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German Pages 359 [360] Year 2020
Z O R A N T E R Z I C´ IDIOCRACY DENKEN UND HANDELN IM ZEITALTER DES IDIOTEN
DIAPHANES
INHALT
1 ENTSPIEGELTES SELBST
Null-Ausdruck 13 Tour d’idiot – Zur Geschichte des besonderen Menschen 21 Idiotypen 43 Zwei Horizonte des Idioten 59 Niederste Zusammenfügung 93 Entspiegeltes Selbst: Das Sein vor dem Sein 129
2 IDIOKRATIE
Null-Ausdruck der Gesellschaft 151 Idiotie als politisches Paradigma 161 Der Wille zum Absurden 183 Transzendentaler Trump 189 Ineffekte – Zur Dialektik der Inkompetenz 203 Die Denkpolitik des Idioten 231 Das frenetische Subjekt 243 Ménage à un – Die privaten Leben des Idioten 257 Der Einzige 271 Wendys Welt – Überlegungen zum planetarischen Idiotismus 291 Phänomenologie der Vielen 309 Idiopraxis 327
Literatur 341
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„Es gibt zu viele Idioten auf dieser Welt“, schrieb einmal Frantz Fanon und fügte sofort hinzu, dass er einen Beweis schuldig sei. Denn die Kriterien dafür, warum man jemanden für einen Idioten hält, variieren stark. Aus der Ferne sehen alle Idioten gleich aus. Nähert man sich, entdeckt man Überraschendes: sich selbst. Der Idiot, ob als ‚hirnloser‘ Naivling, Anti-Held, „großer Blonder mit dem schwarzen Schuh“ oder als kultischer Untergänger eines konsumgetränkten Alltags, interpretiert die Welt nicht erst, bevor er sie verändert. Er ist ein besinnungsloser Sinnträger und daher auch ein Zeichen seiner Zeit. Botho Strauß sieht ihn als „Inbild“ unseres Jahrhunderts aufblitzen. Der Idiot ist der fiktive Symptomträger der Wirklichkeit, und er ist die reale Manifestation einer auf Fiktionen fußenden Ökonomie – sowohl ein Symptom für die Massenblindheit gegenüber den Herrschaftsverhältnissen als auch deren Saboteur. Was sagt uns seine Existenz über die Gegenwart? ‚Idiot‘ war in der Antike noch ein politischer Begriff und wurde erst im Laufe der Zeit zum Ausdruck eines mentalen Defizits. Die vorliegende Untersuchung kehrt an die politischen Ursprünge der Idiotie zurück und schafft eine Klammer zur heutigen politischen Befindlichkeit. Sie untersucht das Beziehungsgeflecht von Individuum, Konformität und Widerspruch anhand der Denkfigur des Idioten: einerseits als Einzelnen (erster Abschnitt), andererseits als ‚Vielen‘ (zweiter Abschnitt). Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit literarischen, künstlerischen, ontologischen Rollen der Idiotenfigur. Die existenzielle Vereinsamung, die stumme Frage nach dem Sinn, nach der Welt, nach den anderen, die 7
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taube Gestalt und die autonome Seinsweise, das hemmungslose Vorgehen und der stoische Trotz gegenüber den Dingen – das alles sind Themen, wie sie die Kulturgeschichte des Idioten bestimmen. Hier tummeln sich messianische Figuren mit Fragezeichen – Genies, Wahnsinnige, Mächtige, Aussätzige… Was verraten uns diese Figurationen des Idioten über die Konstitutionen unseres Selbst? Im zweiten Abschnitt diskutiere ich Idiotisierungsmechanismen der ‚durchökonomisierten‘ Gegenwart. Ich frage nach dem Aufstieg des „neuen Idioten“ (Deleuze & Guattari), der Begriffsperson einer Befindlichkeit, die heute im Rahmen der Singularisierung, des Narzissmus, der Infantilisierung, des Postfordismus usw. diskutiert wird. Die These lautet hier, dass es eine neue Qualität des Idiotentums gibt, die sich am politisch Absurden festmacht. Die gegenwärtigen Hasardeure der Weltpolitik sind dabei nicht die Ursache, sondern nur Symptome der politischen Idiotie. Félix Guattari schrieb in den 1980er Jahren von einem „neuen ethisch-ästhetischen Paradigma“ und bezeichnete damit die schizophrene Verästelung des Wertgesetzes in den Adern hochindustrialisierter Gesellschaften, deren Subjekte sich heute im Informations-, Überwachungs- oder Kulturkapitalismus an der Speerspitze von Geist und Finanz sehen. In dieser Entwicklung zeichnet sich eine spätmoderne Verfasstheit ab, die ich unter dem Begriff der Idiokratie zusammenfasse. Jede Gesellschaftskritik sieht sich mit einem Dilemma konfrontiert, dem sich schon Herbert Marcuse in den 1960er Jahren ausgesetzt sah: „Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander w idersprechenden Hypothesen schwanken: 1. Daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. Daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann.“ Je mehr Belege man für einen Zustand sammelt, desto unüberwindbarer scheint er (das Problem jeder strukturellen Betrachtung). Und je ‚flexibler‘ eine Zeitdiagnose ist, desto unbrauchbarer ist sie (das Problem jeder poststrukturellen Betrachtung). Eine ‚dynamische Ausweglosigkeit‘ besteht darin, das Dilemma selbst als Teil der 8
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Diagnose zu sehen. Die Idiokratie reproduziert Klarheiten im Modus der Unklarheit, und sie schafft Konfusionen durch ein Überangebot an Lösungen. Es kommt dabei einer Krisenindustrie gleich, dass die „reflexive Moderne“ (Ulrich Beck) so viele Anleitungen für ihre Überwindung produziert, bis man sich im Spiegelkabinett der Spätmoderne verliert und dann gar nichts mehr reflektiert. Je mehr Ablenkungen und Blindheiten erzeugt werden, desto unwahrscheinlicher wird das Aktivierungspotenzial der „postfordistischen Multitude“ (Paolo Virno) und desto paradoxer wird der Blick aufs große Ganze. Die unauflösbare Gleichzeitigkeit von Eigenheit und Konformität, Gefährlichkeit und Ungefährlichkeit, Klarheit und Unklarheit, Ideologie und Utopie, Stagnation und Akzeleration lenkt dann alle Energien der Aufmerksamkeitsökonomie auf die Person des Einzelnen. Der Einzelne scheint heute verführbarer als der Einzelne in den 1930er Jahren, wenn man sich allein die Follower-Dynamiken im Internet zu Gemüte führt, doch wird er nach allen Richtungen hin verführt, so dass seine Totalitarismus-Anfälligkeit nicht augenscheinlich wird. Da der Einzelne in seiner Einzigartigkeit unvorhersehbar, unkontrollierbar und in gewissem Sinne auch ‚unmöglich‘ ist, sind die daraus entstehenden Soziodynamiken ebenso regressiv wie kreativ. Andauernd wird etwas begonnen und zerstört, Start-up, Pop-up, Blow-up. Der rechte Denialist will keine Green Economy und will zugleich mit ihr Geschäfte machen. Der Geschäftemacher wird seinen Konkurrenten in der zukünftigen Krise eliminieren, und zugleich benötigt er ihn, um diese Krise abzuwenden. Der Konkurrenzkampf ist brutal, heißt es, aber im tiefsten Inneren ist er paradox und wird ontologisch geführt, als apokalyptische Vorwegnahme des „Einzigen und seines Eigentums“ (Max Stirner). Auch wenn heute viel von globalem Bewusstsein und von Gemeinschaft, dem Gemeinen und der Gemeinsamkeit die Rede ist, spielt im idiotischen Ganzen der Solipsismus des isolierten Subjekts eine immer gewichtigere Rolle, ist stets Teil der Aushandlung über die „herausgeforderte Gemeinschaft“ (Jean-Luc Nancy), die als überforderte weiter funktioniert. Das isolierte Selbst der Vielen ist das neue Zentrum der Welt – einer unmöglichen Welt, in der wir uns dennoch gemäß unseren Möglichkeiten einrichten müssen. 9
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Weil es heutzutage ‚jeder Idiot‘ vermag, überall ‚irgendwelche Idioten‘ auszumachen, ist es schwer, die Idiokratie analytisch zum Ausdruck zu bringen, da deren Wirkungsmacht auch die Analyse selbst betrifft. Wer die fragmentierte Vernunft des Idioten im planetarischen Maßstab ausruft, impliziert, dass er über sie erhaben ist. „Wenn es jedoch keine Vernunft gibt, die ihren eigenen Kontext übersteigen kann, wird auch der Philosoph, der dieses Bild vorschlägt, keine Perspektive für sich in Anspruch nehmen können, die ihm einen solchen Überblick erlaubt“ ( Jürgen Habermas). Angesichts dieses Dilemmas bleibt nur die perspektivistische Vernunft und das wiederholte Anlaufen gegen das Phänomen. Wir beackern und bearbeiten so lange ein amorphes Stück, bis es auch von anderen um- und begriffen werden kann. Autoren sind keine unbewegten Beweger. Sie reißen mit jedem Anlauf einen Teil der Gewissheit mit sich und fügen ihn an anderer Stelle hinzu, bis am Ende eine Denkskulptur entsteht, die ein devotes Publikum findet oder nicht. Wenn Saint-Just einmal behauptete, dass niemand, der regiere, unschuldig sei, dann gilt auch, dass niemand, der einigermaßen versteht, was heute passiert, sich davon distanzieren kann. Im Grunde sind wir alle Handlanger eines abstrakten, politisch-ökonomischen Bedeutungsgebers – dem heiligen Geist des K apitals –, dessen globale Präsenz ebenso überdeutlich wie unscheinbar ist, da seine Zeichen in alle Gesellschaftsbereiche vordringen und dabei zeitlich und räumlich mutieren. Sofern wir uns dieser Zeichen bewusst sind, sind wir zugleich auch Bestandteil ihres Wirkungsspektrums, und sofern sie uns nicht bewusst sind, stehen wir unter ihrem Bann. Dieser Versuch über den Idioten ist somit auch ein Versuch über die Bedingungen der Möglichkeit, sich außerhalb dieses Spektrums zu platzieren, ohne die üblichen Gesten von Kritik oder Widerstand zu reproduzieren, die zeitgleich mit ihrem Erscheinen verwertet werden. Das Idiotische ist zuletzt dasjenige, das nur verwertet werden kann, oder dasjenige, das sich der Verwertung grundsätzlich entzieht.
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ENTSPIEGELTES SELBST
NULL-AUSDRUCK
Being an idiot is no box of chocolates. Forrest Gump
Wer nicht denkt, ist nicht dumm – Überzeitliche Konturen des Idioten ziehen sich nicht nur durch die alte Literatur, deren Helden gegen Windmühlen kämpfen. Auch späteres Schreiben zehrt von der Einfältigkeit. Man stelle sich ein Amalgam aus William Faulkners Benjy und Theodore Sturgeons Lone vor, füge Dostojewskis Myschkin und F lannery O’Connors Enoch Emery hinzu und ergänze das Ganze mit Gerhart Hauptmanns Emanuel Quint und Winston Grooms Forrest Gump. Es zeichnet sich eine Figur ab, die roh, zurückgeblieben und naiv, aber zugleich auf merkwürdige Art selbstbestimmt ist: „Emanuel stand da mit herabhängenden Armen und einem unbeweglichen Ausdruck seines blutlosen Gesichtes, der weder herausfordernd noch eingeschüchtert war“ (Hauptmann). Der Null-Ausdruck des Idioten entfaltet intellektuellen Reiz. Flaubert schreibt im Vorübergehen, dass das Gesicht eines Blödsinnigen zu Tiefsinn anrege. Der Idiot ist eine Null, aber keine passive Null. Botho Strauß sieht in ihm „das Bruchstück einer tiefen, mächtigen Typik“ aufscheinen. Da ist also etwas. Der Idiot ist mit einem Auftrag beseelt, dessen Vorgaben nur ihm klar sind. Er fragt sich wie Sturgeons Lone nie, warum etwas geschieht, und wie Faulkners Benjy drängen sich ihm Vergangenes und Gegenwärtiges unterschiedslos ins Bewusstsein. In seiner grundsätzlichen Anmutung bisweilen ‚hirnlos‘ erscheinend, entstehen dem Idioten im Untergrund neue Denkorgane, entwickeln sich, drängeln nach vorne. Enoch Emery hat „weises Blut“. Er benötigt keine emotionalen Anleitungen oder intellektuelle Ableitungen, denn das Wissen darüber, wie er sein Leben führen soll, ist ihm angeboren. 13
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Er muss keine Schlüsse ziehen, weil alle Schlüsse bereits gezogen sind. Wahr ist das, was da ist. Was nicht da ist, ist nicht wahr. Der Simpleton lebt in der einfachsten aller Welten. Anders als Voltaires Candide, der sich am Ende der Gartenkultivierung widmet, macht sich Emery in einem gestohlenen Gorillakostüm davon. Wenn man mit sich selbst im Reinen ist, ersetzt jegliche Tat den Zweifel, wird zur reinen Tat: dubito ergo dubito, cogito ergo cogito. Ich zweifle, also zweifle ich, ich denke, also denke ich. Das ergo sum ist hier gar nicht das höchste aller Gefühle. Und die Sachlage, und mit ihr zugleich alle anderen Sachlagen sind so klar wie die Klarheit selbst. – Hier endet also mein Buch. Tauber Blick – Die Motivation des Idioten ist und bleibt indes ein Rätsel: Ist es die geistige Behinderung, die ihn zur Aktion drängt, oder macht umgekehrt der blinde Handlungswille den Idioten? Worin besteht sein pathologischer Kern? Die Behinderung des Idioten ist in der Literatur ein Vehikel, um ihn als transzendentalen Beobachter in der Welt zu verankern. Als prima persona blickt er frisch in seine Umgebung und entlarvt dabei die üblichen Idiotien der ganz normalen Menschen. Die ihm beigemessene Demenz erspart uns die Erklärung, was der Idiot wirklich ist und wie sein Denken als Denken zustande kommt, bzw. was ein Denken, das nicht denken kann, an Einsicht vermittelt. So setzt Faulkner Benjy als geistig behinderten Erzähler an den Anfang seines Romans, der in Benjys stammelnder Schilderung die Frakturen eines Familiendramas vorwegnimmt. Benjys Inselbegabung, tiefgreifende Ereignisse auch über weite Entfernungen hinweg riechen zu können, lässt sein Denkorgan mit dem Südstaatenzauber verwachsen. Am Ende der Geschichte verbleibt der taube Blick des Idioten, der sich über Land und Landschaft legt. Wie einmal Woyzecks Doktor diagnostiziert: „Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen hüpfend. Haltung aufgeregt, gespannt.“
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Null-Ausdruck
Johann Caspar Lavater, Porträt eines „Idioten“ (Ausschnitt), 1792.
Binnenleben – Was den Null-Ausdruck des Idioten angeht, so ist er, übersetzt zum Gesichtsausdruck, mit dem Bildschirmstarren verwandt. Der Idiot „glotzt“. Bei Georg Büchner liest man von „Viehsionomik“, und in der Sprache des Meme-Universums hat der Idiot ein „derp face“, ein Gesicht, das jedem Gesicht spottet. Sein Null-Ausdruck ist nicht ausdruckslos, sondern durch Vagheit bestimmt. Er zeigt sich ähnlich auch bei Belastungen des Nervenapparates oder Momenten der Trunkenheit. Der amerikanische Neuroendokrinologe Robert Sapolsky hat die verschiedenen Ausdrucksqualitäten körperlicher Zustände mit einem stark klopfenden Herzen verglichen: Physiologisch lässt sich daran nicht unterscheiden, ob jemand einen Orgasmus hat oder dabei ist, einen Mord zu begehen. So ist es auch mit den Figurationen des idiotischen Ausdrucks: Es lässt sich nicht immer feststellen, ob eine Pathologie oder eine radikale Eigenschaft zutage tritt oder beides zugleich, Terror und Liebe. Derlei Ambiguität zeigt sich bei Savants, deren Zustandsbeschreibungen historisch zwischen „idiot savant“ (John Langdon Down) und „islands of genius“ (Darold A. Treffert) schwanken. Die Werke künstlerisch begabter Savants kursieren zwischen Galerien und medizinischen Fachzeitschriften, weil niemand weiß, was das ist, was im Zusammenhang mit dem Autismus-Spektrum als Ausdrucksform auftritt. Der B egründer 15
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des Autismusbegriffes, der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, sprach schön von „Binnenleben“. Offensichtlich geht es seither in der psychopathologischen Debatte um die Verhandlung von Bewusstseinszuständen und deren Kopplung mit der sozialen Außenwelt. Aber Kopplung ist ein unzulänglicher Ausdruck. Hier wird nichts gesteuert und nichts vermittelt. Die sich in diesen Zuständen zeigende Grenzerfahrung macht die literarische bzw. künstlerische Faszination durch die Idiotenfigur aus. „Was liegt daran, daß dies Krankheit ist“, sagt sich Myschkin, „wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der […] es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetsartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?“ Es geht beim Null-Ausdruck des Idioten nicht um Bewusstlosigkeit, sondern – wie beim Pilotentraining – um die Schwelle zwischen Bewusstlosigkeit und Bewusstsein, permanent Anläufe unternehmend, ‚da‘ zu sein. Den Idioten kann man sich auf dieser Schwelle vorstellen: Besinnungslosigkeit als Bewusstseinsform, Bewusstlosigkeit als Daseinsform. Und da will auch die Kunst hin. Aber da will auch die Ökonomie hin, alle wollen da hin, alle wollen Idiot sein, der homo ex animo als Wahrheit des homo oeconomicus. Menschenähnlich – Der Null-Ausdruck taktet sich mit seinen körperlichen Impulsen. Idioten sind von einer Handlung Getriebene, die sie selbst bestimmt haben. Deshalb wird der Idiot in der Literatur zur janusköpfigen Figur. Er ist entweder ein bloßes Stück willenloser Natur – „Tiere in Menschenform“, wie Julien de La Mettrie Idioten nannte – oder ein willensbeseelter Vernunftmensch, der aus dieser Natur weiter heraussteht als andere. Schriftsteller mit Sinn fürs Idiotische nutzen die Psychopathologie zugleich klinisch wie metaphorisch, um im Idioten den Willen gegen seine Willenlosigkeit auszuspielen. Konrad Bayer bezeichnet seine Figuren im Bühnenstück idiot (1960) als „menschenähnliche Wesen“. Sie machen mit allem, was sich ihnen in den Weg stellt, kurzen Prozess: idiot a tötet andere Wesen, fährt mit einem Rasenmäher über deren Leichen, sammelt die Überreste in einer Tüte, nimmt diese 16
Null-Ausdruck
mit, lässt sie aber w ieder fallen. Dann: „ | plötzlich zeigt sich am rande ein menschenähnliches wesen | obwohl a anscheinend nichts beachtet, stürzt er auf und tritt den kerl mit ungeheurer behendigkeit und vollkommen ausdruckslos aus der bühne |“ (Bayer). Dem Idioten tritt einmal ein Mensch entgegen: „bruder!“, sagt der Mensch hoffnungsfroh, | a schlägt den Menschen aber sofort nieder und reißt ihm die Arme aus. Es stellt sich heraus, dass der Mensch mit seinem „scheißdreck“ (Kultur, Kunst, Gefühle, Geschichte, Idealismus, Vernunft, Staat usw.) ein Teil von a ist. Der Idiot kann mit Echtmenschen nichts anfangen, weil sie ein äußerer Teil seines Wesens sind, und sein inneres Wesen ist reine Tat. Es gibt keinen Grund für irgendetwas. Sobald Grund auftaucht, wird er niedergehauen. Außer Konkurrenz – Nicht alle Idioten, die ihren Null-Ausdruck zu einer Null-Tat perfektionieren, sind so gewalttätig wie der Idiot-klein-a Bayers. Dostojewskis Myschkin ist ein durch und durch guter Mensch, und das kann er nur sein, weil er psychisch krank ist, weil er nicht die Standardgesundheit aller anderen hat. Wer außer Konkurrenz lebt, erspürt das Spektakel der conditio humana aus nächster Nähe und nicht wie alle anderen aus abstrakter Distanz. „Die Erforschung der Idiotie ist die Erforschung einer bestimmten Form des Exils“ (Patrick McDonagh). Diese Konfiguration zieht sich kreuz und quer durch die Kulturgeschichte. Im Blockbuster Guardians of the Galaxy (2014) erscheint das menschenähnliche Baumwesen Groot, das wiederum dem Baumwesen im Minervagemälde Triumph der Tugenden (1502) Andrea Mantegnas ähnelt. Groot ist im Marvel-Universum ein wegen seiner Gutmütigkeit aus seiner Welt Ausgestoßener. Mantegnas Baumwesen beschützt den Tempel der Tugend. Um das Universum zu retten, tut sich Groot mit anderen Freaks zusammen, die ebenfalls besondere Fähigkeiten haben. Ähnlich wie die Idioten bei Sturgeon und bei Mantegna werden sie zu Beschützern der Menschheit. Das Hollywood-Universum kodiert gleich dem Tafelbild Mantegnas einen Moralkodex, der zur Matrix des christlichen Kreuzzugs des Guten gegen das Böse wird. Groot ist nun der Gute unter den Guten, er besitzt einzigartige Kräfte, die ihm die Rolle des heroischen 17
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infältigen zusprechen. Mantegnas Wesen umhüllt eine Schriftrolle mit E Pseudoskript, die ein und denselben Satz in verschiedenen Sprachen wiederholt. Und Groot drückt sich dadurch aus, dass er ausschließlich mit der Phrase „I am Groot“ kommuniziert. Am Ende wird der Einsatzige zum Retter des Universums. Erste und letzte Gründe – Der Idiot legt durch seinen Einsatz eine gewisse ontologische Gelassenheit an den Tag, die etwas anderes bedeutet als das, was Martin Heidegger „die freie Luft des hohen Himmels“ nannte. Der Null-Ausdruck des Idioten zeigt sich in der untiefen Akzeptanz der Negativität, sie scheut nicht das Nichts und sein Noch-Weniger, sie wagt mehr Stagnation, wenn alles schon stagniert. „Keine Sehnsucht. Keine Gewissheit. Eher eine Blumenexistenz: einfache Öffnung zum Licht. Ohne Erwartung auf das Ende. Vom Unabsehbaren gewärmt“ (Strauß). Im Nachtgesang Blödigkeit dichtet Hölderlin dem Idioten ins Stammbuch: „tritt nur | Bar ins Leben, und sorge nicht!“ Ähnliches empfindet Myschkin in Momenten vor dem epileptischen Anfall: „Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst.“ Der Null-Ausdruck enthält ein Spektrum von E mphasen, er reflektiert das Licht des Gewöhnlichen wie durch ein Prisma. Vorgesicht – Eine Entsprechung des Null-Ausdrucks findet sich in Pascal Claudes Preface von 1954 in einem Katalog zu einer Bildserie Yves Kleins. Das Vorwort zeigt leere Zeilen: ____________________________________ ____________________________________ ____________________________________ ____________________________________
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Null-Ausdruck
Die Zeilen sind aber nicht wirklich leer, sondern stehen als poetisches Null-Statement ‚voll‘ da. Sie bilden eine Art Vorgesicht der Kommunikation, sind kein Inter-Face, sondern ein Pre-Face der Aussage. „Die poetische Sprache, die dem Idioten vorschwebt, […] weiß nämlich dass auch das Vorsprachliche von der Sprache mit hervorgebracht wird“ (Monika Rinck). Was beim Dichter transzendentale Textähnlichkeit, ist beim Idioten transzendentale Menschenähnlichkeit. Ausdruckslos ist das aus der Sprache herausstarrende Vorgesicht nur in der Hinsicht, dass kein Ausdruck der Gravität der realen Erfahrung – in diesem Fall: der Kunst – gerecht werden kann. Der Null-Ausdruck ist so gesehen eine Präkonfiguration, ein Gesicht-vor-sich. Die vielen Gesichter der Welt auf ein einziges Gesicht zurückzuverfolgen: Das erzeugt die Regung des Idioten. Rätsel – Die Menschenähnlichen wissen, ohne ihr Wissen zu spüren, und sie spüren es, ohne es zu wissen. In ihrer Rohheit erreichen die Idioten eine Erhabenheit, die der Intellekt nie erreichen kann und sich daher bisweilen, wie etwa in Fanny Hill, der lakonischen „Rhetorik des Penisses“ (Mark Blackwell) beugen muss. Der imbezile Dick in Fanny Hill hat nämlich so ein tolles erigiertes Glied, dass er die Prostituierte Louise aus der Fassung bringt und sie deshalb ihren Beruf aufgeben muss. Und auch Charles Bukowskis Henry (in The Last Night of the Earth), der sich mit 11 Jahren entscheidet, Idiot zu werden, glaubt, die schönste Erektion von Los Angeles zu besitzen. Dass männliche Phantasien eng ans Idiotentum geknüpft sind, ist an dieser Stelle schwerlich zu leugnen, aber wie soll man all die anderen Zentrifugalkräfte des Idioten fassen? Botho Strauß schreibt: „Der Idiot gibt uns ein Rätsel auf. Das heißt, er hat seinen Anteil am Rätselhaften einbehalten, das die übrige Welt, die reich davon die längste Zeit war, an den Eifer beflissener Rätsellöser verlor. Er kann aber auch gelten als Wahrzeichen für das prinzipielle U nterverstehen von Welt, zu dem die menschliche Art verurteilt ist.“
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TOUR D’IDIOT – ZUR GESCHICHTE DES BESONDEREN MENSCHEN
„Solche Wesen werden Individuen [atoma] genannt, da ein jedes aus Eigentümlichkeiten [idiotes] besteht, deren Zusammensetzung bei keinem anderen jemals dieselbe wird.“ Poryphryos
Idion – Die Idiotie bezeichnete einmal die Einzigartigkeit der Dinge und Wesen. Idion ist das Besondere, das Eigene. Ein Idiot ist jemand, der besondere Eigenschaften hat, die sich von den üblichen Eigenschaften unterscheiden. Lars von Triers Protagonisten im Film Idioten (1998) berufen sich z.B. darauf, wenn sie davon sprechen, „den eigenen Idioten hervorzuholen“. Man soll ein eigener Idiot und nicht der Idiot der anderen sein, ein unnützer Idiot und kein nützlicher Idiot. Die Einzigartigkeit soll nicht aufoktroyiert sein, sie soll von innen kommen, vom „inneren Idioten“, der manchmal auch in Form des „inneren Schweinehundes“ auftritt. Wo und was ist dieses Innere? Welche ‚Tierart‘ besetzt seinen symptomatischen Raum? Eine innere Kulturgeschichte baut sich p arallel zur äußeren auf, so wie sich Menschengeschichte auch als metazoologisches Narrativ fassen lässt, von der „Bestie Mensch“ (Jean Renoir) bis zum „anderen Tier“ Nietzsches, d.h. dieses Andere, Innere, Unfassbare, Menschenähnliche des Menschen, das auch dann noch rätselhaft bleibt, wenn es längst naturwissenschaftlich erklärt ist. Der unerklärte Amoklauf folgt stets dem erklärten. In jeder Erklärung steckt gerade einmal noch so viel Verklärung, dass das Rätsel bestehen bleibt. Genetik oder Hirnforschung werfen heute alte neue Fragen nach Willensfreiheit auf, die zu alten neuen Feststellungen führen, die wiederum neue alte Fragen 21
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aufwerfen. Feststeller können nicht anders, als andauernd p hilosophische Sprengsätze zu produzieren, die sie selbst nicht entschärfen können. Es geht immer weiter, kein Ende des Rätsels. Der erklärte Mensch wäre ohnehin kein Mensch mehr, sondern ein homo stans, etwas, das vom Ding nicht zu unterscheiden wäre. Von Trier verfährt daher profan, er stellt nichts fest und erklärt nichts, lässt das mensch in Ruhe, da er auf der Ebene des Films taktiert: Er schildert eine Gruppe von Aussteigern, die in einem gemeinsamen Haus leben und in der Öffentlichkeit geistig Behinderte spielen. Nachbarn und Passanten werden in die Rolle von Pflegehelfern oder Ärzten gedrängt, nehmen an der Redefinition der Welt teil. Die Kommune zeigt auf, dass nicht mehr der Idealist oder Revolutionär, sondern offenbar nur noch der Idiot in der Lage ist, sich aller Konventionen zu entledigen – oder wie es Möbius in Dürrenmatts Physikern ausdrückt: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken“ Dabei ist es unerheblich, ob man wirklich ein Idiot ist oder nur einen Idioten spielt, denn idiotisch ist, es trotzdem zu sein. Wir spielen uns bis zur Besinnungslosigkeit, wir rationalisieren uns in Rage. Es geht beim Anspruch, „den eigenen Idioten hervorzuholen“, nicht um Dumm-, sondern um Freiheit, d.h. um das Streben nach einem einzigartigen Leben, das auch jenseits von liberalem Hedonismus oder bürgerlicher Identität Sinn macht. Freies Tier, unfreie Bestie. Mit dem Idiotenthema wird die Geschichte der mentalen Aussätzigkeit ebenso angesprochen wie die Geschichte der Künstlerkollektive. Insofern sind die Kommunarden von Triers Nachfahren Myschkins. Das Spiel der Freiheit, in der „die Vernunft wie von selbst in den Wahnsinn zu stürzen droht“ (Michel Foucault), lässt aber mit der Absonderung des Idioten auch den Idiotismus der Gesellschaft zutage treten, deren untiefes Abbild er ist. Denn allerorten werden Idioten „hervorgeholt“, nur sind die Konsequenzen des Hervorholens nicht immer befreiend, sondern im Gegenteil: Die moderne Technokratie reproduziert unentwegt die „Idiotie der Masse“ (Gustave Flaubert), die im Spielbetrieb ökonomischer Prozeduren aufgegangen ist. Deshalb suchen die Kommunarden die idiotische Konfrontation, ähnlich dem Dadaisten, „der als Wahnsinniger mit dem Wahnsinn der Gesellschaft spielt“ (von Barloewen). Dass „Freiheit und Gleichheit nur in dem Taumel des Wahn22
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sinns genossen werden k önnen“, dachte sich schon Goethe, als ein Karnevalsumzug einmal lärmend an seinem Fenster vorbeizog. Es scheint heute, als ob sich dieses Geräusch verselbständigt hat und zum kosmischen Hintergrundrauschen hochindustrialisierter Gesellschaften geworden ist. Narren – Kulturgeschichtlich zeigt sich der Idiot oft in der Rolle einer im Machtzentrum stolzierenden Randfigur. Diese liegt Kynikern, Trickstern, Jestern, Schelmen, Ingenues oder Narren dort zugrunde, wo ihr Besonderes, Eigenes, Inneres usw. Wirkung entfalten kann. Was viele dieser Figuren eint, ist die Eigenschaft, sich ein Verhalten zu erlauben, das anderswo geächtet wäre. Und „anderswo“ meint einen Raum, den diese Charaktere noch nicht definiert haben. Dieser subversive Spielraum wird vor allem im Verhältnis zur monarchischen Macht deutlich. Hofnarren sind keine buchstäblichen „Idioten“, gleichwohl schützt sie die Sphäre ihrer Besonderheit davor, dem Hof zur ernsthaften Konkurrenz zu werden. Es geht bei diesen Subjekten – vom körperlich versehrten Freak bis zum scharfsinnigen Philosophen – um geistreiche oder geistlose Körper, die durch ihren Einsatz die Ironie der Macht als Macht bestätigen. Da tummelt sich viel Heutiges im Vergangenen. Polit-Trolle, Skandal-Promis, Comedians, öffentliche Intellektuelle oder It-Girls besetzen heutzutage diese archaischen Positionen, die immer wieder etwas von der Macht spiegeln, annehmen oder weitergeben. Der „innere Idiot“ des universellen Narrentums lebt sich mit der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeit aus und benötigt keinen Anlass, keinen Auftrag, um etwas zu tun, auch wenn ihm der Klamauk verordnet wurde. Was er dann aber tut, tut er einfach, ohne sich der libidinösen, epistemologischen oder ökonomischen Ordnung auszusetzen: „Als der Hofnarr Morot, während der Regen heftig niederging, dicht an der Seite des Königs unter dem Schirm spazierte, und Seine Majestät geringschätzig zu verstehen gab, sie ertrüge keine Narren an ihrer Seite, entgegnete Morot flink: ‚Ich schon!‘“ (Constantin von Barloewen) Denk im Glück – Die Koketterie mit dem Unvermögen, das man zum Vermögen macht, hat ihre eigene Geschichte. Nikolaus Cusanus versetzt 23
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sich in seinen späten Dialogen in einen philosophischen Laien, den er Idiota nennt, um über den theologischen Mainstream zu lästern. Dabei erfährt die sokratische Methode des ironielastigen Nichtwissens als docta ignorantia ihre neuzeitliche Formulierung. Wissen ist Macht, Nichtwissen eine Kunst: Der unbelesene Naivling ist weiser als Philosophen von Rang, da er frei von den üblichen Formalismen des Denkens ist. „Niemandes Autorität leitet mich, auch wenn sie versucht, mich zu beeinflussen“, verkündet Idiota. Also denkt sich dieser fröhliche Wissenschaftler, was er sich eben so denkt, und kann es dabei mühelos mit den umständlichen Lehren der Scholastiker aufnehmen. „Indem der Verstand auf seine Einfachheit blickt, erkennt er alle Dinge in ihrer Einfachheit, unabhängig von ihrer Zusammensetzung“, verkündet Idiota und zieht damit gegen die universelle „Dummheit der Gescheiten“ (Theodor W. Adorno) ins Feld. Es zeichnet Cusanus aus, dass er die Performanz des Wissens als Macht geste durchschaut, wenn er seinen Denkpopulisten entwirft. Idiota stellt zum Lebensunterhalt Holzlöffel her und leitet seine Einsichten allein aus der handwerklichen Praxis ab. Er ist das mathematische Gegenteil eines Universalgelehrten, und doch äußert der anwesende Philosoph seine Bewunderung darüber, dass Idiota Erkenntnisse der aristotelischen und platonischen Schule wiedergebe. Ja mehr noch: Alle Philosophen hätten sich immer schon gewünscht, so wie Idiota zu philosophieren. Hat dessen Schnitzen von Holzlöffeln etwas vom messerscharfen Schlussfolgern, das die Skulptur des Denkens zutage treten lässt? Ein Gedanke ist, sofern er diesen Namen verdient, etwas Wohlgeformtes. Cusanus stellt das, was man im alten Rom prudentia nannte, gegen die scientia: Weisheit gegen Wissen, Synthese gegen Sachverhalt, Wissensereignis gegen Ereigniswissen. Sein Idiota ist die Figur, die unterhalb der Dummheit ansetzt. Er besitzt etwas, das schon der Trickster und Götterbote Hermes besessen haben soll: das „innere Wissen der Dinge“ (Lewis Hyde). Der Geist ist für Idiota nicht etwas, das sich entfaltet, sondern im Gegenteil das „Bild der ewigen Einfaltung“ (Cusanus), ohne bildlich oder begrifflich fassbar zu sein. Die Sprache des Laien hat keinen Anspruch auf Transzendenz und fühlt sich auch keinem Milieu verpflichtet. Cusanus bemüht das biblische Bild von der „Weisheit der Straße“ und lässt die Gelehrten darüber stau24
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nen, dass die Pilgerkommune, die vor ihren Augen vorbeizieht, unabgestimmt aber bestimmt ihr Ziel erreicht. Idiota ist ein Einzelner, ein Zufälliger, vom Licht Beschienener. Descartes wird später vom „natürlichen Licht“ sprechen und weist Eudoxos die Rolle Idiotas zu. Deleuze und Guattari beziehen sich ebenfalls auf diese Figur, wenn sie den Idioten als „Begriffsperson“ definieren, als fiktive Person, in der die realen Gedanken der Philosophen leben. Sie reaktivieren damit den antiken Begriff im spätmodernen Denken: „Der Idiot“, schreiben sie, „das ist der Privatdenker im Gegensatz zum öffentlichen Professor (dem Scholastiker) […] Ein höchst sonderbarer Typ von Person, der da denken will und aus sich selbst denkt, durch das ‚natürliche Licht‘.“ Das Licht und die Leuchte, Erleuchtung, Aufklärung, Aufleuchten: Das sind Metaphern einer Erkenntnis, die sich aus den primitivsten Energiequellen speist, Bio-Energie: einfach so erkennen, ohne Kraftwerk und Endlager einfach so aus der Erde heraus denken – wie eben Angelus Silesius’ Rose blüht: „ohn warum“, selbstgenügsam, mühelos und nichts beanspruchend, was einem nicht zukommt. Wie Sturgeons Idiot Lone nichts erwarten und nichts fordern, nicht einmal die Umwertung aller Werte – Null-Maß, Null-Ethik. Bei Angelus Silesius ist das ein gottgleicher Zustand, der ohne ontologische Differenz auskommt. Ohne Sorge, ohne Angst, ohne Freude, ohne Gleichmut, ohne Langeweile, ohne Spannung, ohne Leere, ohne Trauer und – weitergehend als Sokrates – ohne ‚Vernunft‘. Idiota ist nicht privilegiert, und doch hat er die Fähigkeit, die Welt ohne intellektuelle Verrenkungen oder Fachjargon erklären zu können – idiota doctus, gelehrter Depp, A ccatone. Aber wie ist das überhaupt möglich? Entspringt sein Wissen einer bloßen Laune, und hat er jedes Mal zufällig recht damit? Das ist eine Vermutung, die vielleicht später einmal Sinn machen wird, jetzt noch nicht. Das Zufällige des Idioten spiegelt die tägliche Evidenzerfahrung wider: Sie soll etwas sein, das einem nicht die Person des Denkers ‚aufzwingt‘, sondern etwas, das sich quasi von selbst ergibt – ebenso zufällig wie notwendig. Cusanus’ Experten sind fassungslos darüber, dass ein Beliebiger ihre Erkenntnisse mühelos übertrifft, aber noch mehr erstaunt es sie, dass sie sich selbst darin wiederfinden – im Lumpenproletariat der Vernunft.
