Vordergrund, wie es in der Ostkirche der Fall ist, tritt auch die Funktion des Hl. Geistes deutlicher hervor. Die Folge davon ist, daß die Tradition mehr als ein Leben in der Gnade verstanden wird. Der Gedanke von der Tradition als einer Summe christlicher Wahrheiten, die geschichtlich ununterbrochen weitergegeben werden, tritt somit zugunsten ihres pneumatisch-sakramentalen Aspektes zurück. Die geschichtlich-horizontale Dimension der Tradition findet ihren Ausgleich und ihre Ergänzung in ihrer dynamisch-vertikalen Komponente. In der Tradition kreuzen sich die horizontale und die vertikale Dimension der Offenbarung, und durch sie geschieht kraft des Hl. Geistes die Übermittlung des in Jesus Christus vollzogenen Heils. Hierbei kommt dem Gottesdienst und den Sakramenten als Mittel des Hl. Geistes eine wichtige Rolle zu. Wie sehr der Gottesdienst auf der Wirkungskraft des Hl. Geistes beruht, geht aus dem Satz von Nissiotis hervor: ,Jeder gottesdienstliche Akt hat seinen Ursprung, seine Quelle, seine Inspiration im Hl. Geist, der durch die Anrufung der im Namen Christi versammelten kirchlichen Gemeinschaft die in Christus vollbrachte Erlösung in diese Welt bringt und der den Menschen zur Teilhabe an diesem Geschehen a u f r u f t . " 9 Dadurch, daß in der Tradition der HI. Geist sich selbst mitteilt, 1 0 körnte sie als die permanente Präsenz des HI. Geistes in der Kirche und mit ihm als die Präsenz Christi umschrieben werden. In der Tradition werden nicht einfach seine Worte und ihre dogmatische Bedeutung übertragen, die die Kirche durch die Auslegung aus ihnen herleitet, sondern Christus selbst, der hinter seinen Worten steht, als das lebendige Wort Gottes in seiner Wesenseinheit mit dem Hl. Geist und dem Vater. Deshalb versteht sich die Tradition zunächst als das Leben der glaubenden Gemeinde in der Gemeinschaft mit Gott und eine lebendige pneumatische Übergabe der geschichtlichen Offenbarung als gegenwärtiges Geschehen. Jedesmal, wenn die Eucharistie gefeiert wird, ist es Jesus Christus selbst, der sich inmitten der Gemeinde für sie durch den HI. Geist gegenwärtig opfert, und die Gläubigen empfangen die Gnade seiner Kreuzigung in der Vereinigung mit ihm. Die Tradition ist vor allem Gemeinschaftsleben mit Christus; sie ist sowohl die Kontinuität der Heilsgeschichte in Christus als auch die Fortdauer des Pfingstfestes. Was durch den Gottesdienst als Begegnungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen durch das Wort der Verkündigung oder durch die Sakramente mitgeteilt wird, das ist nämlich der Hl. Geist, der das Heilswerk Christi in seiner Wirksamkeit den Menschen übermittelt. Filaret von Moskau stellt den pneumatischen Charakter der Tradition in den Vordergrund, wenn er sagt: „Die

9 10

Die Theologie, S. 107. W. Lossky, Die Tradition und die Traditionen, in: Der Sinn der Ikonen, hrsg. von L. Ouspensky und W. Lossky, Bern und Ölten 1952, S. 14.

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wahre und die heilige Tradition besteht nicht allein in einer sichtbaren und mündlichen Übermittlung der Lehren, Regeln, Einrichtungen und Riten, sondern ist gleichzeitig eine unsichtbare und aktuelle Verleihung der Gnade und der Heiligung." 1 1 Die Überlieferung der Glaubenswahrheit ist auch nach W. Lossky untrennbar verbunden mit der Mitteilung des Hl. Geistes 12 . In der Mitte der apostolischen Überlieferung steht Jesus Christus selbst, der gekreuzigte und auferstandene Herr, der in der weiteren Tradition nicht ersetzt oder vertreten wird durch seine Lehre. Die Tradition ist nach Staniloae „nicht nur das Zeugnis von der objektiven, für uns vollbrachten Erlösung durch Christus, sondern Christus selbst in seiner in den Mitgliedern der Kirche fortgesetzten Wirkung, der in der Geschichte durch den Hl. Geist die objektive Erlösung durch Verkündigung und Sakramente, die im Glauben angenommen werden, in die subjektive umsetzt" 1 3 . Worauf es zunächst in der biblischen Botschaft nach Florovsky ankommt, ist Jesus Christus als Person und nicht seine Vorschriften. 1 4 In Bezug auf die Beziehung und Wirkung des Hl. Geistes und Jesu in der Heilsökonomie spricht Lossky von einer ,,doppelte(n) Voraussetzung der Offenbarungsfülle" und von einer „doppelte(n) Wechselseitigkeit" in dem Heilswerk der beiden göttlichen Personen. Bei der Geburt Christi und bei der Sendung des Geistes war jeder eine Voraussetzung für den anderen. 1 S Die eigene Mitwirkung des Hl. Geistes fängt nicht dort an, wo Christus seine Aufgabe erfüllt hat. Wenn die Zeit der Kirche und der Tradition als die Zeit des Hl. Geistes bezeichnet werden kann, die sich zwischen den beiden Parusien des Herrn erstreckt 1 6 , so ist die Zeit des Geistes nicht schon zugleich die Zeit der Abwesenheit Christi. In den von Christus vollbrachten Heilstaten ist auch die Mitwirkung des Hl. Geistes einbeschlossen, so wie an der Erfüllung des Heils durch den Geist auch Christus mitbeteiligt ist. Das Heilshandeln Christi und des Hl. Geistes ist auch von der jeweils anderen Person mitbewirkt. Es kann nur in einem gewissen Sinne von der Zeit Jesu oder des Geistes gesprochen werden, da sich in dieser Zeit die von einer göttlichen Person erfüllten Heilstaten nicht ohne die Mitwirkung der anderen ereigneten. 1 7

11 Zit. nach W. Lossky, Die Tradition . . S. 17. 12 Die Tradition . ., S. 17. 13 Der ständige und wechselnde Charakter der Tradition, in: Theologische Studien, Nr. 3 - 4 , 1973, S. 152 (rum.). 14 Le corps de Christ vivant. Une interprétation orthodoxe de l'Eglise, in: La Sainte Eglise Universelle, Neuchâtel, Paris 1948, S. 43. 15 Die Tradition und die Traditionen, S. 16. 16 Evdokimov, L'Orthodoxie, S. 196. 17 Ebenda.

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Wenn nach der Himmelfahrt Christi seine Anwesenheit in der Welt anderer Natur ist als seine geschichtliche irdische Existenz, so bedeutet seine Erhebung zur Rechten Gottes (Mk. 16,19) nicht schon seinen völligen Abgang von der Welt: „ U n d siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt E n d e " (Matth. 2 8 , 2 0 ) . Mit der Sendung des Geistes ist er durch diesen in der Kirche anwesend. Wenn der Geist alles, was Christus getan hat, vergegenwärtigt: ,,Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen" Q o h . 16,15), so ist darunter zu verstehen, daß Christus selbst pneumatisch in der Kirche anwesend und handelnd ist. Die Tradition kann deshalb als der pneumatische Akt des Empfangens und des Weitergebens des Heilsgeschehens und'zugleich als die pneumatische Weise des personalen Handelns und seiner Anwesenheit verstanden werden. Die Tradition wäre ohne den Hl. Geist nicht möglich und nicht verständlich, denn durch seine K r a f t vollzieht sich der Prozeß der Uberlieferung. Er ist, wie Evdokimov sagt, der Geist der Übermittlung. 1 8 Die Oberlieferung ist ein Prozeß, der innerhalb des Lebens der Kirche geschieht, das von der Kraft und Wirkung des Geistes durchdrungen ist. Sie ereignet sich im Lebensstrom der Kirche, der getragen und geleitet wird von den Energien des Geistes. Der Wirkung des Heiligen Geistes in der Tradition wird in der orthodoxen Kirche eine große Bedeutung beigemessen, so daß Lossky sie als das Werk des Geistes bezeichnet: „ S o kann der reine Traditionsbegriff definiert werden als das Leben des Hl. Geistes in der Kirche, das j e d e m Gliede des Leibes Christi die Fähigkeit erteilt, die Wahrheit zu hören, zu empfangen, zu erkennen — die Wahrheit in dem ihr eigenen Licht und nicht im Lichte der menschlichen Vernunft."19 Wenn von der Ostkirche gesagt wird, daß sie ein ausgeprägtes Leben in der Tradition führt, so soll dies im Zusammenhang mit ihrem Glauben an das Wirken des Geistes in der Kirche gesehen werden und trifft zugleich für ihr charismatisches Leben sowie für die Stellung zu, die sie der Pneumatologie einräumt, die sich jedoch weniger in theologischen Reflexionen widerspiegelt und weniger Ausdruck findet, als im gottesdienstlichen Leben die Wirklichkeit des Geistes erlebt wird. Die Pneumatologie nimmt nicht ein entsprechend großes Kapitel in der Dogmatik ein, wie der Hl. Geist im konkreten kirchlichen Leben erfahren und überhaupt als Vermittler des gesamten Offenbarungsgeschehens gesehen wird 2 0 Staniloae stellt das Leben in der Tradition als das Leben im Hl. Geist dar, aber so, daß dieser nicht als Rückendeckung subjektivistischer Überlegungen benutzt werden darf, sondern als derjenige, durch den in der Tradition die apostolische Botschaft als lebendige Wirklichkeit erlebt und unverfälscht ausgelegt wird 2 1 . 18 19 20 21

Ebenda. Die Tradition und die Traditionen, S. 16. Vgl. Nissiotis, Die Theologie S. 64 f. Die Heilige Tradition . . . , S. 93.

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Durch ihn wird die horizontale Verbindung mit dem geschichtlichen Christus auch eine vertikale und gegenwärtige Beziehung. 2 2 Im Hl. Geist wird der zeitliche Abstand zwischen dem Einmal der Offenbarungsereignisse und unserer Zeit überbrückt, so daß wir durch ihn in der Tradition das einmalige Erlösungswerk Jesu wie seine Zeitgenossen im Glauben erleben und an ihm teilnehmen können. Der Hl. Geist prägt den Worten und Taten Jesu nicht eine Kraft ein, durch die sie überliefert werden, während er entfernt bleibt, sondern dieser Vorgang ereignet sich in seiner Selbstmitteilung. Darum wird die Tradition als das Leben im Hl. Geist bezeichnet. Diese übermittelt nicht nur Christus, sondern auch den Hl. Geist und deshalb versteht sich sozusagen die Tradition als „die permanente Epiklese des Hl. Geistes im Leben der Kirche" 2 3 . Er ist nicht ein unpersönliches Prinzip, aufgrund dessen sich der Prozeß der Überlieferung ereignet. Ohne den Heiligen Geist, sagt Staniloae, würde die Tradition nur eine äußere Übermittlung des Heilsgeschehens sein 24 . Ohne das Wirken des Hl. Geistes und außerhalb der Tradition als charismatisches Prinzip 2 5 ist in der orthodoxen Kirche die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens nicht vorstellbar. Eng damit verbunden sind der Gottesdienst und die Sakramente, ohne die die Tradition mehr oder weniger ein formales, starres Prinzip werden würde, die den ganzen Menschen in seiner konkreten Existenz nicht ansprechen und ihn in die Wirklichkeit des Erlösungsgeschehens nicht einbeziehen könnte. Der Gottesdienst war von Anfang der Kirche an ein zu ihrer Existenz gehörendes Phänomen, der Entstehungsort der Kirche. Ebenso ist ihr Weiterbestehen ohne den Gottesdienst nicht denkbar. Hier vollzieht sich der Akt der Tradition als lebendiges Empfangen und Weitergeben der Offenbarung, und hier, wo das Wort verkündet und die Sakramente gefeiert werden, geschieht im Hl. Geist die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens. Auf die so enge und für die Existenz der Kirche wesensnotwendige Verbindung zwischen dem Gottesdienst und dem Hl. Geist weist N. Uspensky hin, wenn er den „vom Hl. Geist begnadete(n) Gottesdienst" als „das eigentliche Leben der Kirche" darstellt und sich dabei auf den biblischen Bericht des Pfingstfestes beruft 2 6 .

22 23

D. Staniloae, Der ständige und wechselnde Charakter der Tradition, S. 153 Tradition und Traditionen. Berichte der theologischen Kommission über Tradition und Traditionen an die vierte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal, Kanada (1963), Arbeitsheft II, Zürich 1963, S. 45. 24 Der ständige und wechselnde Charakter ., S. 153. 25 G. Florovsky, Le corps de Christ . S. 41. 26 Das rettende und heiligende Wirken Gottes durch den Heiligen Geist im Gottesdienst und in den Sakramenten, in: Vom Wirken des Heiligen Geistes. Das Sagorsker Gespräch über Gottesdienst, Sakramente und Synoden zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche. Studienheft 4, hrsg. vom Außenamt der EKD, Witten 1964, S. 54.

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Die gottesdienstlichen Handlungen, Riten und Gebete bewirken nicht schon als solche die Heiligung der Christen, sondern weil sie mit der Gnade des Hl. Geistes erfüllt und von ihm getragen werden, der durch sie auf die Menschen wirkt. In jedem Gottesdienst wird um die Gabe und um die Herabkunft des Hl. Geistes gebetet, so daß sich durch das liturgisch-sakramentale Leben der Kirche eine Fortsetzung des Pfingstfestes ereignet. 27 Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Gottesdienst den Mittelpunkt des orthodoxen kirchlichen Lebens darstellt. Dieser liturgisch-sakramentale Charakter, von dem das Bild der Ostkirche wesentlich geprägt wird, vermittelt nicht zuletzt den Eindruck, als würde sie das Wort der Schrift als Heilsmittel neben dem Gottesdienst und den Sakramenten für nebensächlich halten und an den Rand ihres Lebens drängen. Diesen Eindruck haben die orthodoxen Theologen selbst verschuldet, die lange Zeit nicht nach dem Stellenwert des Wortes in der Struktur des Gottesdienstes und der Sakramente gefragt haben. In der Tat wird dem Wort der Schrift im liturgisch-sakramentalen Leben der Kirche eine wesentliche Bedeutung beigemessen 28 . Man wird feststellen müssen, in welch hohem Maße das Wort und der Inhalt der Schrift in der direkten Wiedergabe oder in Umschreibungen eine beträchtliche Rolle bei der Gestaltung des Gottesdienstes und der Sakramente gespielt haben, dort eben, wo man es am wenigsten zu finden glaubte. N.I. Nicolaescu weist darauf hin, daß der Text der gottesdienstlichen Bücher und der Liturgien, die in der orthodoxen Kirche gefeiert werden, von den Kirchenvätern und Hymnographen verfaßt wurden, die zugleich Kenner der Hl. Schrift waren, die Verdienste als deren Ausleger erwarben und ihr die größte Ehre erwiesen 29 . Der Glaubensgehalt der Schrift findet sich in dem Text der gottesdienstlichen Bücher wieder. „Wie die heilige Liturgie, die die ganze Geschichte der Liebe Gottes gegenüber dem menschlichen Geschlecht darstellt, und durch die wir im Hl. Geist Zeitgenossen und Teilnehmer an dem in unserem Herrn Jesus Christus erfüllten Heilswerk werden, so drückt auch der Inhalt der anderen gottesdienstlichen Handlungen feierlich und für alle verständlich die ganze christologische Substanz der Hl. Schrift aus." 3 0 Nicht nur, daß innerhalb des Gottesdienstes und während des Vollzugs der Sakramente Lesungen aus der Schrift und Predigten vorgesehen 27 28

29 30

G. Florovsky, Le corps de Christ S. 19; D. Staniloae, Der ständige und wechselnde Charakter S. 153; N. Uspensky, a.a.O., S. 57. N. Chitescu, Schrift, Tradition ., S. 4 1 2 ; D. Staniloae, Die Heilige Tradition ., S. 67 f.; A. Kniazeff, La Bible chez les orthodoxes, in: La Pensée Orthodoxe. Revue de 1 'Institut de Théologie Orthodoxe, Nr. 2 (13), Paris 1968; G. Marcu, La parole de Dieu dans la vie de l'Eglise selon le Nouveau Testament, in: De la Théologie Orthodoxe Roumaine des origines à nos jours, Bucarest 1974, S. 47 f. Die Heilige Schrift in unserer Kirche, in: Theologische Studien Nr. 5 - 6 , 1974, S. 3 4 0 (rum.). Ebenda, S. 3 4 1 .

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sind; hinzu kommt noch, daß die liturgischen Texte mit biblischen Zitaten durchwoben sind oder an biblische Geschichten erinnern. Es gibt wenige, sagt Kniazeff, die hinter diesem vordergründigen liturgischen, asketischen, frömmigkeitsgeprägten Bild der orthodoxen Kirche entdecken, in welchem Maße das religiöse Leben dieser Kirche sich auf die Hl. Schrift gründet und von ihr „bis in ihre kleinsten Aussagen" inspiriert ist 31 . Daraus kann man auf das Gegenteil einer Geringschätzung des biblischen Wortes schließen. Im Gottesdienst und in den Sakramenten wird das Wort in die Lage versetzt, als erlebte Wirklichkeit aufgenommen zu werden. Im Gegensatz zu einer intellektuellen und abstrakten Aufnahme des Wortes, die dem allgemeinen Verständnis vom Wort zunächst naheliegt, wird das Wort in der liturgisch-sakramentalen Tradition als die lebendige göttliche Wirklichkeit, die es beschreibt, erfahren. Die Einbeziehung des biblischen Wortes in den Gottesdienst zeigt, daß das ausgeprägte sakramentale orthodoxe Leben auch das Wort umfaßt. So wird das Wort nicht nur verstanden, sondern in seiner tieferen Dimension als Wirklichkeit empfangen. Als Wort über das Heilsmysterium in Christus hat das biblische Wort eine sakramentale Dimension. Im Gottesdienst und in den Sakramenten wird das Wort nicht nur als Mitteilungsmittel der apostolischen Lehre, sondern als das Wort Gottes in seiner pneumatischen und personalen Präsenz erfahren. So erschließt sich das Wort in der liturgisch-sakramentalen Tradition auch unter seinem sakramentalen Aspekt. Unter dem Gottesdienst als Bestandteil der Tradition sind aber nicht nur liturgische Handlungen, Gebete und biblische Lesungen zu verstehen. Der Gottesdienst umschließt auch die Predigt über das biblische Wort. Die Verkündigung des Wortes Gottes, die sich nicht auf die Wiederholung des in der Hl. Schrift Geschriebenen beschränkt, sondern zum lebendigen Wort wird, weil die Kirche es auf die jeweilige Situation der Menschen hin interpretiert, gehört als ein wesentliches Moment in das gottesdienstliche Geschehen hinein. Die Kirche tritt am Pfingstfest als eine gottesdienstliche Gemeinde in Erscheinung. Der von dem Heiligen Geist erfüllte und gewirkte Gottesdienst der Pfingstgemeinde bestand neben der Taufe, dem Brotbrechen und dem Gebet auch aus der Verkündigung des Wortes (Apg. 2,41—42). Der Dienst Gottes an der Gemeinde erfolgt auch durch das Wort. Deshalb kommt der Kirche die Aufgabe zu, die Wirkung Gottes durch das Wort durch ihre Verkündigung den Gläubigen zuteil werden zu lassen. Zum Gottesdienst gehört nicht nur die Feier des Sakramentes, sondern auch die Feier des Wortes. Während der Liturgie werden nicht nur die eucharistischen Gaben gespendet, sondern die Kirche spendet den Gläubigen auch das Wort Gottes, indem sie predigt. Sie ist beauftragt

31

264

A.a.O., S. 71.

und bemächtigt, 16,15-16).

das Wort

und die Sakramente zu spenden

(Mk.

Die Überlieferung der apostolischen Botschaft geschieht auch durch die Verkündigung des Wortes Gottes, das im Gottesdienst der Kirche von den Gläubigen als eine lebendige Wirklichkeit erfahren wird. Zur Tradition, durch die Christus in der Kirche das Heil bewirkt, gehört nach dem Metropoliten Atenagoras neben den Sakramenten und dem Glaubensbekenntnis auch die Predigt, die Auslegung des Wortes Gottes, das im Gottesdienst aufgenommen und angewendet wird 3 2 . D. Staniloae hebt unter anderem die Predigt hervor als ein Mittel, durch das die Apostel die geoffenbarte Wahrheit verkündeten und Christus den Menschen nahegebracht haben 3 3 . Im Vollzug der liturgisch-sakramentalen Tradition erhält das Priestertum der Kirche eine bestimmte Funktion und ist mit ihrem charismatischen Charakter eng verbunden. Diesem ist in der Nachfolge der Apostel die Aufgabe auferlegt, das von den Aposteln ausgeübte Amt der Wortverkündigung und den Vollzug der Sakramente zu übernehmen und die Kirche in die Wahrheit zu führen. Mit dem „Charisma der Wahrh e i t 3 4 ausgestattet, hat die Hierarchie das anvertraute Gut durch den Hl. Geist zu bewahren (2 Tim. 1 , 1 4 ) , für die rechte Lehre der Kirche zu sorgen und ihre charismatische Funktion zu erfüllen. Wenn der liturgischen Tradition nach der orthodoxen Auffassung bei der Übermittlung des Heilsgeschehens und der Überreichung der Geistesgnade eine zentrale Stellung eingeräumt wird, so ergibt sich daraus zugleich, welche Rolle das Priestertum dabei spielt in Anbetracht dessen, daß der Vollzug des Gottesdienstes und der Sakramente durch dieses geschieht. Man wird deshalb die Bedeutung der Hierarchie bei der Übermittlung des Heilsgeschehens nicht allein in der Ausübung des Lehramtes sehen, sondern ihr unleugbarer Anteil an ihm besteht auch darin, daß durch sie im Gottesdienst und in den Sakramenten die Heilsgnade überreicht wird 3 5 . Die Berücksichtigung des charismatischen Aspektes des priesterlichen Dienstes entspricht einem umfassenderen Verständnis der Tradition, wenn man bedenkt, daß diese weniger in der Mitteilung von geoffenbarten Lehren besteht, sondern vielmehr die Heilsgnade vermittelt und in die Wirklichkeit des Erlösungswerkes einführt sowie die Teilnahme an ihm ermöglicht. Aus der Mitwirkung der Hierarchie an der Überlieferung der Glaubenswahrheit ist j e d o c h nicht zu schließen, daß diese der Hauptträger ge-

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33 34 35

Tradition und Traditionen, in: 'Απόστολος 'Ανδρέας, Zeitschrift der Patriarchie von Konstantinopel 1 9 6 3 , S. 6 1 7 nach D. Staniloae, Einheit und Vielfalt in der o r t h o d o x e n Tradition, in: Ortodoxia Nr. 3, 1 9 7 0 , S. 3 3 6 (rum.). Ebenda, S. 3 3 6 . Irenaus, Adv. haer,. IV, 2 6 , 2. D. Staniloae, Die Heilige Tradition . . ., S. 6 6 .

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schweige denn der alleinige Träger der Tradition ist und allein sie die Fülle der Gnade in der Kirche besitzt. Durch sie wird die Heilsgnade in Wort und Sakrament der Kirche erteilt und die Gläubigen in die pneumadurchwirkte Gemeinschaft mit Christus geführt, aber die Bewahrung und die Überlieferung der apostolischen Botschaft ist von dem ganzen Leib der Kirche getragen, in dem die Laien und die Hierarchie als gleiche Glieder der Kirche zusammengehören und denen die verschiedenen Gaben des einen Geistes zum Dienst an und zur Zugehörigkeit vieler Glieder zu demselben Leib Christi gegeben sind (1. Kor. 12). Der besondere Dienst, den die Bischöfe und die Priester in der Kirche erfüllen, ist kein Grund für ihre Erhebung über die anderen Glieder der Kirche. Nissiotis, der die tiefste Einheit und die intensivste Katholizität der Kirche in der Eucharistie begründet sieht, schreibt dazu: „In der personalen Fülle (7τλήρωμα) der Kirche, die in diesem eucharistischen Zentrum erlebt, offenbart und bewahrt wird, gibt es keine ontologischqualitativen Unterschiede. Kirchenvolk und Priester sind eins, und die Vollmacht ist auf diese pleromatische, charismatische Einheit gegründet, die völlig von der Eucharistie abhängig ist." 3 6 Die Verleihung der Geistesgabe im Sakrament der Konsekration macht die einzelnen Glieder der Hierarchie nicht schon dadurch immun gegen Irrtum und Abweichung von der rechten Lehre der Kirche. Die Unfehlbarkeit ist nicht ein Attribut der Hierarchie, sondern der Kirche in ihrer Ganzheit, als Pleroma, das aus der Gemeinsamkeit der Hierarchie und der Laien besteht 3 7 . Die Bestimmung und Erwählung der Hierarchie für die Vermittlung der Heilsgnade in der Kirche und ihre Ausstattung mit Vollmacht als Diener und im Namen Christi, durch die Kraft des Hl. Geistes die Sünden zu vergeben (2 Kor. 2,10), bedeutet nicht eine Eindämmung des Wirkens des Geistes in der Kirche und stellt auch kein Hindernis für die Vielfalt seines Handelns in den anderen Gliedern des Leibes Christi dar. 3 8 So ist die Überlieferung der apostolischen Tradition ein gemeinsamer Akt, an dem das Kirchenvolk und das Priestertum beteiligt sind; sie vollzieht sich jedoch nur durch die Glaubensgemeinschaft der ganzen Kirche kraft des Hl. Geistes. Der Hl. Geist ist es, der den Glauben weckt, die Gemeinschaft zusammenhält, und bewirkt, daß durch sie die Offenbarung weitergeht und gegenwärtig geschieht. Er ist nach Staniloae der eigentliche Handlungsträger der Tradition. 3 9

36 37 38 39

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Die Theologie ., S. 101. Vgl. hierzu J.N. Karmiris, Abriß der dogmatischen Lehre ., S. 18 f. Vgl. E. Schlink, Die Bedeutung der östlichen und westlichen Traditionen . S. 235 f. Der ständige und wechselnde Charakter . . S. 153.

.,

b) Die Tradition als Faktor der Kontinuität und der Erneuerung in der Kirche Die orthodoxe Kirche erweckt bei vielen den Eindruck, als ob ihr Traditionsverständnis hautpsächlich von dem Moment der Bewahrung und der Kontinuität bestimmt sei. Was von den orthodoxen Theologen als ein Verdienst ihrer Kirche hervorgehoben wird, ist für manche Betrachter der Ostkirche ein Anlaß geworden, in dieser ihrer Haltung ein Zeichen für Konservatismus und Immobilität zu sehen. So scheint es, daß die Tendenz zur Bewahrung der Tradition viel stärker ausgeprägt ist und so in einem ungleichmäßigen Verhältnis zu ihrer Erneuerung steht. Wenn man einerseits die Tendenz zur Bewahrung als zutreffend ansehen würde, die unter der Berücksichtigung der erschwerten Bedingungen, denen die Ostkirche in ihrer geschichtlichen Existenz ausgesetzt war, durchaus verständlich ist, so wird man jedoch andererseits den angeblich fehlenden Willen zur Erneuerung der Tradition als eine vordergründige Beobachtung betrachten, die ihren Ursprung nicht so sehr im von der Tradition geprägten Leben dieser Kirche hat, vielmehr in einer unterschiedlichen Vorstellung von der Erneuerung, als diese der Ostkirche eigen ist. Man wird nicht leugnen können, daß die aus den schweren geschichtlichen Bedingungen erwachsene Besorgnis, die Integrität des christlichen Glaubens zu bewahren und sich von ihm nicht abbringen zu lassen, auch eine gewisse Scheu vor Änderungen hervorgebracht hat, so wie infolge ihres Bemühens, der überkommenen Tradition nicht verlustig zu gehen, auch einige Bräuche übernommen wurden, die keinen wesentlichen Bezug zum Glaubensinhalt haben 4 0 . Wer würde aber bestreiten, daß die Bedeutung der Tradition nicht nur im Bewahren besteht? In dem Festhalten an der überlieferten Tradition, mit der eine Hinwendung zur Vergangenheit des Heilsgeschehens verbunden ist, ist nicht schon implizit ein Hindernis gegen die Erneuerung der Tradition mit enthalten. Diese festzustellen, ist auch dadurch erschwert, daß die Art der Erneuerung, wie sie in der Ostkirche erlebt wird, nicht als eine sozusagen modische Anpassung an die Zeit aufgefaßt wird, die ja dann auch leichter zu beobachten wäre, sondern eine ständige innere Erneuerung der Tradition bedeutet, die als ein gegenwärtiges Erleben und Teilnehmen am Erlösungsgeschehen zu verstehen ist. Diese Erneuerung geschieht in den überlieferten Traditionsformen, nicht aber als eine erneute Erinnerung an ein geschichtliches vergangenes Ereignis, sondern imr. r als gegenwärtige Erneuerung des Heilsgeschehens. Auch wenn diese Art der Erneuerung weniger nach außen dringt und sich nicht in ständig neuen äußeren Formen ausdrückt, wird man sie als eine Wirklichkeit jedoch nicht leugnen können. Gegenüber einer Tendenz in der orthodoxen Kirche zur Bewahrung des orthodoxen Glaubens, die zweifellos stärker ist als deren ständige Er40

Vgl. Nissiotis, Die Theologie . .

S. 233.

267

neuerung durch eine zeitgerechte Auslegung, warnt E. Schlink vor einer nur bewahrenden Position, die er allerdings mit einem „Belagerungsund Verteidigungszustand" aus der Zeit ihrer Existenz unter der Fremdherrschaft in Verbindung bringt, und er erinnert dabei an das Beispiel der Apostel und der Kirchenväter, die um eine die Menschen ihrer Zeit ansprechende Verkündigung gerungen haben: „Die apostolische Nachfolge vollzieht sich nicht nur in der Bewahrung der apostolischen Worte, sondern in der Treue, mit der diese Worte in neue Situationen hinein ausgelegt und die verkündigenden Vorstösse der Apostel fortgesetzt werden So sind auch die Kirchenväter nicht nur in dem, was sie gesagt haben, sondern auch in den Akten ihres Ringens und Aussagens verbindlich." 4 1 Erneuerung und Kontinuität der Tradition sind eng miteinander verbunden, so daß eine Erneuerung, die nicht in der Kontinuität geschieht, der Gefahr erliegt, den Boden der geschichtlichen Wirklichkeit des Glaubens zu verlieren, während andererseits die Kontinuität der Tradition, die nicht durch eine ständige Erneuerung im Sinne der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens gewahrt wird, nur eine horizontale Verbindung mit den geschichtlichen Erlösungstaten Christi herstellen kann. So wird es echte Erneuerung nur innerhalb der Kontinuität geben können und die letztere nur in der Erneuerung gesichert werden. Sowohl die Kontinuität als auch die Erneuerung der Tradition sind das Werk des Hl. Geistes. So wie Jesus Christus nicht ohne den göttlichen Geist gehandelt hat und die Voraussetzung für die Sendung des Geistes darstellt, so besteht auch dessen Heilshandlung in der Ermittlung und Erfüllung der von Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung vollbrachten Erlösung. Die Kontinuität der Heilswahrheit kommt zustande, weil die Erlösung ständig geschieht und nicht, weil sie als geschichtliches Faktum überliefert wird. Nicht eine statische, sondern eine dynamische Kontinuität erfolgt durch die Tradition. Dieser dynamische Aspekt der Offenbarung wird von Nissiotis hervorgehoben: „Das Wesentliche an der Offenbarung, die Erlösung durch Christus, ist nicht nur einfach ousia, sondern wird durch den Glauben in der Kirche parousia,"42 So ist die Idee der Kontinuität nicht nur ein begriffliches Hilfsmittel, um sich vorzustellen, wie die Offenbarung die späteren Generationen erreicht, sondern diese wird innerhalb der auf die Zugehörigkeit desselben Glaubens gegründeten Gemeinschaft der uns vorausgegangenen und der uns nachfolgenden Generationen als konkrete Wirklichkeit durch den Hl. Geist erlebt. Was Christus als der zweite Adam (1. Kor. 15,45) rekapitulativ für alle Menschen vollbracht hat, wird in der Tradition kraft des Hl. Geistes jedem zuteil, der an ihn glaubt. So wird die Kontinuität im Glauben und in der Teilnahme an ein und

41 42

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Die Bedeutung der orthodoxen Kirche S. 14. Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 278.

demselben Heilsgeschehen in Christus verwirklicht, das mittels der Tradition überliefert wird, indem es weiter geschieht. Die apostolische Tradition wird nicht nur in der Schrift bewahrt oder als ein abgeschlossenes Faktum der Vergangenheit überliefert, vielmehr wird sie ihrer Natur gemäß bewahrt in der Weise, daß sie durch die ihr innewohnende göttliche Kraft des Geistes nicht aufhört, gegenwärtige Erlösungstat Gottes am Menschen zu werden. Die apostolische Botschaft durch die Tradition kontinuierlich zu bewahren, bedeutet deshalb nicht einfach, sie vor Entstellungen zu schützen und sie ohne persönliche Teilnahme an ihr wie einen kostbaren Schatz weiterzuüberreichen. Dies wäre eine falsche Auffassung von der Tradition, die nach Bulgakov nicht im Sinne eines Museums oder Depositums zu verstehen ist 4 3 . Die Kontinuität der Tradition besteht darin, das, was einmal in Christus geschehen ist, nicht einfach schriftlich zu bewahren oder zum bloßen Erinnerungsgegenstand werden zu lassen, sondern daran als an einem Gegenwartsgeschehen fortwährend teilzunehmen. S o sind Kontinuität und Erneuerung zwei Momente desselben Traditionsprozesses, die sich gegenseitig voraussetzen und in ihrer Zusammengehörigkeit ereignen. Die Bewahrung der Tradition vollzieht sich nach V. Lossky als Erneuerung kraft des Hl. Geistes: „Diese Kraft aber bewahrt durch ständige Erneuerung, wie alles, was vom Geiste k o m m t . " 4 4 Dementsprechend beschränkt sich die Kontinuität nicht nur auf die Bewahrung derselben Lehre, vielmehr gibt es eine Kontinuität des Lebens im Hl. Geist. So verstanden ist die Kontinuität mehr als nur eine ungebrochene geschichtliche Aufeinanderfolge der Bischöfe, sondern sie besteht in der Gemeinsamkeit desselben Glaubens, an dem die ganze Kirche teilhat. Es ist nicht nur eine institutionell gesicherte, sondern eine pneumatische K o n t i n u i t ä t 4 5 . Diese charismatische Kontinuität erfolgt in der Kirche, die nach Nissiotis „zunächst keine ,sakrale Institution', keine gesetzliche und organisatorische Ordnung (ist), sondern die Fortführung des Erlösungswerkes Christi durch den Hl. Geist in der Geschichte, die auf diese Weise zur Tradition w i r d " 4 6 . In der Tradition kommt nicht nur die Vergangenheit des Heils zum Ausdruck, sondern auch sein gegenwärtiger und zukünftiger Bezug. In der Tradition ist die Kirche zugleich auf die Vergangenheit und die Zukunft bezogen, indem sie die Gegenwart des Herrn in der Eucharistie feiert und ihn als den gekommenen und den kommenden Herrn empfängt. Die eschatologische Dimension gehört ebenso wie die Zuwendung zu der Geschichte J e s u zum Begriff der Tradition. V o r allem in der 43 44 45 46

L ' O r t h o d o x i e , S. 13. Die Tradition und die Traditionen, S. 19. Nissiotis, Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 2 8 3 . Ebenda, S. 2 8 4 .

