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German Pages 168 [162] Year 2023
Jürgen Manemann Rettende Umweltphilosophie
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Jürgen Manemann
Rettende Umweltphilosophie Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie
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Für den tiefgründigen Benni, den eigenwilligen Joschi & die temperamentvolle Lilly
Inhalt
Am Anfang: das Erschrecken ......................................9 I.
Engagierte Wissenschaften .................................. 15
II. Rettende Umweltphilosophie ................................ 21 II.1 Mit dem Besonderen beginnen ..................................... 22 II.2 Ehrfurcht vor dem Leben .......................................... 26 II.3 Ethische Nötigung ................................................. 34
III. Umwandlung der Wissenschaften ......................... 39 III.1 III.2 III.3 III.4
Mehr als Fachwissenschaft ........................................ 39 Vom Überschreiten der Natur in der Natur.......................... 44 Aktivität und Passivität ............................................ 49 Wissenschaft im »Zeitalter des Lebendigen« ........................ 51
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur .................. IV.1 Nature Writing .................................................... IV.2 Vom Eigenwert der Natur .......................................... IV.3 Wider den Ökofaschismus .........................................
55 55 65 73
V. V.1 V.2 V.3 V.4 V.5
Seinsethik ....................................................... 81 Schwache Ontologie ................................................ 81 Sympoiesis........................................................ 82 Sinn für Ungerechtigkeit........................................... 87 Gemeinwohlorientierung ........................................... 92 Empfindliche Vernunft ............................................. 94
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie ................. 97 VI.1 Zwischen Engagement und Desengagement ........................ 97 VI.2 Aktionsformen ....................................................100 VI.2.1 Das Dokumentationszentrum Klimaverantwortung...........100 VI.2.2 Ziviler Ungehorsam.........................................103 VI.2.3 Community Organizing......................................108 VI.2.4 Politischer Ungehorsam .....................................111 VI.3 Die Praxis praktischer Philosophie ................................. 114 VI.3.1 Lebenspraxis .............................................. 114 VI.3.2 Das Handlungs-Paradox .................................... 116 VI.3.3 Maritime Schönheit......................................... 121 VI.3.4 Minimalismus ..............................................124 VI.3.5 Widerstandsfestigkeit ......................................130 VI.3.6 Aktiv-Kontemplative Achtsamkeit ...........................132 VI.3.7 Suffizienz ................................................. 133
VII. Das Utopische .................................................137 VII.1 Das Noch-Nicht ...................................................137 VII.2 Das Kaputte .......................................................142 Das emphatische Nein zum Nichtsein .......................... 147 Dank ..................................................................149 Literatur.............................................................. 151
Am Anfang: das Erschrecken
Am Anfang steht das Erschrecken. Es lässt sich nicht abmildern, minimieren – im Gegenteil. Es wächst an. Auch wenn es mir nicht möglich ist, den Schrecken zu bannen, so ist es mir noch möglich, nicht vor ihm zu erstarren. Das Erschrecken hat viele Facetten. Es entzündet sich nicht zuletzt an unserem Vermögen, zu verdrängen, es nicht wahrhaben zu wollen, sich selbst zu betrügen. Aber diese Abwehr gelingt meist nicht wirklich. Oft finden zumindest Teile des Grauens Eingang in unser (Unter-)Bewusstsein. Und dort wirken sie weiter, subkutan. Sie lösen mit der Zeit Pathologien aus. All das ist verständlich und resultiert aus Ängsten, vor allem aus der Angst vor Verzweiflung. Einzig die Neutralisierung unserer Gefühle und Emotionen könnte uns davor bewahren. Aber der Preis wäre hoch: Wir*1 würden unsere Humanität verlieren. In der Wissenschaft im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen gibt es die Versuchung, eine solche Neutralisierung als wissenschaftliche Forderung zu behaupten und
1
Das »Wir*«, von dem ich im Folgenden häufig Gebrauch mache, ist mehr als ein Stilmittel, um Leser*innen zu adressieren. Es soll Warnung sein: Die Rede vom »Wir« steht immer in der Gefahr, Andere zu vereinnahmen oder auszuschließen. Das »Wir*« soll dazu dienen, Leser*innen für die Rede vom »Wir« kritisch zu sensibilisieren. Es hat somit auch die Funktion, die Unzulänglichkeit und das Ärgernis, die jeder Verallgemeinerung immanent sind, anzuzeigen. Es soll Fragen evozieren: Wer spricht hier, wie, warum, in welcher Situation und mit welcher Absicht von »Wir«? An dieser Stelle möchte ich des Weiteren darauf hinweisen, dass alle Übersetzungen von mir angefertigt wurden.
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Rettende Umweltphilosophie
sie mit dem Etikett der Objektivität auszuweisen. Dagegen hat der Philosoph Vittorio Hösle bereits 1990 seine Stimme erhoben: »Wenn sich keiner der großen Philosophen dem Notruf der eigenen Zeit entzogen hat – das gilt auch und zumal für diejenigen, die es in der Metaphysik, der Theorie der höchsten Prinzipien, am weitesten gebracht haben: Platon, Aristoteles, Longinos, Cusanus, Fichte –, dann ist dort, wo nicht nur das Schicksal des eigenen Volkes, sondern das Schicksal der Menschheit und eines großen Teils der belebten Natur auf dem Spiele steht, Indifferenz Verrat an der Sache der Philosophie.«2 Diese Mahnung sprach er in einem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften der damaligen UdSSR in Moskau aus. Unter dem Titel »Philosophie der ökologischen Krise« veröffentlichte er ein Jahr später seine »Moskauer Vorträge«.3 Neben den Arbeiten von Klaus Michael Meyer-Abich, Dieter Birnbacher und Günther Altner gehört Hösles Buch zu den ersten Beiträgen im deutschsprachigen Raum, die sich ausdrücklich dem Themenfeld der Umweltethik widmeten und den weiteren umweltethischen Diskurs maßgeblich mitgeprägt haben.4 Damals wandte Hösle den kategorischen Imperativ Immanuel Kants auf die ökologische Fragestellung an. Daraus folgte für ihn »der einfache, aber bestürzende Satz, daß der Lebensstandard des Westens nicht moralisch ist«, sei es doch nicht möglich, diesen auf alle Erdteile zu übertragen, da die Erde dann kollabieren würde.5 Für Hösle gab es nur eine Lösung: Das Paradigma der Wirtschaft
2
V. Hösle, Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München 2
1994, 15. Ich werde im Folgenden nicht auf die politisch-philosophischen
Perspektiven von Hösle eingehen, die m.E. gerade aus anti-schmittianischer Sicht fragwürdig sind. 3
So der Untertitel des Buches.
4
Vgl. K. Ott/J. Dierks/L. Voget-Kleschin, Einleitung, in: dies. (Hg.), Handbuch Umweltethik, Stuttgart 2016, 1–18, 4.
5
Vgl. V. Hösle, Ökologische Krise, 25.
Am Anfang: das Erschrecken
müsse dem der Ökologie weichen.6 Mit Ernst Ulrich von Weizsäcker teilte er die Überzeugung, »daß das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Umwelt sein wird. Gute Politik wird diejenige sein, die die natürlichen Grundlagen unserer Lebenswelt global sichert – nicht mehr diejenige, die das quantitative Wachstum der Wirtschaft bzw. die Befriedigung der unsinnigsten Bedürfnisse ermöglicht (…).«7 Im Jahr 2000 veranstaltete Hösle eine Vortragsreihe zum Thema »Für ein nachhaltiges Verhältnis zur Umwelt. Philosophie und Fachdisziplinen im Gespräch«. In seinem Beitrag wies er unter anderem darauf hin, dass es »auf die Dauer der eigenen Selbstachtung abträglich« sei, »sich sagen zu müssen, daß man durch das eigene Verhalten zu einem Zustand der Welt beiträgt, der elementare Grundrechte und Grundgüter gefährdet, und wenn es sich als schwierig erweist, das eigene Verhalten zu korrigieren, dann mag es naheliegen, das Problem zu verdrängen.«8 Am Ende betonte er: »Die Aufgaben, die das neue Jahrhundert zu lösen hat, um eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen, sind enorm. Es wird ein ökologisches Jahrhundert werden, oder es wird zu Katastrophen führen, die wohl all das in den Schatten stellen werden, was wir aus der menschlichen Geschichte kennen.«9 In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten wurden weitere, sehr elaborierte Umwelt- und Klimaethiken vorgelegt. Gleichzeitig spitzte sich die ökologische und klimatische Krise immer weiter zu. Die 1,5-Grad-Grenze wird überschritten werden. Zwar hat es durchaus Veränderungen in der Klimapolitik der letzten Jahre gegeben, aber diese gleichen eher einem Auf-der-Stelle-treten. Und das ist gefährlich. Neben Defätismen (»Ist es nicht eh schon egal?«, »Sollten
6
Vgl. ebd., 33.
7
Ebd., 34.
8
Ders., Dimensionen einer Krise. Das Umweltproblem im 21. Jahrhundert, in: L. Di Blasi/B. Goebel/V. Hösle (Hg.), Nachhaltigkeit in der Ökologie. Wege in eine zukunftsfähige Welt, München 2001, 9–36, 11.
9
Ebd., 35.
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Rettende Umweltphilosophie
wir* nicht besser das Leben jetzt genießen?«) breiten sich Zweckoptimismen aus: »Wer weiß, vielleicht wird ja doch noch in nicht allzu ferner Zukunft eine Technik erfunden, die uns retten wird?«. Selbst ein überkommen geglaubter technischer Größenwahn feiert fröhliche Urständ: »Warum nutzen wir* nicht Techniken des Climate Engineerings im großen Stil?« Eine solche Situation ist der Nährboden für Verdrängungen, Selbsttäuschungen, Lähmungen, »Erschöpfungsdepressionen« (A. Ehrenberg). In der Politik hat sich ein zukunftsfeindlicher Fortschrittsglaube formiert, dessen Dogmen Effizienz und Wachstum sind. Eine solche Politik ist zukunftsfeindlich, weil sie weiterhin dem Extraktivismus verhaftet bleibt – wenn auch wider Willen. Schließlich verbraucht auch eine grüne Ökonomie, die auf Wachstum setzt, endliche Ressourcen.10 Und die Umwelt- und Klimaethiker*innen? Sie sitzen in diversen Expert*innenräten: Sachverständigenräten, Klimaräten etc. Aber sie konnten bislang mit ihren handlungsleitenden Antworten nicht wirklich etwas ausrichten, zumindest nichts, was tatsächlich politische Auswirkungen gezeitigt hätte, die sich an der 1,5Grad-Grenze orientiert hätten. Zwar haben Ethiker*innen »einerseits konstruktiv an der Formulierung von Leitlinien, Regeln und Zielen von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen« mitgearbeitet, andererseits haben sie »aber auch bestehende Ziele, Deklarationen und Strategien kritisch« hinterfragt.11 Gehört wurden sie jedoch nicht. Im politischen Feld dominieren unabhängig von der parteipolitischen Bindung der Entscheidungsträger*innen ökonomische und technologische Fragestellungen, die die ethischen Perspektiven immer wieder an den Rand drängen oder allenfalls nur soweit berücksichtigen, als die Grundplausibilitäten, in denen jene gründen, nicht tangiert werden.12 10
Vgl. U. Herrmann, Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden, Köln 2022, 111–198.
11
K. Ott/J. Dierks/L. Voget-Kleschin, Einleitung, 7.
12
Diese Erkenntnis hat im angelsächsischen Sprachraum zur Entwicklung des Umweltpragmatismus geführt, der die Frage aufgeworfen hat, »wie Um-
Am Anfang: das Erschrecken
Verstärkt wird diese Situation noch durch das Prestige- und Machtgefälle zwischen den Natur-/Technikwissenschaften auf der einen und den Geistes-/Kulturwissenschaften auf der anderen Seite. Wie sollte das auch anders sein, leben wir* doch in einer spätmodernen Gesellschaft, die fortschrittsversessen ist und dabei Fortschritt mit technischem Fortschritt und ökonomischem Wachstum gleichsetzt. Aber diesem Fortschritt wohnt eine, von seinen Verfechter*innen oft verdrängte, teilweise bewusst verschwiegene Dynamik inne, die sich immer wieder ins Gegenteil verkehrt oder zu verkehren droht. Der Soziologe Ulrich Beck hat diese Mechanismen seit der Katastrophe von Tschernobyl scharfsinnig analysiert. Die industrialisierte Modernisierung ist längst gekippt. Sie hat aus Agierenden Reagierende gemacht, die, Beck zufolge, in erster Linie damit beschäftigt seien, das Schlimmste zu verhindern. So werden wir* immer wieder neu in Krisenzustände hineingetrieben.13 Das Bewusstsein dieser Zusammenhänge ist immer noch unterentwickelt, weil Technikwissenschaften gedächtnislos sind. Die bittere Erkenntnis von Hiroshima und Nagasaki, dass es Techniken gibt, denen wir* kognitiv-emotional nicht gewachsen sind, scheint vergessen.14 Diese Amnesie verändert unser Menschsein. Mit welchem Recht, so fragt der Literaturwissenschaftler Robert Harrison, bezeichnen wir* uns noch als homo sapiens sapiens, als ein Wesen, das mit zwei Weisheiten ausgestattet ist: »Die eine ist mit dem Geist oder der Intelligenz in uns verbunden, die experimentiert, erfindet, entdeckt, berechnet und im allgemeinen durch Erkenntnis und Manipulation der Außenwelt umfassenden Wandel zustande bringt. Die andere ist jene auf unse-
weltethiker, trotz ihrer theoretischen Differenzen, als Teil der Umweltbewegung mehr politischen Einfluss ausüben können« (P. P. Thapa, Art.: Umweltpragmatismus, in: Handbuch Umweltethik, 203–207, 203). 13
Vgl. U. Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt 1993, 85.
14
Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7 1988, 45.
13
14
Rettende Umweltphilosophie
rem Bewußtsein von Sterblichkeit beruhende Altersweisheit der Spezies, die den Göttern, den Gräbern der Toten, den Gesetzen und Schriften der Nationen, dem Gedächtnis der Dichter und der Archäologie der Gelehrten zur Entstehung verhalf. Von diesen beiden Arten von sapientia ist eine ›älter‹ als die andere, nicht weil sie früher entstanden ist, sondern weil sie das Frühere in Gedächtnis und Gewahrsam aufnimmt. Während der Geist der Neuerungen die Zukunft freilegt, ererbt die Weisheit die Vermächtnisse der Vergangenheit und gibt sie weiter.«15 Ohne die sapientia des Gedächtnisses sind wir* dem Zwang der Technik ausgeliefert, denn diese drängt auf Anwendung. Auch Ethik will angewandt und Moral gelebt werden. Deshalb belassen es Moralphilosoph*innen auch nicht bei metaethischen Fragestellungen über die Möglichkeiten und Grenzen moralischer Wahrnehmungen. Sie leiten aus Werten und Argumenten ethische Normen ab und bringen diese in politische und gesellschaftliche Debatten ein. Im Feld angewandter Ethik beteiligen sie sich darüber hinaus auch an Problemlösungen. Ethik ist also mitnichten ein Elfenbeinturm. Aber im politischen Feld hat sie einen schweren Stand. Auf sie wird immer wieder neu ein häufig unsichtbarer Zwang zur Praktikabilität ausgeübt, durch den sie auf eine Praxis verpflichtet wird, die sie in ihrer potenziellen praktischen Wirkung nicht nur einschränkt, sondern teilweise sogar kaltstellt. Angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe ist es an der Zeit, die Umwelt- und Klimaethiken aus diesen Fesseln zu befreien. Dafür steht das Projekt einer rettenden Umweltphilosophie.
15
R. P. Harrison, Wie alt sind wir?, in: Zukunft denken. Nach den Utopien. Sonderheft Merkur 9/10 (2001), 785–793, 791.
I. Engagierte Wissenschaften
Rettende Umweltphilosophie knüpft an die Debatte über engagierte Wissenschaften an. Unter dem Begriff »Engagierte Wissenschaften« wird heutzutage vieles subsumiert. Ganz allgemein geht es dabei zunächst darum, Wissenschaft und Öffentlichkeit in ein neues Verhältnis zu setzen. Insbesondere junge Wissenschaftler*innen beklagen die Inselsituation, in der sich ihres Erachtens Wissenschaft immer noch befindet. Zur Engagementpraxis engagierter Wissenschaft gehört nicht nur, Wissen bereitzustellen, sondern auch, Bürger*innen zu helfen, Wissenschaftsmündigkeit auszubilden. Wissenschaftskommunikation ist aus Sicht engagierter Wissenschaft deshalb auch mehr als Wissensvermittlung und die damit einhergehende Suche nach immer neuen Formaten der Kommunikation. Engagierter Wissenschaft geht es um die Etablierung eines kritischen Diskurses zwischen Wissenschaftler*innen und Bürger*innen, in dem engagierte Bürger*innen erfahren, dass auch sie zur Wissensproduktion beitragen und dass ihnen ein bedeutender epistemischer Status für die Forschung zukommt.1 Wissenschaftler*innen, die Wissenschaft außerhalb der institutionalisierten Formen des Wissenschaftsbetriebes anerkennen, sprechen deshalb von »Citizen Science«. Als solche vermag engagierte Wissenschaft auch ein besonderes Sensorium für epistemische Ungerechtigkeiten auszubilden. Die Philosophin Miranda Fricker hat diesen Begriff eingebracht, einerseits, um auf Missachtungen von Individuen und
1
Vgl. Massachusetts Institute of Technology, The Evolving Culture of Science Engagement, in: https://www.cultureofscienceengagement.net/2013conve ning/report (abgerufen am 28.02.2023).
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Rettende Umweltphilosophie
Gruppen hinzuweisen, deren Glaubwürdigkeit von vornherein in Abrede gestellt und deren Wissen einfach ignoriert wird, andererseits, um hermeneutische Ungerechtigkeiten auszuweisen, die durch einen »ungerechten Mangel an Verständlichkeit« verursacht werden.2 Engagierte Wissenschaft bedeutet aber nicht nur die Einbeziehung des Wissens zivilgesellschaftlicher Engagementpraxis in die Forschung. In ihrem emphatischen Gebrauch verlangt sie auch ein zivilgesellschaftliches Engagement von Wissenschaftler*innen. Engagierte Wissenschaft besitzt deshalb einen melioristischen Grundzug. Sie zielt darauf ab, »die Welt zu einem besseren Ort zu machen«3 – so formuliert es die Global Young Academy. Engagierte Wissenschaft schaltet sich »jenseits akademischer Diskurse in öffentliche Debatten oder politische Entscheidungsprozesse« ein.4 Dieses aktive Selbstverständnis spiegelt sich mittlerweile auch in der wissenschaftlichen Politikberatung wider. Engagierte Wissenschaftler*innen reduzieren diese nicht auf die Aufgabe, bloß auf Fragen der Politik zu antworten. Politikberatung aus Sicht engagierter Wissenschaft verlangt, sich in Entscheidungsfindungsprozesse einzubringen, unter anderem dadurch, dass im Kontext interdisziplinärer Beratungsdiskurse auch eigene Handlungsoptionen und Positionen formuliert werden, die konträr zu den politischen Vorgaben stehen.5 Dabei besitzt engagierte Wissenschaft ein Wissen von den Gefahren, die das Engagement im politischen Feld mit sich bringt. Ständig muss sie aufpassen, von der Politik nicht instrumentalisiert zu werden. Überdies hat sie darauf zu achten, dass die Bezüge auf wissenschaftliche Erkenntnisse 2
Vgl. M. Fricker, Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, München 2023, 22.
3
Global Young Academy, GYA in Brief, in: http://Globalyoungacademy.net/a
4
Die junge Akademie, Engagierte Wissenschaft, in: https://www.diejungea
bout/ (abgerufen am 28.02.2023). kademie.de/aktivitaeten/arbeitsgruppen/engagierte-wissenschaft/ (abgerufen am 28.02.2023). 5
Ein solches aktives Beraten zeigt sich etwa in der Arbeit des Sachverständigenrates für Umweltfragen.
I. Engagierte Wissenschaften
von der Politik nicht dazu benutzt werden, um öffentliche Willensbildungsprozesse abzubrechen.6 Gegen derartige Versuchungen ist u.a. immer wieder daran zu erinnern, dass es Wissenschaft nur im Plural gibt. Statt von »der Wissenschaft« im Singular wäre deshalb besser von »den Wissenschaften« zu sprechen. Der Plural verweist nicht nur auf die Pluralität der Disziplinen, sondern auch auf die Pluralität innerhalb der einzelnen Fächer.7 Auf Seiten der Wissenschaften gibt es die Gefahr der Selbstüberschätzung, mit der die Versuchung einhergeht, Demokratie durch Expertokratie zu ersetzen: »Politiker*innen schrumpfen in dieser technokratischen Vision auf bloße Vollzugsorgane eines bürokratischen Apparats zusammen, dessen Funktion es ist, naturwissenschaftlich-technologische Erkenntnisse möglichst reibungslos in gesellschaftliche Verwaltung zu überführen.«8 Wissenschaften sollten aber auch demokratiefähiger in dem Sinne werden, dass sich die Institution Wissenschaft demokratisiert: »Es gilt deshalb, die gesellschaftlichen Ungleichheiten aufzudecken, die sich (…) in der Institution Wissenschaft widerspiegeln. Nur so geraten systemische Asymmetrien, Vereinseitigungen und Exklusionen in der Wissensproduktion und -aneignung in den Blick.«9 Dazu müssen Wissenschaften ihre eigenen Verstrickungen in gesellschaftliche, politische und ökonomische Machtverhältnisse erkennen und immer wieder neu offenlegen; denn: »Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jen-
6
Vgl. M. Dreiwes/A. Honnacker/J. Manemann/J. Rüegger, Corona. Antworten auf eine kulturelle Herausforderung, Hannover 2020, 4. (https://fiph.de/ve roeffentlichungen/buecher/Corona_FIPH.pdf?m=1592484286&, abgerufen am 31.03.2023).
7
Vgl. ebd., 5.
8
Ebd., 4.
9
Ebd., 6.
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Rettende Umweltphilosophie
seits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf Humanität schon verzichtet.«10 Engagierte Wissenschaften können »die Qualität der Forschung verbessern, die Wirkung steigern, das Ansehen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit erhöhen und die Anwendbarkeit der Forschung für die Lösung von Problemen der realen Welt verbessern. Genauer gesagt ermutigt die Praxis des Engagements die Wissenschaftler*innen, akzeptablere Forschungsprotokolle zu entwickeln, für die Gemeinschaft wichtige Forschungsfragen zu definieren und zu bewerten und die Ergebnisse auf eine Weise zu kommunizieren, die bei einem breiten und vielfältigen Publikum Anklang findet.«11 Eine engagierte Wissenschaft, die sich als »transformative Wissenschaft« begreift, arbeitet sich bewusst im Horizont »reflexiver Modernisierung« (U. Beck) aus.12 Dabei versteht sie sich als aktiver Teil dieser Transformationsprozesse. Sie beinhaltet zudem »ein umfassendes institutionelles Reformprogramm für die Wissenschaft«13 . Eine transformative Wissenschaft, »die sich institutionell entgrenzt, kann damit einen Beitrag dazu leisten, dass moderne Gesellschaften lernen, mit den von ihnen produzierten ökologischen und sozialen Nebenfolgen angemessen umzugehen«14 .
10
M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt 1972, 56.
11
E. Cope/R. Angove/R. Dungan, Engagement Science: An Overview of the Landscape of Engaged Research (Jan 15, 2019), in: https://academyhealth.o rg/blog/2019-01/engagement-science-overview-landscape-engaged-resea rch (abgerufen am 28.02.2023).
12
Vgl. U. Schneidewind, Transformative Wissenschaft – Motor für gute Wissenschaft und lebendige Demokratie, in: GAIA, 24/2 (2015), 88–91, 88. Zur Kritik an diesem Ansatz: M. Dreiwes, Uneingestanden politisch? Eine rettende Kritik der Transformativen Wissenschaft, in: https://www.Philosoph ie-Indebate.de (abgerufen: 15.04.2023).
13
U. Schneidewind, Transformative Wissenschaft, 88.
14
Ebd., 90.
I. Engagierte Wissenschaften
Auch rettende Umweltphilosophie ist eine transformative Wissenschaft. Sie übernimmt eine aktive Rolle in den Transformationsprozessen, auf welche sie aber gleichzeitig permanent wissenschaftlich und machtpolitisch reflektiert.15
15
Siehe: J. Herberg/J. Staemmler/P. Nanz (Hg.), Wissenschaft im Strukturwandel. Die paradoxe Praxis engagierter Transformationsforschung, München 2021.
19
II. Rettende Umweltphilosophie
Rettende Umweltphilosophie begreift sich als engagierte, transformative Wissenschaft, geht jedoch über die bisher genannten Kennzeichen hinaus, da sie aktivierend und aktivistisch ist. Als solche erweist sie sich auch als kritisches Korrektiv bestehender Klima- und Umweltethiken. Anders als diese Ethiken steht sie nicht in einem distanzierten Verhältnis zu dem »Ensemble von gelebten Überzeugungen, Gefühlen (…) und Haltungen«1 . Sie begreift sich als Teil gelebter Moral. »Umweltphilosophie« ist ein Mantelbegriff, der Umweltethik, Umweltästhetik, Umweltpolitik, naturphilosophische Reflexionen sowie Klimaethik umfasst. »Umwelt« bezeichnet zunächst einmal all das, was uns umgibt. Gemeinhin bezeichnen wir* mit »Umwelt« unsere »natürliche Umwelt«, wohl wissend, dass es reine, wilde Natur kaum noch gibt, »allenfalls in der Tiefe, im Hochgebirge oder auf fernen Planeten«2 . Nichtsdestotrotz gibt es so etwas wie Natur, etwas, »das nicht vom Menschen gemacht wurde, sondern (weitgehend) aus sich selbst entstanden ist, neu entsteht und sich verändert (so wie Tiere, Pflanzen, Steine, Flüsse, Berge, Planeten)«3 . Hierbei mag es sich um »menschlich überformte Natur« handeln, aber dennoch ist diese Natur »nicht etwas vom Menschen Gemachtes, sondern eben
1
K. Ott/J. Dierks/L. Voget-Kleschin, Einleitung, 5.
2
A. Krebs, Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe, in: J. Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart 2005, 386–424, 389f.
3
Ebd., 389.
22
Rettende Umweltphilosophie
nur von ihm Überformtes (…).«4 Die Philosophin Angelika Krebs gibt ein Beispiel: »Den Schwarzwald haben Menschen zwar angelegt, aber nicht gemacht, die Altstadt von Freiburg haben sie gemacht. Natürlich sind die Übergänge zwischen Überformen und Machen fließend (…).«5 An anderer Stelle stellt sie fest: »Wer glaubt, dass etwas nur deswegen nicht mehr Natur sein kann, weil es von uns berührt ist, der verkennt, dass nicht jede Unterscheidung zwischen einander gegenüberstehenden Begriffen eine Dichotomie sein muss. Er wird blind für das Natürliche im Kultivierten.«6 Für den Philosophen Michael Hauskeller lässt sich heute nicht mehr eindeutig bestimmen, »wo Natur anfängt und der menschliche Bereich aufhört«7 . In der Umweltphilosophie geht es aber gegenwärtig nicht nur und nicht in erster Linie um Natur, Tiere, Pflanzen etc. als bloße Umwelt des Menschen. Von Umwelt zu sprechen heißt heute vor allem, von Umwelt als Zerstörtes, Bedrohtes, zu Rettendes zu sprechen.
II.1
Mit dem Besonderen beginnen
Umweltphilosophie, die retten will, beansprucht mehr und weniger zu sein als Fachphilosophie. Sie ist weniger, weil sie es immer mit konkreten Umwelten konkreter Lebewesen zu tun hat. Sie vermag es nicht, starke Theorien und Systeme zu entwickeln, dafür ist sie zu sehr im Konkreten verstrickt. Und so findet rettende Umweltphilosophie ihre Grundlage auch nicht vornehmlich in abstraktem Wis4
Ebd.
5
Ebd., 389f.
6
Dies., Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders, Basel 2021, 29.
7
M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten. Wege und Abwege der Ethik, Zug 1999, 35.
II. Rettende Umweltphilosophie
sen, das, wie Michael Hauskeller deutlich gemacht hat, immer Wissen des Allgemeinen ist, sondern in der Wahrnehmung des Besonderen.8 Der Ausgangspunkt der Umweltphilosophie ist Leben, und lebendig ist »nur das Besondere, nicht das Allgemeine«9 . Aufgabe rettender Umweltphilosophie ist deshalb eine »Singularisierung« (M. Hauskeller), durch die das Einzelne in den Blick tritt: »Man kann das Leben nur in seinen individuellen Manifestationen erleben: in einem einzelnen Menschen oder auch in einem Vogel oder in einer Blume. Es gibt kein Leben ›der Massen‹, es gibt kein Leben in der Abstraktion.«10 Rettende Umweltphilosophie wendet sich deshalb gegen Abstraktionen, die das Besondere nivellieren. Sie steht zum einen kritisch gegen einen reduktionistischen naturwissenschaftlich-mechanistischen Blick auf Natur; zum anderen richtet sie sich gegen Singularisierungen, die zwar in sich different, auch vielfach gebrochen sind, aber dennoch im Abstrakten verfangen bleiben, weil es ihnen nicht gelingt, anderes in seiner Individualität und Einzigartigkeit freizusetzen.11 So ist Singularisierung in der spätmodernen Gesellschaft zu einem Zwang zur »Besonderung« (A. Reckwitz) verkommen, der immer wieder neu durch »Affektintensivierungen« angestachelt wird, teils von außen stimuliert, teils vom Selbst angefeuert.12 Die daraus hervorgehenden Singularitäten sind nicht aus Anerkennungsverhältnissen geboren, sondern Produkte selbsthergestellter und »hochdynamische[r] soziale[r] Fabrikation«,13 die
8
Vgl. ebd., 122.
9
In leichter Abwandlung: Ebd.
10
E. Fromm, Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, Stuttgart 1979, 54. Triggerwarnung: Das 1964 erstmals veröffentlichte Buch enthält das N-Wort, wobei Fromms Ausführungen anti-rassistisch sind.
11
Vgl. A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, 488.
12
Vgl. ebd., 17; 20.
13
Ebd., 430.
23
24
Rettende Umweltphilosophie
gegen das Allgemeine in Stellung gebracht werden. In einer Gesellschaft derartiger Singularitäten kann das Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen nur in Opposition gedacht werden. Rettende Umweltphilosophie geht vom Besonderen aus, verweigert sich jedoch einer oberflächlichen binären Betrachtungsweise des Besonderen und Allgemeinen. Die Rede vom Besonderen avanciert zur schlechten Abstraktheit, wenn sie ihre Angewiesenheit auf das Allgemeine nicht erkennt. Das Allgemeine ist nicht nur Bedrohung des Besonderen, denn das Besondere bedarf zur Unterscheidung des Allgemeinen: »Nur in der Reichweite von begrifflicher Unterscheidung und Darstellung, nur dort also, wo etwas als ein Soundso charakterisiert werden kann, ist es möglich, auch auf die Singularität dieses Objekts zu achten – und damit: es nicht auf eine Bestimmung zu bringen, sondern bei einem Namen zu rufen. Um diesen Berg, dieses Gerät oder diesen Menschen in seiner Besonderheit anzusprechen, bedarf es der Begriffe ›Berg‹, ›Gerät‹ und ›Mensch‹.«14 Das Besondere und das Allgemeine sind deshalb, so der Philosoph Martin Seel, in ihrem Spannungsverhältnis zu thematisieren.15 Das Besondere trägt das Allgemeine in sich, und das Allgemeine vermag auch, das Besondere in seiner Dignität anzuerkennen, indem es dieses als bedeutenden Teil eines größeren Ganzen ausweist. Das Besondere besitzt somit eine individuelle Allgemeinheit. In der Beobachtung einer Biene auf einer Lavendelblüte schwingt mehr mit als die Bewunderung für genau dieses eifrige, tänzelnde, anmutende Wesen. Ich weiß, dass diese Biene unendlich mehr ist als die aktuelle Erscheinung, weil ich sie auch als allgemeine Biene sehe. In diesem Sinne wäre das Besondere im Allgemeinen aufgehoben, ohne durchgestrichen zu sein. Nichtdestotrotz sind heute die Gefahren, die mit dem Fokus auf das Allgemeine einhergehen, größer als diejenigen, die mit der Rede
14
M. Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt 2 2017, 47.
15
Vgl. ebd.
II. Rettende Umweltphilosophie
vom Besonderen verbunden sind.16 Überdies ist das Besondere das Basale, weil es das Lebendige ist. Das Allgemeine als abstraktes Wissen besitzt keine Lebendigkeit.17 Angesichts gegenwärtiger und zukünftiger Bedrohungen erinnert rettende Umweltphilosophie an die Gefahren des Allgemeinen, schützt doch abstraktes Wissen nicht davor, andere Menschen und nichtmenschliche Lebewesen zu verletzen.18 Zudem weiß sie, dass das Abstrakte Ausdruck von Entfremdung sein und/ oder solche produzieren kann. Rettende Umweltphilosophie zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund der Nähe, die sie zu Menschen, Tieren, Pflanzen und zu allem, was sie wahrnimmt, besitzt, nicht nur ein Wissen hat, sondern auch eine Erfahrung, mit der die Erkenntnis einhergeht, dass dieser Mensch, der mir begegnet, nicht bloß ein Alter Ego, sondern einzigartig ist; dass dieses Tier nicht bloß Vieh ist; dass diese Pflanze nicht bloß Gewächs ist – sondern, dass dieser Mensch, dass dieses Tier, dass diese Pflanze etwas ist, das jeweils sein bzw. ihr Leben leben will.19 Der Landethiker und Pionier der Umweltethik, Aldo Leopold, schrieb 1949 in seinem berühmten Werk »Ein Jahr im Sand County«: »Ethisch können wir nur handeln, wenn wir in Beziehung zu etwas stehen, das wir sehen, fühlen, verstehen, lieben oder worauf wir vertrauen können.«20 Hauskeller berichtet von einer älteren Dame, die in London »zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt worden sei, weil sie zu wiederholten Malen und trotz gerichtlicher Verwarnungen das Fütterungsverbot für Tauben mißachtet hatte. Als Begründung
16
Diese Einschätzung widerspricht nicht der Diagnose der »Gesellschaft der Singularitäten« (A. Reckwitz), sind die gegenwärtigen Singularitäten doch abstrakt, weil ihre Personifizierung fabriziert ist. Singularisierung heißt hier eben nicht, andere Lebewesen in ihrer Einzigartigkeit und Verletzlichkeit anzuerkennen.
17
Hauskeller spricht von »Wirklichkeit« (M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 122).
18
Vgl. ebd. Hauskeller verweist in diesem Zusammenhang auf den Piloten, der eine Bombe über einem Wohngebiet abwirft (121f.).
19
Vgl. ebd., 117.
20
A. Leopold, Ein Jahr im Sand County, Berlin 2019, 222.
25
26
Rettende Umweltphilosophie
gab sie an, daß sie dem Zwang, die Tauben zu füttern, nicht hatte widerstehen können, sobald sie ›in ihre kleinen Gesichter geblickt‹ habe.« Hauskeller interpretiert das Verhalten folgendermaßen: »(…) die Tauben wurden ihr gleichsam ganz präsent in der Art einer vollkommenen sinnlichen Erkenntnis des Taube-seins. Oder man könnte sagen: die Frau hat ihre Seele gesehen.«21
II.2 Ehrfurcht vor dem Leben Hier setzt rettende Umweltphilosophie an: bei der Expressivität der Natur, durch die ihr Innerstes aufscheint. Es ist diese Erfahrung, die die »Ehrfurcht vor dem Leben« (A. Schweitzer) gebiert. Ohne die Grundintuition der Ehrfurcht vor dem Leben gibt es keine rettende Umweltphilosophie. Der Umweltethiker Martin Gorke unterscheidet zwei Arten von Intuitionen: (1) die »Intuition, dass eine bestimmte Handlung ein moralisches Übel darstellt und (2) [die] Intuition, die in dieser Handlung kein moralisches Übel sieht«22 . Rettende Umweltphilosophie favorisiert die erste Intuition, »denn die Wahrscheinlichkeit einer Fehlinterpretation ist beim Ausbleiben einer moralischen Regung größer als beim Auftreten«.23 Die zweite Intuition kann aus »mangelndem Wissen, der unreflektierten Gewöhnung an eine gesellschaftliche Praxis und aus selektiver Wahrnehmung resultier[en]. So haben moralisch ansonsten sehr sensible Menschen über Jahrhunderte hinweg weder in der Sklaverei noch in der Ungleichbehandlung der Frau noch in grausamen Formen der Jagd irgendein moralisches Problem gesehen.«24
21 22
M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 127f. M. Gorke, Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, Stuttgart 2 2018, 88.
23
Ebd.
24
Ebd.