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Dysfunktion – Querdenker ohne Gedanke, Querulant ohne Mission, Queer ohne e. Der Weg des weisen Laien zum heutigen Schimpfwortidioten ist verschlungen. Er setzt da an, wo das idion gesellschaftliche Wirkung zeigt, wo es zum Symptom eines Versagens wird. Der idiotes bezeichnete im antiken Athen die „Privatperson“: jemanden, der sich vor allem um seine persönlichen Angelegenheiten kümmerte und daher für Staatsgeschäfte ungeeignet war. Der Begriff wurde in der Antike zwar oft funktional verwendet, z.B. als politischer Gegensatz zum strategos, als Begriff für einen Prosaiker im Gegensatz zum Dichter, als Bezeichnung für Laien oder zur Kennzeichnung bürokratischer Angelegenheiten (für private Opferriten galten beispielsweise andere Tarife als für öffentliche). Politisch bedeutete idiotes aber eine Dysfunktion. So schreibt Platon in den Nomoi, dass „das Gemeinwohl den Staat zusammenhält, das Sonderinteresse aber ihn zerreißt“. Eine Gesellschaft von Privatleuten ist unmöglich, weil es keine Vermittlung aller Einzelinteressen geben kann und der politische Logos nicht die handelnde Vernunft umgreift. Anders formuliert: Man kann es nicht jedem recht machen, wenn jeder schon auf seine Weise recht hat – die utopische Erfüllung dieser Vorgabe wäre in antiken Augen eine Gesellschaft im Singular, eine Idiokratie. Als Vermittlungsinstanz zwischen den rechthaberischen Einzelnen und dem Recht der Vielen hat später die christliche Staatslehre die „Pastoralmacht“ (Foucault) als Regierungstechnik eingeführt: Der Hirte kümmert sich sowohl um die Herde als Ganzes als auch um das Wohlergehen des einzelnen Schafs. Er wird gegebenenfalls sowohl den Einzelnen opfern, um das Wohlergehen aller sicherzustellen, als auch auch alle anderen opfern, um das Wohlergehen des Einzelnen sicherzustellen: „Omnes et singulatim: das Paradox des Hirten“. Diese Subjektivierungstechnik hat sich in der Moderne säkularisiert und schließlich zur spätkapitalistischen Gouvernementalität geführt, in der Staatsinteresse und Einzelinteresse komplex ineinandergehen. Das Epochen umgreifende Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat, Idiotie und Politologie unterfüttert die Frage, wie und wann das „Zeitalter der Gouvernementalität“ im Zeitalter des Idioten mündet.
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Selbst-Sabotage – Der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler Walter C. Parker hat 2005 in seinem Essay Teaching Against Idiocy vor weitreichenden Konsequenzen heutiger Formen der Idiotisierung gewarnt, die er im allgegenwärtigen Hype des Privaten aufkommen sieht. Dieses Private ist dabei nicht deckungsgleich mit dem Individuellen: Menschen nennen Eigentum auch dann privat, wenn z.B. alle die gleichen Handys oder T-Shirts besitzen. Die Inflation des Privaten führe notwendig zu einer generellen Orientierungslosigkeit, so Parker. Die Antike fand entsprechend für den idiotes das Bild des ruderlosen Schiffs, das auf Klippen zu schlagen drohe. Platon sieht die Ursachen der Orientierungslosigkeit in der „Idiopragie“ (idiopragia). Damit sind Dinge und Handlungen gemeint, die einem selbstgeeichten Kompass folgen. Das sei abzulehnen, so Platon, denn „die Schwäche der Menschennatur wird ihn stets zur Habsucht und zur Wahrnehmung seines eigenen Vorteils treiben, […] und zuletzt auf ihn selbst und den ganzen Staat das äußerste Unheil häufen.“ Habsucht ist also dann idiotisch, wenn sie sich ins Gegenteil verkehrt und alle Habsüchtigen zu Mittellosen macht. Der Privatier treibt, vom Versprechen des Vorteils getrieben, seinen eigenen Verlust voran. Hier steckt marxsche Dialektik in der platonischen: Der Verfasser des Kapitals wird vom „Idiotismus der Bürgerwelt“ schreiben, die sich einer Matrix des Untergangs verschrieben hat. In der modernen Interpretation ist allerdings die Bedeutung der Idiopragie zur Gerechtigkeitsformel gewendet: Man bezeichnet damit nun eine gerechte Arbeitsteilung bei der Staatsbildung, die auf den spezifischen Fähigkeiten jedes Individuums beruht. Davon ist auch Marx’ konkrete Utopie der freien Zukunftsgesellschaft beseelt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Der Idiotismus, auf den sich Marx bezieht, besteht darin, dass die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Bürgertums ein entfremdetes Wollen ausdrücken, das sich schließlich gegen die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen wendet – was man im Übrigen auch für die spätere Uminterpretation des Satzes zum „sozialistischen Leistungsprinzip“ sagen kann.
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Isoliert – Marx’ und Platons Einsichten haben nichts an Aktualität eingebüßt, denn auch heutige Gesellschaften sind nicht idiotensicher. So dürfen in manchen US-Bundesstaaten offiziell als idiots deklarierte Bürger nicht an Wahlen teilnehmen. Allerdings sind in diesem Fall nicht die Lobbyisten mächtiger Wirtschaftsunternehmen gemeint, die ihre special interests durchsetzen, sondern Personen mit einem extrem niedrigen IQ. Diese Verknüpfung von Idiotie und „Dysrationalität“ (Keith S tanovitch) etablierte sich in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1801 veröffentlichte Philippe Pinel das erste Standardwerk zur Systematisierung psychischer Erkrankungen, den Traité médico-philosophique sur l'aliénation mentale. Der Traktat unterschied fünf Gruppen: Melancholiker, Monomaniker, Maniker, Demente und Idioten. Entscheidend war, dass Pinel für jede Erkrankung eine eigene Psychopathologie ausformulierte, d.h. die unterschiedlichen Geisteskrankheiten waren nicht Erscheinungsformen ein und desselben Wahnsinns, sondern mussten in verschiedenen Abteilungen therapiert werden. Der Idiotiebegriff bezog sich auf die Folgen physiologischer Abnormalien (wie z.B. der „Kleinköpfigkeit“ oder Mikrozephalie), wurde aber zugleich auch in einem abstrakteren Sinne verstanden, der über den Horizont üblicher Erkrankungen hinausreichte. In einer in der Nachfolge Pinels stehenden Studie über Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde (1836) von Jean-Étienne-Dominique Esquirol heißt es: „Die Idiotie ist keine Krankheit, sondern ein Zustand, in dem die intellektuellen Fähigkeiten nie bestanden, oder sich nicht haben entwickeln können […]“. Die Unterscheidung von Krankheit und Zustand ist wichtig, um die Singularität des Idioten hervorzuheben: „Das Wort idios, privatus, solitarius, drückt den Zustand eines Menschen aus, der, der Vernunft beraubt, gleichsam allein, von der übrigen Natur abgesondert, dasteht“ (Esquirol). Diese Natur des Idioten ist aber von Anfang an normativ unterwandert und meint auch ‚Kultur‘. Esquirol schildert den Fall eines seiner an Idiotie leidenden Patienten, dem er zur Entspannung empfohlen hatte, sich einmal „aufs Pferd zu setzen“. Später habe er erfahren, dass der Patient seine Empfehlung wörtlich genommen und sich über Stunden auf ein Pferd gesetzt hatte, ohne sich vom Fleck zu rühren. Diese wörtliche 28
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Umsetzung der ärztlichen Empfehlung verfehlte zwar die Therapie, aber erfüllte deren Zweck, denn es muss offenbar für den Patienten entspannend gewesen sein, auf dem Pferd sitzen zu bleiben, ohne davonzureiten. Für den Nervenarzt ist diese intellektuelle Spontanität aber nur als Symptom eines isolierten Geistes erkennbar. Michel Foucault hat dergleichen Fälle zusammengetragen, um die Diskrepanzen zwischen medizinischer Analytik und Internierungserfahrung darzustellen. Er schrieb in diesem Zusammenhang, dass „der Wahnsinn nur in dem Maße möglich [war], in dem um ihn herum es jene Weite und jenen Spielraum gab, der der Person gestattete, selbst die Sprache ihres eigenen Wahnsinns zu sprechen und sich als Irrer zu konstituieren.“ Darin besteht auch die ‚Kultur‘ des Idioten. Die Autorität setzt Common-Sense-Variablen, wie man sich zu verhalten hat. Der Patient erkennt diese Variablen nicht (an) und nimmt die Worte wörtlich – ja, gewiss, wie eben ein Idiot, aber nicht wie der Idiot des Arztes, sondern wie ein eigener Idiot. Es ist ja sein Akt, den niemand so vorhergesehen hat. Der Arzt hingegen ist auf ähnliche Weise nicht therapierbar wie sein Patient, und zwar nicht, weil er krank wäre, sondern in derselben Weise, in der ein Gott zwar allmächtig ist, aber selbst nicht an Gott glauben kann, d.h. er verschließt sich einer kategorischen Möglichkeit. Dieser Idiotismus des Arztes ist nie das Thema, weil alle Taten des Patienten von vornherein als pathologisch definiert werden, und ich leugne nicht, dass es gute Gründe dafür gibt. Ich betone nur mit Hinweis auf Clément Rosset, dass die Idiotie überhalb oder unterhalb der Erkrankung als metaphysischer, performativer oder phantasmatischer Tatbestand weiterhin fortbesteht. Auf diese Vielfalt zielt meine Analyse. Man könnte also für das obige Beispiel sagen, beide Instanzen nehmen am selben Idiotypus teil, nur spielen sie bei der Konfrontation unterschiedliche Rollen. Der Arzt wendet sein Sprachspiel an, der Patient macht auf das Sprachspiel des Arztes aufmerksam. Und das beschreibt wiederum ein Modell für die philosophische Arbeit am Begriff des Idioten. Ordnung – Neue Praktiken ziehen neue Begriffe nach sich. Heutzutage wird das, was früher einmal Idiotie genannt wurde, gemäß der Standardisierung ICD-10 (2012) zum Spektrum geistiger Behinderungen 29
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g ezählt (F70–F79). Im englischen Sprachraum ist der entsprechende Ausdruck mental retardation (MR) nicht mehr so geläufig wie vor ein paar Jahren, weil retard als Schimpfwort etabliert ist. Stattdessen spricht man von intellectual disability (ID) oder auch intellectual development disorder (IDD) – intellektuelle ‚Unordnung‘. Es erscheint schwierig, in den Bereich, den Foucault „geistige Orthopädie“ genannt hat, Ordnung zu bringen, wenn die Metaphern der Ordnung/Unordnung selbst zur Diagnose werden. Ordnung ist ein beliebtes Leitwort für Herrschaftszustände („Recht und Ordnung“), ordentliche mentale Zustände dienen der Klassifikation, und „das Ziel von Klassifikation ist Macht“ (Jean Garrabé). Es überrascht daher nicht, dass die antipsychiatrisch agierende Neurodiversity-Bewegung weltweite Projekte gegen das Ordnungsdenken ins Leben gerufen hat (Autistic Pride Day, Mad Pride). Diese wenden sich nicht generell gegen klinisches Therapieren, sondern gegen die gesellschaftspolitischen Folgen des psychiatrischen Klassifikationsapparates und der Institutionalisierungspraxis. Die „halluzinatorische“ Schizo-Analyse von Deleuze & Guattari bildet hier die intellektuellen Ausgangsbewegung, die „Ödipus zerstören, die Illusion des Ich, den Hampelmann Überich, das Schuldgefühl, das Gesetz, die Kastration“ von der „ureigensten“ Krankheit des Kapitalismus befreien soll, der sich als Dispositiv in alle Institutionen gefressen hat. Davon ist auch das institutionalisierte Wissen nicht gefeit: „[D]ie Psychologie macht den Fehler, soziale Probleme zu privatisieren. So beschäftigt sich eine riesige therapeutische Industrie mit Symptomen, die politische Ursachen haben“, stellt Eva Illouz fest. Auch kulturphänomenologische Analysen des Idioten klammern die klinischen Klassifikationen ein, d.h. sie separieren die Phänomene von den medizinischen Erklärungen, um die zugrundeliegenden philosophischen Fragen auszuheben. So betont etwa Martin Halliwell in Images of Idiocy, dass Idioten vor allem Fokuspunkte für alternative Modi der Subjektivität bilden, die das notorische postmoderne Interesse an fragmentierten Existenzen wachhalten. Nicht jedes Verstehen muss therapieren, ‚Lösungen anbieten‘. Es ist auch heilsam, wenn man etwas versteht und nichts daraus folgt.
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Nexus – Bis zum 14. Jahrhundert lässt sich der Idiotenbegriff noch in der Bedeutung von „Privatmensch“ feststellen. Trotz der Entpolitisierung des Begriffs und der semantischen Verschiebung hin zum heutigen Schimpfwortidioten bleiben gewisse Charakteristiken erhalten: die Isolation und Eigenheit des Geistes, die Selbstbegründung. Eine Interpretation ist, dass der idiotes mit der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts in Form des privaten, aus sich selbst heraus begründeten Individuums den Kern des modernen Gesellschaftsvertrages ausmacht und zugleich andere Aspekte des Begriffes für die klinische Diagnostik nützlich werden. Denn auch das naturrechtlich begründete Individuum steht wie ein Idiot „von der übrigen Natur abgesondert“ da. Rousseau bezeichnete Neugeborene daher als „perfekte Idioten“. Das Individuum ist in diesem Sinne nur da Mensch, wo es auch Idiot ist. Es ist, nach Adorno, „ein von der Gesellschaft Abgedichtetes, Abgespaltenes“. Die zunehmende Atomisierung der sozialen Ordnung mit ihrer „Mikrophysik der Macht“ (Foucault) begründet in der Moderne den staatsbürgerlichen Idiotypus, der fortan als irreduzible Entität der Politik kursiert. Während also der Idiot bei John Locke die Rolle einer Nicht-Person übernimmt, die den Gesellschaftsvertrag außer Kraft setzt und daher aus dem Gesellschaftsverbund ausgeschlossen werden muss (dessen Eigentum und Körper vom Königreich konfisziert werden kann usw.), ist ein anderer Aspekt des Idioten etwa bei Rousseau gerade die Voraussetzung des Gesellschaftsvertrages, in dem Moral und Politik auf den Fundamenten eines als natürlich verstandenen, für sich bestehenden Subjektes fußen, in dem der noch in der griechischen Antike als Antipode der politischen Vernunft geltende idiotes nun samt seinen idiopragischen Veranlagungen zur Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung wird. Mit anderen Worten: Die mentale Krankheit des Idioten ist auf ähnliche Weise wie die politische Gesundheit des citoyen konstruiert. Beide zehren von verschiedenen Perspektiven derselben Idee. Es ist der Reiz des Idiotiebegriffs, alle diese unterschiedlichen Sphären zugleich anzusprechen. Denn offensichtlich ist dieser unterirdische Nexus von privat und debil aus dem politischen Diskurs verschwunden und der (a)politische Idiot durch andere Begriffe ersetzt worden – andernfalls dürften ja nur Idioten wählen 31
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gehen und nur Idioten gewählt werden, was einem populistischen Zirkel entspräche. Dennoch verbleibt eine lebensweltliche Verwandtschaft: Wer nur auf sich selbst bezogen ist, hat zwar den eigenen Blick, aber er unterschätzt die Umstände, die einer gesetzten Aufgabe zu eigen sind, und zugleich überschätzt er die eigene Expertise, wird zuletzt zum Fachidioten. Letztlich wird der Idiot – ob Voll- oder Fachidiot, ob hoher oder niedriger IQ – scheitern. Heutige Wirtschaftslobbyisten und Finanz jongleure verhalten sich somit zwar nach außen hin ‚individuell‘ und ‚aufgeklärt‘, aber im Hinblick auf den gesellschaftlichen Mehrwert genauso randalierend wie Monomaniker in den Irrenhäusern des 19. Jahrhunderts. Die Wände der geschlossenen Anstalt sind lediglich um den gesamten Planeten gezogen. Brüter – Was hieße es, den Idiotenbegriff etwa im Hinblick auf Platon und Marx wieder zu politisieren, ihn in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu überführen und seine planetarische Reichweite neu zu bestimmen? Was Deleuze & Guattari über die Geschichte der Philosophie schreiben, gilt auch für die Geschichte des Idioten, die „völlig uninteressant [ist], wenn sie sich nicht vornimmt, einen eingeschlummerten Begriff wieder zu wecken, ihn auf einer neuen Bühne wieder aufzuführen – und sei es um den Preis, ihn gegen sich selbst zu kehren“. Den Begriff zu wecken heißt, ihn von allen Seiten neu zu umgreifen, ihn im Sinne Parkers „als konzeptuelles Werkzeug zu verwenden, um ein zentrales gesellschaftliches Problem“ der Gegenwart zu klären, nämlich die Selbstabschottung im Zuge der Singularisierungsapparaturen und die damit einhergehenden Paradoxien des Herdenverhaltens dieser Hyperindividualisierten. Übliche Dichotomien wie privat/öffentlich, Ich/Welt, selbst/andere, Individuum/Masse, Individuum/Dividuum usw. müssen womöglich am Beispiel des Idioten neu durchdekliniert werden. „Idioten brüten das Jahrhundert aus“, schreibt Tristan Tzara. „Jahrhunderte später beginnen sie von Neuem.“ Ist es wieder an der Zeit? Ego-Ökonomie – Heutige Gesellschaftsanalysen fokussieren weniger auf den im politischen Phänomen steckenden Idiotismus als vielmehr auf 32
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den Egoismus, dem Profit aus den Miseren anderer. Der Unterschied wird im humanistischen Bild deutlich: Ein Kupferstich Pieter Bruegels d. Ä. stellt den Egoisten als jemanden dar, der sich am Hausbrand seines Nachbarn wärmt. Francis Bacon erweitert das Bild, wenn er von den Selbstverliebten schreibt, dass sie ihr Haus anzünden würden, nur um sich Rühreier zubereiten zu können. Wo sich das Eigeninteresse ins Gegenteil verkehrt, entsteigt der von einem aufdringlichen „interesse losen Wohlgefallen“ getriebene Idiot. Der typische Egoist will dagegen zu jeder Zeit das Optimale für sich erzielen, und im Gegensatz zum Idioten wähnt er sich nicht alleine. Marx schreibt in Das Elend der Philosophie (1847): „Jeder Egoismus spielt sich ab in der Gesellschaft und vermittelst der Gesellschaft. Er setzt also die Gesellschaft voraus, das heißt gemeinsame Ziele, gemeinsame Bedürfnisse, gemeinsame P roduktionsmittel etc.“ Der Karrierist bewegt sich mit seinen Gelegenheiten, der Idiot quer zu ihnen. „Wenn ein ‚Idiot‘, ein uneigennütziger Mensch, in die Welt von Egoisten fällt, so wird es schlecht enden“, lautet das Fazit einer Bühnenfassung von Dostojewskis Roman. Egoisten sorgen daher für gesellschaftliche Sicherheitsvorkehrungen. Im Finanzgewerbe entspricht dies den sogenannten Golden Parachutes, Abfindungen und staatlichen Bail outs, mit denen sich die Akteure retten können, wenn es ‚zu brenzlig‘ wird. Auch wurden mit dem Aufkommen des Shadow Banking Systems seit den 1990er Jahren im Wertpapierhandel Risiken zunehmend mit komplexen Absicherungsmechanismen wie etwa Kreditderivaten kombiniert. Im günstigsten Fall, dass das Haus des Nachbarn Feuer fängt, verspricht etwa ein Credit Default Swap das Maximum an Wärme, das man aus dem Brand generiert. Vor allem in der Weltfinanzkrise von 2007 pervertierte sich das globale Profitinteresse, als Kredite aus Bankbilanzen verschwanden und in Schattenbanken ausgelagert wurden, bis jeder den Marktüberblick verlor. Der gewiefteste Erfolgsstratege wird zum Idioten, wenn er das Feuer so lange schürt, bis sich seine Karriereleiter vor lauter Hitze zum Hamsterrad krümmt. Die Eier der Welt – Bruegels Figur des Narren aus derselben Kupferstichserie kommt einer Genese des Idioten nahe: Es stellt einen Betrunkenen 33
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dar, der ein Ei ausbrütet, worin ein Narr zum Vorschein kommt. Der Berauschte reproduziert sich selbst, seine Aktivität ist Selbstzweck. Der Selbstbrüter „holt den eigenen Idioten hervor“. Hat sein Schaffensrausch nicht auch etwas von der erfüllten Konsumseligkeit, die man als Kaufrausch bezeichnet, und werden Spekulationsgeschäfte trotz aller ihnen innewohnender Profitrationalität nicht als Rausch beschrieben? Es drängt sich die Bildsprache in Martin Scorseses The Wolf of Wall Street auf, wo sich Investitionen und Injektionen, Wertpapiere und Prostituierte in konzentrischen Bewegungen ineinander schlingen. Für diesen Eiertanz des Bewusstseins hat der Finanzökonom Willem Buiter den Begriff „cognitive regulatory capture“ geprägt: Das ist „der Prozess, durch den die Verantwortlichen der zuständigen staatlichen Stelle die Ziele, Interessen, Ängste, Hoffnungen und die Wahrnehmung der Realität des ihnen übertragenen Teilbereichs, den sie regeln sollen, internalisieren und wie bei einer Osmose übernehmen“. In Adam McKays Film The Big Short (2015) spiegelt sich dieses kognitive Staatsversagen in der Figur einer Finanzegulierungsbeamtin wider, die sich in Las Vegas an einem Pool mit einem Broker von Goldman Sachs vergnügt. Die Libido schafft sich eine eigene Familienaufstellung – die Vermählung der Regulierer mit den Regulierten. McKay verstand es im übrigen auch, den Kern der Finanzkrise mit einem an Idiota gemahnenden Freak in deren Epizentrum darzustellen: Dr. Michael Berry, das einäugige, autistische und verschrobene Finanzgenie, wittert den Kollaps als Erster, weil sein Idioteninstinkt ihn mit der allgemeinen ökonomischen Entwicklung synchronisiert. Was bei Idiota der Holzlöffel, ist bei Berry der Heavy Metal. Berrys unmusikalisch agierende Kollegen können die ökonomische Realität der sich anbahnenden Immobilienkrise nicht erkennen. Berry wird als Dilettant beschimpft, weil er den Subprime-Markt dort in Bewegung geraten sieht, wo sich alle anderen im Sumpf des ökonomischen Equilibriums suhlen. Am Ende hat der Idiot mit seinen Vorhersagen alle Wirtschaftsexperten übertrumpft. Ähnlich besticht ein weiterer Protagonist, Jarred Vennett, in einer Szene, als er sich instinktiv zuflüstert: „I smell money“, bevor er eine Investmentfirma von seiner CDO-Strategie überzeugt. Das ist der Idiotenfaktor, die Ebene, die unterhalb der Dumm34
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heit ansetzt – das Ich, das sich als Es gebärt: unverstandene Instinkte, die mit dem Interesse verwoben sind, für die das Wort „Profitgier“ unzureichend ist, weil es den Interessensfall abschließt, während das blinde Begehren und der Wille, der sein Gegenteil will, weiter darin rumoren. Die Gier ist ein S ymptom des Egoisten, der klar abgesteckte Ziele verfolgt. Der Idiot agiert unterschwelliger und widersprüchlicher. Das Alltägliche wird in ihm so lange weitergesponnen, bis es totale Bedeutung bekommt und die logische Struktur des Instinkts zur Entsprechung der Spekulation geraten lässt – kapitalgetriebene „Tiere in Menschenform“. In einer politischen oder ökonomischen Krise wird die Totalität dieser Sinnebene deutlich, tritt eine alternative Ordnung und Endperspektive der Gesellschaft zutage: Wenn heute ein Finanzexperte wie Kenneth Rogoff die Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt mit dem Hinweis auf die positiven Effekte der „animal instincts“ lobt, vergisst er, dass gerade diese Instinkte auch permanent den Kollaps einfordern – Cognitive Capture of the Real. Unterhalb der Dummheit – Idioten sind keine Dummköpfe. Wenn Wittgenstein anmerkt, dass „unsere größten Dummheiten sehr weise“ sein könnten, und dass der „amerikanische dumme und naive Film […] in aller seiner Dummheit und durch sie belehren“ könne, dann entdeckt er einen Idiotypus in sich, dessen Einfältigkeit Ursprung des Wissens ist, ohne dass damit eine Belehrung einhergeht. Bestimmte Propaganda oder Werbeanzeigen muten hingegen dumm an und nicht idiotisch, weil sie etwas rationalisieren, was der emanzipierte Betrachter von vornherein als hinterhältig ablehnt. Denn Dummheit ist nicht naiv, sondern dreist („dummdreist“). Und sie ist eine bemühte Form der Rationalisierung, deren Unterbau fehlt. Der strategos kann eine Dummheit begehen, der idiotes nicht, weil man von ihm nicht die übliche Abfolge von Gedanken erwartet. Er gibt zu, dass die Notwendigkeit der Abfolge zufällig ist. Die Gründe des Dummkopfs führen folgerichtig und konventional zueinander, aber entweder sind die ihnen zugrunde liegenden Annahmen falsch, oder die Verknüpfungen fadenscheinig. Deshalb hat die E ntlarvung der Dummheit keinerlei Mehrwert, man hat nichts 35
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davon, sie zu durchschauen. Wenn man sie an sich selbst entdeckt, wenn man sie in sich aufsteigen sieht, wie dies Foucault einmal formulierte, schämt man sich ihrer, weil sie so durchschaubar und nutzlos ist. Der idealtypische Idiot hingegen rationalisiert gar nichts, und wenn, dann mühelos. Dummköpfen ist Denken und Anstrengen ein und dasselbe. Robert Musil spricht von der „höheren Dummheit“, die er von der „einfachen Dummheit“ unterscheidet. Letztere ordne ich dem besinnungslosen Weisen zu, der seine „libidinöse Dummheit“ (Lyotard) mit einer unergründlichen Intelligenz gekoppelt hat, wie etwa obiges Finanzgenie. Das ist die Erkenntnisebene, von der Wittgenstein schreibt. Der Dummkopf ist der rationale Ignorant im Bann eines extrovertierten Körpers. Null-Denken – Clément Rosset schreibt: „Die Dummheit ist von unternehmungslustigem Wesen: sie besteht […] darin, andauernd Botschaften auszusenden. Sie spricht und muss dem gesagten permanent etwas ‚hinzufügen‘.“ Der Dummkopf hat seinen -kopf, d.h. er räsoniert permanent, der azephale Idiot hat nur sich, und wenn er Glück hat, dann hat er auch noch recht. Der Unterschied ist wichtig, weil er die IQ-Hegemonie herausfordert: Die Intelligenten bleiben nicht unter sich, sondern mischen sich unters Volk, entweder mit einem Überfluss an Erklärung oder mit praktischer Überforderung. Wie der US-Psychologe Stephen Greenspan betont: „Poor reasoning involves faulty thinking while irrationality involves clueless behavior.“ Greenspan zeigt in seinen Foolishness Studies, dass diese Unterscheidung von der IQ-Debatte getrennt werden muss, vor allem wenn es um Alltagssituationen geht. Einmal sagte mir eine ältere Dame, während sie auf meine dreijährige Tochter zeigte: „Die Kleine sieht genauso wie die Tochter meiner Nachbarin aus.“ Beide Kinder sind blond, das ist die ‚Ähnlichkeit‘. Etwas als spezifische Einsicht verlautbaren, der nur eine allgemeine oder gar keine zugrunde liegt, ist dumm. James Weller definiert daher die Dummheit als „erlernte Korruption des Lernens“, d.h. eine Rationalisierung einer Erfahrung, welche authentisches Erleben zugunsten einer Konvention entstellt und die Möglichkeit weiterer authentischer Erlebnisse sabotiert. Ohne Dummheit könnte man innovativ mit Situationen umgehen, sie als neue, eigene Situatio36
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nen verstehen lernen. Der Idiot macht das ohnehin, weil er das Getriebe der Konventionen nicht durchdrungen hat. Man erklärt Dummheiten manchmal als „menschliche Reaktionen“, z.B. dass jemand betont, einen gerade Verstorbenen „gestern noch gesehen zu haben“, oder schockiert darüber ist, dass er „von heute auf morgen nicht mehr da ist“, obwohl derlei Aussagen der Tatsache seines Todes nichts hinzufügen. Dennoch wird das so gesagt, als ob es Erkenntniswert habe. Man erklärt, wo keine Erklärung ist und wo Schemata auftauchen, die als Floskeln über Situationen gestülpt werden. „Wir sind umso dümmer in unseren Handlungen, je weniger unwissend wir sind“ (Charles Richet). Wenn obige Frau über meine Tochter gesagt hätte: „Die Kleine hat zwei Ohren und sieht deshalb genauso aus wie die Tochter der Nachbarin, die auch zwei Ohren hat und eine Tochter ist“, dann hätte man sie in den Idioten-Olymp aufnehmen können. Es ist vielleicht so, dass viele Menschen ihren inneren Idioten spüren, ihn aber rational zu übertünchen versuchen und sich dadurch zu Dummköpfen machen – gemäß der Überlegung: Das, was gerade in meinem Kopf vor sich geht, ist ziemlich peinlich. Also gebe ich nicht diese ersten Gedanken, sondern nur die Erklärungen dieser Gedanken verbal von mir, um mir keine Blöße zu geben. Ein Dummkopf kriegt auf Dauer nichts mehr mit, weil er seine Lebenswelt mit Konzepten verklärt, die mit der Ideologie des zwischenmenschlichen Verständnisses operieren. Oder wie es Avital Ronell ausdrückt: „The dummkopf works only with the known“. Hyperintellekt – Slavoj Žižek macht den Unterschied zwischen Idiot und Dummkopf an der Rolle des Großen Anderen fest. Der Idiot „ist eine (bisweilen) hyperintelligente Person, die ‚es‘ einfach nicht versteht, die eine Situation logisch versteht, aber ihre versteckten kontextuellen Regeln nicht erkennt. Ein Beispiel: Als ich zum ersten Mal nach New York kam, fragte mich ein Kellner in einem Cafe: ‚How was your day?‘ Die Phrase mit einer genuinen Frage verwechselnd, antwortete ich ihm wahrhaftig (‚ich bin todmüde, im Jetlag, gestresst …‘), und er schaute mich an, als ob ich ein kompletter Idiot sei … und er hatte recht.“ Verwandt h iermit sind Kategorien von Witzen, in denen der Idiot als jemand dasteht, der einfachste Sachverhalte grundsätzlich verkennt, der z.B. beleidigt erklärt, 37
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keine Witze mehr zu erzählen, weil die Leute immer so darüber lachten, oder eine Waschmaschine mit dem Fernseher verwechselt („Bild dreht sich ständig“), oder wo ein Idiot einen schweren Stein mit sich führt, um ihn bei Gefahr abzuwerfen und schneller weglaufen zu können, oder wo generell ein gewisser Grundzweifel über die Beschaffenheit der Dinge auftritt („Warum leuchtet die Sonne nur tagsüber?“). Der Dummkopf hingegen identifiziert sich nach Žižek vollkommen mit dem Common Sense und steht komplett „für den ‚großen Anderen‘ der Erscheinungen“, d.h. er redet mit der Sprache der vermeintlichen Allgemeinheit, denkt, ohne eigene Gedanken zu formulieren, aber im Unterschied zu Woody Allens Zelig, dem menschlichen Chamäleon, glaubt er sich souverän über den Dingen. Der Idiot hat nur eigene Gedanken oder nur fremde Gedanken, und er verbleibt in der Isolation, in der ihm grundlegendste Injunktionen der Gemeinschaft ein Rätsel bleiben. Das Interface zwischen Individuum und Gesellschaft ist ihm ein Rätsel. Žižek erwähnt eine Episode aus Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk, in der dieser während eines Feuergefechts ins Niemandsland rennt und warnend ausruft: „Nicht schießen! Da sind Leute auf der anderen Seite!“ Und der Idiot hat ja recht: Da sind tatsächlich Leute auf der anderen Seite. Schwejks Gesinnungsbruder Forrest Gump, der auch im Kampfgebiet landet, ruft aus: „Gewehrkugeln und Zeugs fliegen mir um die Ohren. Ich kapier das einfach nich – warum zum Teufel tun wir das alles?“ Dummköpfe sind diejenigen, die dem Krieg eine rationale Rechtfertigung geben. Der Idiotenkrieg hingegen kennt nur eine Seite, die Seite der Menschheit. Es wäre aber falsch, Schwejk oder Gump als Pazifisten auszuzeichnen, da es ihnen nicht um eine Abwägung zwischen Krieg und Frieden geht. Krieg wäre schon in Ordnung, nur sollte dann nicht so herumgeballert werden. Diese ethische Textur des Idioten wird im Witz von einem Zeitgenossen deutlich, der eine Atombombe mit einem Seil hinter sich herzieht. Als ihn jemand darauf anspricht, dass das Ding losgehen könnte, antwortet er: „Kein Problem, ich habe noch eine zweite“. Dieselbe affirmative Ethik leitet Schwejk, wenn er aufgefordert wird, den idiotischen Ausdruck von seinem Gesicht zu nehmen, und er antwortet, dass das nicht ginge, weil er jetzt ein „offizieller Idiot“ sei. 38