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Liturgie greift die Zukunft seiner Wiederkehr als endzeitliches Ereignis in die Gegenwart hinein, und so begegnen sich im liturgischen Geschehen der Gegenwart die Vergangenheit und die Zukunft des Heilshandelns Christi. Durch die Tradition lebt die orthodoxe Kirche nicht nur in der Vergangenheit, wie durch die äußere Beurteilung ihres Gottesdienstes und die Beibehaltung ihrer Liturgien, die auf ein hohes Alter zurückzuführen sind, der Anschein erweckt wird, vielmehr erlebt sie in ihrem Gottesdienst die geschichtlichen Heilsereignisse wie auch antizipatorisch die endzeitliche Wiederkunft des Herrn als aktuelles Heilshandeln Christi. Eben die Tradition, die sich durch die Kraft des Hl. Geistes ereignet, verhilft der Kirche dazu, daß sie weder der Vergangenheit verhaftet bleibt, noch außerhalb der Kontinuität des Glaubens nur punktuell existentialistisch die Erlösung in Christus erfährt. Durch die Tradition befindet sich die Kirche in der Kontinuität der Heilswahrheit, die in der Vergangenheit ihren Ausgangspunkt hat und durch die Gegenwart bis in die Zukunft hineinreicht. 4 7 Die Kontinuität der Tradition bedeutet nicht einfach das Verbleiben der Kirche in demselben Glaubenszustand. Obwohl der Glaubensinhalt der Tradition derselbe ist und durch alle Zeiten hindurch mit sich identisch bleiben muß, besteht die Kontinuität jedoch nicht aus einer rein objektiven, ununterbrochenen Übergabe des Glaubens, vielmehr setzt sie seine dynamische Aneignung und einen ständigen Fortschritt im Verständnis und in der Teilnahme am Heilsgeschehen voraus. Die Dynamik der Tradition, die auf der Wirkung des Hl. Geistes beruht, schließt nun nicht die Gefahr ihrer Entstellung aus. Auch die orthodoxe Tradition ist von Entartungstendenzen bedroht. Die meist unveränderten Formen der orthodoxen Tradition können leicht zu Formalismus und Ritualismus führen. Selbst orthodoxe Theologen warnen vor dieser G e f a h r . 4 8 Solche Begleiterscheinungen, die hier und da festzustellen sind, wird man nur als Auswüchse betrachten dürfen, die die orthodoxen Theologen zu einer kritischen Haltung herausfordern sollten; man wird sie jedoch nicht mit dem Phänomen der Tradition identifizieren können und sich durch sie zu dem Vorwurf ermuntern lassen, daß sie mehr oder weniger typische Erscheinungen der orthodoxen Tradition seien. Dort, wo Tradition zum Traditionalismus wird und wo sie im Formalismus und sterilen Ritualismus erstarrt, wird das Wesentliche an der Tradition verkannt, nämlich die Wirkung des Hl. Geistes, der sie ständig erneuert. In der Tradition sein bedeutet nicht eine Flucht vor der 47 48

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Ebenda, S. 283. W. L o s s k y , Die Tradition und die Traditionen, S. 18, Anm. 1; D. Staniloae, Der ständige und wechselnde Charakter ., S. 154; ders., Einheit und Vielfalt in der o r t h o d o x e n Tradition, in: Ortodoxia Nr. 4, 1970, S. 3 3 8 (rum.); Nissiotis, Die Theologie . . S. 233.

Gegenwart oder ein Versinken in der Vergangenheit, sondern das Hineinholen der letzteren in die Gegenwart. Die Erneuerung der Tradition vollzieht sich nicht nur in bestimmten Abständen, um die Tradition äußerlich den Modernisierungstendenzen der Welt anzupassen, sondern bedeutet einen ständigen Prozeß der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, das als geschichtliche Tat Gottes nicht veraltet. Das Handeln Gottes an der Welt und für die Erlösung der Menschheit ist nicht deistisch zu verstehen. Nachdem Christus sich für die Menschen geopfert hat, zieht er sich nicht zurück und betrachtet seine Aufgabe nicht als beendet, sondern er sitzt zugleich zur Rechten des Vaters (Kol. 3,1) und ist unter den Gläubigen anwesend (Matth. 18,20). Nachdem Christus sich am Kreuze ein für allemal geopfert hat, hört er nicht auf, sich weiterhin für die Menschen in der Eucharistie zu opfern. In diesem Sinne findet eine ständige Erneuerung des einmaligen Heilsgeschehens statt, und so lebt die Kirche durch die Tradition nicht in der Vergangenheit, sondern aus dem gegenwärtigen Heilshandeln Christi in ihr durch den Hl. Geist aufgrund seiner einmal vollbrachten Erlösung. So hat die Erneuerung der Tradition ihr Kriterium in der geoffenbarten Heilswahrheit und vollzieht sich als deren Vergegenwärtigung. Nicht die Welt sagt, was gepredigt werden soll und was sie gerne hören möchte, sondern sie hört, was die Hl. Schrift sagt, und die Kirche hat diese in der veränderten Situation neu auszulegen und für alle Menschen in jeder veränderten geschichtlichen Lage zugänglich zu machen. Das Problem der Erneuerung der Tradition hat in der orthodoxen Theologie zunächst einen Bezug auf den Inhalt der Tradition, nämlich auf die Erlösung in Christus, die durch den Hl. Geist und in der Kirche erneut geschieht. Deshalb spricht man mehr vom dynamischen Aspekt der Tradition als von ihrer Erneuerung, denn diese scheint sich mehr auf die Formen der Tradition zu beziehen. Wenn die orthodoxen Theologen sich das Problem der Erneuerung unter diesem Aspekt stellen, so wird sie nicht als eine Änderung der überkommenen Formen der Tradition aufgefaßt, sondern es wird danach gefragt, wie diese auch für den heutigen Menschen verständlich gemacht werden können. Es handelt sich nicht um die Ersetzung der alten und um die Erfindung einer neuen Gestalt der Tradition, vor allem, was die gottesdienstlich-sakramentale Tradition betrifft, sondern darum, die Einsicht zu gewinnen, daß die Ursache dafür, daß, wenn die Menschen sich der Tradition der Kirche nicht verbunden fühlen oder von ihrer äußeren Form weniger angesprochen werden, dies nicht an der Veraltung der Ausdrucksmöglichkeiten der Tradition liegt, sondern eine Folgeerscheinung des nachlassenden Glaubens ist, die tiefere Ursachen hat. Man soll sich einerseits nicht vorstellen, dieses Problem so leicht lösen zu können, indem die alten Traditionen abgeschafft werden, genauso wie man sich andererseits davor hüten sollte, jegliche Funktion der Form der Tradition für den Glauben zu übersehen, geschweige denn sie ihm abzusprechen. Das 271

Problem der Erneuerung der Tradition wird dadurch auch nicht gelöst und sie verliert auch nicht an Aktualität und Notwendigkeit, wenn darauf hingewiesen wird, daß die Form der Tradition keine so entscheidende Rolle spielt, wenn es um Glauben oder Nichtglauben geht. Man kann dieses bis jetzt umgangene Problem nicht auf so eine allgemeine Weise erledigen mit dem Hinweis darauf, daß, falls die überkommenen Traditionen den heutigen Menschen nicht mehr ansprechen und sie ihres früheren Sinnes entleert zu sein scheinen, dies im Grunde etwas über den Zustand des Glaubens aussagt. Doch so einfach dürften die Dinge nicht liegen, und dieses Thema bedarf einer näheren Untersuchung, denn es gibt auch in der Tradition Abstufungen, und nicht alles, was als solche gilt, ist von gleicher Bedeutung. Es gibt auch in der orthodoxen Kirche einiges, das mit der Kraft und der Autorität der Tradition beibehalten wird, das man nicht davon freisprechen könnte, eine Belastung für den Glauben zu sein. Lossky warnt vor einer falsch verstandenen Traditionsgebundenheit, die in Traditionalismus ausartet. Solche Haltung besteht darin, in einer unkritischen Gläubigkeit alles anzunehmen, „was sich in das Leben der Kirche eingeschmuggelt hat und dort durch die Macht der Gewohnheit haften b l e i b t " 4 9 Wenn nicht alles, was als Tradition gilt, nicht unbedingt auch eine echte Tradition darstellt, und wenn nicht bestritten wird, daß Übertreibungen unvermeidlich waren, warum sollte auch nicht eine Revidierung gefordert werden? Ist es in der Tat so, wie aus den meisten theologischen Abhandlungen über die Tradition nicht hervorgeht, daß es in der orthodoxen Tradition — abgesehen von der dogmatischen Uberlieferung — überhaupt nichts gibt, was verändert werden könnte? Wird man behaupten können, daß eine solche Forderung wie auch ihre Durchführung nicht einen Dienst an der Kirche und am Glauben bedeutet? Erneuerung würde dann auch die Beseitigung derjenigen Elemente der Tradition bedeuten, die sich als abwegig erweisen und nicht zur Förderung des Glaubens beitragen 50 . D. Staniloae hat sich in der letzten Zeit eingehender mit diesem Problem beschäftigt 51 . Nachdem er die Hauptgründe analysiert, die eine Erneuerung der alten Formen der Traditionen scheinbar erfordern, nämlich daß sie als Ausdrucksmöglichkeiten überholt wären und dem heutigen Menschen und seiner Anschauungsweise nicht mehr entsprächen, zweifelt er jedoch daran, daß es sich in Wirklichkeit auch so verhält und daß die Menschen inzwischen solche ontologischen Veränderungen erfahren haben, um unempfindlich und befremdet den überkommenen Formen der Tradition gegenüberzustehen 52 Ähnlich könnte behauptet werden, daß der moderne Mensch auch der Schrift

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Die Tradition und die Traditionen, S. 18. D. Staniloae, Einheit und Vielfalt. . S. 3 4 0 . Der ständige und wechselnde Charakter . ., S. 1 5 6 — 1 6 3 . Ebenda, S. 1 5 8 .

gegenüber vor den gleichen Schwierigkeiten stünde. Worauf es eigentlich ankommt, ist „die Erneuerung unseres Lebens im Geiste der Tradition durch den Glauben und nicht die Suche nach neuen äußeren Formen der Tradition" 5 3 . Die Forderung nach der Erneuerung der Formen der Tradition, da sie angeblich dem neuen Menschen nicht mehr zugänglich wären, könnte als Folge die Anpassung an einen am Glauben armen geschichtlichen Zeitabschnitt haben, was ja nicht einen Gewinn, sondern eher einen Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten des Glaubens bedeuten würde. Wenn es darum geht, einem Abgleiten in Formalismus entgegenzuwirken, dann ist die Maßnahme, die Form der Tradition zu ändern, nicht das geeignete Mittel dafür, denn dieser weist auf eine Schwächung und einen Verlust an Intensität in der lebendigen Beziehung zu Christus im Glauben hin 5 4 , die mit der Änderung der äußeren Form der Tradition nicht einfach hergestellt werden kann. Deshalb kann die Erneuerung der Tradition nur dann einen Sinn haben, wenn sie in die lebendige Wirklichkeit der Tradition zurückführt. Für Staniloae bedeutet die Erneuerung der Tradition „die Wiederentdeckung im Glauben und Leben ihres lebendigen Inhaltes, der der gekreuzigte, auferstandene und erhöhte Christus ist" 5 5 Staniloae tritt nicht für eine Beseitigung der früheren Formen der Tradition ein, sondern für eine Neubesinnung auf ihre Aussagen, damit sie ihre ursprüngliche Funktion wiedergewinnen, nämlich durchsichtig für Christus zu werden, ihn zunächst zur Sprache zu bringen und zu ihm zu führen. Eine Überprüfung ist deshalb notwendig, da die Formen der Tradition starr geworden sind und die Tendenz haben, gesetzmäßige Vorherrschaft über ihren Inhalt auszuüben. Daher die Kritik: „Wir haben z.B. aus dem Zeugnis Christi eine theoretische und spekulative Theologie gemacht, eine Theologie, die in unserem Leben nicht verkörpert ist; aus der Doxologie und den Mysterien als Mittel der Verwirklichung und der Entwicklung unserer Beziehung zu dem lebendigen Christus haben wir rein rituelle Ordnungen gemacht und so unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die äußere Korrektheit gerichtet in der Meinung, daß unsere Erlösung von ihr abhängt, und indem wir das Gebet und die Anrufung Gottes vergessen haben, sind die führenden Organe der Kirche zu Organen der Verteidigung einer äußeren Ordnung und Disziplin und der Behauptung einer ungeistigen Macht in der Kirche geworden, statt daß sie diejenigen wären, die das Werk der Nächstenliebe und den evangelischen Dienst der Gläubigen anregt und organisiert und durch ihr Beispiel das Bewußtsein und die Wirklichkeit unserer Beziehung zu Christus belebt." 5 6

53 54 55 56

Ebenda. Ebenda, S. 159. Ebenda. Ebenda, S. 1 5 9 - 1 6 0 . 273

Eine andere Begründung für die Beibehaltung der alten Formen der Tradition, allerdings ohne Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung der Tradition, sieht Staniloae einerseits darin, daß sie die ursprünglichen Formeln sind, in denen die Offenbarung ausgedrückt und weitergegeben wurde, die auch mit ihrem Inhalt verbunden sind, und andererseits darin, daß sie in einem engen Zusammenhang mit der Hl. Schrift und mit ihrer Form entstanden und entwickelt worden sind. So wie keine geeigneteren Worte als die der Schrift gefunden werden, um die Offenbarung zum Ausdruck zu bringen, so behauptet Staniloae, daß die apostolische Ausdrucksweise der Tradition nicht durch andere geeignetere Terminologie für die Einführung der Offenbarung in das menschliche Leben ersetzt werden könnte 5 7 . In diesen Überlegungen tritt der Gedanke hervor, daß mit der Änderung der ursprünglichen Ausdrucksformen der Tradition auch ein Verlust an ihrer Substanz erfolgen könnte, gerade weil für ihn die Formen mit dem Inhalt so eng verknüpft sind und eine „äußerste Angemessenheit an den Inhalt der O f f e n b a r u n g " zeigen 5 8 . Aus ihrer engen Verbindung mit dem Inhalt heraus, der durch sie übermittelt wird, werden auch die Formen der Tradition quasi verabsolutiert. Und nicht nur deswegen sollen sie nicht verändert werden, sondern weil sie von der apostolischen Zeit herkommen und Ausdrucksmittel der Apostel sind, durch die sie den Inhalt der Offenbarung mitgeteilt und die Menschen in Beziehung mit Christus gebracht haben 5 9 So wichtig und wahr auch diese Begründung mit der apostolischen Herkunft der Formen der Tradition auch ist, die ihre Beibehaltung und Funktion bei der Übermittlung der Offenbarung bis heute erweist und rechtfertigt, so soll sie jedoch nicht für alle Ausdrucksformen der Tradition gelten, da diese in ihrer heutigen Form einen geschichtlichen Entwicklungsprozeß aufweist und nicht schon in allen ihren heutigen Formen in der apostolischen Kirche festzustellen ist. Die Richtigkeit dogmatischer Überlegungen für die Erhaltung der Formen der Tradition, die in ihrem ursprünglichen Sinne sich auch heute als geeignet bewähren, sollte jedoch nicht den Blick für die geschichtliche Entwicklung der Tradition verdecken. Die bleibende Funktion der Formen der Tradition sollte anerkannt und angenommen werden in der Nachprüfbarkeit ihrer Rückführung auf die Grundformen der apostolischen Tradition. Der Glaubensgehalt einer Tradition sollte über ihre Berechtigung entscheiden. In seinem leidenschaftlichen Eintreten für die überlieferten Traditionsformen räumt Staniloae jedoch ein, daß die Terminologie der dogmatischen Entscheidungen und vieles zur Tradition gehörige von vielen Mitgliedern der Kirche heute weniger verstanden wird. 57 58 59

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Ebenda, S. 157 und 160. Ebenda, S. 160. Ebenda, S. 1 6 0 - 1 6 1 .

Wenn diese Beobachtung zweifellos richtig ist, so dürfte dagegen die Folgerung nicht ganz zutreffend sein, daß die Ursache, warum die altüberkommenen Traditionsformen heute nicht mehr ankommen, allein als Zeichen des Nachlassens des Glaubens heutiger Menschen zu bewerten sei, ohne zugleich auch die Unzulänglichkeit mancher Traditionen zu berücksichtigen. Wenn die Frage berechtigt erscheint, wie eine bessere Terminologie für das trinitarische und christologische Dogma aussehen k ö n n t e , 6 0 so ist in dieser Antwort nicht eine Lösung der Frage nach allen Traditionen gegeben, die einer Überprüfung bedürfen. Wenn man die dogmatischen Formulierungen als Ausdruck des Glaubensbekenntnisses der Kirche in ihrem katholischen Konsensus betrachtet, die dabei von dem Hl. Geist geleitet wurde, so soll man jedoch ihren geschichtlichen Charakter nicht übersehen 6 1 . Wenn man dies im Auge behält, weiß man um die Notwendigkeit, sie immer wieder in jede neue geschichtliche Situation hinein zu interpretieren. Wenn die Kirche feststellt, daß der Sinn dieser Formulierungen oder die Bedeutung der Sakramente heute weniger verstanden werden, kann sie die Verantwortung hierfür nicht von sich schieben, indem darauf hingewiesen wird, daß der Mensch inzwischen andere Vorstellungen und weltanschauliche Einsichten gewonnen hat, denn ihr kommt die Aufgabe zu, die Heilswahrheiten den Menschen aller Zeiten neu zu interpretieren und dabei Sorge dafür zu tragen, daß diese den geistigen Möglichkeiten der Menschen entsprechend zugänglich gemacht werden. Diese unausweichliche Notwendigkeit ergibt sich aus der ständig wechselnden Lage, in der die Menschen leben und aus der unaufhörlichen Weiterentwicklung, von der sie ergriffen sind. Die Dynamik und die Lebendigkeit der Tradition erweisen sich darin, daß die Offenbarung in der Kirche durch den HI. Geist für alle Generationen von Menschen gegenwärtiges Heilsereignis wird und das Wort Gottes durch die Tradition alle Menschen anspricht. Das Problem der Erneuerung der Tradition, wie es sich in der orthodoxen Kirche stellt, ist also nicht, wie man für die überkommenen Formen neue findet, sondern wie man diese erneuert, indem man zu ihrem ursprünglichen Sinn, der im L a u f e der Zeit unkenntlich wurde, zurückfindet. S o wird auch die Erneuerung der Tradition von Lossky verstand e n 6 2 . Es ist also nicht eine Erneuerung der Formen, sondern des Inhaltes der Tradition, an dem den Gläubigen durch den Vollzug der kirchlichen Tradition die Teilnahme ermöglicht wird. Die Tradition der orthodoxen Kirche macht nur äußerlich den Eindruck, rückwärts orientiert zu sein, weil sie an den alten Formen der Traditionen festhält. Dadurch erlebt sie aber Christus als den gegenwärtigen, der das Heil durch den Hl. Geist jetzt bewirkt und vermittelt. Die Tatsache soll 60 61 62

Ebenda, S. 161. S. Boulgakoff, L'Orthodoxie, S. 45 f. Die Tradition und die Traditionen, S. 19.

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jedoch nicht übersehen werden, daß das Festhalten an den alten Formen der Tradition ihr eine starre konservative Haltung aufprägen könnte, die allerdings nur als eine Gefahr und nicht als eine notwendige, nicht zu vermeidende Konsequenz zu verstehen ist. Die Lebendigkeit der orthodoxen Tradition erweist sich außerdem in dem Zeugnis, das sie nicht selten unter schwierigen geschichtlichen Umständen von Christus gibt. Eine Tradition ist nicht nur dann lebendig, wenn sie sich in einem unaufhörlichen Wandlungsprozeß befindet, sondern auch dann, wenn sie den Menschen den lebendigen Christus durch den Hl. Geist in Wort und Sakrament gegenwärtig vermittelt.

5. Der Zusammenhang und der Unterschied zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition Wird einerseits die Tatsache berücksichtigt, daß die apostolische Tradition auch als kirchliche bezeichnet werden kann und daß die nachapostolische kirchliche Tradition ihren Ursprung in der apostolischen Tradition hat und mit ihr inhaltlich übereinstimmen muß, und wird andererseits darauf geachtet, daß sie mit dieser nicht gleichgesetzt werden darf, so wird man bei der Bestimmung ihres Verhältnisses in gleichem Maß diese beiden Momente zu berücksichtigen haben. Wenn in der protestantischen Theologie der Akzent mehr auf ihren Unterschied gesetzt wird und die Hervorhebung ihres Zusammenhanges im Vergleich dazu zurücktritt, so wird in der orthodoxen Theologie mit Nachdruck auf ihre Kontinuität und Identität hingewiesen, wobei die Herausarbeitung ihres Unterschiedes etwas zu kurz kommt. Das Verhältnis zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Tradition kann weder allein durch ihren Unterschied noch nur durch die Feststellung ihres Zusammenhanges ausreichend bestimmt werden. So wie einerseits zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition keine hermetische Scheidungslinie gezogen werden kann, so wird man andererseits jedoch ihren Unterschied nicht übersehen können oder beide undifferenziert als gleichwertige Autoritäten betrachten dürfen. Das Problem des Verhältnisses zwischen der apostolischen und nachapostolischen Tradition, zwischen der Zeit der Apostel und der Zeit der Kirche, wobei auch die erstere nicht außerhalb der Kirche liegt, bleibt ein wichtiges Thema im theologischen Dialog zwischen der evangelischen und der orthodoxen Kirche. Auch für die orthodoxe Kirche gilt, daß die apostolische Tradition einmalig und abgeschlossen ist. Der für die ganze Zeit der Kirche geltende normative Charakter der ursprünglichen christlichen Tradition geht auf die Einmaligkeit der Apostel und die Sonderstellung zurück, die sie als von Christus selbst erwählte bevollmächtigte und gesandte Zeugen sei276

ner Heilstaten und seiner Auferstehung in der Kirche einnehmen 6 3 . Nur auf das, was sie von Christus überlieferten, von dem sie ohne andere menschliche Zwischenglieder die Offenbarung unmittelbar empfangen haben, ist der Glaube gegründet. Die Einmaligkeit des Aposteldienstes und die grundlegende Bedeutung der Apostel nicht nur bei der Entstehung der Kirche, sondern für ihre ganze Geschichte als der Grund, auf dem sie gebaut wurde mit Christus als dem Eckstein (Eph. 2,20), verleiht ihrer Tradition einen einzigartigen Wert, da sie j a die für alle Zeiten maßgebliche Bezeugung des Evangeliums darstellt. Alles, was in der Kirche nach dem Tode der Apostel geschieht, soll sich nach dem Maßstab ihrer Tradition zu richten haben. Die apostolische Tradition hat gegenüber der kirchlichen Tradition normative Autorität. In dieser grundsätzlichen Feststellung stimmen beide Theologien überein. Die apostolische Tradition steht nicht nur am Anfang der Kirche, sondern sie bleibt für immer der richtungsweisende Grund ihres Glaubens. Nicht alles, was in der Kirche als Tradition gilt, besitzt gleiche Autorität. Die apostolische und die kirchliche Tradition stehen auf verschiedenen Stufen. Nicht zuletzt könnte das starke Bewußtsein der orthodoxen Kirche, in der Kontinuität der apostolischen Urkirche zu stehen, sie daran gehindert haben, sich dieses Unterschiedes bewußter zu werden und ihm in den theologischen Überlegungen über die Tradition mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Während der Hinweis auf die inhaltliche Identität der orthodoxen Tradition mit der Urkirche in jede Abhandlung, die das Problem der Tradition zum Gegenstand hat, als selbstverständlich hineingehört, so räumt man ihrem Unterschied nicht mit derselben Selbstverständlichkeit einen bestimmten Platz ein, und dieser erscheint nicht immer als eine andere Seite der Wirklichkeit derselben kirchlichen Tradition. Dies ist darauf zurückzuführen, daß nach der orthodoxen Auffassung zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition kein inhaltlicher Unterschied besteht. Die kirchliche Tradition darf inhaltlich nicht über die apostolische Tradition hinausgehen, und deshalb ist ihr Unterschied nur formaler Art. Ein anderer Grund dafür, daß das Moment des Unterschiedes in der orthodoxen Theologie nicht die Oberhand gewinnen konnte und das Verhältnis beider Traditionen nicht im Übermaß bestimmte, ist sicherlich auch darin zu sehen, daß die Tradition hier weniger als eine Doktrin oder ein Komplex von Lehren und Wahrheiten, die sich zu einer Systematisierung und Unterordnung besser eignen, sondern primär als ein dynamisches, lebendiges Ganzes und als Mittel der Heilsübereignung gesehen wird. Diese Auffassung von der Tradition erklärt ihre enge Verbindung mit dem Leben der Kirche. Auf dieses Traditionsverständnis ist es auch zurückzuführen, daß es in der orthodoxen Kirche nicht einfach um Lehrunterschiede zwischen den 63

Vgl. G. Papadopoulos, a.a.O., S. 47 ff.

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Kirchen geht, ohne daß durch diese die Gemeinschaft zwischen den Kirchen beeinträchtigt würde und diese auch nicht als kirchentrennend empfunden würden. Die Glaubenswahrheit wird nicht isoliert von der Wirklichkeit der Kirche gesehen. Der Zusammenhang zwischen der „Kirchengemeinschaft" und der „Lehreinheit", die für die orthodoxe Kirche kennzeichnend ist, wurde von R. Slenczka hervorgehoben 64 . Zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition wird man dennoch deutlich zu unterscheiden haben. Sofern man ihnen undifferenziert dieselbe Autorität gewährt und apostolische und kirchliche Tradition gleichsetzt, so wird dadurch der Vorrang und die Einmaligkeit der ersteren aufgehoben, wobei dann die Gefahr droht, daß die apostolische Tradition mit menschlichen Traditionen vermischt wird und diese auch als apostolische gelten, wenn nicht ein klarer Unterschied zwischen der Tradition der Apostel und der Kirche gemacht und an der apostolischen als dem absoluten Kriterium für alle kirchliche Tradition festgehalten wird. Die apostolische wird in der kirchlichen Tradition nicht ergänzt oder vervollständigt, genauso wie der Kreis der Apostel durch deren Nachfolger nicht erweitert wird, und ebenso wenig sind die beiden gleichzusetzen wie die Apostel und die Bischöfe. Die Bischöfe und die Kirche nach der apostolischen Zeit als der eigentlichen und abgeschlossenen Zeit der Offenbarung können den Inhalt der apostolischen Tradition nicht mehr erweitern, und die Tradition, die sich danach in der Kirche entwickelt, kommt der der Apostel nicht gleich. Die apostolische Tradition wird der Kirche zur treuen Bewahrung anvertraut und als Mittel zur Teilnahme am Christusgeschehen überliefert. Auf diese Aufgabe der Kirche, die Überlieferung der Apostel zu bewahren und nicht zu vermehren, wird von Paulus unmißverständlich hingewiesen, wenn er Timotheus schreibt: „Halte an dem Vorbilde der heilsamen Worte, die du von mir gehört hast, im Glauben und in der Liebe in Christo Jesu. Das beigelegte Gut bewahre durch den Hl. Geist, der in uns w o h n t " (2. Tim. 2 , 1 3 - 1 4 ) . Die Autoriät der nachapostolischen Tradition ist darin begründet, daß sie die das Heilsgeschehen übermittelnde apostolische Tradition aufnimmt und sie in der Kirche weitergibt. Berücksichtigt man den Glaubensgehalt der kirchlichen Tradition, der kein anderer sein durfte als der der apostolischen Tradition, so wird man unter diesem Gesichtspunkt auch die kirchliche Tradition im übertragenen Sinne apostolisch nennen können. Das Eingehen der apostolischen in die kirchliche Tradition löst sie jedoch nicht aus ihrer Abhängigkeit von dieser. Ungeachtet der Tatsache, daß die apostolische Tradition in der kirchlichen ihren Niederschlag fand, wie in den alten Glaubensbekenntnissen, im Kult, in den dogmatischen Entscheidungen oder in der Auslegung der Schrift

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Ostkirche und Ökumene, S. 2 1 0 ff.

durch die Kirche, sollte jedoch zwischen den beiden unterschieden werden 65 Ein allgemeiner Hinweis darauf, daß es einerseits um die apostolische und andererseits um die kirchliche Tradition geht, als ein Zeichen für ihren Unterschied, wird wohl nicht genügen, um eine tiefere Einsicht in ihre verschiedenen Strukturen zu vermitteln und um diese auch näher zu bestimmen. Auch wenn keine Diskontinuität zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition bestehen darf und wenn die Kirche nach der apostolischen Zeit an der ganzen Fülle der Offenbarung teilhat und die Anwesenheit Christi nicht weniger intensiv als zu Lebzeiten der Apostel erlebt 6 6 , wird es theologisch unerläßlich sein, zwischen den beiden Traditionen, die eine Einheit miteinander bilden, zu unterscheiden, denn es wäre absurd zu glauben, daß die kirchliche Tradition so wie sie sich uns heute darstellt, in ihrer Gesamtheit von den Aposteln stammt, und daß inzwischen keine Entwicklung mehr stattgefunden hat. Eines sollte hierzu festgehalten werden. Wenn unter den orthodoxen Theologen kein Zweifel an der Identität des Glaubens ihrer Kirche mit dem der alten Kirche a u f k o m m t , so sollte man sich jedoch dessen bewußter werden, daß diese oft wiederholte Überzeugung den wissenschaftlichen Nachweis nicht überflüssig macht. Gerade wenn es zutrifft, oder weil es stimmt, daß die orthodoxe Kirche die Tradition der altkirchlichen Kirche treu bewahrt hat, sollte die orthodoxe Theologie es auch als ihre Aufgabe betrachten, in historisch-kritischen Untersuchungen diese ihre Überzeugung unter Beweis zu stellen. Wenngleich dieser Unterschied theologisch-systematisch noch auszuarbeiten ist, so ist er für die orthodoxe Kirche eine Tatsache, die sich in ihrer Bindung an die alte Kirche bekundet, in der sich ihre Überzeugung von der Einmaligkeit und der Einzigartigkeit der apostolischen Tradition ausdrückt. Dadurch erkennt sie die Besonderheit dieser Tradition an und die Notwendigkeit, sich an sie gebunden zu fühlen. Wenn die orthodoxe Kirche ihre Tradition von der apostolischen Tradition nicht abhängig wüßte, so gäbe es für sie auch keinen Grund für ihr so ausgeprägtes Bewußtsein, diese treu bewahrt zu haben und ihren Glauben identisch mit dem der apostolischen Kirche zu wissen. In dieser ihrer Haltung kann man schon unausgesprochen den Gedanken des Vorranges der apostolischen Tradition erkennen. Bei aller Identität des Inhaltes der kirchlichen und der apostolischen Tradition bestehen zwischen beiden auch wesentliche Unterschiede, die aber keinen Abbruch in ihrer Zusammengehörigkeit und Kontinuität

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Über die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition bestand zwischen den russischen orthodoxen und den evangelischen Teilnehmern auf dem Arnoldsheiner Treffen weitgehend Einigkeit, in: Tradition und Glaubensgerechtigkeit, Studienheft Nr. 3, hrsg. vom Außenamt der EKD, Witten 1961, S. 10. D. Staniloae, Die Heilige Tradition . . ., S. 84.