II. Rettende Umweltphilosophie
Rettende Umweltphilosophie, die auf der Ehrfurcht vor dem Leben gründet, kann aber mit diesen Anfragen den »Widerstreit der Intuitionen«25 nicht lösen. Sie weiß auch, dass »nicht nur etwas übersehen, sondern auch zu viel [ge]sehen«26 werden kann. Deshalb sind Überprüfungen anhand wissenschaftlicher Kriterien und empirischer Fakten unabdingbar.27 Nur so können Intuitionen als »elementare Intuitionen« (R. Spaemann) Anerkennung finden.28 Das Wort »Ehrfurcht vor dem Leben« schoss Albert Schweitzer 1915 während einer Flussfahrt zur Station N‘Gômô in den Sinn: »Monatelang lebte ich in einer stetigen inneren Aufregung dahin. Ohne jeglichen Erfolg ließ ich mein Denken in einer Konzentration (…). Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab. (…) Schon war ich erschöpft und mutlos. Wohl sah ich die Erkenntnis, um die es sich handelt, vor mir. Aber ich konnte sie nicht fassen und aussprechen. In diesem Zustande mußte ich eine längere Fahrt auf dem Fluß unternehmen. (…) Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. (…). Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben: der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden.«29 Schweitzer beschreibt den eigenen Körperzustand als müde, seine Gemütslage als verzagt, mutlos – ein geschwächtes Ich. In der Situation dieser Ich-Schwäche steht ihm plötzlich diese Maxime vor
25
Ebd., 85.
26
Ebd., 88.
27
Vgl. ebd., 87.
28
So Gorke im Anschluss an Robert Spaemann: ebd., 87.
29
A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, Hamburg 2 2020, 135–136.
27
28
Rettende Umweltphilosophie
Augen,30 gleichzeitig wusste er sie jedoch auch empirisch widerlegt, kenne doch die Natur, so Schweitzer, eine solche Ehrfurcht nicht: »Sie bringt tausendfach Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfach in der sinnlosesten Weise.«31 Aber nicht nur die Natur scheint diesen Satz durchzustreichen, auch das Leben selbst, bricht es uns doch immer wieder das Herz und damit unseren Glauben an das Leben… Nur der distanzierte Blick, der aufs Ganze zielt, vermag darin einen Sinn zu erkennen, weil er das einzelne Leid im Leben der Art aufgehoben weiß.32 Nicht so Schweitzer: Er nahm die Wucht des Leidens der einzelnen Existenz und die Sinnlosigkeit wahr. Häufig konnte er nur zusehen, »wie ein ›sinnloses‹ Geschehen vonstatten geht, denn ›sinnlos‹ ist das vernichtende Geschehen, sofern es dabei um den einzelnen Menschen geht, der sicherlich seinen individuellen Sinn nicht im Dahin-gerafft-werden durch solche ›niederen‹ Wesen wie Tuberkelbazillen erblicken kann«33 . Niemand vermöge das zu erklären, es bleibe – so Schweitzer – ein »schmerzvolles Rätsel«, »in einer Welt von Schöpfung und Zerstörung zu leben, in der Schöpferwille zugleich als Zerstörungswille und Zerstörungswille zugleich als Schöpferwille waltet«34 . Die »Selbstentzweiung«35 , die den Willen zum Leben kennzeichnet, die Unausweichlichkeit, auf Kosten anderen Lebens zu leben, das Auseinandergehen von Naturgesetz und Sittengesetz – all das sei und
30
Es erschien ihm wie eine Offenbarung, obwohl er den Begriff bereits in einer Vorlesung 1912 benutzt hatte (vgl. C. Günzler, Art.: Albert Schweitzer, in: Handbuch Umweltethik, 80–85, 80).
31
A. Schweitzer, Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme, Heidelberg 1986, 30f.
32
Vgl. H. W. Ingensiep, Natur und Leben bei Albert Schweitzer – theoretisch betrachtet, in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph, Zug 2006, 52–72, 59.
33
Ebd.
34
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, in: ders., Kulturphilosophie, München 1996, Pos. 5317.
35
Ders., Was sollen wir tun?, 31.
II. Rettende Umweltphilosophie
bleibe ein Skandalon.36 Der Negativität ist nicht zu entkommen.37 Und dennoch ist es »dasselbe Sein«38 . Es bedarf daher eines Lebensbegriffs, der dem Rechnung trägt, »der ›Leben‹ auch in seiner Negativität, Destruktivität und Vergänglichkeit erfasst«39 . Leben bedeutet auch Töten. Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway schreibt: »Wir können versuchen, uns zu distanzieren, so viel wir wollen, es gibt keine Art und Weise zu leben, ohne dass jemand, nicht etwas, differentiell stirbt.«40 Für Haraway ist dieses Eingeständnis fundamental für ein »Mit-Werden«: »[Es ist] ein Fehltritt, so zu tun, als würde man außerhalb des Tötens leben. Der gleiche Irrtum hat Freiheit nur in Abwesenheit von Arbeit und Notwendigkeit gesehen; das bedeutet, den Irrtum, die Ökologien sterblicher Wesen zu vergessen, die in und durch den wechselseitigen Gebrauch ihrer Körper leben.«41 Als lebendige Wesen sind wir* in Konflikte und Dilemmata verstrickt. Das tiefere Erfahren dieser Unausweichlichkeit des Lebens kann zu einer »verfeinerten Urteilskraft« führen, »die zu entscheiden weiß, wann die Schädigung oder Tötung von fremdem Leben notwendig ist«42 . Rettende Umweltphilosophie setzt beim Besonderen an. Sie teilt das Verdikt, das Schweitzer über die Abstraktion im Blick auf die Ethik ausspricht: »Die Abstraktion ist der Tod der Ethik, denn Ethik ist lebendige Beziehung zu lebendigem Leben.«43 Es geht rettender
36
Vgl. ebd., 33.
37
Vgl. H. W. Ingensiep, Natur und Leben bei Albert Schweitzer, 61.
38
K. M. Meyer-Abich, Albert Schweitzers indisches Denken der Natur – und was ihm christlich entgegenkommt, in: Ethik des Lebens, 73–87, 75.
39
K. Hoppe, Donna Haraway zur Einführung, Hamburg 2022, 126.
40
D. Haraway, When Species Meet, Minneapolis/London 2008, 80 (zit. n. K. Hoppe, Donna Haraway, 131).
41
Ebd., 79 (zit. n. K. Hoppe, 136).
42
C. Günzler, Art.: Albert Schweitzer, 84.
43
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5169.
29
30
Rettende Umweltphilosophie
Umweltphilosophie um »konkrete Humanität«44 . Diese steht im Widerspruch zur sterilen Abstraktheit einer Cartesianischen Philosophie, deren Ausgangspunkt das »Ich denke, also bin ich«45 ist: »Mit diesem armseligen, willkürlich gewählten Anfang kommt es unrettbar in die Bahn des Abstrakten. Es findet den Zugang zur Ethik nicht und bleibt in toter Welt- und Lebensanschauung gefangen. Wahre Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet: ›Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‹ Dies ist nicht ein ausgeklügelter Satz. Tag für Tag, Stunde für Stunde wandle ich in ihm. In jedem Augenblick der Besinnung steht er neu vor mir. Wie aus nie verdorrender Wurzel schlägt fort und fort lebendige, auf alle Tatsachen des Seins eingehende Welt- und Lebensanschauung aus ihm aus.«46 Diese Tatsache lässt sich weder abstrakt deduzieren noch normativ zwingend einfordern.47 Sie gründet in »Erschließungsereignissen«48 . Solche Ereignisse, so die Grundannahme, sind nicht spezifischen Menschen vorbehalten, sondern werden auf unterschiedliche Art und Weise von allen Menschen gemacht. Die Erinnerung an sie wird jedoch immer wieder verdrängt, ja sogar neutralisiert, um sie
44
H. Lenk, Konkrete Humanität für die Ellenbogengesellschaft. Albert Schweitzers Hoffnung auf das Denken, in: Ethik des Lebens, 147–172, 159.
45
An dieser Stelle sei auf den Unterschied zwischen Descartes und dem Cartesianismus hingewiesen. Bei Descartes findet sich nicht nur die Formel »Ich denke, also bin ich.«, sondern auch die Formel »Ich bin, ich existiere, das ist gewiß.« Auch kann das »cogito« kognitive, voluntative und affektive Akte umfassen: vgl. J. Goldstein, Kontingenz und Rationalität bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus, Hamburg, 2007, 237f.
46
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5259.
47
Vgl. W. Theobald, Gibt es einen rationalen Kern der Lebensphilosophie Albert Schweitzers?, in: Ethik des Lebens, 173–188, 177.
48
Ebd.
II. Rettende Umweltphilosophie
vergessen zu machen.49 Schweitzer berichtet von einem solchen Ereignis aus Kindheitstagen: »Der Nachbarsknabe und ich hatten uns Schleudern verfertigt. Da sagte er am Sonntagmorgen, es war am Ende der Passionszeit, zu mir: ›Komm, wir gehen vor der Kirche hinters Dorf in die Gärten, und dort holen wir mit unseren Schleudern die Spatzen von den Bäumen!‹ Der Gedanke war mir unheimlich. Er paßte nicht zum Sonntag, nicht zum Frühling, und ich fürchtete mich zum voraus, die von uns getöteten Vögel zu sehen, – aber ich wagte nicht, mich lächerlich zu machen. Vor einem kahlen Baume, auf dem viele Vögel zwitscherten, hielten wir vorsichtig und legten mit wichtiger Miene die Schleuder an – da, mit einem Male tönte es mild vom Turm in den stillen Frühling hinein. Ein furchtbares Weh kam über mich, als riefen uns Stimmen zu, die große Sünde nicht zu tun: ich stürzte nach Hause und wußte – ich ging, glaube ich, im ersten Jahr in die Schule –, daß ich etwas für mein ganzes Leben Entscheidendes erlebt hatte. Vor der Erinnerung an jene Glocken habe ich mehr Angst als vor dem Lächerlichwerden, wenn ich seither wage, mich nicht mehr vor andern zu fürchten, wenn ich Überzeugungen vertrete, die nach den jetzt geltenden Begriffen überspannt erscheinen – obwohl es nur selbstverständliche Wahrheiten sind.«50 Moral ist also nicht etwas, das Menschen gelehrt wird.51 Menschen erleben Moral, indem sie von ihr ergriffen werden.52 Und daran gilt es, sich permanent zu erinnern. Dabei war sich Schweitzer aber der, wie er es nannte, »tiefe[n] Lebensbejahung der Resignation« bewusst: 49
Vgl. dazu: M. Hauskeller, Verantwortung für das Leben? Schweitzers Dilemma, in: Ethik des Lebens, 210–236, 213.
50
A. Schweitzer, Was sollen wir tun?, 51.
51
Vgl. M. Hauskeller, Verantwortung für das Leben?, 217.
52
Dieses Ergriffenwerden hat Hans Joas im Blick auf die Werte herausgearbeitet: H. Joas, Wie entstehen Werte? Wertebildung und Wertevermittlung in pluralistischen Gesellschaften, in: tvimpuls 15.09.2006, in: https://ams-forschungsnetzwerk.at/downloadpub/2006_Vortrag_Joas_ authorisiert_06101x.pdf (abgerufen am 28.02.2023).
31
32
Rettende Umweltphilosophie
»Ethik ist Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir und außer mir. Aus der Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir kommt zuerst die tiefe Lebensbejahung der Resignation. Ich erfasse meinen Willen zum Leben nicht nur als etwas, das sich in glücklichen Ereignissen auslebt, sondern zugleich als etwas, das sich selber erlebt. Lasse ich mir dieses Selbsterleben nicht in Gedankenlosigkeit entschwinden, sondern verharre ich darin, es als wertvoll zu empfinden, so geht mir das Geheimnis der geistigen Selbstbehauptung auf. Ungeahnte Freiheit von den Schicksalen des Lebens wird mir zuteil. In Augenblicken, wo ich gemeint hätte, zerschmettert zu sein, fühle ich mich gehoben in dem unaussprechlichen, zu meiner eigenen Überraschung erfahrenen Glück des Freiseins von der Welt, und erlebe darin eine Läuterung meiner Lebensanschauung. Resignation ist die Halle, durch die wir in die Ethik eintreten. Nur der, der in vertiefter Hingebung an den eigenen Willen zum Leben innerliche Freiheit von den Ereignissen erfährt, ist fähig, sich in tiefer und stetiger Weise anderm Leben hinzugeben.«53 Zwar spricht Schweitzer in diesem Zusammenhang von »Resignation«, es geht ihm dabei aber »keineswegs [um] ein tatenloses Kapitulieren vor der amoralischen Natur, sondern im Gegenteil [um] eine innerliche Freiheit von den Ereignissen, die nie der Illusion verfällt, die Natur ethisch regulieren zu können, aber doch den Mut freisetzt, aus innerer Motivation heraus sittlich zu handeln, soweit das Können dies zulässt«.54 »Ehrfurcht vor dem Leben« – das mag zunächst einmal sehr allgemein klingen. Es handelt sich hier jedoch um eine Grundhaltung, die einer Erfahrung mit Lebendigem entspringt, in der gleichursprünglich Äußeres und Inneres derart zusammenschießen, dass die Kluft
53
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, in: Kulturphilosophie, München 2007, Pos. 5335–5343.
54
C. Günzler, Art.: Albert Schweitzer, 83.
II. Rettende Umweltphilosophie
zwischen Sein und Sollen geschlossen wird.55 Bekanntlich war es der Philosoph Hans Jonas, der »die Lebensbejahung direkt an organischen Vollzügen« ablas.56 Er presste den im Sein enthaltenen Imperativ in die ohne Interpunktion geschriebene Sentenz: »Sieh hin und du weißt.«57 Dieser Anblick enthält ein »unwidersprechliches«, aber nicht »unwiderstehliches« Soll.58 Die Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben ist, einmal erworben, eine permanente Provokation59 – auch und vor allem für die Philosophie. Wer davon ausgeht, läuft nämlich aus Sicht vieler Philosoph*innen Gefahr, sich des naturalistischen Fehlschlusses schuldig zu machen, das heißt: vom Sein, vom Ist-Zustand, auf ein Sollen, einen Soll-Zustand, zu schließen. Der naturalistische Fehlschluss sollte jedoch nicht als Dogma der Philosophie betrachtet werden, sondern, wie es der Biologe und Philosoph Andreas Weber formuliert hat, als »Warnung vor dem Fehlschluss«, »skandalöse Zustände durch den Hinweis reinzuwaschen, dass diese schon immer so gewesen, gottgegeben seien – wie etwa die Sklavenhaltung in der Antike oder die Unterdrückung der Frau. Das Verdikt vom Naturalistischen Fehlschluss ermächtigt Menschen, selbst zu denken und das, was gut ist, in der Gemeinschaft mit anderen Denkenden auszuhandeln. Aber es weist der Natur – dem, was wird, ohne dass wir ihm den Weg vorschreiben – einen Stellenwert am Rand zu, der ihrer tragenden Rolle nicht gerecht wird. Denn es ignoriert, dass wir einen Körper haben, der unseren 55
Claus Günzler behauptet, dass sich, wie das Zusammenspiel zwischen dem Äußeren und dem Inneren zeige, ethische Normen »für Schweitzer nicht aus der Natur ableiten lassen« (ebd., 81). Diese Interpretation trifft auf die genannte Textstelle zu. Die Fluchtlinie der Gedanken Schweitzers führt jedoch m. E. zur Position von Hans Jonas.
56
T. Potthast/K. Ott, Art.: Naturalistischer Fehlschluss, in: Handbuch Umweltethik, 55–60, 59.
57
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1984, 235; vgl. M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 131.
58
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 235.
59
Vgl. A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 1761–1769.
33
34
Rettende Umweltphilosophie
Bedürfnissen einen Rahmen gibt und jedem von uns ein eigenes Wesen verleiht.«60 Weber zieht auf der Basis dieser Reflexionen folgende Konsequenz: »Sobald der Akteur nicht mehr vollständig vom Stoff getrennt ist, sobald der Handelnde in der Tiefe handelnder Stoff ist, wird das, was Philosophen als Fehlschluss belächeln, im Gegenteil geradezu eine Notwendigkeit. Dann ist Sein immer zugleich auch ein Sollen.«61 Und er schließt: »Das Dogma vom Naturalistischen Fehlschluss ist der letzte Versuch, die Welt als einen Ort der reinen, rationalen Geister zu gestalten. Doch jeder Körper ist Sein und Sollen zugleich.«62 Die Provokation, die aus der Ehrfurcht vor dem Leben resultiert, führt zur »ethischen Vertiefung der Einzelnen« und zum »ethischen Fortschritt der Menschheit«.63
II.3 Ethische Nötigung »Ehrfurcht vor dem Leben« bezeichnet eine »Grundhaltung«64 , deren Prinzip lautet: »Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.«65 Michael Hauskeller bringt es klar und deutlich auf den Punkt: »Die erste Pflicht, die wir alle haben, ist uns immer wieder neu zu fragen, ob es wirklich nötig ist, so zu handeln; ob es nicht vielleicht
60
A. Weber, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Klein Jasedow 3 2019, 221.
61
Ebd.
62
Ebd.
63
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 1769.
64
Vgl. B. Sitter-Liver, »Ehrfurcht vor dem Leben« heißt sich auf die Welt im Ganzen zu beziehen, in: Ethik des Lebens, 237–258, 237.
65
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5267.
II. Rettende Umweltphilosophie
Alternativen gibt, die weniger Leid, weniger Schaden am Lebendigen verursachen. (…) Worauf es ankommt, ist das ständige ›Ringen um Humanität‹, darum, zu jeder Zeit soviel Menschlichkeit zu wahren wie nur möglich.«66 Die Ergriffenheit durch die Ehrfurcht vor dem Leben lässt uns erkennen, dass Leben das »ist, was wir alle teilen. Leben ist auch, was wir alle fühlen«67 . Und Leben ist mehr als Überleben: »Leben will weiterleben, will mehr vom Leben, will sich ausdehnen, schwellen und blühen, will sich fortpflanzen und wiedererstehen in tausendfacher Weise. Leben will Subjekt sein in emphatischer Form. Das ist seine eine Seite: das Verlangen nach Autonomie.«68 Wenn in diesem Zusammenhang von »Natur als Subjekt« gesprochen wird, so geht es darum, »dass bewusstseinslose Naturwesen genauso wie die bewusstseinsbegabten nicht nur als Objekte für Andere gesehen werden sollten, sondern als Wesen, die eine eigene, vom Betrachter und seinen Interessen unabhängige Wirklichkeit haben. Achtung vor der Natur als Subjekt heißt Achtung vor dieser Eigenständigkeit natürlicher Entitäten und ihrer Fähigkeit, sich autonom zu entfalten.«69 Tiere können auch insofern als moralische Subjekte betrachtet werden, als sie es vermögen, andere zu respektieren, ohne dazu genötigt zu werden.70 Überdies gibt es in der Natur auch die Fähigkeit zu autonomer Kollektivität:
66
M. Hauskeller, Verantwortung für alles Leben?, 227.
67
A. Weber, Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän, Berlin 2016, 34.
68
Ders., Alles fühlt, 223.
69
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 110.
70
Anders sieht es: C. S. Widdau, Einführung in die Umweltethik, Ditzingen 2021, 22.
35
36
Rettende Umweltphilosophie
»Wenn ein Baum Früchte trägt, dann tragen sie alle Früchte – es gibt keine Einzelgänger. Nicht ein Baum in der Gruppe, sondern die ganze Gruppe; nicht eine Gruppe im Wald, sondern alle Gruppen; alle im Umkreis und alle in der Region. Die Bäume handeln nicht als Individuen, sondern gewissermaßen als Kollektiv. Wie genau sie das anstellen, wissen wir noch nicht.«71 Die semantische Uneindeutigkeit des Begriffs »Ehrfurcht« ist keine Schwäche,72 sondern eine Stärke. Seine Mannigfaltigkeit steht für die vielfältigen Lebenssituationen, in denen der Begriff auftaucht. Sie bezeugt seine Basalität. Die Ehrfurcht vor dem Leben ist »tatsächlich denknotwendig, nämlich für das Denken notwendig – aber nicht etwas, was wir notwendigerweise denken müssen«73 . Die Philosophin Simone Weil spricht von der »Vereinigung des sinnlichen Eindrucks mit dem Gefühl der Notwendigkeit«,74 das im Sinne der Not-Wendigkeit als ethische Nötigung gedeutet werden kann.75 Die Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben entspringt einer Moralität, die nötigt. Dazu führt Schweitzer aus: »Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, daß er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet,
71
R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen, Berlin 2021, 25f.
72 73
Vgl. C. Günzler, Art.: Albert Schweitzer, 80. C. Illies, Ehrfurcht statt Begründung? Albert Schweitzers Versuch einer Grundlegung der Ethik, in: Ethik des Lebens, 189–209, 206.
74
S. Weil, Schwerkraft und Gnade, Berlin 2021, 160.
75
So die Theologin Katrin König im Anschluss an ihren Vortrag »Verborgene Gegenwart. Simone Weils existenzphilosophische Deutung der in Abwesenheit anwesenden Gottesliebe« auf dem Kolloqium Junge Religionsphilosophie am 25.02.2023 in Berlin.
II. Rettende Umweltphilosophie
hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als daß er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht. Geht er nach dem Regen auf der Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf verirrt hat, so bedenkt er, daß er in der Sonne vertrocknen muß, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann, und befördert ihn von dem Tod bringenden Steinigen hinunter ins Gras. Kommt er an einem Insekt vorbei, das in einen Tümpel gefallen ist, so nimmt er sich die Zeit, ihm ein Blatt oder einen Halm zur Rettung hinzuhalten. Er fürchtet sich nicht, als sentimental belächelt zu werden. Es ist das Schicksal jeder Wahrheit, vor ihrer Anerkennung ein Gegenstand des Lächelns zu sein. (…) Heute gilt es als übertrieben, die stete Rücksichtnahme auf alles Lebendige bis zu seinen niedersten Erscheinungen herab als Forderung einer vernunftgemäßen Ethik auszugeben. Es kommt aber die Zeit, wo man staunen wird, daß die Menschheit so lange brauchte, um gedankenlose Schädigung von Leben als mit Ethik unvereinbar einzusehen. Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.«76 Die ethische Nötigung wird gegenwärtig durch das Erschrecken radikalisiert: Das sechste Massenaussterben hat begonnen. Dieses Erschrecken ist der Anfang rettender Umweltphilosophie. Jeden Tag sterben bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Wie soll ich das vergegenwärtigen? Allein die Dimensionen überfordern mein Fassungsvermögen. Gleichzeitig weiß ich nicht einmal, was ich da für einen Verlust beklagen soll, weil ich diese vielen Tiere und Pflanzen gar nicht kenne. Dennoch muss ich versuchen, zu verstehen, was um mich herum gerade geschieht. Ich muss versuchen, das Nichtfassbare imaginativ zu repräsentieren. Das geht nicht ohne eine Empfindlichkeit für das, was mich umgibt, nicht ohne sinnliche Wahrnehmung. Vor meinem Fenster, auf meinem Balkon, in meinem Garten sehe ich, dass es weniger Insekten und Vögel gibt. Ich spüre die trockene Erde. Wer das nicht spürt, vermag die Katastrophe, in der wir* leben, nicht zu erkennen.
76
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5266–5279.
37
III. Umwandlung der Wissenschaften
III.1 Mehr als Fachwissenschaft Auch wenn rettende Umweltphilosophie den distanzierten Blick der Wissenschaft kritisiert, oft auch scharf kritisiert, so bedeutet das mitnichten, dass sie die Objektivität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse anzweifelt. Es geht ihr nicht um »die Zerstörung der Wissenschaft und damit letztlich auch der Vernunft, sondern [um] ihre Umwandlung«1 . Ebenso wenig steht rettende Umweltphilosophie für eine regressive Technikfeindlichkeit. Gegenüber der unreflektierten Technikeuphorie einer instrumentellen Vernunft fordert sie, »daß die Frage ›Ist das machbar?‹ begleitet wird durch die Frage ›Ist es sinnvoll, dies zu machen?‹«.2 Es geht also keineswegs darum, die »eindrucksvollen Erfolge« der Natur- und Technikwissenschaften zu leugnen, die sie ihrer »zergliedernden (analytischen) Herangehensweise zu verdanken hat, die alle Naturwesen, seien sie unbelebt oder belebt, auf das Objektivierbare, Messbare, Reproduzierbare und Formalisierbare reduziert«.3 Die Kritik richtet sich nicht pauschal gegen das damit einhergehende Verständnis von Werturteilsfreiheit. Rettende Umweltphilosophie ist ein kritisches Korrektiv gegen die Versuchungen, den methodischen Reduktionismus, der mit dem distanzierten Blick einhergeht, zu überspannen, ihn als einen ontologischen auszugeben.4 Tiere
1
V. Hösle, Ökologische Krise, 69.
2
Ebd.
3
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 92.
4
Vgl. ebd.
40
Rettende Umweltphilosophie
wären dann »nichts anderes als komplizierte Maschinen«, andere Wirklichkeiten würden so schlichtweg ausgeblendet.5 Rettende Umweltphilosophie erinnert daran, dass der distanzierte wissenschaftliche Blick immer auch mit Kaltstellungen einhergeht, etwa dann, wenn er das einzelne Leid im Leben der Art aufhebt.6 Jeder fachwissenschaftliche Blick erlaubt die Wahrnehmung von Teilwirklichkeiten. Wissenschaften können sich damit aber nicht begnügen. Es drängt sie darüber hinaus. Naturwissenschaftler*innen, die nur Techniker*innen sind, »haben sich keine wissenschaftliche Einstellung angeeignet«7 . Zu Recht stellt sich die Frage, ob solche Normalwissenschaftler*innen überhaupt Wissenschaftler*innen seien.8 Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat bereits vor vielen Jahren die Befürchtung ausgesprochen, dass »die Naturwissenschaft ein neues Objekt für den Narzißmus erzeugt« habe: »die Technik. Der narzißtische Stolz des Menschen, Schöpfer einer Welt von Dingen zu sein, von denen er sich früher nicht hätte träumen lassen, Erfinder von Rundfunk, Fernsehen, Atomkraft, Raumfahrt, ja sogar der potentielle Zerstörer des ganzen Erdballs zu sein, hat ihm ein neues Objekt für seine narzißtische Selbstaufklärung beschert.«9 Um die aus einer instrumentellen Vernunft sich speisende narzisstische Selbstaufklärung zu durchbrechen, ist es wichtig, dass Fachwissenschaftler*innen die Fachgrenzen überschreiten. Dazu bedarf es eines integrativen Wissenschaftsverständnisses, das die verschiedenen Wissenschaften in ein produktives Spannungsfeld bringt. So werden Wissenschaftler*innen mit den Forschungen anderer Disziplinen konfrontiert, die in anderen Weltbeziehungen mit spezifischen Werten gründen. Es reicht deshalb keineswegs aus, sich allgemeinen epistemischen Werten (Einfachheit, Genauigkeit der Vor5
Ebd.
6
Vgl. H. W. Ingensiep, Natur und Leben bei Albert Schweitzer, 59.
7
E. Fromm, Die Seele des Menschen, 85.
8
Vgl. S. Anderl, Wie normal ist Wissenschaft?, in: Kursbuch 209 (2022): Ausnahmezustand – Normalzustand, 104–118, 114.
9
E. Fromm, Die Seele des Menschen, 85.
III. Umwandlung der Wissenschaften
hersage, Wahrheit, Objektivität, Kritisierbarkeit, Kohärenz, Unabhängigkeit, Ehrlichkeit, Fairness etc.) verpflichtet zu fühlen.10 Verlangt ist eine interdisziplinäre »Werte-Responsivität« (C. Illies). Dadurch wird eine dualistische Ontologie unmöglich, »nach der das Sein in die Welt der Fakten und die Welt der Normen auseinanderfällt. Denn innerhalb einer solchen Ontologie muß ja die empirische Welt – zu der auch die Natur gehört – notwendig jeder eigenen Dignität entbehren; das ist aber nicht das, was das Zeitalter der ökologischen Krise braucht.«11 Eine Wissenschaft, die ein mechanistisches Weltbild als allein gültiges ausweist, droht zum Vollstreckungsgehilfen eines Extraktivismus zu werden, der darauf angewiesen ist, dass die Welt von Normen und Werten entzaubert wird. Der extraktivistische Kapitalismus kennt keine Tabus, weil ihm nichts heilig ist. »Damit eine Pflanze heilig bleibt, darf sie nicht verkauft werden.«12 Dem Heiligen gegenüber verbietet sich jegliche übergriffige Berührung, die dieses der Andersheit und Anderheit beraubt. Hier gilt: Noli me tangere!13 Berühre mich nicht! Fass’ mich nicht an! Halt mich nicht fest! Rettende Umweltphilosophie kämpft gegen eine Vorstellung von Wissenschaft an, die sich wesentlich den Vorstellungen instrumenteller Vernunft verdankt. Sie widersteht aber auch der Versuchung, instrumentelle Vernunft zu verteufeln.14 Als ob eine Umweltphilosophie, die in der Ehrfurcht vor dem Leben wurzelt, ohne »Praktiken der Herstellung, Verfügung, Planung und auch des strategischen Verhaltens«15 auskommen könnte:
10
Vgl. C. Illies, Wertfreiheit und Wertgebundenheit der Wissenschaft, in: D. Horster/W. Jantzen (Hg.), Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2010, 139–147, 145.
11
V. Hösle, Ökologische Krise, 71.
12
R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, 40.
13
Joh 20, 17.
14
Vgl. M. Seel, Kontemplation, 16.
15
Ebd.
41
42
Rettende Umweltphilosophie
»Wenn nur noch die ästhetische Kontemplation – das Hören von Musik oder der absichtslose Himmel – als wahre Praxis gilt, kann von wahrer Praxis keine Rede mehr sein. (…) Denn auch in der besten aller Welten wollen Kinder aufgezogen, Kranke versorgt, die Toten beerdigt, Güter produziert und verteilt, Verkehrswege erhalten, Staaten verwaltet und Rechtsgrundsätze verteidigt werden: alles Praktiken, die ohne instrumentelle Vernunft nicht zu machen sind.«16 Dies gilt es festzuhalten. Wollen Wissenschaftler*innen Wissenschaft in dem hier zugrunde gelegten emphatischen Sinn betreiben, benötigen sie ein Bewusstsein davon, dass Wissenschaften »nie bloß Wissenschaften sind. Wissenschaft ist immer auch ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt«.17 Wie sollte es anders sein, war Wissenschaft doch immer auch ein Instrument im Überlebenskampf mit der Natur, geleitet von einer »Herrschaftsvernunft gegenüber der Natur«18 . Wissenschaften sind aus dem Erschrecken angesichts der Natur entstanden und haben eigenen Schrecken hervorgebracht. Sie sind also keineswegs per se unschuldig. Wer wollte bestreiten, »dass die Embleme des Fortschritts (Naturwissenschaften, Technik, Medizin) sich in den Dienst der Vernichtung stellen lassen und der Mensch keinerlei Grenzen des Bösen kennt, wenn er Lebewesen vor sich hat, die in seinen moralischen Überlegungen nicht vorkommen und die keinen rechtlichen Schutz genießen«19 . Gerade heute ist es Aufgabe der Wissenschaften, zu lernen, sich im Eingedenken an die selbstproduzierten Schrecken neu zu verstehen. Laut der Philosophin Corine Pelluchon bedarf es dazu »eines
16
Ebd. 62f.
17
J. B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien 2017, 227.
18 19
Ebd., 228. C. Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen: Eine neue Philosophie der Aufklärung, Darmstadt 2021, 24.
III. Umwandlung der Wissenschaften
individuellen Erschreckens und eines Bruchs mit dem herrschenden Schema, damit man mit Normen, Denkgewohnheiten und Traditionen bricht«20 . Dabei ist es »allerdings notwendig, dass dieser Schock mit anderen geteilt, öffentlich gemacht und so formuliert wird, dass die geäußerte Empörung auch als Reaktion auf eine globale Ungerechtigkeit erkennbar ist und sämtliche Opfer eines völlig überholten Systems aufzeigt, das es dringend zu ersetzen gilt«21 . Pelluchon plädiert dafür, dass Wissenschaften sich als »Aufklärungswissenschaften« im »Zeitalter des Lebendigen« verstehen sollten. Das heißt für sie, ökologischen Wandel, soziale Gerechtigkeit und Tierwohl »mit einer individuellen und gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung, gestützt auf Reflexionen, die unsere Körperlichkeit und Endlichkeit ernst nehmen«, zu verknüpfen.22 Insbesondere dem Körper kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Der Körper ist ein »Mysterium«: »Mal sind die Reaktionen des lebendigen Körpers dem Denken ganz fremd, mal, wenngleich selten, führen sie nur seine Befehle aus; öfter noch verwirklichen sie das von der Seele Gewollte, ohne dass diese daran ihren Anteil hat, häufiger auch begleiten sie die seelischen Wünsche, ohne ihnen in irgendeiner Form zu entsprechen, ein anderes Mal gehen sie den Gedanken voraus. Keine Einteilung ist möglich.«23 Körpererfahrungen sind sowohl Erfahrungen der Selbstheit wie der Andersheit. In meinem körperlichen Selbstbezug erfahre ich immer wieder auch einen Fremdbezug.24
20
Ebd., 238.
21
Ebd.
22
Ebd., 26f.
23
S. Weil, Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung, Zürich 3 2012, 72.
24
Der Philosoph Bernhard Waldenfels, der diese Erfahrung phänomenologisch beschreibt, spricht allerdings aus diesem Grund vom »Leib«. Ich bevorzuge jedoch die Rede vom »Körper«, um sowohl die Untrennbarkeit von »Leib haben« und »Leib sein« als auch die basale Materialität des Körpers zu
43
44
Rettende Umweltphilosophie
III.2 Vom Überschreiten der Natur in der Natur Wissenschaft, die mit der Körperlichkeit des Subjekts ernst machte, würde zugeben, »dass die menschliche Existenz sich nicht allein unter dem Blickwinkel eines Plans begreifen lässt, sondern dass Passivität, Empfänglichkeit, Abhängigkeit von anderen, von anderen Lebewesen und von Ökosystemen das Subjekt grundlegend konstituieren«25 . Es mit der Körperlichkeit ernst meinen heißt, dass neben dem Körper als Organ des Lebendigen einerseits und als distanzierten Gegenstand andererseits der Körper als passiver Vollzug des ethischen Überschreitens tritt.26 Die damit einhergehende Herausforderung wird anhand einer Begebenheit aus der Kindheit des Philosophen Martin Buber deutlich, die die Theologin Dorothee Sölle referiert: »Als Elfjähriger auf dem Gut seiner Großeltern hatte er eine Freundschaft zu einem Apfelschimmel, dem er den Nacken zu kraulen pflegte. ›Was ich an dem Tier erfuhr, war das Andere. Die ungeheure Andersheit des Anderen, die aber nicht fremd blieb.‹ Er erlebt den Schimmel, wie er leise schnaubt, ›wie ein Verschworener seinem Mitverschworenen ein nur diesem vernehmbar werden sollendes Signal gibt.‹ Eines Tages zerstört der Junge diese Beziehung. Es fällt ihm ›über dem Streicheln ein, was für einen Spaß es mir doch mache, und ich fühlte plötzlich meine Hand. Das Spiel ging weiter wie sonst, aber etwas hatte sich geändert, es war nicht mehr Das. Und als ich tags darauf (…) meinem Freund den Nacken kraulte, hob er den Kopf nicht.‹ Was er zerstörend getan hat, nennt Buber, ›den Anderen nur als das eigene Erlebnis,
betonen (vgl. B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006, 68–91). 25 26
C. Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen, 64. Hier handelt es sich um ein Zitat, in dem aber die Hauptbegriffe geändert wurden: Leib wurde ersetzt durch Körper, Transzendenz durch Überschreiten: W. N. Krewani, Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, München/ Freiburg 1992, 154.
III. Umwandlung der Wissenschaften
nur als eine Meinheit bestehen‹ zu lassen. Er ist also das Ich nicht losgeworden. Es hat sich als ›Meinheit‹, die Beziehung zerstörend, dazwischengeschoben. Mit Levinas geredet, hat er das Ich, das schon im Akkusativ war, in den Nominativ gesetzt.«27 Sölle fährt fort: »Daß wir uns verlieren können in etwas, das nicht wir sind, ist die schönste Art, das Ego zu entmachten und in diesem Sinne frei zu werden.«28 Die Begegnung mit dem Tier kann ein Weg sein, »auf dem die Ich-Besessenheit ihre Macht verliert und das Ich sich frei macht, weil es sich als etwas schon immer in den Akkusativ Geratenes erkennt«29 . Mit seinem Antlitz widerfährt das Tier dem Menschen. Antlitz ist für Emmanuel Lévinas »Nacktheit«, heißt »von aller Form entblößt« zu sein, unangetastet von all meinen Einordnungen und Urteilen, die es in einem abstrakten Tiersein einsperren. All das ist weg. Aber diese »Nacktheit erscheint nicht als Mangel«. Das Tier hat Sinn allein durch sich selbst. Das Antlitz ist nackt heißt: »Es ist durch sich selbst und keineswegs durch den Bezug auf ein System.«30 Es ist diese Nacktheit, die mich aus meinem egologischen Gefängnis in die Verantwortung ruft. Das Antlitz in der Erfahrung seiner irreduziblen Einzigartigkeit und Verletzlichkeit geht mich radikal an. Es ist diese ethische Nötigung, die mich aus meiner Gleichgültigkeit zieht und mich aus meiner Selbstfesselung befreit. Emmanuel Lévinas hätte vermutlich dieser auslegenden Ausdeutung der Erzählung von Buber widersprochen. Kolleg*innen, die ihn kannten, berichten vom Zögern, gar von der Abweisung der Übertragung seiner Rede vom »Antlitz des Anderen« auf nichtmenschliche Lebewesen. Lévinas kämpfte für einen »Humanismus des anderen Menschen«. Wahrscheinlich ist seine Zurückhaltung oder Ablehnung durch den Widerspruch zum nazistischen rassifizierten Holismus motiviert, dessen Naturverständnis gegenüber
27
D. Sölle, Mystik und Widerstand. »Du stilles Geschrei«, München 3 2000, 264f.
28
Ebd.