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Prozeduren – Die Tendenz, etwas zu behaupten, weil andere daran glauben, ohne selbst daran glauben zu müssen, erzeugt Dummheitsprozeduren, die man als Form der Interpassivität (Robert Pfaller) deuten kann. Durch Konformitätsdruck entstehen wohl die meisten Dummheiten, weshalb inzwischen die Schwarmdummheit zum geflügelten Wort geworden ist. Greenspan macht vier Areale aus, in denen sich derlei Defizite manifestieren: 1) die situative Logik (der Moment, in dem die Kommunikation stattfindet) 2) der kognitive Aspekt (was geht einem durch den Kopf?) 3) Persönlichkeit (was ist das für ein Mensch?) 4) der Zustand (wie geht es der Person?) Das sind Dummheitsareale, die Subjekt-Eigenschaften oder soziale Strukturen betreffen. Manche Situationen erzeugen etwa eine Verlegenheit, die einen zwingt, etwas zum Thema zu machen, das keines ist – verfehlter Small Talk. Oder man ist erschöpft und ‚begeht eine Dummheit‘. Hier geht es um die Performanz der Vernunft – oder wie es Forrest Gump ausdrückt: „stupid is as stupid does“. Carlo M. Cipolla folgt diesem funktionalen Aspekt und theoretisiert die Dummheit in seinem Buch The Laws of Stupidity im Rahmen einer Ökonomie des Versagens: Wenn alle an einer gesellschaftlichen Transaktion beteiligten Parteien Verluste erfahren (lose-lose), dann muss mindestens ein Dummer daran beteiligt gewesen sein. Ein Dummer sorgt durch sein Handeln für den Verlust aller. Dummheit betrifft nach Cipolla eine gleichbleibend große Gruppe von Akteuren unabhängig vom gesellschaftlichen Zusammenhang. Ob Straße, Ballettschule oder Parlament: Stets sei der Anteil an Dummen gleich. Ihre Gefährlichkeit werde dabei chronisch unterschätzt, auch weil es immer mehr Dumme gibt, als man vermutet. Wer sich in intellektuelle Umgebungen begibt, z.B. Universitäten, wird erstaunt sein, wie hoch der Anteil an Dummen ist, und dies lässt sich nicht nur an der Häufigkeit festmachen, in der manches universitäre Verhalten zum Nachteil aller Beteiligten führt: Das geschäftige Desinteresse von Studenten führt 39
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zur Frustration der Lehrenden, das systemische Konkurrenzgebaren der Lehrenden und die „praxisorientierte“ Lehre führen zur Trivialisierung der Forschung und der Aufgabe von Wissensidealen, was an die Szene in L.A. Confidential erinnert, als ein neuer Cop einen altgedienten fragt: „Warum bist du Polizist geworden?“ Und der andere antwortet: „Ich habe es vergessen.“ Könnten das heute nicht auch manche Professoren von sich sagen, die in administrativen Abläufen versinken oder sich als neoliberale Manager versuchen? Viele „kommen dümmer aus diesen Institutionen heraus, als sie hineingegangen sind, weil sie vor allem gelernt haben, was zu denken sich nicht lohnt“ (Metz & Seeßlen). Aber steckt nicht auch Grundsätzliches hinter dieser Polemik, wenn Nietzsche schon in der gesamten europäischen Geistesgeschichte eine grandiose Verdummungsübung erblickt, die zugleich die Fundamente der abendländischen Rationalisierung bestimmt hat: „Daß jahrtausendelang die europäischen Denker nur dachten, um etwas zu beweisen […], daß ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte […] – diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen.“ Nietzsches Punkt ist, dass Dummheit und Wahrheit keine Gegensätze sind. Denn Wahrheit muss erklärt werden, wo sie sich nicht als Epiphanie selbst erklärt. Wenn Evidenz allerorten wäre, gäbe es kein Denken, sondern nur Idiotenblick. Das Jahrhunderte währende Räsonieren im theologisch-philosophischen Hamsterrad hat demnach scholastische Dummheiten produziert, die dahingehend produktiv gewesen sind, dass sie das Denken in Bewegung gesetzt haben – auch dort, wo es gar nicht nötig war. Insofern darf man die Universitäten heute ermuntern, durch permanente institutionelle Optimierungen der Dummheit mittels Hochschulreformen, Wissensspezifizierungen und Bürokratisierungen die Denkmaschinerie weiter anzuheizen – je sinnloser und ineffektiver, desto besser fürs Denken. Emil Cioran behauptet, dass der Geist nur Fortschritte mache, wenn er die Geduld aufbringe, um sich zu kreisen. Und was könnte die institutionelle Vernunft besser? Was könnten die Archivare des Wissens besser? Die Idioten benötigen die Dummen, um den Idioten Struktur zu geben. Und die Dummen benötigen die Idioten, um diese Strukturen auszuhe40
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beln. Nach Orson Welles sind Idioten daher „eine weise Einrichtung der Natur, die es den Dummköpfen erlaubt, sich für klug zu halten“. Status – Ein weiterer Aspekt der Konstellation von Idiotie und Dummheit betrifft die Frage des sozialen Status. Es ist unmöglich, eine begangene Dummheit zu überspielen, wenn es um den Status geht. Der ehemalige republikanische Kandidat um die US-Präsidentschaft, Rick Perry, gab 2012 ein treffendes Beispiel, als ihm während einer Debatte einer der Eckpunkte seines Wahlkampfprogramms nicht einfallen wollte, er aber darauf insistierte, dass er sich daran erinnern könne, was aber nicht gelang. Man kann ja alles mögliche versuchen, aber man kann niemandem weismachen, dass man sich erinnerte, wenn man sich nicht erinnert. Mit anderen Worten: Perry machte sich zum Dummkopf. Wenige Tage später ging er in die PR-Offensive und versuchte durch Auftritte in ComedySendungen selbstironisch auf ‚dumm zu machen‘, indem er in einem Sketch bei einfachsten Aufzählungen Erinnerungslücken vortäuschte. Es half nichts: Als endgültiger Dummkopf markiert, schied der Texaner aus dem Rennen. Etwas später setzte sich Perry eine Hornbrille auf, die ihn intellektuell erscheinen lassen und dem Dummen-Image entgegenwirken sollte. Es half nichts: Perry verblieb im Dummenloch und schied aus dem Rennen. Das Problem ist, dass allzu offensichtliche Entdummungsstrategien den Double Bind, in dem sich der Kandidat befindet, verstärken. Die Berater der ehemaligen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin haben nach öffentlichen Peinlichkeiten Palins (räsonierend, sie könne von ihrem Fenster aus Russland sehen usw.) gar nicht erst versucht, ihr eine Entdummungsstrategie nahezulegen. In solchen Fällen hilft nur strategische Idiotisierung: Palin bekam als authentische Stimme des ruralen Amerika (Tea Party, später Freedom Caucus) eine eigene Fernsehshow und wurde zur öffentlichen Idiotin, die nun ungefiltert alles von sich geben konnte, was sie wollte. Hier irgendwo muss man im übrigen die Geburt der modernen „post-truth politics“ a nsetzen: Palins wichtigster Unterstützer war der spätere Trump-Berater Steve Bannon. Die Dummheitssymptome der Macht treten im Moment auf, wo diese droht, ad absurdum geführt zu werden. Der Dummkopf versucht dann, 41
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die Kommunikation mittels Konventionen unter Kontrolle zu bekommen, während der Idiot forsch alles über Bord wirft und sich um nichts schert. Sagen, wie es ist, auch wenn es nicht ist. Der Kreis schließt sich. Donald Trump holte mit dieser Idiotengeste Perry später als Energieminister ins Kabinett und installierte damit einen Klimaschutzgegner an der Spitze der Klimaschutzbehörde. Die Schamlosigkeit hat so gesehen ihre Richtigkeit. Es sind hier zwei Machtprozeduren angesprochen: Der Idiot verkörpert die anarchische Ader der Macht, der Dummkopf ihre rationale Struktur. Duett – Im Gegensatz vom Dummkopf und Idioten schimmert Federico Fellinis weltgeschichtliche Konstellation von Weißer Clown und Dummer August durch: Der Weiße Clown repräsentiert die rationale Struktur der Macht, der Dumme August ihre anarchische Ader. Der Dumme August ist alles andere als dumm: Wie ein Vorgesetzter stellt der Weiße Clown ernsthafte Aufgaben, deren Albernheit August durch eine Aktion entlarvt. Fellini sieht in diesem Widerspiel eine politische Konstellation und historische Anführer stets in Form dieses Duetts auftauchen (z.B. H itler als Weißer Clown und Mussolini als Dummer August). Die Gefährlichkeit der Dummheit besteht darin, dass sie dem Unsinn zu Strukturen verhilft, und die Gefährlichkeit des Idioten besteht darin, dass er diese Strukturen sofort vernichtet. Und dort, wo Strukturen vernichtet werden müssen, wird der Idiot entweder zum Tyrannen oder zum Idiot Hero, der dem großen Klamauk des Seins Rechnung trägt. „[I]m Grunde der Dummheit lebt | Das wehrlos Naive“, schreibt Joachim Ringelnatz. Dieser Grund wird vom Idioten beackert. The idiot works with the unknown. Es geht um die ästhetisch-politische Leerstelle, die das Leben des Idioten auszeichnet, das, was einen fassungslos macht, ins Leere blicken lässt und dann in Richtung tote Imagination oder blinde Kreativität ausschlägt.
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Grenzgänger – Idioten kommen in Typen. Eine Typologie lässt sich aus einer Heuristik gewinnen, die alltägliche Verhaltensbeobachtungen zu bestimmten Grundcharakteren komprimiert – den Idiotypen. An vorderster Stelle eines sublimen Idiotentums steht dabei der Typus des genialen Dilettanten. Er besitzt die Jahrhunderte überbrückende Fähigkeit, eine naheliegende Lösung zu finden, die alle anderen übersehen haben. Luis Buñuel schafft im Würgeengel (1962) eine Allegorie für diesen Idiotypus: Eine feine Abendgesellschaft verfällt in die kollektive Vorstellung, in einem Raum gefangen zu sein, der gar nicht verschlossen ist. Die Gäste bleiben fortan im Speisesaal gefangen, ohne es sich erklären zu können. Auch den Einsatzkräften, die das Anwesen umstellt haben, gelingt es nicht, die noble Gesellschaft zu befreien. Niemand schafft es, die unsichtbare Barriere – die offenbar die Klassenbarriere darstellt – zu durchschreiten. Die Situation erinnert an Wittgensteins Überlegung: „Ein Mensch ist in einem Zimmer gefangen, wenn die Tür unversperrt ist, sich nach innen öffnet, er aber nicht auf die Idee kommt zu ziehen, statt gegen sie zu drücken.“ Die Gäste kommen nicht auf die Idee, weil sie vom Sprachspiel der Klassengesellschaft besetzt sind, sie geben permanent ihre Statusformeln von sich und haben die Standesordnung derart im Sinne Pierre Bourdieus habitualisiert, dass sie körperlich nicht akzeptieren können, dass es einen Ausweg aus ihrer idée fixe gibt. Eines Abends nähern sich ein paar Schafe des Gastgeberehepaars Nobile dem Speisesaal. Sie durchbrechen die unsichtbare Schranke und trippeln zu den gebannt auf sie starrenden Gästen vor. Diese schnappen sich die Tiere und grillen sie auf einem improvisierten Feuer. Die Bourgeoisie verzehrt ihre Befreier. Das Schaf erfüllt hier die Funktion des genialen Dilettanten, der eine naheliegende Lösung aus blanker Unwissenheit findet, weil er nicht 43
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Teil des herrschenden Sprachspiels ist. Es ist Cusanus’ Idiota im Schafspelz auf die spätkapitalistische Gegenwart übertragen. Zugleich entlarvt der Akt des Schafs die Beteiligten als Bürgeridioten, deren Wahnvorstellung das gesellschaftliche System aufrechterhält – der „diskrete Charme der Bourgeoisie“ besteht ja gerade in der Abkapselung vom gesellschaftlich Realen: Man ist weltoffen, möchte aber kein Flüchtlingsheim vor der Haustür, man ist statusbewusst, möchte aber nicht über Geld sprechen, man geht einkaufen, möchte aber die Produktionsbedingungen nicht thematisieren. Auch am Schluss, als sich Buñuel eine andere ideologische Instanz, die Kirche, vornimmt, treten wieder Schafe als Erlöser figuren auf, die als Einzige in der Lage sind, die Grenze zur Kathedrale zu überschreiten. Buñuel zeigt hier die Umkehrung der Pastoralmacht: Der Hirte ist in seinem Machtgefüge verloren, und die Schafe befreien ihn, ohne ein Anliegen damit zu verfolgen, denn sie kennen nur den Herdenmodus. Sie wollen den Hirten in ihre Herde zurückholen und zugleich von ihm gehütet werden, sie wollen „geführt werden, sich aber gleichzeitig frei fühlen“ (Sheldon Wolin) – das Paradox der Schafe. Es bleibt hier aber nicht bei der filmischen Allegorie, Realitätsbild und Kunstbild eifern permanent einander nach, wie etwa der kürzliche Fall eines bulgarischen Hirten zeigt: Seine trächtige Kuh Penka ging eines Morgens im bulgarisch-serbischen Grenzgebiet verloren. Als der besorgte Hirte das Tier auf der serbischen Seite wiederfand und auf die bulgarische Seite zurück wollte, stoppten ihn die Zöllner: Regularien verhinderten die unkontrollierte Einfuhr von Vieh in die Europäische Gemeinschaft. Für Tiere gebe es keinen Anspruch auf Asyl. Der Fall wurde publik, Aktivisten nahmen sich der Sache an: „Wir können nicht erwarten, dass eine Kuh versteht, was EU ist und was nicht“. Aber kann man das denn von Nicht-Kühen erwarten? Vielleicht zeigt uns die deterritorialisierte Kuh, dass es eine andere Art von Verständlichkeit gibt, an der Regularien nichts ändern können. Eine Kuh-Verständlichkeit. Und verdeutlichen uns das nicht auch all die anderen Kühe an den EU-Grenzen, kosovarische Kühe, griechische Kühe, albanische Kühe und im Grunde alle tierischen Migrant*innen, die in den letzten Jahren die unsichtbaren Barrieren übertreten haben? Zeigt uns der Fall nicht, dass wir uns als Staatsbürger im Zustand von Buñuels 44
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Gästen befinden? Auch wir können die Grenze nicht einfach so übertreten, obwohl sie genauso fiktiv wie der Übergang zwischen Wohn- und Esszimmer ist. Auch wir sind in Nationalstaaten ‚gefangen‘, ohne dass wir den Status von Gefangenen hätten – wir nennen es deshalb Identität oder Staatsbürgerschaft. Welche Symbolik man auch bemüht: Der geniale Idiotypus überschreitet dank seiner „unverstandenen Kenntnis“ (Hegel) alle Barrieren und entlarvt durch seine untiefe Subversion die latenten Idiotenrollen aller anderen: der EU-Bürokratie, des Nationalstaates, der bürgerlichen Gesellschaft. So versteht er es, „bestehende Grenzen zu ignorieren, oder aber bestehende Grenzen zu verschieben“, dabei permanent „einer Logik des Übergangs“ folgend (Uwe Wirth). Die Grenzübertreterinnen stellen das Verwandtschaftsverhältnis zwischen der Kreatur und der sie bestimmenden Ordnung her. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen allen Lebenden ist hergestellt, ohne die Verstorbenen exhumieren zu müssen. Wir anderen ahnen das alles auch so. Der zufällige Idiot – Die passive Ordnung des Sinns hebelt durch bloße Ahnungslosigkeit die Herrschaftsverhältnisse aus. Der Idiot kommt als Zufälliger und geht als Zufälliger. Er ist jemand, der am Kreuz vorbeischlendert und von Gläubigen als Heiland aufgefischt wird. Nur derjenige kann ein Messias sein, der so tut, als sei er keiner, wie z.B. Brian im Monty-Python-Film. Exemplarisch führen auch Der Große Blonde mit dem Schwarzen Schuh und North by Northwest diese Passivität des Sinns vor. Beide Filme zeigen Antihelden, Common Men, ahnungslose Durchschnittsbürger, die durch unglückliche Umstände in Geheimdienstaktivitäten verwickelt werden. Gerade weil sie arglos in die Situation geraten, erscheinen sie der Gegenseite hochprofessionell. Es ist ein beliebter filmischer Tropus des Antihelden, dass er durch seine Arglosigkeit sich oder andere rettet. In Filmen wird das oftmals so dargestellt, dass der Protagonist andere zum Stolpern bringt oder sich bückt, wenn gerade geschossen wird. Seine Macken und Malheurs werden als verklausulierte Formen eines professionellen Verhaltens gelesen. Der Profi sieht überall Strategie und verkennt dabei den eigenen Idiotismus: die Dialektik des Unsinns, welche ebenso auf die Realität wirkt wie ein 45
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smarter Plan. Der Große Blonde hat seinen Film verschlafen, aber zugleich alle darin besiegt – Idiot Hero. Der heilige Idiot – Die Kulturleistung aller heiligen Idioten besteht darin, dass sie die prästabilierte Welt Gottes nicht nur interpretieren, sondern auch verändern. Sie sind Theodizee-Operatoren. Ein heiliger Idiotypus schafft mit seiner Idiopraxis auch einen neuen Gott. Aber er will Gott gar nicht, und er weiß auch nicht, was das sein soll. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als selbst Gott zu werden. Martin Kippenberger stellt den heiligen Idioten in seiner Installation Fred the Frog Rings The Bell (1990) als gekreuzigten Alkoholiker-Frosch dar: als quakenden Künstler-Messias und Tier-Heiligen, der sich aufs Kreuz gesoffen und zur Ikone getrunken hat. Der Kreator wird zur Kreatur. Und nun hat er an seiner Rolle tierisches Gefallen gefunden und will gar nicht mehr herunter. Was kann Froschus dafür, dass sich Wasser zu Bier verwandelt? Er taktet sich mit der Magie der Wüste oder mit der Magie des Krüppels, den er heilt, ohne zu wissen wie, ist er doch selbst in gewisser Weise Krüppel. Sogar mit der Magie des Todes taktet er sich. Nichts an ihm ist ihm eigen. Kippenbergers Jesusbild ist näher an der mythischen Funktion des heiligen Idioten als das Bild Nietzsches, der darin nur décadence erblickt. Es ist nicht die Aufgabe der heiligen Idioten, eine Lehre zu hinterlassen. Ihr besinnungsloser Anteil ist stets der kulturell effektive gewesen. Religiöse Prä-Suasion: Es kommt nicht auf das Geschehene an, sondern auf das Unerkannte, die Bahnung und das Framing, die zuvor passieren. Es sind Phänomene des Rückzugs, Halberscheinens oder Wiederkehrens, die ihr Charisma ausmachen – ihr unklares Entstehen und Vergehen, das es Menschen ermöglicht, nicht nur an sie sondern auch, gesteigert, sie zu glauben: „Ich glaube dich“ im Sinne eines Festhaltens. In dieser Denkmulde wiederaufersteht Albrecht Dürer als Fake-Jesus auf gottloser Leinwand. Und auch ein Myschkin ist Ausdruck dieser Ikonodulie des Profanen: „Dostojewskijs Held erscheint als eine Christusgestalt, als gelebte Barmherzigkeit bis hin zur Selbstpreisgabe, aber doch unter dem Vorzeichen und als Ausdruck des allgemeinen Verfalls. Bei aller Fähigkeit, eigene Interessen, sein Eigenes, ja sich selbst zur Disposition zu 46
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stellen, bewahrt Myschkin ein Eigenes, das ihn von allen anderen unterscheidet: Er ist nicht getrieben von den Leidenschaften der Selbstsucht, die seine Mitwelt in Bann halten. Er ist nicht abgesondert, weil er sich absondern will, sondern weil er von den Selbstsuchtgepeinigten abgesondert wird“ (Andreas Urs Sommer). Der heilige Idiot wird zur Reflexionsfläche des Hilfeschreis einer erlösungsbedürftigen Gesellschaft, „deren Ordnungs- und Erwartungsgefüge er schon durch seine schiere Präsenz zerstört“. Dass der heilige Idiot medizinisch krank und zugleich ein Symbol gesellschaftlicher Pathologie ist, macht die Figur nicht überzeitlich, sondern dauergegenwärtig. Schattensteher – Nimmt man dem Heiligen den Schein, wird daraus der unnütze Idiot, der ohne Transzendenz dasteht – wie im Witz: Was erhält man, wenn man einen Zeugen Jehovas und einen Atheisten kreuzt? – Jemanden, der sinnlos an einer Tür klingelt. Auch Andy Warhols Ideal war es, genuin unnütz zu werden oder sich selbst im Werk aufzuheben. Er kokettiert in seiner Philosophy damit, dass er gerne Vorgesetzte hätte und am liebsten Kunst auf Befehl ausführen wolle. In der Massenproduktion untergehen, den Nutzen in der Nutzlosigkeit aufheben, Schatten seiner selbst sein, sich anonymisieren. „Ich kann mich mir als alles vorstellen, weil ich nichts bin“, notiert Fernando Pessoa im Buch der Unruhe. „Nie habe ich mir meine körperliche Präsenz besonders nobel vorgestellt, aber auch noch nie habe ich sie als so null und nichtig empfunden.“ Hinterlässt jeder Mensch auf dieselbe Art keine Spuren? Wessen Verschwinden ist deutlicher? Wer wird härter vergessen? Denn wie Stephen Dirle in Onan the Illiterate (2007) dekliniert: nothing is accomplished by writing a piece of music nothing is accomplished by hearing a piece of music nothing is accomplished by playing a piece of music nichts ist damit getan, eine komposition zu schreiben nichts ist damit getan, eine komposition zu hören nichts ist damit getan, eine komposition zu spielen 47
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Sind wir alle universelle Niemande und nur einige in ihrer Verweigerungshaltung universeller als andere? Denn das späte Nichts holt alle ein. Alle diejenigen, die berühmt sind, und alle diejenigen, die anonym sind, alle diejenigen, die immer bekannter werden, alle diejenigen, die immer unbekannter werden. Nur die Trümmerteile des Archivs bleiben. Mesopotamische Tonscherben. Es wäre merkwürdig, aber nicht überraschend, wenn das Zerbrechliche das Unzerbrechliche überdauerte. Diese Null-Gestimmtheit hat Geschichte. Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1624) führt erstmals im Autoren-Ich die Figur des universellen Niemand ein, der – nicht unähnlich Pessoas Romanprotagonisten – „als Protagonist einer vita solitaria auf der Flucht vor dem Ritual der Alltäglichkeit […], vor der dumpfen Gewalttätigkeiten des Gewöhnlichen“ ist (von Barloewen). Das ist in bestimmter Hinsicht die Umkehrung Warhols, der das Niemandsland in den vielen Mäulern des Kapitals erreichen wollte, und zugleich die Entsprechung zu Alfred Jarrys Satz: „Nirgendwo ist überall und zunächst einmal das Land, in dem man sich gerade befindet“. Burtons Niemandszufuhr kommt aus heutiger Sicht einer Idiotenstrategie gleich, die sich weder der Identitäts- und Karrierelogik des Bürgertums noch den gläsernen Bauten der Global Players unterwirft. „Geist ohne Tätigkeit ist eine Krankheit“ (Burton), und Geist ohne Reichtum ist reine Tat. Und auch schon der mythische Urpatron der Selbstpraxis ist ein Nobody: Narziss versinkt alleine für sich in den Fluten. Ein Beispiel für nichts und niemanden – besser gesagt: ein Beispiel für alle Nichtse und Niemande: „Allein in dieser Hinsicht können Künstler mit Recht ihre Leistungen reklamieren: Was sie in die Welt setzen, […] ist in jeder Hinsicht folgenlos, beruft sich auf keine Autoritäten, ist nicht sanktioniert und legitimiert außer durch die jederzeit mögliche Widerrufbarkeit, also durch kontrolliertes Verschwinden“ (Bazon Brock). Narziss’ Ruhm beruht auf einem grandiosen Missverständnis. Wie viele sinnlose Einsamkeiten führten in der Menschheitsgeschichte zu ebenso vielen einsamen Taten, und nichts davon wurde bekannt? Wo ist der Friedhof der Idioten? Der stumme Idiot – Die Strategie des universellen Niemand findet sich punktuell im Kuriositätenstadel der bürgerlichen Hoffnung wieder. Vor 48
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Jahren kursierte etwa der Wunderheiler B. in den Medien. B. stach deshalb aus der Angebotspalette der kommerziellen Glücksfänger heraus, weil er keine Botschaft hatte, nicht sprach, keine Hand auflegte und auch nicht heilte. „B. betont, dass er kein Heiler ist, und er gibt keinerlei Heilungsversprechen“, heißt es auf seiner Webseite. Dass er dennoch Wunderheiler ist, ist sozusagen das Wunder. Diese stumme Funktion erinnert an Lyotards affirmative Ästhetik und die Bildpolitiken der Postmoderne, denn auch „die piktoralen Einschreibungen repräsentieren nichts, sie verschleiern nichts, verdecken nichts und wollen zu nichts verführen“ (Herfried Münkler). Es zählt nicht zuletzt auch in der Politik zu neueren Erfolgsstrategien, dass man eine teilnahmslose Ambiguität erzeugt, die am Ende wirksamer ausfällt als plumpe Heilsversprechen. Am wirksamsten sind klare Subtexte, weil Kunden oder Wähler den Text selbst generieren und dadurch zur eigenen Überzeugung zu kommen glauben. Die wirksamste Botschaft ist die nicht wahrnehmbar wahrnehmbare. Klangkünstler Alvin Lucier hat in den 1960er Jahren in seinem Experiment I am sitting in a room nachgewiesen, wie das rekursiv durch wiederholtes Aufnehmen einer Aussage gewonnene Raumecho zur eigentlichen Botschaft wird: Lucier verlas einen Text und nahm ihn auf Tonband auf. Dann spielte er die Aufnahme im selben Raum über Boxen ab und nahm das ebenfalls auf. Danach wiederholte er die Prozedur, bis am Ende auf der Aufnahme nur die Eigenfrequenz des Raumes zu hören war. Politische Überredung findet ebenfalls durch das Halo und die extrahierte ‚Raumfrequenz‘ der Botschaft statt. Deshalb hält man stoisch an der eigenen Überzeugung fest, die nicht auf der Aussage beruht, sondern im rekursiven Resonanzraum der Echokammer schwelt. Der Wunderheiler B. erweist sich als stummer Botschafter unserer politischen Gegenwart: analog gelebter Subtext ohne eigentlichen Primärtext, gelebte Live-Frequenz, deren Aussagekraft arbiträr ist, im Aussprechen verklingt und vergessen wird. Der beredte, charismatische Führer, den etwa Max Weber beschrieb, hat seinen stummen Anteil, und dieser wird gerne überhört. Der stumme Idiot – Teilmensch, der er ist – hat nichts, will nichts und gibt nichts. Warum ist er so erfolgreich? Er ist erfolgreich, weil die Leute im Publikum das genaue Gegenteil sind: Sie 49
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haben alle etwas, wollen alle etwas und geben alle etwas. Jedes Volk ist Kaffeefahrtsvolk. Die ‚Leute‘ sehnen sich nach dem Idioten, ihrem Idioten, dem heiligen Idioten, der Nichts und Niemand ist und von nirgendwoher kommt. Dessen Stummheit überzeugt. Der ihre Echokammer der Hoffnung neu beschallt. Und nur dieser Idiot kann heilen, weil er die menschliche Eitelkeit in der Idiotie überwunden hat, weil er nicht weiß, wie man heilt. Nicht Arzt und nicht einmal Geburtshelfer. Das idion ist sein einziges Wirkungsprinzip. Auf dem Bewusstsein der Eigenheit aufbauend, kann es Traktion entwickeln, Menschen anziehen, Netzwerke aufbauen und schließlich wirtschaftliche Erfolge verbuchen. Die einen Idioten ziehen arme Rentner an, die anderen reiche Rentner – „Mäzene“. Es geht um Heilsversprechen, und am besten sind Heilsversprechen, die keine Gläubigkeit erfordern. Kunst und Künstler haben Jahrhunderte gebraucht, um diesen stummen Mechanismus zu etablieren, die Aura der Kunst als eine Art Religion ohne Glaubenskult zu verkaufen. Und Kunst ist es auch gewesen, damit durchzukommen. Der Info-Idiot – Der „Info-Idiot“, wie Botho Strauß ihn nennt, sondert Erklärungen ab, die vom Verständnis abgekoppelt sind. Er hat recht, aber er hat immer nur recht. Er erkennt Fakten an, aber eben immer nur Fakten. Er verwechselt Fakten mit Informationen, und er verwechselt Information mit der Wiedergabe von Daten. Das drückt sich z.B. darin aus, wie oft jemand Statistiken oder Zitate bemüht bzw. wie stark er im Bann einer Referenz steht. Strauß sieht im Info-Idioten eine Verwechslung walten: „Wie Miltons Töchter dem blinden Vater die Klassiker in Griechisch und Latein vorlasen, ohne ein Wort zu verstehen, so berichtet der Info-Idiot unter rein mimetischer Verwendung der Begriffe, die er niemals hätte erklären können, Neuigkeiten aus der Wissenschaft […], sogar den Sachkundigen schien’s einem nützlichen Beitrag zum Verwechseln ähnlich.“ Der Info-Idiot imitiert das Wissen bis zur Kenntlichkeit. Doch zu einer geschlossenen Erzählung bringt er es nicht, an unscheinbaren Punkten wird die Fadenscheinigkeit seiner Fassade deutlich. Ihn lockt das Gegebene, zum Fangen kommt er nicht. Er sondert Richtigkeiten ab, ohne den geringsten Hauch von Falsifizierbarkeit 50
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zu spüren, ist jemand, der permanent den Moment verpasst – wie wenn er seinen Geburtstag feiert, ohne sich damit selbst zu meinen. Er bläst alle Kerzen aus und weiß genau wie viele, aber er verknüpft ihre Anzahl nicht mit seinem Alter, das Pusten nicht mit seinem Mund, das Denken nicht mit seinem Kopf. Psychiater würden womöglich die Separierung der Information vom Verständnis mit schizophrenen Symptomen verknüpfen, aber der idiokratische Punkt ist: Man benötigt hierfür keine Krankheit mehr. Die mentale Erkrankung liegt außerhalb des denkenden Subjektes, und die Gedankenlosigkeit liegt im Denken selbst begründet. Der zurückgebliebene Idiot – Manche Idiotypen zeichnet aus, für Konsequenzen zu sorgen, ohne irgendetwas Besonderes dafür getan zu haben. Charles Bukowskis Poem Death of an Idiot macht das anhand der Figur eines zurückgebliebenen Nachbarjungen deutlich. Da heißt es: he spoke to mice and sparrows and his hair was white at the age of 16. his father beat him every day and his mother lit candles in the church. er sprach zu mäusen und krähen und er ergraute mit 16 jahren. sein vater schlug ihn jeden tag und seine mutter zündete kerzen in der kirche
Bukowski beschreibt eine aussätzige Figur, die wie Franziskus zu Tieren spricht. Er beschreibt eine Figur, der Dinge zustoßen, anstatt dass sie Dinge anstößt, eine Figur, die malträtiert wird und der Rede nicht wert ist. Und dann geschieht etwas Unerwartetes: Der zurückgebliebene Idiot stirbt. Sein Tod wird aber nicht, wie in der Nachbarschaft üblich, nach ein paar Tagen vergessen, sondern bleibt – als Zurückgebliebener – in den Köpfen der Zeitgenossen zurück.