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darstellen. Wenn die Offenbarung mit dem Tode der Apostel abgeschlossen ist, und wenn die Apostel, die von Christus mit der Proklamation und Überlieferung des Evangeliums, das sie maßgeblich bezeugten, beauftragt wurden und so eine Sonderaufgabe in der Heilsökonomie erfüllten, ist es dann verständlich, daß die Tradition, die danach entsteht, nicht denselben Rang wie die apostolische haben kann. Wenn die kirchliche Tradition das Evangelium zu ihrem Inhalt hat, so tritt sie deswegen nicht neben die apostolische Tradition als unabhängige Größe, weil sie ohne diese nicht möglich ist, vielmehr setzt sie sie voraus, geht von ihr aus und verweist wiederum auf sie. Den Begriff der Tradition kann man deshalb nicht undifferenziert gebrauchen und kirchliche mit apostolischer Tradition verwechseln oder sie als austauschbar betrachten. Ein anderer Grund, aus dem in der orthodoxen Theologie das Problem des Unterschiedes zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition nicht zu einem zentralen Thema wurde, könnte auch darin gesehen werden, daß sich in der kirchlichen Tradition auch apostolische Traditionen befinden und mit der Festlegung des Kanons nicht alle Elemente der apostolischen Tradition in der Sammlung des Neuen Testamentes aufgenommen wurden. Das Problem der apostolischen Tradition und deren Aufnahme im neutestamentlichen Kanon wird nicht vereinfacht, so daß nur das, was in der Schrift enthalten ist, als apostolische Tradition gilt und es sich in dem, was außerhalb von ihr liegt, nur um spätere kirchliche Tradition handelt. Auch in der evangelischen Theologie wird eingeräumt, daß der breite Strom der apostolischen Tradition nicht restlos in das Neue Testament eingegangen ist. Für die orthodoxe Theologie hat das, was zur apostolischen Tradition gehörte und in der Schrift nicht aufgenommen wurde, eine theologische Bedeutung und spielt bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der apostolischen und der kirchlichen Tradition eine wichtige Rolle, auch wenn nicht behauptet werden kann, daß die mündliche apostolische Tradition, die außerhalb der Schrift blieb und neben ihr weiterlief, über den Glaubensinhalt der Schrift hinausgeht. Eben dieser Bestandteil der apostolischen in der kirchlichen Tradition wird in der orthodoxen Theologie berücksichtigt, wenn es um ihr Verhältnis geht, und entschärft die Radikalität des Gegensatzes zwischen der göttlich-apostolischen und der kirchlichen Tradition, die ja nicht als rein menschliche Tradition verstanden wird. Das Vorhandensein der in der Schrift nicht aufgenommenen apostolischen Tradition in der kirchlichen Tradition stellt aber eine andere Schwierigkeit dar, wenn es um den Unterschied zwischen den beiden geht, solange nicht bewiesen wird, was von der kirchlichen Tradition echte apostolische Tradition ist und was später aus dieser und aus der Schrift abgeleitet und entwickelt wurde, wobei nicht übersehen werden soll, daß, während einerseits in der evangelischen Theologie in der kirchlichen Tradition kaum apostolische Tradi280

tionen gesehen werden, in der orthodoxen Theologie andererseits die Neigung besteht, alles aus der kirchlichen Tradition auf die Apostel zurückzuführen. Allgemein gilt, daß die kirchliche Tradition nicht nur aus der apostolischen Tradition entstand, wie diese in der Schrift enthalten ist, sondern daß sie auch ursprünglich apostolische Traditionen umfaßt. Jedoch auch, wenn genau festgestellt wird, welche in der kirchlichen Tradition die ursprünglichen Elemente der apostolischen Tradition sind und was von der allgemeinen apostolischen Tradition abgeleitet wurde, also auch aus der Schrift, wird an dem Vorrang der apostolischen Tradition und der Schrift nichts ändern, da aus der kirchlichen Tradition trotz der in ihr enthaltenen apostolischen Traditionen nicht bewiesen werden kann, daß ihr ein anderer Glaubensgehalt oder ein umfassenderer als der der Schrift zugrunde liegt. Das Fehlen eines solchen Beweises ist jedoch nicht schon ein Argument dafür, daß in ihr Traditionen, die unmittelbar von den Aposteln stammen, nicht zu finden oder daß ihre Anfänge erst in der Zeit nach der Bildung des Neuen Testamentes zu datieren sind; eher ist es gerechtfertigt anzunehmen, daß ein Teil der apostolischen Tradition, der nicht in die Schrift aufgenommen wurde, in das, was man als kirchliche Tradition bezeichnet, übergegangen ist. Diese verliert nicht deswegen an Gewicht, weil sie sich auf denselben Glauben wie die Schrift bezieht, in der ja die hauptsächlichen Zeugnisse der Offenbarung zusammengestellt wurden, sondern behält auch ihre Bedeutung, insofern sie von den Aposteln stammt und apostolische Ausdrucksformen des von ihnen verkündigten Heils in sich trägt. Die orthodoxe Kirche möchte diese nicht geschriebenen apostolischen Traditionen auch in Kenntnis davon, daß sie, was die Substanz des Glaubens betrifft, nichts Neues im Hinblick auf die Schrift bringen, nicht als bloß menschliches, unzulängliches Werk abtun. Die kirchliche Tradition weist einerseits unmittelbare Verbindung auf mit der apostolischen Tradition, von der sie ausgeht, und ist andererseits zugleich auch als die Tradition zu verstehen, die entstanden ist nach der apostolischen Zeit und der Festlegung des Kanons auf dem Boden der Grundwahrheiten der Schrift als Mittel zu deren lebendigen Überlieferung und Vergegenwärtigung. So schließt die kirchliche Tradition sowohl die Entfaltung der nicht geschriebenen apostolischen Traditionen als auch die lebendige Darstellung und Deutung der in der Schrift zusammengefaßten apostolischen Tradition ein 6 7 Sie ist nicht in gleichem Maße wie die Schrift apostolisch. Es ist auch nicht so, daß sie keinerlei direkte Beziehung zu der apostolischen Tradition hätte, außer daß sie durch die Auslegung der Schrift mit dieser inhaltlich identisch ist und denselben Glauben überliefert. In der orthodoxen Theologie wehrt man sich gegen die Auffassung, daß die kirchliche Tradition nur ein Werk der Kirche nach der apostolischen 67

Ebenda, S. 65.

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Zeit u n d der K a n o n b i l d u n g sei 6 8 ; m a n sollte j e d o c h auch hier stärker in Betracht ziehen, daß sie auch eine kirchliche Wirklichkeit ist, die in ihrer Gesamtheit nicht apostolischer H e r k u n f t ist, wie sie die Schrift aufweist, u n d daß sie zu einer Zeit e n t s t a n d e n ist, in der die Kirche nicht einfach n u r o h n e die Apostel a u s k o m m t , sondern ihren Glauben u n d ihre Existenz nach der apostolischen Überlieferung zu e n t f a l t e n u n d zu b e k e n n e n h a t . J e t z t ist nicht m e h r die Zeit, in der die Grundlagen des Glaubens gelegt werden, sondern die Zeit seiner Festigung u n d E n t f a l t u n g auf d e m ein für allemal von Christus u n d den von ihm beauftragten Aposteln gelegten F u n d a m e n t . Die Kirche, insbesondere ihre Führung, darf nicht vergessen, daß ihr n u n die Apostel fehlen u n d sie deshalb bei deren Tradition zu bleiben h a t . Die kirchliche Tradition b e f i n d e t sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der apostolischen Überlieferung, u n d daran sollte auch die Tatsache, daß sie ungeschriebene Elemente der apostolischen Tradition u m f a ß t , nichts ändern. Dies ist allerdings für die o r t h o d o x e Theologie ein nicht zu übersehendes F a k t u m , das für die kirchliche Tradition ins Gewicht fällt, da sie j a die apostolische Tradition, die sie auch z u m Gegenstand hat, nicht n u r von der Schrift ableitet, sondern vieles, was sie enthält, bis zu den Aposteln zurückreicht. Hierzu b e m e r k t Staniloae: „Man sagt, daß die Apostel sich in der Übermittlung der O f f e n b a r u n g einer ,inspiratio ad scribend u m ' u n d ,ad l o q u e n d u m ' e r f r e u t haben. Wir sollen für sie auch eine ,inspirado ad f a c i e n d u m ' oder ,ad i n s t i t u e n d u m ' a n n e h m e n , durch die sie die Sakramente, eine kirchliche Ordnung, einen göttlichen Gottesdienst, Gesetze für das Gemeinschaftsleben eingerichtet h a b e n . " 6 9 Wenn von allen diesen in der Schrift weniger geschrieben steht, d a n n ist hieraus nicht auf ihre geringe B e d e u t u n g zu schließen, d e n n sie gehen auch auf die Apostel zurück 7 0 , u n d als erlebte u n d ständig praktizierte Traditionen wurden sie mündlich überliefert. Wenn die apostolische Urheberschaft solcher Traditionen hier nicht bestritten werden soll, so wird man j e d o c h einräumen, daß sie so, wie sie uns h e u t e erscheinen, weitgehend auch ein Werk der Kirche u n d von einem geschichtlichen Entwicklungsprozeß geprägt sind, so daß die apostolische H e r k u n f t nur für ihre Kerngestalt b e h a u p t e t werden kann. Trembelas w e n d e t sich gegen eine unkritische Betrachtungsweise, die wegen des Alters vieler liturgischer Traditionen diese als von den Aposteln eingeführt betrachtet. Damit soll j e d o c h nicht schon ihr apostolischer Kern geleugnet werden. A u f g r u n d der apostolischen Einrichtungen haben sich d a n n im Laufe der Zeit der Gottesdienst u n d die Praxis der Kirche e n t w i c k e l t 7 1 . 68 69 70

Ebenda, S. 78. Ebenda. Ebenda.

71 Aèv θ à ήδ ύνατο τις ομως νά άρνηθη ευλόγως, ότι εις πάντα ταύτα ò ττυ ρ ή ι> είναι άποστολίκός, έφ'όσον βαπτίσματα και κλάσεις άρτου και ομαδικοί προσευχαί και επιθέσεις χειρών κλπ. èyëvovro και ύπ'αύτών των Αποστόλων. Ή πράξις λοιπόν αύτη ή άποστολικη είναι άπαράδ εκ τον νά ύποστηρίξη τις, 'ότι 282

Man würde einen ähnlichen I r r t u m begehen, w e n n m a n der kirchlichen Tradition jegliche apostolische H e r k u n f t abspräche wie wenn m a n sie, so wie sie sich uns h e u t e darstellt, als gänzlich in der apostolischen Zeit e n t s t a n d e n b e t r a c h t e t e . So wie m a n sie von der apostolischen Tradition nicht einfach abschneiden k a n n u n d als bloßes P r o d u k t der Kirche späterer Zeiten versteht, so wird m a n sie in ihrer Gesamtheit j e d o c h als nicht so u n m i t t e l b a r apostolisch wie die Schrift ansehen. Die Kirche hat im neutestamentlichen K a n o n aus ihrer Sorge u m die Reinerhaltung u n d Bewahrung der apostolischen Tradition das Wesentliche ihres Glaubensgehaltes in der Schrift festgelegt, so daß ein Mangel an V e r t r a u e n gegenüber der früheren Kirche der V e r m u t u n g gleichkäme, daß einige Glaubenswahrheiten außerhalb der Schrift geblieben seien und ihr so indirekt vorzuwerfen, daß sie nicht mit der notwendigen Sorgfalt gehandelt hat, um alles, was als heilsnotwendig gilt, im Neuen T e s t a m e n t vor der Vermischung mit der falschen Lehre sicherzustellen. In der Tat hat die Kirche in der Schrift alle j e n e apostolischen Zeugnisse z u s a m m e n g e f a ß t , in denen das Erlösungsgeschehen in Christus bezeugt ist, so d a ß aus allen der ganze christliche Glaube wiederhergestellt werden k a n n . Insofern stellt sich das Verhältnis zwischen der Schrift u n d der kirchlichen Tradition nicht m e h r im Hinblick darauf, ob sie sich inhaltlich gegenseitig ergänzen, vielmehr wird ihr Verhältnis zueinander von der Weise b e s t i m m t , wie sie dieselbe O f f e n b a r u n g bezeugen und mit welcher A u t o r i t ä t j e d e dies t u t . Zunächst wird also a n g e n o m m e n , daß j e d e auf ihre Art die ganze O f f e n b a r u n g bezeugt u n d enthält. Ihr Unterschied wird d e m n a c h nicht inhaltlicher Natur, sondern daran festzustellen sein, auf welche Weise sie im Dienst der O f f e n b a r u n g stehen, ob sie sie u n m i t t e l b a r oder mittelbar enthalten u n d auf welche Weise sie als ein Werk des Hl. Geistes zu verstehen sind, wie u n d in welchem Maße sie menschliche Beteiligung einschließen. Auf diese S t r u k t u r e l e m e n t e der apostolischen u n d der kirchlichen Tradition, die nicht in gleichem Maße für j e d e gelten, geht ihr Unterschied zurück. Ein Unterschied zwischen Schrift u n d Tradition ergibt sich auch daraus, daß n u r die Schrift in besonderer Weise als das Wort Gottes b e t r a c h t e t wird 7 2 . Die Schrift ist nicht das von G o t t u n m i t t e l b a r ausgesprochene Wort. Wenn die Schrift auch nicht mit dem eigenen Wort G o t t e s gleichgesetzt werden k a n n , da sie j a nicht wie ein von G o t t diktiertes und von Menschen einfach abgeschriebenes Buch z u s t a n d e g e k o m m e n ist, so ist sie j e d o c h die einzige Schrift, die als das Wort G o t t e s bezeichnet werden kann. Sie ist das zu uns g e k o m m e n e Wort Gottes mittels des menschδέν απετέλεσε τον πυρήνα, περί òv εξειλίχθη αναπτυχθείσα -περαιτέρω ή θεία λατρεία και έν -γένει ή εκκλησιαστική πράξις. 72

Der sich hieraus ergebende Unterschied und die Unterordnung der Tradition unter die Schrift in katholischer Sicht vgl. P. Lengsfeld, Überlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart, Paderborn I 9 6 0 , S. 197 ff.

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lichen Wortes. Für die Schrift gilt in einzigartiger Weise die Bezeichnung Gottes Wort, weil sie in Worten der Apostel und in Worten der Urgemeinde die authentische apostolische Tradition enthält. Sie ist das ursprüngliche Wort der Apostel und das Wort Jesu im nicht abgeleiteten Wort seiner bevollmächtigten Zeugen, das für immer unverändert bleibt 7 3 Das Wort des neuen Testamentes, das in sich das Wort Jesu einschließt, hat nach Trembelas absolute Autorität 7 4 . Entscheidend dafür, daß nur die Schrift in einzigartiger Weise als das Wort Gottes gilt und daß sie gegenüber der Tradition die Priorität erhält, ist, daß die Schriften des Neuen Testamentes, die in menschlichen Worten verfaßt wurden, unter der Einwirkung des Hl. Geistes entstanden sind. Diese Worte sind Träger des Wortes Jesu und Werkzeug des durch sie das Heil in Christus bewirkenden und vermittelnden Hl. Geistes. Der Hl. Schrift gebührt allein die Bezeichnung Wort Gottes, weil sie, sagt Trembelas, die einzige Schrift ist, die in besonderer Weise das Werk des Hl. Geistes g e n a n n t z u w e r d e n v e r d i e n t : Ή Γραφή ώ ς σύνολον είναι πράγματι λ ό γ ο ς τ ο ϋ θεού δ ι ό τ ι είναι τ ό μόνονβιβλίον, otre ρ θ à ήδννατο 75 χαράκτηρισθή ώ ς ëpyov τοϋ ένός ' Α γ ί ο υ πνεύματος .

ö và

Als Niederschlag der ursprünglichen apostolischen Tradition bietet das Neue Testament die höchste Garantie für ihre Echtheit. Aufgrund der göttlichen Autorität der Schrift und ihrer Bedeutung für die Reinerhaltung der apostolischen Botschaft muß jede kirchliche Entscheidung, die für sich Gültigkeit beansprucht, mit der Schrift im Einklang stehen. Wegen der Autorität der Schrift, die sie von Gott bezieht, könnte die Kirche keiner Schrift der Bibel ihre Autorität absprechen und aus dem Kanon streichen 7 6 . So scheint es berechtigt, wenn Staniloae schreibt, daß alles, was in den Sakramenten vollzogen und im Gebet zum Ausdruck gebracht wird, ohne die Schrift als eine Erfindung menschlicher Überlegungen erscheinen würde 1 1 . Die Schrift leitet ihre Autorität nicht von einer anderen Instanz her, sondern hat sie in sich von Gott, der in ihr spricht 7 8 . Das besondere Wirken Gottes bei der Verfassung der neutestamentlichen Schriften im Akte der Inspiration 79 durch den Hl. Geist 73 74

75 76 77 78 79

D. Staniloae, Die Heilige Tradition . S. 77; W. Lossky, Die Tradition und die Traditionen, S. 14. A.a.O., Bd. I, S. 98: 'ως εμπεριέχουσα λοιπόν τον λ&γον τοϋ θεού ή αγία Γραφή περιβάλλεται δί απολύτου κύρους κυρω,ρχούντος και τού κύρους της 'Εκκλησίας Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 102. Die Heilige Tradition . ., S. 77; Trembelas, a.a.O., S. 100. Trembelas, a.a.O., S. 102: ώμος τό κύρος αύτης ή Ά γ ι α Γραφή δέν αντλεί έκ τής'Εκκλησίας, αλλ'αμέσως έκ τού θεού τού λαλούντος èv αύτη. Κ. Rahner, Schrift und Tradition, in: Schriften zur Theologie, Bd. VI, Einsiedeln, Köln, Zürich 1965, S. 135, vertritt die Auffassung, die auch in der orthodoxen Theologie Zustimmung finden dürfte, daß die Inspiration der Schrift ein Beweis dafür ist, daß in ihr alle Heilswahrheiten der Offenbarung enthalten sind: „Wenn Gott nun einmal wirklich das Wunder einer Schriftinspiration und

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ist ein Grund mehr für die besondere Bedeutung der Schrift in der Kirche als normative Bezeugung des Evangeliums. Daß die Schrift das Wort Gottes ist, stellt nach Bulgakov den Beweis dafür dar, daß sie die unabhängige und erstrangige Glaubensquelle ist, „eine erstrangige und unabhängige Quelle des Glaubens", und deshalb steht sie über alle Tradition: „Das Wort Gottes steht über allen anderen Quellen des Glaubens, besonders über der ganzen Tradition in allen ihren Formen" 80 Wenn unter Tradition nicht nur die nach der Kanonbildung entstandene kirchliche Tradition, sondern auch die von dem apostolischen Zeitalter her stammende nicht geschriebene Tradition mitverstanden wird, so steht sie jedoch nicht unabhängig von der Schrift, sondern in einem Bezugsverhältnis zu dieser. Dies trifft also nicht für die spätere kirchliche Tradition zu, sondern auch für die von den Aposteln stammende in der Schrift nicht aufgenommene Tradition, insofern diese in keinem anderen Verhältnis zu der Schrift steht als ihre Auslegung. Diese findet nicht erst nach der Kanonisierung der Schrift statt, sondern schon vorher, obwohl sie in dieser Zeit nicht als Auslegung der Schrift als Kanon, sondern einfach als Auslegung und Darlegung des Heilsgeheimnisses in Christus gilt. Es steht außer Zweifel, daß die Apostel selbst die Christusgeschichte gedeutet und nicht einfach das reine Faktum seines Erlösungswerkes überliefert haben. Ein Teil ihrer Auslegung des Christusmysteriums, die auch Offenbarungscharakter hat, ist in der Schrift aufgenommen. Es wird mit Sicherheit angenommen, daß sie auch darüber hinaus als Vermittler und Interpreten dessen, was mit Christus geschehen ist, als seine Zeugen tätig waren. Zu dieser mündlich weiterbestehenden apostolischen Tradition gehören die kurz formulierten Glaubensbekenntnisse, die auch in der Schrift festzustellen sind, und Gebete mit liturgisch-sakramentalen Charakter, die die Apostel in der gottesdienstlichen Versammlung sprachen, und die von der Gemeinde gelernt und bewahrt wurden, die dann als Kernformen der späteren Glaubenssymbole und des entwickelten Gottesdienstes dienten. Hier taucht die Schwierigkeit auf, genau festzustellen, was davon unmittelbar von den Aposteln gekommen und was in den folgenden Zeiten in der Kirche entstanden ist. Die kirchliche Tradition kann auch nicht gleich wie die Schrift das Wort Gottes genannt werden, weil sie nicht in ihrer Ganzheit wie diese das unmittelbare Zeugniswort der Apostel ist. Wenn die Tradition apostolisch genannt wird, dann gilt dies für sie nur hinsichtlich ihres Inhaltes.

80

einer göttlichen Schrift gewirkt hat, dann kann er mit Ausnahme der Bezeugung dieses Wunders nicht noch einmal bestimmte Wahrheiten der Kirche nicht in der Schrift bezeugt sein lassen, wenn doch diese Schrift gerade dazu inspiriert wurde, um die Wahrheit der apostolischen Kirche für die späteren Generationen zu bezeugen." L'Orthodoxie, S. 25.

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In der Sicherheit, die die Schrift für die Echtheit des apostolischen Glaubens bietet, und in der Erkenntnis von der Gefahr seiner Entstellung in der Tradition, die mit ihrem menschlichen Element möglicherweise gegeben ist, wird die Unterordnung der Tradition unter die absolute Norm der Schrift noch einsichtiger. Es liegt in der dogmatischen Rangordnung begründet, daß es die Tradition ist, die der Schrift nicht widersprechen darf. Bulgakov spricht deshalb von dem Wort Gottes als einer Instanz der negativen Kontrolle gegenüber der Tradition, insofern diese an dem kritischen Urteil der Schrift gemessen wird und mit ihr in Ubereinstimmung stehen muß 8 1 . Wenn es möglich ist, die Tradition nach der Schrift zu ändern, falls sie sich von dieser entfernte, so ist das Gegenteil nicht denkbar. Zwischen Schrift und Tradition besteht keine Konkurrenz. Durch die Anerkennung der Tradition als autoritative Lehrnorm wird indirekt auch auf die Bedeutung der Schrift hingewiesen, auf die sich im Grunde der Inhalt der Tradition stützt und mit der sie in Einklang stehen muß. So hat die Autorität der Schrift nicht darunter zu leiden, wenn neben ihr auch der Tradition Autorität zuerkannt wird, denn durch sie k o m m t die Schrift erst zur Ehre und zur Wirkung. Ohne die verbindliche Autorität der Tradition könnte selbst die Autorität der Schrift in die Gefahr geraten, verkannt zu werden. Die Autorität der Tradition kann im Grunde die der Schrift nicht verdrängen oder sich über sie stellen, denn sie besitzt normative Autorität als Auslegung der Schrift, als diejenige, die das rechte Verständnis der Schrift garantiert. Die Autorität der dogmatischen Tradition ist nicht eine äußere Autorität, die die Kirche in anmaßender Selbsteinschätzung für sich beanspruchte, und nicht eine, die sich über ihren Gegenstand stellte. Die Überlieferungstätigkeit vollzieht sich im Hl. Geist. Insofern geht ihre Autorität auf den eigentlichen Vollzieher des Überlieferungsaktes und auf die „Sache", die überliefert wird, zurück. Würde man die Autorität der Tradition mißachten, so würde man der Präsenz und der Wirkung des Hl. Geistes in ihr nicht Rechnung tragen, der ja durch sie das Heilsgeschehen in Christus gegenwärtige Wirklichkeit werden läßt. Die Überlieferung des Evangeliums ist ein lebendiger Vorgang und ein schöpferischer Akt des Geistes, von dem die Kirche geführt wird bei der Auslegung der Schrift, der Formulierung und dem rechten Verständnis der Glaubenswahrheit, wie sie im Dogma erfaßt wird, und bei der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens durch die liturgisch-sakramentale Tradition, um nur diese beiden Grundaspekte der Tradition zu erwähnen, die die Wirkung des Hl. Geistes so unerläßlich voraussetzen. Auf den ökumenischen Synoden, wie auf der Apostelversammlung in Jerusalem, wurden die Entscheidungen getroffen, nicht nur, daß sie allein von der Versammlung getragen und verantwortet wurden, sondern daß sie 81

286

Ebenda, S. 26.

zunächst als Zeugnis des Hl. Geistes galten, der durch die Stimme der Kirche, als die die ökumenischen Konzilien zu verstehen sind, spricht: „Denn es gefällt dem Hl. Geiste und uns " (Apg. 1 5 , 2 8 ) . In dem von der Hierarchie als Organ der Kirche auf die ökumenischen Konzilien formulierten Glauben sieht Bulgakov nur den Ausdruck ihres unter der Wirkung des Hl. Geistes entstandenen lebendigen Glaubens, der vor der Formulierung in ihrem Leben als Wirklichkeit erfahren wird 8 2 . Ebenso beruht die Wirksamkeit der liturgischen und sakramentalen Akte der Kirche auf der Wirkung des Hl. Geistes 8 3 . S o offenbart die Geringschätzung der Autorität der Glaubenstradition, die von dem consensus ecclesiae getragen wird, einen Mangel an Vertrauen auf die Präsenz des Hl. Geistes, der in der Kirche am Werke ist und durch die Tradition zu einem tieferen Verständnis der Offenbarung verhilft,und in dem ihre Vergegenwärtigung durch die gottesdienstlich-sakramentale Tradition vollzogen wird. Die Tradition als rein menschliches Werk zu betrachten, hieße dann, den göttlichen Auftrag des Hl. Geistes, die Offenbarung in Erfüllung zu bringen, die eben mittels der Tradition geschieht, nicht zu zu einem tieferen Verständnis der Offenbarung verhilft, und in dem ihr gung zu ziehen. Auch wenn man die Wirkung des Hl. Geistes niemals ausreichend und in genaue und geeignete Begriffe fassen kann, sollte auch in dieser Hinsicht an einem Unterschied zwischen Schrift und Tradition festgehalten werden aufgrund des Einflusses des Hl. Geistes bei ihrer Entstehung. An diesem Unterschied, schreibt Evdokimov, sollte festgehalten werden: „denn eine andere ist die Wirkung des Hl. Geistes im Bezug auf die Entstehung der Schrift und eine andere bei ihrer Interpretation. 8 4 Da alle Glaubenswahrheiten in der Schrift erfaßt sind, werden sie in der kirchlichen Glaubenstradition nicht noch einmal geoffenbart. Weil sie schon einmal in der apostolischen Tradition geoffenbart wurden, geht es in der kirchlichen Tradition nur darum, sie auszulegen, zu entfalten und durch das gottesdienstliche und das sakramentale Geschehen als gegenwärtige Wirklichkeit ihrer teilhaftig zu werden. Die Übermittlung der Offenbarung als Inhalt der apostolischen Tradition, die allerdings einen unaufhörlichen Auslegungsprozeß und die Übereignung des Heilsgeschehens bedeutet, geschieht in der Kraft des Hl. Geistes, der der Kirche beisteht und sie zum richtigen Verständnis der Schrift führt. Im Vergleich zur Schrift, wo die Offenbarung festgelegt und ihre Reinheit gesichert ist, ist diese in der Tradition dem Irrtum viel mehr ausgesetzt, nicht zuletzt wegen des menschlichen Elementes der Tradition, von dem sie mehr als die Schrift geprägt ist 8 5 . 82 83 84 85

Ebenda, S. 19. P. Evdokimov, L'Esprit Saint dans la tradition orthodoxe, S. 98. L'Orthodoxie, S. 190. Vgl. S. Boulgakoff, L'Orthodoxie, S. 4 4 ; Die dogmatische und symbolische Theologie, Bd. 1, S. 184.

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Die Kirche unter der Leitung des Hl. Geistes sorgt dafür, daß die geoffenbarten Heilswahrheiten richtig verstanden und nicht der subjektiven Interpretation überlassen werden. Sie hat die Wahrheit des Glaubens auf den ökumenischen Konzilien in dogmatischen Beschlüssen verbindlich ausgelegt und formuliert, damit sie als Richtlinien für das Verständnis der Schrift und die Lehre der Kirche dienen. Damit wird die allgemein verpflichtende Norm der dogmatischen Tradition nicht über die Autorität der Schrift gestellt, sondern unter der absoluten Norm der Schrift bestimmt sie normativ, wie diese zu verstehen ist. Das Dogma als norma normata ist in den Begriff der Auslegung einzuordnen, und als solches ist es der Schrift unterstellt. Die Autorität des Dogmas gilt nicht in Bezug auf die Schrift, sondern es besitzt Autorität gegenüber den Gläubigen der Kirche. Als Glaubensentscheidungen der gesamten Kirche oder als Ausdruck ihrer Katholizität nicht nur in ihrem räumlich-universalen Sinne, sondern auch in der inneren Dimension der Ökumene als Einstimmigkeit im Glauben hat das auf den ökumenischen Konzilien unter dem Beistand des Hl. Geistes beschlossene Dogma unfehlbaren Charakter und dementsprechend allgemeine und verpflichtende Gültigkeit für die ganze Kirche, von deren Pleroma 8 6 es getragen und verantwortet wird. Durch die Tradition wird die Schrift bewußt und aktiv als verpflichtend und unfehlbar erkannt. Die Tradition ist das Wort der Kirche über die Offenbarung, die sie in verbindlichen und unfehlbaren dogmatischen Aussagen auslegt und entfaltet, nicht allein aus eigener Kraft und Erkenntnis, sondern durch die Kraft des Hl. Geistes, die ihr verheißen wurde. Lossky nennt deshalb die Tradition „das Vermögen ., im Lichte des HL Geistes zu urteilen" 8 7 Die Kirche ist in der Tradition durch den Hl. Geist befähigt, die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden, denn man kann ,,die Wahrheit nicht erkennen und die Worte der Offenbarung nicht verstehen, wenn man den Hl. Geist nicht empfangen h a t " 8 8 . „So weiß auch niemand, was in Gott ist, als allein der Geist Gottes" (1 Kor. 2,11). In der Art der Teilnahme an der apostolischen Tradition und ihrer Wiedergabe durch Schrift und Tradition offenbart sich ihre Gemeinsamkeit und ihr Unterschied, die sie in beiden Fällen miteinander verbinden. 6. Die Zusammengehörigkeit und Verhältnisbestimmung von Schrift und Kirche Schon immer war es eine grundsätzliche Überzeugung in der orthodoxen Kirche, die sie mit der altkirchlichen Theologie verbindet, daß 86 87 88

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Karmiris, Abriß ., S. 16 und S. 18. Die Tradition und die Traditionen, S. 17. Ebenda, S. 16.

die Schrift und die Kirche untrennbar zusammengehören. Mit ihrer Zusammengehörigkeit sind jene extremen Positionen nicht zu vereinbaren, die entweder zu einem willkürlichen Individualismus in Bezug auf das Verständnis der Schrift oder zu der Herrschaft und Überordnung der Kirche über die Schrift führen. Jedoch auch der Gedanke ihrer Untrennbarkeit schließt nicht unbedingt ein, daß damit auch ihr Verhältnis zueinander richtig bestimmt wird, denn es könnte sein, daß man ihre Zusammengehörigkeit bejaht und dabei die Schrift unter die Autorität der Kirche stellt oder wegen der absoluten Autorität der Schrift die Autorität der Kirche verkannt wird. Der orthodoxen Auffassung entspricht weder das eine noch das andere. Zwischen Schrift und Kirche kann kein Herrschaftsverhältnis bestehen. In der Beurteilung des Verhältnisses von Schrift und Kirche geht man in der orthodoxen Theologie grundsätzlich davon aus, daß die Schrift eine zentrale und fundamentale Stellung in der Kirche einnimmt, sowie daß ihr wahrer Sinn sich innerhalb der Kirche eröffnet. Die in der alten Kirche in ihren Kampf gegen die Häresien vertretene Auffassung, daß die Schrift der Kirche angehört und daß diese die Garantie und die Autorität darstellt, sie richtig auszulegen, ist auch ein Grundsatz der orthodoxen Theologie geworden. Neben der Schrift tritt auch die Autorität der Kirche auf, und so stellt sich damit das Problem ihres Verhältnisses. Als häufig angeführter Beweis für die Autorität der Kirche dient die Kanonisierung der neu testamentlichen Schriften. Als Werk der Kirche verführt die Festlegung des neutestamentlichen Kanons zu dem Gedanken einer Autorität der Kirche, die über die Schriften des Neuen Testamentes urteilt oder dazu, die Autorität der Schrift auf die der Kirche zurückzuführen, wie dies Vellas tut, wenn er die Autorität der Kirche bei der Kanonisierung der Schrift derart überbewertet, daß sie zur Quelle der Autorität der Schrift wird: „Die Kirche gab den kanonischen Schriften des Neuen Testamentes Gültigkeit und Autorität." 8 9 Auch Ρ Bratsiotis ist der Ansicht, daß die Schrift „ihre Gültigkeit von der Kirche herleitet" 9 0 . Trotz der großen Bedeutung, die der Kirche in der orthodoxen Theologie bei der Festlegung des Kanons zugemessen wird, hat sich nicht die Meinung gebildet von der Autorität der Kirche, die der Schrift übergeordnet sei. Wenn die Kanonisierung des Neuen Testamentes eine wichtige Entscheidung ist, die zweifellos auch von der Autorität der Kirche zeugt, so ist sie nicht ein so souveräner Akt der Kirche, die über die neutestamentlichen Schriften verfügt, ohne dabei ein anderes Kriterium bei ihrer Wahl zu haben und berücksichtigen zu müssen, als nur ihre eigene Stimme zu hören. 89 90

Die Autorität der Bibel, nach der Lehre der orthodoxen Kirche, in: Aus der neugriechischen Theologie, hrsg. von D. Savramis, Würzburg 1961, S. 26. Offenbarung Bibel — Tradition und Kirche, in: Die Autorität der Bibel heute, S. 24.