29
Ebd.
30
E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Freiburg/ München 2 1993, 101f.
45
46
Rettende Umweltphilosophie
der Anderheit und Andersheit anderer blind macht.31 Natur steht in Lévinas’ Deutung für reinen Selbsterhalt.32 Er konnte der Verwurzelung der Bäume nichts Ethisches abgewinnen. Im Gegenteil. Die Forderung nach Verwurzelung zeugte seines Erachtens von Zurückgebliebenheit, von der Verführung, sich einer Landschaft einzupflanzen, sich an einen Ort zu heften. Ein solches Verständnis habe die Spaltung der Menschheit in Ureinwohner und Fremdlinge zur Folge gehabt.33 In der Tat sind solche Deutungen das Einfallstor eines Ökofaschismus. Das bedeutet aber keineswegs, dass die hier vorgenommene Ausdeutung der Erzählung nicht auch mit seiner Philosophie möglich ist. Schließlich ist das, was Buber widerfährt, ein ethischer Widerstand, mit dem ein nichtmenschliches Lebewesen sich gegen die Enteignung seiner Andersheit und Anderheit wehrt. Es sind solche Erfahrungen, die das Verbot enthalten, das Tier zu morden.34 Der Enthemmung, die sich in unserem Umgang mit Natur zeigt, kann nur durch solch eine Singularisierung entgegengetreten werden: »Wer it sagt, macht lebendiges Land zu ›natürlichen Ressourcen‹. Wenn ein Ahorn it ist, können wir zur Kettensäge greifen. Wäre ein Ahorn she, würden wir zweimal überlegen.«35 Es gibt so etwas wie die Erfahrung eines »Jenseits der Natur in der Natur«.36 Auch Lévinas wusste von einem solchen Jenseits, einer ethischen Unruhe in der Natur, durch die Natur als reine Selbsterhaltung suspendiert wird37 : »Bobby, sie nannten ihn Bobby: ›Wir waren siebzig Mann in einem Waldarbeiterkommando jüdischer Kriegsgefangener, in Na-
31
Vgl. A. Herzog, Levinas’s Politics. Justice. Mercy. Universality, Philadelphia 2020, 84.
32 33
Vgl. ebd., 88. Vgl. E. Lévinas, Heidegger, Gagarin und wir, in: W. Schirmacher (Hg.), Zeitkritik nach Heidegger, Essen 1989, 85–88.
34
Vgl. ders., Totalität und Unendlichkeit, 120.
35
R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, 74.
36
A. Herzog, Levinas’s Politics, 91.
37
Vgl. ebd., 94.
III. Umwandlung der Wissenschaften
zi-Deutschland. Das Lager trug – sonderbarer Zufall – die Nummer 1492, die Jahreszahl der Vertreibung der spanischen Juden durch Kaiser Ferdinand den Katholischen. Die französische Uniform bot uns noch Schutz gegen die Hitler’sche Gewalt. Aber die anderen, sogenannten freien Menschen, die uns begegneten, die uns Arbeit oder Befehle gaben oder gar ein Lächeln schenkten – und die Frauen und Kinder, die vorübergingen und manchmal zu uns hersahen – sie zogen uns mit ihren Blicken die Haut ab, entblößten uns unserer menschlichen Gestalt. Wir waren nur noch Quasi-Menschen, eine Affenbande. Ein schwaches inneres Gemurmel, worin die Macht und das Elend von Verfolgten liegt, rief uns unsere Vernunftnatur ins Gedächtnis. Doch wir waren nicht mehr in der Welt. (…) Und da tritt, ungefähr in der Mitte einer langen Gefangenschaft – für ein paar kurze Wochen und bevor ihn die Wachposten wieder verjagten –, ein streunender Hund in unser Leben. Eines Tages schloß er sich unserer Meute an, als wir, unter strenger Aufsicht, von der Arbeit zurückkamen. Er vegetierte in irgendeiner verwilderten Ecke dahin, in der Umgebung des Lagers. Aber wir gaben ihm einen exotischen Kosenamen, wie er zu einem geliebten Hund gehört, und nannten ihn Bobby. Er tauchte beim morgendlichen Appell auf und erwartete uns bei unserer Rückkehr, er hüpfte und bellte vor Freude. Für ihn waren wir – unbestreitbar – Menschen. (…) Bobby, letzter Kantianer in Nazi-Deutschland, ohne das Hirn, die Maximen seiner Triebe zu universalisieren (…).‹«38 Der Philosoph Christian Rößner weist darauf hin, dass Lévinas in seinem Bericht dem Hund weder Ethik noch Logos zuspricht, sondern es ihm zunächst darum geht, die Inhumanität des Menschseins offenzulegen, »in der der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und nur der Hund dem Menschen ein Freund bleibt«39 . Es ist somit der
38
E. Lévinas, Nom d’un chien ou le droit naturel, in : ders., Difficile liberté. Essais sur le judaïsme, Paris 21976, 199–202, 201f., zit. n.: C. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas, Freiburg/ München 2018, 15.
39
C. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 19.
47
48
Rettende Umweltphilosophie
Hund, der die Würde der menschlichen Person bezeugt.40 In dieser Freundschaft des Tieres zum Menschen zeigt sich eine »Transzendenz im Tier« (E. Lévinas).41 Dennoch sieht Rößner hier keinen Anhaltspunkt für eine Ausweitung des Antlitzes auf das Tier gegeben.42 Vielleicht gibt es keinen Anhaltspunkt in der Deutung, die Lévinas der Erzählung gibt. Aber was spricht gegen die Auslegung, dass sich in der Erzählung nicht nur das Bestialische im Menschen offenbart, sondern im Gebaren Bobbys auch Humanität im Tier – eine Öffnung für den Anspruch des Anderen, in dem sich ein »Anderssein als Natur in Natur«43 offenbart. Wenn das möglich ist, gibt es auch keinen Grund mehr, Tieren ein Antlitz abzusprechen. Rettende Umweltphilosophie setzt eine »empfindsame Empfänglichkeit« (B. Liebsch) für den Anspruch voraus, der mit dem von Buber beschriebenen Widerstand des Pferdes einhergeht. Diese Empfänglichkeit ist keineswegs auf ein pathisches Moment zu reduzieren. Im Widerfahrnis eines Lebewesens in seiner »Nacktheit« im Sinne des Antlitzes deuten wir* körperliche Gebärden so, dass sie von sich aus bedeuten. Ähnliches lässt sich über Töne sagen. Wir* vermögen nicht nur Töne zu hören. Wir* sind auch in der Lage, unmittelbar ihre Ansprüche zu spüren. So erfahren wir*, dass es ein Inneres in den Lebewesen gibt und was dieses von sich aus bedeutet: »Es gibt einen Ton, der ohne Halten, ohne Restspur von Effizienz den ganzen Abgrund animalischer Seele offenbart. Das ist der Todesschrei. Selbst fast vollkommen stimmlose Tiere kreischen plötzlich auf, wenn das Ende über sie hereinbricht. Einem stummen Hasen, dem der scharfe Schnabel der Eule in den Rücken fährt, bricht das Leben weg in gellendem Entsetzen, vor dem kein Zweifel möglich ist: dass er nicht will. Niemand, der einen solchen Todesschrei hört, kann ihn verwechseln.«44
40
Vgl. ebd.
41
Ebd.
42
Vgl. ebd., 21.
43
A. Herzog, Levinas’s Politics, 94.
44
Weber fährt fort: »Er erkennt ihn, denn er weiß in der Tiefe seines Leibes, es könnte der eigene sein.« (A. Weber, Alles fühlt, 144) Diese Deutung gründet
III. Umwandlung der Wissenschaften
Mit jedem Körper geht ein Anruf in die Verantwortung einher.
III.3 Aktivität und Passivität Die Botanikerin Robin Wall Kimmerer schreibt rückblickend auf ihr Studium: »Niemand fragte die Pflanzen: ›Was habt ihr uns zu sagen?‹ Die wichtigste Frage hieß: ›Wie funktioniert das?‹ Die Botanik, die man mir beibrachte, war reduktionistisch, mechanistisch und strikt objektiv.«45 Die Frage »Was habt ihr uns zu sagen?« setzt eine »ruhige Offenheit« voraus, von der der Philosoph Lars Svendsen in seiner »Philosophie für Hunde- und Katzenfreunde« spricht: »Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet, die einen ungewöhnlich guten Kontakt zu Tieren hatte und die mir, als ich ein Kind war, beibrachte, sie zu verstehen. Was sie mir beigebracht hat? Sie lehrte mich abzuwarten, dass ich mich nicht aufdrängen, sondern das Tier sich selbst präsentieren lassen solle. Sie brachte mir bei, dem Tier zuzuhören, und nicht zuletzt lehrte sie mich, das Tier zu sehen. Sie brachte mir bei, das Tier durch sein Verhalten selbst mitteilen zu lassen, wer es ist. Sie brachte mir bei, eine ruhige Offenheit gegenüber Tieren zu haben, und hat man die, dann folgt das Verständnis.«46 Es ist diese »ruhige Offenheit«, die uns »Wertschätzung gegenüber der Natur« ermöglicht, und diese »macht uns zu tugendhafteren – d.h. besseren und glücklicheren – Menschen«,47 so sieht es der Phiin dem erkenntnistheoretischen Axiom »Gleiches erkennt einander«. Dagegen setze ich im Folgenden ein Alteritätsdenken. 45
R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, 55.
46
L. Svendsen, Philosophie für Hunde- und Katzenfreunde. Tiere verstehen, Wiesbaden 2019, 240f.
47
P. Cafaro, Naturkunde und Umwelt-Tugendethik, in: Natur und Kultur 4/1 (2003), 73–99, 73.
49
50
Rettende Umweltphilosophie
losoph Philip Cafaro. Dazu benötigen wir* Erfahrungen in und mit der Natur. Ein »aktives Erkunden« bildet Cafaro zufolge »den Charakter, bereichert den Erfahrungsschatz, vergrößert das Wissen, entwickelt intellektuelle Fähigkeiten weiter und fördert die Entstehung wohltuender, dauerhafter Beziehungen zu den Wesen der Natur und zu Naturgebieten. Ein Leben, dem derartige Aktivitäten und Verbindungen mit der Natur fehlen, leidet in meinen Augen an einem gravierenden Mangel.«48 Aktives Erkunden gründet in Liebe und Anerkennung.49 In der Begegnung mit der Natur erlernen wir* Tugenden, u.a. Geduld, Durchhaltevermögen, Demut, Genügsamkeit, Einfachheit, Selbstbeherrschung.50 Die »Krone der Tugenden« sei die Weisheit, »›eine Art des Verstehens, die eine nachdenkliche Haltung mit konkreter Anteilnahme verbindet‹, mit dem Ziel, ›das grundlegende Wesen der Wirklichkeit und dessen Bedeutung für das Leben eines guten Lebens zu verstehen‹. Weisheit beinhaltet das Wissen darüber, was im Leben das Wichtigste ist, aber Weisheit ist mehr als Wissen, sie umfasst auch eine Lebensführung im Einklang mit dem Wissen. Die Vorstellungen von Weisheit ändern sich, aber in den meisten Ansätzen gehört es zur Weisheit, dass wir uns selbst aus der richtigen Perspektive sehen, unsere Möglichkeiten und Grenzen kennen und die größere Welt, unseren Lebensraum, wertschätzen.«51 Cafaro weiß sehr wohl, dass die Argumente für den Eigenwert der Natur nur verstanden werden, wenn sie unterstützt und getragen sind von der »Erfahrung draußen in der Natur«. Ohne diese Erfahrung ließen sich Zweifler*innen nicht überzeugen.52 Auch die rettende Umweltphilosophie ist tugendethisch grundiert. Wie sollten wir* Natur anerkennen, wenn wir* sie nicht sein 48
Ebd.
49
Vgl. ebd., 74.
50
Vgl. ebd., 83.
51
Ebd., 88. Cafaro bezieht sich hier auf den Philosophen John Kekes.
52
Vgl. ebd., 97.
III. Umwandlung der Wissenschaften
lassen können? Aus diesem Grund ist die Tugend der Gelassenheit für die rettende Umweltphilosophie zentral. Laut dem Literaturwissenschaftler Thomas Strässle enthält diese Tugend die Aspekte: Ablassen, Zulassen, Überlassen. Ablassen von dem, was ich eigentlich gar nicht tun möchte. Wer ablassen kann, kann auch zulassen: andere Menschen und andere Lebewesen in ihrer Anderheit und Andersheit anerkennen. Zulassen fördert Fürsorge und Vorsorge für zukünftige Generationen. Durch Ablassen und Zulassen entsteht Vertrauen in sich und andere und damit die Fähigkeit des Überlassens: sich anderen zu überlassen, sich ihnen anzuvertrauen.53 Und zu ergänzen wäre das Sein- und das Loslassen, das in das Sterben einweist. Von hieraus wäre Aktivität zu denken, denn: »Eine Aktivität, die die Tugend der Passivität wie Warten-Können, Gedulden, Sich-loslassen-Können, Sich-aus-der-Handgeben-Können nicht kennt, wird gedankenlos und erbarmungslos.«54
III.4 Wissenschaft im »Zeitalter des Lebendigen« Das »Zeitalter des Lebendigen« (C. Pelluchon) steht für »Enlivenment« (A. Weber). Diese »Verlebendigung«55 verlangt von uns, dass wir* »›Leben‹ und ›Lebendigkeit‹ wieder zu fundamentalen Kategorien des Verstehens, aber auch des Handelns machen (…). Enlivenment möchte die zentralen Denkfiguren der Aufklärung – rationales Denken und empirische Beobachtung – nicht ersetzen, sondern mit der ›empirischen Subjektivität‹ der Lebewesen und mit der ›poetischen Objektivität‹ sinnvoller Erfahrungen ergänzen.«56 Die nichtmenschlichen Kreaturen, »die zu leben begehren und deren Fühlen unserer eigenen vergessenen Lebendigkeit auf je53
Vgl. T. Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, München 2013, 20f.
54
D. Sölle, Mystik und Widerstand, 367f.
55
A. Weber, Enlivenment, 15.
56
Ebd., 15f.
51
52
Rettende Umweltphilosophie
dem Naturspaziergang noch antwortet, weisen uns den Weg zur Aufklärung der Aufklärung«57 . Diese Aufklärung geht mit einer bestimmten Wahrnehmungsfähigkeit einher: »Wer sehen will, muss Rücksicht nehmen können. Wer erkennen will, muss anerkennen, was anders ist als er selbst. Wer in der Welt der Gegenstände nur Mittel für seine Zwecke sieht, wird auch in der Welt der Personen niemand finden, mit dem er ohne weiteres zusammen sein kann.«58 Hier setzt rettende Umweltphilosophie an. Sie teilt nämlich mit der Kritischen Theorie die Einsicht in die »Dialektik der Aufklärung«. Von daher besitzt sie ein Wissen um die Paradoxie der Klassifikation: Ohne sie gibt es keine Erkenntnis, aber gleichzeitig steht die Klassifikation der Erkenntnis immer wieder im Weg,59 vor allem dann, wenn sie so auf die Wirklichkeit zugreift, dass sie das Äußere nicht gelten lässt. Einer solchen Klassifikation wird das Draußen zur »eigentlichen Quelle der Angst«60 . Rettende Umweltphilosophie erinnert an die Aufgabe, die dem Philosophieren spätestens nach Auschwitz zukommt: das Begriffslose, Einzelne und Besondere – das Nichtidentische – hervortreten zu lassen.61 Mit Adorno teilt sie die »Utopie der Erkenntnis«: »(…) das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihm gleichzumachen«62 . Dazu bedarf es der »Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugehen«63 . Fluchtpunkt der Denkbewegung ist Adorno zufolge die Versenkung in das Heterogene, mit anderen Worten: »(…) sie zielt auf ungeschmälerte Entäußerung«.64 Gerade für die rettende Umweltphilosophie gilt, dass sie sich als »die
57
Ebd., 27.
58
M. Seel, Kontemplation, 25.
59
Vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt 1986, 196.
60
Ebd., 18.
61
Vgl. ebd., 19–21.
62
Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 3 1982, 21.
63
Ebd., 27.
64
Ebd., 24.
III. Umwandlung der Wissenschaften
volle unreduzierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion«65 verstehen will. Sie möchte einen Beitrag dazu leisten, das Objekt selber zum Sprechen zu bringen.66 In diesem Sinne ist auch die rettende Umweltphilosophie eine Mikrologie, eine »Versenkung ins Einzelne«67 . Diese Versenkung ist, wie Martin Seel herausgearbeitet hat, als »kontemplativ« zu bezeichnen.68 Hier geht es aber nicht um »selbstgenügsame Kontemplation«, nicht um »eine Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit«.69 Kontemplation ist in diesem Zusammenhang »nicht das Medium einer exklusiv theoretischen Besinnung, die sich von den vergänglichen Dingen abwendet, um sich des Ewigen, Wahren und Ganzen zu vergewissern«70 . Sie ist »Name für eine Praxis, in der man sich auf einander einlassen und doch einander sein lassen kann«71 . Dieses Seinlassen führt jedoch keineswegs zur Unverbindlichkeit. Und so geht mit ihm die Forderung einher, Denkmodelle zu entwickeln, welche das Spezifische treffen und mehr als das.72 Solche Modelle steuern letztlich auf das philosophische Ideal zu, das darin besteht, »daß die Rechenschaft über das, was man tut, überflüssig wird, indem man es tut«73 . Dadurch soll »das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene«74 in den Blick geraten.75 Denn: »Ohne ein Gebrochenes, Uneigentliches gibt es keine Erkenntnis, die mehr wäre als einordnende Wiederho-
65
Ebd., 25.
66
Vgl. ebd., 38.
67
Ebd., 39.
68
Vgl. M. Seel, Kontemplation.
69
Ebd., 10.
70
Ebd., 13.
71
Ebd., 34.
72
Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, 39; 48.
73
Ebd., 58.
74
Ebd., 21.
75
Vgl. ebd., 166.
53
54
Rettende Umweltphilosophie
lung.«76 Diese Beziehung zum »Objekt« der Erkenntnis ist in einer »empfindsamen Empfänglichkeit« (B. Liebsch) fundiert. Es zeigt sich, was Adorno einst bemerkte, dass die Annahme, Objektivität wachse komplementär mit dem Verlust der Emotionen, »Ausdruck des Verdummungsprozesses« ist.77 Kant sprach von Apriori der Erkenntnis. Darunter verstand er die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit, die notwendig sind für jegliche Erkenntnis.78 Adorno macht auf ein »Leidapriori« (J. B. Metz) aufmerksam, das heißt, »(w)er leidet, ohne zu verhärten, wird verstehen«, wird erkennen.79 Dazu bedarf es einer »Mitleidenschaft« (J. B. Metz), die das Bedürfnis weckt, dem Leiden des anderen Menschen, aber auch dem »Seufzer der bedrängten Kreatur« (Karl Marx) Ausdruck zu verschaffen.80 Das Bedürfnis, das Leid Anderer und der bedrängten Kreaturen beredt werden zu lassen, ist Bedingung rettender Umweltphilosophie.81 An diesem Bedürfnis entzündet sich rettende Umweltphilosophie. Aber sie bleibt nicht dabei stehen. Sie anerkennt bei nichtmenschlichen Lebewesen auch deren »Streben nach Verwirklichung des eigenen Wohls«82 .
76
Ders., Einleitung, in: ders./R. Dahrendorf/H. Pilot/H. Albert/J. Habermas/K. R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 13
77
1989. 7–79, 45.
Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1987, 158.
78
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt 1974, A 42. B 59f.
79
P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band. Frankfurt 1983, 21. Zu diesen Ausführungen: J. Manemann, »Weil es nicht nur Geschichte ist« (H. Sherman). Die Begründung der Notwendigkeit einer fragmentarischen Historiographie des Nationalsozialismus aus politisch-theologischer Sicht, Münster/Hamburg 1993, 182–187.
80
In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bezog Karl Marx den Ausdruck allerdings auf den Menschen.
81
Formuliert in Anlehnung an Theodor W. Adorno. Hiermit schließe ich an meine Überlegungen in »Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine Humanökologie, Bielefeld 2014« an.
82
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 126.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
IV.1 Nature Writing Im Zentrum rettender Umweltphilosophie steht die Anerkennung des Eigenwertes der belebten und der unbelebten Natur. Rettende Umweltphilosophie ist holistisch. Ihr Holismus wurzelt in der Erkenntnis der Werthaftigkeit sinnlicher Erfahrung. Sinnliche Erfahrungen sind »immer affektiv getönt, d.h. sie lösen Gefühle und Stimmungen aus und bestimmen so unser Verhältnis zu den Dingen. Alles, was uns sinnlich entgegentritt, erscheint (eher) vertraut oder (eher) fremd, (eher) anziehend oder (eher) abstoßend, (eher) angenehm oder (eher) unangenehm, und entsprechend verhalten wir uns dann. Die sinnliche Erfahrung ist immer schon wertend und begründet so das Interesse, das wir an der Welt nehmen.«1 Es ist nicht zuletzt dieses Betroffensein, das den Menschen aus der Gleichgültigkeit herausreißt.2 Schwindet sinnliche Erfahrung, so fasst Hauskeller zusammen, dann schwindet Wirklichkeitsbewusstsein.3 Rettende Umweltphilosoph*innen sehen sich in der Rolle der Aktiv-Betrachtenden. Aus diesem Grund setzt rettende Umweltphilosophie auch beim Nature Writing an. Der Philosoph Jürgen Goldstein beschreibt Nature Writing als »Versuch, einen empfindsamen Ausdruck der Natur zu kultivieren, um (…) rationalistische Modernitätspathologien zu diagnos1
M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 116.
2
Vgl. ebd., 116f.
3
Vgl. ebd., 117.
56
Rettende Umweltphilosophie
tizieren und, wenn möglich, zu kurieren – nicht mehr und nicht weniger«.4 Nature Writing geht es darum, in einem noch empfindlichen Subjekt eine »innere Resonanz« zu erzeugen.5 Und dazu bedienen sich die Autor*innen des Schreibens.6 Nature Writing ist weit davon entfernt, der Gefahr zu erliegen, »intellektuell regressiv zu werden und unaufgebbare Grundeinsichten der Moderne preiszugeben«.7 Im Nature Writing machen sich »die erzählenden Personen zu einem durchlässigen Medium der Erfahrung«8 . Dadurch verhindern sie, »zu einem Gravitationszentrum eigener Interessen zu verkümmern, (…) [i]hre Berichte, in denen sie einen Ausdruck des Erlebten suchen, [sind] persönlich ohne privat zu werden.«9 Wie dem Nature Writing so geht es auch rettender Umweltphilosophie um einen Zugang zur Natur als »Korrektur an einem Szientismus, der das lebensweltliche Erleben zu überformen unternimmt«10 . Das »schmerzvolle Rätsel« der Natur, von dem Schweitzer spricht, spiegelt sich auch in Erfahrungen der Autor*innen des Nature Writings wider, so etwa bei Annie Dillard: »Die Grausamkeit ist ein Geheimnis, und das Übermaß an Leid. Aber wenn wir eine Welt beschreiben, die diese Dinge begreift, eine Welt, die ein langes, brutales Spiel ist, stoßen wir auf ein weiteres Rätsel: das Einströmen von Kraft und Licht; den Kanarienvogel, der auf dem Schädel singt.«11 An anderer Stelle schreibt sie:
4
J. Goldstein, Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing, Berlin 2019, 25.
5
Vgl. ebd., 88.
6
Vgl. ebd., 100.
7
V. Hösle, Ökologische Krise, 17.
8
J. Goldstein, Naturerscheinungen, 257f.
9
Ebd., 103.
10
Ebd., 104.
11
A. Dillard, Pilger am Tinker Creek, Berlin 2016, 14.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
»Fische müssen schwimmen, und Vögel müssen fliegen: Insekten müssen, wie es scheint, in einem fort Gräueltaten begehen. Bei einem Geier oder Hai frage ich nie warum, aber bei fast jedem Insekt, das mir begegnet, frage ich das. Mehr als ein Insekt auf einmal – die Möglichkeit fruchtbarer Vermehrung – stellt einen Affront gegen sämtliche menschlichen Werte dar, gegen alle Hoffnung auf einen vernünftigen Gott. Selbst jener fromme Franzose, Jean-Henri Fabre, der sein ganzes Leben dem Studium der Insekten widmete, kann sich nicht eines abgrundtiefen Widerwillens erwehren. Er beschreibt eine bienenfressende Wespe, den Bienenwolf, wie er eine Honigbiene tötet. Wenn die Biene von Honig schwer ist, drückt der Bienenwolf sie aus, damit sie ›den köstlichen Sirup von sich gibt, und trinkt ihn, indem er ihn von der Zunge leckt, die das unselige Opfer im Todeskampf weit zum Maul herausstreckt. Ich habe erlebt, wie der Bienenwolf mitten bei einem solchen mörderischen Bankett mitsamt seiner Beute von einer Gottesanbeterin gefangen wurde. Der Räuber wurde von einem zweiten Räuber geplündert. Und hier gab es ein grausiges Detail: Noch während die Gottesanbeterin ihn an den Zacken ihrer Doppelsäge aufspießt, festhielt und bereits an seinem Bauch knabbert, leckte der Bienenwolf, selbst im Angesicht des Todes außerstande, auf sein köstliches Mahl zu verzichten, weiter den Honig von seiner Biene. Lassen Sie uns schnell einen Schleier über dieses Grauen decken.‹«12 Keineswegs sind die Autor*innen des Nature Writings naive Realist*innen. Sie verfügen über ein feines Sensorium dafür, wie ihre Wahrnehmung gefiltert ist und auch gesteuert wird. Überdies wissen sie, dass ein ursächlicher Zusammenhang existiert zwischen dem, was ich erwarte und dem, was ich sehe: »ich sehe nur, was ich erwarte. Einmal habe ich volle drei Minuten auf einen Ochsenfrosch gestarrt, der so unerwartet groß war, dass ich ihn nicht sehen konnte, obwohl eine ganze Schar begeisterter Camper mich lauthals dirigierte.«13 12
Ebd., 80f.
13
Ebd., 26.
57
58
Rettende Umweltphilosophie
Sehen ist für Dillard eine »geistige Anstrengung«14 . Sie leidet immer wieder neu an ihrer Unfähigkeit, etwas zu sehen: »Ich kann nichts weiter tun, als mich bemühen, den Kommentar zum Schweigen zu bringen, den Lärm des unnützen inneren Gebrabbels abzustellen, das mich so wirksam am Sehen hindert, wie eine vor Augen gehaltene Zeitung. Es ist im Grunde eine geistige Anstrengung, die ein lebenslanges Engagement erfordert: davon zeugen Heilige und Mönche aller Orden in Ost und West, einerlei ob sie nach Regeln leben oder nicht, ob sie barfuß gehen oder Schuhe tragen. Die spirituellen Geistesgrößen der Welt scheinen einhellig zu entdecken, dass der schlammige Fluss des Denkens, dieser unaufhörliche Strom von Unfug und Unrat, sich nicht eindämmen lässt und jeder Versuch ihn einzudämmen Kraftverschwendung ist, die zum Wahnsinn führen kann. Da das nicht geht, musst du den schlammigen Fluss unbeachtet durch die trüben Kanäle des Bewusstseins fließen lassen; du erhebst den Blick; du schaust milde, wie er dahinfließt, nimmst sein Vorhandensein teilnahmslos zur Kenntnis und blickst darüber hinaus in das Reich des Wirklichen, wo Subjekte und Objekte gänzlich rein handeln und ruhen, ohne Worte. ›Wirf dich in die Tiefe‹, sagt Jacques Ellul, ›und du wirst sehen.‹«15 Eindrücklich beschreibt Dillard immer wieder, wie der Absicht die Sicht abgeht.16 Wir* können die Perle finden, »aber suchen lässt sie sich nicht«17 . Am Beispiel des Nature Writing kann gezeigt werden, dass der epistemische Anthropozentrismus soweit geschwächt werden kann, dass der menschliche Standpunkt derart aufgebrochen wird, dass Anderes im anderen Leben aufscheint und unsere Konstruktionsfähigkeit der Wirklichkeit ausgesetzt wird, die dieses immer wieder zu verstellen droht. Dieses Aussetzen ist ein Aufgeben von Naturherrschaft. Es kann auch durch die Erfahrung des 14
Ebd., 44.
15
Ebd.
16
Vgl. T. Polednitschek, Diagnose Politikmüdigkeit. Die Psychologie des nicht-vermissten Gottes, Berlin 2003, 7.
17
A. Dillard, Pilger am Tinker Creek, 45.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
Erhabenen ausgelöst werden, also durch Situationen, in denen, so betont es Hauskeller, die Natur uns dazu nötigt, »sie als wertvoll anzuerkennen«.18 Nicht nur die belebte Natur, auch die unbelebte Natur fordert unser Empfinden heraus. Hauskeller schlägt vor, sich die Massivität eines Gebirges, die Endlosigkeit einer Wüste oder die Weite des Meeres vorzustellen. Solche Erscheinungen stimmen uns demütig, weil sie uns mit etwas konfrontieren, dass »unserer Macht enthoben zu sein schein[t]«.19 Sie können uns bis ins Mark treffen, unser Selbstbewusstsein erschüttern, offenbaren sie doch auch »die Gleichgültigkeit der Natur gegen unsere Interessen«20 . So werden wir* gewahr, »daß die Welt mehr ist, als der Mensch je aus ihr machen kann: etwas an sich selbst, das zu seiner Existenz des Menschen nicht, dessen aber der Mensch durchaus bedarf«21 . Philosophien des autonomen Subjekts sind immer wieder versucht, um der Rettung der Autonomie willen diese Nötigung und die mit ihr einhergehende Herausforderung zu kassieren. So wird durchaus zugestanden, dass das Erhabene »für sich selbst gefällt«22 , unbegrenzt sei, dass es Bewunderung oder Achtung errege,23 dass es das sei, »was schlechthin groß ist«, was »über alle Vergleichung groß ist«.24 Aber Natur könne, so sieht es Kant, diese »Stimmung« nur auslösen. Sie sei nicht selbst erhaben. Sie wecke lediglich das Erhabene in uns. Es geht also um eine »bestimmte Selbsterfahrung«25 , nicht um »ein Wohlgefallen (…) am Objekt, sondern an der ›Erweiterung der Einbildungskraft‹«26 . Das Erhabene sei »nichts, (…) was Gegenstand der [Sinne] sein kann«27 . Die Erfahrung des Erhabenen erwecke lediglich das »Gefühl eines übersinnlichen Vermögens in 18
M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 45.
19
Ebd., 51.
20
Ebd., 52.
21
Ebd.
22
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin 24 2022, 164 (B 74/A 73).
23
Vgl. ebd., 165 (B 57, 76/A 74, 75).
24
Ebd., 169 (B 81/A 80).
25
O. Höffe, Immanuel Kant, München 1983, 271.
26
Ebd.
27
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 172 (B 85, 86/A 84, 85).
59
60
Rettende Umweltphilosophie
uns«.28 Für Kant offenbart sich in der Erfahrung des Erhabenen die priorisierte Stellung des Menschen als Vernunftwesen: »Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechselung einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte) beweisen, welche uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht.«29 Für den Philosophen Otfried Höffe zeigt sich hier, dass »der Mensch sich als der äußeren Natur überlegen« erfahre; »er fühlt sich als ein sittliches Wesen, das sich mit der allgewaltigen Natur vergleichen kann, ihr sogar überlegen ist.«30 Kant unterwirft so aber das Erhabene dem Subjekt. In seiner Erkenntnistheorie behauptet sich die Herrschaft des autonomen Subjekts durch die Vernunft. Ihr müsse sich alles unterwerfen. Nur dasjenige habe »Anspruch auf unverstellte Achtung«, »was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können«.31 Diese wiederum sehe nur das ein, was sie nach ihrem Entwurfe hervorbringe. Hinsichtlich des Verhältnisses zur Natur schreibt Kant, dass die Vernunft wie ein »bestallter Richter« vorgehen müsse, der die Zeug*innen nötige, auf die Fragen zu antworten, die er ihr vorlege.32 Diese Autonomie des Bewusstseins vergleicht Lévinas mit den Abenteuern des Odysseus, »der bei allen seinen Fahrten nur auf seine Geburtsinsel zugeht«33 . Eine solche Philosophie hat sich bereits im Voraus eingeholt. Ihr stellt Lévinas die Geschichte Abrahams entgegen, der auszieht,
28
O. Höffe, Immanuel Kant, 271.
29
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 180 (B 97/A 96).
30
O. Höffe, Immanuel Kant, 271f.
31
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 13 (A XI/XII).
32
Vgl. ebd., 23 (B XIII/XIV).
33
E. Lévinas, Die Spur des Anderen, in: ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 2 1987, 209–235, 211.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
ohne an den Ursprung zurückzukehren. Vernunft, die sich in dieser Bewegung befindet, ermöglicht ein Denken, das die Egologie für Anderes und auf Anderes hin aufbricht.34 Mit Lévinas zielt rettende Umweltphilosophie auf ein Denken, das mehr denkt, als es denkt.35 Der praktische Grundzug rettender Umweltphilosophie entspringt nicht zuletzt Naturerfahrungen, von denen wir* uns in die moralische Pflicht genommen fühlen.36 Solche Naturerfahrungen mit Sollgeltung sind häufig »Erschließungsereignisse«37 . Sie werden von der Person als bindend erfahren, besitzen aber keinen zwingend argumentativen Charakter. Sie lassen sich dennoch narrativ derart kommunizieren, dass sie auch von anderen Menschen nicht nur verstanden, sondern auch anerkannt werden. Mit der Anerkennung geht dann ebenfalls die Übernahme der in der Erzählung enthaltenen Pflicht einher. Das setzt allerdings voraus, dass sich Menschen in resonanten Beziehungen mit der Natur befinden.38 Dies ist keineswegs selbstverständlich, da immer mehr Natur um uns herum vernichtet wird. Das bedroht unsere Humanität. Angelika Krebs weist mit Nachdruck darauf hin, dass immer mehr Menschen mit ihrer Angst allein gelassen würden, »dass die Natur um sie herum bald ganz verschwindet«39 . Sie fordert deshalb das »Menschenrecht auf Natur« ein: »Denn die naturästhetische Erfahrung ist keine rein subjektive Angelegenheit. Sie gehört auch nicht in das Luxussegment der Angebote der Selbstverwirklichung. Unerträglich die Vorstellung, dass wir auf eine Welt zutreiben, in der nur noch Reiche und Mächtige Zugang zu den letzten Resten an intakter Natur haben. Und die
34
Vgl. ebd., 215f.
35
Vgl. ders., Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: ders., Die Spur des Anderen, 185–208, 197.
36
Vgl. K. Ott, Umweltethik zur Einführung, Hamburg 2010, 66f.
37
W. Theobald, Gibt es einen rationalen Kern der Lebensphilosophie Albert Schweitzers?, 177.
38
Vgl. H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
39
A. Krebs, Das Weltbild der Igel, 9.
61
62
Rettende Umweltphilosophie
vielen Anderen ihr Leben in hochtechnisierten Beton- und Agrarwüsten fristen müssen.«40 Wir* brauchen deshalb eine »Ethik der Natur, in deren Zentrum eine Ästhetik der Natur steht, und zwar für alle«41 . Naturerfahrungen sind basal für Menschen: »Ohne die Natur als Resonanzraum mag der Mensch überleben. Doch gedeihen kann er ohne sie nicht.«42 Es ist aber nicht der Blick von uns auf die Natur, der entscheidend ist. Natur besitzt eine eigene Expressivität.43 Wer sich dieser aussetzt, spürt in sich den Wunsch, Anderes möge sein: »Das ästhetische Interesse, das wir an der Natur nehmen, ist nur zu verstehen als ein Interesse, daß es etwas geben soll, das nicht wir selbst sind, mit anderen Worten, daß es weiterhin Werte geben soll, die wir nicht selbst geschaffen haben.«44 Dazu bedarf es der Fähigkeit zu »ästhetischer Kontemplation« (M. Seel), »die nicht-funktional geleitete, aktive Wahrnehmung eines Gegenstandes oder einer Situation«45 . Rettende Umweltphilosophie besitzt ein Bewusstsein davon, dass es kein gutes Leben ohne die Bewahrung außermenschlicher Natur gibt. Ohne sie lässt sich »die gute Existenz des Menschen« nicht gewährleisten.46 Es geht hier nicht darum, den abstrakten wissenschaftlichen Blick gegen die Nähe des Nature Writing und gegen naturästhetische Erfahrungen auszuspielen. Auch der distanzierte Blick der Wissenschaft fordert Anstrengung, dient er doch dazu, eine Sache zu analysieren und zu deuten. Idealtypisch betrachtet verlangt
40
Ebd., 10.