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and whenever I drive through that neighborhood now decades later I still think of his death while having forgotten all the other deaths and everything else that happened then. und wann immer ich durch jene nachbarschaft fahre jetzt jahrzehnte später denke ich noch an seinen tod während ich alle anderen tode vergessen habe und alles andere, das sich ereignet hat damals.
Der junge Idiot erhebt sich mit seinem Tod über alle anderen Toten. Die Konstellation des zurückgebliebenen Krüppels, dessen Passivität sich am Ende in eine ungeahnte Quelle des Erhabenen verkehrt, dient zur Sichtbarmachung einer bestimmten Ordnung, die der Aussätzige qua seiner bloßen Existenz ebenso aufrecht erhält wie herausfordert. Er funktioniert im Gedicht vergleichbar mit Benjy bei Faulkner als Spiegelobjekt der Dysfunktion (der Familie, der Nachbarschaft). Er geht als Person unter, und doch ragt er mit seinem Weltleid über alles hinaus, was ihn vorher bestimmt hat. Er hat nichts getan, außer der menschliche Hintergrund aller anderen zu sein – ein Idiot eben –, und doch vermittelt sich in dieser existenziellen Passivität eine merkwürdige Kraft, die lange nach dem Tod des Idioten anhält. Bukowski schreibt in seinen The Last Night of the Earth Poems, dass Idioten, auf die jeder hinabblickte, das friedlichere Leben lebten, da niemand etwas von ihnen erwartete. Trotzdem möchte niemand dieser eine Idiot in der Nachbarschaft sein. Doch eine bestimmte Art des Lebens/Schreibens, die man selbst ist, zerrt einen als Schriftsteller gerade dorthin, wo alle Idioten wohnen.
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Die Welt war themenlos da, wie der Idiot, der stundenlang unbemerkt vor seinem Gazebo oder „Starrhäuschen“ saß.
Village Idiot – Der daneben steht: Das ist der Held der Erinnerung. Das Gedächtnis kennt keine Hierarchien, es ist eine klassenlose Gesellschaft und heimlich mit dem Village Idiot verbandelt – dem einfachsten aller Menschen. In meiner Kindheit gab es einen bukowskischen Idioten, an den ich mich erinnere, während ich alle anderen vergessen habe. Der Idiot A. trug ein Schnauzbärtchen und hatte stets eine Kappe auf. Er war einer dieser Leute, die bei helllichtem Tag am Flussufer flanierten und laut vor sich hin sprachen. 1944, dreijährig, wurde er nach einem Bombenangriff von Splittern durchsiebt, erlitt eine Hirnschädigung und wurde so zum idiot savant des Krieges, im Fluch und im Segen. Fluch: da nun für immer aussätzig, und Segen: weil er sein Leben gewissermaßen ‚außer Konkurrenz‘ leben konnte. Das Glück des Wahnsinnigen genießen, wie Möbius in den Physikern. Mit einem sagenhaften Zahlengedächtnis ausgestattet, wurde der Idiot vor allem durch seine soziale Intelligenz bekannt, z.B. dafür, dass er in der Nachbarschaft Geschenke verteilte, selbstermächtigt an Kreuzungen den Verkehr regelte, Beerdigungsfeiern alleinstehender Verstorbener besuchte, Müll am Ufer des Flusses einsammelte oder durch das Aufschichten von Steinen eine Insel anhäufte. Die Einwohner nannten diese „Die Insel des Herrn A.“. 53
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Denn auch wenn niemand ihn für voll nahm, respektierten alle sein Idiotentum. Sein Engagement fußte auf keiner Ethik oder Politik, sondern bestand aus besinnungsloser Verausgabung, Großzügigkeit um ihrer selbst willen. Dass jemand als nicht zurechnungsfähig gilt, wenn er ein durch und durch guter Mensch ist, wissen wir ja seit Dostojewskis Idioten. A. ist inzwischen zum Aushängezeichen der Stadt avanciert. Es kursieren T-Shirts, auf denen sein berühmtester Ausspruch prangt: „Ich weiß, warum ich geboren bin.“ Wer kann das sonst von sich behaupten? Tyrannen – Die sublimen Idiotypen kennen ihre handgreiflichen Gegenspieler. Beim tyrannischen Idioten etwa drängt sich Gangsterboss Albert Spica in Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) auf. Derlei Charaktere wollen ihre Stimmung oder Sichtweise allen anderen aufzwingen. Das ist in der Psychoanalyse als „projektive Identifikation“ bekannt. Der tyrannische Idiot verlangt die totale Realisierung seines Verlangens im anderen. Dieser Idiotypus findet sich m assenhaft in Alltagssituationen wieder: Eine Kundin tritt z.B. im Baumarkt an einen Verkäufer heran und fragt ihn etwas. Der Verkäufer weiß keine Antwort, aber anstatt das zuzugeben, stellt er erst einmal die Urteilsfähigkeit der Kundin in Frage, z.B. „Haben wir das Gerät denn überhaupt an den Strom angeschlossen?“ Dann beginnt er, der Kundin irgendetwas zu erklären, er will Fragen nicht beantworten, sondern sie besiegen. Er kennt nur die Mittel für vorab festgelegte Zwecke, gemäß der Baumarktpsychologie: „Wenn das einzige Werkzeug, dass Sie haben, ein Hammer ist, ist es […] verlockend, alles zu behandeln, als ob es ein Nagel sei“ (Abraham Maslow). Diese Idiopraxis kann sich aber ebenso auf einen dreisten Kunden beziehen, der einen Verkäufer mit seinem Anliegen drangsaliert. Immer wieder hält der ambitionierte Prosumer ein selbstgebasteltes Geräte-Etwas ins Gesicht des Verkäufers und fragt wiederholt, was dieser längst beantwortet hat, was dem Kunden aber nicht passt. Dieser will nämlich eine Antwort hören, die es gar nicht gibt. Auch er möchte sein Anliegen zum Anliegen aller machen – gemäß dem idiokratischen Imperativ: Quäle alle anderen so lange mit deiner privaten Angelegenheit, bis dadurch eine Schreckensherrschaft vorstellbar wird. Deshalb 54
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hakt der Idioten-Kunde immer wieder wie mit einem Hakbeil [sic] nach. Es empört den Alltagstyrannen, dass etwas Nichtexistentes nicht existiert und dass das Universum für ihn keine Ausnahme macht. Ob er den Abteilungsleiter sprechen könne. Der Tyrann sagt das aber nur so, ohne wirklich den Abteilungsleiter sprechen zu wollen, er will nur das Wort „Abteilungsleiter“ aussprechen, weil er sich dann mächtiger fühlt und er seinem Anliegen Relevanz verleiht – denn der Kunde ist König, und der Idiotenkunde nimmt das wörtlich. Das alles sind Ansteckungsversuche. So geht dieses Anstecken minutenlang, womit dieser Idiotypus sein Ziel erfüllt hätte, nämlich eine sinnfreie Situation in eine sinnlose zu verwandeln. Die Unbeteiligten – Wir können uns in derselben Baumarktszene einer weiteren Idiotenspezies zuwenden: dem Unbeteiligten, der glaubt, sich in das Gespräch zwischen Kunde und Mitarbeiter einmischen zu müssen, und dadurch die Lösung eines Problems behindert, das ohne ihn längst gelöst worden wäre. Als ob er auf seinen Einsatz in einem desaströsen Theaterstück wartete, tritt der Unbeteiligte ins Rampenlicht und sagt: „Ich will mich zwar nicht einmischen, aber …“, und schon ist der bunte Idiotenreigen eröffnet, andere Idioten gesellen sich hinzu, ein Expertenrudel bildet sich, und es entsteht ein ‚Fachgespräch‘, dessen Niveau undefinierbar ist… Diese Szene liefert eine Blaupause dafür, wie Konversationen in Internetforen ablaufen, denn die Kommentierenden sind allesamt Unbeteiligte, die sich durch das Kommentieren eine Beteiligung herbeizaubern, als ob sie Beteiligte im Nahostkonflikt oder in einer Staatskrise wären. Damit erweitern sie jedes Schlachtfeld großzügig um sich selbst. Kriegsdynamiken sind immer idiotisch, ob man sich bekriegen will oder nicht (der idiotischste Krieg ist derjenige, den niemand will oder den alle wollen). Die Unbeteiligten schimpfen auf „die da oben“, die „Kriege anzetteln“, während sich diese arglosen Bürger in den Schützengräben der Unbeteiligten suhlen. Eingreifen und nachtreten werden sie nur, wenn einer bereits blutend auf der Straße liegt. Denn sie waren es ja nicht, die die Gewalt angezettelt haben, sie waren schließlich nur Unbeteiligte.
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Helferidioten – Die „Helferidiotie“ hängt mit der tyrannischen Projektion der Unbeteiligten zusammen. Es geht dabei um wohlmeinende Altruisten, die so von ihrer Hilfsabsicht eingenommen sind, dass sie eine Notsituation verschlimmern oder überhaupt erst erzeugen: Mark Twain etwa kreiert in seinen Possen mit Caroline McWilliams eine typische Helferidiotin. In einer Episode beharrt sie darauf, ihren Sohn auf einem Stück Holz herumkauen zu lassen, weil das angeblich gut für seine Gesundheit sei. Als das Kind unter Hustenanfällen leidet, vermutet sie eine um sich greifende Scharlachepidemie dahinter. Der herbeigerufene Arzt stellt fest, dass das Husten von den Spreißeln des Holzscheits hervorgerufen worden war, den Caroline ihrem Sohn anfangs in den Mund gesteckt hatte. Die besorgte Mutter ist nun keineswegs erleichtert, denn in ihrem Weltbild bleibt das Holzscheit weiterhin das Heilmittel gegen den Husten – mag der Arzt behaupten was er will, er ist ja schließlich nur ‚politisch korrekter‘ Arzt und nicht Mutter. Derlei Helferidiotie mag literarisch überdreht daherkommen, ist allerdings auch der Stoff, aus dem unser Alltag gewebt ist. In Flugzeugen wird beispielsweise der Helferidiotie vorgebeugt, wenn darauf hingewiesen wird, dass im Falle eines Druckabfalls Eltern sich zuerst selbst die Maske aufsetzen und erst danach um ihre Kinder kümmern sollen. Der fixe Idiot – Luis Buñuel schafft mit El („Er“ 1953) eine Parabel für den fixen Idioten, der einem hilflosen Tyrannen entspricht, d.h. jemandem, der seine Tyrannei nur durch die Fixierung auf eine Idee aufrecht erhält („Monomaniker“). Der Film erzählt vom spanischen Geschäftsmann Francesco, der sich während eines Gottesdienstes in die attraktive Gloria verliebt. Die beiden heiraten, doch Francescos Eifersucht belastet die Beziehung. Francesco ist davon überzeugt, dass Gloria ihn betrügt. Eines Nachts versucht er, sie mit einem Kissen zu ersticken. Gloria gelingt es zu fliehen. Francesco zieht sich daraufhin verbittert in ein Kloster zurück. Als Gloria ihn nach Jahren mit ihrem neuen Mann Raul und ihrem Kind besucht, gibt sich Francesco handzahm. Doch als er erfährt, dass das Kind von Raul stammt, wendet er sich ab und murmelt: „Ich habe es ja gewusst!“ – Francesco huldigt einem Trotz, dem das Ziel ab56
Idiotypen
handen gekommen ist. Die idée fixe hat den Idioten vollständig vereinnahmt. Die Szene unterstreicht die Annahme, dass sich Menschen nicht ändern, auch wenn sich alles um sie herum ändert. Die Zeit heilt keine Wunden, sondern pflegt sie, und jeder Erinnerungsmoment kann sie aufreißen. „Emotionaler Schmerz ist vergleichbar mit einem gestreckten Muskel – etwas, das weh tut, wann immer es einsetzt“ (J. H alberstam). Eine Szene aus Jacques Tatis Die Ferien des Monsieur Hulot (1953) verdeutlicht die Logik der Fixierung: Ein Hund läuft unablässig hinter Hulot hinterher, um ihn zu beißen, obwohl es zahlreiche Unterbrechungen der Szene gibt und jeder andere Hund längst davon abgelassen hätte. Es ist ein Überhund: Sein Hulot-Beißen wird ontologisch vorrangiger als das Hund-Sein. Diese Konstellation entspricht in einer Erzählung Gogols der Fixation des Kopisten Akakij Akakijewitsch auf seinen Mantel. Akakij wird sein geliebter Mantel gestohlen. Er verzweifelt darüber. Als er stirbt, geistert Akakijs Gespenst durch die Straßen und versucht, Passanten ihre Mäntel zu entreißen. Selbst der Tod kann also die Fixierung auf den verlorenen Gegenstand nicht brechen. Wie heißt es im Manga-Slang: They say even death can‘t cure an idiot. Mensch als Extremität – Es geht bei allen Idiotypen um die Bedingungen der Möglichkeit eines extremen Zustandes: der Idiot als Handlungs- und Denkfigur, als literarischer oder sozialer Agent, der isoliert handelt und zugleich direkte Konfrontation erzeugt. Otto Weininger schreibt: „Die Idiotie ist die intellektuelle Entsprechung der Rohheit.“ Ja, aber sie ist auch die körperliche Entsprechung des Gedichts. Der Idiot weiß nicht, dass auch er sterben muss, also lebt er einfach weiter: „DADA est mort. DADA est idiot. Vive DADA!“ (Tristan Tzara). Niemand hat dem Idioten erklärt, wie man denkt, also ist er einfach – wenn man nicht denkt, ist man schließlich auch. Verweigern ist Sein. Verweigern ist Sinn. Niemand hat dem Idioten von einer Welt erzählt, also nimmt er sich selbst zum Maßstab, ohne das Selbst abmessen zu können. Niemand hat ihm vom Schweigen erzählt, also redet er. Niemand hat ihm erklärt, was eine Erklärung ist, also behauptet er. Niemand hat ihm, also hat er. Idioten sind, abstrakt formuliert, metaphysische Verwirbelungen der Zeit, die 57
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die zukünftigen Verhältnisse ebenso hervorbringen, wie sie diese auch sabotieren. „So ist der idiotes halb Teufel/halb Retter, Drohung der Zerstörung und Versprechen der Schöpfung“ (Matthew Poole).
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ZWEI HORIZONTE DES IDIOTEN
Isolation & Masse – Im Typus des erhabenen Weisen oder ahnungslosen Heroen ist der Idiot eine vergeistigte Nullfigur. Und doch kann sich in der untiefsten Tat das Rätsel der Existenz offenbaren. Im Typus des Rüpels, Tollpatsches oder besoffenen Touristen ist der Idiot vor allem Körper, spricht im Sinne Jean-Luc Nancys die Sprache des Körpers. Die ontologische Differenz ist nicht zum Idiot durchgedrungen, er ist „eine abgerissene Rose im Flussstrudel zielstrebiger Menschen“ (Botho Strauß), aber zugleich entspricht der Idioter dem Blumenmeer in den Zuchtanlagen der Massenproduktion, ist Residuum der Massenidiotisierung. Bei Gilles Deleuze steht der Idiot für die Tugend der Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit eines Statements. Ja, aber der Idiot ist auch der ohne Pause Quasselnde, sich Mitteilende, der glaubt, online alles kommentieren zu müssen. Der Idiot ist bei Byung-Chul Han „seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte“, der das „unvordenkliche Draußen [bewohnt], das sich jeder Kommunikation und Vernetzung entzieht“. Ja, aber der Idiot ist auch der ausschließlich Vernetzte, der als Nutzer im sozialen Medium aufgeht. Idioten werden nach Avital Ronell von „vorethischen Impulsen getrieben, die unreflektierte Akte der Anteilnahme hervorrufen“. Ja, aber Idioten sind auch diejenigen, die als bigotte Social Justice Warriors oder bürgerliche Woke-A ktivisten ausschließlich von ethischen Impulsen getrieben sind und sich so ins Jenseits von Gut und Böse stolpern. Wenn ‚Freude keine Grenze kennt‘ kennt, ist sie, gleich der Ernsthaftigkeit, die keine Grenze kennt, idiotisch.
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Zweiteilung – Die Tour d’idiot offenbart zwei Horizonte: (1) Den Horizont des Instinkt- und Privatdenkers, des erhabenen Natur burschen, des widerstrebenden Querulanten, des einfältigen Weisen, des subversiven Idiota, des genialen Dilettanten, des verstörten Außenseiter-Nerds, die besinnungslos das Wissen ihrer Zeit umstülpen. All diese nenne ich Idiotypen erster Ordnung; (2) Den Horizont des übermotivierten Rüpels, Freaks, dumpfen Ignoranten, rücksichtslosen „Zinswucherers“ (Marx), Durchsetzungsfanatikers, Egomanen, dreisten „Tätertypen“ (Brock) oder selbst-sabotierenden Fanatikers, der, getrieben von metaphysischer Inkompetenz und blindem Interesse, die Welt mit sich in den Untergang reißt. Vor diesem zweiten Horizont blitzt auch der heutige Schimpfwortidiot auf. All diese nenne ich Idiotypen zweiter Ordnung. Für die Zweiteilung spricht, dass sie ihre Vorläufer hat: Von einer „zweifachen Art des Unverstandes“ ist schon in Erasmus’ Lob der Torheit die Rede, und die Narrenliteratur findet oft gegenpolige Charaktere: „Der eine Hofnarr lag vor einem goldumrahmten Spiegel, hielt die Augen geschlossen, um nicht sehen zu müssen, wie er schlief. Ein anderer Narr lichtete auf der Bühne den bleiernen Anker des hölzernen Schiffs, während es sank“ (von Barloewen). Es gibt einerseits diese starken N arrenIndividuen, die mit dem inneren Idioten koalieren, um dem König zu trotzen. Es gibt aber auch die mittelalterliche Erzählung des Narrenschiffs als Metapher des Weltlaufs und der Dysfunktionen des Lebens. Zum einen haben also nur bestimmte Idiotypen Narrenfunktion, zum anderen ist die Welt eine närrische, wie sie etwa Bachtin in seiner Rabelais-Studie schildert. Die Zweiteilung lässt sich gut auf den Idiotendiskurs übertragen. Botho Strauß hat von der Janusköpfigkeit des Idioten geschrieben, und auch Clément Rosset bezieht sich in seinem Traktat über Idiotie immer wieder auf den Doppelcharakter des Idiotischen. Und was die Entgrenzung der Vernunft angeht, so benutzt Foucault die Unterscheidung zwischen einer kosmischen und kritischen Erfahrung des Wahnsinns, wobei die kritische Erfahrung dem ersten Horizont 60
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des Idioten entspricht, in dem sich eine „lebendige und geheime Kraft“ offenbare. Rätsel – Idiotypen erster Ordnung sind Einzelgänger mit Sonderstatus. Man begegnet ihnen nicht, man entdeckt sie. Sie erscheinen demjenigen als merkwürdig, der Merkwürdigkeit als zufällige Eigenschaft versteht. Was genau sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen, ist unklar. Im Fall etwa des Amerikaners Benjaman Kyle, des Mannes ohne Gedächtnis, der 2004 nackt aufgefunden wurde und dessen Identität für Jahre ein Rätsel blieb, war die Frage der Herkunft eine forensische. In früheren Jahrhunderten jedoch knüpfte sich an verlorene Individuen Grundsätzliches: nämlich die Frage, was der Mensch in isoliertem Zustand sei. Der Knabe von Aveyron und andere aus der Wildnis gefischte Kinder des 18. und 19. Jahrhunderts dienten Wissenschaftlern als Anschauungsobjekte, um einen menschlichen Urzustand zu untersuchen, den Rousseau sich ausgemalt und den Büchner im Woyzeck beschrieben hat: das ‚Vieh‘ Mensch, l’homme isolé, ein „Rätsel seiner Zeit“, wie es auf Kaspar Hausers Grabstein heißt, ein homo ferus, ein Wildfremder, der gleich Parzifal fernab der Zivilisation sein Dasein als „reine Seele“ fristet. Mit der Debatte etwa um den „geborenen Idioten“ von Aveyron entwickelte sich erstmals der unheimliche Verdacht, dass die Idiotie auch kulturelle Ursachen haben könnte. Dieses Oszillieren zwischen Natur und Kultur diente Dostojewski als Vorbild für seinen Idiotypus, den er aus dem Sanatorium holte und in eine sittliche Umgebung als Erlöserfigur platzierte. Seine Idee war es, so schreibt Dostojewski in einem Brief an seine Nichte, einen positiven Menschen zu erschaffen, der ein Amalgam aus Schönheit und Lächerlichkeit sei, Christus und Don Quixote in einem. Diese Kombination aus Reinheit und Unbedarftheit hat im Laufe der Jahrhunderte vor allem in Kunst und Literatur das Pendant des untiefen Genies gefunden und darin eine positive Auszeichnung erhalten. Künstlersubjekte scheinen vor diesem Horizont umso relevanter, je einsamer, besinnungs- und voraussetzungsloser sie verfahren – am besten in Armut lebend, ‚entdeckt‘: Jungkünstler werden wie wilde Kinder in unbekanntem Habitat aufgefunden, ihre Nacktheit reizt, und es ist für 61
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alle von Vorteil, wenn sie nicht wissen, was und wie sie etwas tun – von den „Jungen Wilden“ bis zur „Chick-Lit“. Sie sind aber, wie obige literarische Idioten, von frischer Sprache und Schaffenswillen beseelt, oder es sind Freaks, verwahrlost am Rande der Stadt, gar ohrlos in der Provinz lebend, auf jeden Fall anti-akademisch, wie Alfred Jarry mit Pistole auf dem Fahrrad durch Paris fahrend und gegen das blasierte Establishment schießend. Roh-sein, Idiot-sein, aber on top of it all, eine sublime Superform annehmen, die allen anderen Seinszuständen insgeheim überlegen ist. Die darin implizierte Suche nach Originalität „geht auf die neuzeitliche Entstehung des Künstlers als individuellem Ausdrucksträger […] zurück“ (David Maclagan). Nicht nur der poète maudit und die malerisch Naiven sind hier angesprochen. Es geht generell um die grundsätzliche Rückführung der Welt aufs Erstbeste. Diese Tendenz reflektiert etwa auch der Kulturtrend des Außenseiters, der Art Brut, der Outsider Art, zu der die visionäre Kunst der Wahnsinnigen (z.B. Adolf Wölfli, Henry Darger usw.) ebenso zählt wie Jim Shaws Sammlung von Thrift Store Paintings oder Irwin Chusids Studie über Outsider Music. Ein paralleler Strang sind hier die Artistic Savants, die künstlerisch Inselbegabten, die seit dem schweizer „Katzen-Raffael“ Gottfried Mind (1768– 1814) eine eigene Kategorie bilden, die nicht mehr als idiots savants gehandelt, sondern nur im pathologischen Spektrum verortet werden. Es handelt sich hier um unterschiedliche Stärken der Horizonterfahrung. „Art Brut kann als Fortsetzung und Intensivierung eines weit verbreiteten und typischen Merkmals der Moderne angesehen werden: die Suche nach neuen und originellen Formen der Kreativität in Bereichen, die als immun gegen konventionelle Kultur gelten, wie etwa Kinderkunst, primitive Kunst und die Kunst der Geisteskranken. […] Kunstwerke oder Artefakte aus diesen Bereichen […] wurden als Beweis für die Existenz eines grundlegenden kreativen Impulses angesehen, der von den Finessen der Zivilisation überlagert wurde“ (Maclagan). Das nackte Subjekt – Derlei Spekulation erklärt die Faszination durch Zeitgenossen wie Henry Darger, dessen Pädophilie so manisch über die fiktive Welt gezogen ist, dass sie einen Punkt jenseits von Kunst und 62
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Nicht-Kunst erreicht hat, und diese Transzendenz, die aus der Immanenz des Idioten geboren wurde, interessiert die Kunstszene, die dem Wahnsinn des Ganznormalen nachstrebt, der ja genauso radikal ist, wie z.B. Pädophilie real ist. Darger hatte in seiner Wohnung zehntausende Seiten von morbid-sexuellem Text- und Bildmaterial hinterlassen, das sich wohl um ein Nachbarsmädchen drehte, welches er in frühen Jahren gekannt hatte. Aus diesem Mädchen formt er Klonarmeen und lässt sie in den Kampf ziehen oder nackt durch idyllische Landschaften tapsen. Die Ursprünge sind real, das daraus entspringende Werk schafft aber noch ein anderes Reales. Dargers Hinterlassenschaft ist deshalb nicht in Kriminal-, sondern in Kunstmuseen aufbewahrt. Scheint nicht auch hier ein forensisches Interesse am Rätsel des Menschen auf, das sich nun im „Rätsel“ (Adorno) der Kunst tummelt? Vom Malerfürsten bis zum Künstlerfreak: Es drängt sich immer dort die Frage nach dem Menschsein auf, wo sich das Kunstpublikum mit ‚nackten‘ Subjekten und ohne allen bürgerlichen Schnickschnack konfrontiert. Aus dieser Verallgemeinerung der Avantgarde in allen Randbereichen von Geist und Gesellschaft schöpft sich die Vorstellung, endlich den Schaffensgrund ohne alle Attitüde zu erreichen: nackt und blutig, gewöhnlich und unbedarft, und dabei die Mannigfaltigkeit der Welt als ‚eine Sache‘ hinnehmend. Und nur wenn man gefragt wird, wird man sein tieferes Verstehen verkünden, und wenn man nicht gefragt wird, wird es auf immer unentdeckt und unausgesprochen bleiben, wird man anonymer Idiot bleiben, verschwunden im sunken place der Vernunft, so Oliver Sacks in The A utist Artist (1985): „Denn so wie die Sterne stehen, wird er […] ein sinnloses, vergebliches Leben verbringen, wie es so viele andere autistische Menschen tun, übersehen, übergangen, im Hinterhof eines staatlichen Krankenhauses.“ Wie viel Weltwissen ist dadurch verloren gegangen, dass man eine Nebenfigur ignorierte. „Hast du Jesus gefunden?“, wird Forrest Gump einmal gefragt. Der antwortet: „Ich hab gar nicht gewusst, dass ich ihn suchen soll.“ Diktatur des Selbst – Das numinose Interesse am Einzelgänger hat sich trotz aller postmodernen Ironie bis in die Gegenwart gezogen. Jonathan Meese drückt es mit seiner altmodernistischen Kampfphrase von der 63
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„Diktatur der Kunst“ aus: Keine äußere Motivation, geschweige denn Politik, soll einen leiten, nur die Sache der Kunst selbst, die alles und nichts ist. Wie sagt Warhol in seiner Philosophy: „Everything is nothing.“ Vorausgesetzt, dass „nothing“ Kunst ist. Deshalb heben Meese und 30 Jahre früher Anselm Kiefer den Arm zum Hitlergruß, weil nichts außer Kunst darin, dahinter oder davor ist – „Art is art. Everything else is everything else“ (Ad Reinhardt). In Meeses Worten: „Nur Kunst ist ohne Ideologie, ohne Falsch, ohne Arg und ohne Nostalgie. Die Kunst garantiert radikalstes Leben und basiert null komma null auf Jenseitsfanatismus.“ Die Großspurigkeit kommt auf Taubenfüßen daher. Was sich hier darstellt, ist: Pure Kunst ist pure Idiotie, ist die „Diktatur der Idiotie“, weil sie sich selbst Befehle gibt, auf dass sie ihren Selbstzweck erfülle. Der Künstler wird darin zur Synthese von Diktator und Diener, Positivist und Nihilist, Kleinbürger und Bohemien. Da ist also, vor und nach der Kunst, die im öffentlichen Leben nicht „everything“ ist, der erste Horizont. Alles spielt sich im Idioten ab, ohne aus dem Künstler hinauszugelangen: „Ein System mit eigenem Regelwerk, berechtigt zu allem, legitimiert aus sich selbst“, heißt es in einer Kritik zum Werk Anne Imhofs bei der Venedig-Biennale 2017. Und nichts anderes bezeichnet schon der Anspruch von Paul Valérys „absoluter Poesie“: „Ich baue kein ‚System‘ – Mein System – bin ich.“ Diese hermetische Selbstlegitimierung und „Biografiepflichtigkeit“ (Brock), die sich seit Vasari am Hofe aller Monarchen-Mäzene tummelt, zieht sich strukturbildend durch die Moderne in die Gegenwart. Sie bezieht sich nicht nur auf das, was einst Stefan George als „tief Erregendes“ in der Form des Werks fernab jeglichen äußeren Sinns verwirklicht sah, sondern sie bezieht sich auch auf den Gehalt des Werkes. Ein literarisches Beispiel ist etwa Claude C loskys Konzeptgedicht The first thousand numbers classified in alphabetical order (1989), das anfängt mit: eight, eight hundred, eight hundred and eight, eight hundred and eighteen, eight hundred and eighty (usw). Dass die Zahl Acht das alphabetisierte Zahlensystem anführt (übrigens auch im Deutschen: Acht, Achthundert, Achthundertundacht, …), lässt die Zahlenreihe überhaupt als Reihenfolge in Erscheinung treten, die man ansonsten nur numerisch denkt (1, 2, 3, …). Oder man denke hier auch an Georges Perecs 64
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formalen Entschluss, in einem seiner Romane den Buchstaben e wegzulassen. Derlei Vorgehensweisen eint das formgebende Versprechen, dass die Handlungsmacht der Künste einer Diktatur der ersten Ordnung entspricht. Es gibt also einen gewichtigen Grund, warum die Jakobiner das kalendarische System umstülpten und die Avantgarde die Repräsentation abschaffte.