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Im Bestreben, die Autorität der Kirche bei der Schaffung und Anerkennung des Kanons zu behaupten, wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß dabei der Kirche eine selbständige Autorität zugedacht wird, in deren Kraft sie die Entscheidung über die zum Kanon gehörenden Schriften trifft. Allein mit dem Hinweis auf die Autorität der Kirche oder auf das innere Zeugnis dieser Schriften läßt sich die Kanonfrage nicht hinreichend beantworten. Auch wenn die Festsetzung des Kanons als das Werk der Kirche zu betrachten ist, so sollten die zu ihm gehörenden Schriften nicht einfach als ein Gegenstand betrachtet werden, über den die Kirche Entscheidungen trifft, sondern dabei wird man auch die Wirkung, die diese auf die Kirche ausgeübt haben, mitberücksichtigen müssen. Wenn in der orthodoxen Theologie überwiegend der Akzent auf die Autorität der Kirche gesetzt wird, so ist in ihrer Autorität auch die Autorität der apostolischen Tradition miteinbegriffen und vorausgesetzt. Ohne die Autorität der Kirche zu schmälern, aber sie auch nicht gegenüber der Schrift ins Übermaß zu steigern, wird man sich zu verdeutlichen haben, daß die Kirche durch die Anerkennung und Festlegung der im Kanon enthaltenen Schriften diese nicht mit einer Autorität versieht, die sie in sich selbst nicht hätten und die sie erst durch ihre Aufnahme im Kanon erhielten. Die Aufnahme der Schriften in den Kanon ist ein Vorgang, der nicht eine qualitative Veränderung dieser Schriften oder ihre Erhebung in einen anderen Zustand bedeutet, vielmehr ist die Kanonisierung als ein Akt der Anerkennung und der Bestätigung dessen zu verstehen, daß diese Schriften apostolische Autorität von sich aus besitzen und so, wie sie sich darstellen, die Kraft des göttlichen Wortes, die von ihnen ausgeht, einschließen. Da sie so sind, erkennt sie die Kirche als kanonisch an, und nicht weil die Kirche sie im Kanon aufnimmt, erhalten sie göttliche Autorität. Ihre Inspiration folgt nicht nach ihrer Kanonisierung, sondern weil sie unter der Inspiration des Hl. Geistes entstanden sind, erkennt sie die Kirche als kanonische und normative Schriften an, wobei ihre Inspiration nicht als das primäre und einzige Kriterium für ihre Aufnahme in den Kanon gelten sollte, vielmehr hatte die Kirche auch andere Gründe, wenn sie sich für bestimmte Schriften entschied, durch die sie sich ihrer Echtheit vergewissern konnte. Man würde den Vorgang der Kanonbildung nicht in seiner Komplexität sehen, wenn man die Festlegung des Kanons durch die nachapostolische Kirche entweder auf die Inspiration oder auf das Selbstzeugnis dieser Schriften allein zurückführte. Außerdem sollte man diese nicht als leicht festzustellende Kennzeichen betrachten, die jeder, der diese Schriften liest, entdecken könnte. Daß es zu der kanonischen Sammlung der neutestamentlichen Schriften gekommen ist, weist sowohl auf die besondere Eigenschaft dieser Schriften hin, als auch auf die Fähigkeit der Kirche, die echten Zeugnisse der Christusgeschichte zu erkennen. 290

So unerläßlich es einerseits ist, die Besonderheit der neutestamentlichen Schriften hervorzuheben, vor allem ihre Aussagekraft, so würde man andererseits dem tatsächlichen Ablauf der Kanonbildung und den mit dem Entscheidungsprozeß der Kirche zusammenhängenden Vorgängen, die sich bei dem Zustandekommen des Kanons als entscheidend erwiesen, nicht voll Rechnung tragen, wenn man andererseits nicht zugleich auch nach anderen Gründen und Voraussetzungen fragen würde, die zu der Entstehungsgeschichte des Neuen Testamentes unabweisbar gehören und zu der endgültigen Kanonbildung beigetragen haben. Man kann sich nicht vorstellen, daß das Neue Testament sich von allein durch die Echtheit und die Qualität des Christuszeugnisses der zu ihm gehörenden Schriften herausgebildet hat oder daß die Kirche zuerst Untersuchungen angestellt hat, um die Schriften nach ihrer Inspiration zu prüfen, vielmehr gab es neben diesen Kennzeichen auch andere Voraussetzungen, die die schriftlichen Zeugnisse erfüllen mußten, um im Kanon aufgenommen zu werden. Für die Kirche stellte sich zuallererst die Frage nach der Herkunft dieser Schriften. Irenaus, der bei der Entstehung des Neuen Testamentes eine bedeutende Rolle gespielt hat, betrachtet die apostolische Herkunft als von entscheidender Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Schriften. Die Frage, die sich für die Kirche primär stellte, war, ob diese apostolische Schriften sind, d.h. ob sie unmittelbar aus dem Kreis der Apostel oder der Apostelschüler stammten, denn nur ihre Zeugnisse galten nach Irenäus als Autorität des Glaubens 9 1 . Das Festhalten der Kirche am apostolischen Ursprung erfolgt nicht einfach aus formellen, sondern aus historischen und theologischen Überlegungen. Ihre apostolische Urheberschaft sollte nicht nur einen Beweis dafür liefern, daß sie die alten ursprünglichen Zeugnisse sind, sondern zugleich eine Garantie der Echtheit dieser Zeugnisse darstellen. Der Glaube ist an die eilten apostolischen Zeugnisse gebunden. Wenn es um die apostolischen Zeugnisse ging, dann nicht einfach wegen ihres Alters, sondern weil diese von dem echten und rechten Glauben an Christus zeugen. Die apostolische Herkunft als fundamentales und primäres Kriterium für die Aufnahme im neutestamentlichen Kanon ist deshalb nicht nur von historischer, sondern gleichzeitig und eng damit verbunden von theologischer Bedeutung. Diese beiden Momente sind bei Irenäus miteinander verknüpft. Die Bedeutung der neutestamentlichen Schriften beruht nicht einfach darauf, daß sie auf die apostolische Zeit zurückgehen, sondern die Begründung dafür, daß sie auch echte Glaubenszeugnisse sind und die geoffenbarte Wahrheit enthalten, sieht Irenäus darin, daß die Apostel von ihrem Herrn die Vollmacht erhielten, das Evangelium zu verkündigen 9 2 . 91 92

Adv. haer. 1,10,1: Ecclesia enim per universum orbem usque ad fines terrae seminata, et ab apostolis et a diseipulis eorum aeeepit earn fidem . Ebenda, 111,1,1 (praef.).

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Die Entstehungsgeschichte des neutestamentlichen Kanons beweist, daß nur die Kirche in der Lage war und über die Mittel verfügte, herauszufinden, welche Schriften als apostolisch bezeichnet zu werden verdienten. In der Tradition, durch die die nachapostolische Kirche sich in der ununterbrochenen Kontinuität mit der Kirche der apostolischen Zeit befindet, hatte die Kirche, die den Kanon des Neuen Testamentes festlegte, eine Garantie und eine Instanz, die die Echtheit dieser Schriften bestätigen konnte. Die Tradition soll man befragen, sagt Irenäus, wenn schwierige und strittige Fragen auftauchen, denn auch in ihr ist die apostolische Botschaft gänzlich enthalten, was sich daraus ergibt, daß man der Ordnung der Tradition zu folgen hätte, falls die Apostel nichts Schriftliches hinterlassen hätten 9 3 . Es steht außer Zweifel, daß die Kanonbildung ein solch schwieriges Problem darstellte, das nicht außerhalb der Tradition gelöst werden konnte. Irenäus liegt viel daran zu beweisen, daß die echte apostolische Tradition nur in der Kirche zu finden sei. Im Lichte dieser Tradition war es der Kirche auch möglich, die echten apostolischen Zeugnisse aufzufinden und zu erkennen. Wenn bei dem Zustandekommen des Kanons das innere Zeugnis der neutestamentlichen Schriften mitberücksichtigt werden muß, so ist dieser unvermindert zugleich das Werk der Kirche, die bei der Kanonisierung der Schrift eine viel entscheidendere Rolle gespielt hat, als nur der passive Widerhall der Selbstbestätigung dieser Schriften zu sein. Nur weil die Kirche die apostolische Tradition treu bewahrte, war es ihr möglich, die schriftlichen apostolischen Glaubenszeugnisse zu erkennen. Die Festlegung des Kanons ist als ein Akt der Autorität der Kirche zu betrachten, wenn berücksichtigt wird, daß ihre Entscheidung für bestimmte Schriften auf der mündlichen apostolischen Tradition beruhte. Diese bezeugte den authentischen apostolischen Charakter der später als kanonisch anerkannten Schriften. Die apostolische Tradition, die in der Kirche weitergegeben wurde, bestätigte die echten apostolischen Schriften aufgrund derer inhaltlichen Übereinstimmung mit ihr. Die Bedeutung der Tradition für das Zustandekommen des Kanons wurde auch von M. Chemnitz hervorgehoben. Die neutestamentlichen Schriften wurden von der Tradition bewahrt und „quasi per manus" weitergegeben 94 . Selbstverständlich kann bei der Kanonisierung der Schrift von der Autorität der Kirche gesprochen werden, jedoch nicht als von einer, die über diesen Schriften steht und sie mit einer Kraft erfüllt, die ihnen nicht eigen wäre. Sicherlich wird in der orthodoxen Theologie vorausgesetzt, 93

94

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Ebenda, 111,4,1: Et si de aliqua modica quaestione disceptatio esset, nonne oporteret in antiquissimas recurrere Ecclesias, in quibus apostoli conservati sunt, et ab eis de praesenti quaestione sumere quod certum et re liquidum est? Quid autem si ñeque apostoli quidem Scripturas reliquissent nobis, nonne oportebat ordinem sequi traditionibus, quam tradiderunt iis quibus commitebant Ecclesias? Vgl. II. Teil, Anm. 153.

daß die Entscheidung der Kirche, bestimmte Schriften für kanonisch zu erklären, nicht als ein von diesen Schriften und ihren inhaltlichen Aussagen getrennt und unabhängig vollzogener Akt zu verstehen ist, vielmehr ist sie zu ihrem Entschluß gelangt, weil sie sich von der Qualität und der apostolischen Herkunft dieser Schriften überzeugte und sie deshalb als authentische Zeugnisse der Offenbarung bestätigte, indem sie in ihnen die Bezeugung des wahren Glaubens in Christus entdeckte. Doch um die der Kirche angemessene Autorität und ihr Verhältnis zu der Schrift genauer zu bestimmen, sollte man auf die Erfahrung der Kirche mit diesen Schriften eingehen und sie theologisch für das Verhältnis von Schrift und Kirche auswerten. Nur diejenigen Schriften, in denen die Kirche das apostolische Zeugniswort zu vernehmen glaubte, nahm sie im Kanon auf, und dann auch deshalb, weil diese sich in der Kirche als das Wort Gottes Gehör verschafften. Ihre Autorität ist daher nicht eine ihnen von der Kirche durch die Kanonisierung verliehene, sondern aufgrund der ihnen innewohnenden göttlichen Kraft, mit der sie von der Offenbarung zeugen, sind sie für den Glauben normative Schriften. Die Kirche stellt kraft des in ihr wirkenden und sie in die Wahrheit führenden Hl. Geistes (Joh. 16,13) und im Lichte der in ihr bestehenden apostolischen Tradition fest, daß sie echte apostolische Zeugnisse sind und daß sie in der Gestalt der ursprünglichen Verkündigung das Wort Gottes sind. Daß die Schrift Autorität besitzt, wird man nicht als eine zwingende kausale Folge ihrer Anerkennung durch die Kirche betrachten. Florovsky hebt hervor, daß die Anerkennung der Schrift durch die Kirche bei ihrer Kanonisierung nicht bedeuten kann, daß sie erst jetzt ihre Autorität erhält: „Durch ihr Zeugnis (der Kirche) wurde die Schrift als das Wort Gottes anerkannt und beglaubigt, und der Kanon des Neuen Testamentes wurde festgesetzt. Die Hl. Schrift erhält ihre Autorität nicht von der Kirche; sie beharrt bei der Autorität des Geistes." 9 5 Es ist deshalb grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Autorität der Kirche im allgemeinen, jene einbegriffen, mit der sie den neutestamentlichen Kanon festgelegt hat, und der Autorität, die die Schrift von sich aus besitzt. Die Anerkennung der Autorität der Schrift, die ihr als dem Wort Gottes gebührt, macht jedoch die Autorität der Kirche nicht überflüssig, die ja auch nicht nur eine menschliche Autorität ist. Deshalb kann es bei der Annahme der absoluten Autorität der Schrift nicht darum gehen, der Kirche jegliche Autorität abzusprechen. Die Unfehlbarkeit, die allein der Kirche in ihrer Gesamtheit für ihre Glaubensentscheidungen in der Ostkirche zuerkannt wird, beruht nicht allein auf ihrem Gesamtkonsensus, sondern geht auch auf das Wirken des HI. Geistes in der Kirche zurück, 95

Tradition, in: Weltkirchenlexikon, Stuttgart 1 9 6 0 , S. 1469¡Dieselbe Auffassung vertritt auch J. Meycndorff in: Living Tradition, S. 14: ,,The church could only confirm this authenticity through the guidance of the Spirit promised by Jesus himself, not create it".

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der ihr aktiv beisteht und sie in ihrem Glaubenszeugnis zur Einstimmigkeit bewegt. Die Kirche ist mehr als nur eine menschliche Gemeinschaft; sie ist ein theandrischer Organismus. Berücksichtigt man, daß J e s u s Christus, in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt (Kol. 2,9), das Haupt der Kirche (Kol. 1,18) und sie sein Leib ist (Eph. 1,23), so wird man die Kirche nicht ohne Christus sehen (Matth. 18,20) und auch nicht ohne den Hl. Geist, der innerhalb der Kirche Christus bezeugt 9 6 , und der ihr von ihm versprochen wurde (Joh. 14,16—17). Die Kirche lebt und handelt nicht außerhalb J e s u Christi und des Hl. Geistes, und er steht nicht so über ihr, daß er von außen auf sie wirkt. Die Kirche ist nicht Christus, aber sie ist mit ihm so vereint wie der Leib mit dem Haupt. Zwischen Christus und seiner Kirche besteht keine äußere Beziehung, die, wie Florovsky schreibt, nur darin bestünde, daß die Gläubigen Christus folgen und gehorsam seine Vorschriften achten, vielmehr sind sie mit ihm so vereint, daß Christus in ihnen und sie in Christus leben 9 7 . Auf diese so enge Verbindung der Kirche mit Christus geht ihre Autorität zurück. Sie außer acht lassen, würde zugleich eine Geringschätzung der Wirksamkeit Christi in der Kirche bedeuten, der im Hl. Geist sich in ihr selbst mitteilt. Es war keine leere und unwirksame Versprechung, als Christus von sich und vom Hl. Geist sagte, sie blieben bei den Seinen bis ans Ende der Welt (Matth. 28,20, J o h . 14,16). Die Kirche ist dadurch befähigt, daß der Hl. Geist in ihr am Werke ist, die Wahrheit zu erkennen, denn sie sucht nach ihr nicht allein, und deren Entdeckung ist nicht einfach ihren menschlichen Kräften überlassen, sondern sie wird von dem Hl. Geist zu ihr hingeführt. Sie wird deshalb von Paulus „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit" genannt (1. Tim. 3 , 1 5 ) , weil ihr die Wahrheit des Heilsgeschehens anvertraut und sie zu ihrer Bewahrung und Anerkennung begnadet wurde. Die Zusammengehörigkeit von Schrift und Kirche beruht nicht nur darauf, daß die Kirche die Schrift auslegt. Eine noch innigere Verbindung zwischen Schrift und Kirche wird dadurch erreicht, daß die Kirche den Inhalt als gegenwärtige Heilswirklichkeit vermittelt. Die Kirche unterrichtet nicht nur die Gläubigen über das, was die Schrift enthält, sondern setzt sie in eine personale Beziehung zu Christus und ermöglicht dadurch, daß sie die Heilsgnade empfangen 9 8 . So wissen sie nicht nur, daß Christus für uns gekreuzigt wurde und auferstanden ist, sondern sie empfangen ihn in seinen Heilstaten für sie. Nicht als eine Erzählung soll die Botschaft der Schrift den Menschen erreichen, sondern ihn als Evangelium ergreifen 9 9 Durch die Verkündigung des Evangeliums und durch 96 97 98 99

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Evdokimov, L ' O r t h o d o x i e , S. 180. Le corps du Christ vivant, S. 18. Vgl. Staniloae, Die Heilige Überlieferung ., S. 74. Florovsky, Tradition, in: Weltkirchenlexikon, S. 1469.

die Feier der Sakramente empfangen die Gläubigen Christus selbst, und so gewinnen sie innerhalb der Kirche ein tieferes Verständnis von der Heilswahrheit und erproben die Auslegung der Schrift durch die Kirche auch in Wirklichkeit, weil sie Christus in seinen Erlösungstaten im gottesdienstlichen Geschehen persönlich begegnen als dem, der auch jetzt für sie die einmal objektiv erfüllte Erlösung bewirkt. Hinter dem Gedanken von der Autorität der Kirche steht der Glaube an die beständige Gegenwart Christi in ihr durch den Hl. Geist. Er ist in ihr gegenwärtig mittels des Wortes der Schrift und durch die Sakramente, aber diese sind nicht nur stellvertretend für ihn, sondern sie vermitteln ihn in seiner personalen Gegenwart. Die Kirche, schreibt Florovsky, „ist nicht bloß der Aufbewahrungsort der göttlichen Botschaft oder nur der Behälter des apostolischen Zeugnisses, sondern gerade der Ort, an dem Christus selbst sein rettendes Amt weiterführt" 10°. Sie ist auch nicht nur der Übermittlungsort der Offenbarung und erfüllt für diese nicht nur eine dienende Funktion, ohne sie selbst aufzunehmen und von ihr geprägt zu werden. Nur wer selbst transzendent ist, kann nach Bulgakov von der Transzendenz zeugen 101. Weil in der Kirche das Göttliche mit dem Menschlichen vereint ist und beide zur Grundstruktur der Kirche gehören, ist sie berufen und berechtigt, von dem göttlichen Charakter des Wortes der Schrift zu sprechen und es als solches zu bestätigen. Für Staniloae ist die Würde und die Autorität der Kirche in der göttlichen Offenbarung tief verwurzelt, weil sie in dieser enthalten und als ihre Schöpfung zu verstehen ist. Der Einbruch der Offenbarung in die Geschichte ruft die Kirche ins Dasein: „In dem Augenblick, in dem die Offenbarung aufgenommen wird, führt sie den Menschen in den mystischen Leib Christi ein und vereint ihn mit diesem Das Empfangen der Offenbarung, ihre Bewahrung und Weitergabe ist nicht ein purer intellektueller Akt, sondern ein Akt der Einfügung in die Kirche und des Wachstums in Christus; die Offenbarung bildet die Kirche, erhält ihr Leben und erweitert sie, während die Kirche sie versteht und verteidigt." 1 0 2 Wenn man in Betracht zieht, daß der Urheber der Kirche und der Schrift ein und derselbe Christus ist, der durch seine Botschaft die Kirche ins Leben ruft, so werden die Gemeinsamkeit und die Verwandtschaft deutlich, die zwischen Schrift und Kirche bestehen 1 0 3 . Schrift und Kirche sind in Christus so miteinander verbunden, daß die eine ohne die andere nicht bestehen kann, ohne ernstlich Schaden zu nehmen. 100 101 102 103

Ebenda, S. 1473. L'Orthodoxie, S. 19. Die Heilige Tradition, S. 90. Vgl. H. Fries, Die Bedeutung der Hl. Schrift für die Kirche nach katholischem Verständnis, in: Zur Auferbauung des Leibes Christi, S. 31, w o von der „Intimität" und „Konnaturalität" zwischen Schrift und Kirche die Rede ist, und S. 35 davon, daß die Schrift mit der Kirche „wesensverwandt" ist.

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Wenn die Kirche als eine selbständige Autorität gegenüber der Schrift betrachtet wird, dann ist der Grund für eine solche Betrachtungsweise darin zu suchen, daß man Christus als den Grund der Kirche nicht im Zusammenhang mit Christus auch als der Mitte der Schrift sieht. Indem man die Autorität der Kirche und der Schrift auf Christus zurückführt, zieht man daraus weniger die Konsequenz, daß beide eng zusammengehören, da der Christus der Schrift mit dem Herrn der Kirche derselbe ist. Daraus, daß die Kirche auf Jesus Christus und nicht auf der Schrift gegründet ist, der mehr ist als von ihm in dieser geschrieben steht, und aus der Präsenz des Hl. Geistes in ihr leitet G. Florovsky den Gedanken ab, daß die Kirche der Schrift „eher bei- als untergeordnet (ist). Sie steht unabhängig neben der Schrift, aber nicht auf sich selbst . Sie hat ihre eigene Einsicht in die Wahrheit, durch den Glauben und das Zeugnis des Geistes. So ist die Kirche die authentische Auslegerin der Schrift. In diesem Sinn weiß die Kirche mehr, als geschrieben ist oder viel mehr, als ein für allemal geschrieben wurde. Dies bedeutet nur, daß Christus größer als die Schrift ist. Die Kirche gründet sich nicht auf das schriftliche Wort, sondern auf die Person des lebendigen, ewigen und leibhaftigen Wortes, von dem die Hl. Schrift das Zeugnis ablegt. Aber die Sache ist größer als irgendein Zeugnis" 1 0 4 . Diese Aussagen bergen in sich die Gefahr eines Dualismus zwischen Schrift und Kirche und einer Selbständigkeit der Kirche, die unabhängig von der Schrift selbst zur Quelle der Wahrheit wird. Wenn man einerseits dem zustimmt, daß die Kirche auf dem lebendigen Christus gegründet ist, der zweifellos als Urheber der Schrift über diese hinausgeht, so ist andererseits nicht gerade einsichtig gemacht worden, warum die Kirche mehr als die Schrift weiß und worin dieses ihr Wissen bestünde, und ob damit das gemeint ist, daß der Inhalt des Glaubens der Kirche umfangreicher wäre als dieser in der Schrift bezeugt ist. Mit dem Wissen der Kirche wird vermutlich nicht der Glaube gleichgesetzt. Die Kirche macht deutlich, was in der Schrift nicht immer alles leicht verständlich, ausführlich und explizit geschrieben steht, und sie hat ein genaues Wissen darüber, worum es in der Schrift geht, gerade weil sie ihren Anfang nicht in dem schriftlichen, sondern in dem lebendigen, personalen Wort Gottes nimmt und einige Zeit mit den Aposteln lebte, die mehr gesagt haben als nur geschrieben steht. Das Wesentliche des Glaubens ist aber in der Schrift zusammengefaßt, die ja in der Kirche und für sie geschrieben wurde. Diese Überlegungen Florovskys zielen anscheinend nicht darauf, die Kirche von der Norm der Schrift zu befreien, vielmehr wollen sie vermutlich die Auslegungsfunktion der Kirche gegenüber der Schrift zum Ausdruck bringen, gerade weil sie, wie er sagt, mehr weiß, als in der Schrift steht. 104 Tradition, S. 1473.

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Auch wenn die Kirche ursprünglich auf der Person Christi und nicht auf dem geschriebenen Wort der Schrift gründet, die nicht an ihrem Anfang steht, so wird damit nicht die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber der Schrift bewiesen werden können. Die Kirche könnte sich in diesem Fall von der Schrift lösen, wenn ihr Glaube über die Schrift hinausginge und sie ihre eigene Quelle des Glaubens in ihrer direkten Verbindung mit Christus ohne die Schrift hätte. Doch damit Christus und der echte Glaube an ihn nicht hinter die Menschlichkeit und die Subjektivität der Kirche zurücktritt und verblaßt, hat sie sich nach der objektiven Bezeugung seiner Offenbarung in der Schrift zu richten, denn sie bleibt in Christus und er in ihr, wenn ihr Glauben mit dem der Schrift übereinstimmt. Ihre eigentliche Autorität und Zuständigkeit erweist die Kirche als Zeugin der Offenbarung, eben weil sie das Heilswort aus dem Munde Jesu Christi und seiner Apostel vernommen hat. Die Kirche erfuhr sie nicht erst durch die Schrift, sondern schon vorher auf eine lebendige Weise in ihrem Umgang mit den Aposteln, deren Tätigkeit sich ja nicht darauf beschränkte, die Botschaft einfach in festgelegten Formulierungen wiederholt vorzutragen. Die Verkündigung der Apostel, bevor und nachdem sie Schriften verfaßten, und derer, die keine Schriften hinterließen, war umfangreicher, als die Schrift diese wiedergibt. Deswegen weiß die Kirche mehr, als in der Schrift geschrieben steht. Die Kirche vermittelt nicht nur das wahre Schriftverständnis, sondern zugleich auch die persönliche Anteilnahme an dem Erlösungsgeschehen in Christus, die als ihre Aufgabe ebenfalls in ihrem Verhältnis zur Schrift mitberücksichtigt werden muß. Die Kirche leistet nicht einfach eine theoretische und abstrakte Auslegung der Schrift, vielmehr trägt sie dazu bei, daß der Inhalt der Schrift, zur gegenwärtigen Tat Gottes wird. „Das Heil wird in der Kirche nicht nur angezeigt oder verkündet, sondern wird geradezu Ereignis. Die hl. Geschichte geht noch immer weiter. Die mächtigen Taten Gottes werden noch immer vollbracht Und nur im Erleben der Kirche ist das Neue Testament wahrhaft und völlig lebendig." 105 Sie führt mittels der Schrift zu dem lebendigen Christus, der in seinem Geist in der Kirche und durch ihr Handeln selbst seine einmal erfüllten Heilstaten erneut geschehen läßt. Dies vollzieht sich in der Kirche nicht ohne die Hl. Schrift. Wie Florovsky sagt: „Tatsachen, Ereignisse, Taten sind der Grund des Neuen Testamentes, nicht nur Lehre, Gebote oder Worte" 1 0 6 , und deshalb bleibt es in der Kirche nicht beim geschriebenen Wort, sondern es wird die Wirklichkeit vermittelt, die hinter dem Wort der Schrift steht, und so ereignen sich fortwährend in der Kirche die Geschehnisse, von denen die Schrift zeugt. Das Verhältnis der Kirche zur Schrift besteht in der Ostkirche mehr als nur aus ihrer Auslegungs-

105 Florovsky, Offenbarung und Deutung, S. 194. 106 Ebenda, S. 192.

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tätigkeit gegenüber der Schrift. Durch sie wird die apostolische Botschaft, die in der Schrift bewahrt wird, gegenwärtig wirksam. Mittels der Schrift verweist die Kirche auf den lebendigen Christus und seine rettenden Taten, der in der Kirche sich selbst mitteilt. Die Schrift ist untrennbar mit dem gottesdienstlich-sakramentalen Leben der Kirche verbunden. Kirche und Schrift sind aufeinander angewiesen. So wie einerseits die Kirche um die Bewahrung des rechten Glaubens in der Schrift die richtungsweisende Norm hat und ihrer als zuverlässige Quelle der Offenbarung bedarf, so gehört andererseits die Schrift in die Kirche und ist auf sie angewiesen. Wenn dies nicht als eine Glaubensinsuffizienz der Schrift zu verstehen ist — so wie ihre Genügsamkeit auch keine Garantie gegen falsche Interpretationen darstellt —, so kann diese auch nicht als Argument dafür gebraucht werden, daß sie außer sich nichts mehr bedarf zur Verwirklichung des Evangeliums. Zwischen der Suffizienz der Schrift und der Autorität der Kirche kann nach Trembelas keine Unvereinbarkeit und kein Widerspruch bestehen, denn die Kirche gilt gegenüber der Schrift als ihre ermächtigte Interpretin, die sie auch dort, wo in der Schrift die göttliche Wahrheit nur sehr kurz oder andeutungsweise zum Ausdruck gebracht wird, irrtumsfrei auslegt 107 . Im Grunde ist die Schrift nicht nur in der Kirche entstanden und als das Wort Gottes an die in Jesu Namen versammelte Gemeinde gerichtet, sondern auch der Kirche übergeben. Die Festlegung des Kanons beweist, daß die Kirche ihrer Aufgabe gegenüber den apostolischen Schriften voll bewußt war, und daß nur sie zu ihrer Festlegung befähigt war sowie dazu, dafür zu sorgen, daß sie zu allen Zeiten richtig verstanden wird. Die Schrift wurde der Kirche nicht nur anvertraut, um sie unverändert zu bewahren, sondern auch, um sie zu interpretieren, aber so, daß ihr wahrer Sinn unverändert bleibt. Schrift und Kirche sind nicht als zwei nebeneinanderstehende Realitäten zu verstehen, die nur durch ein äußerliches Verhältnis miteinander verbunden sind, sondern jede ist in der anderen einbeschlossen. So wie die Kirche in der Schrift einbegriffen ist, so durchdringt die Schrift das ganze Leben der Kirche. Die Autorität, die die Kirche besitzt, bezieht sie nicht unter dem Ausschluß der Schrift, sondern vielmehr, weil sie diese bewahrt und sich nach ihr richtet. Staniloae versteht die Berechtigung der Kirche, die Schrift zu interpretieren, als eine, die wiederum auf die Schrift gründet, und als Ausdruck der Gegenseitigkeit, die zwischen beiden besteht 1 0 8 . Aufgrund der der Kirche eigenen Einsicht in die geoffenbarte Wahrheit, die darauf beruht, daß die Schrift in der Kirche entstanden und an sie 107 A.a.O., Bd. I, S. 104. 108 Staniloae, Die Heilige Tradition, S. 87.

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gerichtet ist, daß sie von dem Hl. Geist geleitet wird und keinen anderen Zweck hat, als zu Christus zu führen und sich von Christus führen zu lassen, der j a die Mitte der Schrift ist, kann nur sie, um so mehr deswegen, weil ihre Lehre von dem Konsensus der gesamten Kirche getragen wird, die wahre Intention der Schrift erkennen und sie unfehlbar auslegen. Sie allein ist befähigt, das in der Schrift bezeugte Christusmysterium zu interpretieren und die Gläubigen in die Geheimnisse des Glaubens einzuführen. Dies ist möglich aufgrund der inneren Beziehung, die die Kirche mit der Schrift verbindet und in der auch ihre Erfahrung mit ihr einbeschlossen ist. S o wie das Abendmahl, sagt Staniloae, nur in der Kirche erteilt wird, so ist auch die geistige Kommunion mit Christus durch die Schrift nur in der Kirche möglich 1 0 9 . Wenn die Kirche das rechte Verständnis der Schrift besitzt, so heißt das nicht, daß sie es aus sich schöpft und eigenmächtig bestimmt, vielmehr daß sie der Deutung des Christusmysteriums folgt, die sie von den Aposteln übernommen hat. In der ,regula fidei', die, wenn sie nicht direkt von den Aposteln formuliert wurde, in ihren Glaubensaussagen j e d o c h mit Sicherheit auf sie zurückgeht, findet die Kirche den Schlüssel für den wahren Sinn der Schrift, und in ihr hat sie die Richtlinien ihrer Schriftauslegung. Sehr deutlich zeigt sich, wie die ,regula fidei', die vor allem bei dem Sakrament der Taufe, aber auch der Eucharistie als Glaubensbekenntnis diente, eng mit dem sakramentalen Gottesdienst verb u n d e n 1 1 0 und nicht einfach eine theoretische Glaubensaussage war, vielmehr bei dem Empfang der Sakramente ausgesprochen wurde und als Richtschnur des Glaubens galt. Mit den späteren dogmatischen Entscheidungen, die aus dem Dialog und der Erfahrung der Kirche mit dem geoffenbarten Wort Gottes entstanden sind und als ihre Glaubensantwort an die großen Taten Gottes in Christus, aber auch als normative Auslegung der Schrift gegenüber verschiedenen Häresien zu verstehen sind, bleibt die Kirche auf der Linie des apostolischen Glaubensverständnisses. Die Kirche ist die Grundvoraussetzung für das richtige Verständnis der Schrift — oder mit Evdokimov: „das fundamentale apriori ihrer Lektüre"111. Die Kirche befindet sich in der Lage des gehorsamen Hörens und Dienens gegenüber dem Wort Gottes, gerade weil sie nicht Quelle der Wahrheit ist, die sie verkündet: „Die Kirche ist nicht eine Quelle aus sich selbst", schreibt Florovsky 1 1 2 . Es kann nicht von einer doppelten Präsenz Christi, einmal in der Schrift und dann in der Kirche, gesprochen werden, sondern er ist in der Kirche 109 110 111 112

Ebenda, S. 96. Florovsky, Scripture and Tradition L'Orthodoxie, S. 189. Le corps du Christ vivant, S. 49.

., S. 291.

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aufgrund der apostolischen Zeugnisse, und weil die Kirche das Wort der Schrift hört und ihm folgt. Darin besteht ihre Untrennbarkeit. Die Gebundenheit der Schrift an die Kirche, ohne die sie Gefahr liefe, mißverstanden zu werden 1 1 3 , schließt nicht aus, daß die Schrift die tonangebende von beiden ist und die Kirche auf sie zu hören hat. „Die grundlegende und einzigartige Autorität der S c h r i f t " 1 1 4 wird nicht dadurch geschwächt, daß sie der Kirche bedarf. Die ausgeprägte Autorität der Kirche, die bis zu der Gleichsetzung mit der Autorität der Schrift in der Ostkirche übersteigert wird, sollte man jedoch nicht als eine solche betrachten, die ihren Ursprung extra scripturam bezieht, denn hinter den Entscheidungen der Kirche muß immer als eine höhere Autorität und kritische Norm, die sie bestätigt oder widerlegt, die Hl. Schrift stehen. Es gibt keine Entscheidungen der Kirche, die nur, weil sie von ihr getroffen wurden, Gültigkeit besitzen, oder wie es Nissiotis ausdrückt: ,,Es gibt keine Doktrin der Kirche, die sich nicht auf die Bibel bezieht." 1 1 5 Die Autorität der Kirche erstreckt sich nicht auf die Schrift, sondern sie besitzt Autorität gegenüber den Gläubigen. Zwischen der Autorität der Schrift und der der Kirche muß deutlich unterschieden werden, denn in ihrer normativen Autorität als Auslegerin der Schrift ist die Kirche immer noch deren absoluter Norm unterworfen. Die Kirche bemächtigt sich nicht der Schrift und schränkt mit ihrer Autorität die der Schrift nicht ein, so wie sie über deren Inhalt nicht verfügen kann, wenn sie sie interpretiert. Sie kann der Schrift keinen anderen Sinn geben; sie hat nur den herauszustellen, den sie in ihr findet. Als das nach der Glaubenswahrheit suchende und sie erkennende Subjekt könnte die Kirche nach Staniloae als Richterin der Wahrheit bezeichnet werden, wenn dies nicht so verstanden wird, daß sie über diese eigenmächtig und willkürlich entscheidet, sondern in ihrer Suche nach der Wahrheit Schrift und Tradition als ihre Norm hat und nur das, was sie in ihnen findet, als wahr proklamiert, so wie auch der Richter nicht nach Belieben, sondern nach der objektiven Norm der Gesetze urteilt 1 1 6 . Da die Hl. Schrift, schreibt Trembelas, ihre Autorität direkt von Gott erhält, muß jede kirchliche Entscheidung, um gültig zu sein, sich auf die Schrift und die mit ihr eine Einheit bildende apostolische Tradition stützen 117 . Weil die Offenbarung mit dem Tode der Apostel abgeschlos-

113 114 115 116

Evdokimov, L'Orthodoxie, S. 189. Florovsky, Tradition, S. 1469; P.N. Trembelas, a.a.O., S.102. Die Einheit. S. 289. Die Heilige Tradition, S. 94.

117 A.a.O., S. 102—103: Διότι Sè η Γραφή αντλεί το κύρος αύτης άμέσως έκ τον θεού διά τούτο και πάσα έκκλησιαστική άπόφανσις τότε και μόνον elvai έγκυρος, όταν στηρίζεται έπί της θεοπνεύστου Άγιας Γραφής και της συνεχόμενης αύτη 'Αποστολικής Παραδόσεως. 300

sen ist und in der Kirche nicht mehr fortgesetzt wird, außer im Sinne ihrer Vergegenwärtigung, bleibt die Kirche an die ursprünglichen apostolischen Zeugnisse gebunden. Die Festlegung des neutestamentlichen Kanons erweist sich hierfür von großer Bedeutung, denn in ihm wurde die geoffenbarte Heilswahrheit für alle Zeit festgelegt und der Maßstab für die apostolische Verkündigung anerkannt. Eine Gleichstellung von Kirche und Schrift, auf die sich ihre unabhängige Autorität gründete, hätte zur Folge, daß sie aus sich Wahrheiten proklamieren kann, ohne daß es länger notwendig wäre, diese aus der Schrift abzuleiten. In der Tat ist die Kirche Hüterin und Auslegerin der Schrift und bleibt für immer Kirche unter dem Wort Gottes. Zum Verhältnis von Schrift und Kirche gehört auch das Angewiesensein der Schrift auf die Kirche, ohne die die in der Schrift bezeugte Glaubenswahrheit nicht richtig verstanden werden kann, wie dies von Florovsky zum Ausdruck gebracht wird: „Apart from the Church and her regular Ministry, in ,succession' to the Apostles, there was no true proclamation of the Gospel, no sound preaching, no real understanding of the Word of G o d . " 1 1 8

7.