41
Ebd.
42
Ebd., 27.
43
Vgl. A. Weber, Alles fühlt, 22.
44
M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 56.
45
A. Krebs, Naturethik im Überblick, in: dies. (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt 9 2020, 337–379, 370.
46
C. S. Widdau, Umweltethik, 85.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
diese strikte Sachlichkeit eine Unterwerfung unter die Sache, die das Subjekt der Beobachtung (nicht Betrachtung!) relativiert. In gewisser Weise erfordert auch Wissenschaft Demut. Sie ist das Gegenteil von Allwissenheit. Überdies kann Nüchternheit, wie der Philosoph Karl Popper betont hat, »Ausfluss des Respektes vor dem Nebenmenschen« sein, »dem man nichts einreden will oder vorzumachen versucht«.47 Besteht bei der Betrachtung des Nature Writings die Gefahr des Ineinsfallens der eigenen Wahrnehmung mit der vermeintlichen Erkenntnis der wirklichen Wirklichkeit der Natur, so besteht bei der distanzierten Beobachtung die Gefahr, dass die rationale Aufschlüsselung einer Sache schnell in eine Verdinglichung umkippen kann, in der die Sache beherrscht wird. Abstraktion setzt Distanz zur Sache voraus.48 Dabei wird jedoch allzu oft vergessen, dass das vermeintlich Reine Spiegelung einer Subjektivität sein kann, resultierend aus der Gleichmachung des Anderen durch Abstraktion.49 Da Wissenschaftler*innen auch Teil der gesellschaftspolitischen und ökonomischen Zusammenhänge sind, bedarf es einer Veränderung dieser Zusammenhänge, um die dadurch bedingten Verunstaltungen zu überwinden. Deshalb ist Wissenschaft auf Gesellschaftskritik angewiesen.50 Rettende Umweltphilosophie will ein Beitrag sein zur Sensibilisierung für die Gefahr, durch Verobjektivierungen Lebendiges in mechanische Dinge zu verwandeln. Die Überführung des Lebendigen in Totes kann zum Einfallstor einer Nekrophilie avancieren: »Der Nekrophile kann zu einem Objekt – einer Blume oder einem Menschen – nur dann in Beziehung treten, wenn er sie besitzt; daher bedeutet ihm eine Bedrohung seines Besitzes eine Bedrohung seiner selbst; verliert er den Besitz, so verliert er den Kontakt mit der
47
K. Popper, Woran glaubt der Westen?, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 2 1987, 231–254, 233f.
48
Vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 16.
49
Vgl. Th. W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt 1969, 151–168, 157.
50
Vgl. ebd., 158.
63
64
Rettende Umweltphilosophie
Welt. Daher seine paradoxe Reaktion, daß er lieber das Leben als seinen Besitz verlieren würde, obwohl er ja mit dem Verlust seines Lebens aufhört, als Besitzender zu existieren.«51 Angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe ist zu fragen, ob es sein könnte, dass wir* die Katastrophe gar nicht fürchten, »weil [wir] das Leben [gar] nicht lieben; oder weil [wir] dem Leben gleichgültig gegenüberstehen oder sogar weil sich viele vom Toten angezogen fühlen«52 . Oder liegt es daran, dass der »ständige Kampf um den Aufstieg auf der sozialen Leiter und die ständige Furcht zu versagen, (…) einen permanenten Zustand von Angst und Streß [erzeugen], in dem der Durchschnittsmensch nicht mehr über seine persönliche Bedrohung und die der ganzen Welt nachdenkt«53 ? Wenn rettende Umweltphilosophie die Wende zum Besonderen in Analogie zum Nature Writing zu praktizieren versucht, ertönt natürlich sofort der Vorwurf: »Wer einfühlend über Natur schreibt, ist in die Falle des Anthropomorphismus getappt.«54 Diesen Vorwurf kann Goldstein nicht gelten lassen. Er entgegnet: »(…) es gibt eine aufgeklärte Schlauheit, die an Dummheit grenzt.«55 Die Autor*innen des Nature Writings besitzen ein hohes Maß an Selbstreflexivität. Ihr konkreter Blick hilft uns, unseren Blickwinkel zu befragen und zu verändern. Er führt uns weg von einem Subjekt, das wie ein schwarzes Loch alles in sich hineinzieht. Nature Writing will uns mit Natur konfrontieren, aber – und das ist wichtig – mit »Natur als Natur im Medium des Humanen«,56 der menschlichen Sprache. Natur in diesem Sinne hervortreten zu lassen, sei, so Goldstein, eine Kunst.57 Auch eine engagierte Wissenschaft, die melioristisch ist, mithin ein Beitrag zur Weltverbesserung zu sein beansprucht, 51
E. Fromm, Die Seele des Menschen, 37.
52
Ebd., 53.
53
Ebd., FN 7.
54
J. Goldstein, Nature Writing. Die Natur in den Erscheinungsräumen der Sprache, in: Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt, 01/1.2018, 101–114, 106.
55
Ebd.
56
Ebd., 113.
57
Vgl. ebd.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
bedarf dieser Kunst, denn: »Die Welt wird nicht durch Kontrolle besser, sondern durch Teilnahme.«58 Einer Wissenschaft, die sich von diesen Erkenntnissen dispensierte, die sich eines einfühlenden und mitfühlenden Zugangs zur Natur verweigerte, kämen die Wirklichkeit und die Reflexivität abhanden. Und nicht nur das: Eine solche Wissenschaft liefe Gefahr, zu einer Wissenschaft ohne Wissenschaftsethik zu avancieren – eine ungeheuerliche Vorstellung angesichts der Katastrophen und Schrecken im 20. Jahrhundert. Daran müssen engagierte Wissenschaftler*innen immer wieder erinnern.
IV.2 Vom Eigenwert der Natur Bekanntlich haben Wissenschaften auch das Ziel, zu dienen. Oft wird dieser Aspekt anthropozentrisch verengt gedacht. Wissenschaften, die den Eigenwert der Natur anerkennen und erkennen, haben allerdings den Anspruch, nicht nur Menschen zu dienen, sondern auch belebter und unbelebter Natur. Die Rede vom Eigenwert der Natur mag auf den ersten Blick für einen technisch imprägnierten Verstand romantisch klingen. Ein zweiter Blick offenbart allerdings die Enge einer solchen Ratio: »In Deutschland hat der Eigenwert der Natur bereits in mehrere Gesetze Eingang gefunden, so zum Beispiel in das Bayerische Naturschutzgesetz, das Nationalparkgesetz Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und das neue Bundesnaturschutzgesetz.«59 Damit, so hält Martin Gorke fest, »scheint die Einschätzung widerlegt, die Intuition eines Eigenwerts der Natur sei eine Privatmeinung weniger Naturschützer und der Holismus politisch nicht anschlussfähig«60 . Vom Eigenwert der Natur zu reden bedeutet zunächst, »dass eine Entität nicht nur aufgrund ihres materiellen oder immateriellen Nutzens rücksichtsvoll behandelt werden soll,
58
A. Weber, Enlivenment, 13.
59
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 83.
60
Ebd.
65
66
Rettende Umweltphilosophie
sondern um ihrer selbst willen. Da sie somit einen moralischen Status hat, gibt es ihr gegenüber direkte Pflichten.«61 Folglich ist der »Mensch (…) in dieser Gemeinschaft nicht mehr allein, [er] steht nicht mehr nur unter seinesgleichen und möglicherweise nicht mehr an erster Stelle«62 . Auch Anthropozentrist*innen vermögen durchaus den Eigenwert der Natur anzuerkennen, ohne in einen Widerspruch zu geraten. Mit der Anerkennung des Eigenwerts der Natur geht ja die Forderung einher, dieser respektvoll zu begegnen und sie zu schützen. Und verlangt nicht gerade der Schutz der Natur, dass der Mensch seine Verantwortung wahrnimmt, sich nicht kleinmacht, um sich aus der Affäre zu ziehen? Vertreter*innen eines schwachen Anthropozentrismus sehen das so. Aus diesem Grund komme dem Menschen deshalb im Blick auf seine Verantwortung eine priorisierte Stellung zu. Dieser dürfe er sich nicht entledigen. Ein solcher Anthropozentrismus um der Natur willen kann durchaus ein Anthropozentrismus wider Willen sein. Als solcher besitzt er sowohl ein Anerkennungs- als auch ein Rettungspotenzial im Blick auf den Eigenwert der Natur. Aber selbst innerhalb eines schwachen Anthropozentrismus bleibt der Mensch an sich gekettet. Auch wenn die Wahrnehmung der Bedrohung der Natur der Ausgangspunkt der Verantwortungsübernahme ist, so bleibt der Mensch letztlich Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Er definiert die Situation. Er bedenkt die Handlungsmöglichkeiten. Er setzt sie um. Dadurch wird der Mensch aber wieder in seiner Macht bestätigt. Dabei käme es doch darauf an, diese Macht radikal zu befragen und aufzubrechen. So bleibt schließlich auch dieser Anthropozentrismus in seiner Dezentrierung des Menschen eingeschränkt, weil er im Letzten auf den Menschen beschränkt bleiben muss. Die Erfahrung des Anspruches der Andersheit und Anderheit in Natur, die das Selbst entmachtet und erst so in eine radikale Verantwortung ruft, die jegliche Souveränität des Menschen unterläuft, steht dazu im Widerspruch. Aber lässt sich Umweltethik ohne einen zumindest »epistemischen Anthropozentrismus« denken?
61
Ebd., 21.
62
C. S. Widdau, Umweltethik, 92.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
Muss nicht vorausgesetzt werden, dass nur der Mensch in der Lage sei, »das moralisch Angemessene [zu] bestimmen«63 ? In der Tat: Wenn wir* von uns ausgehen, scheint das unausweichlich zu sein. Allerdings muss eine solche Erkenntnis- und Urteilsfindung keineswegs als anthropozentrisch bezeichnet werden. Dafür lassen sich auch andere Begriffe finden, etwa der der Anthroponomie (G. M. Teutsch).64 Eine alteritätsphilosophisch grundierte Umweltphilosophie setzt jedoch anders an: Sie beginnt mit einer Erschütterung, die die Macht des Menschen aussetzt und somit für die tiefen Anliegen belebter und unbelebter Natur öffnet. Solche Erschütterungen lösen das Selbst von sich, ziehen es auf einen Weg, der nicht zu ihm zurückführt. Anthropozentrismus, egal welcher Couleur, bleibt immer eine Immunisierungsstrategie gegen die Erfahrung der Antlitze in der Natur. Mit den teleologischen Biozentrist*innen teilt rettende Umweltphilosophie die Erkenntnis, »dass jedes Lebewesen allein schon aufgrund seiner bloßen Existenz als Lebewesen etwas ist, das eigene Zwecke verfolgt, die zu seinem Wohl beitragen. Dabei sei es moralisch gesehen nicht wichtig, ob es über Bewusstsein, Schmerzempfindsamkeit oder Leidensfähigkeit verfügt. Es ist allein schon deshalb ein moralisches Objekt und keine Sache, weil es selbst ihm wohltuende Zwecke verfolgt.«65 Hösle zufolge besitzt das Natürliche eine »innere Zweckmäßigkeit«, die dem Prinzip der Selbstbestimmung ähnlich sei.66 Daraus resultiert das »Prinzip des Nicht-Schadens« belebter Natur, dem auf Seiten der unbelebten Natur das »Prinzip des Nicht-Einmischens« korrespondiert.67 Das bedeutet für unser Handeln im Blick auf die lebendige Natur:
63
Ebd., 94f.
64
Den Hinweis verdanke ich: Gorke, Eigenwert der Natur, 29.
65
C. S. Widdau, Umweltethik, 105.
66
Vgl. V. Hösle, Ökologische Krise, 74.
67
Vgl. M. Gorke, Eigenwert der Natur, 119–125.
67
68
Rettende Umweltphilosophie
»Räuber-Beute-Verhältnisse, Parasitismus und Insektenkalamitäten sind grundlegende Gegebenheiten des Naturgeschehens. Respekt gegenüber der Natur kann deshalb nur heißen, darauf zu verzichten, zwischen schlechten und guten, wertvollen und wertlosen Arten zu unterscheiden. Sind andere ethisch relevante Gesichtspunkte nicht mit im Spiel – (…) sollen wir uns bei den Auseinandersetzungen der zahlreichen Individuen und Populationen grundsätzlich neutral verhalten.«68 Dazu hilft es, an die Stelle einer »Spezies-Rangordnung« eine »Rangordnung von Handlungsoptionen« zu setzen.69 Handlungsleitend ist dabei die egalitaristische Perspektive. Gorke markiert den Unterschied anhand der Differenz zwischen einem relativen, hierarchischen Biozentrismus und einem absoluten, egalitaristischen Biozentrismus: »Eine hierarchische biozentrische Ethik zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine Wertrangordnung aller Lebewesen postuliert. (…) Vertreter einer egalitaristischen Biozentrik lehnen eine solche Differenzierung des Eigenwertkonzeptes ausdrücklich ab. Bei ihnen stellt der Zielkonflikt zwischen den Ansprüchen der Natur und den Interessen des Menschen ein ethisches Dilemma dar, das – wenn überhaupt – nur anhand mehrerer, auch kontextbezogener Handlungskriterien aufgelöst werden kann.«70 In diesem Zusammenhang weist Gorke auf die Unmöglichkeit hierarchischer Distinktionen im Tierreich hin: »Deutlich wird dies, wenn man etwa Bienen mit Tintenfischen vergleicht. Bienen zeigen einen höheren Standard an sozialer Organisation als Tintenfische, aber Tintenfische sind den Bienen hinsichtlich ihrer Lern- und Gedächtnisfähigkeit überlegen. Es ist unmöglich zu sagen, wer von beiden ›höher organisiert‹ ist.«71
68
Ebd., 123.
69
So Gorke im Anschluss an W. C. French (ebd., 164).
70
Ebd., 152.
71
Ebd., 153.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
Andreas Weber zeigt in seiner »Schöpferischen Ökologie«72 , dass Pflanzen nicht nur Zwecke im funktionalen Sinne verfolgen. Aus biologischer Sicht ist festzuhalten, dass »[j]edes Pflänzchen (…) eigene Präferenzen«73 hat. Auch eine Zelle ist kein »Maschinencode«, »sondern eher wie ein Notenblatt, das die Zelle je nach Zustand ganz unterschiedlich instrumentieren kann«.74 Die Zelle trifft diese Entscheidung nicht nur unter funktionalen Gesichtspunkten, da sie, wie Weber schreibt, »Gestalt gewordene Empfindung«75 sei. Angestrebte Zwecke treten in den Blick, wenn »Poesie und Expressivität aus der Natur [nicht] ausgeklammert«76 werden. Es gibt in der Natur nicht nur funktionale Zwecke, in ihr lässt sich auch das »Prinzip der Selbstbewegung«77 finden. Und in dieser Bewegung offenbart sich so etwas wie subjektive Bedeutung, die als Empfindung zu deuten ist78 : »Statt durch elektrische Nervenimpulse kommunizieren die Zellen pflanzlicher Gewebe mittels Botenstoffen. Das sind Moleküle, die in den feinen Äderchen der Gewächse mit dem Körpersaft verdriften oder die Blätter als Gas verlassen. Auf diesem Weg kann auch die Vegetation um Hilfe rufen: Schon wenige Sekunden nachdem der Spross einer Pflanze hoch über der Erde verletzt worden ist, überrollt die Wurzelspitze tief im Boden eine Kaskade solcher Alarm-Moleküle. (…) Pflanzen spüren sogar Berührungen. (…) Sprösslinge schmecken Nährstoffe mit ihrer Wurzelspitze, Maispflänzchen riechen mit ihrer Oberfläche Warnsubstanzen, die ihre Nachbarn als Gas freisetzen, sobald sie von Parasiten befallen werden.«79
72
A. Weber, Alles fühlt, 40.
73
Ebd., 75.
74
Ebd., 31.
75
Ebd., 53.
76
Ebd., 22.
77
Ebd., 40.
78
Vgl. ebd., 53.
79
Ebd., 74.
69
70
Rettende Umweltphilosophie
Die lebenden Organismen können als »Nervenzellen eines Ökosystems« bezeichnet werden.80 Insofern sind »(…) die Tiere und Pflanzen, die Bakterien und Pilze in einem buchstäblichen Sinne die ›Gedanken der Natur‹«81 . Weber spricht von »Seele«, davon, »dass etwas den Organismus zusammenhält, was nicht allein den Anziehungs- und Abstoßungskräften der Atome entspringt, sondern der Sorge um seine Fortexistenz. ›Seele‹ heißt Betroffenheit – und genau deren Empfindung ist uns bekannt. ›Seele‹ heißt Innerlichkeit, und es ist diese, die wir mit den anderen Wesen gemeinsam haben, in wie geringem Maße auch immer. Gewiss ist fremde Innerlichkeit nicht von den menschlichen Begriffen und Gefühlen wie Erfolg und Verlust, Trauer und Triumph durchdrungen. Was wir aber mit anderen Wesen teilen, ist das Bangen um die Existenz, das den Kern jedes ›autonomen Akteurs‹ ausmacht. Worin wir ihnen gleichen, ist die verletzliche Außenseite, in der sich diese Innerlichkeit ausdrückt.«82 Deshalb gilt: »Wie das Antlitz eines menschlichen Gegenübers wird die ganze Natur für mein Ich zu einem Du.«83 Dennoch wird in naturethischen Debatten von Philosoph*innen immer wieder ein epistemischer Wertanthropozentrimus vertreten. Die Vorstellung, dass Werte mit den Menschen in die Welt kommen, ist weit verbreitet.84 Hier nimmt die rettende Umweltphilosophie einen Paradigmenwechsel vor. Sie steht für einen »epistemischen Wertphysiozentrismus«, der »an die Existenz von Werten in der Natur [glaubt], die unabhängig von der Existenz wertender Menschen sind. Während der epistemische Wertanthropozentrismus alle Werte als relational, als Werte für den Menschen begreift, gibt es für den epistemischen
80
Ebd., 65.
81
Ebd.
82
Ebd., 72.
83
Ebd.
84
Vgl. A. Krebs, Naturethik, 343.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
Wertphysiozentrismus absolute Werte (von lat. ›absolvere‹ = loslösen, auch sogenannte nicht-relationale, inhärente, objektive, nicht-personale, nicht-anthropogene, naturalistische Werte).«85 Wenn der Mensch Natur bewertet, dann heißt das nicht, dass diese an sich keinen Wert besitzt. Ja, es »gibt eine Regung im Betrachtenden; doch wertgeschätzt wird das Betrachtete«86 . Existieren die Werte in dieser Wertschätzung nur, weil ein Mensch sie vollzieht? Sind die Werte, die beispielsweise einem Baum zugesprochen werden, rein subjektiv, im Wertschätzenden grundgelegt, oder existieren sie objektiv, befinden sie sich im Baum?87 Ist das Intrinsische relational grundiert?88 Wer so denkt, knüpft Werthaftigkeit immer an das Interesse des Wertschätzenden,89 schließt dabei aber nicht unbedingt aus, dass etwa Pflanzen durchaus ein Interesse an ihrem funktionalen Wohl besitzen.90 Der Philosoph Holmes Rolston kritisiert ein restriktives Verständnis, das unterstellt, alle Werte würden »im subjektiven Erleben«, »in menschlichen Optionen und Präferenzen« gründen, als »subjektivistischen Fehlschluss«.91 Er gibt folgendes zu bedenken: »Vielleicht kann es keine Wissenschaft ohne Wissenschaftler geben, keine Religion ohne Gläubigen und kein Jucken ohne Gejuckten. Aber es gibt Gesetze ohne Gesetzgeber, Geschichte ohne Historiker, Biologie ohne Biologen, Physik ohne Physiker, Kreativität ohne Schöpfende, Geschichten ohne Erzähler, Leistung ohne Leistende – und Werte ohne Wertende. Empfindungsfähige wertende Wesen sind nicht notwendig für Werte. Ein Werte-generierendes System reicht dafür aus. Wenn man will, ist das eine andere Be-
85
Ebd., 344.
86
H. Rolston III, Werte in der Natur und die Natur der Werte, in: A. Krebs (Hg.), Naturethik, 247–270, 248.
87
Vgl. ebd.
88
Vgl. ebd., 249.
89
Vgl. ebd., 251.
90
Vgl. ebd., 253.
91
Ebd., 256.
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Rettende Umweltphilosophie
deutung von Werthafigkeit; ein x ist werthaft, wenn x fähig ist, Werte zu erzeugen.«92 An anderer Stelle schreibt er: »Es ist nicht wahr, daß aller Wert in entweder menschlichen oder nichtmenschlichen intrinsischen Werten gründet, zu denen alles andere nur beiträgt. Werte sind intrinsisch, instrumentell oder systemisch, und alle drei Werttypen sind miteinander verbunden, keiner ist wichtiger als die anderen, obwohl der systemische Wert grundlegend ist. Jeder Ort intrinsischen Wertes wird durch ein System von instrumentellem Wert umgeben und umgekehrt. Es gibt keine intrinsischen oder instrumentellen Werte ohne die umgebende systemische Kreativität. Es wäre dumm, die goldenen Eier zu schätzen und die Gans, die sie legt, zu verachten. Eine Gans, die goldene Eier legt, ist systemisch wertvoll. Wieviel wertvoller muss dann ein Ökosystem sein, das Myriaden von Spezies hervorbringt, oder gar (…) eine Erde, die Milliarden von Spezies, uns eingeschlossen, erzeugt.«93 Deshalb bezeichnet Rolston die Erde als »werthafte Erde«: »Die Erde ist vielleicht nicht der einzige Ort, auf dem Werthaftes existiert, das von Menschen intrinsisch oder instrumentell geschätzt werden kann, aber es ist der einzige Ort, der fähig ist, Leben zu erzeugen, bevor Menschen auftreten.«94 Und so stellt er resümierend fest: »(…) die Erde ist der Urwert der Welt. Die Kreativität im System der Natur, die auch in uns wirkt, und die Werte, die sie erzeugt, sind der Grund unseres Seins, nicht bloß der Grund unter unseren Füßen. Vielleicht ist die Erde der Urgrund aller Pflichten (…).«95 In diesem Sinne sei die »Ganzheit der Natur« als »Träger moralischer Werte« anzuerkennen.96 Rolston vertritt einen »radikalen
92
Ebd., 269.
93
Ebd., 264.
94
Ebd., 265.
95
Ebd., 268.
96
A. Krebs, Naturethik, 342.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
Physiozentrismus«97 , der davon ausgeht, dass Natur eigene Zwecke setzt. Aber auch Rolston verneint nicht, dass Menschen »die einzigen wertenden Wesen sind, die darüber reflektieren können, was im globalen Maßstab vor sich geht, und die bedenken können, was sie zur Erhaltung des Ganzen tun sollten«98 . Menschen konstruieren Maßstäbe des Handelns, aber sie »konstituieren nicht Wert«.99
IV.3 Wider den Ökofaschismus Rettende Umweltphilosophie ist wertphysiozentrisch; sie kennt aber keine »absolute Wertordnung der Natur«, die »als verbindliche Instanz für den menschlichen Umgang mit der Natur und letztlich auch für die zwischenmenschliche Praxis anerkannt werden«100 kann. Einen ökozentrischen Wertphysiozentrismus, für den letztlich nur das Gesamtsystem einen Eigenwert besitzt, lehnt sie strikt ab.101 Ihre Forderung nach Singularisierung ist Einspruch gegen die Nivellierung der einzelnen Existenz. Der Philosoph Christoph Sebastian Widdau erläutert Ökozentrismus folgendermaßen: »Das griechische Wort oĩkos bedeutet ›Haus‹ oder ›Haushaltung‹. Würde man es wörtlich verstehen, dann würde es im Ökozentrismus also um ein Haus gehen, das im Mittelpunkt steht. Doch ist dies nicht gemeint. Es geht nicht um das Haus, das Menschen errichten, um darin zu wohnen. Es geht, im übertragenen Sinn, um das ›Haus der Natur‹ oder um ›Häuser der Natur‹. Was heißt das? Für den Ökozentrismus steht das Systemisch-Überindividuelle der außermenschlichen Natur, wie ein See oder ein Wald, im Mittelpunkt des ethischen Interesses.«102
97
Ebd.
98
H. Rolston III, Werte in der Natur, 269.
99
Ebd., 269f.
100 A. Krebs, Naturethik, 347. 101
Vgl. M. Gorke, Eigenwert der Natur, 23.
102 C. S. Widdau, Umweltethik, 112.
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Rettende Umweltphilosophie
Daraus folgt: »Wenn Lebewesen ohne das ›Haus‹ nicht sein können, dann muss laut den Vertretern des Ökozentrismus das ›Haus‹ selbst moralisch geachtet werden und ihm ist sogar manchmal der Vorrang gegenüber anderen moralischen Objekten einzuräumen.«103 Das bedeutet also, dass »Ökosysteme (…) selbst moralische Objekte [sind]. Und mehr noch: Sie sollen manchmal prioritär, also vor allem anderen moralisch geachtet werden.«104 Ein solcher Ökozentrismus kann schnell in einen Ökofaschismus umkippen, für den es generell erlaubt ist, Individuen und Arten zu eliminieren, wenn sie das »Ökosystem« bedrohen.105 Der Wert des einzelnen Individuums wird dann nur noch anhand seiner Funktionalität für das Ganze bestimmt. Daran hängt sein Überleben. Sobald seine Existenz nicht mehr mit dem Ganzen kompatibel ist, droht seine Preisgabe.106 Gerade heute breitet sich wieder ein rechtsextremes Umweltbewusstsein aus, dessen Naturverständnis auf bestimmte Arten und bestimmte Orte fixiert ist.107 Maßgeblich beeinflusst wurde diese Ideologie durch Naturdeutungen engagierter Naturschützer wie Madison Grant. Grant promovierte 1887 in Yale, absolvierte die Columbia Law School, war »Mitbegründer des Bronx Zoos in New York und mehrerer Organisationen, die sich unter anderem für den Schutz des Bisons und des Küstenmammutbaums einsetzten«.108 Adolf Hitler verehrte Grant.109 Wen wundert’s, sah Grant doch in den Erscheinungsformen der Natur, die es seines Erachtens zu bewahren galt, »aristokratische Eigenschaften«.110 Der Schutz des nichtmenschlichen Lebens bezog sich deshalb nur auf solche Arten, 103
Ebd.
104 Ebd., 113f. 105
Vgl. M. Gorke, Eigenwert der Natur, 24.
106 Vgl. ebd. 107
Vgl. S. Moore/A. Roberts, The Rise of Ecofascism. Climate Change and the Far Right, Cambridge 2022, 10.
108 J. Purdy, Die Welt und wir. Politik im Anthropozän, Berlin 2020, 134. 109 Vgl. ebd., 135. 110
Ebd., 136.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
die in den Augen Grants diese Nobilität besaßen.111 »Die Natur, die diese Männer liebten, war jene, die ihnen das köstliche Gefühl ihrer realen sozialen und imaginären ethnischen Überlegenheit einflößte«.112 Dieses Verständnis von Umweltschutz war unmittelbar in die politischen Verhältnisse verstrickt: »Der Schrecken des ›Verfalls‹ durchzog Grants Schriften ebenso wie das Konzept der ›invasiven Arten‹. Aber nicht nur die Hirsche hielt Grant für verkommen, und nicht nur Tiere und Pflanzen hielt er für invasiv. Er setzte sich auch vehement – und erfolgreich – dafür ein, einen Großteil der südeuropäischen Einwanderung in die USA durch racial quotas des Einwanderungsgesetzes von 1924 zu stoppen. Auf der Grundlage der Volkszählung von 1890 wurde die Zahl der Einwanderer, insbesondere polnische[r] Juden, Griechen und Italiener, streng begrenzt. Die asiatische Einwanderung wurde praktisch gestoppt. Diese Bemühungen verstand er als Formen des Umweltschutzes.«113 Hier konnten ökofaschistische Gewaltfantasien unmittelbar anknüpfen. Dennoch, so der Rechtswissenschaftler Jedediah Purdy, sollte Grant nicht als Faschist tituliert werden, sei doch der »Massenvereinigungsgedanke« des Faschismus, »ebenso (…) die Entwicklung einer alles bestimmenden Idee der einheitlichen Rasse« schwer mit seinem Weltbild vereinbar gewesen.114 Ein Blick auf den »botanischen Rassenforscher«115 Ernst Lehmann lässt die Unterschiede deutlich werden. Für den mit dem Nationalsozialismus identifizierten Biologen Ernst Lehmann, der an der Universität Tübingen lehrte und 1952 »re111
Vgl. ebd.
112
Ebd., 137.
113
S. Moore/A. Roberts, Ecofascism, 37.
114
Ebd., 38.
115
T. Potthast/U. Hoßfeld, Vererbungs- und Entwicklungslehren in Zoologie, Botanik und Rassenkunde/ Rassenbiologie an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus, in: U. Wiesing/K. R. Brintzinger/B. Grün/H. Junginger/ S. Michl (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, 435–482, 449–452.
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Rettende Umweltphilosophie
gelgerecht emeritiert« wurde,116 war die Biologie eine »politische« Wissenschaft, das heißt eine »rassisch, völkisch und nationalsozialistisch bedingt[e] und ausgerichtet[e]«117 Wissenschaft: »Wir haben erkannt, daß eine Loslösung des Menschen aus der Natur zu seiner Vernichtung und zum Tode der Völker führt. Nur durch Wiedereingliederung des Menschen in das Naturganze kann unser Volk zum Erstarken gebracht werden. (…) Nicht der Mensch allein steht mehr im Mittelpunkt des Denkens, sondern das Leben als Ganzes, wie es sich in allen Lebewesen auf der Erde offenbart.«118 Der »Kulturmensch« habe sich von seinen Instinkten entfernt, während der »primitive Mensch« noch natürlicherweise instinktverbunden sei.119 Es komme nun darauf an, die noch vorhandenen Urinstinkte wachzurufen, sie aber gleichzeitig zu kanalisieren, ansonsten stünde das Ende der Kultur bevor. Das Instrument dazu sei die Biologie.120 Movens der nationalsozialistischen Bewegung sei der »biologische Wille«, der mit den Jugendbewegungen aufgestanden sei.121 Auf dieser Basis wird eine Idee von Naturschutz entworfen, die das Volk durchdringen müsse.122 Der von Lehmann beschworene biologische Wille ist Ausdruck eines nazistisch rassifizierten Holismus, der die Welt manichäisch wahrnimmt und die Natur in »lebenswert« und »lebensunwert« aufspaltet.123 Rechtsextremes Umweltbewusstsein »behauptet strikte rassistische Hierarchien der Sorge um, des Zugangs zu, der Macht über und der Stellungen in der Natur«124 . Angefeuert werden ökofaschistische Bewegungen durch Krisen. Teilweise versuchen sie diese selbst zu 116
Vgl. ebd.
117
E. Lehmann, Der biologische Wille, München 1934, 12.
118
Ebd., 10f.
119
Vgl. ebd., 11.
120 Vgl. ebd. 121
Vgl. ebd., 26
122
Vgl. ebd., 44f.
123
Vgl. ebd., 11.
124
S. Moore/A. Roberts, Ecofascism, 26.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
beschleunigen. Angesichts der Bedrohung, die von ihnen gerade im Zeitalter der ökologischen und klimatischen Katastrophe ausgeht, stellen Sam Moore und Alex Roberts folgende Forderung auf: »Wenn der Antifaschismus entschlossen antifaschistisch sein will, muss er sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen. Wenn der Umweltschutz die Krisen des Klimawandels gerecht lösen will, muss er antifaschistisch sein.«125 Rettende Umweltphilosophie knüpft hier an, versteht sich als antifaschistisch und fordert in der Klimapolitik ein entschlossenes Handeln gegen Umweltrassismus. Umweltrassismus wurde erstmals 1982 zum Politikum: »Der Bundesstaat North Carolina in den USA entschied sich im Jahr 1982 dafür, mit Polychlorierten Biphenylen (PCB) verseuchte Erden in der kleinen Stadt Afton zu entsorgen. Afton liegt im Warren County, damals einer der ärmsten Landkreise in North Carolina, mit einem Schwarzen Bevölkerungsanteil von 65 Prozent. Eine Bürgerinitiative im weißen Teil der Stadt konnte den Bau der Giftmülldeponie in ihrer Gegend abwenden. Die Schwarze Bevölkerung von Afton hingegen kämpfte mehr als drei Jahre gegen den Bau der Giftmülldeponie – zuerst vor Gericht, dann mit Sitzblockaden und Demonstrationen. Allein während des längsten, sechswöchigen Protests wurden mehr als 500 Demonstrant*innen verhaftet. Die juristischen und aktivistischen Bemühungen konnten den Bau der Mülldeponie nicht verhindern, aber sie dienten Schwarzen Nachbarschaften in den USA vielerorts als Vorbild für weitere Proteste und gelten daher gemeinhin als Startpunkt der Umweltgerechtigkeitsbewegung.«126
125
Ebd., 197.
126
I. Ituen/L. T. Hey, Der Elefant im Raum – Umweltrassismus in Deutschland, Berlin, 2021, 4. Ein weiteres Beispiel für Umweltrassismus: die Vergiftung von 100.000 Menschen in Flint, Michigan: https://www.sueddeutsche.de/ panorama/verseuchtes-wasser-flint-im-us-bundesstaat-michigan-100-00 0-menschen-vergiftet-1.2827781 (abgerufen am 11.04.2023). Ich verdanke diesen Hinweis Anne Specht.
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Rettende Umweltphilosophie
Gegen den Umweltrassismus bringen die Sozialwissenschaftlerinnen Imeh Ituen und Lisa Tatu Hey die anti-rassistische Forderung in Anschlag, das »NIMBY«-Prinzip (Not in my Backyard!) durch das »NIABY«-Prinzip (Not In Anyone’s Backyard!) zu ersetzen.127 Nur so würde es gelingen, marginalisierte Gruppen vor Umweltrisiken zu schützen.128 Im Kampf gegen Ökofaschismus und Umweltrassismus reicht es nicht aus, sich in ein neues Verhältnis zur Natur zu setzen, gleichzeitig bedarf es eines neuen Verhältnisses zur Geschichte, das insbesondere das Gewicht der Opfer kolonialer Vernichtung, Unterdrückung, Gewalt und Terror spürbar werden lässt. Rettende Umweltphilosophie steht in diesem Sinne für eine »anamnetische Solidarität«129 , die sich nicht nur auf die Gegenwart und Zukunft erstreckt, sondern auch auf die Vergangenheit.130 Der Ökologe Gary Nabhan warnt vor einer »restoration« ohne »re-story-ation«, »Rückvergeschichtung«131 . Es kommt also darauf an, Geschichten zu erzählen, in denen davon Zeugnis abgelegt wird, was anderen Menschen, anderen Lebewesen, dem Land … angetan wurde. Aber diese Zeugnisse erzählen auch von einem anderen Leben der Zerstörung zum Trotz.132 Für den extraktivistischen Kapitalismus ist diese Solidarität bedrohlich, weil sie in Erinnerungen wurzelt, die ihm gefährlich werden können.133 In den erinnerten Geschichten werden Lebensformen jenseits des Extraktivismus eingeklagt, die rassifizierte Hegemonien aufbrechen und nicht reproduzieren. Von hier aus wäre auch Albert Schweitzer kritisch zu befragen: Warum
127
Vgl. ebd., 5.
128
Vgl. ebd.
129
C. Lenhardt, Anamnestic Solidarity: The Proletariat and its Manes, in: Telos 25/26, Fall 1975, 133–154.
130
Vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1984, 204.
131
G. Nabhan zit. n.: R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, 19.
132
Vgl. ebd.
133
Der Begriff »gefährliche Erinnerung« stammt von Johann Baptist Metz: J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 77–86.
IV. Zurück zu den Sachen selbst: die Natur
erwähnte er die Judenvernichtung nicht in seiner Friedensnobelpreisrede, aber sehr wohl die Vertreibung der Deutschen?134 Wie verhält sich sein «benevolenter, ja rassistischer Paternalismus«135 zur Maxime der «Ehrfurcht vor dem Leben«? Angemerkt sei auch, dass der Kult um seine Person vielen Deutschen in der Nachkriegszeit als Mittel zur Exkulpation diente.136 All diese Facetten sind zu berücksichtigen, wenn es darum geht, eine rettende Umweltphilosophie anzudenken, die einer antifaschistischen Ehrfurcht vor dem Leben entspringt. Der Holismus der rettenden Umweltphilosophie besitzt ein Sensorium für Gebrochenheiten, Verletzbarkeiten und Entzweiungen und widersteht Versuchen, individuelle Existenzen dem Ganzen preiszugeben.