Bas Jan Ader, Broken Fall (Organic), 1971.
Spunk – Die Selbstfindung des Kulturschaffenden als Idioten kennt viele Instanzen: Jean-Luc Godard stellt sich Soigne ta droite (1987) als Dummer August vor, der sich in die Idioten-Lektüre Dostojewskis vertieft. Pier Paolo Pasolini lässt sich in La Ricotta (1962) in der Figur des Regisseurs den Idioten lesen: Der von Orson Welles gespielte Kulturheroe liest Zeilen aus Pasolinis Mamma Roma vor und wird dabei von der eigenen Größe erdrückt. Julian Schnabel setzt 1988 ebenfalls ein Selbst-Zeichen, als er eine Schildskulptur mit der Inschrift Idiota im Innenhof einer verlassenen Schlossruine platziert. Salvatore Mangione (Salvo) hatte das Wort bereits Anfang der 1970er Jahre in einer Ausstellung auf einer Marmorplatte präsentiert. Das dialektische Spiel des inneren Idioten und untiefen Laientums mit kultureller Größe lässt sich auch in der Werkslogik ausmachen, in verschmitzter Form etwa in den Installationen Roman Signers. Es geht hier darum, aktive Naivität und neugierige Ignoranz in sich zu entdecken, wie eben Sokrates einmal den Selbstzweck des Guten in sich entdeckte, unwissend, aber mit einem gewissen Instinkt für einfache Fragen bestückt. Signer katapultiert mit Hilfe von Sprengsätzen Tische und Stühle aus der Villa Kunterbunt. Und eine andere Kultur 65
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heroin, Pippi Langstrumpf, geht einmal – wie Sokrates – durch die Straßen und fragt jedermann nach einem Spunk. Aber keiner kennt Spunk. Pippi auch nicht, weil sie Spunk erfunden hat („Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“). Es ist das Glück der erhabenen Idioten, nicht vom eigenen Wissen so überwältigt zu sein, dass sie nicht zugleich auch von ihm überrascht werden könnten. Zarte Idiotie – Die Aneignung der Welt durch den Kinderblick hat in den 1960er Jahren der Lindgren-Verfilmungen sozialrevolutionären Anstrich. Das Bürgertum hat kein Verständnis für Herrn Nilsson, das smarte Queer-Äffchen, das gleichberechtigt in der Villakommune lebt. Seit der Neuzeit wurde dieser äffische Blick immer wieder mit einem physiologischen Defekt zusammengebracht: Kindlichkeit und Tierlichkeit als komplementäre Zustände der Geisteserkrankung. Die erste Psychometrie benutzte beispielsweise Kleinkindalter zur Klassifizierung von Idioten. Ein Erwachsener mit einem mentalen Alter von unter drei Jahren wurde demzufolge als Idiot bezeichnet (mentale Alter zwischen 3 und 7 Jahren bezeichneten Imbeciles und zwischen 7 und 10 Morons). Der Intelligenzquotient wurde dadurch gewonnen, dass man das mentale Alter durch das tatsächliche Lebensalter teilte und mit hundert multiplizierte, d.h. ein 40-Jähriger mit einem mentalen Alter von 2 Jahren hätte einen Intelligenzquotienten von 5. Schon John Locke erwähnt „Ideots“ oft im gleichen Atemzug mit „Children“, wenn er z.B. von deren Reflexionsunfähigkeit schreibt (wobei hier der Reflexionsbegriff in gleichem Maße unterentwickelt scheint). Literarische Imaginationen folgen diesem Schema und lassen Idioten und Kinder oft zusammen in Erscheinung treten. William E. Suters Adaption eines Theaterstückes von Eugène Grangé mit dem Titel The Idiot of the Mountain (1862) präsentiert eine Szene, in der der Dorftrottel Claude Marcel von einer Gruppe Kindern ins Schlepptau genommen ums Eck gestürmt kommt, mit blumenverziertem Hut, Bouquet in der Hand und einem „Idiotenlächeln auf seinen Lippen“.
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Evert Larock , Der Idiot (De Onnozele), 1892. Kinder müssen zur Spiegelung des Idioten stets dabei sein.
Nietzsche wird nicht viel später Jesus als kindlich-debilen Idioten porträtieren, zum einen, weil dieser in seiner eigenen abgeschotteten Welt lebe („Man fühle seine Unfähigkeit, eine Realität zu verstehen“), ferner, weil es ihm an heroischer „Mannhaftigkeit“ fehle (im Sinne von: Wer predigt, einem Schläger auch noch die andere Backe hinzuhalten, ist nicht ganz bei Trost), und schließlich, weil er in jeglicher Hinsicht zurückgeblieben sei („Nicht der entfernteste Hauch von Wissenschaft, Geschmack, geistiger Zucht, Logik hat diesen heiligen Idioten angeweht“). Nietzsche würdigt nicht die eigentümliche Qualität des messianischen Idiotypus, und so sieht er auch in der Ethik Kants nur „das Rezept zur décadence, selbst zum Idiotismus“. Kant als Idiot. Dass Blutarmut die Voraussetzung der Blutproduktion ist, dass Naivität Neues begründet, verdrängt aber gerade ein Philosoph, der in einer einfältigen Hirten figur den Übermenschen aufkommen sieht („Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter“) – als untiefe Spiegelung der Pastoralmacht. In diesem regungslosen Denken der Selbstbewegten klingt noch Moreaus zeitgenössische Definition des Genies nach, das „seinen Verlauf zum Wahnsinn oder Idiotismus nicht durchmacht, sondern stationär bleibt; also eine Art stehengebliebene Geisteskrankheit“ – sozusagen ein 67
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stable genius. Die Floskel von Genie und Wahnsinn, die angeblich nahe beieinander liegen, aber in Wirklichkeit aufeinander folgen, stammt aus dieser Zeit, findet man aber schon bei Montaigne. Dennoch wird später etwa in Picassos Geste, mit Kleinkindern zu arbeiten, wieder das erhabene Künstlergenie erkannt, das sich jenseits des Wahnsinns im Glück professioneller Naivität herumtreibt. Auf diesen Aspekt bezog sich wohl auch Carl Gustav Jung, als er über Dada knapp notierte: „Zu idiotisch, um schizophren zu sein.“ Dieses Herumtreiben im Glück des allerersten Gedankens gilt auch jenseits der Kunst: Esther Vilar zitiert das Beispiel eines jungen Mädchens aus einer Sammlung von Kindergebeten: „Lieber Gott“, so das Mädchen, „mein Vater ist sehr gescheit. Vielleicht könnte er Dir helfen?“ Der erste Horizont eröffnet sich schlagartig im blauen Auge Gottes, weil sich in der Naivität der Anrede die aufrichtig versuchte Ehrfurcht in totale Stärke umkehrt, die den Weltschöpfer als bemitleidenswerten Trottel erscheinen lässt. Das ist weit unbarmherziger als, wie Nietzsche, Gott für tot zu erklären. Weil es von einem Kind geäußert wird, ist es obendrein nicht nur witzig, sondern auch wahr. Das Kind rationalisiert nicht das Irrationale, sondern zahlt Gleiches mit Gleichem heim. Es ist die zarteste Idiotie, die das Absolute wie mit einer Fliegenklatsche erledigt. Alleinsamkeit – Auf dem ersten Horizont liegen Idiotie und Philosophie nahe beieinander: „Die Philosophie betreibt keine Kontemplation, reflektiert nicht, kommuniziert nicht, obwohl sie Begriffe für diese Aktionen oder Passionen schaffen muss“ (Deleuze & Guattari). Die philosophische Bemühung gleicht einer untiefen Konfrontation am einsamen Beginn der Dinge. „Philosophieren bedeutet, die gespenstische Identität eines Subjekts ohne Subjektivität anzunehmen“ (Marcus Steinweg). Das von Heidegger geheiligte Denken der Philosophen beschreibt eine Konfrontation des subjektlosen Subjekts mit der Immanenz des Idioten, in dem die philosophischen Konzepte koexistieren. Der Idiotieverdacht gilt schon für traditionelle Paradigmen der Philosophie. Denn was zeitgenössische Ärzte vom Idioten sagen, dass dieser allein, von der übrigen Natur abgesondert, dastehe, beschreibt Descartes’ modernes Subjekt, 68
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das ähnlich wie Esquirols Patient, der sich aufs Pferd setzt, ohne davonzureiten, völlig kontextunabhängig agiert und nur sich selbst benötigt, um sich seiner selbst gewiss zu werden. Und parallelisiert dieser Isolationismus nicht zugleich die Lebensweise der Philosophen? Descartes betont, dass er in winterlicher Abgeschiedenheit zu seiner Einsicht gelangt. 1913 wird Wittgenstein aus seiner norwegischen Hütte Ähnliches berichten. Dieselbe lebensweltliche Isoliertheit spiegelt nach Descartes auch die Hüttenexistenz Gottes, der so vollkommen wie sein über jeglichen Zweifel erhabener Begriff sei, dass seine Existenz notwendig zu seiner Vollkommenheit gehören müsse. Die Welt ist ja das, was der Fall ist. Eine Welt jenseits des Falles gibt es nicht. Denn in der Abgeschiedenheit des Momentes ist niemand anderes da, der sonst der Fall sein könnte. Descartes und (junger) Wittgenstein bezeichnen all diese Einsamkeiten als „Beweis“, weil alle Gedanken zueinander führen, ohne die gute Stube zu verlassen. „Dieses Ich, das allein auf die Welt kommt | und allein aus der Welt scheidet | ist dasselbe Ich, das in dieser bescheidenen Hütte allein lebt“, klingt es im Gesang des einsamen Lebens des Zen-Meisters Sengai aus zeitlicher und räumlicher Ferne wider. Quer über die Kontinente wird eine immanente Einsicht beschworen, die sich in der Notwendigkeit „der Sache selbst“ wiederfindet – eine Formulierung Descartes’, die später Edmund Husserl animieren wird, das Interieur der ‚Hütte‘ zu rekonstruieren. Die Introspektion hat indes von Anfang an paranoide Züge, denn Descartes hypostasiert einen Dämon, der die Erfahrung aller Wirklichkeit in Frage stellt. Das natürliche Licht des ‚Idiosophen‘ leuchtet gegen die Verdunklungsabsicht des Dämons an und gebärt das transzendentale Ego als Hypostase eines intellektuellen Wahns. Der Dämon ist methodischer Schein, um den Nexus von Denken und Sein zu beleuchten. N ietzsche sieht darin eine Fadenscheinigkeit: „[D]ass, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, ‚das denkt‘, ist […] einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt. […] Reduzirt man den Satz auf ‚es wird gedacht, folglich giebt es Gedanken‘ so hat man eine bloße Tautologie: und gerade das, was in Frage steht die ‚Realität des Gedankens‘ ist nicht berührt […].“ Descartes’ Dämon mag ihm also die Wahrnehmungswelt 69
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manipulieren, die Sprache bleibt aber von dieser Sabotage merkwürdig unberührt. Vor diesem Hintergrund kann Gilles Deleuze Descartes’ Akt als idiotisch bezeichnen und ihn zugleich auf die grundsätzliche Aufgabe der Philosophie beziehen, die Frage nach Selbst und Sinn. Pflichtet dem nicht auch Fredric Jameson bei, wenn er in seinen Hegel Variations von einem „Narzissmus des Absoluten“ schreibt und Hegels Dialektik auf das Verfahren der Selbstverzehrung reduziert, unfähig, jenseits des selbst gesteckten Horizonts zu denken oder sich mit radikaler Andersheit zu konfrontieren? Was ist der Idiot anderes als jemand, der von sich aus beginnt und bei sich endet? Bei Hegel ist das nicht nur systemisch, sondern auch biografisch zu fassen. Wie Karl Rosenkranz 1844 über den Studenten Hegel schrieb: „Man fand an ihm damals nichts besonders Geistreiches heraus. Seine Jugendbekannten in Schwaben waren erstaunt, als er sie später mit seinem Ruhm überraschte.“ Und bei Rudolf Haym: „Seine Lehrer gaben ihm das Zeugnis mit auf den Weg, dass er ein Mensch mit guten Anlagen, aber mäßigem Fleiß und Wissen, ein schlechter Redner und ein Idiot in der Philosophie sei.“ Diese Geistlosigkeit Hegels war wiederum eine Voraussetzung für die Phänomenologie des Geistes, die keine kristalline, sondern eine dumpfe, drängende Sprache durchwaltet, nur dazu da, den Motor der Dialektik, die Bürokratie der absoluten Vernunft, am Laufen zu halten. „Es ist eine Funktion der Philosophie, den Idioten zu spielen“, schreibt Byung-Chul Han. Wie wir sehen, ist es auch eine Funktion des Idioten, den Philosophen zu spielen. Der Idiosoph – der Selbstweise – spürt indes beide Seiten der Gleichung. Prima philosophia – Der Idiot erster Ordnung kündet von Subjekten, die am Anfang des Wissens und überhaupt am Anfang stehen. Der US- Komiker Chris Rock erzählt einmal von einem Mann, der in der Fußgängerzone steht und einen Hut vor sich hält. Ein Passant tritt zu dem Mann und fragt, was dieser denn da mache. Der Mann antwortet, dass er bettele. Der Passant erstaunt: „Aber Sie sehen gar nicht aus wie ein Bettler!?“ Darauf der Mann: „Es ist mein erster Tag.“ – Wehret den Anfängern. Am Anfang ist man nicht so, wie man ist, wenn man etwas über längere Zeit macht. Wie ist man aber, wenn man etwas über längere Zeit 70
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macht? Spürt man einen Anfang genauso, wie man ein Ende spürt? Der erste Horizont ist angesprochen: Das Hineingeraten in eine Situation, die einen zum Erstling macht. Protagonist. Erstgeborener. Primat. Der Idiot erster Ordnung ist grundlegender universeller Anfänger, er entfaltet seine Produktivität jenseits der Professionalität (außer er nimmt diese wörtlich: Profigolfausrüstung kaufen, ohne Golf spielen zu können). Die strukturelle Naivität der ersten Sicht ist ein existenzieller Aspekt des „Geworfen-Seins“: Als Kind dachte ich beispielsweise, dass Raumschiffe nur nachts ins Weltall fliegen, denn tagsüber, so erschien es mir, stünde das Weltall nicht zur Verfügung. Tautologisch – Am Anfang gehört alles Wesensmäßige zu seinem Wesensmäßigen. Cusanus kann also mit Recht behaupten: „Alles am Stein ist Stein, an der Seele Seele, am Leben Leben, am Gesichte Gesicht, an der Einbildung Einbildung, am Verstande Verstand, an der Vernunft Vernunft, an Gott Gott.“ Das ist die praktische Tautologie des Anfangs, vollführt im Auge Gottes, bevor dieser auch nur ein Wort von sich gibt (das wäre wohl mit Heidegger gesprochen der „andere Anfang“). Alles am Atom ist Atom, wie eben alles am Gesicht Gesicht ist. Jenseits des paradiesischen Anfangs kommen Zweifel: Gesicht und Atome gehen irgendwie nicht zusammen, lassen sich nicht anschauungsmäßig verknüpfen. Ein Gesicht besteht nicht aus Atomen, sondern aus Ausdrücken, und Ausdrücke kann man nicht beschleunigen wie Teilchen, die es nicht gibt, oder schmieren wie Butter, die es gibt. Und doch befinden sich alle diese Entitäten in derselben Welt, lächeln sich aus der Entfernung respektvoll an. Diese Immanenzebene der Begriffe, das Planomenon, hat nach Deleuze & Guattari zwei Aspekte, „als Denken und als Natur, als Physis und als Nous“. So ereilt ein Spruch Epikurs spät seine präphysikalische Wirklichkeit: „Das Atom“, schreibt er, „bewegt sich mit der Schnelligkeit des Gedankens“. Wobei interessanter ist, was das einmal bedeuten wird, als was es jetzt schon bedeutet. Kürzel & Klumpen – Die Anschauungen der Lebenswelt sind jenseits des Planomenons mit der mathematischen Formulierung des Universums 71
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nicht vereinbar. „Das Existenzielle […] ist dem Bereich des abstrakten Wissens entgegengesetzt“ (Jameson). Das abstrakte Wissen kumuliert nach Lacan nie in einem konkreten Subjekt, sondern manifestiert sich in einer strukturellen Leere, der man Wissen zuspricht (le sujet supposé savoir). Nach Marx hat Ideologie dann die Funktion, die existenzielle mit der abstrakten Welt zu versöhnen – etwa durch das Dispositiv der Naturwüchsigkeit: die Vorstellung, dass alles so ist, wie es ist, weil es schon immer so gewesen ist. Dass einer sich vor dem anderen verbeugt, und nicht umgekehrt. Dass einer im Haus sitzt und der andere auf dem Feld schuftet. Dass einer vergast wird und der andere nicht. Der Idiot erster Ordnung bewegt sich aber noch vor dieser Ordnung, am Anfang, der gewissermaßen keinen Anfang kennt – vergleichbar mit Imre Kertesz’ „Schicksallosem“, der vom „Glück der Konzentrationslager“ spricht und davon, dass es „keine Absurdität [gibt], die man nicht ganz natürlich leben würde“. Der Anfänger ist so gesehen das Lumpenproletariat des Seins, denn in ihm agiert sich aus, was Hannah Arendt als Grundkonstitution des politischen Handelns ansah: die Fähigkeit, in jedem nächsten Moment neu beginnen zu können. Vergessen – Aller Anfang ist so leicht wie er schwer ist. Wittgenstein schreibt angesichts seiner Lehrerfahrung, dass Kinder, „um das Rechnen der Volksschule zu verstehen, bedeutende Philosophen“ sein müssten. Dass man als Erwachsener einem Kind das Resultat sagen kann, beweist nicht, dass man eine Ahnung von Mathematik hat. So werden manche womöglich erst auf den zweiten Blick entdecken, dass die Gleichung 1 × 0 = 2 × 0 nur auf unerlaubte Weise zum Resultat 1 = 2 führt. Aber selbst ein falsches Resultat verweist auf das ursprüngliche Rätsel, das wohl jedem Regelsystem zugrunde liegt. Einst war auch √-1 ‚verboten‘ und undenkbar, und nun dient die imaginäre Zahl (i) als algebraische „Nullstelle des Polynoms“ etwa der Quantenfeldtheorie. Clément Rosset schreibt: „[S]chon an ihrer Oberfläche, am Randstreifen ihrer Existenz sind [die Dinge] unverständlich: nicht, weil sie solcher Art sind, sondern ganz einfach, weil sie sind“. Es ist paradox: Aus der Sicht des Idiotypen erster Ordnung ist es ein nahezu unmögliches Unterfangen, 72
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den Anfangsbereich zu verlassen. Aber um diese Unmöglichkeit zu erfahren, muss man sein ganzes Leben lang studiert haben. Der Philosoph Wittgenstein scheiterte als Lehrer in der Volksschule wie der als Sklave verkaufte Platon als politischer Philosoph. Poetik des Naiven – Friedrich Schiller schreibt über den naiven Idiotypus, dass dieser im Sentiment mit der Natur deckungsgleich und nichts anderes sei „als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen“. Der Bereich, der Idiotentum und Naivität eint. Hier entsteht eine „ganz eigene Erscheinung eines Gefühls“, in welchem fröhlicher „Spott, Ehrfurcht und Wehmuth“ zusammenfallen. Denn: „[D]as Naive der Denkart […] verbindet die kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die letztere giebt es dem Verstand eine Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsre (theoretische) Ueberlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zugleich eine kindliche sey, daß folglich nicht Unverstand, nicht theoretisches Unvermögen, sondern eine höhere praktische Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit, die Quelle davon sey, welches die Hülfe der Kunst aus innrer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbey, und der Spott über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der hohen Einfachheit über“. Wichtig sei daher, zwischen Kindsein und Naivität zu unterscheiden, denn „das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird, und kann eben deßwegen der wirklichen Kindheit in strengster Bedeutung nicht zugeschrieben werden“. Gemeint sind Sinnprozeduren, die in jedem Anfangserlebnis stecken, und jedes Anfangserlebnis setzt wiederum die Fähigkeit voraus, alle Eventualitäten zugleich erwarten zu können. Hieran knüpft wiederum das intime Verhältnis von Dichtung und Idiotie an, das von Konrad Bayer, Peter Handke, Botho Strauß bis Monika Rinck die Wortgestalten des Anfangs motiviert. In Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1989) findet man die Zeilen: „durch mein Schauen bin ich wieder so dumm, begriffsstutzig und sorglos geworden wie als Kind“. Als Boten der naiven Kraft fallen oftmals Kleinkinder, Betrunkene und Idioten in 73
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der Logik des Erlebens zusammen. Sie alle sind vom Eintreten eines Ereignisses überrascht, aber sie sind eher überrascht, dass überhaupt etwas eintritt, nicht was eintritt. Etwas wollte passieren und passiert. Was ist es? Warum können wir ein Geschehen überhaupt nachvollziehen? Warum erleben wir keine andere Zeitsignatur? Warum erleben wir Gegenwart zeitnah? Der Betrunkene greift sich das Nächstbeste, um sich zu stützen, das Kind hebt das Nächstbeste vom Boden auf, der Idiot sagt das Nächstbeste, das ihm einfällt. Alle drei Idiotypen – Begriffspersonen des Dichters – reagieren auf ein unerwartetes Ereignis mit eingeübter Unsicherheit, als ob jede Ausnahme zugleich eine Routine sei. Oswald Wiener, der damit kokettiert, seit fünfzig Jahren ein sublimes Idiotentum zu praktizieren, sagt in einem Interview: „Offenbar will der größte Teil der Künstlerschaft nichts anderes als sehr viel Geld und Ruhm. […] Und da kommt der Idiot, der wieder in die andere Richtung steuert, und sich lossagt von diesen Bedingungen. […] Wenn es noch so etwas Altmodisches gibt wie Interesse und eine Neugier auf etwas, […], dann sind wir nicht sehr weit von der richtigen Richtung abgewichen. Und diese Neugier und diese Möglichkeit zu wissen scheinen Kategorien zu sein, die so outdatet sind wie nur irgendetwas. Aber ich kann mir nicht helfen, es sind die letzten Kriterien, die ich habe.“ – Es sind auch die ersten Kriterien, die es gibt. Vom Update zum Outdate – Der gesellschaftliche Verdrängungsmechanismus des ‚Outdates‘ gilt nicht nur für die Kunst, sondern für alle Bereiche. Wer z.B. „psychische Probleme“ hat, dem wird man nur schwer erzählen können, dass er womöglich keine Psyche hat, die Probleme haben kann, oder zumindest keine Psyche in der Weise hat, in der er es selbst vermutet. Psyche ist verdinglichter Selbstbezug. Ein Problem wird vorab ‚psychisch‘ gerahmt und erscheint dadurch unlösbar, da man unauflöslich mit seinem Psyche-Produkt (Ich) oder einem Psyche-Syndikat (Welt) verknüpft ist. Probleme zu bewältigen heißt, problemlose Zustände zu erfinden. Es heißt, innovativ zu sein, neu anfangen zu können. Man muss jedes Mal eine neue Psyche erfinden, die zur Lösung passt. Man muss an den Anfang eines Problems, und dieser Anfang muss nicht 74
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zwangsläufig, wie etwa bei den Psychoanalytikern, Kindheit bedeuten. Die Anfangserfahrung ist weniger belastend, aber radikaler als ein Kindheitstrauma. Auch das philosophische Argument muss bis zu einem gewissen Grade tyrannisch sein, sonst ist es keines. Das geht schon aus Aristoteles’ Einsicht hervor, dass man nicht alles begründen könne. Man muss Annahmen (vor)setzen, um überhaupt philosophieren zu können. Aristoteles hält es für einen „Mangel an Bildung“, davon auszugehen, dass alles begründet werden könne und man den Überblick darüber verliere, wofür ein Beweis zu suchen sei und wofür nicht. Die Setzungen des Anfangs, die territorialen Markierungen gleichkommen, werden mit der Zeit als selbstverständlich mitgedacht. Der Naive hinterfragt die Autoritäten der ursprünglichen Setzung, ohne aber ‚territorial‘ zu argumentieren. Ihn geht das eroberte Wissensgebiet nichts an. Politik des Neuen – Adorno hat darauf hingewiesen, dass die kindliche Naivität nicht naiv sei, allein schon weil sie Sprache voraussetze. Die Direktheit des Naiven sei eine Illusion. Aber worauf gründet sich die Illusion? Direktheit kann nicht abgeleitet werden, und selbst der Paradedenker der Vermittlung, Hegel, schreibt in der Einleitung zur Phänomenologie von der „Natur des absoluten Wissens“, welches vom Hindernis des Mediums befreit sei. Der Idiot erster Ordnung bietet insofern die Voraussetzung der Naivität, als er sich besinnungslos in den Konflikt um das Medium des Wissens stürzt. Das Naive ist nicht voraussetzungslos, aber es schafft Voraussetzungslosigkeit, indem es die Bedingtheit der ‚erwachsenen‘ Welt hintertreibt und gewissermaßen das Kind im Kinde wachruft. Hier ist das Initium des Menschen angesprochen, wie es Hannah Arendt im Hinblick auf den Anfang sieht: „[S]eine Erschaffung ist nicht der Beginn von etwas, das, ist es erst einmal erschaffen, in seinem Wesen da ist […], sondern das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist, anzufangen“. Das Direkte und Sprachlose ist das kreative R esultat und nicht die Voraussetzung der Naivität, es setzt das Ungeahnte vor, und jeder Versuch, es an einen falschen Anfang zurück- und zurechtzurücken, verfehlt den Kern des Neuen und damit die Reichweite des ersten Horizontes. Hebt nicht gerade hier der Anspruch 75
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jeglicher Politik an, wie Paolo Virno ihn anführt, d.h. „die allgemeine menschliche Erfahrung, etwas Neues zu beginnen, eine neue Beziehung zur Kontingenz und zum Unvorhergesehenen einzugehen, sich den Blicken der Anderen auszusetzen“? Nach Virno habe aber der heutige Arbeitsprozess „traditionelle Eigenschaften des politischen Handelns angenommen“. Es herrsche Politikverdruss, weil der politische H orizont des Neuen in der postfordistischen Ökonomie eingeschrieben ist und Politik notgedrungen „primitivere Kommunikationsnetze und Wissensinhalte als der aktuelle Produktionsprozess“ anbiete. Simplifizierung – Die Alltagsrationalität umfasst komplexe Strukturen, die Euphorie erkennt nur „hohe Einfachheit“. In der Tagespolitik sind plumpe politische Parolen daher oft die Konsequenz des Scheiterns, diese Einfachheit zu erreichen, ohne die Komplexität einer Situation zu trivialisieren. Hierin steckt nicht nur ein aktuelles Problem der postfordistischen Produktion, sondern ein klassisches Problem der Vermittlung: Denis Diderot stellt sich in den Gedanken zur Interpretation der Natur die Frage, ob die Welt verständlicher für uns wäre, wenn Gott sie vollständig in einem Buch erklärt hätte. Heutzutage wird das Pro blem als Boninis Paradox gehandelt, demzufolge eine vollständige Erklärung eines komplexen Systems ebenso komplex wie das System wird und somit als Erklärung nichts taugt. Paul Valéry verkürzt diese Überlegungen zu: „Alles Einfache ist falsch, alles Komplexe unbrauchbar“ – eine einfache Erklärung, die ausnahmsweise korrekt scheint. Entweder wir beschreiben Sachverhalte wahrheitsgemäß, ohne voranzukommen, oder wir lügen sie uns kurz, ohne voranzukommen. Die Tendenz der nicht-naiven Simplifizierung liegt nicht nur in der Medienpraxis, sondern schon in der postpolitischen ‚Medialität‘ begründet, d.h. dem Aufgehen des Anfangs in der Arbeitslebenswelt. Man merkt die Unverhältnismäßigkeit der diskursiven Mittel heute etwa an der Vermittlung des EU-Brexit-Prozesses, der sich als bürokratische Überforderung darstellt, aber gleichzeitig mit simpelsten Mustern kommuniziert wird: rein/raus, Abhängigkeit/Unabhängigkeit, Grenzen dicht/Grenzen öffnen. Auch dem glühendsten Nationalisten wird hier aufgehen, dass es im geopolitischen 76