Zusammenfassung

Die Begründung und die Berechtigung der Tradition geht auf die Sendung der Apostel durch Christus und auf ihren Auftrag zurück, seine Heilsbotschaft weiter zu übermitteln. Aus dem Neuen Testament geht hervor, daß zwischen der mündlichen und der schriftlichen Tradition der Apostel keine Konkurrenz und kein Gegensatz bestand. Beide gelten als zwei Mitteilungsweisen der apostolischen Verkündigung. Für Paulus sind beide gleichwertig und werden von ihm gleichermaßen gebraucht (2. Thess. 2,15). Nicht durch die Absolutheit der einen oder der anderen und auch nicht durch Isoliertheit, sondern durch Koexistenz in wechselseitiger Beziehung ist das Verhältnis zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition gekennzeichnet, wie der paulinische Text beweist. Aus der Notwendigkeit heraus, die Identität der apostolischen Tradition zu bewahren und diese vor der Gefahr der Entstellung sicherzustellen, erkannte die Kirche die echten apostolischen Schriften an und legte den Kanon des Neuen Testamentes fest. Mit der Festlegung des Kanons gilt die Schrift als die sichere ursprüngliche Gestalt der apostolischen Tradition. Die mündliche Überlieferung hört von diesem Zeitpunkt an nicht auf, zu bestehen, sondern läuft neben dieser in Einheit mit ihr weiter.

118 T h e F u n c t i o n o f T r a d i t i o n , S . 1 9 7 - 1 9 8 .

301

Wurde die Gefahr der Verfälschung der apostolischen Tradition eingedämmt, indem die Kirche die apostolischen Schriften aus der Vielzahl anderer Schriften identifizierte und sie im Kanon sammelte, so wurde diese damit jedoch nicht schon endgültig abgewendet, denn auch die Auslegung des Neuen Testamentes war von Irrlehren bedroht. Die Vielzahl der Häretiker berief sich auf die Schrift. Die Kirche hatte nicht nur für die Sicherstellung des neutestamentlichen Textes zu sorgen, sondern auch dafür, daß die im Kanon festgelegte apostolische Glaubenswahrheit auch richtig verstanden wird. Es mußte nicht nur der Text, sondern auch das Schriftverständnis gesichert werden. So wurde die überkommene mündliche Tradition, vor allem die „regula fidei", zur Norm der Auslegung der Schrift. Außerhalb der Kirche und ihrer lebendigen Tradition kann die Schrift leicht mißverstanden werden. Nur die Kirche bietet die Garantie ihres wahren Verständnisses, denn ihr wurde, wie Irenäus sagt, die Wahrheit anvertraut, und in ihr allein ist die wahre Tradition zu finden (Adv. haer. I, 3,4). Auch der patristischen Theologie ist der Gedanke einer Gegenüberstellung von Schrift und Tradition fremd. Die verschiedenen Funktionen, die beiden in der Kirche zukommen, schaffen noch keinen Grund für deren jeweils alleinige Geltung. Für einen Gegensatz oder eine Konkurrenz zwischen den beiden wäre nur dann ein triftiger Grund gegeben, wenn zwischen ihren inhaltlichen Aussagen keine Übereinstimmung bestünde und die Schrift oder die Tradition die Glaubenswahrheiten nicht vollständig erfassen würde. Die Einheit von Schrift und Tradition ist vor allem darin begründet, daß beide dieselbe Heilsbotschaft vermitteln. Wenn Behauptungen aufgestellt werden, daß die Tradition die Schrift ergänzt, und Beispiele hierfür vorgebracht werden, so wird dadurch nicht der Beweis erbracht, daß es sich um eine Zunahme des Glaubensgehaltes durch die Tradition handelt, denn die Ergänzung erweist sich nicht als von dogmatischer, sondern ritueller Natur. Der Glaube an die Vollständigkeit der Schrift bedeutete aber keineswegs, daß die Tradition überflüssig geworden wäre. Man würde den Sinn der Suffizienz der Schrift vollkommen mißverstehen, wenn man daraus folgerte, daß sie der Tradition nicht mehr bedürfe, ebenso wie wenn man aus der Notwendigkeit der Tradition neben der Schrift, deren Unvollständigkeit ableitete. Innerhalb des lebendigen Wechselverhältnisses von Schrift und Tradition dient die Tradition nicht nur zur Auslegung der Schrift, sondern in ihrer Vermittlungsfunktion grundsätzlich auch dazu, daß durch sie das im Neuen Testament schriftlich festgelegte Evangelium die Fesseln der Buchstaben sprengt und in seiner göttlichen Kraft den Menschen gegenwärtig widerfährt. Die Tradition übermittelt nicht nur den Sinn der Schrift, sondern auch die lebendige gegenwärtig sich ereignende Wirklichkeit, von der diese zeugt. In der Tradition bleibt die Auslegung der Schrift nicht bei einer theoretischen Darlegung ihrer Lehre, und aus der 302

biblischen Botschaft wird nicht eine abstrakte Doktrin, sondern mittels der Tradition wird sie lebendig dargestellt und entfaltet, so daß die Gläubigen den Inhalt der Schrift nicht nur verstehen, vielmehr zugleich innerhalb des Gottesdienstes an ihm teilhaben und ihn erleben können. Eines der kennzeichnenden Merkmale des orthodoxen Traditionsverständnisses ist in der engen Verbindung zu sehen, die zwischen der Tradition und dem liturgisch-sakramentalen Leben der Kirche besteht, wie auch darin, daß die Tradition als ein pneumatisches Phänomen aufgefaßt wird. Dem Gottesdienst und den Sakramentshandlungen als wesentlichen Bestandteilen der Tradition kommt eine große Bedeutung für die Weitergabe der Offenbarung und somit des Schriftinhaltes zu. Die hohe Bewertung der Tradition durch Basilius und andere Kirchenväter steht in engem Zusammenhang mit der gottesdienstlichen Praxis und den sakramentalen Handlungen der Kirche. Durch die Tradition wird die Offenbarung nicht nur als ein vergangenes Geschehen überliefert, sondern die Heilstaten, die Christus ein für allemal für die ganze Menschheit vollbracht hat, geschehen für uns jetzt erneut und werden uns in ihrer Heilswirksamkeit zuteil. Die horizontale und die vertikale Dimension der Tradition bestimmen in gleichem Maße ihr Wesen. Daß die geschichtliche Offenbarung in der Tradition Gegenwartsgeschehen wird, ist nur kraft des Hl. Geistes möglich. Durch den Hl. Geist vollzieht sich der Prozeß der Überlieferung, deren Hauptgewicht in der orthodoxen Kirche nicht in der Weitergabe von Lehren und Vorschriften, sondern in der Übermittlung der Heilsgnade besteht. Wegen der Präsenz und der Wirkung des HI. Geistes in der Tradition und angesichts der Tatsache, daß es in ihr um die Überlieferung des apostolischen Evangeliums geht, dem die göttliche Kraft innewohnt, folgt, daß die Tradition nicht als ein statisches Depositum, sondern als ein dynamisches Prinzip der Kontinuität, Erneuerung und Entfaltung des apostolischen Glaubens zu verstehen ist. Durch die Entfaltung der apostolischen Tradition in der alten Kirche und durch die Glaubensentscheidungen, die auf den ökumenischen Konzilien beschlossen wurden, ging sie im wesentlichen nicht über den apostolischen Glauben hinaus, sondern entfaltete und verdeutlichte ihn nur dadurch. Eine Entwicklung der Lehre wird angestrebt, sofern diese nicht eine Wesensveränderung der Glaubenswahrheit bedeutet, sondern zu ihrem tieferen Verständnis und ihrer Erläuterung beiträgt. In den mannigfaltigen Zeugnissen der kirchlichen Tradition der ersten acht Jahrhunderte fand der eine apostolische Glaube seinen lebendigen Ausdruck. Aus der Entfaltung der apostolischen Tradition entstand die kirchliche Tradition. Obwohl sie ihren Ausgangspunkt nicht in der Auslegung der Schrift nimmt und insofern nicht gänzlich von der Schrift abgeleitet werden kann, sondern in ihrer Existenz auf die ursprüngliche Tradition 303

zurückgeht, von der sie auch andere mündliche Traditionen aufnimmt, die in der Schrift nicht festgehalten wurden, steht sie jedoch nicht unabhängig von dieser und findet in ihr die maßgebliche Form der apostolischen Tradition, nach der sie sich zu richten hat. Ungeachtet dessen, daß die kirchliche Tradition denselben Inhalt wie die apostolische Tradition und die Schrift hat, mit der sie untrennbar zusammengehört und als Mittel ihrer Weitergabe dient, so kann nicht übersehen werden, daß es zwischen ihnen einen Unterschied gibt. Die Autorität der kirchlichen Tradition hängt grundsätzlich von der primären Autorität der apostolischen Tradition ab, von der sie sich ableitet. Die apostolische Tradition und die Schrift stellen für die kirchliche Tradition den kritischen Maßstab dar. Schrift und Tradition sind nicht als zwei unabhängige Quellen, sondern nur als zwei verschiedene Ausdrucksweisen derselben apostolischen Botschaft zu verstehen. Weil die Tradition den apostolischen Glauben bezeugt und die Schrift auslegt und übermittelt, ist sie auch als materielle Quelle der Offenbarung zu betrachten, wenn auch nicht unabhängig von der Schrift. Auch aus ihr läßt sich die apostolische Glaubenswahrheit wiedergewinnen, da sie in der Übereinstimmung mit der Schrift ihr Lebensprinzip hat. In der Einheit von Schrift und Tradition ist auch das Verhältnis zwischen Schrift und Kirche einbeschlossen, denn die Tradition ist nicht etwas anderes als das Leben der Kirche, das sie unter der Leitung des Hl. Geistes im gehorsamen Hören und Antworten auf das Heilsangebot Gottes führt. Wenn in der Ostkirche der Schrift eine zentrale Stellung zuerkannt wird, dann nicht außerhalb der Kirche und ihrer Tradition. Wenn sie als das Wort Gottes über der Kirche steht, dann insofern sie in der Kirche existiert. Als berufene Hüterin, Zeugin und Interpretin der Schrift ist die Autorität der Kirche auf der Schrift selbst begründet, wenn sie der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit (1. Tim. 3,15) genannt wird und wenn Paulus schreibt, daß durch sie „den Mächten und Gewalten im Himmel die mannigfaltige Weisheit Gottes kundgetan wird" (Eph. 3,10). In der Zusammengehörigkeit von Schrift, Tradition und Kirche erhält die erstere, die auf die beiden anderen angewiesen ist, den ersten Rang.

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TEIL III ÖKUMENISCHE PERSPEKTIVEN

1. Die Bedeutung des Briefwechsels zwischen den Tübinger Theologen und dem Patriarchen Jeremias II in Bezug auf Schrift und Tradition Von 1573 bis 1581 fand ein von den Tübinger Theologen eingeleiteter dreifacher Briefwechsel mit dem Patriarchen von Konstantinopel, Jeremias II, statt. Nachdem der erste Versuch Melanchtons im Jahre 1559, mit Konstantinopel Kontakt aufzunehmen, indem er zur Darstellung der Reformation die ins Griechische übersetzte Confessio Augustana dorthin sandte, ohne Erwiderung geblieben war, wiederholten einige Zeit später die Tübinger Theologen den Versuch, zu dem ökumenischen Patriarchat Beziehungen anzuknüpfen, ebenfalls durch die Überreichung einiger Exemplare derselben reformatorischen Schrift, die zweifellos von allen Bekenntnisschriften am geeignetsten war, zu beweisen, daß die Reformation an der Überlieferung der alten Kirche festhält und mit ihr die Hauptartikel des Glaubens teilt. Hierzu sollte noch erwähnt werden, daß die griechische Übersetzung der Confessio Augustana nicht einfach eine wörtliche Wiedergabe des ursprünglichen Textes war, sondern wie E. Benz nachgewiesen hat, so bearbeitet wurde, daß sie einem orthodoxen Leserkreis, dem religiösen Empfinden und der theologischen Anschauungsweise ihrer orthodoxen Adressaten angepaßt wurde 1 . Dies war eigentlich auch das Hauptanliegen des zweiten Versuches der Kontaktaufnahme, die aus dem Brief des J a k o b Andreä und des Martin Crusius an den Patriarchen hervorgeht: „Wenn wir auch in einigen Gebräuchen voneinander abweichen, da wir gar zu entfernt voneinander wohnen, so hoffen wir dennoch, in den Hauptstücken der Heilslehre keine Neuerer zu sein, sondern denjenigen Glauben, so weit wir es verstehen, zu umfangen und zu bewahren, der von den heiligen Aposteln und Propheten, den von Gottes Geist erfüllten Vätern und Patriarchen überliefert worden ist, so wie von den Sieben Synoden, welche auf den von Gott eingegebenen Schriften gegründet sind." 2 Wie 1 2

Über die griechische Übersetzung der Confessio Augustana, siehe E. Benz, Wittenberg und Byzanz, Marburg 1949, S. 94—128. In: Wort und Mysterium. Der Briefwechsel über Glauben und Kirche 1573 bis 1581 zwischen den Tübinger Theologen und dem Patriarchen von Konstantinopel. Hrsg. v o m Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Witten 1958, S. 3 9 - 4 0 .

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sich im weiteren Verlauf des Briefwechsels herausstellt, erweist sich diese kurze Darstellung der reformatorischen Position gegenüber der Tradition mehr als eine captatio benevolentiae als eine genaue Umschreibung der eigentlichen reformatorischen Lehre, die hier, wie schon bemerkt wurde 3 , in einer etwas überschwenglichen Schätzung der Väter und der ökumenischen Konzilien zum Ausdruck kommt. Mit der Zusendung derselben Ubersetzung der Augustana wollten die Tübinger Theologen dem Patriarchen Gelegenheit geben, sich direkt über ihre „Religion" zu informieren und festzustellen, in welchen Punkten beide Seiten übereinstimmen und in welchen sie voneinander abweichen, was sie ausdrücklich nicht h o f f e n 4 . Die Antworten des Patriarchen zeichnen sich nicht durch originelle, tiefgreifende theologische Überlegungen aus, vielmehr sind sie in der überkommenen Tradition eingefügt. Seine Erläuterungen haben daher nicht den Charakter einer strengen theologischen Beweisführung, sondern einer Darlegung der orthodoxen Lehre, wie sie sich von altersher herauskristallisiert hat und von den Vätern und auf den Konzilien zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Absicht, das, was er sagt, nicht aus sich, sondern aus der Tradition zu entnehmen, wird von Jeremias II klargestellt: „Indem wir nun antworten, werden wir nichts aus uns sagen, sondern was wir aus den heiligen ökumenischen Sieben Synoden schöpfen Ferner werden wir reden nach dem Urteil der göttlichen Lehre und Ausleger der von Gott eingegebenen Schrift, welche die Allgemeine Kirche Christi nach gemeinsamer Entscheidung angenommen hat "s Damit wird die Autorität deutlich, die hinter den Ausführungen des Patriarchen steht, nämlich die allgemeine Kirche, sicherlich nicht ohne die Schrift, aber so, wie sie von der Kirche verstanden wird. Jeremias setzt bei der Kirche ein, in der er die Instanz sieht, die für die Wahrheit bürgt und auf deren Autorität die Lehre, die er ausführt, sich gründet. Die Kirche ist im vollen Besitz der Wahrheit, und nur diejenigen, die in der Kirche sind, haben an dieser teil. „Wer nun der Gemeinde Christi angehört, der gehört ganz und gar der Wahrheit an, und wer nicht völlig der Wahrheit angehört, der gehört auch nicht der Gemeinde Christi a n . " 6 Nach dem Woher der Autorität der Kirche wird nicht gefragt, und auf ihr Verhältnis zur Schrift wird auch nicht eingegangen. Die eine apostolische und heilige Kirche der Christen ist danach zu erkennen, „welche recht und nach der göttlichen Väter Überlieferung die Ordnungen und die kanonischen Bestimmungen ausführen, die durch den Hl. Geist bestimmt und in Kraft gesetzt sind" 7 . Für die Existenz und We3 4 5 6 7

306

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S. S.

14. 37. 52-53. 53. 69.

sensbestimmung der Kirche scheint nach Jeremias II von überragender Bedeutung zu sein, daß die Gläubigen sich an die Ordnungen und die kanonischen Beschlüsse der Konzilien halten. Die Schrift scheint von der Tradition aus dem Dasein der Kirche verdrängt zu sein, während die Kirche als die letzte Instanz der Wahrheit angesehen wrid. Der Bezug der Lehre auch auf die Schrift ist unverkennbar, wenn diese auch nicht hinreichend zur Geltung gebracht wird. Am Ende seiner Analyse der Confessio Augustana will er die dazu dargelegten orthodoxen Lehren auf der Schrift begründet wissen: „Alles, was wir gesagt haben, meine Lieben, stützt sich, wie auch Ihr wohl wißt, auf die von G o t t eingegebene Schrift, nach unserer gelehrten und heiligen Theologen Auslegung, gesunden Lehre und Erläuterung." 8 Häufig verweist er auch in seinen Ausführungen auf die Schrift. Trotz dieses Bekenntnisses zur Schrift ist nicht zu übersehen, daß in den Antworten des Patriarchen dieser im Vergleich mit der Tradition weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird, und daß sie etwas hinter die Tradition zurücktritt. Dies mag zu einem nicht geringen Teil auch daran liegen, daß die Tradition als Medium und Zugang zum wahren Schriftverständnis dient. Berücksichtigt man diesen Umstand, so wird verständlich, daß hinter der Berufung auf die Tradition auch die Schrift steht, die durch sie übermittelt wird und zum Bezugspunkt der Tradition als ihre Auslegung gehört. In der Hochschätzung der ökumenischen Synoden und den auf ihnen beschlossenen Glaubensartikeln, die als „Prinzipien und Grundlagen des G l a u b e n s " 9 bezeichnet werden, vermißt man jeglichen Hinweis auf die Schrift, aus der ihre Autorität aufgrund der Übereinstimmung mit ihr begründet würde. Überhaupt scheint die Tradition allein zu stehen, und ihre Position ist so sicher, daß eine notwendige Beziehung zur Schrift hin zu ihrer Festigung nicht erforderlich erscheint. Man wäre vielleicht geneigt zu meinen, daß es sich aus der heutigen Sicht der Dinge als eine Projizierung dieser Fragestellung auf die damalige theologische Problematik ergibt, nach der Beziehung der Tradition zur Schrift zu fragen, wenn man nicht vor Augen behielte, daß der Patriarch durch die besondere Hervorhebung der Schrift in der Confessio Augustana und noch mehr danach in der Korrespondenz der Tübinger Theologen gerade zur Darlegung seiner Position in Bezug auf die Stellung der Schrift veranlaßt war, wenn er schon die Übereinstimmungen und die Abweichungen der beiden Lehren voneinander ausarbeitete. Die Tatsache, daß das Verhältnis von Schrift und Tradition nicht zu den Themen zählt, über die weder Gemeinsamkeiten noch Unterschiede in den Antworten des Patriarchen festgehalten wurden, ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß die Reformation in Konstantinopel zu jener Zeit unzureichend bekannt war. Wenn in der Überprüfung der

8 9

Ebenda, S. 123. Ebenda, S. 54.

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Augustana und auch danach, als die Schrift immer mehr zum Hauptanliegen der Tübinger Theologen wurde, und sie sich von ihrer anfänglichen hohen Bewertung der Tradition allmählich entfernten, Jeremias nicht darauf eingeht, so liegt dies auch daran, daß das Schreiben des Patriarchen nicht so sehr aus der theologischen Auseinandersetzung mit der reformatorischen Lehre entstanden ist, vielmehr kann man an seinem ersten Schreiben deutlich erkennen, daß neben der Feststellung und der Kenntnisnahme der in der Augustana enthaltenen Lehre ihm vor allem daran lag, die Lehre seiner Kirche darzustellen. Jeremias war von der Richtigkeit der orthodoxen Doktrin zu sehr überzeugt, als daß er bereit gewesen wäre, in kontroverstheologischen Gesprächen diese zu revidieren oder in Frage stellen zu lassen. Deshalb richtet er an seinen Dialogpartner den Vorschlag, der orthodoxen Kirche beizutreten. Als er feststellt, daß diese hierzu nicht bereit waren und weiterhin auf ihrem Standpunkt beharrten, setzte er der Korrespondenz ein Ende. Jeremias war primär nicht an einem theologischen Dialog und der theologischen Auswertung der reformatorischen Lehre interessiert, vielmehr stand für ihn die Frage im Vordergrund, ob eine Einigung möglich wäre durch die Annahme der orthodoxen Lehre seitens der aus der Reformation entstandenen Kirche 10 . Die Einheit sollte nicht anderer Natur sein, sondern eine, die auf die Einheit im Glauben gründet: „Wenn Ihr Euch darin berichtigt, so wollen wir beide mit Gottes Hilfe übereinstimmen und eins sein im Glauben zur Ehre Gottes." 1 1 Wenn in den Antworten des Patriarchen Jeremias dem Problem der Schrift in Vergleich mit seinem Korrespondenzpartner weniger Aufmerksamkeit gewidmet wurde, so wird man hieraus nicht auf ihre geringe Bedeutung in der orthodoxen Kirche schließen. Daß die Schrift nicht wie für die Tübinger Theologen zum zentralen Thema wurde, lag eher daran, daß für die orthodoxe Seite die Schwierigkeit, sich mit dem Wortführer der evangelischen Theologie zu verständigen, nicht auf dem Gebiet der Schrift gesehen wurde. Es ist zweifelhaft anzunehmen, daß für den Patriarchen und den hinter ihm stehenden Beraterkreis Themen wie Fasten oder Mönchtum, die ziemlich ausführlich behandelt werden, für wichtiger als die Schrift erachtet wurden, zumal unverkennbar ist, wie sehr Jeremias in seinen Antworten bestrebt ist, seine Überlegungen auch biblisch zu begründen. Die Frage, die sich unvermeidlich stellt, weshalb das Problem der Bedeutung der Schrift von Jeremias umgangen worden ist angesichts der Regelmäßigkeit, mit der dies von den Tübinger Theologen in allen ihren Antworten behandelt wurde, und daß der Patriarch keine Reaktion darauf zeigt im Gegensatz zu den anderen umstrittenen Lehren wie Filioque, Gerechtigkeit und die Sakramente,

10 11

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Vgl. G. Florovsky, An Early Ecumenical Correspondence (Patriarch Jeremiah II and the lutheran divines), in: World Lutherianism of Today, 1950, S. 109. Wort und Mysterium, S. 189.

die in allen seinen drei Antworten auftauchen, läßt sich aus dem Gesamtcharakter seiner Korrespondenz dahingehend beantworten, daß er nichts gegen die fundamentale und erstrangige Stellung der Schrift einzuwenden hatte, und daß der Hauptakzent von dem Patriarchen auf die Tradition verlagert wurde. In der Lösung des Traditionsproblems lag nach dem Tenor seiner Schreiben die Entscheidung, ob beide Seiten zu einer Einheit gelangen können. Von eminenter Wichtigkeit war für den Patriarchen, der auf eine konkrete Einigung drängte, nicht die theoretische Grundsatzfrage des Schrift-Tradition-Verhältnisses, sondern die Frage, wie das, was die Schrift enthält, richtig zu verstehen ist, und wie ihr Inhalt in Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Ihm ging es hauptsächlich um die Auslegung der Schrift: „Uns kommt es nämlich nicht zu, im Vertrauen auf unsere eigene Auslegung, irgend etwas von den Worten der Schrift anders zu verstehen oder auszulegen als gemäß den Theologen, die von den heiligen Synoden im Hl. Geist zu dem frommen Zweck anerkannt sind." 12 Die Bewährungsprobe dafür, ob eine Einigung möglich ist, sollte deshalb auf dem Gebiet der Tradition bestanden werden. Er hätte zustimmen können, daß die Schrift die absolute Norm des Glaubens ist, aber damit wäre das Problem noch nicht gelöst. Dazu gehört unbedingt auch die Tradition. Stellten die Tübinger Theologen mit Nachdruck die einzigartige Bedeutung der Schrift für den Glauben heraus, so glaubte seinerseits der Patriarch, auf die unersetzliche Funktion der Tradition für die Heilszueignung hinweisen zu müssen. Im Vordergrund stand deshalb für ihn der praktische Weg und die Mittel der Erlösung, und diese sind eben ohne die Tradition nicht möglich 13. Von daher ist es nun selbstverständlich, daß er über den Gottesdienst, die Sakramente, das Priestertum, das Gebet und die Frömmigkeit zu sprechen kommt. Die Schrift handelt von der Rettung des Menschen durch Christus, und dafür, wie diese in der Kirche verwirklicht wird, ist sie Quelle und Maßstab. Diese geschieht aber in Wirklichkeit durch die Tradition. Weil dem Patriarchen an dem konkreten Vollzug der Erlösung gelegen war und die Trennung auf diesem Gebiet überwunden und die Lehrübereinstimmungen erprobt werden sollten, nimmt die Tradition, in deren Bereich die meisten Unterschiede festgestellt wurden, einen beträchtlichen Raum in seinen Antworten ein, die sich deshalb aufschlußreicher für das Traditionsverständnis als für die prinzipielle Rangordnung der Schrift und ihre Verhältnisbestimmung gegenüber der Tradition erweisen, wobei seine Antworten nicht als eine systematische Abhandlung über die Lehre der Tradition zu verstehen sind.

12 13

Ebenda, S. 123. Vgl. H. Schaeder, Grundprobleme des evangelisch-orthodoxen Gesprächs, in: ö k u m R s 6, 1957, S. 32.

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Die Grundzüge des Traditionsverständnisses, die den Schreiben des Patriarchen zu entnehmen sind, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Themen des Gottesdienstes, der Sakramente und der Gnade, die zweifellos in seiner Korrespondenz eine zentrale Stellung einnehmen. Die einst von Christus vollbrachte Erlösung wird in dem Gottesdienst dargestellt: „Wer den Gottesdienst aufmerksam schaut, vermag den ganzen Verlauf jenes Heilswerkes vor Augen zu haben." 1 4 Der Gottesdienst und die Sakramente, die das Vermächtnis Gottes an die Kirche darstellen, sind nicht als einfache, äußere formelle Handlungen zu verstehen, die uns nur an sein Heilswerk erinnern, sondern Mittel der Gnadenzuteilung. Jeremias spricht vom „Nutzen", den wir aus dem Gottesdienst ziehen, demnach „empfangen wir Heilung aus allem überhaupt, was im Gottesdienst geschieht" 1 5 . Die Heilsübermittlung im Gottesdienst erfolgt aber nicht ohne den Glauben: „ S o verurteilen auch wir diejenigen, die da meinen, daß man ohne Glauben die Vergebung der Sünden und den Nutzen von den heiligen Handlungen haben kann." 1 6 Eine besondere Funktion bei der Ermittlung der Gnade Gottes und der Teilnahme am Heilsgeschehen wird den Sakramenten zugeschrieben, die ähnlich wie in CA (XIII) und in Apol. (XIII) als „Zeichen und Zeugnisse des Wohlwollens und der Gnade Gottes für u n s " 1 7 bezeichnet werden. Überhaupt scheint es, daß die Möglichkeit der Heilserlangung hauptsächlich durch die Sakramente geschieht, und so wird im Sinne N. Cabasilas' geglaubt, ,,daß das Leben in Christus durch die Mysterien besteht, und daß es seinen Anfang aus ihnen empfängt" 1 8 . Während die Sakramente im eigentlichen Sinne als Heilsmittel gelten aufgrund ihres ursächlichen Anfangs in Christus, aus dessen Opfer „den Teilnehmern der Mysterien die Gnade quillt" 1 9 , dient das Wort der Schrift mehr zur „Zurüstung und Bereitung" für den Empfang der eucharistischen Gaben und zur Verkündigung der Menschenliebe Gottes, seiner Gerechtigkeit und seines Gerichts und bewegt die Menschen dazu, Gott zu fürchten und ihn zu lieben 20 . Dem Wort wird demnach eine mehr unterrichtende, erzieherische und im allgemeinen vorbereitende Funktion zuerkannt. Es gibt wenige Anzeichen dafür, daß das Wort so verstanden wird, daß es die Liebe und die Gnade Gottes nicht nur ankündigt, sondern sie auch übermittelt. Ein anderer Schwerpunkt in der Darstellung der orthodoxen Lehre durch Jeremias, der zugleich als eine Aufforderung an seine Gesprächspartner zu verstehen ist, ist die Auslegung der Schrift, die nach der 14 15 16 17 18 19 20

310

Wort und Mysterium, S. 87. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 185. Ebenda, S. 73. Ebenda, S. 86.

orthodoxen Auffassung im Lichte der kirchlichen Tradition und aus dem Zusammenhang mit der auf den ökumenischen Konzilien beschlossenen Lehre geschehen muß. In den verschiedenen Bedeutungen, die der Tradition zuerkannt werden und an der Bindung an sie als Norm der Auslegung der Schrift sieht der Patriarch eine der Hauptursachen, wenn nicht die eigentliche überhaupt, die ein Hindernis auf dem Wege der Verständigung zwischen beiden Seiten darstellt — und den Grund, aus dem nicht in allen Lehren Übereinstimmung erzielt werden kann. Am Ende seines zweiten Schreibens bestätigt er etwas entgegenkommend, daß beide Seiten „in fast allen Wichtigeren übereinstimmen", und führt die noch umstrittenen Fragen auf einen anderen Sinn zurück, den die reformatorischen Theologen einigen Schriftstellen im Unterschied zur Tradition der Väter geben: ,,so braucht ihr nicht gewisse Schriftworte anders auszulegen, und zu verstehen, als die Leuchten der Kirche und ökumenischen Lehrer es getan haben" 2 1 . Hier liegt der Grund, der einer völligen Übereinstimmung im Wege steht. Indem Jeremias leicht über die reformatorischen Grundsätze hinweggeht, stellt er sich einfach vor, daß, wenn es diesen Unterschied in der Bewertung der Tradition nicht gäbe und seine Gesprächspartner bereit wären, die Auslegung der Schrift durch die Tradition der Kirche zu übernehmen, einer allgemeinen Lehrübereinstimmung nichts mehr im Wege stehen würde: „Eine andere Ursache der Unstimmigkeit als diese allein besteht nicht Wir haben einige der Schriftworte, die Ihr in Eurem ersten und zweiten Schreiben an uns erwähnt habt, wohl geprüft und deutlich erkannt, daß Ihr diese falsch ausgelegt habt, wahrscheinlich im Anschluß an Eure neuen Lehrer. Deshalb bitten wir Euch aufs neue, die Schriftworte so zu verstehen, wie die ökumenischen Lehrer der Kirche sie ausgelegt haben, deren Auslegungen die sieben ökumenischen Synoden und die übrigen Landessynoden bestätigt haben." 2 2 Davon auszugehen, hieße nach der Ansicht des Patriarchen, die Ursache der Lehrunterschiede zwischen der orthodoxen und der evangelischen Kirche auf dem Gebiet der Tradition zu suchen, und deshalb konzentrierten sich auch seine Überlegungen auf diesen Bereich, aus dem er viele seiner Argumente vorbrachte. Die Notwendigkeit der Übereinstimmung mit der Überlieferung der Väter macht Jeremias gegenüber seinen Dialogpartnem als unausweichlichen Grundsatz geltend. Im Gegensatz zur Darstellung des Patriarchen und der Methode der Tradition, der in der Beweisführung des orthodoxen Standpunktes großes Gewicht beigemessen wurde, legten die Tübinger Theologen den Hauptakzent auf die Heilige Schrift, die sie als ausreichende und einzige Glaubensquelle darstellten. Anstelle von Tradition und Schrift, auf die sich der Patriarch bei der Begründung der orthodoxen Lehre stützte, 21 22

Ebenda, S. 189. Ebenda, S. 1 8 9 - 1 9 0 .

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wurde die Schrift als alleinige Norm der Glaubenslehre von den reformatorischen Theologen herausgestellt und zum Ausgangspunkt aller ihrer Überlegungen gemacht. Die Tübinger Theologen zeigen ein vitales Interesse an der Klarstellung des Schrift-Tradition-Verhältnisses. Das Problem der Schrift wird allen anderen Diskussionsthemen wegen ihrer fundamentalen Bedeutung für die ganze Lehre der Kirche vorangestellt, und weil es für sie methodisch wichtig ist, von vornherein festzulegen, daß sie alle Lehren, auch diejenigen und vor allem die, in denen keine Übereinstimmung besteht, danach prüfen werden, ob sie in der Schrift begründet und enthalten sind. Erst wenn feststeht, welche die Norm des Glaubens ist, soll dann die Beurteilung der umstrittenen Lehre folgen. Als Maßstab aller Dogmen erkennen die Tübinger Theologen allein die Schrift an: „Es gibt keinen zuverlässigeren, wahrhaftigeren und besseren Maßstab zur Beurteilung aller Dogmen und Satzungen, Glaubensübungen, menschlichen Überlieferungen und Werke als das Wort G o t t e s . " 2 3 Alles, was in der Kirche verkündet, gelehrt und als gottesdienstliche Handlungen vollzogen wird, wird nach seinem Wahrheitsgehalt nicht mehr auch an der Tradition geprüft, sondern allein an der Schrift, nach der auch die Tradition zu messen ist, wobei es keine Anzeichen dafür gibt, daß diese anders als als menschliches Werk verstanden wird. Die Tübinger Theologen wollen sozusagen eine Generaluntersuchung der Glaubenslehre vornehmen, und die Väter und die ökumenischen Synoden ihr unterziehen und sich dabei nur von der Richtschnur der Schrift leiten lassen. Die Frage bleibt nur, welche Instanz diese Prüfung durchführt, die Kirche oder andere Einzelpersonen; sie wird von ihnen nicht beantwortet und ist auch nicht relevant für sie. Angenommen wird nur das, was von der Schrift bestätigt wird: „Anderes aber, was in den Schriften nicht bezeugt ist, zu glauben oder anzunehmen, sind wir nicht gehalten — welches Ansehen und welchen Ruhm der auch genießen mag, der solches geschrieben oder dogmatisch festgesetzt h a t . " 2 4 Dies bedeutet für sie ausdrücklich keine Mißachtung der Konzilien oder der Väter, die „die Heiligen Schriften auslegten und den Stiftern der Häresien tapfer widerstanden", vielmehr wollen sie darunter verstanden wissen, daß auch das, was als schriftgemäß aus der Lehre der Väter und den Entscheidungen der Konzilien angenommen wird, mit dem Inhalt der Schrift nicht gleichgesetzt werden darf: „Denn es muß durchaus ein Unterschied sein zwischen: Propheten, Christus und den Aposteln und: Vätern und Synoden Was aber von den heiligen Vätern geschrieben und von den Synoden festgesetzt wurde, darf keineswegs in gleichen Ehren gehalten werden wie das Vorhergenannte." 2 5 Zur Bekräftigung der absoluten

23 24 25

312

Ebenda, S. 133; S. 192 f. Ebenda, S. 136. Ebenda, S. 137.