134
Vgl. A. Eckert, Der beste deutsche Tropenwald, den es je gab. Albert Schweitzer, Lambaréné und der Kolonialismus, in: Merkur 889 (2023), 63–69, 66.
135
Ebd., 68.
136
Vgl. ebd. 67.
79
V. Seinsethik
V.1
Schwache Ontologie
Rettende Umweltphilosophie steht für eine anti-totalitäre holistische Ethik. Für sie sind »nicht nur Menschen, sondern auch alle Tiere, Pflanzen, Berge, Flüsse, Arten, Ökosysteme und der Planet Erde als Ganzes unmittelbar Gegenstände von Moral«1 . Bereits Schweitzer bezog die unbelebte Natur ein: »Das Wesen des Willens zum Leben ist, daß er sich ausleben will. Er trägt den Drang in sich, sich in höchstmöglicher Vollkommenheit zu verwirklichen. Im blühenden Baum, in den Wunderformen der Qualle, im Grashalm, im Kristall: überall strebt er danach, Vollkommenheit, die in ihm angelegt ist, zu erreichen.«2 Dem Holismus rettender Umweltphilosophie liegt eine durch den Anspruch der Andersheit und Anderheit gebrochene »Seinsethik«3 zugrunde. Diese gründet nicht in einer starken Ontologie, die uns erklärt, wie die Welt ist.4 Sie entspringt einer »schwachen Ontologie«5 . In diesem Verständnis des Seins erscheint der Mensch als ein Mitgeschöpf, das durch Sprache, Sterblichkeit, Geburtlichkeit, Verletztlichkeit u.ä. gekennzeichnet ist, ein Mitgeschöpf, das sich nicht besitzt, sondern sich
1
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 9.
2
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 4805.
3
B. Sitter-Liver, »Ehrfurcht vor dem Leben«, 239.
4
Vgl. S. K. White, Sustaining Affirmation. The Strength of Weak Ontology in Political Theory, Princeton 2000, 6.
5
In Anlehnung an ebd., 8.
82
Rettende Umweltphilosophie
selbst immer wieder neu innerhalb aktueller Figurationen verstehen muss: »Diese Figurationen sind Darstellungen dessen, was es heißt, eine bestimmte Art von Geschöpf zu sein: erstens eines, das in die Sprache verstrickt ist; zweitens eines, das sich bewusst ist, dass es sterben wird; drittens eines, das trotz seiner Verstrickung und Begrenztheit die Fähigkeit zu radikaler Neuheit besitzt; und schließlich eines, das sich selbst vor einem letztgültigen Hintergrund oder einer ›Quelle‹ definiert, mit der wir uns immer schon verbunden fühlen und die so etwas wie Ehrfurcht, Staunen oder Verehrung hervorruft.«6
V.2
Sympoiesis
Diese Seinsethik kennt keine Zentrik. Sie ist nach-anthropozentrisch, aber sie ist nicht posthuman.7 Es geht ihr um die Dezentrierung des Menschen, nicht um seine Abschaffung. Eine solche nachanthropozentrische Perspektive zielt auf »ein besseres Verständnis und davon ausgehend, auch [auf] bessere Ausgestaltungen dessen, was es heute heißt, ›Mensch‹ zu sein. Vulnerabilität und Sterblichkeit sind dabei wichtige Faktoren, denen Rechnung zu tragen ist.«8 Diese Seinsethik besitzt ein besonderes Sensorium für Alterität: die Anerkennung Anderer in ihrer Andersheit und Anderheit. So verpflichtet sie als Anerkennung der Andersheit zur gleichen Achtung allem gegenüber, ohne jedoch alles gleich zu werten und zu behandeln.9 Seinsethik besitzt eine Empfindlichkeit für Differentes, das dieses in der Differenz – in dem Anderssein – anerkennt.10 Für die Anerkennungshermeneutik, die der rettenden Umweltphilosophie zugrunde liegt, ist das Erkenntnisaxiom »Nur Anderes
6
Ebd.
7
Vgl. dazu: J. Manemann, Kritik des Anthropozäns, 89–107.
8
K. Hoppe, Donna Haraway, 128.
9
Vgl. B. Sitter-Liver, »Ehrfurcht vor dem Leben«, 246.
10
Vgl. ebd.
V. Seinsethik
erkennt einander« leitend.11 Diese Hermeneutik geht mit Andreas Weber davon aus, dass wir* »[n]ur in den Augen eines anderen Wesens (…) selbst ein lebendiges Wesen werden [können]«; dass wir* »den Blick des völlig Unbekannten« brauchen.12 Aber sie unterscheidet sich auch von Weber, der diesen Blick als Blick in einen Spiegel interpretiert. Dadurch wird das Anerkennungsgeschehen unterlaufen. Anerkennung kippt um in Selbstwahrnehmung und läuft Gefahr, zur Selbstbespiegelung zu regredieren: »Nur im Spiegel anderen Lebens können wir uns selbst verstehen. Wir brauchen den Blick des Allerfremdesten. Den Blick des Tiers. Den Blick des stummen Molchs. Nur er eröffnet jene Tiefen in uns, die sonst für immer verschlossen blieben. Wir brauchen das Erlebnis, dass etwas Inneres vor uns steht, etwas, das sich zugleich als verletzlicher Körper zeigt. Wir brauchen die anderen Organismen, denn sie sind das, was auch wir sind, was wir aber nicht sehen können, weil wir es sind.«13 Schweitzer geht anders vor. Seine Philosophie nimmt ihren Ausgang nicht bei Spiegelungen, sondern bei dem Widerfahrnis der »Ehrfurcht vor dem Leben«. Am Beginn des Denkens steht für ihn die Anerkenntnis – die Anerkennung einer Tatsache durch tatsächliches Verhalten – des Willens zum Leben, den ich in mir entdecke und bei anderen.14 Es ist einzig dieser Wille, »der sich (…) im anderen wiedererkennt«15 und gleichursprünglich in die Verantwortung für Andere zieht. Eine alteritätsbasierte rettende Umweltphilosophie, die die Andersheit und Anderheit anerkennt, steht quer zu Spiegelungen. Darin unterscheidet sie sich auch von der Tiefenökologie, die »der
11
Formuliert in Anlehnung an: J. B. Metz, Theologie gegen Mythologie. Kleine Apologie des biblischen Monotheismus, in: Herder Korrespondenz, 4 (1988), 187–193, 190.
12
A. Weber, Enlivenment, 138.
13
Ders., Alles fühlt, 34.
14
Vgl. M. Hauskeller, Verantwortung für alles Leben?, 217f.
15
Ebd., 218.
83
84
Rettende Umweltphilosophie
Andersartigkeit und auch der Fremdheit von Natur nicht gerecht«16 wird. Die Philosophin Val Plumwood zeigt auf, dass »die Hauptströmungen der Tiefenökologie« dazu tendieren, »sich ausschließlich auf Identifikation, Verbundenheit, Gleichheit und die Überwindung der Trennung zu konzentrieren und die Natur als eine Dimension des Selbst zu behandeln«17 . Plumwood spricht sogar vom »Tod des Anderen im theoretischen Rahmen der Tiefenökologie«18 . Seinsethik steht für eine »artübergreifende ethische Praxis«19 . Sie macht keinen Wertunterschied zwischen Lebenden als Lebenden, doch sie erkennt und anerkennt Differenz. Stets ist Wachsamkeit geboten, da unsere Wahrnehmungen der Beziehungsverhältnisse immer auch von Machtasymmetrien geprägt sind. Um diese sichtbar zu machen und aufzusprengen, werden nichtmenschliche Kreaturen und unbelebte Natur in der rettenden Umweltphilosophie als »Gefährt*innen«20 wahrgenommen. Rettende Umweltphilosophie kennt mithin keine Artenspezies, sondern »Gefährt*innenspezies«.21 Leben ist für sie ein »Mit-Werden« und »GemeinsamMachen«.22 Es geht also um »Sympoiesis«23 : »nichts [ist] wirklich autark (…) und nichts [kann] sich selbst produzieren«.24 Sympoiesis
16
Y. H. Hendlin, Art.: »Tiefenökologie«, in: Umweltethik, 195–202, 200. Ebenso wenig teilt rettende Umweltphilosophie die Skepsis gegenüber der Ethik, die die Tiefenökologie auszeichnet (ebd., 196). Normative Ethik wird in der rettenden Umweltphilosophie keineswegs überflüssig (vgl. ebd., 198), auch die Perspektiven zur »Überbevölkerung« werden nicht geteilt.
17
V. Plumwood, Feminism and the Mastery of Nature, London/New York 1993, 174. Vgl. auch: Y. H. Hendlin, Art.: Tiefenökologie, 200.
18
V. Plumwood, Feminism and the Mastery of Nature, 174.
19
B. Sitter-Liver, »Ehrfurcht vor dem Leben«, 247.
20
D. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt/New York 2018, 134.
21 22
K. Hoppe, Donna Haraway, 16. D. Haraway, Making Kin in the Chthulucene: Reproductive Multispecies Justice, in: A. E. Clarke/dies. (Hg.), Making Kin not Population, Chicago 2018, 67–99, 68 (zit. n. K. Hoppe, Donna Haraway, 176).
23
Ebd.
24
K. Hoppe, Donna Haraway, 177f.
V. Seinsethik
steht für die Anerkenntnis, dass jedes Leben immer Leben von, durch und für andere ist.25 Demgemäß gibt es kein Werden, sondern nur »Mit-Werden«.26 Sympoiesis ist Einspruch gegen das bloße »Selbst-Machen durch Aneignung von allem als Ressource«27 . Sein erscheint hier von Beginn an als Miteinandersein. Das Miteinander ist also nicht nachrangig. Deshalb bedarf es einer alteritätsbasierten »Ethik des Sich-verwandt-Machens«28 , die die engen Grenzen familialer Netze aufbricht und das Verständnis von Konvivialität weitet. Diese Ethik zielt auf ein »Mit-Werden in Responsabilität«.29 Mit diesem Begriff wird die Rede von Verantwortung als radikales Eintreten für Andere durch Verantwortung als Fähigkeit ergänzt, in einer konkreten Situation mit konkreten anderen Gefährt*innen zu antworten (»Response-Ability«). Zu antworten bedeutet, die vielfältigen Verflechtungen der verschiedensten Körper mit- und ineinander situativ wahrzunehmen und in und aus diesen heraus zu handeln. Dazu brauchen wir* einen Bewusstseinswandel: »Es ist von Gewicht, welche Gedanken Gedanken denken. Wir müssen denken!«30 Donna Haraway gelingt es, uns in ein Netz mit unzähligen Fäden zu verstricken und dabei bislang nichtgedachte Imaginationen freizusetzen. Es geht um eine Ontologie des Miteinanders, die streng relational gedacht wird. Mein Körper ist nicht nur mein Körper, sondern Habitat für unzählige Lebewesen. Diese bestimmen nicht nur die Materialität und Funktionalität meines Körpers mit, sondern auch
25
Vgl. ebd.
26
D. Haraway, Unruhig bleiben, 23
27
Dies., Making Kin in the Chthulucene, 68 (zit. n. K. Hoppe, Donna Haraway, 176).
28
Ich habe diese Begrifflichkeit und die damit zusammenhängenden Kernideen von Donna Haraway übernommen. Haraway gibt diesem Begriff jedoch zusätzlich eine bevölkerungspolitische Stoßrichtung, die ich für äußerst problematisch halte und die in meinen Ausführungen nicht mitgedacht ist.
29
D. Haraway, Unruhig bleiben, 172.
30
Ebd., 84.
85
86
Rettende Umweltphilosophie
mein Denken.31 Mein Dasein ist aber ebenso unentrinnbar und unentwirrbar mit Körpern verbunden, die nicht auf meinem Körper leben, aber Teil von ihm sind. Körper sind Kollaborateure. Sie sind ein Kunstwerk »überraschender Verflechtungen, die ›uns‹ und ›das Andere‹ konstitutiv ausmachen«32 . Wir* sind also mit anderen verbunden, aber wir* sind nicht mit allem verbunden.33 Der Gedanke, mit allem verbunden zu sein, ist anfällig für neue Einheiten, die sich jederzeit ins Totalitäre steigern können. Die Einsichten in diese Verflechtungen stellen uns vor die Aufgabe, an einer »Ethik des Sichverwandt-Machens« zu arbeiten »und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben«.34 Diese Ethik beinhaltet die Forderung, »Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen«.35 Die Maxime »Unruhig bleiben!« wendet sich angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe auch gegen Verdrängungen des Erschreckens, etwa durch »den lächerlichen Glauben an technische Lösungen« oder den »bittereren Zynismus« eines Es-istzu-spät.36 Es ist diese Unruhe, die uns wachhält und so andere Lebewesen und uns vor uns selbst schützt. Eine Umweltphilosophie, die sich als Ausdruck dieses »Mit-Werdens« begreift, beginnt mit Begegnungen, die Irritationen hervorbringen, welche keineswegs harmonisch sind, sondern auch in »Unverträglichkeiten« bestehen, die nicht zuletzt durch Machtfelder verursacht werden.37 Ein Verständnis von Kultur, das hier ansetzt, stellt 31
Vgl. J. Blech, Leben auf dem Menschen, Warum Billionen von Bakterien gut für unsere Gesundheit sind, Frankfurt 2015, 35–38.
32
K. Hoppe, Donna Haraways Gefährt*innen. Zur Ethik und Politik der Verwobenheit von Technologien, Geschlecht und Ökologie, in: feministische studien 2 (2019), 250–268, 257.
33
D. Haraway, Unruhig bleiben, 273.
34
Ebd., 9.
35
Ebd.
36
Ebd., 11f.
37
Vgl. K. Hoppe, Donna Haraway, 125.
V. Seinsethik
sich nicht der Natur entgegen, »sondern [versteht sich als] eine ihrer Spielarten. [Eine solche Kultur] kann (…) nicht Kontrolle und Engineering der Natur sein.«38 Eine solche Kultur verbindet. Sie beginnt, wenn etwa Menschen und Tiere so zusammenleben, dass sie einander erziehen und dadurch eine neue Konvivialität entsteht.39 Deshalb gilt: Jeder Hierarchisierung des Verhältnisses von Kultur und Natur ist zu widerstehen, ebenso der Versuchung der Dichotomisierung.
V.3 Sinn für Ungerechtigkeit Rettende Umweltphilosophie besitzt ein »Vermissungswissen«.40 Sie weiß, dass es unsichtbares Leben gibt, welches nicht Teil herrschender Strukturen ist. Wer und was nicht in diese hineingeboren und hineinsozialisiert wurde, gilt als verschwunden: »Zu den Geborenen gehören die kaum vorstellbaren (…) in die Multi-Milliarden gehende Anzahl von Menschen, Tieren der industriellen Nahrungsmittelherstellung, und von Haustieren, die so in Wert gesetzt werden, dass sie einen aufgeblasenen Konsumentenstatus haben. Die Verschwundenen umfassen Menschen, die widerständig gegenüber kriminellen Nationalstaaten sind, die Inhaftierten, verlorene Generationen indigener und anderer unterdrückter Leute und Völker, unbändige Frauen, von Menschenhandel betroffene Kinder, erwachsene Sexarbeiter*innen und andere Arbeiter*innen, junge Leute, die Schwarz oder ›Brown‹ sind, entbehrliche junge Leute jeder Race oder Ethnizität, Migrant*innen, Geflüchtete und Displaced People, staatenlose Leute, Menschen, die von ethnischen Säuberungen oder Genozid betroffen sind, und bereits 50% der gesamten wilden Wirbeltiere, die auf der Erde
38
A. Weber, Enlivenment, 136.
39
Vgl. L. Svendsen, Philosophie für Hunde- und Katzenfreunde, 183.
40
J. B. Metz, Die Verantwortung der Theologie in der gegenwärtigen Krise der Geisteswissenschaften, in: H. P. Müller (Hg.), Wissen als Verantwortung, Stuttgart 1991, 124.
87
88
Rettende Umweltphilosophie
und in ihren Ozeanen noch vor 50 Jahren gelebt haben, sowie 76% der Frischwasserspezies.«41 Rettende Umweltphilosophie ist eine Philosophie des Vermissens. Sie erinnert an die Verschwundenen. Diese Erinnerung bringt eine »Praxis des Sich-verwandt-Machens« hervor, die »auch Beziehungen mit den vermissten, ungezählten, verschwundenen Verwandten anerkenn[t], aktiv herstell[t] und gestalte[t]«.42 Das Sich-verwandtMachen ist Ausdruck eines »lebendigen Sinnes für Ungerechtigkeit«, der einen besonderen Sensus für unsichtbare Andere hat.43 Sinn für Ungerechtigkeit heißt nicht, empirisch das als ungerecht zu bezeichnen, was bereits als Ungerechtigkeit vorliegt. Der Sinn für Ungerechtigkeit, um den es hier geht, bringt Ungerechtigkeit erst zum Vorschein.44 Rettende Umweltphilosophie betrachtet andere Lebewesen nicht nur und nicht in erster Linie durch die Brille der Gleichheit als verallgemeinerte Andere. Ansonsten wäre sie unfähig, Unterschiede zwischen den Spezies und innerhalb der Spezies wahrzunehmen, und würde Lebewesen ihrer Andersheit und Anderheit berauben. Rettende Umweltphilosophie steht vor der Aufgabe, einem konkreten Lebewesen in seiner Andersheit – seinem Gefährt*innenspeziessein – und seiner Anderheit – seiner konkreten Gefährt*innenexistenz – gerecht zu werden. Einem Menschen gerecht zu werden, verlangt andere Maßnahmen, als einem Hasen gerecht zu werden. Und einem konkreten Hasen gerecht zu werden, verlangt nochmal andere Praktiken. Vonnöten ist deshalb ein »individuelle[s] Gerechtwerden«45 , das sich an den konkreten Bedürfnissen, der Eigenperspek-
41
D. Haraway, Making Kin in the Chthulucene, 73 (zit. n. K. Hoppe, Donna Haraway, 168).
42 43
K. Hoppe, Donna Harraway, 169. B. Liebsch, Der Sinn der Gerechtigkeit im Zeichen des Sinns für Ungerechtigkeit, in: I. Kaplow/C. Lienkamp (Hg.), Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext, Baden-Baden 2005, 11–39, 23.
44
Vgl. ebd.
45
C. Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2008, 38.
V. Seinsethik
tive und den Leiderfahrungen Anderer orientiert.46 Es geht darum, die Theorie und Praxis von der Gerechtigkeit bzw. Gleichheit immer wieder neu aus der Eigenperspektive eines konkreten Lebewesens zu befragen.47 Diese Perspektive sensibilisiert für die Erkenntnis, dass das »Beharren auf der Diversität und Einzigartigkeit von Lebewesen (…) der Schlüssel zu einem respektvollen Herangehen an das Lebendige und an gesellschaftliche Phänomene«48 ist. Die Seinsethik kennt prima-facie-Verbote: »Verbote des NichtBeeinträchtigens, Nicht-Schadens und Nicht-Tötens«.49 Primafacie-Pflichten dienen als Kompass.50 Sie gelten »auf den ersten Blick« uneingeschränkt.51 Die holistische Ethik rettender Umweltphilosophie ist eine absolute Ethik ohne Hierarchie, die nichtsdestotrotz in der Lage ist, zu unterscheiden. Als absolute Ethik dient sie zunächst der Sensibilisierung, motiviert zu unkonventionellen Lösungen, irritiert unsere Wahrnehmungsmuster der Natur nachhaltig und steigert das Verantwortungsempfinden.52 Aber die prima-facie-Pflichten sind von den tatsächlichen Pflichten in konkreten Situationen zu unterscheiden, in denen es immer wieder zu Zielkonflikten und Pflichtenkollisionen kommt.53 Die Seinsethik enthält deshalb eine absolute und eine relative Dimension.54 Auf der absoluten Ebene befinden sich die prima-facie-Pflichten.55 Kommt es aufgrund von Zwängen der Notwendigkeit dazu, dass diesen unmöglich nachgekommen werden kann, greift die relative Ethik. Hier geht es darum, die negativen Handlungsfolgen
46
Vgl. dazu: ebd.
47
Der Satz stammt von Christoph Menke, wurde jedoch abgeändert (ebd., 38f.).
48
C. Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen, 115.
49
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 173.
50
Vgl. ebd., 214.
51
Vgl. ebd., 150.
52
Vgl. ebd., 165f.
53
Vgl. ebd., 150.
54
Zu dieser Unterscheidung: vgl. ebd., 164–168.
55
Vgl. ebd., 168.
89
90
Rettende Umweltphilosophie
zu minimieren.56 Die Kategorien zum Umgang mit Zielkonflikten lauten aber nicht »zulässig« und »unzulässig«, sondern »mehr oder weniger ungerechtfertigt«.57 In solchen Entscheidungssituationen helfen »Vorrangregeln« (M. Gorke). Das »sind ›Prinzipien zweiter Ordnung‹, die zwischen dem obersten Moralprinzip und dem, was in einem konkreten Fall getan werden muss, vermitteln«58 : »1) das Prinzip der Selbstverteidigung, 2) das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, 3) das Prinzip des kleinsten moralischen Übels und 4) das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit«.59 So zeigt sich, dass eine holistische Ethik es durchaus erlaubt, im Falle der Selbstverteidigung humane Interessen zu präferieren. Dazu stellt Holmes Rolston klar: »Es ist gerechtfertigt, die Natur zu opfern, wenn dadurch Menschen ernährt, gekleidet und untergebracht werden können.«60 Alle Spezien zeigen diese Verhaltensweise.61 Wenn Menschen also Pflanzen zur Nahrung und weiteren basalen Bedürfnissen nutzen, so gibt es dagegen keinen ethischen Einwand.62 In umstrittenen Bereichen schlägt Martin Gorke eine gradualistische Betrachtung vor: »Die Verletzung einer prima-facie-Pflicht auf der absoluten Ebene ist (…) umso unverhältnismäßiger und damit unverzeihlicher, je weniger notwendig sie ist, das heißt, je mehr sie von Luxus- statt von Überlebensinteressen motiviert ist. Nach [einer] abgestuften Formulierung des Prinzips [der Verhältnismäßigkeit] wäre die Fällung eines Baumes, bloß um freie Sicht zu haben, sicherlich am wenigsten entschuldbar; um Schränke und Regale herzustellen, schon eher; um sich eine Behausung zu verschaffen, in verstärk-
56
Vgl. ebd.
57
Vgl. ebd., 176.
58
Ebd., 168.
59
Gorke nennt diese Prinzipien im Anschluss an Paul Taylor und James Sterba. Sie dienen zur fairen Lösung konfligierender Ansprüche: Ebd., 169.
60
H. Rolston III, A New Environmental Ethics. The Next Millenium for Life on Earth, New York/London 2 2020, 127.
61
Vgl. ebd., 128.
62
Vgl. ebd., 128f.
V. Seinsethik
tem Maße; und um ohne Frostbeulen über den Winter zu kommen, praktisch uneingeschränkt.«63 Nun wird Leben aber auch infolge nicht-basaler Interessenverfolgungen zerstört, etwa für kulturelle Zwecke.64 Das lässt sich ethisch rechtfertigen, aber es verlangt von uns, dieses als ein Schuldigwerden zu verstehen und anzunehmen65 : »So mag der Zeitgenosse an vielen Errungenschaften von Kultur durchaus seine Freude haben, er sollte aber nicht von einer holistischen Ethik erwarten, dass diese ihm den Preis, den diese Errungenschaften die Natur gekostet haben, mit dem Stempel der ethischen Unbedenklichkeit absegnet. Diese absolute Entlastung kann sie ihm nicht geben. Sie kann ihm nur mit Hilfe des Prinzips des kleinsten moralischen Übels Wege zeigen, wie dieser Preis so klein wie möglich gehalten werden kann. Diese relative Entlastung muss genügen.«66 Ethik hat schließlich die Aufgabe, »auf besseres Handeln hin zu orientieren, und nicht, die negativen Folgen des eigenen Handelns zu entschuldigen«67 . Gorke bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass »moralischer Minimalismus« unser Unrechtsbewusstsein untergräbt und Ungerechtigkeiten hervorbringt68 : »Teilt man dieses Ethikverständnis, wird man eher eine Konzeption favorisieren, die sich den Zwiespältigkeiten menschlichen Umgangs mit der Natur stellt und ein Schuldigwerden dabei einräumt, als eine Konzeption, die diese Zwiespältigkeiten ethiktheoretisch so ›aufbereitet‹, dass Beeinträchtigungen der Natur bei Einhaltung der Regeln stets guten Gewissens erfolgen können. Bei der ersten Konzeption wird der Handelnde zur Selbstkritik angehalten und dazu motiviert, sich dem (letztlich unerreichbaren) 63
Ebd., 176.
64
Vgl. ebd., 178.
65
Vgl. ebd.
66
Ebd., 179.
67
So Gorke im Anschluss an Wilhelm Vossenkuhl: ebd.
68
Ebd.
91
92
Rettende Umweltphilosophie
Ziel eines ›Friedens mit der Natur‹ immerhin zu nähern. Bei der zweiten Konzeption hat er zu solchen Bemühungen wenig Anlass. Hält er sich an das gängige Verfahren der Güterabwägung und befolgt die Vorrangregel, darf er sich ja vollständig gerechtfertigt fühlen.«69 Zur Orientierung des Handelns schlägt Martin Gorke eine ökologische Reformulierung des Kategorischen Imperativs von Kant vor: »Handle so, dass du alles Seiende niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Selbstzweck behandelst.«70 Und weiter: »Instrumentalisiere andere Wesen und Gesamtsysteme so wenig und schonend wie möglich.«71 Darin zeigt sich die Pragmatik des Holismus, wie er von Gorke ausgearbeitet wurde. Solche Formeln sind einerseits jederzeit in Gefahr, instrumentell verzweckt zu werden; andererseits können sie sich in bestimmten konkreten Situationen durchaus als hilfreich erweisen. Die Ambivalenzen, die Schuld und die Gefahren, die aus den vielfältigen Verstrickungen resultieren, ließen sich aber nur um den Preis des Verzichts auf Praxis vermeiden. Das wäre jedoch – moralisch betrachtet – keine Option. Nichtdestotrotz führt eine solche Pragmatik in die falsche Richtung, da sie einem epistemischen Anthropozentrismus verpflichtet bleibt, der die Ontologie des Miteinanders unterläuft.
V.4 Gemeinwohlorientierung Rettende Umweltphilosophie existiert nicht exterritorial zur Gesellschaft und Politik. Im Gegenteil. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt stets in bestimmten konkreten Konflikten. Dabei entzieht sie sich nicht der Verantwortung und sucht nach Lösungen, ohne sich im Besitz einer Moral zu wähnen, die sie der Gesellschaft und Politik vorhält. Sie erfindet keine Moral, sondern entdeckt Moral in Gesellschaft und Politik. Hierbei lässt sie sich leiten von einer Heuristik
69
Ebd.
70
Ebd., 111.
71
Ebd., 113.
V. Seinsethik
geteilter Moral. Diese Moral unterliegt aber dem Streit der Interpretationen, der wiederum Teil politischer Praktiken ist.72 In den umweltpolitischen Konflikten, in denen rettende Umweltphilosophie sich ausbuchstabiert, ist für sie die Frage nach der Gemeinwohlorientierung politischer Handlungsoptionen von zentraler Bedeutung. Diese prüft sie zunächst anhand der Kriterien der Legalität und Legitimität. Aber darin erschöpft sich ihre Prüfung nicht. Was Gemeinwohl heißen kann, ist letztlich Ergebnis eines kontroversen Aushandlungsprozesses. Gemeinwohl ist ein dynamischer Zustand, der einem Handeln entspringt, das Partikularinteressen anerkennt, aber gleichwohl transzendiert und dabei auf ein gerechtes und gutes Leben sowohl der gegenwärtig als auch zukünftig lebenden Kreaturen zielt, dessen Verständnis immer wieder neu aus einem individuellen Gerechtwerden erwächst, das Ungerechtigkeiten Ausdruck verleiht. Der Blick auf das Gemeinwohl verlangt somit, insbesondere die Interessen derjenigen zu berücksichtigen, die überhaupt keine Lobby haben. Rettende Umweltphilosophie würdigt in diesem Zusammenhang vor allem auch die Interessen nichtmenschlicher Lebewesen. Gemeinwohl ist für sie eine regulative Idee, die auf den »Ausschluss von Ausschlüssen« (P. Rottländer) zielt und jeder Einschränkung der Moralgemeinschaft einer Rechtfertigungspflicht unterzieht.73 Für das Gemeinwohl eintreten verlangt, gegen den extraktivistischen Kapitalismus zu kämpfen, der die Anerkennung des Eigenwerts der Natur missachtet: »Entweder bewerten wir Tiere und Pflanzen getreu dem Schema unserer kapitalistischen Wirtschaft nach dem Wert – dem Nutzwert – ihrer Funktion. Dann aber ist die Natur immer der Verlierer, denn ein einziger schützenswerter Singvogel in einem Brachgelände wird kaum je den finanziellen Nutzen von ein paar hundert verlorenen Arbeitsplätzen aufwiegen können, die hier möglicherweise in einem Industriegebiet entstehen können: oder aber wir
72
Vgl. S. Krause/K. Malowitz, Michael Walzer zur Einführung, Hamburg 1981, 114f.
73
Vgl. M. Gorke, Eigenwert der Natur, 48.
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Rettende Umweltphilosophie
folgen unserer Intuition, dass an der Natur etwas schützenswert ist, was ihrem Wesen im Kern selbst angehört – ein Eigenwert.«74
V.5
Empfindliche Vernunft
Die Rationalität rettender Umweltphilosophie findet ihren Ausdruck in einer empfindlichen Vernunft: »Das wahre Herz überlegt, und die wahre Vernunft empfindet.«75 Vernunft basiert auf zwei Vermögen: Verstand und Gefühl.76 »In der Moral dürfte das feinsinnige, situative Gefühl hellsichtiger sein als der zum Abstrakten neigende, grobkörnige Verstand. Unser Mitleid sieht, was Tiere angeht, mehr als Kant mit seinem kategorischen Imperativ.«77 Für Corine Pelluchon ist es evident: »Diejenigen, die sich dieses Leidens anderer Lebewesen nicht bewusst sind, haben keinerlei Bezug zur Wirklichkeit; ihre Freiheit und ihr Glück sind unecht, weil sie sich weigern, den tiefgreifenden Zusammenhang zwischen all diesem Leiden anzuerkennen (…).«78 Angesichts der Orte des Leids, an denen sich gerade an den nichtmenschlichen Kreaturen »die totale Macht austobt«79 , drängt es empfindliche Vernunft zum Aktivismus. Aktivismus bedeutet, für Veränderung zu handeln.80 Die Aufgabe besteht darin, derart ge-
74
A. Weber, Alles fühlt, 217f.
75
A. Schweitzer, Was sollen wir tun?, 29.
76
Vgl. A. Krebs, Das Weltbild der Igel, 10.
77
Ebd., 49.
78
C. Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen, 75.
79
Ebd., 69 sowie 77: »Die totale Macht, die wir uns über die Tiere anmaßen, und die geringe Bedeutung, die wir ihnen beimessen, spiegeln jenen ursprünglichen Fehler der Zivilisation wider, nämlich unseren mangelnden Respekt gegenüber der äußeren Natur und letztlich auch gegenüber uns selbst.«.
80
Vgl. R. Krauthausen/B. Schwarz, Wie kann ich was bewegen? Die Kraft des konstruktiven Aktivismus, Hamburg 2021, 23.
V. Seinsethik
gen das Unrecht zu intervenieren, dass dadurch der gegenwärtige Zwang zur Veränderung, der heute Fortschritt genannt wird und durch den sich nichts Grundlegendes verändert, verändert wird. Grundlegend für die praktische Vernunft rettender Umweltphilosophie sind Emotionen. Emotionen sind Anstöße, welche Vernunft antreiben, vernünftiger zu werden. Sie bestehen aus mehreren Komponenten: »etwa körperlichen, leiblich empfundenen, verhaltensmäßigen und inhaltlichen«81 . Emotionen sind also keine »geistlosen Energiestöße« (M. Nussbaum): »Das, was Emotionen von rein leiblichen Empfindungen vor allem unterscheidet (…), ist ihre inhaltliche Stellungnahme zur Welt. Emotionen zeigen an, was uns wichtig ist und wie es darum unserer Meinung nach gerade steht. Sie offenbaren unsere Werte, das, woran uns im Leben liegt, und wer wir im Kern sind. Sie tun dies uns selbst gegenüber (»Höre auf deine Gefühle«) wie auch gegenüber Anderen.«82 Empfindliche Vernunft ist empathisch und sympathisch. Empathie ist die »Fähigkeit, das Innenleben Anderer nachzufühlen und mit ihren Augen in die Welt zu blicken«83 . Dieses Nachfühlen ist jedoch vom Einsfühlen zu unterscheiden: »Das Unterschiedsbewusstsein von Ich und Du: dass es eben sein Gefühl ist und nicht meins, hebt Empathie von Ansteckung und ihrem Extremfall der Einsfühlung ab. Ein Beispiel für Letzteres ist das Aufgehen in einer wogenden Menschenmenge beim Fußball oder in einem Rock-Konzert.«84 Während Empathie Menschen zum einen ermöglicht, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen, nachzuspüren, was das Ich anstelle anderer fühlen würde,85 zum anderen »die Situation des An-
81
A. Krebs, Das Weltbild der Igel, 56.
82
Ebd.
83
Ebd., 59.
84
Ebd.
85
Vgl. ebd., 69.
95
96
Rettende Umweltphilosophie
deren aus dessen Sicht zu imaginieren«,86 steht Sympathie für das Vermögen, den aktivierenden Impuls zu verspüren, dass das Leid anderer Lebewesen nicht sein soll.87 Überdies ist empfindliche Vernunft erinnerungsbegabt. Sie eingedenkt der geschundenen toten menschlichen und nichtmenschlichen Kreaturen.88 Herbert Marcuse hat auf das kritische Potenzial des Eingedenkens hingewiesen: »Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der ›Vermittlung‹, die für kurze Augenblicke die allgegenwärtige Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht.«89 Dabei erkannte er bereits auch die Gefährdetheit eben dieser Erinnerungen selbst und wandte sich emphatisch dagegen, »daß selbst die scheußlichsten Verbrechen sich derart verdrängen lassen, daß sie, was alle praktischen Zwecke angeht, [aufhören], eine Gefahr für die Gesellschaft zu bilden.«90 Empfindliche Vernunft, die »gefährliche Erinnerungen« (J. B. Metz) an Leid und Ungerechtigkeit wachhält, weiß um die Kraft von Erzählungen. Sie verbindet Narrationen und Argumentationen.91 Als solche widersetzt sie sich der Naturbeherrschung des extraktivistischen Kapitalismus und hebelt die Kalküle einer szientistisch-technischen Rationalität aus. Sie treibt dazu an, eine Praxis praktischer Philosophie auszuarbeiten.
86
Ebd., 70.
87
Vgl. ebd., 60.
88
Zum Begriff des Eingedenkens: W. Benjamin, Das Passagen-Werk Bd. 1, Frankfurt 1983, 589.
89
H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Gesellschaft, Darmstadt 22 1988, 117.
90
Ebd., 99f.
91
Vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 174.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
VI.1 Zwischen Engagement und Desengagement Die Praxis rettender Umweltphilosophie geht über die genannten Engagementpraktiken engagierter Wissenschaften hinaus. Darin unterscheidet sie sich auch von der Fachphilosophie. Philosophieren wird in der Fachphilosophie gemeinhin als Tätigkeit eines desengagierten Selbst verstanden.1 Auch die Umweltethik schließt die Rolle des »engagierten Intellektuellen« und der Aktivist*in aus – so sehen es jedenfalls Konrad Ott, Jan Dirks und Lieske Voget-Kleschin.2 Dabei ist das Desengagement ein Abstandhalten, welches keineswegs Indiz für Indifferenz ist, sondern Ausdruck von Autonomie und Autarkie. Auch die Kritische Theorie versucht, durch den distanzierten Blick Einsichten bereitzustellen, welche wiederum für eine Praxis unabdingbar sind, die mehr sein will als blinder Aktivismus. Aus diesem Grund ist rettende Umweltphilosophie auch nicht der Gegenentwurf zu solchen Philosophien. Im Gegenteil, sie schätzt nicht nur den Wert akademischer Praktiken, sondern weiß auch um die Selbstgefährdungen, die mit ihren eigenen Unternehmungen einhergehen. Philosophien mit Abstand stellen für
1
Ich beziehe mich im Folgenden u.a. auf: J. Manemann, »Hope dies – Action begins« (Extinction Rebellion) – Plädoyer für eine politische Umweltphilosophie, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Analysen zu Demokratie und Zivilgesellschaft: Spannungsfeld Umwelt. Aktivismus weltweit, 4 (2020), 829–833.
2
Vgl. K. Ott/J. Dierks/L. Voget-Kleschin, Einleitung, 7.