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Komplex keine wirkliche staatliche Unabhängigkeit, sondern nur unterschiedliche Modi bilateraler oder multilateraler Abhängigkeiten gibt. Die Gefahren der epistemologischen Verausgabung sind politisch nicht immer offensichtlich und stellen ein grundsätzliches Problem dar: Wer z.B. Psyche und Geist in die materielle Welt verfrachtet, ohne zu verstehen, wie Empfindungen Körper in Bewegung setzen, ist nicht weit davon entfernt, mit Kulturidentitäten Territorien zu beanspruchen. Das Verweben der Kategorien belangt auch die Metaphysik des Sozialen. Wir können uns also einen Atomphysiker vorstellen, der stolz ist, Schotte zu sein, und in seiner Freizeit fernöstlich-spirituelle Meditation betreibt. Nähme er alle seine Praktiken in derselben Weise ernst, in der er seine Elementarteilchen durch Beschleuniger schickt, wäre nicht mehr viel von diesem Mischwesen übrig. Denn dann würde der Physiker sämtliche Formeln des sozialen Lebens derselben Kritik zuführen, wie die wissenschaftliche Falsifizierbarkeit sie einfordert. Schnell würde er feststellen, dass er nicht auf dieselbe Weise Schotte ist, wie sich eine Gravitationswelle ausbreitet. Einfall der Einfältigen – Der Idiot erster Ordnung bestimmt sich als Simplizius zwischen den Polen des Dilettanten und des Fachexperten – er ist sozusagen Fachdilettant. Ihm geht es nicht darum, generell keine Ahnung zu haben, sondern darum, auf richtige Weise keine Ahnung zu haben. „Wichtige Entdeckungen in den Wissenschaften wurden fast immer von Außenseitern gemacht, oder von Wissenschaftlern mit einem ungewöhnlichen Entwicklungsgang. Einstein, Bohr, Born waren ‚Dilettanten‘ und haben sich auch so genannt“, heißt es bei Paul Feyerabend. Egon Friedell schreibt im Vorwort zu seiner Kulturgeschichte der Neuzeit, dass die Voraussetzung aller Produktivität im Mut liege, „über Z usammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt“. Es geht um die Aushandlung eines Wissens, in dem ein „dilettantisches Dispositiv“ (Uwe Wirth) wirkt, „ein forschungspolitisches Machtspiel, das Dilettanten und ‚wahre Wissenschaftler‘ gemeinsam spielen“. Dieses Machtspiel „institutionalisiert und professionalisiert“ die Suche nach der Wahrheit nicht nur, sondern es hebelt sie auch aus. „Während das professionelle Dispositiv darauf abzielt, die Parzellierung zu 77
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legitimieren […], zielt das dilettantische Dispositiv auf eine […] Logik des Übergangs, des unmethodischen Abtastens, der bricolage“ (Wirth). Nach Raymond Popper beruhen alle Gesetze oder Theorien auf Schätzungen. „Jeder Begriff, jede allgemeine Aussage, durch die das große Gebäude der Wissenschaft errichtet wurde“ (Wirth), beruhe auf Konjekturen, d.h. spekulativen Zufallswürfen. Der Dilettant sorgt für Zwischenfälle des Denkens. Als Inzidius, als einfallender Idiot, erinnert er die professionellen Wissenserzeuger an ihre Ursprungsmission. Kant schreibt in seiner Anthropologie, dass der Einfall der „Anfang des Nachdenkens“ und ein „Glücksfall“ der Vernunft sei, der wegen seines kontingenten Charakters wie ein Blitz daherkomme. Und das Festhalten an diesem Anfang des Denkens erfordert „dilettantischen Mut“ (Wirth). Der Idiot dient aber auch als Katalysator wissenschaftlicher Unvernunft, indem er seine Erratik zu Reformulierungen des Wissens nutzt und damit neue unmögliche Räume des Denkens eröffnet: „Der Idiot, jener, […] der im Denken eine Unfähigkeit zu denken findet“ (Deleuze & Guattari). Er fungiert als „Anti-Philosoph“ und macht auf die politische Funktion des Wissens aufmerksam (etwa in Thomas Kuhns Formel von der wissenschaftlichen Revolution). So macht er zuletzt deutlich, dass selbst eine freie Gesellschaft befreit werden kann oder sogar befreit werden muss. Sauber – Der erste Horizont des Idioten kündet von der intellektuellen Wiedergeburt aus dem Scheiterhaufen des positiven Denkens und mündet in einer Anfangserfahrung. Der einsame Anfang ist aber nie völlig vereinsamt, da ist noch etwas anderes. Die in Koans überlieferten Antworten der Zen-Meister zielen in diese Richtung, denn oftmals lässt der Meister den fragenden Schüler verdutzt zurück, lässt ihn an seiner Autorität zweifeln – bis der Schüler eines Tages erkennt, dass es um etwas völlig anderes ging als das, was er verstehen wollte. Er sieht sich mit dem Vorbehalt seiner Erkenntnis konfrontiert. Deshalb gibt der Meister paradoxe Anweisungen, vollführt nebensächliche Handlungen oder wird handgreiflich. Aus der traditionellen Koan-Sammlung Das torlose Tor ist eine Episode überliefert, in der ein Novize Meister Joshu bittet, 78
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ihn zu unterrichten. Dieser fragt ihn daraufhin, ob er seinen Reisbrei gegessen habe. Der junge Mönch bejaht das. „Dann“, sagte Joshu, „gehe und wasche deine Schüssel.“ In diesem Moment war der Novize erleuchtet. Es war für buddhistische Mönche des 12. Jahrhunderts üblich, während der Meditationspraxis ihr Mahl einzunehmen. Daher handelt der Verweis auf die Schüssel davon, dass der Neuankömmling fertig ist. Dem Schüler wird es schlagartig klar, ohne dass er vorher einen Zugang dazu hatte. Gerade eben war noch nichts, und plötzlich ist alles oder eben ein anderes nichts. Schüssel und Schüler werden auf eine neue Ebene gehoben: nicht der Schüler erkennt etwas an der Schüssel, sondern eine neue Entität – Schüler-Schüssel-Waschen – kommt als Anfang zum Vorschein. Der zeitgenössische Kommentar lautet: „Weil es so klar ist, benötigt man lange, um es zu verstehen.“ Vielleicht lässt sich auch Wittgenstein so verstehen, wenn er in Über Gewissheit schreibt: „Es ist so schwer, den Anfang zu finden“ – weil Gewissheit ein Prozess ist, der im Grunde keinen Anfang hat und man nur, wenn man in ihn hineingeschleudert wurde, die Einfachheit erkennt. Eines der ersten Prinzipien des Zen ist es, dass es kein Zen gibt, d.h. es gibt nichts, was man als Lehrkörper präsentieren könnte. Insofern ist jeder Lernende auf sich selbst verwiesen. Wie lernt er überhaupt etwas? Indem er sein positives Wissen bezwingt. Denn das Problem des Schülers ist sein Verständnis davon, was Verstehen heißt. Das bestimmt auch die traditionelle westliche Bildungsbemühung. Wie Daniel Boorstin einmal sagte, ist nicht das Unwissen das größte Hindernis für Entdeckungen, sondern die I llusion des Gewussten. Erziehung bedeutet entsprechend, etwas zu lernen, wovon man gar nicht wusste, dass man es nicht wusste (unknown unknowns), und es bedeutet zu wissen, dass auch in der Gewissheit eine grundsätzliche Ahnungslosigkeit nie aufgehoben ist. Spülregel – Diese Konfrontation des Wissens mit seinem Anfang lässt sich auch inmitten der spätkapitalistischen Bildproduktion ausmachen, wenn man sich z.B. die Episode The Bonnie Situation aus Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1994) vor Augen führt. Die beiden Gangster Jules und Vincent flüchten mit ihrem blutverschmierten Wagen zu Jimmy, Bonnies 79
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Ehemann. Der herbeigerufene Problemlöser Mr. Wolfe inspiziert den Wagen. Und nun erwartet man, wie in Hollywoodfilmen üblich, eine raffinierte Lösung. Aber Mr. Wolfe weist Vincent und Jules lediglich an, den Wagen zu säubern – eine ‚Lösung‘ also, auf die sie selbst hätten kommen können. In der Szene wird nicht nur die Erwartung des Zuschauers gebrochen, es öffnet sich auch der erste Horizont. Denn ähnelt der filmische Säuberungsauftrag nicht der obigen Aufforderung des Zen-Meisters, den Reisteller zu säubern? Mr. Wolfe formuliert etwas Alltägliches, das sich dem Alltag entzieht. Er ist der Genius der Situation, der bemüht wird, um das Selbstverständliche zu offenbaren. „Weil es so klar ist, benötigt man lange, um es zu verstehen.“ Die Szene führt die Gangster auch dramaturgisch an den Anfang, da beide nach der Entsorgung des Autos zum Diner frühstücken gehen, der zu Beginn des Films gezeigt wird … Wasser – David Foster Wallace schildert in This is Water eine Szene mit zwei jungen Fischen. Diese schwimmen nebeneinander her und treffen auf einen älteren Fisch, der sie begrüßt: „Morgen, Jungs, wie ist das Wasser?“ Die beiden Jungfische schwimmen weiter, bis schließlich einer von ihnen den anderen anguckt und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“ Wallace will darauf hinaus, dass die Jungfische die Bedingungen ihrer Existenz nicht hinterfragen. Er macht eine Art „natürliche Einstellung“ (Edmund Husserl) dafür verantwortlich, dass wir uns nicht näher mit dem Selbstverständlichen beschäftigen. Gewissheitsroutinen zementieren hierbei die Autorität des Erfahrungs-Ich: „Alles in meiner unmittelbaren Erfahrung unterstützt meinen tiefsten Glauben, dass ich das absolute Zentrum des Universums bin […].“ Wallaces Schlüssel zum Überkommen der narzisstischen Gewissheit ist ein altbekannter ästhetischer Imperativ: die Aufmerksamkeit gegenüber den täglichen Dingen des Lebens – „das hoffnungsbestimmte poetische Denken, das die Welt immer neu anfangen lässt“ (Peter Handke). Die Adepten des Anfangs übersehen aber manchmal, dass diese berühmten „täglichen Dinge des Lebens“ inzwischen ihrerseits Produkte der Aufmerksamkeitsökonomie sind. Sie übersehen, dass also überall schon extensive Aufmerksamkeit herrscht. Die digitale Solidarisierung im 21. Jahrhundert bringt unwahr80
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scheinlichste Gruppen von Aufmerksamen hervor, deren bloße Existenz die zureichende Bedingung dafür ist, warum etwas ist, wie es ist. Selbst das Unwahrscheinlichste, das uns zukommt, lässt uns nicht mehr alleine zurück, wenn wir die Aufmerksamkeit des anderen erheischen. Diese Gemeinschaft der Aufmerksamen ist nicht mehr die religiöse Gemeinde, die etwa der Orator bei Cusanus vom den Hügeln Roms beobachtet, bevor er Idiota trifft. Sie ist die Internet-Community, deren Glaubensgrundsätze genauso amorph wie die zahllosen Webseiten sind, in denen jene durchdekliniert werden. Cusanus’ Fachleute hätten Schwierigkeiten, in diesen Deklinationen des Alltags den Genius dieser Bewegung zu dechiffrieren – außer sie lernten, an den Schnittstellen von der analogen zur digitalen Welt frisch auf Dinge und Nicht-Dinge zu blicken. Der Anfang des Denkens schafft neuen Raum für Aufmerksamkeit. Zweiter Horizont – Der Idiot erster Ordnung bewegt sich fließend zwischen Atelier, Kindergarten und Gummizelle. Er fällt vom Olymp des Denkens in die Niederungen der Unvernunft, steigt in den Olymp der Unvernunft und endet im Untergang von Sprache und Gedanke – im zweiten Horizont. Dieser zeigt die Figur des Idioten als Verkörperung der Ineffizienz, Dysfunktion oder Selbstzerstörung. Als system failure, als performativer Widerspruch, als narzisstisches Versagen, als Auto regression, als „Destruktion als Ursache des Werdens“ (Sabina Spielrein), als Todestrieb. Als ein sich im voltairschen Garten des Idioten verirrender Strategos. Als biblischer Masochismus des cupio dissolvi, der Sehnsucht danach, sich selbst aufzulösen: „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre“ (Phil 1,23). „Idiotisch!“, erklingt das letzte Wort. Nicht Anfang, sondern Ende, von seinem Anfang her gedacht. Der zweite Horizont betrifft den einzelnen Idioten, wie etwa den ersten chinesischen Kaiser Quin Shi Huang, der, um ewiges Leben zu erlangen, Quecksilberpastillen zu sich nahm und daran starb. Der zweite Horizont betrifft aber auch die ganz vielen Idioten: „Es ist schwer, Worte dafür zu finden,“ schreibt Noam Chomsky, „um die Tatsache zu beschreiben, dass Menschen mit der wichtigsten Frage ihrer Geschichte konfrontiert sind – ob nämlich organisiertes 81
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menschliches Leben in der heute bekannten Form überdauern wird – und sie damit zu beantworten, dass sie den Wettlauf in die Katastrophe beschleunigen.“ Warum das so ist, das wird eine genaue forensische Analyse oder eine „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (Fromm) verdeutlichen, aber vielleicht nicht ganz erklären. Günther Anders hat in den 1960ern von einer grundsätzlichen „Apokalypse-Blindheit“ der Menschheit gesprochen und damit die Konsequenzen des „herostratischen Bewusstseins“ beschrieben. Herostratos war ein antiker Saboteur, der durch Brandlegung am Tempel der Artemis zu Weltruhm gelangen wollte, schließlich aber der damnatio memoriae anheimfiel. In der ethischen Totalen erscheint die Tendenz menschlicher Selbst-Sabotage wie der mystische Sieg eines absurden Thanatos über Eros, der das Interesse mit dem Desinteresse kurzschaltet, ohne ein Motiv dafür zu haben. Ein gigantisches Warum zieht ein noch gigantischeres Darum hinter sich her. Negative Investment – Robert Musil hat einst die ihrem Untergang entgegenstrebende Donaumonarchie als Kakanien bezeichnet und damit den gefluteten Schotten vor den Toren Arkadiens einen Namen gegeben. Aus der Perspektive von George Batailles „Sonnenökonomie“ bedeutet Selbst-Sabotage, dass die überschüssige Energie, die jedes lebende Individuum erzeugt, in den Untergang dieses Lebens investiert wird. Der Untergang ist eine Unternehmung, die sich aus Sicht des einzelnen oder der vielen Idioten auszahlt. Gustav Metzgers Auto-destructive Art (1960) staunt ähnlich über „die Besessenheit mit der Zerstörung, den Schlägen, den Individuen und Massen ausgesetzt sind […] das Nebeneinander von Überschuss und Hunger; die zunehmende Bevorratung von Atomwaffen – mehr als genug, um technologische Gesellschaften zu zerstören; die desintegrierende Wirkung von Maschinen und des Lebens in weiten Teilen der Welt“. Und das gilt heute in gleichem Maße, wie es in der atombewussten Ära des Kalten Kriegs galt. Dieser zweite Horizont – vom Streit über die Havarie bis zur Apokalypse – bestimmt das Unerklärliche, Ärgerliche und Widerspenstige, das man heute im allgemeinen als idiotisch bezeichnet, ohne es medizinisch zu erklären. Die Heilsverkünder des ökonomischen Potenzials und des zivilisato82
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rischen Fortschritts – von Robert Shiller bis Steven Pinker – umschiffen die dystopische Liaison von Kapital, Korruption und Klima – die wohl verlässlichsten Anzeiger alles Kommenden. Trotz allen zivilisatorischen Fortschritts – weltweiter Rückgang der Kindersterblichkeit, der Epidemien, des Analphabetentums – scheinen an allen Ecken der Welt Quecksilberkonsumenten und Brandbeschleuniger zu lauern. Im Mittelalter erkannte man noch das Narrenschiff als Symbol des metaphysischen Weltentrotzes, nur hatte man damals mit dem Symbol des Fisches einen Christus als Steuermann, der einen in Richtung Seelenheil steuern konnte. Die Moderne hat Moby Dick oder den Weißen Hai als maritime Allegorien hervorgebracht. Dunkle Dialektik – Der zweite Horizont des Idioten sabotiert die grundsätzliche Erwartung an das gute und glückliche Leben: Ohne die idiotischen Dysfunktionen und was man sonst noch zum Sand im Getriebe des Daseins zählt, fiele vieles leichter: Die Welt wäre friedlich, Konflikte rational gelöst, Unfälle durch weise Voraussicht vermieden, Beziehungen wären ohne Streit, die Bürokratie human und effizient, der Staat freiwillig abgestorben, die Ökonomie gemeinschaftsdienlich, die Klassen klassenlos. Diese Wellness-Welt löst sich sofort in ihrem eigenen Wohlgefallen auf, denn haben nicht auch der reibungslose Ablauf und das erfüllte Ideal von sich aus etwas Idiotisches? Entspringt der intrigante Jago nicht notwendig Othellos Reich, das dieser ebenso besinnungslos wie zielstrebig in den Abgrund führt? Welche Kraft außer der Gravitation zieht uns noch nach unten? Ist der Intrigant nicht Teil eines vorab bezeichneten Ablaufs, einer kosmischen Familienaufstellung? Sind perfekte Harmonie, völlige Zufriedenheit und höchstes Glück in den Gärten Arkadiens nicht dem Untergang geweiht, weil sie nichts außer sich voraussetzen? Auch die „konkrete Utopie“ (Bloch) benötigt ihre Konkretionen, aber sind die Konkretionen des befreiten Gattungswesens nicht auch einer dunklen Dialektik unterworfen, die jenseits der Befreiung von Klasse und K apital weiterwirkt? „Was,“ so fragt Slavoj Žižek, „wenn wir die utopische Vorstellung vom Kommunismus verwerfen und zugeben, dass es auch im Kommunismus Spannungen und Widersprüche geben wird, nur 83
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S pannungen und Widersprüche einer anderen Dimension, die wir uns heute nicht einmal richtig vorstellen können?“ Wolfgang Pohrt fragt im Allerletzten Gefecht nach: „Wünschen wir sie uns wirklich, diese Gesellschaft ganz ohne Zwang?“ Und noch dunkler gefragt: Ist nicht schon die Langweiligkeit des Guten ein Antrieb fürs Böse? Der Grund, warum Bösewichte interessanter als Good Guys sind, ist nicht nur der Gesellschaft des Spektakels, sondern auch der ihnen innewohnenden Dramaturgie des Ereignisses geschuldet. Denn Bösewichte kommen einer Sache auf den Grund, ohne dass sie Interesse am Grund hätten. Ruft also nicht auch die perfekteste Zukunftsgesellschaft der von Ausbeutung befreiten Individuen nach einem Zustand jenseits ihres eigenen Glückes, nur um das Equilibrium einer noch unbekannten sozialen Mystik aufrechtzuerhalten? „Wo sind in dieser schönen neuen Welt die Nichtsnutze, die Faulenzer, Störenfriede, Außenseiter, Gauner und Querulanten geblieben?“ (Pohrt) Was bedeutet es, sich der dunklen Dialektik auszusetzen? Ist im zweiten Horizont nicht auch das gänzlich Unnötige auf perverse Weise nötig? Ist der Idiotypus des Selbst-Saboteurs darin nicht eine ganz und gar notwendige Erscheinung? Nicht etwa evolutorische Aberration, sondern idiotische Natur des Sozialen? Nicht jenseits, sondern diesseits von Gut und Böse und das gleichzeitig? Denn: Was bliebe vom Leben übrig, wenn genau das, was wir ersehnten, permanent einträte? Nicht einmal Langeweile. „Selbst wenn ich Zutreffendes dächte, wäre Zutreffendes an sich kein lohnendes Ziel“ (Strauß). Fernando Pessoa notiert im Buch der Unruhe: „Wenn ich aber die Könige des Traums besäße, was bliebe mir dann zu träumen übrig? Wenn ich die unmöglichen Landschaften besäße, was bliebe mir dann an Unmöglichem übrig?“ Man möchte den Reiz eines Widerstands spüren, auch wenn man vollzeitbeschäftigt ist wie z.B. Pessoas Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, der sich selbst ins Nichts stellt und sich darüber beschwert, dass er dort angekommen ist. „Hüte dich vor deinen Wünschen, denn sie könnten in Erfüllung gehen“, sagt das Sprichwort. Vielleicht ist die absurde Konfiguration des zweiten Horizonts überzeitlicher Ausdruck eines grundsätzlichen Ungleichgewichtes zwischen Erfüllung und Erwartung, eines, um mit Hegel zu sprechen „unglücklichen Bewusstseins“, das zwischen Weltver84
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lust und Weltgewinn herumirrt? Ein Teil der Energie des Strebens richtet sich gegen dieses Streben, damit man nicht über das ersehnte Ziel ins Offensichtliche hinausschießt. Denn das eigentliche Ziel liegt stets vor oder nach dem ersehnten Ziel. Auch die Erfüllung eines Zieles beheimatet Bedrohung. Unter dem Titel The Five Biggest Threats to Human Existence listete vor kurzem ein Zeitungsartikel fünf existenzielle Gefahren für die Menschheit auf: Nuklearkonflikte, Bioengineering, Superintelligence, Nanotechnologie, Unknown Unknowns. Das Glück aber blieb unerwähnt. Man benötigt mit Günther Anders nicht den Herostraten, um den zweiten Horizont des Idioten zu erkennen. Das herostratische Bewusstsein vergegenwärtigt sich auch im zukünftigen Weltfrieden, der sich der Bombe entledigt hat, um nach neuen Untergängen Ausschau zu halten. Erfüllter Widerspruch – Die Idiotie zweiter Ordnung bewegt einen Pfeil, der die Welt umrundet und den Bogenschützen niederstreckt. Dadurch macht sie etwas deutlich, was zwar ohne ihren Einsatz auch deutlich geworden wäre („die Welt ist rund“), aber eben nicht auf diese selbst-sabotierende – idiotische – Weise. Wie anders soll man den Fall der amerikanischen Studentenorganisation White Women Against Racism beschreiben, die eine Afroamerikanerin, welche in die Organisation eintreten wollte, mit der Begründung abwies, Weiße könnten nur untereinander diskutieren, warum sie so oft Schwarze ausgrenzten? Wenn „critical whiteness“ im Akt der Ausgrenzung kulminiert, kommt sie selbstreferentiellen Apparaturen wie etwa der Useless Machine gleich, einen 1952 von Marvin Minsky konzipierten und von seinem Lehrer Claude Shannon entwickelten Apparat, der sich selbst ausschaltet, sobald er eingeschaltet wird. Der Apparat – den man parallel als ideologischen Apparat lesen kann – ist idiotypisch: Er funktioniert dadurch, dass er sich gegen seine einzige Funktion wendet. Die Idiotenmaschine zweiter Ordnung vermittelt ein kybernetisches Nichts, eine praktische Tautologie, denn sie funktioniert immer, auch wenn sie nicht funktioniert – und umgekehrt. Performative Widersprüche erfüllen sich überall am zweiten Horizont. Vor ein paar Jahren haben Kämpfer der im syrischen Bürgerkrieg verwickelten 85
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l-Nusra Front auf sich aufmerksam gemacht, als sie 40 UN-Soldaten A entführten und damit eine ihrer Hauptforderungen durchsetzen wollten: dass sie von der Terrorliste der Vereinten Nationen gestrichen werden. Selbstverständlich – Pierre Bourdieu hat in seinem Band über das Fernsehen das Verhältnis von Programmmachern zur öffentlichen Wahrnehmung ebenfalls als rekursiv beschrieben: „Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Programmdirektor, der sich seiner Sache völlig sicher war. Ich fragte ihn: ‚Warum platzieren Sie [eine Meldung] an erster und jene an zweiter Stelle?‘ Er antwortete: ‚Das versteht sich von selbst‘“. Das, was sich von selbst versteht, wird von Leuten verstanden, die in Positionen sind, weil sie die objektiven Kriterien der Selbstverständlichkeit selbstverständlich finden. Bourdieu nennt das die „zirkuläre Zirkulation der Nachricht“. Das System Programmdirektor + Nachricht wird zum Selbstzweck, und deshalb ist ein Nachrichtenchef genauso unverrückbar wie die Hauptmeldung des Tages, die alle Sender untereinander teilen. Und deshalb ist ja einer Direktor, weil alle Nicht-Direktoren um ihn herum es selbstverständlich finden, dass er einer ist. Wenn ein Nicht-Direktor auf die Idee käme, Direktor zu werden, müsste er anderen Nicht-Direktoren neue Kriterien der Selbstverständlichkeit beibringen. Heute sorgen Unternehmensberater dafür, eine Selbstverständlichkeit in eine andere überzuführen (Change Management). Es geht dabei um soziale Metaphysik. Denn der tautologische Kern auch jeder Heilserwartung besteht darin, dass das Gute objektiv wird, egal, was man tut und wie man es tut. Die objektiven Umstände orientieren sich an der Interpretation der Selbstverständlichkeit, und für jeden pathologischen Fall muss die entsprechende Gesundung entworfen werden. Nietzsche verweist auf die tautologische Bestimmung des moralischen Urteils, wenn er schreibt, dass man den gesunden Zustand kennen müsse, um den krankhaften zu erkennen, „aber Gesundheit selber ist eine Vorstellung, die nach dem Vorhandenen sich in uns erzeugt“. In psychologischem Neusprech geht es um den Confirmation Bias: Was selbstverständlich ist, wird gut. Und deshalb überdauern Programmdirektoren Regierungen, zumindest diejenigen, die nicht selbstverständlich sind. 86
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Pedanterie & Kunst – Der Selbst-Saboteur ist dort kontraproduktiv, wo er effektiv, und produktiv, wo er ineffektiv sein soll. Hierzu zwei Beispiele, ein Polizeifall und ein Kunstfall. Polizeifall: Ein einarmiger Mann gerät mit seinem Fahrrad in eine Polizeikontrolle. Die Beamten beanstanden, dass er nur eine Handbremse am Fahrrad habe. Die Anzahl der Handbremsen, insistieren sie, sei unabhängig von der Anzahl der sie bedienenden Arme. Der Mann muss eine Geldbuße entrichten. Er schreibt daraufhin einen Beschwerdebrief. Der Fall wird publik, es kommt zur Entschuldigung einer Polizeisprecherin und der Rücknahme des Bußgeldbescheids. Kunstfall: Anstatt den Eingang zu benutzen, lässt ein Künstler in einer mehrstündigen Prozedur die Schaufensterscheibe eines Hamburger Kaufhauses herauslösen, um von der Straße aus in den Schaufensterraum zu steigen und einen benutzten Eisstiel abzulegen. Die Scheibe wird wieder eingesetzt und der nun zentral im Schaufenster platzierte Eisstiel als künstlerische Skulptur ausgestellt. Nach Protesten des Publikums wird die Arbeit entfernt. Was haben beide Fälle gemeinsam? Es geht um pedantische Sanktionen: Der erste Fall beschreibt eine Beamtenfarce, einen Ordnungs fetischismus, dessen zweiarmige Logik sich unbarmherzig über die einarmige Logik des Radfahrers legt. Der zweite Fall, der Kunstfall, beschreibt ein Gesellschaftsexperiment. Denn in Erwartung von Kunst und nichts anderem als Kunst – Kunst, die aussieht wie Kunst – und der Konfrontation mit einem banalen Eisstiel empört sich das Kunstpublikum und bestraft die künstlerische Installation für ihren Kunststatus – wie eben Polizeibeamte einen einarmigen Radfahrer für seine Einarmigkeit bestrafen. Man kommt nicht auf die Idee, dass Kunst weniger als Nicht-Kunst oder dass zwei Arme weniger als ein Arm sein können. Gleich den Polizisten erwartet das P ublikum mehr, als notwendig ist. Die künstlerische Arbeit ist dahingehend eine useless machine, eine Apparatur zur Erzeugung von Idioten. Die Arbeit wird ‚eingeschaltet‘, damit sie vom Publikum ‚ausgeschaltet‘ wird, womit sich die Kunst einschaltet, wodurch sich ihr tautologischer Sinn entlarvt. Denn Kunst ist immer wahr, und das Publikum hat immer recht. Alle gehen unzufrieden nach Hause.