Unterordnung der Tradition unter die maßgebliche Autorität der Schrift wird auf die Kirchenväter hingewiesen, die bezeugen, daß sie sich nach der Schrift richteten, so wie die Konzilien nicht aus eigener Autorität Glaubensentscheidungen getroffen haben 26 . Die reformatorischen Theologen aus Tübingen weisen die Begründung der Notwendigkeit der Tradition neben der Schrift zurück, sowohl wenn diese auf die Ergänzung der Schrift hinzielt — zu deren Vollständigkeit sie sich allerdings nachdrücklich bekennen 27 — als auch, wenn die Existenzberechtigung und die Bedeutung der Tradition für die Schrift auf dem Anspruch beruht, erforderlich für ihre Auslegung zu sein. Indem zugestimmt wird, daß es in der Schrift auch dunkle Stellen gibt, so wird nicht deswegen auf die Tradition hingewiesen, denn die Schwierigkeit, die unklaren Stellen zu verstehen, wird nicht durch eine andere Hilfe von außerhalb der Schrift überwunden, sondern die Schrift wird durch sich selbst ausgelegt. Die einzelnen unklaren Aussagen werden aus ihrem Gesamtzusammenhang heraus verstanden und, indem sie durch andere verständlichere verdeutlicht werden. Die Selbstauslegung der Schrift wird dadurch möglich, daß sie in ihrer Ganzheit von demselben Geist „diktiert" wurde 28 . Für das rechte Verständnis der Schrift wäre demnach die Tradition nicht mehr unerläßlich, da ihre Funktion durch die Selbstauslegung der Schrift nicht mehr notwendig erscheint. Außerdem ist die Tradition der Väter nicht ohne weiteres und ohne Vorbehalte in ihrer Gesamtheit anzunehmen, da auch viele von ihnen Fehler machten und nicht in allen Fällen sprachliche Kenntnisse besaßen, weshalb sie bei der Auslegung einiger biblischer Texte Irrtümer begingen 29 Die vielversprechende Schätzung der Tradition, die die Tübinger Theologen in ihrem ersten Brief an den Patriarchen kundtaten, läßt im Verlauf des Gesprächs immer mehr nach, bis dahin, daß die Funktion der Tradition und ihre Stellung in der Kirche überhaupt nicht reflektiert wird. Wenn sie zur Debatte steht, dann hauptsächlich, um ihre Bedeutung einzuschränken und auf ihre absolute Unterordnung unter die Schrift hinzuweisen. Grundsätzlich gilt, daß nur die Schrift als „die einzige Regel und Richtschnur" anerkannt wird, „nach der alle Lehren der Religion und des Glaubens beurteilt werden müssen" und daß „die Schriften der heiligen Väter und die Dogmen der Synoden nicht die gleiche Kraft und Würde haben können, wie die Heiligen Schriften, sondern daß sie angenommen werden müssen, soweit sie mit der Hl. Schrift übereinstimmen" 30 . Das Zeugnis von der Tradition der Tübinger Theologen erweist sich nicht deshalb als dürftig, weil sie in einer entschiedenen Form die refor26 27 28 29 30

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S. S.

136. 192. 28 139. 194. 192.

313

matorische Grundsatzposition von der kategorischen Unterstellung der Tradition unter die Schrift zum Ausdruck bringen, sondern weil für sie die Tradition keine andere Relevanz zu haben scheint, als daß sie sich in einer totalen Abhängigkeit gegenüber der Schrift befindet. Außer einigen Äußerungen, nach denen auch sie die Tradition schätzen, enthalten ihre Schreiben darüber hinaus keine Angaben über die Funktion der Tradition. Ihre Bedeutung wird weitgehend eingeschränkt, wenn sie bei der Auslegung der Schrift nicht notwendig vorausgesetzt wird, auch dann, wenn es gilt, daß die Schrift sich selbst interpretiert. Vielmehr scheinen für die Tübinger Theologen eine fleißige und gründliche Kenntnis der Originalsprachen der biblischen Schriften und eine philologische Untersuchung der ursprünglichen Texte geeigneter, die Unklarheit einiger Schriftstellen zu beheben und somit die Tradition zu ersetzen 31 . Daß das reformatorische Prinzip der Selbstauslegung der Schrift die Tradition in ihrer Funktion als Auslegung der Schrift nicht überflüssig macht, und daß weiterhin die Gefahr besteht, die Schrift falsch zu verstehen, auch wenn sie in ihrer Gesamtheit verständlich ist, weswegen sie der Tradition bedarf, läßt sich am Beispiel der Häresien verdeutlichen. Wenn auf das Verdienst der Väter hingewiesen wird, die „mit heiligen Zeugnissen den Wahn der Häretiker abgewehrt" 3 2 haben, so ist zugleich wahr, daß sie sich des Arguments der Tradition bedienten und die Schrift, mit der sie argumentierten, in lebensvollem Zusammenhang mit der Tradition verstanden. Das hermeneutische Prinzip der Refortion von der Selbstauslegung der Schrift hindert die Tübinger Theologen daran, die hermeneutische Funktion der Tradition gegenüber der Schrift zur Geltung zu bringen. Fragt man nun nach dem Ertrag des Briefwechsels in Bezug auf die Schrift und Tradition, so wird man diesen aus der heutigen Perspektive als sehr gering einschätzen. Eine fruchtbare Auseinandersetzung entwickelte sich deshalb nicht, weil man auf beiden Seiten bestrebt war, das eigene Anliegen vorzubringen. Der Dialog litt im wesentlichen darunter, daß keine der beiden Seiten auf das Problem der anderen näher einging. Es ist geradezu auffallend, daß der Patriarch es nicht für notwendig erachtete, den orthodoxen Standpunkt über die Bedeutung der Schrift darzulegen, obwohl in allen Schreiben der protestantischen Theologen dieses Thema nachdrücklich behandelt wurde und er feststellen mußte, daß es für sie eine Kardinalfrage im theologischen Dialog mit der orthodoxen Kirche darstellte. Die Hauptsorge des Patriarchen galt einseitig nur der Anerkennung der Autorität der Tradition für die Auslegung der Schrift und erweckt den Eindruck, daß die Tradition keiner normativen Instanz bedarf.

31 32

314

Ebenda, S. 193. Vgl. hierzu die Beurteilung des Briefwechsels, in: Wort und Mysterium, S. 21. Ebenda, S. 136.

Nicht anders verhielten sich die reformatorischen Theologen, wenn es um das Problem der Tradition ging, das in den Antworten des Patriarchen zu einem zentralen Problem und von ihm als Prüfstein dafür betrachtet wurde, ob eine Verständigung und Einigung möglich sei. Die Frage der Tradition umgehen sie zwar nicht völlig, denn sie waren um ihre Rangordnung gegenüber der Schrift sehr bemüht, und es scheint, daß sie außer der theoretischen Grundsatzfrage ihres Verhältnisses zueinander sonst mit dem Begriff der Tradition weniger anzufangen wußten oder weniger Interesse verspürten, sich auch mit anderen Aspekten der Tradition zu befassen, die sich ihnen aus den Schreiben des Patriarchen stellten. So wird man, was die Tübinger Theologen betrifft, feststellen, daß ihnen der Gedanke von der Tradition als Mittel des Gnadenhandelns Gottes ziemlich fremd war. Ebensowenig Verständnis zeigten sie für die gottesdienstliche Dimension und die pneumatische Bestimmung der Tradition. Mit demselben Erfolg, mit dem sich Jeremias II der Behandlung des Schriftproblems entzog, vermieden ihrerseits die Tübinger Theologen, den Gottesdienst als wesentlichen Bestandteil der Tradition in den Katalog ihrer Gesprächsthemen aufzunehmen. Die Ausführungen des Patriarchen über den Gottesdienst machten sichtlich keinen besonderen Eindruck auf sie und veranlaßten sie ebensowenig, das damit zusammenhängende dynamische Moment der Tradition und deren vergegenwärtigende Funktion im Bezug auf das Christumsmysterium zum Gegenstand ihrer Überlegungen zu machen. Die vermittelnde Rolle der Tradition blieb von der reformatorischen Seite so gut wie unbeachtet, ja es scheint überhaupt fraglich, ob diese ihr eine solche Funktion zugestanden und sie neben der Schrift als Übermittlung der Offenbarung angenommen hätten. Statt dessen setzten sie auf die Unmittelbarkeit des biblischen Wortes als Mittel des Heilshandeln Gottes. Bei der Auslegung der Schrift wird der Kirche keine besondere Funktion eingeräumt. Wenn die Schrift sich selbst auslegt, so erscheint nicht die Kirche als das Instrument der Selbstinterpretation der Schrift, vielmehr scheint es auch den einzelnen zuzustehen und zu gelingen, aus der Schrift ihr wahres Verständnis zu gewinnen 3 3 , ohne sich dabei der überlieferten Lehre der Kirche verbunden zu fühlen. Der Glaube an die Vollkommenheit der Hl. Schrift, zu der neben ihrer inhaltlichen Genügsamkeit und ihrer Irrtumslosigkeit 3 4 auch der „Einklang und Zusammenhang" 3 5 als hermeneutischer Ansatz für ihre Selbstauslegung gehört, erhebt sie nicht nur über die Tradition und Kirche, sondern stellt diese, ohne die eine richtige Auslegung der Schrift nicht möglich ist und das Evangelium nicht verkündet werden und geschehen kann, völlig in den Schatten. 33 34 35

Ebenda, S. 141, S. 193. Ebenda, S. 134. Ebenda, S. 194.

315

Mit Recht wurde darauf hingewiesen, daß der Briefwechsel zwischen Tübingen und Konstantinopel von zwei theologischen Orientierungen getragen wurde: der Theologie des Wortes auf der reformatorischen Seite stand die Theologie des Sakramentes der orthodoxen Kirche gegenüber 36 . Der früh begonnene Dialog scheiterte letzten Endes nicht daran, daß eine von den beiden mit dem Evangelium unvereinbar war, sondern an der mangelnden Einsicht, daß sie sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern ergänzen. Es mangelte an Integrationskraft und an Bereitschaft, sich ernsthaft mit dem Problem des Partners auseinanderzusetzen, um zu der Erkenntnis zu kommen, daß weder allein die Schrift noch allein die Tradition eine Alternative sind. Was in der Tat nicht gegensätzlich ist, denn Wort und Sakrament und Schrift und Tradition gehören untrennbar zusammen, führte neben anderen Unterschieden zur gegenseitigen Entfremdung. Der Durchbruch zur Überwindung und Integrierung einer einseitigen Theologie des Wortes und der Tradition oder des Sakramentes dürfte der neueren Theologie gelungen sein.

2. Auswertung

und Ergebnisse. Die erreichten Übereinstimmungen und die noch bestehenden Unterschiede

Zwischen der orthodoxen und der evangelischen Theologie bestehen hinsichtlich des Offenbarungsverständnisses keine wesentlichen Unterschiede, ja man kann sogar von einer weitgehenden Übereinstimmung sprechen, die durch einige unterschiedliche Akzentsetzungen nicht in Frage gestellt wird. Dem theologischen Dialog liegt damit eine gemeinsame Basis zugrunde, die sich durch die Aufwertung der Tradition durch die evangelische Kirche noch erweitert hat. Die Erörterung des Traditionsproblems, mit dem erst auch die Unterschiede auftauchen, hat im Verständnis der Offenbarung eine zu Hoffnung Anlaß gebende Ausgangsbasis, denn das Verständnis der Tradition ist in dem der Offenbarung tief verwurzelt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß der Glaubensgehalt der Offenbarung in die Tradition übergeht und auch zu ihrem Inhalt wird, damit sie als eine gegenwärtig geschehende Wirklichkeit weitergereicht wird. In der Bestimmung der Tradition wird nicht nur auf sie als actus tradendi, sondern auch als traditus Bezug genommen, und hier wird offenkundig, wie in dem Verständnis der Offenbarung auch das der Tradition enthalten und es durch dieses mitbestimmt wird. Mit der Betrachtung der Offenbarung als einem vergangenen und gegenwärtigen Geschehen handelt es sich um eine grundlegende Bestimmung der Glaubenswahrheit, die grundsätzlich von beiden Theologien vertreten wird. 36

316

Vgl. Florovsky, An Early

. ., S. 108; Wort und Mysterium, S. 22.

Durch jeden von beiden wird jeweils ein wesentlicher Aspekt der Offenbarung getroffen, und deshalb kann sie nicht allein durch den einen oder den anderen hinlänglich bestimmt werden. Die Heilsereignisse haben eine Bedeutung an sich als Taten des allmächtigen Gottes und erhalten sie nicht erst in dem personalen Akt des Glaubens in ihrer augenblicklichen Wirksamkeit für mich. Wenn sie nicht auch an sich bedeutsam wären, so könnten die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi sich auch nicht pro me als wirksam erweisen. Die Notwendigkeit des Glaubens, ohne den der einzelne an dem Erlösungsgeschehen nicht teilhaben kann, bedeutet nun nicht, daß die Heilsereignisse in sich keine objektive Bedeutsamkeit hätten und daß sie erst durch den Glauben eine solche erhielten. In diesem Falle würde ihre Bedeutung von dem Glauben der einzelnen abhängen und sie sich auf die individuellen Glaubensentscheidungen gründen. In Wirklichkeit ist es der Glaube, der sich auf die ein für allemal geschehenen Heilstaten Gottes in Jesus Christus gründet und nicht umgekehrt. Nur weil in diesen das Heil für die ganze Menschheit einbeschlossen ist und sie sich in ihrer objektiven Heilsbedeutung an alle Menschen richtet, wird die Heilsgnade für jeden einzelnen, der an Christus glaubt, wirksam. Das geschichtliche gegenwärtig geschehende, mich betreffende Heilsereignis beruht auf dem extra me des von Christus ein für alle Male vollbrachten Erlösungsgeschehens. Das „einmal", das für „alle Male" Bedeutung und Gültigkeit besitzt, wird durch die Tradition alle Male gegenwärtig. Das „alle Male" wird möglich aufgrund des „einmal" der Christusgeschichte. Der personale Glaube gründet auf der objektiven Glaubenswahrheit. Diese Grundauffassung von der Offenbarung, die sowohl ihrem objektiven als auch ihrem subjektiv-aktuellen Aspekt Rechnung trägt und beide in einer ontologischen Zusammengehörigkeit sieht, prägt auch das Verständnis der Tradition, insofern diese nicht nur als Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens und unter ihrem existentiellen Charakter betrachtet, sondern auch so erfaßt wird, daß durch sie die ein für allemal geschehenen Ereignisse der Offenbarung überliefert und formuliert werden. Die ohnehin ausgeprägte existentielle Auffassung von der Offenbarung in der evangelischen Theologie, die bei manchen vielleicht nicht zu unrecht den Eindruck erweckt, daß diese im Vergleich zu ihrem objektiven Charakter als vorherrschend erscheint, ist an sich kein Hinweis, daß hier die Offenbarung nur als Gegenwartsgeschehen betrachtet wird, abgesehen von einigen einseitig aktualistischen Tendenzen, die sich allerdings nicht auf eine lutherische theologische Tradition berufen können. Vielmehr wird man doch feststellen können, daß sie nicht nur als ein Geschehen der Gegenwart, das auf sich selbst beruht, aufgefaßt wird, sondern als solche möglich ist aufgrund der einmaligen historischen Heilsereignisse, von denen es nicht loszulösen ist. Die Offenbarung ist nicht nur gegenwärtiges und existentielles Geschehen, sie ist zugleich auch vergangenes Ereignis. Sie ist nicht nur mich betreffende 317

Heilstat Gottes und besteht nicht nur in ihrer Wirksamkeit für mich, sondern nur weil sie das Heilsangebot Gottes an alle Menschen ist und eine objektive Wirklichkeit des Heils darstellt, die in sich wahr und wirksam ist, geschieht sie als Vergegenwärtigung der objektiven Erlösung, mit der die subjektive möglich und gegeben ist. Die Übernahme des trinitarischen und christologischen altkirchlichen Dogmas durch die Reformation ist ein Beleg dafür, daß die Wirklichkeit der Offenbarung nicht auf ihr gegenwärtiges Geschehen reduziert wird, sondern darüber hinaus als eine objektive vorgegebene Tat Gottes betrachtet wird, deren Glaubensgehalt formuliert, bewahrt und überliefert wird. Entsprechend diesem Verständnis der Offenbarung erfolgt durch die Tradition als Mittel, durch das sie uns erreicht, nicht einfach eine punktuell-akthafte Vergegenwärtigung der Offenbarung, in der allein möglicherweise ihre Wirklichkeit bestünde, sondern die Tradition dient auch als Mittel der Kontinuität und Identität der Offenbarung. Ohne die Tradition können diese nicht erreicht werden, und die Offenbarung wird dann nur zu einem aktuellen Geschehen, das in keinerlei Kontinuität und Sinnzusammenhang mit der Christusgeschichte steht. Mit den Begriffen der Kontinuität und Identität wird ausgedrückt, daß die Offenbarung sowohl Gegenwartsgeschehen als auch einmaliges historisches Ereignis ist, und das Verhältnis zwischen beiden von Kontinuität und Identität beherrscht wird. Ohne die Kontinuität, die in der Tradition erfolgt, wäre die Identität der Offenbarung gefährdet. Deshalb reicht ein nur aktualistisches Verständnis der Offenbarung bei weitem noch nicht aus, um sowohl die Wirklichkeit der Offenbarung in ihrer Ganzheit zu erfassen als auch um ihre Identität zu sichern, wenn das gegenwärtige Heilsgeschehen nicht in einem Zusammenhang mit den von Jesus Christus vollbrachten historischen Ereignissen steht und nicht aus der Tradition gedeutet wird. Das Verständnis der Offenbarung ruft in beiden Fällen, wenn es um sie als einmaliges und als gegenwärtiges Geschehen geht, die Tradition auf den Plan. Eine weitere, den beiden Theologien gemeinsame Grundauffassung von der Offenbarung, die so eng mit ihren beiden oben erwähnten Aspekten verknüpft ist und auch das Verständnis von der Tradition grundsätzlich prägt, bildet ihre personale Bestimmung. Die Offenbarung ist keine abstrakte Idee, und durch die Tradition wird keine erstarrte Lehre überliefert. Die Offenbarung ist nicht die Mitteilung einer unpersönlichen objektivierbaren Wahrheit, sondern die Herstellung einer personalen Beziehung, in der Gott als handelndes Subjekt auftritt und sich den Menschen mitteilt. Sie stellt den Menschen nicht primär vor eine übernatürliche Lehre, sondern dieser befindet sich vor Gott, der für ihn handelt. Deshalb versteht sie sich als historisches Ereignis und gegenwärtiges Geschehen, durch das Gott das Heil bewirkt, und nicht als Übermittlung übernatürlicher Lehren und Vorschriften. Das Wort und die Tat, durch die die Offenbarung geschieht, deuten darauf hin, daß sie als personales 318

Heilshandeln Gottes gilt und ihr Wesenskern durch personale Kategorien erfaßt werden kann. Wie einst J e s u s Christus durch seine Kreuzigung und Auferstehung die Erlösung aller Menschen objektiv erwirkt hat, so wirkt er auch jetzt in uns durch den Hl. Geist aufgrund seiner historischen Offenbarung. Er spricht uns an durch Wort und Sakrament, die uns in die Gemeinschaft mit ihm einführen und so seiner Heilsgnade teilhaftig werden. Offenbarung bedeutet personale Beziehung und den lebendigen Dialog mit Gott. Als ein personales Begegnungsgeschehen setzt sie ein personales Denken voraus, das die Momente der Subjektivität, der Relation und der Aktualität umschließt 3 7 , durch die sein ausgesprochen personaler Charakter unverkennbar wird. Die Anfänge eines personalen Denkens gehen in der evangelischen Theologie auf das theologische Denken Luthers zurück, das von der Kategorie des Handelns Gottes bestimmt w a r 3 8 und dessen eigentümliche Art zu denken und dessen Seinsverständnis G. Ebeling 3 9 mit dem Schlüsselwort der ,,coram-Relation" kennzeichnet. Die Offenbarung versetzt den Menschen in die unmittelbare Nähe Gottes, coram Deo, vor dem dieser sein Leben verbringt. Das Verständnis des Evangeliums als viva vox, als rechtfertigendes Wort Gottes, schafft die Voraussetzung für eine personalistische Auffassung von der Offenbarung. Die Enge eines individualistischen theologischen Denkens wird durch die Einbeziehung des ,,Wir" in die Ich-Du-Beziehung mit Gott überwunden, und so erweitert und vollzieht sich die personale Beziehung zu Gott in dem Horizont der Ekklesia. Das personale Offenbarungsverständnis in der orthodoxen Theologie hängt eng damit zusammen, daß sie als Erlösung aufgefaßt wird, die sich durch das göttliche Heilshandeln Christi ereignet. Ihre Vergegenwärtigung und Weitergabe, die kraft des Hl. Geistes geschehen, erfolgen durch den Gottesdienst. Die enge Verbindung zwischen Offenbarung und dem pneumadurchwirkten Gottesdienst war ein wichtiger Faktor, der einem abstrakten Offenbarungsbegriff entgegenwirkt und den Anstoß zu einem personalen Denken gegeben hat, zumal im Gottesdienst ein Gespräch des Menschen mit Gott stattfindet und eine Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit Gott erreicht wird. Im Gottesdienst wird um die Gegenwart Gottes gebetet und seine personale pneumatische Ankunft inmitten der Gemeinde gefeiert. Das personale Verständnis der Offenbarung erweist sich als von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Tradition, da durch sie nicht unpersönliche Wahrheiten mitgeteilt werden, sondern in ihr Christus selbst im Hl. Geist am Werke ist, der durch seine personale Selbstmitteilung in Wort und Sakrament uns seines Erlösungswerkes teilhaftig werden läßt. 37 38 39

G. Gloege, Der theologische Personalismus ., S. 32 ff. Ebenda, S. 25. Luther, S. 223 f f ; Gloege, Der theologische Personalismus . . ., S. 25.

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Den ontologisch-objektiven einerseits und den personalen und gegenwärtigen Aspekt der Offenbarung andererseits, die derem Verständnis sowohl der orthodoxen als auch der evangelischen Theologie zugrunde liegen, wird man, auch wenn es um das Verständnis der Tradition geht, zu berücksichtigen haben, da diese nicht außerhalb ihres Bezuges zur Offenbarung betrachtet werden kann. Geht man von der evangelischen und der orthodoxen Auffassung von Schrift und Tradition aus, die sich in dem Briefwechsel zwischen dem Tübinger Theologen und dem Patriarchen Jeremias II. niederschlug, und die die beiden Positionen im wesentlichen bis in die jüngste Zeit hinein kennzeichnete, so ist im Vergleich zu dem Anfangsstadium des evangelisch-orthodoxen Dialogs zweifellos ein weitgehender Fortschritt in Richtung auf eine gegenseitige Annäherung erreicht worden, zu dem in der Gegenwart beide Theologien beigetragen h a b e n 4 0 . Einiges, was in der Reformationszeit und in den folgenden Zeiten als trennend empfunden wurde, erwies sich bei genauerem Hinsehen durchaus nicht als gegensätzlich, wenn es auch nicht in eine völlige Übereinstimmung mündete. Ein typisches Beispiel hierfür bildet gerade die Haltung der evangelischen Theologie gegenüber der Tradition. Unter dem Einfluß der altund neutestamentlichen traditionsgeschichtlichen Forschung, die auf die Bedeutung der Tradition als Ursprung der biblischen Schriften aufmerksam machte, setzte ein Umdenken der traditionellen Lehre ein, das jedoch nicht die Preisgabe der eigenen Lehre zur Folge hatte, vielmehr wurde es durch deren Vertiefung erst möglich. S o vollzog sich die Rehabilitierung der Tradition in der evangelischen Theologie, ohne daß das reformatorische sola scriptura aufgegeben wurde, eher gelangte man auf dessen Grundlage zu der Erkenntnis, daß sich „aus dem Schriftprinzip mit Notwendigkeit eine Lehre von der Tradition" ergibt 4 1 . Es wäre jedoch unrealistisch, wenn man angesichts der intensiven Besinnung und der konvergierenden Entwicklung der Ansichten über das Thema von Schrift und Tradition und in der Begeisterung über das Erreichte übersähe, daß es sich nur um Teilübereinstimmungen handelt, so wichtig diese auch sind, und daß es noch wichtige Unterschiede gibt, die immer noch nicht überwunden sind. Zu einer nüchternen Einschätzung gehört, daß man, um gezielte weitere Anstrengungen in Richtung einer theologischen Verständigung zu unternehmen, sich zugleich Rechenschaft sowohl über die erzielte Gemeinsamkeit ablegt als auch über das, was als zukünftige Aufgabe noch vor uns liegt. 40

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Einen wertvollen Beitrag zum gegenseitigen Verstehen haben die Gespräche zwischen den Vertretern der evangelischen Kirche Deutschlands und der russisch-orthodoxen Kirche geleistet. Solche Gespräche könnten noch ergiebiger sein und ihre Ergebnisse noch mehr Früchte tragen, wenn sie auch die anderen o r t h o d o x e n Kirchen einbeziehen würden, oder wenn der direkte Dialog auf diese ausgedehnt würde. G. Ebeling „ S o l a scriptura" . . ., S. 140.

Wie weit die Ubereinstimmungen und die Unterschiede reichen, stellt sich vor allem an folgenden Themenkomplexen heraus, um die diese immer wieder kreisen, nämlich an der Frage nach a) der theologischen Bewertung der Tradition in der evangelischen Theologie, der die Geltung des Schriftprinzips in der orthodoxen Theologie entgegenkommt, b) der Anerkennung der Zusammengehörigkeit der Schrift mit der Kirche, c) dem Problem der Autorität der Tradition als Norm für die Auslegung der Schrift und d) der Bedeutung der Traditionen. a) Die Zustimmung zu der theologischen Bedeutung der Tradition in der evangelischen Theologie und die Geltung eines Schriftprinzips in der orthodoxen Theologie Die auf das theologisch unzureichend reflektierte reformatorische sola scriptura zurückgehende Gegensätzlichkeit von Schrift und Tradition und ihre Überwindung durch die heutige evangelische Theologie auf der einen Seite und die Anerkennung eines Schriftprinzips, wenn auch nicht im reformatorischen Sinne seitens der orthodoxen Theologie, auf der anderen Seite gehören an erster Stelle zu den Themen, über die ein gewisses Maß an Übereinstimmung erzielt wurde. Nach der Wandlung, die das Traditionsverständnis in der evangelischen Theologie erfahren hat, gilt nunmehr auch für sie, daß die Schrift und die Kirche in ihrer Existenz und Wirkung ohne das Phänomen der Tradition nicht vorstellbar sind. Wie absolut heilsnotwendig die Verkündigung des Evangeliums für die Teilnahme am Christusgeschehen ist, so unerläßlich erweist sich die Tradition in ihrer Dienstleistung für die Überlieferung des Evangeliums. Die theologische Bewertung der Tradition kann nicht ausbleiben, wenn man in Betracht zieht, daß durch sie nicht irgend etwas, sondern das Heilsmysterium für uns Gegenwartsgeschehen wird. „Die evangelische Theologie muß die Tradition anerkennen, nicht nur als etwas wesentliches in der geschichtlichen, soziologischen Struktur der Kirche, sondern auch als einen Begriff mit theologischer Relevanz, der dadurch entsteht, daß das Christusereignis in der ,Fülle der Zeit' auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten gegenwärtig w i r d . " 4 2 Es gibt keine Möglichkeit, auf die Tradition zu verzichten, auch nicht nach der Kanonisierung der Schrift, denn sie war nicht nur die Urgestalt der apostolischen Botschaft und die der Schrift geschichtlich vorausgehende Form der Mitteilung des Evangeliums, die dann von den Aposteln selbst neben ihren entstandenen Schriften gleich geschätzt und verwendet wurde, sondern sie verliert ihre Funktion als Mitteilungsmittel der Offenbarung auch nicht nach der Festlegung des Kanons. Der Grund hierfür liegt darin, daß das Evangelium uns nur durch sie erreicht

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Skydsgaard, T r a d i t i o n als Wort G o t t e s , S. 1 4 9 .

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und mittels der Tradition für uns geschieht. Die schicksalshafte Verflechtung von Tradition und Offenbarung und nach Gloege die von Gott gewollte Bindung der Offenbarung an die Tradition 43 erklären ihre Unersetzlichkeit. Von ihr hängt es ab, ob die Offenbarung zu einem lebendigen Ereignis wird, denn diese „begegnet uns niemals in abstrakter, absoluter Form, sondern nur in den Formen historischer Überlieferungen, die das Offenbarungszeugnis mitgestalten" 44 . Mit der Entstehung und der Kanonisierung der Schrift kann keineswegs begründet werden, daß die Tradition nun überflüssig sei. Ob die Tradition notwendig ist und weiterbestehen soll, darüber kann die nachapostolische Kirche nicht entscheiden, wenn außer Zweifel steht, daß sie eine Einrichtung Christi ist, an die sich auch die Apostel gehalten und von der sie Gebrauch gemacht haben. Was Christus und die Apostel eingerichtet haben, steht der nachapostolischen Kirche nicht zu, durch Hinzufügen oder Weglassen zu ändern, und dies gilt auch für die Tradition. Das Eigentliche und Wesentliche der Tradition wäre damit nicht erfaßt, wenn man sie nur als einen äußeren Vorgang des Überlieferns von Generation zu Generation betrachtet. Sie ist nicht nur Mittel, sondern, wie Nissiotis betont, auch Geschehen 45 . Die lebendige Tradition ist zu einem geläufigen Begriff auch in der evangelischen Theologie geworden und bestimmt grundsätzlich auch ihre Auffassung vom Wesen der Tradition. Diese Sicht von der Lebendigkeit und der Dynamik der Tradition ist das Ergebnis einer Gewichtsverlagerung der Tradition als von einer intellektuellen und theoretischen Entfaltung der Offenbarung auf die unmittelbare Wirkung Christi in ihr, der ihr Inhalt und Subjekt zugleich ist. In der Tradition geht es im Grunde um Christus nicht nur als den, von dem die apostolische Botschaft handelt, sondern auch als den, der aufgrund dieser Botschaft durch seine eigene Präsenz und Wirkung in der Tradition der Kirche an den Menschen gegenwärtig handelt. Dieses Traditionsverständnis wird von Skydsgaard hervorgehoben: „Indem die Kirche je und je in aktu verkündet, lehrt, Zeugnis ablegt, tauft, Abendmahl feiert, lobsingt, geschieht die Tradition. Hier ist im strengsten Sinne von einer lebendigen Tradition die Rede, nicht als Entfaltung oder Entwicklung, nicht als Wachstum oder religiöse Vitalität, sondern in dem Sinne, daß hier etwas geschieht·, nämlich dies, daß der lebendige Herr selbst tätig gegenwärtig ist." 4 6 Der pneumatische Charakter des Traditionsverständnisses findet in der evangelischen Theologie seine Entsprechung im Zusammenhang mit der 43 44 45 46

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Offenbarung und Überlieferung, S. 4 0 . Ebenda, S. 3 3 . Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 2 7 2 . Schrift und Tradition, S. 1 7 6 .

Bestimmung der Tradition als Geschehen. Wenn sich die Tradition nicht nur als eine automatische Weitergabe vollzieht, sondern als lebendige Übermittlung der einmaligen Christusgeschichte, dann bedarf es der Kraft des Hl. Geistes, in dem Christus gegenwärtig wird. So schreibt E. Schlink, daß , J e s u s Christus durch die apostolische Überlieferung nicht nur historisch in Erinnerung gerufen wird, sondern als der erhöhte Herr durch den Heiligen Geist gegenwärtig an der Kirche und durch die Kirche an der Welt handelt Die apostolische Überlieferung ist somit lebendige Überlieferung, die sich wesensgemäß in einer Mannigfaltigkeit geschichtlicher Entfaltungen vollzieht" 4 7 . Das für das orthodoxe Traditionsverständnis kennzeichnende Verhältnis zwischen Christologie und Pneumatologie, auf dem die Auffassung von der Tradition als eine lebendige Wirklichkeit beruht, wie sie im Gottesdienst der Kirche erfahren wird, findet auch bei vielen evangelischen Theologen uneingeschränkte Zustimmung. Diese Schwerpunkte der Tradition wurden auch in Montreal hervorgehoben. „So können wir sagen, daß wir als Christen durch die Tradition des Evangeliums (die Paradosis des Kerygmas) existieren, wie sie in der Schrift bezeugt und durch die Kirche kraft des Heiligen Geistes übermittelt worden ist. Tradition in diesem Sinne wird gegenwärtig in der Predigt des Wortes, in der Verwaltung der Sakramente und im Gottesdienst, in christlicher Unterweisung und in der Theologie, in der Mission und in dem Zeugnis, das die Glieder der Gemeinde durch ihr Leben für Christus ablegen. — Das, was beim Traditionsvorgang überliefert wird, ist der christliche Glaube, nicht nur als Summe von Lehrsätzen, sondern als lebendige Wirklichkeit, die durch das Wirken des Heiligen Geistes vermittelt wird." 4 8 Die unlösliche Verbindung von Hl. Geist und der Tradition, die H. von Campenhausen für das Urchristentum festgestellt hat 4 9 , wird immer mehr als ein wesentliches Moment der Tradition betrachtet 5 0 , wenn es auch nicht in allen Abhandlungen über die Tradition selbstverständlich geworden ist. Die Zurückhaltung, dem Wirken des Hl. Geistes in der Tradition voll Rechnung zu tragen, die jedoch im Begriff ist, überwunden zu werden, könnte einerseits ihre Ursache in der Erfahrung eines nicht in der Kirche integrierten und im protestantischen Raum besonders gepflegten Vertrauens auf die Beziehung des einzelnen mit dem Hl. Geist haben,

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Thesen für ein Gespräch zwischen orthodoxen und evangelischen Theologen über das Problem der Tradition, in: Tradition und Glaubensgerechtigkeit, S. 28. Bericht der Sektion II, S. 4 3 - 4 4 . Tradition und Geist im Urchristentum, Studium generale 1951. E. Kinder, Schrift und Tradition, in: Begegnung der Christen, Hrsg. M. Roesler und O. Cullmann, Stuttgart und Frankfurt 1959, S. 123; Skydsgaard, Schrift und Tradition, S. 176; Ebeling, Tradition, in: RGG, S. 9 8 2 ; Gloege, Offenbarung und Uberlieferung, S. 32.