98
Rettende Umweltphilosophie
sie ein notwendiges kritisches Korrektiv dar. Ihr gesellschaftskritischer Blick bewahrt sie vor der Gefahr der Unterwerfung der Theorie unter eine »praktische Vorzensur«3 . Rettende Umweltphilosophie ist eine dialektische Philosophie. Als solche lehnt sie es ab, Praxis gegen Theorie auszuspielen, weiß sie doch auch, dass sich in bestimmten Situationen die Theorie als »genuine Gestalt der Praxis«4 erweisen kann. Aber auch die desengagierte Philosophie bedarf der rettenden Philosophie als kritisches Korrektiv, will sie der Gefahr einer Sterilität, die in die Bedeutungslosigkeit führt, oder der Gefahr einer Blindheit gegenüber eigenen Abhängigkeiten entgehen, die sie zur Ideologie verkommen lässt. Auch desengagierte Philosophie kann sich als vernünftige nicht vollends von Praxis dispensieren, drängt es doch Vernunft dazu, öffentlich zu werden. Dafür muss sie immer wieder neu aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit« (I. Kant) ausziehen. Ohne diesen emanzipatorischen Aspekt wäre Philosophie nicht mehr rational. Überdies kann ihr die engagierte Philosophie Mahnung sein, gibt es doch Zeiten, in denen schon der Versuch, Distanz zu halten, die Gefahr der Komplizenschaft mit Ungerechtigkeiten bedeuten kann. Es sei denn, die Distanz entdeckte sich in solchen Situationen neu als Praxis, als bewusste Weigerung, als Praxis eines entschiedenen Nicht-Mitmachens. Alles andere käme einem Sich-aus-der-Affäre-Ziehen gleich. 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen leben in Kontexten, die durch die Klimakatastrophe »hochgradig gefährdet« sind, so nachzulesen im Bericht des Weltklimarates. Jeden Tag sterben bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten aus… Drei Jahre, fünf Jahre, maximal sieben Jahre – genau wissen wir*es nicht, aber wir* wissen, dass uns nicht viel Zeit bleibt. Es gibt Situationen, in denen nicht mehr bloß über das gute Leben nachgedacht werden kann, weil nämlich das Überleben auf dem Spiel steht. In einer solchen Situation reicht die reine Begriffsarbeit nicht mehr aus. In solchen Zeiten tritt das Appellative, das den Begriffen der praktischen Philosophie unausgesprochen inhärent ist, deutlich zutage. Angesichts einer akuten Notsituation reicht 3
Th. W. Adorno, Keine Angst vor dem Elfenbeinturm, in: Der Spiegel 19/1969.
4
Ebd.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
es nämlich nicht aus, zu bestimmen, was »Gerechtigkeit«, »Solidarität«, »Freiheit«, »ein gutes Leben« heißen können. In diesen Zeiten verstärkt sich der in den Begriffen liegende Anspruch auf Verwirklichung. Die grassierenden Tode menschlicher und nichtmenschlicher Lebewesen treiben rettende Umweltphilosophie an, aktivierend und aktivistisch zu sein.5 Als aktivierende befasst sie sich nicht nur mit Denk- und Handlungsblockaden, die uns hindern zu handeln, mit kognitiver Dissonanz, mit Emotionen, die uns zum Handeln motivieren und solchen, die uns lähmen, mit neurotischen und realistischen Ängsten, Katastrophenblindheit, Hoffnungslosigkeit und Umweltmelancholie. Sie sorgt sich auch darum, wie Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit unterstützt werden können. Sie begreift sich als ein Hilfsmittel der Subjektwerdung. Ihre Aufgabe sieht sie nicht zuletzt darin, Handlungsräume des Selbst zu entdecken und zu ermöglichen. Ihr Wissen betrachtet sie als »ein Wissen im Zustand der Wirksamkeit«6 .
5
Rettende Umweltphilosophie teilt durchaus bestimmte Intentionen des Umweltpragmatismus, v.a. das Bestreben, »als Philosophen wirkkräftig zur Umweltpolitik beitragen zu wollen« (P. P. Thapa, Umweltpragmatismus, 204): »Die internen Debatten der Umweltphilosophen sind zwar interessant, provokativ und komplex, scheinen aber keinen wirklichen Einfluss auf die Überlegungen von Umweltwissenschaftlern, -praktikern und -politikern zu haben.« (A. Light/E. Katz, Introduction: Environmental pragmatism and environmental ethics as contested terrain, in: dies. (Hg.), Environmental Pragmatism, London 1996, 1–18, 1) »[D]ie Früchte dieses philosophischen Unterfangens müssen auf die praktische Lösung von Umweltproblemen gerichtet sein – die Umweltethik darf nicht in langwierigen theoretischen Debatten stecken bleiben, um philosophische Gewissheit zu erlangen.« (ebd., 1f.) Umweltpragmatismus stellt klar, dass es in erster Linie um die Lösung praktischer Probleme geht (vgl. ebd., 2). Die Methode dürfe kein Hindernis für Moral sein. Umweltpragmatismus lehnt jede Form des methodologischen Dogmatismus ab (ebd., 3).
6
M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 137.
99
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VI.2 Aktionsformen VI.2.1 Das Dokumentationszentrum Klimaverantwortung Aktivistisch ist rettende Umweltphilosophie in einem interventionistisch-philosophischen Sinn. Durch kreative Projekte und Aktionen sorgt sie für Unterbrechungen, die »Atempausen zum Denken« ermöglichen sollen, welche, wie Adorno schreibt, nicht zu nutzen »praktischer Frevel« sei.7 Als Beispiel für eine interventionistische Praxis rettender Umweltphilosophie möchte ich das »Dokumentationszentrum Klimaverantwortung« in Hannover anführen. Zurzeit ist in Hannover eine Fahrbahnerweiterung des Südschnellwegs auf Autobahnniveau in einem Naherholungsgebiet geplant. Das bedeutet: eine 16 Fussballfelder große Waldfläche wird gerodet. Der tägliche Autoverkehr wird auf insgesamt 65 000 Autos pro Tag ansteigen. Die Kosten beliefen sich in der ersten Schätzung auf 360 Millionen Euro, mittlerweile sind es 580 Millionen Euro. Die Bauzeit beträgt zehn bis fünfzehn Jahre. Keiner der Verantwortlichen scheint Verantwortung für diesen verkehrspolitischen Irrsinn übernehmen zu wollen, der eine Verkehrswende unmöglich macht und Klimapolitik torpediert. Bereits im Oktober 2022 wurden erste Bäume gerodet. Hier das Abstract zum Zentrum: Dokumentationszentrum Klimaverantwortung in Stadt und Region Hannover Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 verpflichtet dazu, politische Entscheidungen auf die Begrenzung der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau auszurichten. Laut dem Weltklimarat (IPCC) droht bereits 2030 eine globale Erwärmung um 1,5 °C. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nicht darauf ausgelegt, einzelne kommunale Projekte als rechtswidrig zu identifizieren. Dennoch soll7
Th. W. Adorno, Negative Dialektik, 243.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
ten auch diese Projekte vor dem Hintergrund dieses Urteils bewertet werden, wenn sie den notwendigen und beschlossenen Zielen klar zuwiderlaufen und so mitverantwortlich sind für anhaltende, massive ökologische und klimatische Auswirkungen, die das Leben und die Freiheit zukünftiger Generationen gefährden oder stark einschränken. Entscheidungsträger:innen in Politik, Behörden, Unternehmen vor Ort sollten die Verpflichtung spüren, in diesem Sinne mit den natürlichen Lebensgrundlagen sorgsam umzugehen, mit anderen Worten: in einem Akt der Selbstverpflichtung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Maßstab ihres Handelns anerkennen. Das Dokumentationszentrum Klimaverantwortung in Stadt und Region Hannover hat die Aufgabe, ethische, politische und rechtliche Verantwortlichkeiten bis 2030 zu analysieren. Dazu sammelt das Zentrum Material (Fakten, Fotos, Interviews, Stellungnahmen der Verantwortlichen, Berichte u.ä.) über Großprojekte und Weichenstellungen in der Stadt und Region Hannover, die absehbar negative ökologische und klimatische Auswirkungen haben werden. Es bietet einen Überblick über institutionelle und personale Verantwortlichkeiten. Die Analysen dienen nicht dazu, einzelne Personen an den Pranger zu stellen. Sie sollen Entscheidungsträger:innen im besten Fall dabei unterstützen, ihre ethische und politische Verantwortung zu erkennen, zu reflektieren und ggf. wahrzunehmen. Zwischenergebnisse werden jährlich präsentiert. Das Zentrum veröffentlicht keine politischen Stellungnahmen. 2030 sollen die Entscheidungsträger:innen in einem großen öffentlichen Hearing ihr Handeln erklären. Dieses Controlling soll der Förderung verantwortlichen Handelns dienen. Das Material des Dokumentationszentrums steht Wissenschaftler:innen und Bürger:innen zur Verfügung. Folgende Fragen wurden an Verantwortliche im Land, in der Region, in der Stadt und in der Niedersächsischen Straßenbaubehörde geschickt: 1. Bitte beschreiben Sie Ihren Zuständigkeits-, Verantwortungs- und Handlungsbereich für das o.g. Projekt. 2. Wie beurteilen Sie Ihr Handeln vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 24.03.2021?
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3. Welche Umweltinformationen haben Sie eingeholt oder zur Einsicht angefordert, um die Umweltschäden zu beurteilen? Das Umweltinformationsgesetz (UIG) versteht unter Umweltinformationen u.a.: a) Daten über den Umweltzustand, das heißt über den Zustand von Umweltbestandteilen wie Luft und Atmosphäre, Wasser, Boden, Landschaft, natürliche Lebensräume, über die Artenvielfalt und ihre Bestandteile b) Daten über Umweltfaktoren wie Stoffe, Energie, Lärm, Abfall, Emissionen, Ableitungen oder sonstige Freisetzungen von Stoffen in die Umwelt c) Berichte und Studien mit Umweltbezug d) Daten über den Zustand der menschlichen Gesundheit und Sicherheit sowie die Bedingungen für menschliches Leben, soweit sie vom Umweltzustand, Faktoren und Maßnahmen betroffen sein können. 4. Wurden Bürger*innen an der Entscheidung beteiligt? Wie sah das Beteiligungsverfahren aus (Methode, Zusammensetzung, Auswahl)? Welchen konkreten Einfluss haben Beteiligte auf das Verfahren nachweislich nehmen können? Welche Vorschläge der Beteiligten wurden aufgegriffen? Welche Möglichkeiten haben Sie gehabt, um Beteiligung möglich zu machen? Für welche Beteiligungsverfahren haben Sie sich eingesetzt? 5. Haben Sie mit Bürger*innen-Initiativen gesprochen, die dem Projekt kritisch bis ablehnend gegenüberstehen? Was haben Sie ggf. aus diesem Gespräch mitgenommen? 6. Richtlinien enthalten Ermessensspielräume. Sehen Sie im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Notwendigkeit von Änderungen in Planung und Umsetzung des Südschnellwegs? (zum Beispiel: Reduzierung der geplanten Verbreiterung oder aber nur Ersatz der Brücken ohne Änderung der übrigen Strecken, damit nur minimal invasiv in die Umwelt eingegriffen wird; Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 auf 60 Stundenkilometer und Einrichtung einer elektronischen Spurensignalisierung und Installation von »Section Control«, um die Straße auf diese Weise sicher zu machen etc.)
Das Projekt ist interventionistisch, weil es Beteiligte aus ihrem Schlaf wecken, die ach so geschäftige Betriebsamkeit stören soll. Es ist interventionistisch, weil es irritiert, vorgegebene Denk- und Ordnungsmuster aufbrechen hilft. Es ist interventionistisch, weil es
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
auf »ein Handeln [zielt], das sich nicht auf sich selbst bezieht, sondern sich als relationale Praxis über den Bezug auf das Bestehende definiert«8 . Es ist interventionistisch, weil es den Eindruck vermittelt, dass sich etwas verändern muss.9 Es ist interventionistisch, weil es auch die Interventionist*innen verändern wird10 : »Zu jedem Zeitpunkt der Intervention müssen die Interventionisten deshalb Rechenschaft geben können: Wer sind wir, wenn wir beschließen zu intervenieren? Wer sind wir, während wir intervenieren? Wer sind wir, nachdem wir interveniert haben?«11 Bei alldem darf auch nicht vergessen werden, dass Interventionen aufreibende Tätigkeiten sind. Interventionen sind »Irritationen«, die auf eine »grundlegende Verunsicherung« zielen.12 Sie sind die Voraussetzung dafür, Neues wahrzunehmen.
VI.2.2 Ziviler Ungehorsam Nun ist die klimatische Katastrophe zwar Teil der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, aber diese Präsenz hat bislang nicht zu politischen Antworten geführt, die der Höhe der Herausforderung angemessen wären. Das hat nicht nur mit politischen und ökonomischen Machtverhältnissen zu tun. Von Georg Wilhelm Friedrich Hegel stammt die Erkenntnis: »Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.«13 Es bedarf daher Prak8
F. v. Borries/M. Recklies, IUI. Propädeutik der Intervention, Leipzig 2017, 14.
9
Vgl. ebd., 9.
10
Vgl. ebd., 55.
11
Ebd.
12
Ebd., 54.
13
G. F. W. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1986, 35.
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tiken, die sowohl die Machtverhältnisse produktiv destabilisieren als auch Menschen helfen, die Katastrophe erkennen zu können. Aktionen des zivilen Ungehorsams können ein Instrument sein, politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger*innen unter Druck zu setzen und gleichzeitig Bürger*innen für die Katastrophe zu sensibilisieren. Für John Rawls, Jürgen Habermas und Hannah Arendt14 ist ziviler Ungehorsam »notwendiger Bestandteil« (J. Habermas) einer reifen demokratischen Kultur. Ziviler Ungehorsam ist ein Appell an den Gerechtigkeitssinn der Bürger*innen. Als solcher ist er öffentlich, gewaltlos, durch das Gewissen motiviert, aber auch politisch, wenn er von einer Gruppe praktiziert wird. Ziviler Ungehorsam ist eine verhältnismäßige, vorsätzliche Verletzung einer Rechtsnorm, die durchaus Momente der Nötigung enthalten kann, dabei aber immer die physische und psychische Integrität der Protestgegner*innen wahrt.15 Ziviler Ungehorsam verlangt Mut: den Mut, sich den Ungerechtigkeiten in den Weg zu stellen; den Mut, eigene Ängste zu überwinden; den Mut, sich potenzieller Gewalt auszusetzen; den Mut, der Versuchung moralischer Überlegenheit zu widerstehen und Heroismus im Keim zu ersticken. Ziviler Ungehorsam ist eine ultima ratio und deshalb »nur für den Spezialfall einer fast gerechten Gesellschaft [gedacht], die also größtenteils wohlgeordnet ist, in der aber doch einige ernsthafte Gerechtigkeitsverletzungen vorkommen«16 . Klimaaktivist*innen
14
Vgl. hierzu: J. Manemann, Ziviler Ungehorsam als politische Handlung. Einführende Bemerkungen aus aktuellem Anlass, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (2020), 151–160.
15
Die Kriterien finden sich in: J. Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: P. Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 29–53. Lediglich der Aspekt der politischen Dimension stammt aus: H. Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: dies., In der Gegenwart: Übungen zum politischen Denken II, München/Zürich 2017, 283–321.
16
J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971). Pflicht und Verpflichtung, in: A. Braune (Hg.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart 2007, 101–128, 108.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
sehen ihren Ungehorsam dadurch legitimiert, dass der Staat und die Gesellschaft gegen Grundgesetze verstoßen, etwa gegen: GG Art. 2 (2): »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« GG Art. 20a: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.« Der mit dem zivilen Ungehorsam praktizierte Rechtsbruch kann aus den genannten Gründen von Richter*innen nicht nur als moralischer Akt gewürdigt, sondern auch als legal eingestuft werden, nicht zuletzt unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021, das die intertemporale Freiheitssicherung garantiert, welche durch eine Nichteinhaltung des Pariser Klimaabkommens gefährdet ist. Ziviler Ungehorsam steht nicht im Widerspruch zu dem für Demokratien essentiellen Mehrheitsentscheid. Dieser wird nicht ausgehebelt, aber kritisch befragt, denn Mehrheiten sind weder fehlerfrei noch immer am Gemeinwohl orientiert.17 Der Politikwissenschaftler Andreas Braune macht, sich auf John Rawls beziehend, darauf aufmerksam, dass es erst dann erlaubt sei, den Gehorsam gegenüber Gesetzen, auch ungerechten Gesetzen, aufzukündigen, »die sich im Regelfall ja auf dem Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit oder durch Willensbildung und Gesetzgebung ändern lassen«, wenn »die Ungerechtigkeit und Torheit einen Grad« erreicht haben, durch den Bürger*innen »in einen Pflichtenkonflikt geraten«18 . Braune betont, dass es nicht darum gehe, gegen die Mehrheit zu
17
Vgl. dazu: A. Braune, Ziviler Ungehorsam. Von Martin Luther King zur »Letzten Generation«?, in: Merkur 02 (2023), 77–85, 78f.
18
Ebd., 79.
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Rettende Umweltphilosophie
opponieren, sondern darum, diese anzusprechen.19 Zentrale Bedeutung habe »die Botschaft, nicht (…) die unmittelbare Wirkung der Tat«20 . Ziviler Ungehorsam sei ein Mittel, dass der Mehrheit helfe, zu erkennen, »dass sie ihren eigenen Grundsätzen und ihren eigenen Verpflichtungen zuwiderhandelt«.21 Mit Rawls, so Braune, lasse sich sagen, dass »die allgemeine Bereitschaft zu gerechtfertigtem zivilen Ungehorsam« eine Stabilisierungskraft sei: »Denn er finde nach wie vor in einem gemeinsamen Kommunikationszusammenhang statt und verhindere eine spalterische, gegen das politische System gerichtete Konfrontation. ›Zusammen mit regelmäßigen freien Wahlen und unabhängigen Gerichten, die die (…) Verfassung auszulegen haben, trägt sparsamer und abgewogener ziviler Ungehorsam zur Erhaltung und Stärkung der gerechten Institutionen bei.‹«22 Für Martin Luther King war ziviler Ungehorsam ein Protest, der eine »schöpferische Spannung« schafft, deren Ziel Verhandlungen sind. Dazu müssten die Probleme derart dramatisiert werden, »daß man nicht mehr an ihnen vorbei kann.«23 Wichtig ist: Ziviler Ungehorsam war »immer mehr (…) als Gewaltverzicht, (…) ein offensiv vorgetragener Geist der Versöhnung und eine Einladung zur Verständigung«24 . Wer zivilen Ungehorsam praktiziert, sollte sich immer wieder neu fragen, ob davon ein kluger Gebrauch gemacht wird.25 Dazu ist es nötig, den Bürger*innen zuzuhören und konstruktiv mit Kritik umzugehen. Erst recht, wenn Aktionen auch darauf abzielen, Bürger*innen für ein neues gesellschaftliches Miteinander zu öffnen. 19
Vgl. ebd., 80.
20
Ebd.
21
Ebd.
22
Ebd., 82.
23
M. L. King, Die Zeit für schöpferischen Protest ist gekommen. Brief aus dem Gefängnis in Birmingham (1963), in: Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart 2007, 79–97, 83.
24
A. Braune, Ziviler Ungehorsam, 84.
25
Vgl. ebd., 82.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
Nur dann können Aktionen des zivilen Ungehorsams auch als Praktiken einer produktiven Politisierung begriffen werden, die sich gegen eine in den Augen der Aktivist*innen falsche Politik richten. Solche Aktionen zielen als Unterbrechungen darauf ab, zeitlich befristet, neue Räume gemeinsamen öffentlichen Räsonierens zu etablieren. Sie besitzen deshalb nicht nur das Potenzial, Ungerechtigkeit zu verhindern, sondern auch erste Anzeichen einer neuen Konvivialität aufkeimen zu lassen. Hier ist aber Vorsicht geboten: Das Neue lässt sich nicht im Modus des Herstellens begreifen. Aktionen des zivilen Ungehorsams sind keine Instrumente, um Neues herzustellen. Wer zivilen Ungehorsam so betreiben würde, reproduzierte Strukturen, die es zu durchbrechen gilt. Das Neue steht ja gerade für die Durchbrechung des Machbarkeitswahns. Es lässt sich nicht herstellen. Es können lediglich Räume entstehen, in denen es sich einstellen kann. Nur wer davon ein Bewusstsein hat, vermag die extraktivistischen Strukturen auf Neues hin zu überschreiten. Dazu bedarf es der Fähigkeit des Sichzurücknehmens. Sie schützt davor, wider Willen »die Melodie der Herren dieser Welt« (D. Sölle) zu spielen. Dorothee Sölle warnt vor der Gefahr, Erfolg – und zu ergänzen wäre noch Effizienz – zum Kernkriterium des Gelingens von Aktionen des zivilen Ungehorsams zu machen. Sie lehnt Praktiken ab, bei denen Aktivist*innen sich einbilden, die gewaltige Maschine des Kapitalismus lahmlegen zu können. Dies kann ziviler Ungehorsam nicht leisten. Dazu bedürfte es anderer Praktiken. Das einzusehen, fällt nicht leicht, weil uns die Zeit wegläuft. Wer aber Erfolg und Effizienz zu Kernkriterien des zivilen Ungehorsams macht, läuft Gefahr, gerade die Strukturen anzufeuern, die es zu durchbrechen gilt. Und nicht nur das: »Wenn wir uns allmächtig glauben, den raschen unmittelbaren Erfolg zum Kriterium machen, dann geraten wir in einen Allmachtswahn, der gerade die Quelle von Ohnmacht und Resignation wird. Was hat es denn gebracht? Wen haben wir gewonnen? Hat sich etwas verändert? Das sind Fragen, die uns in der Ohnmacht einsperren wollen (…).«26
26
D. Sölle/F. Steffensky, Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit, Freiburg 1995, 89.
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Aktionen des zivilen Ungehorsams können als Praktiken aktiver Hoffnung verstanden werden. Wer hofft, weiß aber auch, dass Hoffnungen scheitern können. Das unterscheidet Hoffnung von Optimismus.27 Darüber gilt es nachzudenken.
VI.2.3 Community Organizing Aktionen des zivilen Ungehorsams müssen stören und gleichzeitig attraktiv wirken, denn: »Die gesellschaftliche Transformation wird nur dann gelingen, wenn eine kritische Masse von Menschen entsteht, die bereit sind, gegen ihre unmittelbaren eigenen Interessen politisch zu handeln.«28 Die »Revolution für das Leben« (E. v. Redecker) wird nicht dadurch ausgelöst, dass Aktivist*innen mit den Aktionen immer stärker in der medialen Öffentlichkeit präsent sind. Das ist zwar strategisch wichtig, aber für die Revolution nicht so ausschlaggebend. Der Dichter und Musiker Gill Scott-Heron hat in den 1960er Jahren gesungen: »The revolution will not be televised.« Die Revolution wird nicht in den Medien stattfinden, auch nicht in den sozialen Medien. Aktionen des zivilen Ungehorsams dienen in erster Linie der politischen Sensibilisierung. Als »Whirlwind«-Aktionen unterbrechen sie das Weiter-so für einen Moment. Für eine Revolution braucht es aber gleichzeitig Praktiken des Community Organizings, kommt es doch darauf an, Menschen zu helfen, sich produktiv zu politisieren.29 Community Organizing verbindet soziale Subsistenz mit ökologischer Subsistenz, Nachbarschaft mit Umwelt.30 »[Es] ist einerseits eine Art, sich Politik zu nähern und Demokratie mit Leben zu füllen, man könnte es fast als Philosophie bezeichnen, weil es sich auch um einen erkenntnissuchenden Prozess handelt. Andererseits meint Organizing eine ganz konkrete
27 28
Vgl. V. Hável, Fernverhör. Ein Gespräch mit K. Hvížd’ala, Reinbek 1987, 220. B. Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft, Zürich 2019, 200.
29
Vgl. L. Hermsmeier, Uprising. Amerikas neue Linke, Stuttgart 2022, 29–33.
30
Vgl. J. Purdy, Die Welt und wir, 51.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
Reihe an Fähigkeiten und Werkzeugen, die sich Menschen aneignen und weitergeben, um politische Ziele zu erreichen.«31 Die politische Theoretikerin Alyssa Battastoni sieht Organizing als ein politisches Instrument für gesellschaftspolitische Transformationen, gebe es doch »keinen wirtschaftlichen deus ex machina, der die Revolution bringt. Es sind immer noch die Menschen mit ihren widerspenstigen, widersprüchlichen Eigenheiten in einem konkreten Raum und in einer bestimmten Zeit. Es liegt an euch, herauszufinden, wie ihr gemeinsam handeln könnt oder nicht; wie ihr eine gemeinsame Basis finden könnt oder nicht. Gramsci und Hall bestehen darauf, dass ihr die Dinge und Menschen unerbittlich so betrachten müsst, wie sie sind, dass ihr mit brutaler Ehrlichkeit in die Zukunft blickt und so handelt, dass ihr glaubt, etwas bewirken zu können.«32 Organizing ist eine Methode, »die grundsätzliche Erfahrung der Ohnmacht aufzuspüren, die sich hinter dem allgemeinen Elend«33 verbirgt. Battastoni hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Nachbar*innen, die im Organizing adressiert werden, »wie wir* selbst komplexe, fragmentierte und widersprüchliche Wesen sind«.34 Veränderungen scheitern immer wieder daran, dass Menschen behaupten, keine Zeit zu haben, um sich an Veränderungsprozessen zu beteiligen. Organizing bedeutet deshalb, »herauszufinden, was die Leute in ihrem Leben anders haben wollen, und dann die Leute davon zu überzeugen, dass es von Bedeutung ist, ob sie sich entschließen, etwas dafür zu tun. Das ist nicht dasselbe, wie die Menschen davon zu überzeugen, dass die Sache selbst wichtig ist: Sie wissen normalerweise, dass die Sache wichtig ist. Die Aufgabe besteht darin, die Menschen davon zu über31
L. Hermsmeier, Uprising, 29f.
32
A. Battistoni, On political organizing, in Spadework 34 (2019), o.S.
33
Ebd.
34
Ebd.
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Rettende Umweltphilosophie
zeugen, dass sie wichtig sind: Sie wissen, dass sie es für gewöhnlich nämlich nicht sind.«35 Damit beginnt Organizing, dadurch entstehen Beziehungsnetzwerke, die Menschen zu Gefährt*innen machen: »Du bist ein*e Genoss*in von jemandem, nicht weil du sie*ihn magst, sondern weil ihr in einem Kampf auf der gleichen Seite steht. Genoss*innen sind keine Nachbar*innen, Bürger*innen oder Freund*innen; sie sind auch keine Familie, auch wenn sie ›Bruder‹ oder ›Schwester‹ genannt werden. (…) Genoss*innen sind nicht einmal einzigartige Individuen; sie sind ›vielfältig‹, ,austauschbar‹, ›fungibel‹. Man kann mit Millionen von Menschen befreundet sein (…). Die Beziehung besteht letztlich in dem politischen Projekt, das sie gemeinsam haben.«36 Wer sich im Organizing engagiert, sollte nicht davon ausgehen, dass die Menschen, die sich angesprochen fühlen, alle Werte miteinander teilen. Menschen lassen sich in erster Linie von Organisator*innen ansprechen, von denen sie sich verstanden fühlen, die etwas von ihrem Leben verstehen.37 Battastoni hebt hervor, dass die treibende Kraft für ihren Aktivismus ein »seltsame[s] Gefühl nach einem Leben [war], in dem ich etwas wollte, das ich nur haben konnte, wenn andere es auch wollten. Und wenn das Organisieren einerseits eine Übung war zu lernen, dass man so viel mehr tun kann, als man dachte – dass man mit Leuten reden kann, herausfinden kann, dass sie dasselbe wollen wie man selbst, und gemeinsam kämpfen kann – so war es auch eine Lektion in Sachen Grenzen. Man konnte einfach niemanden dazu zwingen, etwas zu tun, das er*sie nicht tun will.«38 Organizing ist harte Arbeit am eigenen Selbst. Es geht einher mit Enttäuschungen, Frustrationen, Trauer. All das ist häufig schwer
35
Ebd.
36
Ebd.
37
Vgl. ebd.
38
Ebd.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
auszuhalten. Aber die Arbeit stärkt auch: »Ich war mutiger und freundlicher, großzügiger und selbstbewusster.«39 Battastoni beteiligte sich am Organizing, weil sie »in einer Welt leben [wollte], in der meine Stimme etwas zählt, in der ich die Menschen um mich herum als Genoss*innen und nicht als Konkurrent*innen betrachte«40 . Das Organizing erschöpft sich jedoch nicht in aktivierenden konvivialen Praktiken: »Wer einen Platz besetzen, an einem Nachbarschaftstreffen teilnehmen, sich einer Protestaktion anschließen will, muss es eben nicht nur wollen, sondern es auch mit Job, Familie oder dem Aufenthaltsstatus vereinbaren können. Organizing ist deshalb immer auch ein Kampf für Bedingungen, unter denen Organizing überhaupt erst richtig funktioniert.«41
VI.2.4 Politischer Ungehorsam Um die Bedingungen des Zusammenlebens so zu verändern, dass mehr Menschen sich an Aktionen des zivilen Ungehorsams und am Community Organizing beteiligen können, braucht es politischen Ungehorsam. Politischer Ungehorsam ist auch ein wichtiges Korrektiv des zivilen Ungehorsams, der in dem hier dargelegten liberalen Verständnis sich ausschließlich auf Bürger*innen bezieht. Menschen, die den Status des*der Bürger*in nicht besitzen, kommen in diesem Verständnis nicht als Subjekte des zivilen Ungehorsams in den Blick. Dagegen opponiert politischer Ungehorsam. Politischer Ungehorsam ist der Versuch, politische Veränderungen an Orten zu initiieren, für die sich die herrschende Politik nicht interessiert. Politischer Ungehorsam eröffnet einen »Möglichkeitsund Gestaltungsraum oft in nicht-institutionalisierten und sogar illegalen Räumen und Praktiken«, die nicht unter der »intrinsischen Trägheit der etablierten Institutionen« leiden. »Aktionen des politischen Ungehorsams« lösen Erstarrungen in der Politik auf, »wirken
39
Ebd.
40
Ebd.
41
L. Hermsmeier, Uprising, 31.
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der Erstarrung der politischen Autoritäten entgegen und helfen, politische Defizite zu korrigieren.«42 Politischer Ungehorsam ist eine radikaldemokratische Praxis, die Demokratie als Ereignis erfahrbar werden lässt. Demokratie ist schließlich mehr als ein Regime. Sie ist eine Lebensform, und sie ist vor allem eins: ein Ereignis. Wir* reden gegenwärtig viel über Systeme, über Institutionen und Strukturen der Demokratie; wir* reden aber nicht über Demokratie als Lebensform und erst recht nicht über Demokratie als Ereignis. Demokratische Institutionen sind wichtig, auch wichtig, um Demokratie im Alltag zu leben. Sie helfen, die Lebensform Demokratie zu stabilisieren. Aber zu meinen, Institutionen seien das einzige Fundament der Demokratie, ist gefährlich: Lebensformen können nämlich ohne Institutionen existieren; Institutionen können aber nicht, allenfalls nur kurzfristig, ohne Lebensformen existieren. Wenn wir* von Demokratie als Lebensform sprechen, dann beziehen wir* uns auf soziale Alltagspraktiken.43 Der Philosoph John Dewey war davon überzeugt, dass das Herz und auch die letzte Garantie der Demokratie in freien Zusammenkünften von Nachbar*innen an der Straßenecke liegen, bei denen hin und her diskutiert wird, was diese in unzensierten Nachrichten des Tages gelesen haben. Für ihn war es offensichtlich, dass das verbriefte Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nichts bewirken kann, wenn im alltäglichen Leben die Kommunikation »durch gegenseitiges Misstrauen, durch Missbrauch, durch Angst und Hass erstickt wird«.44 Demokratische Praktiken müssen daher immer wieder neu eingeübt werden. Aber auch die Lebensform Demokratie kann zu bloßen Routinen gerinnen, wenn sie nicht immer wieder durch ein demokratisches Ereignis unterbrochen wird, das einen Neuanfang konstituiert. Nur durch ein solches 42
C. Moulin-Doos, Zur Rolle des politischen Ungehorsams im Anthropozän, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (2020): Widerstand und Ziviler Ungehorsam im Anthropozän, 161–189, 163f.
43
Vgl. R. Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, 77f.
44
J. Dewey, Creative Democracy – The Task Before Us, o.D., in: https://www. philosophie.uni-muenchen.de/studium/das_fach/warum_phil_ueberhau pt/dewey_creative_democracy.pdf (abgerufen am 06.04.2023).
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
Ereignis kann Demokratie als Lebensform lebendig bleiben. Geht es doch immer um eine Lebensform als Bewegung, als Tun. Demokratie als Lebensform ist aber nur dann eine tätige Form, wenn sie im Ereignis gründet.45 Ereignisse sind Störungen der Politik durch Praktiken des politischen Ungehorsams. Sie sind die Veränderungskräfte der Politik. Politik ist um ihrer selbst willen auf diese Unterbrechungen angewiesen. Ansonsten würde sie entweder zur bloßen Herrschaft verkommen oder zum bloßen Geschäft werden oder nur noch Verwaltung sein. Ereignisse entstehen insbesondere dann, wenn plötzlich diejenigen, die keinen Anteil an der Gesellschaft haben, die sichtbar und doch unsichtbar sind, die zwar eine Stimme haben, aber über keine Sprache verfügen, welche in Gesellschaft und Politik verstanden und gehört wird, sich unüberhörbar zu Wort melden, sich unübersehbar zeigen.46 Es sind diese Unterbrechungen, durch die eine Bresche in die Gesellschaft hineingeschlagen wird und die dazu zwingen, neu nach dem zu fragen, was Gerechtigkeit ist. Alle Politik hat ihren Ursprung in dieser Unterbrechung – darin, dass der Schrei nach Gerechtigkeit laut wird.47 Die Schriftstellerin Aslı Erdoğan berichtete dem Philosophen Raphaël Glucksmann von den Revolutionstagen im Gezi-Park 2013 Folgendes: »Ich sage fast nie ›Wir‹, außer in Bezug auf den Gezi-Park. Die einsame und an den Rand gedrängte Frau war plötzlich Teil einer Gruppe. Wohl deshalb war es ein so kostbarer Moment unseres Lebens: Jeder hat das gespürt. Man gab seine Identität am Eingang zum Park ab. Schriftsteller, Lehrer, dies oder jenes… Es gab ein starkes Gefühl von Einheit und Kameradschaft. Es ist
45
Dieser Abschnitt stammt im Wesentlichen aus: J. Manemann, Demokratie und Emotion. Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet, Bielefeld 2019, 7f.
46
Siehe dazu: J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt 2002.
47
Zu diesem Abschnitt: J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Ostfildern 2013, 60–62, 73f.
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schwer, sich in einer so ›poetischen‹ Gruppe wie dieser einsam zu fühlen. Schon in den ersten Tagen haben die Leute ihr Zugehörigkeitsempfinden vergessen. Sie gehörten nun dem Platz und zueinander. Selbst der uralte Krieg zwischen Männern und Frauen hörte auf. Belästigungen gab es nicht. Es war fast, als hätten wir die Geschlechter abgelegt. Zwischen den Gruppen gab es keine Machtspiele. Es war unglaublich. Ein Moment kollektiver Gnade.«48 Und Glucksmann folgert: »Damit stellen diese Revolutionen eine Alternative zu den nationalistischen Stimmungen dar, die unsere Länder aufwiegeln – sie sind der Versuch, ein ›Wir‹ neu zu definieren, ohne andere auszuschließen.«49 Aktionen des zivilen und politischen Ungehorsams erinnern uns immer wieder daran, dass Demokratie, wie es der bekannte Bürgerrechtler John Lewis in seinem politischen Testament festhielt, kein Zustand ist, sondern eine Tat.50
VI.3 Die Praxis praktischer Philosophie VI.3.1 Lebenspraxis Rettende Umweltphilosophie versteht sich als philosophische Lebenspraxis und könnte als solche der Philosophie helfen, sich neu zu entdecken: »Die Philosophie entdeckt sich neu, wenn sie aufhört, ein Werkzeug für den Umgang mit Problemen von Philosophen zu sein und zu einer von Philosophen kultivierten Methode wird, mit den Problemen von Menschen umzugehen.«51 Bekanntlich war
48
R. Glucksmann, Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag, München 2019, 121f.
49
Ebd., 123.
50
Vgl. J. Lewis, Together, You Can Redeem the Soul of Our Nation, in: New York Times v. 30.07.2020.