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Kälteidiotie – Vielleicht beschreibt der medizinische Ausdruck der Kälteidiotie das Phänomen der Selbst-Sabotage am treffendsten: Es geht um das Phänomen, dass erfrierende Menschen ihre Kleider ausziehen und dadurch noch schneller erfrieren. Manche Erfrorene werden nackt vorgefunden, was manchmal den Anschein einer Gewalttat hat. Erklärungen sind rar: Die stockende Blutzirkulation führt wohl zu einer subjektiv empfundenen Hitzeempfindung, die den Erfrierenden seine Lage verkennen lässt und ihn ‚idiotisch‘ handeln lässt. Man kann das als evolutionsbedingten Mechanismus interpretieren, der den unausweichlichen Tod beschleunigen soll. Aber ab wann ist ein Tod unausweichlich? Wie in einigen Fällen festgestellt wurde, verkriechen sich die Opfer im Endstadium unter Vorsprünge oder Bänke, verharren dort und sterben in einer kauernden Haltung. Niemand weiß, warum sie das tun. Wärmeidiotie – Die Idiotie waltet nicht nur im einzelnen Organismus, sondern bestimmt auch den Korpus der politischen Ökonomie. Sie deckt sich mit den inneren Widersprüchen der modernen Industriegesellschaft. Karl Marx betont die rationale Grundstruktur dieser Selbst- Sabotage, wenn er den „Idiotismus der Bürgerwelt“ beschreibt: „Daß ein Ding seine eigne Ursache schließlich zerstören kann, ist nur für den in den hohen Zinsfuß verliebten Wucherer eine logische Absurdität. Die Größe der Römer war die Ursache ihrer Eroberungen, und ihre Eroberungen zerstörten ihre Größe. Reichtum ist die Ursache von Luxus, und Luxus wirkt zerstörend auf den Reichtum. […] Der Idiotismus der jetzigen Bürgerwelt kann nicht besser gezeichnet werden als durch den Respekt, den die ‚Logik‘ des Millionärs […] ganz England einflößte.“ Der Zinswucherer ist dabei der verlängerte Arm des bürgerlichen Unbewussten, der Avantgardist des Kapitals, der durch sein Tun die Sehnsüchte der Bourgeoisie abbildet – und diese ziehen sich ungebrochen durchs 20. Jahrhundert. Im Jahre 2000 titelte etwa die Bild-Zeitung zur New Economy und kurz vor der Dot-Com-Krise: „Jetzt werden wir alle Millionäre!“ Diese immergrüne „Logik des Millionärs“, die inzwischen inflationsbedingt von einer Logik des Milliardärs überlagert wird, wendet sich dialektisch gegen sich selbst und „produziert vor allem ihren e igenen 88
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otengräber“ (Marx). Keynesianer übersetzen diese Selbst-Sabotage T heute als Ineffizienz der Märkte. Robert Shiller verweist in seinem Bestseller Irrational Exuberance auf den bizarren Optimismus, mit dem sich Marktteilnehmer Risikos aussetzen und ihren Untergang in Siegerpose herbeiführen. Auch die Blase der New Economy um die Jahrhundertwende und die globale Finanzkrise von 2007 sind aus Shillers Perspektive eine Folge des irrationalen Überschwanges, worin sich das hypertrophe Bewusstsein der globalen Märkte offenbart. Unzählige Fotos von Bürofrauen und -männern mit emporgestreckten Armen kursieren als Erfolgssymbole im Weltnetz. Alles zeigt nach oben: Pfeile, Blicke, Arme, Bilanzen. Es ist das semiotische Pendant der Erfrierenden – eine Art ‚Wärmeidiotie‘. Der Erfolg im Endstadium blendet alle Inkompetenz aus. Nietzsche notiert: „Kein Sieger glaubt an den Zufall“. Und die M ittagssonne wirft keine Schatten. Think Big – Die Belletristik lebt schon lange von derlei Budenzauber, wenn sie der Eitelkeit der Leser wörtliche Aufputschmittel verpasst, wie z.B. in Paolo Coelhos Ratgeberprosa: „Wenn man etwas ganz fest will, dann wird das ganze Universum darauf hinwirken, dass du es erreichen kannst“ (Der Alchimist). Verwandte Rezepte schlummern fernab der Krankenversicherung auch in der Unternehmerliteratur: Man denke etwa ans Think Big Manifesto von Michael Port und vergleichbaren Karriere-Evangelisten. Nach den Verkaufszahlen all dieser Bücher zu urteilen, finden sich weltweit Unmengen gutgläubiger Idioten, die sich dieser Weisheiten annehmen und damit nur das spiegeln, was reflexionslos als Grundstimmung in ihnen vorliegt. Probleme haben ja nur diejenigen, denen ihr positives Denken um die Ohren fliegt. Wie eine Droge muss man sich immer mehr des Positiven zuführen, das sich dann positiv ins Negative verkehrt. „Positive Leadership“-Seminare halten so die Wirtschaftseliten auf Trab und bei Kasse. „Think success, and you’ll have success“ (Norman Peale) oder „Smile or die“ (Barbara Ehrenreich) sind dabei typische Algorithmen des liberalen Endorphinismus. Zugleich ist jedoch zu bedenken, dass derlei Ignoranz-Heuristik, wie etwa die Gigerenzer-Schule der Verhaltens- und Kognitionspsychologie gezeigt hat, 89
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durchaus zu positiven Entscheidungen führen kann. Gerade weil manchmal etwas totaler Nonsens ist, ist es wirksam. Ökonomie des Todes – Auf Endorphinebene werden Produktion und Destruktion, Krieg und Ökonomie deckungsgleich und zum Spiel der Selbst-Sabotage. So lässt sich der Ausruf Atatürks während der Schlacht von Gallipoli „Ich befehle euch zu sterben!“ idiotisch rückübersetzen zu: „Kauft das!“ Für die Gefühlsökonomie des Einzelnen sind Krieg und Frieden Aspekte ein und desselben Antriebs. Das Sterben um des Sterbens willen ist vor diesem Horizont wie ein Kaufen um des Kaufens w illen. Endzweck wird Selbstzweck – Konsumslogans klingen seit jeher nach Durchhalteparolen („Solange der Vorrat reicht!“). Die Apokalypse ist vor dem zweiten Horizont betrachtet stets trivial und alltäglich: Wenn niemand etwas kauft, gehen alle zugrunde, und wenn alle nur kaufen, dann gehen auch alle zugrunde. Wenn alle zur Bank gehen und ihr Erspartes abheben, bricht die Wirtschaft zusammen (Bank Run). Alle gehen zugrunde, wenn alle das Gleiche machen, und alle gehen zugrunde, wenn alle das Gleiche nicht machen. Die Frage ist, was, wie und wann. Das Rumoren des Endes ist aus der Perspektive des zweiten Horizontes in den Glücksverheißungen der Gegenwart aufgehoben. Lüftet man das allen offensichtliche Geheimnis, zeigt es „den toten Menschen, von der blanken Ökonomie in Staub verwandelt, von jener Ökonomie, die, arm an Welt, mit Körpern und dem Leben Handel treibt“ (Achille Mbembe). Jacques Camatte hat die Diagnose in den 1970er Jahren auf eine nekro-ökonomische Formel gebracht: „Die kapitalistische Gesellschaft ist ein Tod, der mit allen Anzeichen des Lebens ausgestattet ist. […] Der Mensch ist tot und nichts anderes als ein Ritual des Kapitals“. Das hat – ungefähr zur gleichen Zeit – Marlon Brando am Set von Apokalypse Now improvisiert. Das „Grauen“, von dem sein General Kurtz immer wieder murmelt, ist etwas, dessen Symptom er selbst ist. Deshalb sehnt Kurtz seine rituelle Tötung herbei, möchte die Produktionsbedingungen mit sich in den Abgrund reißen und den Kreislauf von Ökonomie und Tod beenden. Heutige Zukunftsentwürfe, ob mit ökologischem, ethischem oder technologischem Schwerpunkt, entwerfen sich entspre90
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chend auf eine Ökonomie des Lebens hin, mit der primären Aufgabe, wie Achille Mbembe schreibt, „Lebensreserven“ anzulegen. Opposition – Während sich das Neutrum Roland Barthes’ dem binären (Kriegs-)Paradigma verweigert, entspricht die Idiotie zweiter Ordnung einem herostratischen Aufplustern des Geltungsbewusstseins, bis die Binarität der Begriffe ad absurdum geführt wird. In dieser Hinsicht sind der totale Krieg und die totale Ökonomie eben kein Krieg und keine Ökonomie mehr, weil sich deren Zwecke gegen sich selbst wenden. Der übersättigte Sinn ist kein Sinn, und der überwältigende Sieg ist kein Sieg mehr. Darin besteht die semiotische Selbst-Sabotage des Idiotypus. In vielen Hollywoodklassikern endet der anfangs interessengeleitete Bösewicht am Ende als größenwahnsinniger Irrer, dessen ‚Plan‘ darin besteht, die Erde zu vernichten, um sie danach unter Kontrolle zu bringen. Je mächtiger James Bonds Widersacher erscheinen, desto unsinniger sind sie. Also müssen die Bösewichte gegen Ende des Films ihre abstrusen Machtphantasien erklären – der Schritt vom evil genius zum geisteskranken Freak –, wobei die Schauspieler den Wahnsinn ihrer Figur oftmals stark übertreiben, zur Kreatur werden, um dem Zuschauer eine moralische Rechtfertigung für die anstehende Exekution durch den Filmhelden zu liefern. Einen von unten angeleuchteten Größenwahnsinnigen, der mit verzogener Fratze am Steuerpult der Weltzerstörung sitzt, gesteht man keine Humanität zu. Er landet nicht im Sanatorium, sondern explodiert wie Dr. No in seiner Wundermaschine. Ein dünner Faden – Fassen wir zusammen: Der Idiot steht im Lichte der Öffentlichkeit, in seinem ersten Horizont als Geheimnis des Anfangs, der Kunst, als kindlicher Wahnsinn, als schwejksche Immanenzexekutive und in seinem zweiten Horizont als Symptom des inneren Widerspruchs, blinder Zerstörung oder metaphysischer Orientierungslosigkeit, die sich im Bild des kenternden Narrenschiffs wiederfindet. Man könnte diese beiden Horizonte analytisch auseinanderhalten, aber die Erfahrung zeigt, dass sie ineinander übergehen, sich überlagern oder fluktuieren: „Und doch eint ein dünner Faden die zwei Idioten, so als 91
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müsste der erste notwendig den Verstand verlieren, damit der zweite das wiederfindet, was der andere vorweg verloren hatte, als er ihn gewann“ (Deleuze & Guattari). Das Verhältnis ist komplexer, als das Bild des Fadens vermuten lässt. Der Idiot verknüpft Gesellschaft, Gedanke und Geschichte auf die gleiche Weise, wie er sie auflöst.
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NIEDERSTE ZUSAMMENFÜGUNG
„Das Wichtigste, meine Herren, ist, möglichst wenig zu denken!“ Anton Tschechow, Ein Glücklicher
Parallelaktion – Robert Musil schreibt im Mann ohne Eigenschaften, „daß Idioten in der schlichten Dinglichkeit ihres Denkens etwas besitzen, das nach der Erfahrung aller Beobachter in geheimnisvoller Weise das Gemüt anspricht; und daß Dichter auch vornehmlich das Gemüt ansprechen, ja sogar auf eine soweit gleiche Weise, als sie sich durch eine möglichst handgreifliche Geistesart auszeichnen sollen. Wenn Friedel Feuermaul also [Regierungsrat] Meseritscher als Dichter ansprach, hätte er ihn ebensogut, das heißt, aus den gleichen Empfindungen, die ihm dunkel, und das hieß bei ihm wieder in einer plötzlichen Erleuchtung, vorschwebten, auch als einen Idioten ansprechen können, und zwar auf eine auch für die Menschheit bedeutsame Weise.“ Da ist also von einer untersten Figur, einem Idioten, die Rede, und im selben Atemzug tritt die Menschheit ins Licht. Eine Klammer macht sich auf, die den gemeinsamen Grund von Dichtern und Idioten bestimmt. Worin besteht nun dieses Gemeinsame? Musil: „[D]as Gemeinsame, um das es sich da handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitumspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung […]; und es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet, ja es läßt sich das gar nicht vermeiden, wenn man die Geschehnisse, die sich in ihr abspielen, aus dem Ganzen verstehen will.“ Das Ganze zu verstehen bedeutet, den Idioten als Parallelaktion von Kunst und Gesellschaft zu verstehen. Seit Platon herrscht ein Grundmisstrauen 93
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des Denkens gegenüber der gedankenlosen Masse. Platon denkt von der Warte der höchsten Zusammenfügung: nicht der der idiotes oder der demos, sondern die Kaste der Philosophenkönige soll an die Zügel der Macht. Musil scheint uns dagegen zu vermitteln, dass man dieses Ressentiment des Denkers nicht verallgemeinern sollte, denn je deutlicher sich dieser von der Masse isoliert, um sie qua Begriff zu dominieren, umso abstrakter und unheimlicher erscheint sie ihm. Irgendwann kippt der intellektuelle Stolz mitten in die Herde derer, derer er sich enthoben wähnt. Wer ohne Risiko dichtet, sagt nichts, was nicht schon gesagt worden wäre. Zugleich kann die Distanz zur Masse in jedem Moment kollabieren, und bei Musil ist das sogar die Voraussetzung des Dichtens. „Das Verbundensein wiedererstarkt in der Absonderung“, schreibt Botho Strauß. „Niederste Zusammenfügung“ heißt: unten ansetzen, wenn man die Verwandtschaft der Dinge und Wesen verstehen möchte. „Ein Idiot, der sich bewegt, ist wichtiger als zehn Intellektuelle, die dasitzen und reden“, heißt es bei Jean Cocteau. Wenn Musil von Imbezillität spricht, dann geht es um die Grundfesten der Welt, die vom Schleier der Komplexität befreit wurden, auf die gewöhnliche Idioten (Trottel) und ungewöhnliche Idioten (Dichter) in gleicher Weise Zugriff haben. So ist denn auch Cusanus’ Holzlöffelschnitzer nicht nur der intelligente Nerd, sondern auch Mitglied der dumpfen Pilgergemeinde, die blindlings einem Ziel folgt, das obendrein von der kirchlichen Autorität gebilligt ist. Und sie würde diesem Ziel auch dann folgen, wenn es ihr Untergang wäre. Die Klammer – Musils niederste Zusammenfügung verweist auf die Ubiquität des Idiotiebegriffes, die auch Clément Rosset immer wieder betont: „Man muss das Wort in all seinen Bedeutungen wahrnehmen: dumm, grundlos, wie die Unendlichkeit des Möglichen, aber auch einfach, einzigartig, wie die Totalität des Realen selbst.“ Die „Unendlichkeit des Möglichen“ und die „Totalität des Realen“ sind nach Rosset idiotisch, weil sie nichts außer sich voraussetzen. Es ist schwierig, mit dem Idiotiebegriff eine epistemologische Klammer um zwei Unendlichkeiten zu setzen: zum einen die Transzendenz aller Möglichkeitsformen (der Raum der Möglichkeiten überschreitet den Wirklichkeitsraum) und zum an94
Niederste Zusammenfügung
deren die Immanenz des Realen (das Konkrete expandiert nach ‚Innen‘, die Totalität aller Erfahrung ist komplett, aber nicht statisch, daher unbestimmt). Dennoch ist das Vorgehen wichtig, um die ontologische Relevanz des Idioten zu unterstreichen, die jenseits von Metapher, Klinik und Kunst greift, auch wenn sie in diesen Sphären thematisiert wird. Wie Dürrenmatt einmal anmerkte, kann nichts aus der Realität fallen. Ja, aber man muss vorher die Klammer auftun, die alles auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung zusammenbringt. Der Idiot der Familie – Vielleicht wie kein anderer Literat steht Gustave Flaubert, vor allem als Autor des Wörterbuchs der Gemeinplätze, für die Fähigkeit der niedersten Zusammenfügung. Vom in seiner Jugend zurückgebliebenen Naivling Gustave, den Jean-Paul Sartre als „Idioten der Familie“ auszeichnet, werden Anekdoten erzählt, wie sie zeitgenössische Nervenärzte von ihren Patienten erzählen: Gustave nimmt Ausdrücke wörtlich und versteht Metaebenen nicht, er „glaubt in der Tat alles, was man ihm sagt – aus Ehrfurcht vor dem verbalen Objekt“ (Sartre), er hat „ein schlechtes Verhältnis zu den Wörtern“, ist unfähig, sich adäquat auszudrücken, Dialoge beruhen für ihn nicht auf Reziprozität, sondern aus abwechselnden Monologen, er akzeptiert nur Gefühle als eigene, sofern sie durch Autoritäten gespiegelt und erlaubt werden, überhaupt kann er Passionen nur „nackt“ ausdrücken, ohne anders auf sein Umfeld wirken zu können. Seine Gestik entspricht nicht seinen Empfindungen, er kann keine eigenen Entscheidungen treffen, ist mit sieben Jahren noch Analphabet, „dumm und zurückgeblieben“, „entfremdet von seiner eigenen Stimme“ (Sartre). Und so weiter. Das alles versetzt Flaubert nach Sartre in die Lage, die Dinge auf der niederen Ebene ihres Geschehens zu erfassen. Und die Sprache erscheint ihm dafür sowohl als das erstbeste Werkzeug wie auch als Symptom seines Idiotentums. Flaubert verwechselt „Zeichen und Bedeutung dergestalt, daß ihm die materielle Präsenz des Zeichens den Beweis für die Wahrheit der Bedeutung garantiert“ (Sartre), und er betrachtet die Sprache als „autonome Ordnung“, als l’art pour l’art des Rachenraums. Aus dieser Konstellation entstehen der moderne, ‚selbstlose‘ Roman, der die Abwesenheit des Autors mit seinem 95
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Realismus begründet, und der bedeutendste französische Romancier des 19. Jahrhunderts, ein „Märtyrer des Stils“ (Walter Pater). Es ist nicht so, dass hier ein Idiot zum Genie wird, sondern es ist eher so, dass der äußere Idiot den inneren Idioten „hervorholt“ und dieses Hervorholen vom intellektuellen Umfeld als künstlerische Leistung erkannt und akzeptiert wird. Denn aus Sicht des Idioten ist das Schreiben eine zwanghafte Leistung, eine neurotische Praxis, für die es keine Alternative oder Erklärung gibt. Thompsonisierung – Aber da ist noch das andere, das sich mit einem Wort ausdrückt. Noch unter dem Eindruck des Krieges und der Ereignisse um die Pariser Kommune stehend, schreibt Flaubert 1871 in einem Brief an Georges Sand: „Die Masse […] ist immer idiotisch“, denn sie sei bloße Quantität, welche die Qualitäten des Einzelnen im Kollektiv der Namenlosen aufhebe. So tönt Flaubert der Bourgeois. Gustave der Idiot hatte aber längst erkannt, dass diese Idiotie der Masse auf den Schriftsteller abfärbt, dass er die Anzeichen der Verbundenheit mit der Absonderung kultiviert. Der Schriftsteller ist zwar ein Subjekt, das sich selbst ins Abseits, fernab der Massen, stellt. „Dennoch führt genau die Andersartigkeit des ‚kreative[n] Außenseiters‘ zu einer latenten Attraktion. Die Masse hält seine Rätselhaftigkeit für verehrungswürdig, sodass keinesfalls von einer pathologischen Außenseiterposition gesprochen werden kann“ (Bernhard Winkler). Die latente Attraktion findet aber auch in der Faszination des Dichters durch die Masse eine neue Nuance. 1850 berichtet Flaubert während seiner Ägyptenreise vom Vandalismus eines reichen Geschäftsmannes: „In Alexandria hat ein gewisser Thompson aus Sunderland seinen Namen in sechs Fuß hohen Lettern auf die P ompejussäule geschrieben. Das läßt sich auf eine Viertelmeile Entfernung lesen. Es ist unmöglich, die Säule zu sehen, ohne den Namen T hompson zu sehen und ohne also an Thompson zu denken. Dieser Kretin hat sich dem Monument einverleibt und verewigt es mit sich. Was sage ich? Er zermalmt es durch die Pracht seiner riesenhaften Lettern. Ist es nicht stark, wenn man die zukünftigen Reisenden zwingt, an einen zu denken und sich seiner zu erinnern?“ Der junge Flaubert ist fasziniert 96
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von der Dreistigkeit, mit der sich der Geschäftsmann deutlicher aus der Masse hervorhebt, als es ein Literat womöglich je könnte. Thompson ist ein Allerweltsname, aber mit seiner Tat sind alle anderen, die ihren Namen nicht auf die Säule brachten, zur ‚idiotischen‘ Masse geworden. Es geht bei Flauberts Faszination durch die Masse um die Dreistigkeit des angehenden Massenmenschen, die wenige Jahrzehnte später Zeitgenossen wie Ortega y Gasset, Gustave le Bon oder Elias Canetti theoretisch stimulieren wird. Diese Dreistigkeit beeindruckt Flaubert, der „sich vom Anfang bis zum Ende seines Lebens für einen unwesentlichen Zufall“ (Sartre) hält. Erklärt die von Sartre immer wieder festgestellte „aktive Passivität“ Flauberts nicht auch die Faszination des Schriftstellers durch den Kretin, der es vermag, eine derartige ‚pornographische‘ Wirkung zu erzielen? Aus gehöriger Entfernung und nicht nur aus Buchnähe wahrgenommen zu werden? Flaubert beginnt noch im selben Jahr die Arbeiten an Madame Bovary. Der Roman wird jene Entrüstung erfahren, die im Autor schlummert, als er mit dieser verschandelten Säule konfrontiert wird. Flaubert agiert auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung, und da taucht vor ihm ein Thompson ebenso plötzlich auf, wie seine epileptischen Anfälle einsetzen. Auf derselben Ereignisebene interveniert der in den Wahnsinn fallende Nietzsche in Raskolnikovs Traumszene, in der ein Gaul von einem Kutscher malträtiert wird. Es gehört wohl zu den Synchronizitäten der Weltliteratur, dass sich Nietzsche 1889 mit diesem dostojewskischen Reenactment aus dem Wachstadium in den idios kosmos verabschiedet. Nur wenige Jahre später entsteigt demselben Kosmos eine wegweisende Figur der Moderne, welche die Thompsonisierung zur Kunstform erhebt. Aktive Einfachheit – George Bataille schreibt 1936 in der ersten Ausgabe des Acéphale-Magazins: „Die Zeit der Vernunft und Kultur ist vorbei“. Man kann den Zeitpunkt, ab dem sich Vernunft und Kultur verabschiedeten, präzisieren: Es war der Abend des 9. Dezember 1896 im Pariser Théâtre de l'Œuvre, als ein Männchen in Rübenform auf die Bühne stolperte und „Merdre“ ausrief. Alfred Jarrys Jugendposse Père Ubu, die den Aufstieg des absurden Königs erzählt, erblickte das Licht der Welt. In 97
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der Welt angekommen, enthirnte Ubu alle Welt und legte die Ebene der niedersten Zusammenfügung frei, die William Butler Yeats, der der Uraufführung Ubus beigewohnt hatte, als Aufstieg des „Barbarengottes“ umschrieb. Es ist nicht schwierig, diesen Aufstieg im 20. Jahrhundert nachzuverfolgen. „Seit 1896 haben Barbarengötter die komplette Zerstörung der Welt, die Yeats kannte, herbeigeführt, eine Zerstörung, die umfangreicher und eine Million Mal schrecklicher als Ubus Albträume gewesen ist“ (Claude Schumacher). Die Geschichte der niedersten Zusammenfügung ist die Geschichte der Avantgarden, und diese ist die Geschichte der gesellschaftlichen Umwälzung. In Ubu findet sie ihre erste moderne Erfüllung. In der Dada-Bewegung folgt die zweite: „Was uns fehlt, was uns interessiert, was selten ist, weil er die Anomalien des kostbaren Wesens, die Frische und Freiheit der großen Antimenschen hat, ist | DER IDIOT“, schrieb Tristan Tzara. Es ging den Dadaisten in der Nachfolge Ubus um die Wiedergeburt des Idioten aus dem Geist einer inkohärenten Gesellschaft. „Uns wird oft gesagt, dass wir inkohärent sind, […]. Alles ist inkohärent. Der Herr, der sich entscheidet, ein Bad zu nehmen, aber stattdessen ins Kino geht. Derjenige, der schweigen möchte, aber Dinge sagt, die ihm noch nicht einmal in den Sinn gekommen sind. […] Es gibt keine Logik. Nur relative Notwendigkeiten […]. Die Handlungen des Lebens haben keinen Anfang und kein Ende. Alles geschieht auf völlig idiotische Weise“ (Tzara). Im Dada-Manifest von 1918 ist alles Geschehen daher auf die niederste Zusammenfügung geeicht, welche die große Nullmetapher des Erlösers einfordert. Daher arbeitet Dada „mit aller Macht an der universellen Installation des Idioten“ (Tzara). Die Idioteninstallation ist nicht als diskrete Praxis zu denken, sondern entwirft eine sich darin abspielende Dialektik des Idioten immer wieder von Neuem. Das D ada-Manifest von 1918 umreißt den gesellschaftlichen Kunsterlöser Dada als Synthese zweier Horizonte: These: „Die Liebe zum Neuen ist sympathisches Kreuz, Beweis einer naiven Wurschtigkeit, vorübergehendes positives Zeichen.“ (Erster Horizont des Idioten) 98
Niederste Zusammenfügung
Antithese: „Ich sage euch: es gibt keinen Anfang, und wir zittern nicht, wir sind nicht sentimental. Wir zerreißen, wütender Wind, die Wäsche der Wolken und der Gebete und bereiten das große Schauspiel des Unterganges vor, den Brand, die Zersetzung.“ (Zweiter Horizont des Idioten) Synthese: „Die aktive Einfachheit.“ (Niederste Zusammenfügung = Dada) Die Vorgabe der aktiven Einfachheit ist bis in die zeitgenössische Kunstproduktion nachzuverfolgen, etwa bis zu Fischli & Weiss und ihren Handlungsanleitungen, an deren Ende die prosaische Aufforderung steht, zu lächeln. Alfred Jarrys pataphysische Praxis der Enthirnung ermahnt uns jedoch zur Janusköpfigkeit: Der Blick ins Neue und Totale ist zugleich der Blick des untergehenden Menschen. Aber zugleich gilt, dass zu keinem Zeitpunkt der Welt alles verloren ist, und zwar aus dem Grund, weil es dieses ‚alles‘ gar nicht gibt. ‚Alles‘ ist der Fluss, in dem alles ist. Situation – Auch die dérives, détournements und „konstruierten Situationen“ der Situationisten bilden in der Nachfolge der Dadaisten fließende Versuche der niedersten Zusammenfügung, bevor es Kunstschilder dafür gibt: Guy Debord, Gilles Ivain und Gaetan Langlais – alle um die 20 – begeben sich in der Silvesternacht 1953 auf eine Kneipentour, während der sie randalieren und Barbesucher provozieren, bis Debord schließlich „sturzbesoffen“, wie es heißt, die Aktion abbrechen muss. Am lautesten kann man nur schreiben. Die strategische Orientierungslosigkeit der Situationisten, „eine paradoxe Mischung aus der Konkretheit eines politischen Manifestes und einer poetischen Flüchtigkeit“ (Tom McDonough), bildet das zentrale Paradox ihres „nihilistischen Romantizismus“ (Claire Bishop): dass nämlich „die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst unzertrennliche Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind“ (Debord). Ihrer dreifachen Intensität (künstlerische Avantgarde, Alltagsexperiment, Sozialrevolution) geht es darum, die Gesellschaft des Spektakels auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung zu überwinden, ohne dabei die Form des rationalen Arguments einzunehmen. Das détournement meint etwas wesentlich Primitives, eine 99
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i rrationale Subversion, deren politische Enden nicht immer deutlich werden. Hierfür steht die „konstruierte Situation“, die auf Henri Lefebvres „Theorie des Momentes“ zurückgeht: Das Schaffen einer Praxis, die kollektiv organisiert in einem „Spiel der Ereignisse“ (Bishop) mündet: „Wir reproduzieren uns selbst und nicht die Dinge, die uns versklaven“. Wie Raoul Vaneigem in seinem Traité (1967) schildert schafft jeder Akt des (Schaffens-)Rausches die Möglichkeit des „intuitively ‚radical‘ proletariat engaged in spontaneous activity“ (David Jacobs), die Potenz eines Menschen, der neben sich steht, „weil seine Trunkenheit eine dauernde ist, und deshalb auch die daraus sich für ihn ergebende weitsichtige Verfassung keine Unterbrechungen kennt; keine einzige ‚nüchterne‘ Phase kann seine Abgestumpftheit stören“ (Rosset). Dieser Zustand entspricht nach Vaneigem dem Ethos, das unter der Ägide einer „Neuen Unschuld“ stand: „[Revolutionäre] Taktik lässt sich nicht von hedonistischen Überlegungen trennen …Wir haben eine Welt voller Vergnügungen zu gewinnen und nichts als Langeweile zu verlieren“. Idiotie der Gesundheit – Der Diskurs des Idioten, der niedersten Zusammenfügung, der aktiven Einfachheit, der konstruierten Situation usw. handelt vom Versuch, die Immanenzebene der Dinge und Wesen in ihrer paradoxen Wechselwirkung mit repräsentativen Zeichen darzustellen – daher z.B. die Frage, ob ein Akt Kunst ist oder nicht. Denn die niederste Ebene der Konsistenz, die Deleuze & Guattari „Planomenon“ nennen, generiert Intensitäten, die nicht repräsentierbar sind, keine Substanz haben und nur im Vollzug der ‚reinen Tat‘ bestehen. In T hompsons Tat ist das Prinzip der Vielen auf den Einen übertragen. So drängt der Name auf das Gebäude, so drängt die Botschaft auf die Steintafel, so drängt die Imagination in das Buch, und so drängt die Marke auf den Markt. Zeichen zu setzen: Das Selbst-Branding gilt heute gleichermaßen für Entrepreneure, Künstler, Politiker wie für Touristen, die sich auf antiken Monumenten verewigen – „You’ve got to put your name on stuff or no one remembers you“, so Donald Trump über George Washingtons Versäumnis, seinen historischen Markennamen nicht effektiver verwertet zu haben. Idioten diesseits und jenseits des Kunstbetriebs sind wie menschliche Formeln, 100
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und sie funktionieren bestens. „Sie sind so zahlreich“, schreibt Flaubert, „sie sind so glücklich, sie kommen so oft wieder, sie haben eine so vortreffliche Gesundheit!“ Wenn, wie Elias Canetti behauptet, die Paranoia eine Krankheit der Macht ist, dann beschreibt die Idiotie die Pathologie ihrer Gesundheit. Neue Täter – Die Ebene der niedersten Zusammenfügung wird im 20. Jahrhundert zum Schauplatz der Gesellschaftsdebatten, die das Unterschwellige mit kulturellen, sozialen oder politischen Organisationsprinzipien einzufangen versuchen. Um die sich darin offenbarende Thompsonisierung der Welt zu beschreiben, hat etwa Bazon Brock den Begriff vom Tätertypen geprägt, der die Durchsetzung seiner Vorstellungen um jeden Preis als existenziellen Antrieb nutzt – ohne Rücksicht auf Verluste, da der eigene Erfolg jede Investition ausgleicht. Es bildeten sich dies- und jenseits der Kunst Tätertypen heraus, „die ohne den leisesten Selbstzweifel mit gewollter Blindheit und Rücksichtslosigkeit auch gegen sich selbst, Hirngespinsten folgen, die vom Olympiasieg über den Aufbau des größten Konzerns bis zur Glückseligkeit des Selbstopfers reichen“, d.h. die neuen Tätertypen agieren unter der Prämisse des Scheiterns, und das schafft Kunstverwandtschaft, denn die Künstler der Moderne gehen ‚zu weit‘, so weit, bis kein Grund mehr unter den Füßen ist und sie wie Zeichentrickfiguren kurz in der Luft strampeln und dann abstürzen. Ein Tätertyp niederster Zusammenfügung entspricht ungefähr dem, was Brock als „naiven Machthaber“ bezeichnet, d.h. einen Kyniker, der die Macht dadurch innehat, dass er permanent seine Ohnmacht zur Schau stellt. Ihm könnte man den Typus der „zynischen Künstler“ hinzugesellen, die mit Insignien der Macht um sich werfen und sie dadurch behaupten. Brock: „Sie genießen als (zynische) Beobachter ihrer tragikomischen Vorführungen das Pfeifkonzert der Zuschauer; diese Ablehnung ist ihnen der Beweis für die Ahnungslosigkeit der Massen gegenüber dem Schicksal, dem Geist und den großen Gedanken.“ Minou – Inzwischen ahnen wir, dass sich die Horizonte auf der Ebene der Intensitäten zunehmend überlagern, dass die großen Gedanken stets 101
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ihren kleinsten Umfang in sich tragen. Manche Gegenwartskunst zeichnet allerdings aus, dass sie den Tätertypus nicht nur ausagiert, sondern sich auch über ihn hinwegsetzt. Es ist eine Art Meta-Thompsonisierung, ohne dass sie dabei die Ebene der niedersten Zusammenfügung verlässt.