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die sich ja bekanntlich oft desintegrierend ausgewirkt hat, so wie dies andererseits mit der Überlegung erklärt werden könnte, daß die wirkende Präsenz des Geistes als Subjekt der Tradition eine unausweichliche Verpflichtung gegenüber der nun verbindlich gewordenen Tradition mit sich brächte, eben aufgrund dessen, daß das Traditionsgeschehen von dem Pneuma getragen wird. Man würde hier in das Dilemma geraten, ihr Folge zu leisten oder sich ihr zu entziehen. Der Ausweg aus diesem Dilemma scheint bereits gefunden zu sein, indem man darauf hinweist, daß das Wirken des Hl. Geistes in der Tradition nicht als ein Gegenmittel gegen eine mögliche Pervertierung der Tradition gelten soll 51 . Daß diese Vorsicht geboten ist, dürfte nicht umstritten sein, unbeantwortet bleibt indessen die Frage, welcher Verbindlichkeitsgrad der Tradition zukommt, die sich bereits als echt erwiesen hat. Die theologische Bewertung der Tradition in der evangelischen Theologie, die eine Verringerung des Abstandes zu der orthodoxen Auffassung von der Tradition mit sich bringt, wird zu einer größeren Gemeinsamkeit ergänzt durch die Durchsetzung des Vorranges der Schrift, die Geltung des Schriftprinzips auch in der orthodoxen Theologie, das im Kontext des orthodoxen Gesamtverständnisses vom Verhältnis zwischen Schrift, Tradition und Kirche eine eigene Prägung gewinnt. Die große Bedeutung, die der Tradition in der Ostkirche beigemessen wurde, ließ, allerdings nicht ohne das Verschulden orthodoxer Theologen, den Eindruck aufkommen, daß die Hl. Schrift von der Tradition verdrängt und in ihren Schatten gestellt werde. Man vermißte eine allgemein vertretene Auffassung von der unbestreitbaren Priorität der Schrift als Norm für die Tradition. Stattdessen war man vielmehr darum bemüht, die gleiche Bedeutung und Autorität der Tradition mit der Schrift hervorzuheben. Wenn die Autorität der Schrift nicht in Frage gestellt wurde, so war es doch nicht allgemein selbstverständlich, daß die Schrift als absoluter Maßstab für die Tradition zu gelten hat. Man beschäftigte sich mehr mit der Bedeutung der Tradition für die Schrift als umgekehrt. Aus der Abwehrhaltung, in der man sich auch in der orthodoxen Theologie nach der Anfechtung der Tradition durch die Reformation befand, beharrte man unverhältnismäßig mehr darauf, den Dienst der Tradition an der Offenbarung und ihre Notwendigkeit für die Schrift herauszustellen, um ihre Position zu stärken, als ihren Standort von der Schrift her zu bestimmen. So kann gesagt werden, daß die Infragestellung der Tradition durch den mißverstandenen Sinn des reformatorischen sola scriptura die Besinnung auf die Schrift und die Entfaltung ihrer Bedeutung eher verhindert als angeregt hat. Das Anliegen der Reformation, die Schrift über alles zu stellen, und ihre Einzigartigkeit, die zur Alleinigkeit und zum Gegensatz zur Tradition wurde, führte aus einer Abwehrreaktion heraus dazu, daß die Tradition zum 51

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Vgl. Kinder, Schrift und Tradition, S. 128.

Hauptthema theologischer Überlegungen wurde. Im Leben der Ostkirche aber hatte die Schrift von jeher eine zentrale Stellung eingenommen. Nachdem dem Phänomen der Tradition auch im Protestantismus „in vielfältiger Weise Geltung verschafft" 5 2 wurde, verdichtet sich in der orthodoxen Theologie die schon vertretene Auffassung von der Erstrangigkeit der Schrift als richtungsweisender Norm für die Tradition. Obwohl der Begriff des Schriftprinzips als solcher kaum vorkommt, wird die damit gemeinte Bedeutung der Schrift hinsichtlich ihrer Stellung in der Kirche und gegenüber der Tradition auch in der orthodoxen Theologie vertreten. Dies findet darin ihren Ausdruck, daß nichts aus der Tradition angenommen und in der Kirche gepredigt werden muß, was der Schrift widerspricht oder in ihr nicht begründet werden kann. „Die Tradition kann nicht im Gegensatz zu der Schrift stehen oder ihr widersprechen." 5 3 Auf eine kurze Formel gebracht, ließe sich das Schriftprinzip durch das κατά τάς -γραφας ausdrücken. Dieser Satz besagt, daß nur jene Tradition, die der Schrift gemäß ist, sich als richtig erweist, oder, wie Nissiotis es deutet, „daß die authentische TRADITION durch die Kirchentradition nur dann richtig und widerspruchsfrei wiedergegeben wird, wenn diese die einfache Weiterführung und Darstellung von etwas, das in der Schrift erwähnt wird, ist" 5 4 . Demselben Schriftprinzip liegt der Gedanke Bulgakovs zugrunde, daß die Schrift wie eine zugleich negative und positive Kontrollinstanz für die Tradition ist, in dem Sinne, daß die echte Tradition im ersten Fall der Schrift nicht widerspricht und im zweiten, daß diese durch sie bestätigt wird, weil sie sich auf die Schrift bezieht 5 5 Die Schrift besitzt höchste Autorität, die über der der Tradition steht 5 6 . Ihr allein wird eine einzigartige und primäre, gegenüber der Tradition und der Kirche grundlegende Autorität zugesprochen 5 7 Gegenüber der Tradition hat sie „absoluten Vorrang" 5 8 und besitzt in der Kirche nach Trembelas die oberste und höchste Autorität (νψιστον κύρος ύπέρτατον κύρος της Αγιας Γραφής)59 Das theologisch zur Geltung gebrachte Schriftprinzip widerspiegelt sich in der zentralen Stellung, die die Schrift in dem gottesdienstlichen und dem Frömmigkeitsleben der Ostkirche einnimmt. Die Schrift ist nicht nur die Mitte und der Kerngehalt der Tradition, sondern stellt für diese 52 53 54 55 56 57 58 59

Ebeling, „Sola scriptura" S. 94. Boulgakoff, L'Orthodoxie, S. 26. Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 272. L'Orthodoxie, S. 26. Ebenda, S. 25. Evdokimov, L'Orthodoxie, S. 190; Florovsky, Tradition, S. 1469; Papadopoulos, a.a.O., S. 53; Trembelas, a.a.O., S. 98. Nissiotis, Die Einheit von Schrift und Tradition, S. 273. A.a.O., S. 102. Über die Anerkennung der absoluten Autorität der Schrift durch die Kirchenväter, S. 103.

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das Kriterium dar, nach dem sie geprüft wird. Solange die Tradition und die Kirche nicht das Kriterium ihrer selbst sind, sondern dieses in der Schrift haben, zeigt sich nicht nur die unlösbare Einheit von Schrift, Tradition und Kirche und ihr gegenseitiges Aufeinandergewiesensein, sondern auch, daß in dieser Zusammengehörigkeit ein Prinzip besteht als maßgeblicher Orientierungspunkt und eine zuverlässige, von der Gefahr der Veränderung ausgenommene Form der apostolischen Urtradition. Auch wenn in der Ostkirche der Tradition in der theologischen Argumentation großes Gewicht beigemessen wird, so deswegen, weil sie der Schrift nicht widerspricht, und das heißt, daß diese der letzte Maßstab für die Lehre der Kirche ist. Das theologisch zur Geltung gebrachte Schriftprinzip widerspiegelt sich in der zentralen Stellung, die die Schrift in dem gottesdienstlichen und dem Frömmigkeitsleben der Ostkirche einnimmt. Die Schrift ist nicht nur die Mitte und der Kerngehalt der Tradition, sondern stellt für diese das Kriterium dar, nach dem sie geprüft wird. Solange die Tradition und die Kirche nicht das Kriterium ihrer selbst sind, sondern dieses in der Schrift haben, zeigt sich nicht nur die unlösbare Einheit von Schrift, Tradition und Kirche und ihr gegenseitiges Aufeinandergewiesensein, sondern auch, daß in dieser Zusammengehörigkeit ein Prinzip besteht als maßgeblicher Orientierungspunkt und eine zuverlässige, von der Gefahr der Veränderung ausgenommene Form der apostolischen Urtradition. Auch wenn in der Ostkirche der Tradition in der theologischen Argumentation großes Gewicht beigemessen wird, so deswegen, weil sie der Schrift nicht widerspricht, und das heißt, daß diese der letzte Maßstab für die Lehre der Kirche ist. In der Anerkennung der Schrift als Norm für die Tradition und die Kirche kommt bereits das Schriftprinzip zur Geltung. Die Eigenschaften der Schrift, die von ihrem einmaligen Verhältnis zu der apostolischen Tradition zeugen, sprechen zugleich dafür, daß sie in einzigartiger Weise eine Garantie für die Reinheit und Unversehrtheit der apostolischen Botschaft bietet, die in ihr bewahrt wird. Nur von der Schrift wird hinsichtlich ihres gott-menschlichen Charakters eine Parallele zu dem lebendigen Wort Gottes, das in sich die göttliche und menschliche Natur in einer Person vereint, gezogen 60 , wobei man dies nur als einen Vergleich und eine Analogie und nicht im Sinne einer Identität der theandrischen Natur Christi und der Schrift betrachten soll. Die nur der Schrift eigene unmittelbare Beziehung zu der apostolischen Tradition rechtfertigt und erfordert geradezu das Schriftprinzip in der bewußten Bindung an die einmalige apostolische Botschaft als theologische Auswertung des besonderen Dienstes der Schrift an den für die 60

Boulgakoff, L'Orthodoxie, S. 26; Trembelas, a.a.O., S. 99: . φέρουσαν θεανθρώπινόν τίνα χαρακτήρα ύπβνθυμίζοντα το θβανδρικόν πρόσωπον του Κυρίου...

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Existenz und das Handeln der Kirche grundlegenden apostolischen Zeugnissen. Dem Satz K. Rahners könnte auch in der orthodoxen Theologie unter Beibehaltung der theologischen Bedeutung der Tradition, wie er es auch tut, zugestimmt werden: „Für die Theologie ist die Schrift praktisch die einzige materielle Glaubensquelle, an die sie sich als schlechthin ursprüngliche, unabgeleitete und norma non normata zu wenden h a t . " 6 1 Wie einerseits die neben der Schrift bestehende kirchliche Tradition die Besonderheit der Schrift gegenüber der apostolischen Tradition und überhaupt ihre einzigartige Stellung in der Kirche nicht beeinträchtigt, so kann andererseits die Anerkennung des Schriftprinzips, die nur als eine Schlußfolgerung ihrer besonderen Würde zu verstehen ist, keineswegs eine Absage an die Tradition bedeuten. Eine Ablehnung oder Abwertung der Tradition ist im Schriftprinzip nicht einbegriffen. Das Eigentliche eines orthodox verstandenen Schriftprinzips besteht darin, daß es außerhalb von Tradition und Kirche nicht zur Geltung kommen kann. Eine Schrift, die losgelöst von der Tradition und Kirche existiert, wäre für das orthodoxe Verständnis eine pure Abstraktion, und deshalb setzt die Anerkennung eines Schriftprimnzips diese beiden unausweichlich voraus. Nur aus der Sicht einer lebendigen Zusammengehörigkeit von Schrift, Tradition und Kirche kann von einem solchen Prinzip die Rede sein. In der orthodoxen Kirche ist es nicht möglich, von der besonderen Autorität der Schrift zu sprechen, ohne dabei die Kirche einzubeziehen. Das soll nicht heißen, daß sie ihre Autorität von dieser empfängt, sondern daß sie mit der Kirche zu eng verbunden ist. Nicht nur im Hinblick auf ihre Entstehung und Kanonisierung, sondern auch im Hinblick auf die Erfüllung des geschriebenen Wortes scheint die Schrift in die Tradition und Kirche eingebettet zu sein. Wenn die Schrift als das inspirierte Wort Gottes absolute Autorität besitzt, dann weil sie sich in der Kirche als solche erweist. Der östlichen Theologie ist es fremd, allein von der Autorität der Schrift zu sprechen ohne die Einbeziehung der Tradition und der Kirche. Es trifft zu, wenn R. Slenczka feststellt: „Weder die Schrift noch die Tradition besitzen an sich eine objektive Autorität, durch die sie sich, wie es etwa beim reformatorischen Verständnis des Wortes Gottes der Fall ist, als Quelle der Offenbarung aasweisen und erweisen. Die normative Autorität von Schrift und Tradition wird vielmehr erst durch die Verbindung mit der Kirche begründet und garantiert." 6 2 Dies wird man jedoch nicht so verstehen, daß sie eine solche Autorität nicht besäßen, aber nur in der Kirche und nicht isoliert von ihr. Daraus ergibt sich auch nicht, daß die Schrift der Kirche untergeordnet ist, sondern daß beide ein zusammen61 62

Schrift und Tradition, S. 115. Ostkirche und Ökumene, S. 2 1 1 - 2 1 2 .

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hängendes Ganzes bilden, außerhalb dessen sie nicht allein in sich betrachtet werden. Was wäre die Autorität der Tradition ohne ihre Zusammengehörigkeit mit der Schrift oder die der Kirche ohne die Schrift, und wie würde sich die Autorität der letzteren außerhalb der Kirche erweisen und wie würde man zu ihrem rechten Verständnis gelangen, ohne die Kirche der Schrift überzuordnen, in deren Raum beide aber zur Geltung kommen, und daß der Kirche der Hl. Geist versprochen und gesendet wurde, so wird dann verständlich, warum die Autorität der Schrift und der Tradition in der Wirklichkeit der Kirche deutlich wird. Doch nicht nur die Schrift und die Tradition besitzen Autorität nur innerhalb ihrer Zusammengehörigkeit mit der Kirche, sondern entsprechendes kann auch von dieser gesagt werden. Der orthodoxen Betrachtungsweise ist es fremd, die Schrift, die Tradition oder die Kirche „ a n sich", isoliert von den anderen zu sehen. Was in Wirklichkeit nicht möglich ist, nämlich die Schrift oder die Kirche voneinander zu lösen, wird durch keine theologischen Überlegungen möglich gemacht, denn die Schrift und die Kirche, wenn sie sich nicht kriterienlos zueinander verhalten, sondern zwischen ihnen eine Struktur besteht, gehören untrennbar zusammen. Wenn die Schrift und die Tradition von der Kirche umgeben sind, dann weil diese als die übergreifende Wirklichkeit gilt, in der sich erfüllt, was in der Schrift bezeugt wird. Die Heilswahrheit der Schrift wird in der Kirche konkret erfüllte und erlebte Wirklichkeit, und hier erweist sich, daß das Wort der Schrift die heilsschaffende K r a f t Gottes in sich trägt. In der Kirche macht man die Erfahrung der absoluten Autorität der Schrift, und nicht unter dem Ausschluß der Autorität der Kirche. Trembelas bejaht die Suffizienz und die Deutlichkeit der Schrift, Eigenschaften, die ihr in der protestantischen Theologie zugeschrieben werden, wenn sie nicht zu der Abschwächung oder Verwerfung der Autorität der Kirche führen 6 3 . Die neutestamentlichen Schriften haben als authentische apostolische Zeugnisse eine einmalige Autorität in der Kirche, die aber nicht gegen sie gerichtet ist. Das Wort Gottes, wie nur die Schrift im strengsten Sinne bezeichnet wird, steht über der Kirche und ist nicht ihr Produkt, aber dieses richtet sich an sie, war für sie bestimmt und entstand in ihr. Es ist mit der Wirklichkeit der Kirche so eng verbunden, j a sie ist von der Botschaft des Wortes durchdrungen, so daß es nicht möglich ist, beide voneinander zu trennen. Ihr wurde die Schrift gegeben und der Hl. Geist gesendet, damit sie die Schrift richtig aufnimmt und richtig interpretiert. In der Kirche als einem charismatischen Prinzip k o m m t das Schriftprinzip zu seiner vollen Geltung, gerade weil sie durch den Beistand des Geistes den wahren Sinn und die richtige Absicht der Schrift am besten kennt.

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A.a.O., S. 104.

Das Bekenntnis zu der Autorität der Schrift als der höchsten Norm des Glaubens und das darauf gründende Schriftprinzip werden nur dann überzeugend vertreten, wenn die glaubensmäßige Vollständigkeit der Schrift vorausgesetzt wird. Eine Sonderstellung wurde der Schrift versagt, solange man annahm, daß sie nicht alle Glaubenswahrheiten enthält. Man befand sich jedoch hierbei in einem unüberwindlichen Widerspruch, solange man die inhaltliche Unvollständigkeit der Schrift bejahte und zugleich ein Kennzeichen der echten Tradition darin sah, daß sie der Schrift nicht widersprechen darf. Ohne es zu wollen oder dessen bewußt zu sein, hielt man sie doch für die maßgebliche Quelle der Offenbarung. Die konsequente Folge und Haltung, die aus diesem auch in der orthodoxen Theologie geltenden Grundsatz der Widerspruchslosigkeit der Schrift sich ergibt, wäre, daß man sich nicht damit begnügen darf, den Grund für einige Glaubenswahrheiten nur in der Tradition zu suchen, vielmehr davon auszugehen, daß absolut nichts angenommen werden darf, das nicht auf die Schrift zurückgeht, oder von ihr nicht abgeleitet werden kann. b) Die Untrennbarkeit von Schrift und Kirche und die ekklesiologische Bedeutung der Schrift Die Zusammengehörigkeit von Schrift und Kirche, die zugunsten eines individuellen Bezuges auf die Schrift vernachlässigt wurde, wird in zunehmendem Maße auch in der evangelischen Theologie in Betracht gezogen. Das reformatorische „sola scriptura" hatte ohne weiteres nicht nur eine Auswirkung auf die Tradition, sondern auch auf die Kirche. Seinen Sinn würde man jedoch vollkommen verfehlen, wenn man es gegen die Kirche gerichtet sähe oder dahingehend interpretierte. Der Berücksichtigung der ekklesiologischen Komponente der Schrift liegt zunächst die Tatsache zugrunde, daß die Kirche der Schrift geschichtlich vorausging und daß sie in der Kirche als ihr Geschöpf entstanden ist. Diese historische Tatsache überwiegt jedoch nicht in ihrer Bewertung die dogmatische Bedeutung der Schrift, die trotz ihres späteren Erscheinens über der Kirche steht. Dies ist aber nicht der einzige und ausreichende Grund dafür, daß die Schrift von der Kirche nicht zu trennen ist. Auch in der protestantischen Theologie kommt man unweigerlich auf die Kirche zu sprechen, wenn es um die Schrift geht, sofern man in Erwägung zieht, daß die Schrift nicht durch sich selbst überliefert, und daß das Wort Gottes nicht geschrieben wurde, um so zu bleiben, sondern es verlangt und drängt danach, in die mündliche Verkündigung der Kirche einzugehen. „So kann die Beziehung von Schrift und Kirche in dem Sinne selbstverständlich nicht bestritten werden, daß die Sache der Schrift nicht etwa durch ,bloße Schrift', vielmehr eigentlich durch das mündliche Wort der Verkündigung weitergegeben wird, also auf die Kirche zielt und durch die Kirche bezeugt wird." 6 4 64

Ebeling, „Sola scriptura" . .

S. 129.

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Ohne in eine untergeordnete Stellung unter die Kirche zu gelangen, bedarf die Schrift ihrer und ist auf sie angewiesen. So ist die Schrift mit der Kirche nicht nur bei ihrer Entstehung eng verbunden, sondern sie gehören auch danach für immer zusammen. Es gibt nicht nur eine Bedeutung der Schrift für die Kirche, sondern auch eine der Kirche für die Schrift, und es dürfte schwierig sein, auch die Schrift in sich zu bestimmen, ohne die Kirche miteinzubeziehen. Die Botschaft der Schrift kommt sicherlich nicht von der Kirche, sondern von Gott, aber seitdem sie in die Geschichte eintritt, bezieht sie sich in vielfältiger Weise auf die Kirche, die selbst in der Offenbarung einbegriffen ist. Die Offenbarung ruft die Kirche ins Dasein als Ort und Mittel zur Erreichung ihres Zwecks, der Erlösung der Menschen. Ziel der Offenbarung ist nach Kinder nicht nur das Hervorrufen des Glaubens der Einzelnen und die Herstellung einer individuellen Beziehung zu Gott, sondern auch die Einführung der einzelnen in die Kirche ohne Verlust des personalen Glaubens und der personalen Beziehung zu Christus. 6 5 Die Beziehung zur Schrift findet nicht in einem unmittelbaren Zugang zu ihr, sondern durch die Kirche statt, indem man ihre Verkündigung hört und sich von dem lebendigen Wort der Schrift aus dem Munde der Kirche ansprechen läßt. „Ein von der lebendigen Verkündigung gelöster und in diesem Sinne unmittelbarer Zugang zu der Bibel ist eine Illusion." 6 6 Die Überordnung der Schrift über die Kirche sollte nicht dahingehend mißverstanden werden, daß sie von einem Ort außerhalb der Kirche diese normiert, sondern in der Kirche als ihrem eigentlichen Ort erweist sich ihre göttliche Vollmacht. ,,Die Heilige Schrift ist Kanon nicht im geschichtslosen Raum, sondern so, daß sie im Lebensraum der Kirche aufgeschlagen und verkündigt wird. Innerhalb des Gesamtlebens der Kirche will die Norm der Schrift gehandhabt werden, in ihrem Element will der Herr und Geist der Schrift erkannt werden." 6 7 Weder die Schrift noch die Kirche können, ohne selbst Schaden zu nehmen, voneinander getrennt werden. Die Kirche bietet der Schrift das ihr eigene Medium, in dem sie entfaltet und als das heilsbringende Wort erfahren wird. In der Kirche findet die Schrift die geeignete Atmosphäre und die Resonanz, in der ihre Stimme richtig gehört und verstanden wird, weil sie als Raum und Mittel der Offenbarung diese in verschiedener Weise ausdrückt. „Man kann die Bibel nicht von der Kirche trennen. In der Kirche mit ihrem Lobpreis und ihrem Bekenntnis, mit ihrer Verkündi-

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Schrift und Tradition, in: Begegnung ., S. 118. Skydsgaard, Schrift und Tradition, S. 177; Kinder, Schrift und Tradition, in: Begegnung ., S. 127. Kinder, Schrift und Tradition, in: Die Katholizität . . ., S. 49.

gung, T a u f e und Abendmahl hat sie ihren Platz. Hier soll sie verkündigt und gehört, erforscht und erwogen w e r d e n . " 6 8 Die hermeneutische Funktion der Kirche gegenüber der Schrift tritt hier deutlich hervor. Es wird erkannt, daß nirgendwo außer in der Kirche der Sinn der Schrift richtig erfaßt wird. Sie übertrifft in überwältigender Weise das Fassungsvermögen des Einzelnen, weil in ihr der Hl. Geist wohnt. „Wir können immer nur im Lebenszusammenhang mit der rechtgläubigen Kirche, die die .Werkstatt' des Hl. Geistes ist, das Heilswort Gottes recht hören. Die aufnehmende Antwort der Glaubensgemeinschaft ist für den Einzelnen ein unentbehrlicher interpretierender Faktor zum rechten Hören des Wortes Gottes und zum rechten Verständnis der Hl. S c h r i f t . " 6 9 Wenn diese Einsicht in den ekklesiologischen Bezug der Schrift auch erst im Begriff ist, sich zu verbreiten, so sind jedoch in dieser Hinsicht wesentliche Schritte gemacht worden. Die Kirche gilt als das eigentliche Element der Schrift, als der Raum, in dem das Wort recht verstanden wird. Die Bibel ist nicht irgendeine Schrift, sondern das Buch der Kirche, und deshalb gilt: „Man trifft den Skopus der Bibel nicht richtig, wenn man sie nicht in dem pneumatischen Raum der Kirche l i e s t . " 7 0 c) Die Autorität der Tradition als Norm der Auslegung Ist man in der evangelischen und der orthodoxen Kirche darüber einig, daß die Schrift und die Kirche untrennbar zusammengehören und daß das Eigentliche der Schrift nur in der Kirche richtig erfaßt wird, so wird damit ein anderes Problem angesprochen, in dem die orthodoxe und die evangelische Auffassung voneinander abweichen, nämlich, welcher Wert der Tradition als Auslegung der Schrift zugestanden wird. Nachdem die Frage der Berechtigung der Tradition und ihres theologischen Wertes einer Annäherung beider Kirchen nicht mehr im Wege steht und die Gegensätzlichkeit ihrer Auffassungen durch die Bedeutung, die die Tradition in der evangelischen Theologie erlangte, abgenommen hat, drängt sich nun in den Mittelpunkt der Überlegungen die damit zusammenhängende und implizit gestellte weitere Frage nach dem Verbindlichkeitscharakter der Tradition aufgrund des ihr zuerkannten theologischen Wertes. Es braucht nicht mehr ausgeführt zu werden, daß die Tradition auch nach der evangelischen Theologie als Auslegung der Schrift und als Mittel zur Weitergabe des Evangeliums dient, so daß dieses durch sie zum Gegenwartsgeschehen wird.

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Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes, S. 146. Kinder, Schrift und Tradition, in: Katholizität . . ., S. 52. E b e n d a , S. 4 9 .

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Besteht nun weitgehend Übereinstimmung über die Notwendigkeit und Funktion der Tradition in ihrer Dienstbezogenheit auf das Evangelium, so ist damit das Problem der Tradition nicht gänzlich als erledigt zu betrachten, auch wenn dabei nicht unbeachtet bleiben soll, daß damit die Grundlage und Voraussetzung geschaffen ist für einen gemeinsamen Ausgangspunkt in der Erörterung des vielschichtigen Traditionskomplexes. Innerhalb dieses erreichten Konsensus gehen die Meinungen auseinander, wenn es sich darum handelt, ob die Tradition Norm der Auslegung der Schrift ist und als allgemein verbindlich gilt. Damit ist die Frage nach der Unfehlbarkeit bzw. nach der Fehlbarkeit der Tradition aufgeworfen. Für die evangelische Theologie kann die Tradition oder die Kirche nicht Norm der Auslegung sein, denn damit würde neben der Schrift ein anderes Prinzip auftreten, und die Bedeutung des „sola scriptura" wäre in hermeneutischer Hinsicht eingeschränkt. Das Schriftprinzip hat für sie Relevanz auch als hermeneutisches Prinzip, als das es von G. Ebeling gedeutet wird: „Das ,sola scriptura' ist im reformatorischen Sinn nicht hinreichend verstanden als Reduktion der ,Quellen' allein auf die Hl. Schrift, also als Ausschluß zusätzlicher, ergänzender Überlieferungen neben der Hl. Schrift. Das gilt selbstverständlich auch, ist aber in seiner Bedeutung erst eigentlich erfaßt, wenn die Partícula exclusiva die hermeneutische Funktion der Tradition ausschließt, also die Suffizienz und die Selbstverständlichkeit der Hl. Schrift in hermeneutischer Hinsicht proklamiert. Als Satz formuliert meint dann das ,sola scriptura': Die Heilige Schrift ist die alleinige Quelle ihrer Auslegung." 7 1 Diese Überlegungen verlangen eine zusätzliche Erklärung. Wenn einerseits das ,sola scriptura' dahingehend interpretiert wird, daß es auch als hermeneutisches Prinzip gilt, so wird man andererseits aufgrund dessen der Tradition auch im Lichte der evangelischen Theologie eine hermeneutische Funktion schwer absprechen können. Hier sollte ein Unterschied gemacht werden zwischen dem hermeneu tischen Prinzip, das die Schrift darstellt, und dem tatsächlichen Vollzug der Auslegung, der hermeneutischen Funktion, die von der Tradition ausgeübt wird. Die Auslegung der Schrift geschieht durch die Tradition. Die Schrift legt sich sozusagen nicht automatisch aus. Deswegen kann das sola scriptura die hermeneutische Funktion der Tradition nicht ausschließen, wie es in dem obigen Satz Ebelings vorkommt. Wenn die Tradition oder die Kirche Autorität als normative Entfaltung und Auslegung der Schrift erhielten, würde nach Ebeling die Suffizienz der Schrift in Frage gestellt, die nicht nur inhaltliche, sondern auch hermeneutische Bedeutung hat. Man meint außerdem, daß das Wort der Schrift in Gefahr geriete, sein Gegenüber zur Tradition zu verlieren und 71

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Ebenda, S. 119; ders., Wort Gottes und Hermeneutik, in: Neuland in der Theologie. Hrsg. J.M. Robinson und J.B. Cobb jr., Bd. 2, Stuttgart 1965, S. 110 f.

nicht mehr absolut konstitutiv für die Kirche zu sein. Diese berechtigten Befürchtungen, die jedoch nicht eine folgerichtige Erscheinung sind und nicht unbedingt eintreffen müssen, sondern nur als Mißverständnisse und Mißbrauch der Autorität der Tradition zu verstehen sind, können infolgedessen nicht als kausal zwingende Folge des normativen Charakters der Tradition angesehen werden. Wenn die Tradition als Norm der Auslegung der Schrift gilt, bedeutet dies längst noch nicht, daß sie auch Norm der Schrift geworden ist. Indem sie unter der Norm der Schrift steht, ist sie ihrerseits gegenüber dem einzelnen Norm für das rechte Schriftverständnis 7 2 . Daraus, daß die Traditionen unter der Norm der Schrift stehen, ergibt sich, daß diese durch den Konsensus der Kirche auf Grund der Schrift geändert oder abgeschafft werden können. Mit der Nichtanerkennung der Tradition als hermeneutischem Prinzip ist nicht schon implizit negativ über die Auslegung der Schrift durch die Tradition entschieden. Die auslegende Funktion der Tradition wird dadurch nicht in Frage gestellt, sondern nur das Problem der Norm der Auslegung geregelt, die allein die Schrift sein kann. Die großen Bedenken des Protestantismus gegenüber der Tradition als Norm und gegenüber der Kirche, durch die die Schrift allein richtig verstanden wird, schließen auch die Angst vor Mißbrauch ein, als ob die Kirche und die Tradition die Souveränität der Schrift im rechten Gebrauch ihrer Normativität dadurch gefährdeten, daß sie sich zu einer selbständigen zusätzlichen Instanz neben der Schrift entwickeln würden, wie es Ebeling annimmt 7 3 . Warum die Kirche und die Tradition, wenn sie als Norm der Auslegung gelten würden, sich unbedingt und unaufhaltsam von der Schrift verselbständigen würden oder müßten und warum sie nicht als Norm der Schriftauslegung gelten sollten, wenn sie ihrerseits in der Schrift die letzte Norm haben, scheint nicht gerade einsichtig dargelegt. Ohne daß durch die Tradition eine unfehlbare Wahrheit überliefert würde, schätzt R. Prenter sie als eine willkommene Hilfe für die Auslegung der Schrift und gesteht ihr eine relative Autorität zu, ohne aus ihr ihren verpflichtenden Charakter abzuleiten 74 . Zwischen der Tradition als Norm der Auslegung der Schrift und der absoluten Norm der Schrift, die auch für die Tradition gilt, darf normalerweise keine Konkurrenz bestehen. Während die Normativität der Schrift sich auf die Tradition und die Kirche bezieht, wendet sich der Normcharakter der Tradition nicht an die Schrift, sondern an den Einzelnen, der von der Kirche und der Tradition zum richtigen Schriftverständnis geleitet wird. „Nur durch die Glaubensantworten der rechtgläubigen Kirche geleitet, werden wir das Wort recht hören und recht auf es in eigenpersönlichem und eigenverantwortlichem Glauben ant72 73 74

Vgl. E. S c h l i n k , T h e o l o g i e ., S. 5 3 f f . Ebeling, „ S o l a scriptura" ., S. 1 3 3 . Ein lutherischer Beitrag, in: D i e A u t o r i t ä t der Bibel . . ., S. 1 3 4 .

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Worten können. Von daher müssen diese Glaubensantworten dann auch an dem Kanon der recht verstandenen Schrift geprüft werden." 7 5 Auch die Selbstauslegung der Schrift verbietet nicht die Auslegung der Schrift durch die Tradition und braucht nicht im Gegensatz zur Tradition als Norm der Auslegung stehen, weil dieser hermeneutische Grundsatz nicht bedeutet, daß die Schrift auch in der Tat sich durch sich selbst interpretiert, sondern nur als „Grundanweisung zu sachgemäßer Auslegung" und als „allgemeine Auslegungsregel" und in dem Sinne zu verstehen ist, daß die Schrift aus ihrem Kontext und nicht durch die Heranziehung einer unabhängigen Instanz Klarheit über sich selbst gewinnt 7 6 . Weil die Tradition nur auf der menschlichen Seite gesehen wird, ist es nur folgerichtig, wenn die dogmatische Tradition nicht als absolut verbindlich anerkannt und ihr die Eigenschaft der Unfehlbarkeit verwehrt wird. Obwohl die Wirkung des Hl. Geistes in der Tradition als ein wichtiges Moment auch zum evangelischen Traditionsverständnis gehört und ihre theologische Bedeutung nicht mehr in Frage gestellt wird, gilt sie jedoch nicht als unfehlbare Norm des Schriftverständnisses. Die Antwort darauf, warum die Glaubenstradition nicht als unfehlbare Glaubensentscheidung gilt, wird man nicht allein aus dem Begriff der Tradition schöpfen. Das Traditionsverständnis hat ekklesiologische Implikationen. Auf die Bedeutung der „ekklesiologischen Voraussetzungen" für den ökumenischen Dialog weist R. Slenczkahin 7 7 . Nicht das Verständnis der Tradition prägt das ekklesiologische Verständnis einer Konfession, sondern umgekehrt. Wenn noch Differenzen im orthodoxen und evangelischen Traditionsverständnis bestehen, so hängen sie eng mit ihrer ekklesiologischen Auffassung zusammen, und erst, wenn noch eine Annäherung auch in diesem Bereich erreicht werden wird, wird sie sich auch auf die noch bestehenden Differenzen im Traditionsverständnis auswirken. Wie kann es eine unfehlbare dogmatische Entscheidung geben, wenn der Kirche diese Eigenschaft der Unfehlbarkeit aberkannt wird? Wenn die dogmatische Tradition als normative Auslegung der Tradition nicht unfehlbar sein kann, so steht hinter dieser Auffassung ein bestimmtes ekklesiologisches Verständnis, das hier nur insofern angedeutet werden soll, wie es das Traditionsverständnis erhellt. So liegt der Auffassung von der Tradition das Verständnis von der Gemeinschaft der Kirche mit Christus, die Art und die Folgen dieser Beziehung zugrunde. Wenn auch in der evangelischen Theologie die Gemeinschaft mit Christus, seine Präsenz und Wirkung in der Kirche als ihr Grund überhaupt betrachtet wird und die Grundlage ihrer Ekklesiologie bildet, so erhält 75 76 77

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Kinder, Schrift und Tradition, in: Die Katholizität. Ebeling, „Sola scriptura" S. 125. Ostkirche und Ökumene, S. 210 ff.