51
J. Dewey, The Need for a Recovery of Philosophy, in: ders., The Middle Works of John Dewey, Band 10, 1899–1924: Journal articles, essays, and
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
es Sokrates, der in seiner Verteidigungsrede vor dem Athener Gericht deutlich machte, dass es das größte Gut des Menschen sei, sich jeden Tag zusammen mit anderen Menschen über sein Leben Rechenschaft zu geben: »(…) ein Leben ohne Prüfung ist für den Menschen nicht lebenswert«.52 Philosophie bedeutete für ihn, das eigene Leben im öffentlichen Raum zu prüfen. Es ist dieses Nachdenken über das eigene Leben, in dem die Herrschenden eine Gefahr sehen. Philosoph*innen, die ihre Aufgabe in der permanenten kritischen Prüfung sehen, sind für die Herrschenden troublemaker. Für den Philosophen William James ist Philosophie »die erhabenste und zugleich trivialste aller menschlichen Bestrebungen. Sie wirkt in den kleinsten Ritzen und eröffnet die weitesten Ausblicke. ›Man wird davon nicht satt‹, sagt man, aber sie kann unsere Seelen mit Mut erfüllen.«53 Für James war es offenbar, dass Philosophie die Grenzen der Fachphilosophie immer wieder überschreiten muss. Philosophie ist »nicht einfach eine technische Angelegenheit. Vielmehr drückt sie die mehr oder minder unbestimmten Empfindungen darüber aus, was uns das Leben wirklich bedeutet. Man hat sie nur teilweise aus Büchern. Sie ist Ausdruck der ganz individuellen Art und Weise, wie wir die Bewegung und den Einfluss des Kosmos wahrnehmen und fühlen.«54 Philosophie kann sich nur um den Preis der Selbstaufgabe von Philosophie als Lebenspraxis dispensieren. Nicht zuletzt geht es in dieser Praxis darum, »die Tugenden des philosophischen Lebens zu demokratisieren, um daraus ein ansprechenderes und durchführbareres ethisches Projekt für mehr Mitglieder der Gesellschaft zu machen«55 . Dabei sollte Philosophie sich auch von politischen, kultumiscellany published in the 1916–1917 period (Bd. 10, 1916–1917), Southern Illinois 2008, 3–49, 46. 52
Platon, Apologie des Sokrates, Göttingen 2002, 31.
53
W. James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, Hamburg 2016, 7.
54
Ebd., 5f.
55
R. Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis, Berlin 2001, 70.
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rellen und religiösen Lebensformen inspirieren lassen, die durchaus philosophisches Potenzial besitzen.
VI.3.2 Das Handlungs-Paradox Fragen wir* also zunächst: Warum handeln wir* nicht so, wie wir* uns wünschten, handeln zu sollen?56 Zum Handeln angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe benötigen wir* eine Katastrophensensibilität. Wie aber können wir* katastrophensensibel werden? Die Fähigkeit, katastrophensensibel zu werden, setzt voraus, dass wir* unsere Katastrophen-Blindheit aufbrechen. Darunter verstehe ich im Anschluss an den Technikphilosophen Günther Anders, der von »Apokalypse-Blindheit« sprach, die Unfähigkeit, sich eine Katastrophe als Katastrophe vorzustellen. Für das Verständnis der Katastrophen-Blindheit ist die Erkenntnis bedeutsam, dass der Mensch »kleiner als er selbst« ist – und das in zweierlei Hinsicht: Erstens ist er kleiner, weil er »›weniger vorstellen als herstellen‹ kann«.57 Zweitens kann der Mensch »den Zustand verlorener (…) Unschuld nicht wiederherstellen«, denn er ist »unfähig, das einmal Gekonnte nicht mehr zu können. Nicht an Können fehlt es uns also, sondern an Nichtkönnen«.58 Der Gedanke der KatastrophenBlindheit offenbart die Gefahr einer strikten Trennung von Wissen und Sinnlichkeit, durch die der Graben zwischen Vorstellen und Herstellen vertieft wird.59 Der Versuch, sich die Katastrophe imaginativ vorzustellen, überfordert uns. Die Psychologin Renee Lertzman warnt davor, die damit einhergehenden Herausforderungen zu unterschätzen. Menschen, die auf den ersten Blick gleichgültig gegenüber der ökologischen und klimatischen Katastrophe wirken, leiden nicht 56
Die Passagen stammen überwiegend aus: J. Manemann, Umgang mit der Klimakrise: Wie lange noch?, in: FAZ+ v. 23.11.2021.
57
G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1, 45.
58
Ders., Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 5 1988, 395.
59
Vgl. M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 116f.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
selten an einer Apathie, die einer Lähmung entspringt. Ihre Gleichgültigkeit ist nicht das Resultat von Kälte oder Desinteresse. Im Gegenteil. Sie sind durchaus sensibel, haben begonnen, sich dem Unfassbaren zu nähern, die Konfrontation aber auf halbem Weg abgebrochen. Ihre Trauer über das, was gerade geschieht, bleibt somit unvollständig, sie mutiert zur Melancholie. Melancholie lähmt. Lertzman spricht in diesem Zusammenhang von Umweltmelancholie.60 Diese Melancholie geht v.a. aus dem Unvermögen hervor, den ökologischen Verlust als echten Verlust wahrzunehmen. Wie sollten die Umweltmelancholiker*innen dazu auch befähigt sein, wenn sie in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der Natur als eine amorphe Verfügungsmasse betrachtet wird. Gleichzeitig blockieren ambivalente Gefühle die Konfrontation, schließlich verdanken viele Menschen hierzulande den Strukturen, die die Zerstörung verursachen, einiges: Arbeit, Wohlstand etc. Gerade diese Ambivalenz fördert Verdrängungs- und Exkulpationsmechanismen.61 Freud zufolge steht Melancholie für Ichverarmung. Gegen diese Melancholie bringt Lertzman die Trauer in Stellung. Wir* müssen also mit der Trauer über das beginnen, was durch unser Verhalten zerstört wurde und weiterhin zerstört wird. Aber auch das ist ein riskantes Unterfangen. Trauer kann uns ebenso blockieren. Sie kann in Verzweiflung münden. Um dies zu verhindern, wird uns zur Bewältigung individueller Trauer Trauerarbeit angeboten.62 Oft vergessen wir*, dass es darüber hinaus auch eine moralische Trauer gibt, die sich allen Bewältigungsstrategien widersetzt, die die Opfer von Gewalt und Unterdrückung nicht vergessen will, ihre Leerstelle nicht wiederbesetzt und nicht bereit ist, sich zeitlich befristen zu lassen.63 Die Seele dieser Trauer, so hat es der Philosoph Burkhard Liebsch
60
Siehe: R. Lertzman, Environmental Melancholia. Psychoanalytic dimensions of engagement, New York 2015, 4–8.
61
Vgl. ebd., 105.
62
Vgl. B. Liebsch, Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist 2006, 32; 131.
63
Vgl. ebd., 43.
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dargelegt, ist der Protest.64 Die moralische Trauer bleibt auch nicht auf den persönlichen Bereich beschränkt, sie weitet sich, indem sie sich mit anderen Trauernden verbindet. Sie bewegt, weil sie Menschen im gemeinsamen Handeln miteinander vereint. Es ist diese Trauer, die zur Platzhalterin von Zukunft avancieren kann, besitzt sie doch das Potenzial, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit hervorzubringen. Solche Erfahrungen vermögen Milieus zu gebären, in denen sich Möglichkeitssinn einstellen kann, denn, so Adorno: »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.«65 Jede noch so kleine widerständige Veränderung, die wir* handelnd ermöglichen, offenbart uns: Anderes ist möglich! Auf diese Erfahrungen sind wir* angewiesen, leiden wir* doch an zu viel sogenanntem Realitätssinn. Dennoch: Was nützt es zu handeln, was bringt es, wenn Menschen in ihrem alltäglichen Leben Verschmutzung und Ressourcenverbrauch immer mehr zu vermeiden versuchen und gleichzeitig sehen, wie die Luftverschmutzung immer weiter ansteigt, beispielsweise durch die Containerschifffahrt oder den Geltungswahn bestimmter Superreicher, die mit ihren Reisen ins All gigantische Tonnen an CO2 ausstoßen? Angesichts dieser Ungleichgewichtigkeit fällt es schwer, aufkommende Ohnmachtsgefühle zu unterdrücken. Dennoch gilt es, dagegen anzukämpfen, weil solche Gefühle das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl beschädigen. Dabei hilft ein Rat von Adorno: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.«66 Sich nicht dumm machen zu lassen heißt, die Ursachen und Machtverhältnisse offenzulegen und gleichzeitig die Rückseite der Machtverhältnisse derart hervortreten zu lassen, dass das Ohnmächtige zur »Spiegelschrift [seines] Gegenteils«67 avanciert. Ohnmachtserfahrungen sind häufig Erfahrungen des Scheiterns. Wenn es nun gelingt, die Orte des Scheiterns neu zu besetzen, etwa durch Praktiken einer sorgenden Solidarität, 64
Vgl. ebd., 149.
65
Th. W. Adorno, Negative Dialektik, 391.
66
Ders., Minima Moralia, 67.
67
Ebd., 334.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
welche neue Beziehungsweisen stiften, dann blitzen Alternativen zum Status quo auf.68 In solchen Situationen ist das, was Psycholog*innen als Metaphorisierungskompetenz bezeichnen, förderlich: die Fähigkeit, das Kleine mit dem Großen in Beziehung zu setzen, zu unterstellen, dass das eigene Handeln Auswirkungen auf das Ganze haben kann. Wie heißt es etwa im Talmud: »Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.« Aber mal ganz ehrlich, wen rette ich denn, wenn ich immer wieder an mir selbst scheitere, wenn ich angesichts meines eigenen Verhaltens mit Inkonsequenz und vor allem Widersprüchlichkeit konfrontiert werde? Solche Anfragen lassen regelmäßig Schamgefühle aufkommen, die irgendwann in Selbsthass umkippen können. Der Psychologe Leon Festinger hat für diese Disposition den Begriff »kognitive Dissonanz« geprägt.69 Damit verweist er auf den Graben zwischen unseren Überzeugungen und unserem Verhalten. Eine kognitive Dissonanz baut Druck auf. Wenn unser Verhalten nicht mit unseren Überzeugungen übereinstimmt, dann richten wir* unser Bestreben darauf, die Dissonanz zu reduzieren. Schlagen Versuche der Dissonanzreduktion fehl, dann stellen sich »Symptome psychischen Unbehagens« ein.70 Ausgeprägte Dissonanzen können sogar zu einer Dissoziation führen, in deren Verlauf das Selbst jegliche Verantwortung für sein Handeln ablehnt und Kräfte jenseits seines Selbst dafür verantwortlich macht, sich selbst betrügt. Dissonanzerfahrung ist drückend, aber sie macht das Leben aus. Sie ist eine treibende Kraft der Veränderung des Selbst. Es gibt kein menschliches Leben ohne Dissonanz.71 Da mithin unterstellt werden darf, dass auch andere Menschen mit Dissonanzen in ihrem Leben umgehen müssen, ist es ratsam, die Selbsttransformation als eine soziale Angelegenheit 68
Vgl. E. v. Redecker, Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wan-
69
Siehe: L. Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, Bern 2 2012.
70
Ebd., 35.
71
Dieser Abschnitt stammt im Wesentlichen aus: J. Manemann, Kritik des An-
dels (E-Book), Frankfurt 2018, Pos. 2766.
thropozäns, 65–67.
119
120
Rettende Umweltphilosophie
zu betrachten. In nachbarschaftlichen oder anderen Bündnissen wird es eher gelingen, Klimaschutzziele auf den eigenen Alltag herunterzubrechen und einen produktiven Umgang mit Dissonanzen zu finden. Gespräche mit anderen dienen des Weiteren der Selbstvergewisserung. Sie bieten die Möglichkeit, herauszufinden, was denn die eigenen Bedürfnisse sind, und wie das Selbst diese Bedürfnisse befriedigen kann, ohne sich und andere zu verletzen.72 Solche Bündnisse können neue Beziehungen stiften, durch die gegenwärtige Entfremdungen aufgebrochen werden. Die Philosophin Rahel Jaeggi definiert Entfremdung als eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit«73 . Entfremdung verdinglicht Welt, macht sie grau, leer und tot. Entfremdung verursacht Naturzerstörung. Das Gegenteil von Entfremdung ist Resonanz: »berührt werden, und auch die Welt erreichen können. Nicht verschlossen, sondern offen sein.«74 Je mehr uns Resonanzerfahrungen abhandenkommen, desto zerstörerischer wird unser Verhalten. Hartmut Rosa zufolge sind Resonsanzerfahrungen unverfügbar. Aus diesem Grund sind sie Unterbrechungen unserer »System-Welt«. Sie gründen in einer Empfindlichkeit für das, was um uns herum geschieht. Diese Empfindlichkeit bleibt nicht in einem Betroffensein stecken, sondern generiert eine Aktivität, die auf anderes wirkt, ohne dieses zu dominieren, dabei aber auch das Selbst verändert.75
72
Vgl. H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, in: ders., Schriften 8, Frankfurt 1984, 237–317, 245.
73
R. Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Berlin 2016, 20.
74
H. Rosa, Warum Achtsamkeit nicht möglich ist, wenn die Welt nicht achtsam ist (und was wir dennoch tun können), in: F. v. Rootselaar, Leben in schwierigen Zeiten, Darmstadt 2019 (E-Book), Pos. 854–964, Pos. 925.
75
Siehe: ders., Für eine affirmative Revolution. Eine Antwort auf meine Kritiker_innen, in: C. H. Peters/P. Schulz (Hg.), Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion, Bielefeld 2017, 311–329.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
VI.3.3 Maritime Schönheit Aber was bedeutet all das angesichts der grassierenden Zerstörung, gerade auch im Blick auf die Industrialisierung des Meeres? Der Eindruck könnte sich aufdrängen, die bisherigen Überlegungen seien letztlich nichts anderes als Ausdruck einer romantischen Sentimentalität, für die es in der sogenannten Realpolitik keine Spielräume gibt. Erfordert nicht die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte »Zeitenwende« , die der russische Angriff auf die Ukraine eingeläutet hat, aufgrund der Energiesicherheit massive Eingriffe in die Natur, vor allem in maritime Räume? Was das für Konsequenzen mit sich bringt, schildert die ZeitJournalistin Petra Pinzler, die den Wirtschaftsminister Robert Habeck am 5. März 2022 bei einer Schiffstour begleitete. Die Teilnehmenden konnten während der Fahrt beobachten, »wie der erste von 150 Stahlpfählen für das neue LNG-Terminal in den Boden getrieben wurde. Habeck verteidigte das Projekt im NDR so: ›Das Problem der Schweinswale ist die Fischerei. Die verenden in den Stellnetzen. Die werden hier möglicherweise verscheucht. In der Abwägung ist das hinzunehmen, wenn wir genug Meeresschutz an anderer Stelle betreiben.‹ Während Habeck sprach, schallte ein lauter metallischer Rumms über die Bucht, dann wieder einer. Rammschläge. Das Rammen von Metall in den Meeresboden erzeugt Geräusche, die für Menschen unangenehm sind. Für Schweinswale aber, die in der Nähe schwimmen, sind sie unerträglich – schmerzhaft wie ein plötzliches Blitzlichtgewitter, bei dem man die Augen schließen kann, geblendet und betäubt. Walforscher wissen das sehr genau, sie konnten das an anderen Baustellen immer wieder beobachten. Wenn beispielsweise Windräder ohne Schallschutz in den Boden gerammt wurden, flüchteten selbst Tiere, die zehn Kilometer von der Baustelle entfernt waren. Sind die Wale zu nahe an der Lärmstelle, tauchen sie
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Rettende Umweltphilosophie
tief und bleiben wie betäubt am Grund liegen. Manche sind vorübergehend hörgeschädigt, andere bleiben dauerhaft taub.«76 Nun werde zwar, so heißt es, Lärmschutz beachtet, aber gerade am Jadebusen könnte sich der Schall aufgrund der geographischen Gegebenheiten wie eine Mauer aufbauen – das wäre eine Katastrophe für die Tiere.77 Angesichts dieser Rohheit scheint der Verweis auf die »Ehrfurcht vor dem Leben« auf den ersten Blick bestenfalls naiv. Aber ist die sich gerade durchsetzende »Realpolitik« nicht banal? In der »naiven« Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben blitzt immerhin der Gedanke auf, dass es anders sein könnte. Die banale Rohheit sogenannter Realpolitik lässt hingegen Neues nicht aufkommen. Aus der Ehrfurcht vor dem Leben entsteht eine Kraft, die Bestehendes durchbricht und überschreitet. Mit jeder Sensibilisierung wächst diese Kraft zur Kraft gegen die Rohheit der »Realpolitik« an. Deshalb ist es wichtig, in die Klangwelt des Meeres abzutauchen. In der »Sound library« der Dosits Webseite (Discovery of Sound in the sea)78 ist es möglich, sich einzelne Klänge verschiedener Meereslebewesen anzuhören und deren Bedeutung zu erspüren. Das reicht aber nicht aus. Und so hat der Komponist und Dirigent Thorsten Encke mit Unterstützung der Meeresbiologin Stephanie Plön (Universität Stellenbosch/Südafrika) ein musikalisches Werk geschaffen, das Menschen für die Klänge des Meeres zu sensibilisieren vermag: »The ocean is a noisy place«. Im Programmheft zum Werk heißt es: »Erst in jüngster Zeit lernen wir mithilfe neuer Technologien die vielfältigen Töne der überraschend unerforschten Tiefen der Ozeane kennen. Wir beginnen zu verstehen, dass Lebewesen, die ihre gesamte Existenz unter der Wasseroberfläche der Ozeane 76
P. Pinzler, Und was machst du so? Bisher lebten Schweinswale gern im Jadebusen, in: Die Zeit v. 14.07.2022.
77
Vgl. ebd.
78
Siehe: https://dosits.org/galleries/audio-gallery/ (abgerufen am 10.12. 2022). Diesen Hinweis verdanke ich Stephanie Plön, die darüber forscht, was Meeresgesundheit aus transdisziplinärer Perspektive heißen kann.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
verbringen, ein eigenes akustisches System zu ihrem Überleben brauchen. Wir realisieren, dass menschlich-technischer Lärm die oft filigranen Abläufe dieser faszinierenden Ökosysteme empfindlich stört.«79 Die Musik von Encke hilft uns, die Schönheit der Natur im Klang wiederzuentdecken. Das Hören der Töne der Tiere und der Musik vermittelt auf unmittelbare Weise die sinnliche Erkenntnis vom Eigenwert dieser Natur. Mit der Musik wird ein Wahrnehmen der Töne ermöglicht, das diese nicht festlegt, sondern für ihre Mehrdeutigkeiten öffnet. Dadurch schafft der Komponist einen Zugang zum Meer, »der es in seiner begrifflich unerreichbaren Komplexität zur Anschauung bringt«80 . Die Kunst stellt somit eine Verbindung her zwischen dem Terrestrischen und dem Maritimen. Die Bedrohung einzelner Fische vermittelt die Bedrohung der Erde. Schließlich ist die Erde vor allem ein maritimer Planet – viele Menschen verdrängen diese für das terrestrische Überleben wichtige Erkenntnis. Es kommt darauf an, zu erspüren, was um uns herum geschieht, um zu verstehen. Die Künste können uns helfen, unsere Leidempfindlichkeit zu kultivieren. Ohne diese Empfindlichkeit gibt es kein Handeln. Handeln gründet nämlich nicht nur und nicht in erster Linie auf Informationen und Argumenten. Die entscheidenden Motivationsquellen des Handelns sind Bilder, Imaginationen, die in uns Emotionen freisetzen, welche uns antreiben. Vergessen wir* dabei aber nicht, dass Bilder Inszenierungen sind, und dass keine Inszenierung unschuldig ist. Ulrich Beck hat auf diese Ambivalenz hingewiesen. Wir* müssen immer wieder kritisch fragen: Welche Bilder werden mit der jeweiligen Inszenierung in die Köpfe der Menschen hineingetragen?81 Und das gilt erst recht, wenn es um
79
C. Lütcke, Programmheft musica assoluta, »The ocean is a noisy place«, 26.11.2022 (NDR-Sendesaal Hannover).
80
M. Seel, Kontemplation, 50.
81
Vgl. U. Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt 2007, 30f.
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Rettende Umweltphilosophie
die Inszenierung einer Katastrophe geht. Die Einsicht in die Inszenierung der Katastrophe bedeutet aber nicht, dass die Rede davon keinerlei Realitätsgehalt besitzt.82 Es bedeutet allerdings, wie Beck schon im Blick auf Risiken geschrieben hat: »(…) im Umgang mit [Katastrophen] kann niemand sich allein auf eine externe Realität berufen. Die [Katastrophen], die wir zu erkennen glauben und die uns Furcht einflößen, sind das Spiegelbild unserer selbst, unserer kulturellen Wahrnehmungen.«83 Während ich diese Zeilen über die maritime Schönheit niederschreibe, geht die Nachricht über den Newsticker, dass die UN-Mitgliedsstaaten ein Hochseeabkommen zum Meeresschutz verabschiedet haben: »Biodiversität jenseits nationaler Gesetzgebung«. Dieser völkerrechtlich bindende Vertrag sieht vor, 30% des Meeres bis 2030 unter Schutz zu stellen. Die Vereinten Nationen hatten bereits zuvor die Ozean-Dekade unter dem Titel »The Ocean Decade. The Science We need for the Ocean We Want« ausgerufen. Das kann ein Hoffnungszeichen sein. Es bleibt aber die Frage: Wer ist dieses »Wir«? Das »Wir« bezieht sich auf die Menschen. Zwar ist es inklusiv in dem Sinne gemeint, als es die Interessen maritimer Lebewesen mit zu berücksichtigen beabsichtigt. Aber diese werden immer vor dem Hintergrund der Bedürfnisse der Menschen gewichtet. Ob diese Dekade tatsächlich das Potenzial besitzt, einen Bewusstseinswandel einzuleiten, hängt davon ab, ob es gelingen wird, mehr und mehr die nichtmenschlichen Lebewesen in das »Wir« zu integrieren, und zwar derart, dass ihre Stimme unüberhörbar wird. Vergessen wir* nicht: Der Vertrag ist nicht das Resultat einer ethischen Nötigung, die sich der Ehrfurcht vor dem Leben verdankt. Er ist das Ergebnis der Einsicht in die Gefährdetheit der Menschheit.
VI.3.4 Minimalismus Auf der Würzburger Synode wurde 1975 ein Papier mit dem Titel »Unsere Hoffnung« verabschiedet, das die Handschrift von Johann 82
Vgl. ebd. 35.
83
Ebd., 36.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
Baptist Metz trägt und auch für uns heute wichtige Einsichten bereithält: »Mit zunehmender Deutlichkeit erfahren wir heute, daß diese Entwicklung nicht unbegrenzt ist, ja, daß die Grenzen der wirtschaftlichen Expansion, die Grenzen des Rohstoff- und Energieverbrauchs, die Grenzen des Lebensraums, die Grenzen der Umwelt- und Naturausbeutung eine wirtschaftliche Entwicklung aller Länder auf jenes Wohlstandsniveau, das wir gegenwärtig haben und genießen, nicht zulassen. Angesichts dieser Situation wird von uns – im Interesse eines lebenswürdigen Überlebens der Menschheit – eine einschneidende Veränderung unserer Lebensmuster, eine drastische Wandlung unserer wirtschaftlichen und sozialen Lebensprioritäten verlangt, und dies alles voraussichtlich noch innerhalb eines so kurzen Zeitraums, daß ein langsamer, konfliktfreier Lern- und Anpassungsvorgang kaum zu erwarten ist. Es werden uns neue Orientierungen unserer Interessen und Leistungsziele, aber auch neue Formen der Selbstbescheidung, gewissermaßen der kollektiven Aszese abverlangt. Werden wir die in dieser Situation enthaltene Zumutung aggressionsfrei verarbeiten können? Jedenfalls wird diese Situation zum Prüfstand für die moralischen Reserven, für die gesamtmenschliche Verantwortungsbereitschaft in unseren hochentwickelten Gesellschaften werden. Wer wird die damit geforderte folgenreiche Wandlung unseres Bewußtseins und unserer Lebenspraxis in Gang setzen und nachhaltig motivieren?«84 Rettende Umweltphilosophie greift die Forderung nach einer »kollektiven Aszese« auf. Sie ist Widerstand gegen die Pleonexie, dem »Immer-mehr-haben-Wollen«; wir »müssen wieder lernen«, in dieser »nicht einen Vorzug, sondern wie die Alten jenen Charakterzug zu sehen, der die Niedrigkeit und Vulgarität eines Menschen aufs Unwiderruflichste offenbart. Wir müssen wieder lernen zu sagen:
84
Unsere Hoffnung, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg/Basel/Wien 1976, 84–111, 110. An diesen Abschnitt hat mich Bruno Kern erinnert.
125
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Rettende Umweltphilosophie
›Das ist genug.‹; wir müssen die Grenzen lieben lernen.«85 Aber die mit der kollektiven Aszese einhergehende Transformation gelingt nur aggressionsfrei, wenn Menschen durch sie empowert werden. Hier kann der Minimalismus ein inspirierendes Hilfsmittel sein. Der Begriff »Minimalismus« ist »ein Sammelbegriff unterschiedlicher Praktiken, Ästhetiken und Motivationen«86 . Er kann leicht missverstanden werden. Der -ismus klingt zunächst verdächtig, nach dogmatischer Weltanschauung. Dabei ist Minimalismus nichts anderes als »ein Werkzeug, um Überflüssiges im Leben abzulegen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Glück, Erfüllung und Freiheit zu finden«87 . Deshalb kennt Minimalismus keine Dogmatik. Er offeriert stattdessen ein Set von Praktiken, das Menschen helfen soll, »ein sinnerfülltes Leben [zu] leben«88 . Das kennzeichnet seine Stärke, aber auch seine Schwäche. Mit ökonomischen Produktionsbedingungen unter kapitalistischen Verhältnissen setzt er sich nicht direkt auseinander. Und so besteht immer die Gefahr, dass Minimalismus wider Willen die gegenwärtigen Verhältnisse stabilisiert und Depolitisierungen forciert. Überdies kann die unreflektierte Forderung nach universaler Geltung des Minimalismus neo-koloniale Mechanismen fördern.89 Unterstützt wird diese Gefahr durch die Tatsache, dass Minimalismus zumindest zu Beginn seiner Entwicklung »dominant weiß« gewesen ist.90 Der kritische Blick auf den Minimalismus sollte aber nicht verkennen, dass dieser sich in Deutschland im Kontext der »Krise des deutschen Wohnungsmarktes in den Großstädten«
85 86
V. Hösle, Ökologische Krise, 79. H. Derwanz, Perspektiven auf das Phänomen des Minimalismus. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Minimalismus. Ein Reader, Bielefeld 2022, 7–33, 7.
87
J. Fields Millburn/R. Nicodemus, Minimalismus. Der neue Leicht-Sinn, München 2018, 33.
88 89
Ebd., 39. Vgl. H. Derwanz, Einfachheit, Glück und Askese. Themen minimalistischer Auseinandersetzung in Deutschland, in: Minimalismus, 111–136, 132.
90
Vgl. A. Geiger, Minimalismus als Universalismus. Zur Ästhetik des Weniger in der Moderne, in: Minimalismus, 183–204, 186.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
und der »›grünen‹ Bewegungen« ausbreitet.91 Insofern könnte die Bewegung also auch als »eine politische Antwort auf die Konsumgesellschaft« gedeutet werden.92 Darüber hinaus lässt sich auch nicht bestreiten, dass Minimalismus Menschen für die materielle Dimension des Alltags und die »Wirkmacht von Dingen« sensibilisiert, »die sie in Verbindung mit menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen haben«.93 Deshalb sollten trotz aller berechtigten Kritik die Potenziale des Empowerments, die dem Minimalismus inhärent sind, nicht unterschätzt werden: »Minimalismus trägt das Potenzial in sich, den Alltag von Menschen so zu verändern, dass ihr Umfeld und auch die Erde positiv beeinflusst werden. Minimalismus ist (…) ein altes, anthropologisches und – aufgrund der weitreichenden Konsequenzen – zugleich hoch brisantes und aktuelles Thema.«94 So sieht der Kulturanthropologe Timo Heimerdinger in den Praktiken »fortgesetzte Bearbeitungen und Transformationen der eigenen Denk- und Konsumgewohnheiten, die mit Bewusstseinsarbeit und Gewohnheitsbrüchen verbunden sind und von einer starken Zukunftsorientierung getragen werden«.95 Kritisch vermerkt jedoch die Kulturanthropologin Verena Strebinger, dass »Minimalist:innen (…) nicht zwingend nachhaltige textile Alltagspraktiken« ausübten: »Der minimalistische Prozess hat zumeist persönliches Wohlbefinden und Zufriedenheit anstatt eines
91
H. Derwanz, Perspektiven, 16.
92
So die Ethnologin Lisa Maile, in: H. Derwanz, Perspektiven, 16.
93
H. Derwanz, Perspektiven, 9.
94
Ebd., 25.
95
T. Heimerdinger, Minimalismus alltagskulturell. Konsumverzicht als komplexe Tauschpraxis, in: Minimalismus, 35–56, 41.
127
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Rettende Umweltphilosophie
geringeren ökologischen Fußabdrucks als Ziel.«96 Demgegenüber betont der Kulturpsychologe Herbert Fitzek, dass »der Minimalismus – verstanden als selbstgewählte Konzentration auf das wesentliche Rüstzeug der Lebenswelt – eine bedeutende und vielversprechende Bewegung gegen die Gleichgültigkeitsund Überflussgesellschaft [ist]. Er bildet zusammen mit Phänomenen wie Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Solidarität mit Benachteiligten und Schutzbedürftigen ein aktuelles Gegengewicht gegen fortschrittsbesessene Gefährdungen einer offenen Gesellschaft.«97 Er merkt jedoch an: »(…) neu und originell ist das minimalistische Denken nicht«98 . Es gibt Vorläufer, und diese sind sozialkritisch motiviert. So wurzelt etwa die christliche Aszese in der Nachfolgepraxis der Jesusbewegung, und das heißt: im Kampf für die Armen. Vermutlich knüpfen Minimalist*innen nicht an solche Bewegungen an, um dem Vorwurf der Ideologisierung und Vereinnahmung zu entgehen. Diese Vorwürfe könnten jedoch wie ein Bumerang zurückkehren, wenn der Eindruck entstehen würde, Minimalismus sei letztlich bloß Aszese kupiert um die Frage der Gerechtigkeit. Die Grundmaxime des Minimalismus lautet: »Consume less, create more.« Sie zeigt, dass es nicht um bloßen Verzicht geht, denn ein Weniger auf der einen Seite führt zu einem Mehr auf der anderen. Wenn ich weniger konsumiere, werde ich aktiver, kreativer. Alle Lebewesen müssen, um zu leben, anderes in sich aufnehmen. Konsumieren bedeutet jedoch, etwas zu besitzen, zu ge- und verbrauchen, das nicht lebensnotwendig ist. Konsumieren geht häufig mit einem Zwang einher, den Menschen unmittelbar spüren, wenn sie davon berichten, in einem »Kaufrausch« gewesen
96
V. Strebinger, Einblicke in minimalistische Kleiderschränke. Von textilen Alltagspraktiken und minimalistischen Prozessen, in: Minimalismus, 69–88, 84.
97
H. Fitzek, Rückzug als Fortschrittsutopie. Kulturpsychologische Anmerkungen zum Minimalismus, in: Minimalismus, 89–110, 89.
98
Ebd.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
zu sein. Dadurch entstehen nicht nur Abhängigkeiten, auch knappe Ressourcen wie Zeit und Geld werden verbraucht. Wenn es nun dem Selbst gelingt, durch minimalistische Praktiken um sich herum eine äußere Leere zu schaffen, durch die es derart auf sich selbst zurückgeworfen wird, dass es genötigt wird, die eigene innere Leere zu erkennen, dann kann diese Erkenntnis der Beginn eines bewussten Lebens sein und Raum eröffnen für existentielle Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Was sind meine Bedürfnisse? … Diese Fragen helfen, bewusster zu leben und Fähigkeiten zu erwerben, die erkennen lassen, dass ich ein sterbliches Wesen bin. Sterben lernen ist ein Prozess, der verlangt, loslassen zu können. Wer ständig Gegenstände hortet, erwirbt diese Fähigkeit nicht. In diesem Sinne kann ein minimalistisches Leben helfen, Sterben zu lernen und Endlichkeitskompetenz auszubilden. Wer minimalistisch lebt, hat mehr Zeit für Beziehungen. Aus der Steigerung der Beziehungsaktivitäten entstehen neue Beziehungsnetzwerke: Stammtische, Tauschbörsen etc. Letztere besitzen auch eine ökonomische Bedeutung. Neue Formen wirtschaftlichen Handelns werden praktiziert, die auf Kooperation und Mitmenschlichkeit beruhen. Dennoch ist kritisch anzumerken, dass »Minimalismus in Deutschland (…) vor allem digital statt[findet]. Nur Ratgeberbücher und Stammtische sind örtlich, sprachlich und national gebunden.«99 Ob Minimalismus eine Zukunft haben wird, hängt davon ab, inwiefern es ihm gelingen wird, sich von dem Verdacht zu befreien, er sei ein Luxus, den sich nur Privilegierte leisten könnten. Faktisch ist der Vorwurf wohl auch nicht haltbar, gibt es doch unter den Minimalist*innen Aktivist*innen, die ihre eigene prekäre Existenz durch den Minimalismus resignifiziert haben. Mit der Besetzung ihrer Lebenslage durch neue Praktiken ist es ihnen gelungen, sich zu empowern. Des Weiteren gilt es, soziale, gerechte und kapitalismuskritische Komponenten hervorzuheben, die sich, wenn auch spärlich, finden lassen. So enthält das »Minimalismus Manifest« die Forderung, sozial verantwortlich zu handeln, eigene
99
H. Derwanz, Einfachheit, 131.
129
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Rettende Umweltphilosophie
Entscheidungen im Blick auf die Gesellschaft zu befragen, die Konsument*innenverantwortung wahrzunehmen. Angemahnt wird die Verantwortungsübernahme für die Erde.100 In Prinzip sieben heißt es: »Die kapitalistische Wirtschaft schafft zunehmend eine Atmosphäre der Übersättigung. Das führt dazu, dass wir in einer Wegwerfgesellschaft leben. Mit den Ressourcen wird nicht sorgsam umgegangen. Zu häufig ist uns gar nicht bewusst, dass wir nur deshalb auf diesem Niveau leben können, weil wir in einem System der Ausbeutung leben. Wir beuten andere Menschen, Tiere und die Natur aus, um dieses Leben führen zu können und billige Produkte zu kaufen. Denn oftmals zahlen wir nicht den realen Preis für Produkte, weil andere einen Teil für uns übernehmen.«101
VI.3.5 Widerstandsfestigkeit Minimalismus kann eine aktiv-kontemplative Achtsamkeit für das Leben fördern. Eine solche Achtsamkeit besitzt das Potenzial zur aktiven Widerstandsfestigkeit/ Resilienz.102 Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, Resilienz sei das Gegenteil von Resonanz, hören wir* doch landauf landab davon, dass unsere Systeme vulnerabel seien, deshalb überprüft und resilient gemacht werden müssten. Resilienz in diesem Sinne will Vulnerabilitäten beseitigen, Brüchigkeiten und Zerbrechlichkeiten eines Systems kitten. Im Blick auf Menschen verhält es sich jedoch anders: Wir* werden resilient, wenn wir* unser »Fenster der Verwundbarkeit« (D. Sölle) nicht schließen. Das zeigt ein Blick in die Resilienzforschung. Der Begriff der Resilienz stammt bekanntlich aus der Psychologie und Pädagogik. Häufig wird Resilienz missverstanden als ein
100 Vgl. Prinzip sechs, in: Minimalismus Manifest: These 6: http://minimalism us.jetzt/manifest/ (abgerufen am 04.03.2023). 101
Prinzip sieben, in: ebd.
102 Dieses Unterkapitel stammt in weiten Teilen aus: J. Manemann, Kritik des Anthropozäns, 62–65.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
passives Ertragenkönnen. Es geht aber nicht um Passivität, sondern um eine Widerstandsfestigkeit, die in unvorhersehbaren Situationen Handlungsfähigkeit ermöglicht.103 Resilienz wird hier verstanden als eine Form des Empowerments, durch die Menschen ermächtigt werden, selbst unter schwierigsten Bedingungen ein humanes Leben zu führen. Die Resilienzforschung hat Faktoren analysiert, die resilientes Verhalten auslösen und unterstützen: Bindung ist unerlässlich.104 Des Weiteren: »Ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft, das Vertrauen in die Bedeutung der eigenen Person und des eigenen Handelns und auch der Glaube an einen höheren Sinn im Leben, all dies stärkt weiteren Studien zufolge Menschen so, dass sie Herausforderungen besser begegnen können.«105 Insbesondere frühzeitige Verantwortungsübernahme ist hier zu nennen. Aus der Erfahrung von Selbstwirksamkeit entsteht ein Selbstwertgefühl.106 Starksein im Sinn der Resilienz bedeutet nicht, unverwundbar zu sein. Gerade die Verbindung mit anderen Bezugspersonen setzt Empfindlichkeit für deren Anliegen voraus, die in einer alle Menschen prägenden Vulnerabilität gründet. Aus der Perspektive der Resilienz betrachtet heißt stark sein, nicht in Frust, Trauer und Schrecken stecken zu bleiben. Resilienz schützt allerdings nicht vor Zweifel und Verzweiflung.107 In der Situation einer Katastrophe haben sich als resilient erwiesene Menschen zumeist nicht gefragt »Was kann ich tun?«, sondern »Was kann und muss ich
103
Vgl. zu den folgenden Ausführungen: C. Wustmann, Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung. Wie Kinder Lebensbelastungen bewältigen, in: Zeitschrift für Pädagogik 2 (2005), 192–206.