S. 51.

die theologische Auswertung der Konsequenzen, die sich für die Kirche aus ihrer Gemeinschaft mit Christus ergeben, doch eine eigene Prägung, die sich in der Bestimmung der Tradition wiedererkennen läßt. Die so enge Beziehung der Kirche mit Christus, die vor allem in den paulinischen Aussagen über die Kirche als Leib Christi Ausdruck findet, bedeutet nun für die Kirche nicht, daß sie mit Christus identisch ist. Die Einheit der menschlichen mit der göttlichen Natur in der einen Person Christi überträgt sich dadurch, daß er die Kirche zu seinem Leib macht, nicht auf seine Beziehung zu ihr. Aus ihrer Gemeinschaft mit ihm wird die Kirche nicht wie Christus. E. Schlink wendet sich gegen eine Gleichsetzung von Ekklesiologie und Christologie, nicht nur weil dadurch die trinitarische Bestimmung der Kirche übersehen wird, sondern auch weil eine solche Gleichsetzung die Mannigfaltigkeit der neutestamentlichen Aussagen nicht berücksichtigt, die für das Verständnis der Kirche in gleichem Maße zur Geltung gebracht werden müssen, so daß die Kirche nicht nur durch den Begriff des Leibes Christi definiert werden soll, sondern dafür auch die Aussagen im Ansatz gebracht werden, in denen von Christus als Herr und Richter der Kirche die Rede ist, die ja auf ein Gegenüber von Christus und Kirche hinweisen 78 . Die Einheit der Kirche mit Christus wird in der Apologie durch die biblischen Bilder von der Kirche als dem Leib und der Braut Christi dargestellt 7 9 Die zwischen Christus und der Kirche bestehende Einheit hebt nach E. Schlink ihren Unterschied jedoch nicht auf: „Die Einheit der Kirche und Christi ist nicht die Einheit der Identität, da allein Christus, nicht aber die Kirche, Haupt des Leibes ist. Aber sie ist die Einheit des Leibes Christi." 8 0 In der so gedachten Einheit von Christus und Kirche drückt sich unübersehbar die Sorge aus, daß sich die Kirche Christi bemächtigen könnte und sich an seine Stelle setzen würde oder daß zwischen der Autorität Christi und der Kirche nicht mehr unterschieden wird. Von der ekklesiologischen Auffassung der evangelischen Theologie hängt auch ihr Verständnis vom Dogma ab. Nach der reformatorischen Lehre hat die Kirche nicht die Vollmacht, unfehlbare Glaubensentscheidungen zu treffen. Auch für Luther, sagt G. Ebeling, ist die „ecclesia universalis unfehlbar, aber es gibt keine Instanz, keine Repräsentation der ecclesia universalis, die mit der Autorität der ecclesia universalis ausgestattet wäre" 8 1 . Nicht alles, was die Tradition ausmacht, ist von gleichem Wert. E. Kinder nimmt eine Differenzierung und eine Abstufung innerhalb der Tradition vor und stellt an die erste Stelle die Dogmen und die Bekenntnisse, die als „normae normatae" unter der Schrift stehen und nächst 78 Christus und die Kirche, in: Der kommende Christus 79 VII,5 (S. 235) und S. 236). 80 Christus und die Kirche, S. 92. 81 Die Geschichtlichkeit der Kirche . . ., S. 71.

S. 88 f.

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ihrer Autorität einzuordnen sind 8 2 . Auch wenn sie nicht als „absolute Kriterien und per se letztgültige Normen für das Substantielle und Zentrale in der Überlieferung" 8 3 gelten, so werden sie von ihm jedoch als verbindlich angesehen: „Bekenntnisse im spezifischen Sinne oder Dogmen sind solche Antworten aus der Glaubensgemeinschaft der Kirche, die bewußt für alle gültig und bindend gegeben sind, die ausgesprochen auf heilsnotwendige und für die Kirche lebensnotwendige Punkte der Heilsoffenbarung zielen, die Verbindlichkeit beanspruchen und die die Kirche geprägt haben und prägen." 8 4 Die Verbindlichkeit des Dogmas, die allerdings nicht allgemein und mit derselben Überzeugung vertreten wird, beruht nicht auf seiner Unfehlbarkeit; auch wenn sein bindender und verpflichtender Charakter angenommen wird, wird es niemals für eine unfehlbare Wahrheit gehalten. Ebenso ist die orthodoxe Auffassung von der Unfehlbarkeit der dogmatischen Tradition als verbindliche Norm der Auslegung der Schrift von ihrem ekklesiologischen Verständnis her zu erklären und damit in Zusammenhang zu bringen, so daß der Kirche zunächst in ihrer Gesamtheit diese Eigenschaft zuerkannt wird. Die Unfehlbarkeit der Kirche versteht sich im Sinne der Ostkirche nur aus der engen Beziehung der Kirche mit Christus und nicht außerhalb ihrer Gemeinschaft mit ihm. Dieses Attribut ist der Kirche nicht als einer selbständigen Größe zu eigen, sondern sie verdient es als Leib Christi, indem er als ihr Haupt in ihr anwesend ist und durch sie spricht. Ohne ihm und seinem Wort Gehorsam zu leisten, würde sie unfehlbare Glaubensaussagen nicht machen können. Auch würde sie sein Wort bei allen ihren Anstrengungen nicht richtig verstehen, wenn sie seine Stimme nicht in sich hörte und mit ihm nicht vereint wäre. Wenn Florovsky die Ekklesiologie als ein Kapitel der Christologie betrachtet, so will er damit darauf hinweisen, wie tief die Kirche in dem Heilswerk Christi verwurzelt und mit ihm eins geworden ist 8 5 . Um die Christologie richtig zu verstehen, muß man die Kirche einbeziehen, da Christus sich im Leib der Kirche befindet oder die Kirche als sein Leib untrennbar mit ihm zusammengehört. Hierzu gehört selbstverständlich die Frage, ob die Kirche immer gehorsam war. Die Unfehlbarkeit der Kirche macht die kritische Frage nicht überflüssig, ob die Kirchen in ihren geschichtlichen Handlungen den rechten Gehorsam geleistet haben. Ihre Zugehörigkeit zu der einen unfehlbaren Kirche macht ihre Handlungen nicht schon deswegen unfehlbar. Indem man für die Bestimmung der Kirche geltendmachen muß, daß der Leib den Anweisungen des Hauptes folgen muß und niemals zum 82 83 84 85

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Schrift und Tradition, in: Die Katholizität . Ebenda, S. 6 5 - 6 6 . Ebenda, S. 5 5 - 5 6 . Le corps du Christ vivant, S. 12.

S. 72.

Haupt werden kann, da eine solche Umwandlung nicht einmal in der Naturordnung möglich ist, so wird man andererseits in Betracht ziehen, daß die Kirche nicht ein unbeteiligtes Instrument ist, durch das Christus spricht und handelt, ohne selbst an ihm so teilzuhaben, daß seine göttliche Kraft durch sie hindurchgeht und aus ihr ausgeht, wenn sie schon mit ihm so eng verbunden ist wie der Leib mit dem Haupt. Nicht nur Christus ist in der Kirche, sondern auch sie ist in ihm. In der Kirche sind die Gläubigen nicht nur untereinander, sondern auch mit Christus vereint, so daß sie in ihm und er in ihnen lebt. Er hat sich die Kirche einverleibt, weshalb zwischen ihm und ihr eine unlösliche Einheit besteht 8 6 . Diese führt jedoch weder zu einer Verwischung des Unterschiedes zwischen Christus und der Kirche noch zu einer ekklesiologischen Absorption Christi und darf auch nicht als eine Verlängerung und Wiederholung der Menschwerdung Christi in der Kirche mißverstanden werden. Man wird das Wesen der Kirche oder die Einheit zwischen Christus und der Kirche nicht angemessen in statischen und substanzhaften ontologischen Kategorien, die dem philosophischen Denken entnommen werden, bestimmen, vielmehr wird man sie als eine pneumatische Einheit aufzufassen haben, die vom Hl. Geist mitgetragen wird. Die Einheit der Gläubigen untereinander und mit Christus in der Kirche ist eine vom Hl. Geist gewirkte und getragene charismatische Einheit. Der Geist erhält und festigt ihre Einheit mit Christus sowohl in der horizontalen als auch in der vertikalen Dimension ihrer Katholizität. Da die Sendung des Geistes in der Kirche der Erfüllung des Heilswerkes Christi dient, ist die Kirche mehr als nur ein Zusammenschluß von Menschen, die an Christus glauben, denn diese empfangen und erfahren in der Kirche die Erlösung. Die Gnade hält die Kirche am Leben und ist das Leben der Kirche, schreibt Nissiotis: „Die Gesamtheit der trinitarischen Gnade erfüllt die Kirche mit Leben Die Kirche besteht nicht nur aus Menschen, die zum Heil berufen sind, sondern verkörpert auch die Gnade und ist der Ort, an dem das Heil durch Wort und Sakrament empfangen wird. Die Kirche ist keine anthropozentrische Institution, sondern ein vom Hl. Geist beseelter, theozentrischer Organismus." 8 7 Außerhalb des Hl. Geistes wird man sich die Gemeinschaft und die Einheit der Kirche mit Christus in geeigneter Weise nicht vorstellen und nicht adäquat darstellen können. Der Hl. Geist allein kann die Kirche mit Christus so eng und unlösbar vereinen, ohne sie zugleich identisch zu machen. Seit dem Pfingstfest, das nach Florovsky als der Tag der Taufe der Kirche und ihrer mystischen Konsekration betrachtet werden 86

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Ebenda, S. 20; Vgl. J . Meyendorff, Byzantine Theologie. Historical Trends and Doctrinal Themes, New York 1974, S. 174 w o die Kirche als eine „Koinonia in God and with G o d " dargestellt wird. Die Theologie . . ., S. 76.

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könnte 8 8 , als die versammelte Gemeinde die Fülle der Geistesgaben empfing (Apg. 2 , 1 - 1 3 ) , ist die Kirche nach Nissiotis die Stätte des Hl. Geistes, „der Ort der Gegenwart des trinitarischen Gottes in der Geschichte aufgrund des Wirkens des Geistes" 8 9 Auf keine andere Weise und auf keinem anderen Weg als in und durch den Hl. Geist vollzieht sich eine so tiefe Einheit zwischen Christus und der Kirche unter Bewahrung ihrer Identität und Differenz. Wäre die Kirche nur als eine anthropologische oder soziologische Größe zu verstehen, deren sich Christus instrumental zur Erlösung der Menschheit bedient, ohne ihr seine Kraft einzuprägen, so ginge ihre Autorität nicht über das Maß des Menschlichen hinaus. Wenn sie aber im Hl. Geist mit Christus vereint ist, wodurch ja ihr Wesen bestimmt ist, obschon ihr sündige Menschen angehören, dann besitzt sie eine mehr als nur menschliche Autorität aufgrund der Gegenwart und der Wirkung des Geistes in ihr, der ihr ja versprochen wurde, um sie in alle Wahrheit zu führen. Die Folge dieser Betrachtungsweise über die Einheit der Kirche mit Christus ist in der orthodoxen Kirche die Auffassung, daß die Kirche in ihrer Gesamtheit und unter dem Anruf des Hl. Geistes, wie es auf den ökumenischen Konzilien geschah, inhaltlich unfehlbare Glaubenswahrheiten formulieren kann, sicherlich auf der Grundlage der Schrift, niemals ohne sie oder im Gegensatz zu ihren Glaubensaussagen und in der Überzeugung, daß die Kirche unter der Autorität Christi und der der authentischen apostolischen Botschaft steht. Das Verständnis des Dogmas als unfehlbare Glaubensaussage stützt sich in der Ostkirche weiterhin darauf, daß Jesus Christus nicht nur das Objekt, sondern im Hl. Geist zugleich das handelnde Subjekt der Tradition ist, der sich auf diese Weise selbst interpretiert. So könnte hier von einer Selbstauslegung Christi in der Kirche die Rede sein, in dem Sinne, daß das, was im Neuen Testament geschrieben steht, durch die Tradition unter der läuternden Wirkung des Hl. Geistes verständlich gemacht wird. Für Staniloae bedeutet die Auslegung der Schrift durch die Tradition nichts anderes als die Selbstauslegung Christi auf diese Weise, der seine eigenen Worte durch die Kirche selbst interpretiert. Dies ist nach ihm so zu verstehen, weil die Apostel das Neue Testament geschrieben und zugleich eine mündliche Tradition hinterlassen haben, so daß sie sich dadurch selbst interpretieren 9 0 . Auch nach der orthodoxen Kirche gilt die inhaltliche Vollkommenheit der Schrift. Ihre Auslegung ge88 89 90

Le corps du Christ vivant, S. 19. Die Theologie S. 76. Die Heilige Tradition ., S. 9 3 ; Evdokimov, L'Orthodoxie, S. 189; Die Vollk o m m e n h e i t der Schrift, die auch J. Meyendorff bejaht, steht nach ihm nicht in einem Gegensatz zu der Notwendigkeit der Tradition für die Schrift. Die Tradition ist das Medium, durch das die Schrift verständlich ("understandable") und durch die die Bedeutungsfülle der Schrift ("meaningful") entdeckt wird, in: Living Tradition, S. 16.

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schieht durch die Tradition und in der Kirche, die die mündliche apostolische Tradition bewahrt hat. Unter der Leitung des Hl. Geistes wird die Wahrheit der Schrift im Lichte der Entfaltung derselben Wahrheit in der Tradition von der Kirche ausgelegt. Die Norm der Auslegung der Schrift ist das unfehlbare Dogma, das von dem Konsensus der gesamten Kirche getragen wird, die unter der Führung des Hl. Geistes steht. Der Unterschied zwischen der evangelischen und der orthodoxen Theologie hinsichtlich des Wertes der dogmatischen Tradition, der sich in ihrer Unfehlbarkeit auf der einen Seite und in ihrer Fehlbarkeit auf der anderen Seite ausdrückt, geht letzten Endes auf die verschiedenen Auffassungen vom Wesen der Kirche zurück. Im Hintergrund der evangelischen und der orthodoxen Auffassung von der Tradition steht außerdem das Problem der Sünde, das ja bekanntlich in den beiden Kirchen auf verschiedene Weise gesehen wird. Während über die Verbindlichkeit der dogmatischen Tradition, die in der Ostkirche in der Unfehlbarkeit des Dogmas ihren Ausdruck findet, im Prinzip Uneinigkeit besteht, dürfte auch in dieser Frage in der Tat die Basis der Gemeinsamkeit breiter als vermutet sein oder als dies bewußt geworden ist, wenn man die Übernahme der dogmatischen Beschlüsse der alten Kirche bis zum vierten ökumenischen Konzil durch die Reformation berücksichtigt, an die sich die evangelische Kirche bis heute gebunden fühlt 9 1 . Die Anerkennung und das Bewußtwerden der Wirkung des Hl. Geistes in der Tradition stellt einen wichtigen Ansatz und eine Begründung dar sowohl für die theologische Bedeutung der Tradition als auch für einen stärker werdenden Verbindlichkeitscharakter der auf der Schrift gründenden und im Dienst der Offenbarung stehenden Glaubenstradition und läßt zugleich die Hoffnung aufkommen, daß im Vertrauen auf die Wirkung des Hl. Geistes und in ständiger Wachsamkeit gegenüber dem Einschieichen falscher Traditionen sich eine solche Haltung zum Wachsen einer intensiveren zwischenkirchlichen Einheit festigt und durchsetzt. d) Über die Bedeutung der Traditionen Die Tradition ereignet sich nicht nur als Bewahrung und Erneuerung im Sinne der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens. Zum Phänomen der Tradition gehört auch die Entfaltung der apostolischen Botschaft. Diese Funktion der Tradition läßt sich am Neuen Testament selbst verdeutlichen, in dem das eine Evangelium in verschiedenen Traditionen ent91

Zur Rezeption der altkirchlichen dogmatischen Tradition durch die Reformation siehe G. Kretschmar, Die altkirchliche Tradition in der evangelischen Kirche, in: Tradition und Glaubensgerechtigkeit, S. 21—27.

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faltet wird. Bilden die neutestamentlichen Aussagen in ihrem Glaubensgehalt eine Einheit, so ist diese nicht als Uniformität dieser Aussagen zu verstehen. Die Notwendigkeit vielfacher und verschiedener Entfaltungen des Evangeliums ist mit der Universalität des Heils gegeben, das an alle Menschen und Völker gerichtet ist. Die Verkündigung des Evangeliums in den jüdischen, griechischen und römischen Gemeinden und in den geistigen Räumen dieser Völker mußte notwendigerweise, wie auch bei allen anderen Völkern, die später die Heilsbotschaft empfingen, verschieden ausfallen und durch bestimmte Akzente gekennzeichnet werden 9 2 . Der Begriff der Tradition wird hier in zweifacher Hinsicht verwendet, wie er von der Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung in Montreal bestimmt wurde. So werden unter den Traditionen sowohl die „Verschiedenheit der Ausdrucksformen" als auch die „konfessionellen Traditionen" verstanden 9 3 . Die historisch-kritische Bibelforschung weist auf verschiedene Traditionen im Neuen Testament hin. Ihre Existenz verstieß nicht gegen die Einheit der frühen Kirche und war auch kein Grund, diese in Frage zu stellen. Sie bargen auch nicht die Gefahr in sich für die Fortdauer und das Wachstum dieser Einheit, solange sie sich nicht gegenseitig bekämpften und dazu dienten, die Heilsbotschaft zum Ausdruck zu bringen und sie zu vermitteln. Die Mannigfaltigkeit der Traditionen, die uns im Neuen Testament begegnen, sind außerdem sowohl ein Zeichen für die Lebendigkeit der apostolischen Kirche wie auch ein Beweis dafür, daß ihre Einheit eine katholische war 9 4 , und daß diese nicht abstrakt gedacht wurde, oder allein in dem organisatorisch-institutionellen Bereich verwirklicht, sondern als eine konkrete Wirklichkeit erlebt wurde, die nach E. Schlink ,,in der Mannigfaltigkeit der Zeugnisse, der Gebete, der Theologien, der Ämter und der Charismen" 9 5 ihren Ausdruck fand. Man kann wohl sagen, daß für die Erhaltung der Einheit der Kirche die Verschiedenheit der Traditionen, sofern sie sich nicht gegenseitig ausschlossen, als eine notwendige Äußerung eines lebendigen, vom Heiligen Geist beseelten Organismus der Kirche zu verstehen ist, deren Einheit in der Einstimmigkeit verschiedener Aussagen und nicht in der Einheitlichkeit der theologischen, gottesdienstlichen und der Zeugnisaussagen bestand. „Einheit in der Kirche war keine theologische, doktrinäre Gleichschaltung, sondern Einheit im Glauben. Die Interpretation der Offenbarung war bei den J u d e n nicht die gleiche wie bei den hellenistischen Christen; 92 93 94 95

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E. Schlink, Die Bedeutung der östlichen und westlichen Traditionen für die Christenheit, in: Der kommende Christus. S. 232. Bericht der Sektion II über „Schrift, Tradition und Traditionen", S. 42. E. Schlink, Die Bedeutung der östlichen und westlichen Traditionen, S. 232. Ebenda.

das Evangelium hatte in Samaria nicht den gleichen Wortlaut wie in Colossae." 9 6 Man ist auf orthodoxer und evangelischer Seite darüber einig, daß die Verschiedenheit der Traditionen, die im Neuen Testament ihren Niederschlag fanden, die Einheit der Kirche nicht aufhob und daß sie von ihrer Dynamik und von der Zeugniskraft dieser Kirche zeugt. Über die Entfaltung des Evangeliums in verschiedenen Aussagen des Neuen Testamentes hinaus fand eine weitere Entfaltung der apostolischen Botschaft in weiteren Traditionen statt, in denen die eine apostolische Tradition im Laufe der Zeit in verschiedenen kirchlichen Traditionen lebendig dargestellt und überliefert wird. Von diesem Begriff der kirchlichen Traditionen ist die Tradition der altkirchlichen dogmatischen Entscheidungen abzuheben, über die zwischen der orthodoxen und der evangelisch-lutherischen Kirche eine weitgehende Übereinstimmung besteht, da auch die letztere die dogmatischen Beschlüsse der ersten vier ökumenischen Konzilien anerkennt. Die altkirchlichen dogmatischen Entscheidungen gehören nach der Auffassung der orthodoxen Kirche nicht zu den Traditionen, die einen partikulären Charakter haben, sondern zu der Tradition 9 7 , die als maßgebliche Bezeugung und Auslegung der apostolischen Überlieferung allgemeine Gültigkeit besitzt. Eine andere Bedeutung kommt den kirchlichen Traditionen als Gegenstand ökumenischer Gespräche zu. Sie sind nicht nur ein späteres Produkt in der Geschichte der getrennten Kirchen, sondern ihre Existenz läßt sich auch in der frühen Kirche feststellen. Zahlreiche Faktoren, die mit der Anpassung des Evangeliums an die Kulturformen verschiedener Völker zusammengehören, haben zu der Entstehung und Entwicklung verschiedener Traditionen beigetragen. Obwohl die apostolische Botschaft in ihrem Anspruch und in ihrer Substanz die gleiche blieb, ergaben sich verschiedene Ausdrucks- und Interpretationsmöglichkeiten, die zur Wirksamkeit des Evangeliums in den unterschiedlichen raumzeitlich bedingten Kulturräumen verschiedener Völker beigetragen haben. Die Botschaft von der rettenden Tat Gottes am Menschen nahm nach verschiedenen Orten und Menschen verschiedene Gestalt an. Die missionarische Tätigkeit des Apostels Paulus unter verschiedenen Völkern trug der geistigen Umwelt, in der diese lebten, Rechnung. Die Verkündigung des Evangeliums vollzieht sich nicht als eine stereotype Wiederholung der apostolischen Überlieferung, sondern versteht sich als lebendiges Wort, weil es die Menschen an verschiedenen Orten und Zeiten

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Tradition und Traditionen. Bericht der Theologischen Kommission über Tradition und Traditionen an die vierte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal, Kanada 1963, Zürich 1963, S. 54. Vgl. N. Chitescu, Schrift, Tradition und Traditionen, S. 4 1 5 ; N.A. Nissiotis, Die Einheit von Schrift . . S. 272.

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anspricht. Nur so sind verschiedene liturgische Formen und Formulierungen von Glaubensbekenntnissen im Neuen Testament zu erklären, die in verschiedenen christlichen Urgemeinden vorkommen 98. Der Verschiedenheit der Traditionen im Neuen Testament entspricht von der Notwendigkeit der Entfaltung der apostolischen Botschaft her die Mannigfaltigkeit späterer kirchlicher Traditionen, die mit dem Vordringen des Evangeliums in weitere Räume und bei verschiedenen Völkern nicht nur unvermeidlich waren, sondern als eine folgerichtige Erscheinung lebendiger christlicher Gemeinden zu verstehen sind. So entstanden im östlichen und westlichen Teil der Christenheit unterschiedliche Traditionen. Die theologische Argumentation und Denkweise der östlichen Kirchenväter unterschieden sich schon sehr früh von denen der westlichen Kirchenväter. Die alexandrinische und die antiochenische theologische Schule sowie zahlreiche kultische und das Leben in der Kirche regelnde Traditionen, die sich im östlichen und westlichen Christentum unterschiedlich entwickelten, zu denen D. Staniloae weitere Beispiele aus unserer Zeit wie die Unterschiede, die etwa zwischen verschiedenen Theologien innerhalb der Ostkirche und einige eigene Traditionen der orthodoxen Kirchen hinzufügt", werden nicht als trennend empfunden, und es besteht auch nicht die Tendenz, sie voneinander abzugrenzen oder die von den eigenen abweichenden Traditionen abzuwerten. Ihre Koexistenz und gegenseitige Befruchtung hebt E. Schlink hervor: „Dabei standen östliche und westliche Traditionen einander nicht als feste Größen gegenüber, sondern sie waren beide mannigfach differenziert, und sie durchdrangen einander räumlich und sachlich und befruchteten sich. Ihre Verschiedenheiten bedeuteten einen Reichtum, von dem wir alle heute noch zehren." 100 Die Kirchen im Osten und Westen lebten etwa ein Jahrtausend in Gemeinschaft miteinander, ohne daß der Unterschied ihrer Traditionen sie voneinander trennte. N. Chitescu weist darauf hin,7 daß die Gemeinschaft zwischen » der abendländischen und der morgenländischen Christenheit nicht nur dann bestand, als es unterschiedliche Traditionen auf beiden Seiten gab, die mehr den Kult und die Organisation der Kirche betrafen, sondern sie wurde auch dann nicht zerrissen, wenn es sich um ein dogmatisches Problem wie Filioque handelte 101 . Man hat sich entfremdet und schließlich voneinander getrennt nicht primär, weil es unterschiedliche liturgische, organisatorische und theologische Traditionen gab, sondern weil Ansprüche jurisdiktioneller und kirchenpolitischer Natur erhoben wurden, die in der Beziehung zwischen Ost und West auftraten und in ihrem Verhältnis die Oberhand gewannen. Als die Beziehung aus diesen 98

Vgl. Tradition und Traditionen. Bericht ., S. 53; E. Schlink, Thesen für ein Gespräch . ., S. 29. 9 9 Einheit und V i e l f a l t . S. 3 4 3 f. 100 Die Bedeutung S. 232. 101 Schrift, Tradition und Traditionen, S. 4 1 6 .

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Gründen empfindlich gestört wurde, fing man an, die Unterschiede auch als trennend zu empfinden. Man ist in der Beurteilung unterschiedlicher kirchlicher Traditionen darüber einig, daß sie nicht der eigentliche Grund und der eigentliche Anlaß für die Trennung zwischen Ost und West waren und daß sie, sofern sie mit der apostolischen Tradition übereinstimmen, nicht als kirchentrennend, eher als gemeinschaftsfördernd zwischen verschiedenen Kirchen und als gegenseitige Bereicherung zu verstehen sind 102 . Wenn einerseits eine Parallele zwischen verschiedenen Traditionen, die im Neuen Testament enthalten sind, und den kirchlichen Traditionen späterer Zeiten gezogen werden kann, um zu argumentieren, daß, wie die erstere die Einheit der Kirche nicht gefährdeten, sondern eher zur Wirklichkeit der katholischen Einheit der Kirche gehörten, so auch die letzteren nicht als Hindernisse zur Verwirklichung der Einheit der Kirche verstanden werden sollen, so wird man andererseits deswegen ihren Unterschied nicht übersehen dürfen. Wenn die ersteren als zu der Schrift gehörenden als maßgebliche Bezeugung des Evangeliums allgemeingültige und absolute Autorität besitzen, so kommt den kirchlichen Traditionen, die eine partikuläre Bedeutung haben, nicht die gleiche Autorität zu. Ihre Bedeutung sollte nach N. Chitescu an ihrem Bezug auf die Offenbarung und an ihrer Existenz in der frühen ökumenischen Kirche gemessen werden 1 0 3 . Was ihren Stellenwert innerhalb der Christenheit betrifft, so kann man diesen in zweifacher Hinsicht beurteilen: was die mannigfachen Traditionen verschiedener Kirchen für die Gesamtheit der Christenheit bedeuten und dann, in welchem Bezug die privaten Traditionen einer Kirche zu der einen apostolischen Tradition stehen und inwieweit diese durch sie bezeugt und übermittelt wird. Was die erste Frage betrifft, so wird man davon ausgehen, daß sie als Bezeugung und Entfaltung der apostolischen Botschaft trotz ihres partikulären Geltungsbereichs zu dem Reichtum der Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeit der göttlichen Uberlieferung und der vielfachen Teilnahme an dem Heilsgeschehen beitragen. In ihrer Gesamtheit betrachtet, offenbaren sie die Gnadenfülle der Erlösung, die durch sie übermittelt wird, sowie die Vielfalt der Heilszueignung. Sie ermöglichen die Beziehung der Gläubigen mit Christus innerhalb ihres sozio-politischen und kulturellen Lebensbereichs, der durch die Entwicklung der eigenen Geschichte und ethnische Besonderheiten geprägt ist. Hierdurch wird der missionarische Charakter der Tradition offenkundig 1 0 4 . 102 E. Schlink, Die Bedeutung S. 232 f.; D. Staniloae, Einheit und Vielfalt S. 343; N. Chitescu, Schrift, Tradition und Traditionen, S. 415 ff. 103 Schrift, Tradition . S. 417. 104 Vgl. R.A. Nelson, Scripture, Tradition and Traditions. Some Reflections on the Montreal Discussion, in: EcRev Bd. 12, World Council of Churches, Geneva 1964, S. 160.

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Aber hier liegt die Chance der Traditionen und auch ihre Gefahr: einerseits bringen sie die apostolische Botschaft verschiedener Völker in einer ihnen vernehmbaren Weise nahe, andererseits besteht zugleich auch die Gefahr, daß die göttliche Überlieferung durch diese Traditionen, die mit volkstümlichen Traditionen verknüpft sind, an ihrer Aussagekraft und Integrität Einbuße erleidet, oder durch sie die Stimme des Evangeliums vernebelt wird. Darin entzündete sich der Protest der Reformation. Angesichts dieser Gefahr müßte nach D. Staniloae eine Spannung zwischen der apostolischen und den kirchlichen Traditionen immer bestehen 1 0 5 . Werden die kirchlichen Traditionen als Entfaltung und Ausdruck des Evangeliums als ein Reichtum betrachtet, so wird damit nur ein — wenn auch wichtiger Aspekt, der sie kennzeichnet, hervorgehoben, wobei man sie in der Gemeinsamkeit aller Traditionen eingefügt sieht. Betrachtet man sie aber in ihrem Verhältnis zu der apostolischen Tradition, oder genauer gesagt, in ihrer Möglichkeit und Fähigkeit, diese in ihrer Sinnfülle aufzunehmen und zu überliefern, so wird man zu der Feststellung gelangen, daß sie diese, wenn auch unter ihnen unterschiedlich, mit einer gewissen Einschränkung übermitteln. Diese erklärt sich aus ihrem partikulären Charakter, der mit einem bestimmten nationalen Charakter der jeweiligen Kirchen im engen Zusammenhang steht, der seinerseits von der geschichtlichen Entwicklung, von sozialen, politischen, kulturellen Faktoren und allem anderen, das zu den Besonderheiten einer Volksgemeinschaft gehört und ihre Individualität ausmacht, geprägt ist. Alle diese Faktoren, von denen die kirchlichen Traditionen bestimmt sind und von denen sie sich nicht befreien können — sonst würde die Kirche riskieren, ihre Verkündigung unverständlich zu gestalten —, machen deutlich, daß die Einheimischwerdung des Evangeliums den aus der Begegnung der Heilsbotschaft mit dem gesamten Komplex der Lebensäußerung und -führung eines Volkes entstandenen Traditionen in ihrer Ausdrucks- und Aufnahmefähigkeit des Heilsgeschehens sowohl Grenzen auferlegt als auch neue Perspektiven eröffnet. So können neue Aspekte der Offenbarung zum Ausdruck gebracht werden 1 0 6 und wiederum andere nicht in gleichem Maße zur Sprache kommen. So erklären sich die Traditionsunterschiede im romanischen, germanischen, afrikanischen Raum und selbst innerhalb einer homogenen kirchlichen Gemeinschaft wie der orthodoxen Kirche, wo auch z.B. zwischen rumänischen, griechischen und slawischen Traditionen verschiedene Akzentsetzungen und bestimmte Prägungen zu verzeichnen sind. Die Indienstnahme verschiedener Elemente aus den nationalen Traditionen von der Kirche ist berechtigt und hängt mit ihrer missionarischen 105 Einheit und V i e l f a l t . . ., S. 3 4 2 . 106 Ebenda.

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Tätigkeit zusammen; sie trägt zu einer wirksamen Verkündigung des Evangeliums an verschiedenen Orten und für verschiedene Menschen bei. Angesichts der Durchdringung kirchlicher mit nationalen Traditionen und ihres regionalen Charakters, aber indem man sie nicht nur als historisch bedingte Erscheinungen betrachtet, sondern auch als Mittel, durch die der Hl. Geist neue Aspekte des Glaubens entdeckt 1 0 7 , wird man ständig zu prüfen haben, ob sie mit der Schrift und mit der Tradition der ökumenischen Kirche bei aller ihrer Verschiedenheit übereinstimmen, von denen sie sich nicht isolieren und verabsolutieren dürfen. Obwohl sie einen partikulären Charakter haben und eine Bezeugung der Offenbarung darstellen, die mit dem besonderen Charakter einer Volksgemeinschaft in engem Zusammenhang steht, sollte man ihre Bedeutung nicht nur für die betreffenden Kirchen, sondern auch für die anderen Kirchen stärker berücksichtigen und in ihnen eine Möglichkeit sehen, durch die die Kirchen sich durch die Teilnahme an demselben Christusmysterium auf diese Weise miteinander in der Gemeinschaft befinden. Indem die Traditionen verschiedener Kirchen sich gegenseitig befruchten, können sie diesen die Möglichkeit einer vollständigeren Erfahrung der Glaubenswahrheit und der Teilnahme an dem Heilsgeschehen eröffnen und zu einer intensiver werdenden Einheit führen.

107 Vgl. I. Bria, „Tradition" und „Entfaltung" in der orthodoxen Theologie, in: Ortodoxia Nr. 1, 1973, S. 26 (rum.).

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