104 Vgl. C. Berndt, Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burn-out, München 2013, 67. 105
Ebd., 72.
106 Vgl. ebd., 79f. 107
Vgl. ebd., 85.
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Rettende Umweltphilosophie
lassen und loslassen?«.108 So entstehen Handlungsräume, in denen sich Neues einstellen kann. Vulnerabilität zeichnet Leben aus. Und sie ist nicht das Gegenteil von Widerstandsfestigkeit, sondern deren Bedingung. Widerstandsfestigkeit, die Fähigkeit, unter schwierigsten Bedingungen ein humanes Leben zu führen, setzt Bindungsfähigkeit voraus, und diese basiert wiederum auf der Fähigkeit, durch die tiefen Anliegen Anderer verwundet zu werden. Ohne diese Verwundbarkeit gibt es keine Widerstandsfestigkeit.
VI.3.6 Aktiv-Kontemplative Achtsamkeit Wenn im Zusammenhang der Lebenspraxis rettender Umweltphilosophie von Achtsamkeit und Kontemplation gesprochen wird, so geht es nicht um Meditation, erst recht nicht um Meditation als eine Technik, die hilft, uns zu sammeln, in einen Atemrhythmus hineinzufinden, ruhig zu werden.109 Solche Techniken sind gut und wichtig. Aber Kontemplation ist keine Technik. Kontemplation heißt, sich und anderes aus der Nähe betrachten. Es erfordert, wie Baldur Kirchner ausgeführt hat, die Bereitschaft zur Selbstreflexion, zum Loslassen und zur Wachheit.110 Kontemplieren bedeutet, einfach zu sein, das heißt, ohne Absicht zu sein – und nichts mehr. Kontemplation ist nichts Esoterisches, keine reine Innerlichkeit. Sie schließt nicht vom Außen ab. Sie lässt das Äußere ins Innere hinein und verknüpft das Innere in neuer Weise mit dem Äußeren. Ein aktiv-kontemplatives Leben besteht in der wechselseitigen Verschränkung von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung. Kontemplation steht für eine paradoxale Erfahrung. Indem das Selbst die Kontrolle über sich aussetzt, gewinnt es diese in neuer
108 M. Gruhl, Die Strategie der Stehauf-Menschen. Krisen meistern mit Resilienz, Freiburg 2010, 36. 109 Wesentliche Teile dieses Unterkapitels stammen aus: J. Manemann, Plädoyer für aktive Widerstandsfestigkeit, in: eύangel 1 (2021). 110
Vgl. B. Kirchner, Der kontemplative Weg. Begegnungen mit der persönlichen Innenwelt, Kammeltal 2008, 40–56.
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
Weise. Kontemplation ist ein Geschehen, das öffnet: für Unterdrücktes – biographische Ruinen –, für Neues und für das Grundbefinden der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz.111 Ein kontemplatives Leben schafft Raum für Andere und Anderes. Kontemplation ist ein aufmerksames »Sich-Aussetzen«, das Lebensaktivität, Demut, Gesprächsfähigkeit, Gelassenheit etc. hervorbringt.112 Kontemplation ist ein Milieu, in dem Haltung wachsen kann. Ein kontemplatives Leben ist das Gegenteil eines entfremdeten Lebens. Der kontemplative Weg bricht die Entfremdung zur eigenen Person, zu den Mitmenschen, zu nichtmenschlichen Lebewesen und der übrigen Natur auf. Es gibt deshalb auch keine Kontemplation ohne Aktion. Der kontemplierende Mensch wünscht sich die Welt nicht weg. Weltverstrickung ist die Voraussetzung für Kontemplation. Eine aktiv-kontemplative Achtsamkeit für die Welt gewinnt wiederum ihre Festigkeit im Widerstand gegen eine extraktivistische Zivilisation, die eine Welt- und Selbstentfremdung zur Folge hat, welche dazu führen, dass wir* uns immer mehr von der Zukunft dieser Welt verabschieden und durch dieses Verhalten die jungen Generationen fatalisieren. Aktiv-kontemplative Achtsamkeit ist Einübung in ein widerständiges Unterlassen, welches die Voraussetzung dafür ist, dass Andere und Anderes überleben können: »Der Naturschutz dürfte in einer aktionistisch betriebsamen Kultur wie der unsrigen auch deshalb schwer zu vermitteln sein, weil er häufig Unterlassungen fordert. Einer Zivilisation, die ihren eigenen Mitgliedern kaum noch Ruhe, Muße und Erholung gönnt, dürfte es sozialpsychologisch nicht leichtfallen, von Eingriffen in die Natur Abstand zu nehmen.«113
VI.3.7 Suffizienz Wenn wir* unsere Lebenspraxis bedenken, so ist es wichtig, immer wieder die ökonomische und gesellschaftspolitische Einbettung der
111
Vgl. ebd., 14.
112
Vgl. ebd., 96–108.
113
K. Ott, Umweltethik, 42.
133
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Rettende Umweltphilosophie
hier genannten Selbsttransformationen zu analysieren, damit diese sich nicht – nolens volens – in ihr Gegenteil verkehren. Deutlich wird das durch einen Blick auf unsere immer wieder betonte Verantwortung als Konsument*innen. Diese sollte nicht als eine Konsument*innensouveränität missverstanden werden. Konsum dient der Bedürfnisbefriedigung. Aber wer weckt welche Bedürfnisse? Wie eine Studie von Naomi Oreskes und Geoffrey Supran zeigt, haben beispielsweise ExxonMobil und Shell alles darangesetzt, uns Konsument*innen einzureden, dass wir* wegen unseres ständig steigenden Verbrauchs die Verantwortung für die Klimakatastrophe zu tragen hätten.114 An dieser Stelle zeigt sich, dass rettende Umweltphilosophie nicht auf Ideologiekritik verzichten kann. Wenn wir* über Lebenspraxis nachdenken, treten Alltagssituationen in den Blick. Von diesem Blick aus wäre das Ganze neu zu perspektivieren. Immer noch beherrschen Effizienz und Wachstum die klimapolitischen Debatten. Der Blick vom Alltag her bricht diese Verengung auf, sind doch die alltäglichen Herausforderungen mit der ökologischen und klimatischen Katastrophe weniger durch Effizienz als durch Suffizienz gekennzeichnet. Im alltäglichen Miteinander lernen wir* zu unterscheiden: zwischen unseren Wünschen und dem, was wir* uns nicht zu wünschen wünschen. Der Philosoph Harry Frankfurt, der diese Unterscheidung getroffen hat, schlägt vor, die Wünsche, die auf unmittelbare Bedürfnisse ausgerichtet sind, von den Wünschen her zu beurteilen, in denen wir* beispielsweise wünschen, etwas nicht zu wünschen. Diese Wünsche zweiter Ordnung, wie Frankfurt sie nennt, sind es, die dem Leben einen Sinn und eine Richtung geben.115 Sie beziehen sich nie allein auf individuelle Wünsche, sondern immer auch auf das, was andere sich wünschen.116 Wünschen wir* uns heute nicht, nicht noch mehr zu verbrauchen? Was wir* so dringend benötigen, ist eine »Suffizienzrevolution«, die »sich u.a. aus der Empfindung des intrinsischen Wertes 114
Vgl. G. Supran/N. Oreskes, Rhetoric and frame analysis of ExxonMobil’s climate change communications, in: One Earth 5 (2021), 696–719.
115
Vgl. H. G. Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen, Berlin 2016, 26.
116
Die beiden letzten Abschnitte finden sich in: J. Manemann, Wie lange noch?
VI. Die Praxis rettender Umweltphilosophie
bedrohter Naturgüter speist«. Ohne eine solche Revolution »werden alle rechtlich-technisch-ökonomischen Fortschritte schwerlich ausreichen«.117 Das lässt sich anhand der »sogenannte[n] Ausgleichregelung« – Neupflanzen von Bäumen etc. – aufzeigen. Diese Regelung, so stellt Martin Gorke fest, »die ursprünglich dazu gedacht war, den Ausverkauf der Natur zu stoppen, legitimiert diesen inzwischen also nicht nur nachträglich, sondern bereits vorher.«118 Gorke formuliert es eindringlich: »Wer vorhat, eine 250 Jahre alte Eiche zu fällen, sollte sich der Schwere dieser Zerstörung bewusst sein und sein Gewissen nicht dadurch beruhigen können, dass er die Fällung mit der Neupflanzung junger Eichen ja ›wiedergutmachen‹ könne. Ihm muss klar sein, dass eine Entität mit Eigenwert im Gegensatz zu einer Entität mit nur instrumentellem Wert nicht ersetzbar ist.«119 Wenn ich von Suffizienz spreche, dann geht es um eine »kollektive Aszese«, die sich als politische Handlungsoption begreift. Sie enthält die Forderung, zu schrumpfen: »Die Wirtschaft wird schrumpfen müssen, bis sie einen Zustand des stabilen Gleichgewichts erreicht hat (steady state).«120 Was das bedeutet, veranschaulicht die Journalistin Ulrike Herrmann wie folgt: »Um sich das ›grüne Schrumpfen‹ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich. Banken werden ebenfalls weitgehend überflüssig, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern. Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist im
117
V. Hösle, Umweltproblem, 33.
118
M. Gorke, Eigenwert der Natur, 184.
119
Ebd.
120 B. Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum, 33.
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Rettende Umweltphilosophie
wahrsten Sinne des Wortes ›alternativlos‹. Wenn wir die emittierten Treibhausgase nicht auf netto null reduzieren, geraten wir in eine ›Heißzeit‹, die ganz von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem Klimachaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den unsere Demokratie nicht überleben würde.«121 Ein grüner Kapitalismus ist nicht die Antwort auf die ökologische und klimatische Katastrophe. Er steht für die fortschreitende Vernutzung von Natur. Seine Perversion zeigt sich in der Bepreisung der Natur, durch die diese zur Ware verdinglicht wird.122 Ein grüner Kapitalismus, so kritisiert Bruno Kern, sehe nicht den Unterschied zwischen »erneuerbar« und »unerschöpflich«.123 Auch das Potenzial erneuerbarer Energien ist schließlich begrenzt.124 Deshalb kommt Kern zu folgendem Schluss: »Wer die Lebensgrundlagen weltweit sichern will, der muss eine Ökonomie und Kultur des ›Genug‹ anstreben, der muss sich vom parasitären Charakter unseres Scheinwohlstands verabschieden.«125 Die Praxis der praktischen Philosophie konfrontiert uns mit Fähigkeiten, die wir* uns nicht antrainieren können. Möglichkeitssinn, Metaphorisierungskompetenz, Resonanz, Widerstandsfestigkeit – all das ist unverfügbar und weist damit in eine Welt, die anders ist als unsere auf Perfektibilität und Machbarkeitswahn gründende Zivilisation. In diesem Sinne besitzt die Praxis praktischer Philosophie einen utopischen Überschuss.
121
U. Herrmann, Das Ende des Kapitalismus, 13.
122
Vgl. B. Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum, 92.
123
Ebd., 63.
124
Vgl. ebd.
125
Ebd., 89. Ob der Ökosozialismus die Lösung ist, kann ich an dieser Stelle nicht diskutieren. Ökosozialismus versteht sich »als doppelte Alternative zum unökologischen Kapitalismus wie zum unökologischen Staatssozialismus. Dass Verstaatlichung noch keine Vergesellschaftung ist, hat die Geschichte gezeigt.« (A. Neupert-Doppler, Ökosozialismus. Eine Einführung, Wien/Berlin 2022, 12).
VII. Das Utopische
VII.1 Das Noch-Nicht Rettende Umweltphilosophie versteht sich als Teil einer »Revolution für das Leben«, wie sie die Philosophin Eva von Redecker angedacht hat.1 Anders als die Revolutionen, die wir* aus der Geschichte kennen, zielt die »Revolution für das Leben« auf einen »allgegenwärtige[n] Umbau des Alltags«, um sich der »Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft in den Weg« zu stellen.2 Diese Revolution zerstört nicht, sondern rettet, und zwar dadurch, dass sie sich, wie von Redecker fordert, des durch die »kapitalistische Sachherrschaft« Verlorengegangenen und Bedrohten annimmt.3 Sie wendet sich gegen Rücksichtslosigkeit, gegen die Perspektive unendlicher Steigerung. Sie will das Bewusstsein für menschliche und planetare Limitationen und Suffizienz schaffen. Dabei geht es nicht darum, für diese Revolution zu sterben, sondern »für die[se] Revolution zu leben«, das heißt, »die schwierigere Aufgabe zu übernehmen, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern«4 . Diese Revolution hat in unterschiedlichen Feldern bereits begonnen. Sie gründet in der Erkenntnis, dass die Erde »kein Eigentum ist,
1
Ausführlich habe ich mich in meinem Buch »Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer« (Bielefeld 2021) mit dem Entwurf von Eva von Redecker auseinandergesetzt.
2
E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M. 2020, 147.
3
Vgl. ebd., 194.
4
Ebd., 147f.
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Rettende Umweltphilosophie
sondern Leben«5 , dass das Land, auf dem wir* leben, nicht »Besitzobjekt« ist, »sondern ein Territorium, das immer schon geteilt [ist], und zwar mit allem, was darauf und davon lebt«.6 Rettende Umweltphilosophie deckt in gesellschaftskritischer Absicht ökonomische, gesellschaftliche, politische und psychologische Handlungsblockaden auf, welche einer »Revolution für das Leben« entgegenstehen. Ihre Kritik der Gesellschaft entwickelt sie nicht exterritorial. Sie sieht sich als Teil der Prozesse und Strukturen, die sie kritisiert. Aber sie geht nicht in der Kritik auf. Sie will mehr. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass wir* »›anders leben‹ lernen müssen, damit andere überhaupt leben können«7 . Sie lässt sich nicht durch den »Sound des Sachzwangs«8 stillstellen, der sogenannte Realpolitik begleitet. Sie wirbt dafür, neue Beziehungsweisen zwischen allem, was ist, zu stiften.9 Denn nur so können wir* die Hoffnung auf eine neue, nachkapitalistische Konvivialität aufrechterhalten. Dazu bedarf es des Utopischen. Die Philosophin Bini Adamczak hat auf den konservativen Charakter gegenwärtiger sozial-ökologischer Bewegungen hingewiesen und Utopie eingefordert. Sie kritisiert, dass der Widerstand sich nur darauf beziehe, die Verschlimmerung der Verhältnisse zu verhindern, bisher Erreichtes zu verteidigen. Solch eine Widerstandspraxis sei auf das Aufhalten ausgerichtet. Das reiche aber nicht. Ohne Utopie lasse sich die Welt nicht retten.10 Und sie fährt
5
Ebd., 274.
6
Frances Beal zit. n.: ebd., 271.
7
J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München/Mainz 4 1980, 85.
8
Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.), Der Sound des Sachzwangs. Der Globalisierungs-Reader, Berlin 2006.
9
Vgl. B. Adamczak, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017, Pos. 3000.
10
Vgl. dies., Vom Widerstand zur Utopie. In Krisenzeiten braucht es einen Plan zur radikalen Veränderung der Welt, in: analyse & kritik. Zeitschrift für linke Debatte & Praxis, 664 (2020). https://www.akweb.de/bewegung/bini-ada mczak-vom-widerstand-zur-utopie/ (abgerufen am 04.03.2023).
VII. Das Utopische
fort: »Die Mehrheit der Menschen ist (…) nicht für die Aufrechterhaltung der herrschenden Welt – nennen wir sie Kapitalismus –, weil sie die so gut finden, sondern weil sie sie für alternativlos halten.« Deshalb bedürfe es einer Utopie, komme es doch darauf an, »nicht gegen Mietsteigerung [zu] kämpfen, sondern für Mietsenkung (…), nicht nur gegen die Verschlechterung des Klimas (…), sondern mehr noch für ein besseres Klima (…).«11 Adamczaks Diagnose trifft. Wir* müssen die Verhältnisse überschreiten. Aber statt der Utopie bräuchte es den Mut zum Utopischen. Die Utopie kippt schnell um in einen Utopismus, der das Gegenwärtige abstrakt negiert. Anders als die Utopie kennt das Utopische keinen Plan. Kennzeichen des Utopischen ist es, dass es nie nur und nicht in erster Linie gedacht wird. Ohne die Erfahrung, Teil aktiver Veränderungsprozesse zu sein, kann kein Möglichkeitssinn aufscheinen. Ohne Möglichkeitssinn gibt es kein Bewusstsein eines Noch-Nicht, das den Willen und die Kraft zum Utopischen in uns weckt. Utopisches ist nämlich immer konkret und wird handelnd verstanden. Wenn wir* Utopisches erkennen wollen, so bedarf es eines »begreifenden Eingreifens«12 . Das Utopische kennt verschiedene Stadien.13 Eine erste Phase, in der ein Anstoß gegeben wird, der zunächst unthematisch wirkt. Ausgelöst wird er durch einen erfahrenen Mangel. Aber dieser Mangel ist kein Nichts, sondern ein Nicht, das als Nicht-Nichts plötzlich als Noch-Nicht-Da empfunden wird.14 Dieses Nicht brütet in mir, versetzt mich in Unruhe. Ich spüre ein Vorhandensein von etwas, das noch nicht in Erscheinung getreten ist. Am Anfang steht also ein Erspüren, das einem Bedürfen und Begehren entspringt.15 Erspüren 11
Ebd.
12
E. Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Hausbringens, Praxis, Frankfurt 1977, 78.
13
Der Philosoph Detlef Horster, auf den ich mich in den folgenden Ausführungen stütze, hat diese Phasen sehr gut nachgezeichnet. Er spricht von Inkubation, Inspiration und Explikation, vgl. D. Horster, Bloch zur Einführung, Hamburg 6 1987, 51–62.
14
Vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 1–32, Frankfurt 1985, 356.
15
Vgl. D. Horster, Bloch zur Einführung, 42.
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ist ein emotionaler Vorgang, in dem wir* ein Überschreitungspotenzial entdecken. In Emotionen wird nämlich nicht nur wahrgenommen, was ist, sondern auch, »was wahrgenommen werden könnte oder was man wahrzunehmen wünscht«16 . Nicht zuletzt die emotionale Grundierung des Utopischen unterscheidet es von Ökotopien, die sich als »nüchterne Methoden«17 begreifen. In der zweiten Phase blitzt eine Lösung auf. Blitzt auf heißt, dass sie nicht am Ende eines schlussfolgernden Denkens steht. Diese Phase ist kein Prozess, in dem ich geradlinig voranschreite. Ich springe vor und zurück, einen Schritt, drei Schritte. Der Philosoph Ernst Bloch spricht von einem »Sprungprozeß«18 . Und auf einmal, als ob sie vom Himmel käme, stellt sich eine Perspektive ein, scheinbar unvermittelt, blitzhaft. Ich beginne zu erkennen, dass das, was ich erspüre und was mich unruhig sein lässt, mein Ich überschreitet. Ich erkenne, dass meinem Fühlen und meiner Unruhe mehr als nur eine Latenz zugrunde liegt. Auch andere Menschen verspüren den Mangel, und im Austausch mit ihnen deutet sich an, dass es in den gesellschaftlichen Verhältnissen eine Tendenz gibt, die meinem Fühlen und Nachdenken entspricht.19 Das Utopische »ohne Einklang mit der Tendenz der Wirklichkeit wäre Narretei (…)«20 . Dies ist eine Warnung sowohl vor einem Utopismus als auch einem bloßen Aktionismus. Die Orte, an denen das Noch-Nicht-Da mit einer Tendenz in der Gesellschaft zusammenschießt, können verschieden sein. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Orte des Tuns sind. Orte des Community Organizing können solche utopischen Momente enthalten, wie Alyssa Battistoni vermerkt:
16
A. Ben-Ze’ev, Die Logik der Gefühle. Kritik der emotionalen Intelligenz, Frankfurt 4 2020, 31.
17
P. P. Thapa, Art.: Ökotopismus, in: Handbuch Umweltethik, 207–211, 208.
18
E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 139.
19
Vgl. ebd., 17; ders., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt 1885, 217–222.
20
Ders., Über Politik als Kunst des Möglichen, in: ders., Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Frankfurt 1985, 409–418, 410.
VII. Das Utopische
»Die Organisation von Beziehungen kann utopisch sein: Im besten Fall bieten sie den feministischen Traum von Intimität außerhalb von Romantik oder Familie. (…) Bei den Treffen war ich oft überwältigt von Ehrfurcht und Zuneigung wegen des Mutes und der Weisheit der Menschen, die mit mir dort waren. Ich lernte viele der Menschen, mit denen ich mich organisierte, zu meinen besten Freunden zu zählen. Wenn ich Hilfe brauchte, gab es immer Leute, die ich anrufen konnte, Menschen, mit denen ich über alles reden konnte und es auch tat. Diese Beziehungen dienten mir oft als Quelle der Fürsorge und Unterstützung in einer Welt, in der es zu wenig von diesen Dingen gab.«21 Schließlich beginnt das Handeln: Indem ich utopisch handle, lasse ich Neues im Realen wirksam werden. Es ist nicht zuletzt das Utopische, das die rettende Umweltphilosophie von dem Programm einer transformativen Wissenschaft unterscheidet. Für beide sind die Wissensarten des Struktur-, Zielund Transformationswissens zentral. Im Unterschied zur transformativen Wissenschaft schießen in der rettenden Umweltphilosophie jedoch Ziel- und Transformationswissen derart zusammen, dass das Zielwissen einen utopischen Überschuss generiert, der allerdings erst im Vollzug transformativer Praktiken aufscheint. Das Transformationswissen rettender Umweltphilosophie kennt vor allem drei Strategien: »Transformation (1) durch Herbeiführung eines Bruchs, (2) durch die Schaffung von Freiräumen und (3) durch die symbiotische Entwicklung von sozialistischen Formen mit denen des Kapitalismus und Etatismus.«22 Das Utopische steht also nicht für das Illusionäre, sondern für Konkret-Utopisches. Darunter verstehe ich mit dem Soziologen Erik Olin Wright »Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, entwickelt werden können, die dabei aber die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in dieser Richtung voranbewegen.«23 21
A. Battistoni, On political organizing, o.S.
22
E. O. Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin 2017, 501.
23
Ebd., 11.
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Rettende Umweltphilosophie
VII.2 Das Kaputte Das Utopische geht oft mit dem einher, was als kaputt, als nicht brauchbar gilt, dem Rest, der nicht verwertet werden kann, der nicht im Marktgeschehen aufgeht. Das Utopische bricht hervor in Rissen, Löchern, Zwischenräumen. Es ist also kein bloß zukünftiger Ort, sondern, so der Philosoph Herbert Marcuse, »vielmehr das, was durch die Macht der etablierten Gesellschaften daran gehindert wird, zustande zu kommen«.24 Es gilt also, die Blickrichtung zu ändern. Erst dann fällt ein anderes Licht auf die Dinge, in dem diese sich anders darstellen.25 Dem Philosophen Alfred Sohn-Rethel ist eine solche Blickänderung in den 1920er Jahren in Neapel widerfahren. Er entdeckte Utopisches im Kaputten.26 Alles werde in Neapel durch das Kaputte belebt. So sehr, dass der Eindruck erweckt werde, die technischen Vorrichtungen seien bereits »in kaputtem Zustande hergestellt«27 worden. Bemerkenswert ist für ihn, dass die Apparate »gerade erst da« anfingen, zu funktionieren, »wo etwas kaputt ist«28 . Das Wesen der Technik liege hier im »Funktionieren des Kaputten«.29 Diese Technik beginne »eigentlich erst da, wo der Mensch sein Veto gegen den feindlichen und verschlossenen Automatismus der Maschinenwesen einlegt und selber in die Welt einspringt. Dabei erweist er sich allerdings der Technik um Spannen überlegen. Denn er eignet sich die Führung der Maschinen nicht so sehr dadurch an, daß er ihre vorschriftsmäßige Handhabung erlernt, als indem er den eigenen Leib darin entdeckt.«30
24
H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, 244.
25
Vgl. Th. W. Adorno, Minima Moralia, 333.
26
Vgl. A. Sohn-Rethel, Das Ideal des Kaputten, Freiburg/Wien 2018, 45.
27
Ebd. 41.
28
Ebd., 42.
29
Ebd.
30
Ebd., 44f.
VII. Das Utopische
Das Verhältnis der Neapolitaner*innen zur Maschine nennt SohnRethel »gutmütig«, aber auch »brutal«.31 Das Kaputte und Nichtfunktionierende eröffnen alternative Räume. So etwa die Tunnel der Eisanbahnen. Weil durch sie »aus unergründlichen Ursachen« keine Eisenbahnen ratterten, konnten sie gegen die Sommerhitze genutzt werden: »Die Grüfte und Gewölbe waren himmlisch kühl, mit Wasser, das die Felswände heruntersickerte, und dort erging sich die Jugend und auch ein Teil der Erwachsenen jauchzend in Jubelschreien und Gesängen voll verliebter Begeisterung über das hallende Echo, das aus dem Berg kam.«32 Einprägsam wurde Sohn-Rethel auch eine Szene, in der ein fast heiß gelaufener Motor eines Bootes zum Kaffeekochen genutzt wurde. An anderer Stelle berichtet er von einem Mann in einer Milchbar, »der ungeheuer stolz darauf war, daß er den Motor eines alten zerfallenen Motorrads wieder in Gang gesetzt hatte. An der Nabe hatte er exzentrisch eine lange Gabel angebracht, mit der er die Schlagsahne schlug. Er stand hinter seiner Theke, als ob er die Elemente des Universums beherrschte.«33 Für die Philosophin Luise Meier beginnt Veränderung bereits dann, wenn der »herrschende Zustand mit Fragen (…) [ge]löcher[t]« wird und »in ein Was-wäre-wenn« verschwindet. »Zumindest für die Dauer dieses Verschwindens wird man für den Apparat der Systemreproduktion unbrauchbar. Sich zum Loch machen, zur Stolperfalle, zur Informationslücke.«34 Sie fordert »ein manisches Schütteln, Kettenrasseln, Experimentieren und Collagieren, bis die Konstellation des Erwachens aufblitzt, die Benjamin in Aussicht stellt.«35 Transformationsauslöser ist für sie die »MRX-Maschine«,
31
Ebd., 45.
32
Ebd., 19.
33
Ebd., 20.
34
L. Meier, MRX-Maschine, Berlin 2018, 15.
35
Ebd., 17.
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die den Boden für Neues bereiten kann, ohne in die Fallstricke eines Utopismus zu geraten: »MRX-Maschine ist keine Maschine, die läuft. Sie kann nicht ›Instant Gratification‹ anbieten, ihr fehlt das ›A‹, weil es eine Lücke zu Marx als Autorität geben muss, einen Abstand, ein Missverhältnis, eine Fehlerquelle. Kein Alpha also, keinen Alpha-Marx, keinen sauberen Ursprung und keinen schöpferischen Geist. Die Hälfte der Zeit mindestens muss an der einen oder anderen Stelle repariert, justiert und gewartet werden. Was sie an Gewinn bringt, braucht sie sofort wieder auf.«36 Diese Perspektive setzt dezidiert beim Kaputten an: »Die kaputte MRX-Maschine, die ohne ›A‹ operiert, versucht sich der Absorption durch die Kapitalmaschine zu entziehen. Sie setzt als soziale Maschine, statt auf Vergleichbarkeit und Kommensurabilität, auf das Teilen der Wartezeit und des Reparaturprozesses. Sie funktioniert nur, weil und solange sie kaputt ist. Sie ist kaputt, solange der Begriff des Funktionierens an das Kapitalgesetz gekettet ist.«37 Die sich dahinter verbergende Philosophie beschränkt »sich nicht auf das Gewerbe der Verlegung von Bodenplatten für den Bau wissenschaftlicher Verwahrungsanstalten (…), [sie] ist ein destruktives, in vielerlei Hinsicht mörderisches Unterfangen. [Sie] ist Lösung im Sinne der Zersetzung viel mehr als das Ausmerzen von Problemen oder das Zuspachteln von Löchern. [Sie] ist ein Balancieren auf den Anstaltsmauern, das sich in der Gemeinschaft weiß mit den Brüdern und Schwestern, den Genossinnen und Genossen, die sich in Konstellationen der Betreuung, Beobachtung, Behandlung und Bewachung wiederfinden.«38 Der Mut zum Utopischen entspringt solchen Blickänderungen und Praktiken. 36
Ebd., 20.
37
Ebd., 21.
38
Ebd., 33f.
VII. Das Utopische
Die »kapitalistische Sachherrschaft« produziert mehr als Waren und Profit.39 Sie produziert Abfall.40 Ganze Seen sind vergiftet und vermüllt, unterirdisch und oberirdisch stapeln sich Müllberge. Abfallbetten überall: »Das englische Wort waste bed, Abfallbett, ist ein neuer Name für ein ganz neues Ökosystem. Waste bedeutet als Substantiv ›Rückstand‹, ›Müll‹, oder ›Materialien wie Fäkalien, die von Lebewesen produziert, aber nicht verwendet werden‹. Neuere Bedeutungen sind die ›unerwünschten Nebenprodukte der industriellen Herstellung‹, ›Stoffe, die aussortiert oder weggeworfen werden‹. Wasteland, Ödland ist dementsprechend Land, das weggeworfen wurde. Das Verb to waste bedeutet, ›etwas Wertvolles nutzlos machen‹, ›es verschlechtern, vergeuden oder vernichten‹.«41 Wie damit umgehen? Wir* können die Zerstörungen nicht rückgängig machen. Wir* können das toxische Land, den toxischen See nicht wieder rein machen. Aber wir* können in großer Sorge Raum schaffen dafür, dass dennoch anderes sich einzustellen vermag. Übergeben wir*, wie Robin Wall Kimmerer fordert, den Pflanzen »das Kommando«: »Der schädliche Einfluss des Menschen hat neuartige Ökosysteme geschaffen, und die Pflanzen passen sich langsam daran an und zeigen uns, wie man die Wunden heilen kann. Dies zeugt vor allem vom Einfallsreichtum und der Weisheit der Pflanzen und geht nicht auf menschliches Handeln zurück.«42 Wäre es möglich, dass sich so auf vergiftetem Land und in vergifteten Flüssen Neues einstellt? Und hätte dieses Neue, so zart und verletzlich es auch immer sein mag, das Potenzial, uns zu erneuern?43
39
Vgl. E. v. Redecker, Revolution für das Leben, 14.
40
Vgl. ebd., 53.
41
R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, 378.
42
Ebd., 387.
43
Vgl. ebd., 390.
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»Es stimmt, wenn man über die Abfallbetten geht, sieht man die Hand der Zerstörung. Aber man begegnet auch der Hoffnung, wenn etwa ein Samen, der in einer winzigen Spalte gelandet ist, eine Wurzel ausstreckt und anfängt, Erde aufzubauen.«44 Vielleicht werden wir* in diesen Rissen mit einer neuen Radikalität konfrontiert, die wir* so dringend bräuchten: »Die Natur jedenfalls scheint sich an überschießender Radikalität, an Extremismus und Anarchie zu freuen. Wenn wir die Natur nach ihrer Vernunft oder Plausibilität beurteilen wollten, würden wir nicht glauben, dass die Welt existiert. Unwahrscheinlichkeiten sind das Markenzeichen der Natur. Die Schöpfung besteht aus nichts als extremistischen Randgruppen.«45 Kimmerer hofft, »dass die Abfallbetten nicht ganz verschwinden – wir brauchen sie als Erinnerung daran, zu was wir fähig sind«46 . Es geht hier um Utopisches, das dem Gebrochenen verhaftet bleibt. Ihm kommt nicht die Kraft der Erlösung zu, aber es besitzt die Kraft der Erinnerung, ohne die es keinen Gedanken an Erlösung geben kann.47
44
Ebd., 392.
45
A. Dillard, Pilger am Tinker Creek, 178.
46
R. W. Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, 387.
47
Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt 1977, 251–261, 251f.
Das emphatische Nein zum Nichtsein
Wir* wissen um unsere Abhängigkeit »von Luftströmungen, Wasserkreisläufen, Sonnenschein, Stickstofffixierung, Bakterien, Pilzen, der Ozonschicht, Nahrungsketten, Insektenbestäubung, Böden, Regenwürmern, Klima, Ozeanen und genetischem Material«.1 Aber dieses Wissen vermag in unserer Kultur, in der sich immer wieder neu die instrumentelle Rationalität und die Verdinglichung des Lebendigen durchsetzt, keine Wirkung zu entfalten. Corine Pelluchon sieht unsere Kultur zur »Kultur des Todes«2 mutiert. Die »Liebe zum Toten«3 macht es zunehmend unmöglich, das »Ja zum Leben: emphatisch als Nein zum Nichtsein«4 zu sprechen. Wir* sind unfähig geworden, das emphatische Nein zum Nichtsein nichtmenschlicher Kreaturen zu sprechen, und merken nicht, dass diese Unfähigkeit sich sogar gegen das eigene Überleben richtet. Wir* produzieren eine Kultur des Todes, welche die emphatische Bejahung des eigenen Seins und des Seins Anderer zunichtemacht.5 Dadurch wird unser eigener Überlebenswille geschwächt 1
H. Rolston III, Environmental Ethics, 62.
2
C. Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen, 75.
3
E. Fromm, Die Seele des Menschen, 35. »Nekrophile Menschen leben in der Vergangenheit und nie in der Zukunft. Ihre Gefühle sind im wesentlichen sentimental, das heißt sie hängen an Gefühlen, die sie gestern empfanden – oder empfunden zu haben glauben. Sie sind kalt, auf Distanz bedacht und bekennen sich zu ›Gesetz und Ordnung‹. Ihre Werte sind genau das Gegenteil von denen, die wir mit dem normalen Leben in Verbindung bringen: nicht das Lebendige, sondern das Tote erregt und befriedigt sie.« (ebd., 36).
4
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 156.
5
Vgl. ebd., 157.
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und letztlich zerstört. So etwas wird Radikalisierung genannt – ein extremistisches Phänomen. Verursacht wird diese Nekrophilie durch einen extraktivistischen Kapitalismus, der Erfahrungsverlust produziert. Und Erfahrungsverlust gebiert Nihilismus. Rettende Umweltphilosophie setzt dagegen die Biophilie, die »Liebe zum Leben und zu Lebendigem«6 , und die Liebe zur unbelebten Natur. Angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe ist »das Nein zum Nichtsein (…) primäre Pflicht«7 . Unsere Welt ist ihrem Ende so nahe, dass sie nach einem neuen Anfang verlangt. Ohne die »Ehrfurcht vor dem Leben« wird es keinen neuen Anfang geben. Am Anfang des Anfangens steht das Ergriffensein von der Andersheit der belebten und unbelebten Natur und das Widerfahrnis von Anderheit, in dem wir* mit einem »Jenseits der Natur in der Natur« konfrontiert werden. Es sind diese Ereignisse, die uns aus unserer vermachteten und egologischen Existenz befreien. Darin allein liegt Rettung.
6
E. Fromm, Die Seele des Menschen, 7.
7
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 249.
Dank
Herzlich bedanken möchte ich mich bei: • • • •
Marvin Dreiwes M.A. für viele wertvolle Anregungen Anne Specht für das sorgfältige Korrekturlesen Robin Wehe M.A. für die Erstellung des Literaturverzeichnisses dem transcript Verlag für die Unterstützung dieses Projekts.
Hannover, im April 2023 Jürgen Manemann
Literatur
Adamczak, B., Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017 (E-Book). Adamczak, B., Vom Widerstand zur Utopie. In Krisenzeiten braucht es einen Plan zur radikalen Veränderung der Welt, in: analyse & kritik. Zeitschrift für linke Debatte & Praxis, 664 (2020). https://www.akweb.de/bewegung/bini-adamczak-vomwiderstand-zur-utopie/ (abgerufen am 04.03.2023). Adorno, Th. W., Einleitung, in: ders./Dahrendorf, R./Pilot, H./Albert, H./Habermas, J./Popper, K. R., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 13 1989, 7–79. Adorno, Th. W., Keine Angst vor dem Elfenbeinturm, in: Der Spiegel 19/1969. Adorno, Th. W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1987. Adorno, Th. W., Negative Dialektik, Frankfurt 3 1982. Adorno, Th. W., Zu Subjekt und Objekt, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt 1969, 151–168. Anderl, S., Wie normal ist Wissenschaft?, in: Kursbuch 209 (2022): Ausnahmezustand – Normalzustand, 104–118. Anders, G., Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7 1988. Anders, G., Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 5 1988. Arendt, H., Ziviler Ungehorsam, in: dies., In der Gegenwart: Übungen zum politischen Denken II, München/Zürich 2017, 283–321 (E-Book).
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