Die Digitalmontage „Minou“ (2000) von Wim Delvoye verbildlicht die Möglichkeiten des Signifikanten, der das idion für nachfolgende Generationen markiert. Das Versprechen höchster Dauer kann letztlich nur die Erde selbst gewährleisten, und das gilt auch für Twitter-Botschaften. Wenn man sich zum Vergleich Santiago Sierras gigantisches SOS- Zeichen nahe dem Flüchtlingslager Smara in Algerien hernimmt, wird der konzeptionelle Unterschied deutlich: Sierra ließ 2012 die mehrere Kilometer großen Buchstaben von Baggern in den Wüstenboden graben, um auf die marokkanische Okkupation der Westsahara hinzuweisen (das „weltgrößte Graffiti“ konnte aus dem All beobachtet werden und wurde vom Satelliten Ikonos III fotografiert). Beide Arbeiten nutzen den Gigantismus, um ein lokales Phänomen hervorzuheben. Im ersten Fall geht es um das Sentiment des konsumistischen Lebens, das es sich in seiner medialen Idiotenbehausung gemütlich gemacht hat. Im zweiten Fall nutzt der Künstler ein übliche Kommunikationsformen überragendes ‚Erdzeichen‘, um auf einen politischen Missstand hinzuweisen. Beide Künstler arbeiten ‚politisch‘, auch wenn sich beide auf unterschiedli102
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che Weise gegen die Zeitmacht und das dynastische Prinzip stellen: im ersten Fall als Kritik an spätkapitalistischer Hypertrophie, im zweiten Fall als Kritik an dessen imperialer Logik. Auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung zu agieren, bedeutet, einer Situation gerecht zu werden, indem man ihr den eigenen Stempel aufdrückt. Dieses Areal, wo sich Kunst und Nicht-Kunst tummeln, kann als Zone der Eigentümlichkeit, als ein Revier des Realen aufgefasst werden: eine planomenale Zone, in dem es um die ‚Sache‘ geht und die ‚Sache‘ konkret und eigen, aber nicht fassbar ist, weil sie keine Essenz und keine Form, sondern eine Intensität ist. Die Welt in ihrer Imbezilität ist die intensive Welt. Das idiotisch Reale – Vor vielen Jahren sah ich mir im Kino einen der frühen Splatterfilme Peter Jacksons an. Während der Aufführung hörte ich heftiges Lachen. Hinter mir saßen zwei männliche Splatternerds. Ihr Lachen war deshalb auffällig, weil niemand sonst an Stellen lachte, die ich gar nicht als ‚Stellen‘ erkannt hätte. Denn die beiden lachten nicht bei offensichtlich komischen Szenen, wenn z.B. zwei Zombies mit Löffeln gegenseitig vom Hirn des anderen kosten (das ist lustig), sondern z.B. auch bei Abblenden (das ist nicht lustig). Die beiden Insider schienen den Film eher auf der Ebene seiner Textur zu genießen, ihn wie eine reife Frucht – oder eben wie ein Gehirn – zu verspeisen und dabei zwischendurch aufzustoßen. Es mag aber sein, dass es für derlei Verhalten auch eine irrationale Erklärung gibt. Slavoj Žižek schildert ein ähnliches Erlebnis: „Als ich mir in einem regionalen Kino in Slowenien The Matrix ansah, hatte ich die einzigartige Gelegenheit, neben dem idealen Zuschauer eines Filmes zu sitzen – nämlich einem Idioten. Zu meiner Rechten saß ein Mann in seinen späten Zwanzigern. Er war derart vom Film eingenommen, dass er die ganze Zeit andere Betrachter mit lauten Ausrufen störte, wie z.B. ‚Mein Gott, wow, also es gibt keine Realität!‘“ Und Žižek fügt hinzu: „Ich bevorzuge definitiv eine derartige naive Rezeption gegenüber einer pseudo-intellektuellen Lesart, die verfeinerte philosophische oder psychoanalytische konzeptuelle Unterschiede in den Film projiziert.“ Der besinnungslose Sinn wird zum bizarren Echo alltäglichster Ereignisse, und der untiefe Reflex des Idioten imponiert 103
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dem Philosophen, weil er in ihm ebenfalls Resonanzen bildet und der innere Idiot mit einem äußeren kommuniziert. Als Gegenentwurf zum emanzipierenden, bewusstseinsbildenden, epischen Theater kennt Idiotenkommunikation nur erste Inhalte, aber diese sind aus Žižeks Sicht genauso theoretisch wie ein Filmdiskurs, der das wissenschaftliche Ritual durchlaufen hat. Der Unterschied zwischen dem typischen Filmkritiker und einem Zuschaueridioten besteht nicht darin, dass letzterer eine Theorie hat und der Idiot nicht. Es ist vielmehr so, dass der Idiot kein Aufhebens darum macht und seine These sofort aus dem Ärmel schüttelt. Wie Forrest Gump sagt: „Ich weiß, dass ich als Idiot eigentlich keine eigene Philosophie haben sollte, aber das ist vielleicht nur, weil sich nie jemand die Zeit genommen hat, mit mir darüber zu sprechen.“ Und diese Vermutung ist ja schon ein Einstieg ins Philosophieren, das als gemeinschaftliche Aufgabe aufblitzt und Platon zur Hebammenmetapher nötigt. Die Botschaft des Idioten ist einfach: Philosophieren heißt, jemand muss Zeit haben, um mit jemand anderem darüber zu reden. Sich dieser Prozedur bewusst zu sein, schließt nicht aus, dass man kein Idiot werden kann, denn bei nächster Gelegenheit wird man die selbst aufgestellten Regeln ignorieren. Man kann eine Situation analytisch durchdekliniert haben, aber wenn man sich ihr aussetzt, sich auf niederster Ebene taktet, wird man trotzdem Idiot. Nur ein Vollidiot ist zeitinvariant und kriegt überhaupt nichts mehr mit – ein Zustand absoluter Wörtlichkeit. Seiner Sache sicher sein – Die Wörtlichkeit ist eine Umschreibung für einen der Zugänge zur Imbezillität der Welt, denn wenn wir Wörter beim Wort nehmen, verliert die Kommunikation ihr wichtigstes Machtmittel: die Metapher. Alles Metaphorische wird dann zur Realisierung heruntergebrochen. Man sammelt keine Eindrücke, sondern ritzt sie mit aller Selbstverständlichkeit in Säulen. Diese Zugänge erzeugen eine diskursive Kippbewegung: Alltägliche Situationen werden ‚real‘, d.h. aus dem Idiotenmund strömt eine Wahrheit, die Realisierungscharakter hat und nur eine Brise Unterkomplexität benötigt, um zutage zu treten. Wie Clément Rosset gezeigt hat, ist der Diskurs des Idioten hier eng an die Ontologie des Realen geknüpft. Das Reale verweist hier auf einen un104
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erklärlichen, widerständigen Aspekt einer Situation oder Aussage, etwas, das sich mit Lacan der Symbolisierung entzieht, ein ‚innerlich gespürtes Außen‘. Ich würde hinzufügen: Etwas Unterkomplexes, Simples. Man denke an Esquirols Patienten, der sich ‚wörtlich‘ und ‚selbstverständlich‘ auf das Pferd setzte, ohne sich von der Stelle zu rühren. Der hauptsächliche Unterschied der Realisierungserfahrung zur Realitäts erfahrung besteht u.a. darin, im Zeichen zu sein, statt sich von diesen abhängig zu machen. Deshalb gibt es keine Repräsentationen des Realen, sondern nur Realisierungen und Zugänge im Sinne Rossets. Was N assim Nicholas Taleb Skin in the Game (2018) nennt, lässt sich zur semiotischen Verbindlichkeit verallgemeinern: Ich setze mich als Zeichengeber der Konsequenzen des Zeichens aus, anstatt mich ihnen zu entziehen. Die semiotische Verbindlichkeit hängt daher nicht mit der Rationalität oder Irrationalität der Tat zusammen. Denn es entspricht dem realen Gehalt auch jedes Idiotentums, dass dieses keine Distanz zum Zeichen aufbauen kann und darin wie in einem Schwarzen Loch versinkt. Ein Idiot – als singulärer semiotischer Operator – kann gar nicht anders, als verbindlich zu sein, weil er in der Verpflichtung des Zeichens steht. Wer sich fragt, ob er/sie gut ist, ist nicht gut. Wer sich vornimmt, seinen Beruf aufzugeben, gibt seinen Beruf nicht auf. Wer in Erwägung zieht, auszuwandern, bleibt zuhause. Ein Idiot erwägt nichts. Das, was er macht, ist das, was er will. Die besinnungslose Einbettung im Zeichen gilt etwa für Fälle des sozialen Engagements stadtbekannter Einsiedler (siehe oben das Beispiel des Herrn A.). Man traut ihnen in bestimmter Hinsicht hundertprozentig, weil sie als Personen nicht korrumpierbar sind, weil sie nicht anders können, als real zu sein. Zuletzt wäre selbst ein Koffer mit nuklearen Launch Codes am besten bei einem Idioten aufgehoben, der sich ‚seiner Sache sicher ist‘. Übererfüllt – Idiotisch real wird es immer dann, wenn eine offizielle A nweisung wörtlich genommen oder übererfüllt wird, wie im Fall des Mannes, der ins Wasser fällt, reglos untergeht und von einem Passanten gerettet wird. Auf die Frage, warum er im Wasser nichts unternommen habe, um ans Ufer zu kommen, antwortet der Gerettete: „Auf dem 105
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Schild stand ‚Schwimmen verboten‘.“ Die Wörtlichkeit ist die Quelle eines H umors, der seine Figuren darauf aufbaut, im Zeichen zu sein. Viele Schülerwitze verfahren so: „Was tat Queen Elisabeth als Erstes, nachdem sie den Thron bestieg?“ „Sie setzte sich hin.“ Oder: „Wo wurde die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet?“ „Ganz unten.“ Und so weiter. Die Pointe besteht darin, das herrschende Sprachspiel auszuhebeln. Das spielt sich irgendwo zwischen Kalauer, Albernheit und Sprechaktanalyse ab, und man vergisst die darin steckende semiotische Verbindlichkeit, weil die Sprachmacht so alltäglich ist. Sonst wäre nicht einleuchtend, was Mitch Hedberg einmal herausfand: „Eine Rolltreppe kann nicht kaputt gehen. Sie kann nur Treppe werden.“ Bildlichkeit – Wird Wörtlichkeit zur ‚Bildlichkeit‘, landen wir beim Online-Meme „Are You Drunk?“
Der Witz des Memes erklärt sich einerseits aus der Tatsache, dass in einer zweiwertigen Lösungslogik eine ‚unmögliche‘ dritte Ebene erscheint, d.h. die Antwort auf dem Formular ist kreativ; und andererseits daraus, dass das Subjekt, das diese simple Frage beantworten soll, offenbar körperlich nicht in der Lage ist, sie zu beantworten, sondern nur in der Lage ist, den formalen Akt zu vollführen: das Ankreuzen. Die Unfähigkeit, das Kreuz richtig zu platzieren, liefert aber eine präzisere Antwort, als den nüchternen Verfassern der Frage je in den Sinn gekommen wäre: Die Testperson ist offenbar so betrunken, dass sie den Test nicht korrekt, sondern nur wahrhaftig ausführen kann. Typisch für Betrunkene möchte sie ihre Betrunkenheit leugnen, verfehlt aber das Kästchen. Statt die Tat als bloßes Versehen zu deklarieren, lässt sich behaupten, dass sich darin ein ungewolltes Wollen ausdrückt (weil das Kreuz eben nicht weit entfernt genug liegt, um als Versehen durchzugehen). Anders formuliert: Die Verfasser des Tests werden von einem Idioten als Fachidioten entlarvt. Hätten sie 106
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den Idioten-Instinkt, hätte der Testbogen vielleicht so ausgesehen:
Und wir nehmen hier an, dass der Betrunkene (wir nehmen stets dieselbe Testperson) nicht erneut vergeblich versuchte, das versetzte Kästchen zu treffen. Wenn er das trotzdem täte, müsste das Kreuzchen konsequenterweise direkt unter dem anderen Kästchen landen, d.h. korrekt im obigen Sinne:
Das wäre eine Minimaldefinition von Genialität oder sagen wir: perfektionierter Absichtslosigkeit. Der Idiot ist uns immer hinterher oder voraus, aber nie auf ‚Augenhöhe‘ – unsere Augenhöhe ist sowieso kein Standard, der zu irgendetwas verpflichtet. Man könnte sagen, der Ankreuzende ist in jedem Fall ein Idiot erster Ordnung mit dem Anschein eines Idioten zweiter Ordnung. Ein Rüpel, der sich als Wahr-Sager entpuppt, gerade weil er sich als Rüpel realisiert. Der Idiot ist jemand, der unverhofft oder mit True Speech auf die Verkennungen des Soziallebens hinweist. Er übertritt die Etikette, verletzt das Protokoll, bricht das Decorum, spricht das Falsche neu an, vereinfacht bis zur Kenntlichkeit. Das ist seine Idiopraxis. Die Anti-Kommunikationen des Idioten sind mit einem ontologischen Halo umzeichnet, das besagt: „Was soll das alles?“ Kulturbunt – In ähnlicher Weise werden Skandalwerke als Kunst gehandelt, weil sie wahr sind und Kunst am Realen arbeitet, nicht nur an den Erwartungen des Publikums. Das Simulacrum ist in diesem Sinne nur dann wahrer als die Realität, wenn es als Simulacrum real und kein Simulacrum ist. Die obige imaginäre Lösung erinnert daher topologisch 107
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an Martin Kippenbergers Plastik Laterne an die Betrunkenen (1988), bei der der alkoholerprobte Künstler die Krümmung eines Betrunkenen, der sich an die Laterne anlehnt, antizipiert und als Laterne in eine kurvige Form bringt. Ein subjektives Formular sozusagen, dessen Kästchen der Künstler vorzeichnet. Die strukturelle Unvorhersehbarkeit Kippen bergers gibt der Funktionsweise des Realen, wie es Clément Rosset sieht, ein Bild, das seinerseits keineswegs rauschartig ist, sondern eher die nüchterne Logik des Rausches ausdrückt: zufällig und beliebig, aber darin bestimmt und notwendig. Die Frechfreiheit besitzend, der ersten Eingebung zu folgen und sich über Standards hinwegzusetzen. Die Performanz des Idioten ist nicht nur lebensweltlich, sondern auch ontologisch zu verstehen, als Daseinsformel, als Warnhinweis, als Geste, als blödes Ding an sich, ohne dass es sich im Begriff eines Geistes erschöpft. Nicht Übermensch, sondern Übergeist und Übergott. Jegliches Handeln wird auf die Ebene der niedersten Zusammenfügung zurückgeführt, die wiederum die (unmögliche) Erfahrung des Realen avisiert, in der die Imbezillität der Welt in bunten Farben leuchtet. Geheimnis – Während das Reale kulturgeschichtlich im Zusammenhang mit dem Erhabenen steht, profaniert Rosset den Diskurs. In der Konfrontation mit dem Realen – das bei Lacan stets den Nimbus der Unmöglichkeit hat – wird deutlich, dass da etwas ist, was zusätzlich zur T otalität der Erfahrung existiert: Lacans Rest, der nicht dem Symbolischen oder Imaginären zuzuordnen ist. „Es gibt kein Geheimnis hinter den Dingen, sondern ein Geheimnis der Dinge“, schreibt Rosset. D eshalb ist der Idiot wörtlich, und deshalb sind Bilder schlauer als ihre Maler (wie Gerhard Richter behauptet), weil es diesen Widerstand des Gegebenen gibt, der die Faktizität der inneren Lebenswelt spiegelt. „Ein Faktum kollidiert mit den Ideen des Tuns. Es widersteht, weil es widersteht und noch ohne zu wissen, im Namen wovon“ (Nancy). Der „praktische Impuls“ (Adorno) treibt das Denken ohne sein Wissen an. Die Erfahrung der Dinge, der „Praxistest“, das konkrete Erleben usw. sind rätselhaft und nicht erst das, was Erfahrung in Reflexion ausmacht. Sofern der Idiot unverstellt ist, ist er unmittelbar und besinnungslos wie das Sein selbst, Idiot an sich, aber 108
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nicht im Sinne von Kants theoretischer Notwendigkeit des An sich, sondern jenseits der Korrelation und ex positivo, mit Fichte zu dem werdend, was er schon ist. Der Idiot fordert die anderen zur Frage heraus, was es denn heißt, real zu leben, sich aller Verstellungen zu entledigen, anderen nichts mehr vormachen zu müssen, ohne dabei die „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett) zu praktizieren. Denn es geht beim Idiotischen nicht um ‚authentische Erfahrung‘, sondern um die Unmöglichkeit der Erfahrung, um die Negation des Denkens als dessen Notwendigkeit. Alles ist da – Der Moment des Idioten steht für eine allumfassende Antwort auf die Frage nach einem Kontingent der Realität. Jean Dubuffet behauptet brutistisch: „Alles, was es gibt, ist hier.“ Die Rohheit der Vernunft verkündet: Alles ist realisiert. Alles ist, was der Fall ist. Wittgensteinscher Taoismus, absoluter Positivismus, totaler Immanentismus, der verkürzt auf das Datum allen Gegebenseins ist. „Das, was ist, gehört vollständig zur Welt, weil es nur zu ihr gehört“, so Quentin Meillassoux, der mit dem spekulativen Realismus zur kartesischen Rigorosität zurückkehrt. In der Idiotypik des Konkreten herrscht vorauseilende Zufriedenheit, Klarheit, Null-Ausdruck der Existenz, wie wir sie vom literarischen Idioten kennen. Die imbezile Welt ist eine Welt ohne Transzendenzen, vergleichbar mit Fantasy-Welten, die keinen Gott kennen, weil Göttliches Teil der wirklichen Welt ist. Eine Welt, „in der es nichts außerhalb gibt, was ihre Macht der Neuheit einschränken könnte“ (Meillassoux). Alles, was als positives Datum auftritt, ist messbar, aber das Auftreten selbst scheint es nicht zu sein – „Das Zur-Anwesenheit-Kommen liebt es, sich zu entziehen“, schreibt Reiner Schürmann. Etwas an der Präsentierung ist stets unmöglich, und zwar nicht deshalb, weil wir noch nicht die nötigen Mittel hätten, diese oder jene Tat vorherzusagen oder weil die Beobachtung das Ergebnis determinierte, sondern weil wir der Kategorie des Ereignisses nicht habhaft werden können. Auf Immanenzebene ist alles Zufällige notwendig, weil es kein Außerhalb, keine göttliche Transzendenz gibt, welche den Kontrast zwischen Substanz und Akzidenz sicherstellen könnte. Kategorische Unmöglichkeit steht hier gegen prinzipielle Unmöglichkeit. Wenn Philosophen wie David Chalmers das 109
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nicht reduzierbare Bewusstsein deshalb als nicht ableitbare, fundamentale Größe umbenennen, weil man dem „hard problem of consciousness“ nicht auf den Leib gerückt ist, dann gilt das vielleicht erst recht für die jedem Auftreten inhärente Idiotie, die selbst qualia-artig und in Chalmers’ Sinne im bisher gesteckten physikalischen Rahmen unmöglich ist. Das Neue als Ereignis, sofern es eintritt, bringt seine Rationalität in die Welt der positiven Daten. Extropie ist kein Modus der Entropie, und so ist das Neue kein Modus des Bestehenden – d.h. „eine Neuheit, die vor ihrer Manifestation in keinem ursprünglichen Prinzip im Keim enthalten und in keiner demiurgischen Schublade geborgen war“ (Meillassoux). Verdeutlichungen – Den Idioten durchwaltet eine gewisse epikureische Bequemlichkeit bei der Konfrontation mit ernsthaften Fragen. Selbst die ontologische Differenz ist nicht zu ihm durchgedrungen. Er ist einfach da, ohne eigentlich zu ‚existieren‘. Aber gerade weil dem Idioten alles da ist, hört das Da-Seiende nicht auf, rätselhaft zu sein. Der transzendentale Rausch eröffnet nach Rosset den Zugang zum stets idiotischen Realen, aber er ist keineswegs der einzige: Rosset erwähnt einschneidende Erlebnisse, die Liebe, die Kunst, die Philosophie – „der philosophische Zustand setzt sogar nach der Aussage von Platon einen trunkenen, verliebten und künstlerischen Dauerzustand voraus“. Auch Philosophie ist eine Form der Rauschrealisierung. Der Liebesrausch, die Abwesenheit, das narzisstische Eintauchen: Das sind Zugänge zum Realen auf Ebene der niedersten Zusammenfügung, die den Idioten mal als Weisen und mal als Selbst-Saboteur zur Erscheinung bringen. Der Rausch ist eine Einstiegshilfe, um sich auf der Ebene der Neurotransmitter mit der gesellschaftlichen Situation zu takten. Träge und besoffen werden wie der politische Alltag. Die Anmutung eines Gebäudes haben. Unterkomplex sein, Hütte sein, Laterne sein. Auch eine Revolution ist nichts anderes als das massenhafte Sichausleben des Realen. Man muss nicht die Zeichen untereinander abstimmen. Jeder weiß, worum es geht, ohne eigentlich etwas wissen zu müssen. Alle sind eingeweiht, man kann sich sofort miteinander takten, organisieren, Euphorien erzeugen. Es muss nichts erklärt oder verstanden werden. Jeder ist trunken, ohne berauscht zu sein. 110
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Das deckt sich mit Rosa Luxemburgs Vorstellung der politischen Spontanität, derzufolge die revolutionäre Organisation nur aus ihrem Vollzug erwachse, und zugleich mit Hannah Arendts Vorstellung, dass sich in ihr die Grundeigenschaft menschlicher Natalität politisch entfalte: des Geborenseins, um neu zu handeln – ein immanenter Zustand der Vielen, in dem jeder ein Außen spürt. Und doch ist es rätselhaft, dass das Unmögliche in jedem Moment unseres politischen Daseins möglich ist, dass sich die Verhältnisse plötzlich umkehren können. Es ist rätselhaft, dass in jedem nächsten Moment eine andere Welt möglich ist. Unbeschreiblich – Rosset macht das idiotische Reale nicht historisch-dialektisch oder als traumatische Erfahrung im Sinne Lacans oder Batailles, sondern vor allem an der profanen Erfahrung des Singulären fest: „Von einem Objekt zu sagen, es sei ‚einzigartig‘, läuft […] darauf hinaus zu sagen, daß dieses Objekt existiert, daß es real ist“ (Rosset). Und real ist es, weil die allgemeine Bestimmung der Wirklichkeit – das Schema der Realität – seiner Idiosynkrasie nichts anhaben kann. Denn beim Versuch, das Einzigartige zu fassen, nützt keine Aufzählung objektiver Eigenschaften. Rosset macht es am Beispiel eines Camembert fest, der vor ihm liegt: „Daß dieser Camembert unweigerlich an die erinnert, die ich früher schon gegessen habe, und somit unmittelbar als Camembert identifiziert werden kann, sagt mir nichts über die Identität seines Geschmacks: Ich weiß nur, daß dieser sich von jedem anderen Geschmack unterscheidet, und das ist alles, was ich über ihn weiß und sagen kann.“ Es geht dabei nicht um die Art des Gegenstands – das Beispiel würde wohl auch mit Gouda und einem niederländischen Philosophen funktionieren –, sondern um die Art der Erfahrung. Es ruft sich hier Bergsons Beispiel der Turmuhr in Erinnerung, deren Glockenschläge jeweils eine einzigartige irreversible Impression hinterlassen, obwohl alle Glockenschläge identisch sind. Die Zeit aber bürgt für das Nichtidentische, das nicht mit einem Algorithmus der Beschreibung erfasst werden kann. Es geht um die Feststellung des Fleckens eines Phänomens, der unvergleichbar mit anderen Flecken ist. Ein Fehler, eine Macke, in der sich das Reale offenbart – etwas, das nicht durch Eigenschaften 111
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f estgestellt und beschrieben werden kann. Denn: „[J]e realer ein Objekt ist, um so weniger kann es identifiziert werden“ Und: „[J]e intensiver das Realitätsgefühl ist, um so unbeschreibbarer und undurchsichtiger ist es“ (Rosset). Von sich selbst her – Dass von einem Objekt des stets idiotischen Realen die Rede ist, setzt eine Konfrontation voraus, wie den Worten objectum und problema (lat. und gr. für „Gegenstand“) zu entnehmen ist. Etwas ist einzig und sich selbst gleich, plötzlich stößt es auf ein anderes. Eine Ebene der Entgegnung wird definiert, Unterschied, Verwandtschaft und Art festgestellt. Nun ist es nicht mehr einzig, sondern einzigartig, d.h. das Einzige seiner nun festgestellten Art. Etwas, das einzig ist, hat kein Problem, sondern nur Eigentum (den semantischen Kern der Eigentümlichkeit, des idios), woraus sich erst das Problem ergibt. Einzigartige Erfahrung ist nur als Problem, nur als Konfrontation mit Eigentum erfahrbar, welches ein Attribut des Einzigen ist. Man kann darüber allerdings nicht in der gleichen Direktheit sprechen, wie das Idiotische sich von sich selbst her gibt. Das basale Verständnis des Idioten ist mit der Unmöglichkeit konfrontiert, dass über seine Einzigartigkeit hinaus etwas gesagt werden kann. Wenn man mit einem Ereignis konfrontiert ist und einem „die Worte fehlen“, wenn nur klar ist, dass es so ist, wie es ist, und nicht anders, dann hat sich das Ereignis als Null-Eindruck geeicht. Dieser Moment beschreibt die basale Erfahrung des Eigentums als basaler Form der Idiotie. Eigentum ist unbeschreiblich. Deskriptive Algorithmen – Wie Pierre Bourdieu gezeigt hat, sind Geschmacksurteile in den Ständeästhetiken der Klassengesellschaft eingefasst, d.h. Eigentum wird hier in jeder Hinsicht beschreiblich. Doch die Verhältnisse haben sich samt ihren Beschreibungen, um ein Wort Zygmunt Baumans zu verwenden, „verflüssigt“. Der Klassenkampf reicht heute vom Migrantenstrom über die Innenstädte bis in die Computerbrowser. Wenn man sich die heutigen medialen Echokammern zu Gemüte führt, wird etwa die „eigene Meinung“ genauso b eschreiblich wie das private Einkommen. Hier sind massenhaft deskriptive Urteils112
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algorithmen zugange, die mit den Programmieralgorithmen der Social-Media-Giganten getaktet sind. Man bekommt das zu sehen, wo von die Programmierer ausgehen, dass es positive Neurotransmittereffekte hervorbringt. Diese Stimmungspraxis rechnet sich weiter übers Kaufverhalten der privaten Nutzer ab. Netflix beispielsweise unterteilt Kunden in 2.000 Geschmacksgruppen, um auf der Webseite die Angebote zu personalisieren. Da jedes Angebot etwa 2 Sekunden hat, um erfasst zu werden, müssen die Bildalgorithmen entlang des Nutzerverhaltens permanent aktualisiert werden. Es handelt sich um Blickgleichungen, digitale „Pathosformeln“ in Aby Warburgs Sinne, die der neuro-optimierte Algorithmus erzeugt. Das idion setzt auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung Subjekte dagegen, die sich der Algorithmenbildung und letztlich ihrer Monetarisierung entziehen. Idioten erscheinen in dieser Setzung als unbeschreiblich und damit eigentümlich. Wenn aus allem ein Geschäftsmodell gemacht werden kann, so bezeichnet der erste Horizont des Idioten die verbotene Zone des Kapitalismus, dasjenige Heterogene, das nicht verwertet werden kann, das am Anfang der Werterzeugung steht. Und der zweite Horizont bezeichnet das Ende dieser Werterzeugung. Die generische Erfahrung des deskriptiven Algorithmus ist nur entschlüsselbar und nicht verstehbar. Die reale Erfahrung des Anfangs ist nicht entschlüsselbar und nur verstehbar, sofern sie als Erfahrung einzigartig ist – genius loci, aber für jeden einzelnen unverwechselbaren Moment des Lebens. Jeder Moment ist so gesehen ein Anfangsmoment, und dadurch entzieht er sich nicht nur dem Algorithmus, sondern gewissermaßen auch sich selbst. Es gibt keine Maßstäbe dafür, was singulär ist, weil das Singuläre selbst Maßstäbe seiner Einzigartigkeit kreiert – was es in einem gewissen Sinne generisch macht. Lacan bezeichnet das Reale gerade deswegen als das Unmögliche, weil es nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Kein Terror, keine Tyrannei, keine Sedierung kann die innere Logik des Subjekts pervertieren, wir sind zuallererst idiotisch, bevor wir so im Freien sind, dass uns diese Freiheit genommen werden könnte. Aber wir sind zugleich auch schon immer idiotisch, dass wir dieser Freiheit gegenüber blind sind.
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Sublim – Die Singularität transzendiert traditionsgemäß nicht die Kultur, sondern figuriert darin als Transzendenzträger, d.h. als Erhabenes. Das Erhabene ist in der westlichen Kultur meist mit der Dichotomie von Krieg und Ökonomie verbunden worden, einhergehend mit dem „emotionalen Befinden von Angst und Mut“ und der strikten Unterscheidung zum „emotionalen Befinden von Annehmlichkeit, Luxus und Comfort“ (Heiner Mühlmann). Ein Held ist erhaben, wenn er der Ehre wegen und nicht des Geldes wegen handelt. Dass die marxsche Logik des Millionärs oder Milliardärs inzwischen aus Raffzähnen Kulturhelden macht, ist der Horizontalisierung des dynastischen Prinzips geschuldet. Die Vormoderne dachte in Generationen, die Moderne in Generatoren und die Spätmoderne in „Market-States“ (Philip Bobbitt). Die Decorumsarchitekturen Athens und Roms, welche auch die Repräsentationsbauten heutiger Weltmächte bestimmen, vermitteln noch Wertealgorithmen vertikaler Kampfgemeinschaften – der rote Teppich zeigt etwa die Blutspur des bezwungenen Feindes an, auf der zukünftige Generationen schreiten sollen. Es sind Siegeszeichen, die den Zugang zum einzigartigen historischen Moment legen, in dem etwa ein Feind bezwungen wurde – der martialische Wahrheitsmoment, der alle Lebenden und Toten in Zukunft und Vergangenheit umfasst –, woraus sich bis zum heutigen Tage die Einzigartigkeit der historischen Mission eines Volkes oder Religion vermeintlich begründet – das sui generis der Kultur, der exceptionalism der Nation usw. Aber was Ernstfalltheoretiker gerne ignorieren, ist, dass auch im vertikalen Anspruch die Horizontalität als Dispositiv zugegen ist – etwa im Sinne der „Erfindung der Traditionen“ (Eric Hobsbawm). Der historische Wahrheitsmoment hat keine Eigenschaft, ist kein Eigentum, ist unbeschreiblich. Das macht ihn genuin und neu. Dass jemand einen Sieg erringt, definiert den Sieg, aber nicht den Sieger. Das identitäre Phantasma beruht auf einer Siegesaneignung und dem deskriptiven Algorithmus, der ‚Kultur‘ oder Zeitsignatur, die es erzeugt. Sonst gäbe es ja nicht unterschiedliche Fahnen auf der Welt, sondern nur eine universelle Siegesfahne, wie es auch nur eine universelle Friedensfahne gibt – die weiß und damit ein Null-Ausdruck jedes Staates ist. Wenn man sich seines Territoriums absolut sicher wäre, benötigte man keine äußere Be114
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stätigung, keine Insignien, keine Symbole. Als Donald Trump vorschlug, nach französischem Vorbild Militärparaden in den USA einzuführen, hieß es aus den Reihen der Generäle, die dominanteste Militärmacht der Menschheitsgeschichte habe es nicht nötig, ihre Dominanz darzustellen. Die weltweite einzigartige Präsenz des US-Militärs sei Symbol genug. Person – Das, was neben dem Erhabenen ebenfalls keiner Repräsentationen bedarf, aber dennoch Symbole erzeugt, ist das Einzigartige der Persönlichkeit. Jean Cocteau schreibt einmal über Orson Welles, dass dieser ein Riese mit dem Antlitz eines Kindes sei. Er vergleicht Welles mit einem Baum voller Vögel, einem Hund, der seine Ketten gelöst hat und sich in einem Blumenbeet ausruht, einem weisen Irren, einer Insel, die von Menschen umlagert ist, einem Schüler, der während des Unterrichts eingeschlafen ist, einem Strategen, der vorgibt, betrunken zu sein, wenn er in Ruhe gelassen werden möchte. Warum tut er das? Warum schreibt Cocteau nicht einfach, dass Welles neue Standards für das moderne Kino gesetzt habe? Weil es generisch und langweilig wäre. Er könnte dann nämlich Ähnliches über Georg Trakl für die Dichtung sagen, über Thelonious Monk für Jazz, über Henri Rousseau für die Malerei oder über Ludwig Wittgenstein für die Philosophie, oder was einem sonst an einzigartigen Personen oder Dingen einfällt, die dann alle in der biografischen Prosa zu Ähnlichen werden. Bedienungsanleitungen funktionieren so, und sie haben eine Berechtigung, weil sich kulturelle Systeme ebenso auf Regelwerke stützen wie auch ihren Ausnahmefall mitbedenken. Der Versuch Cocteaus geht den Weg der kindlichen Natur-Metaphern (Baum, Schatten, Vögel, Hund, Insel), ohne sie zu kontextualisieren und auf Regelfälle auszuweichen. Cocteau spricht den puer aeternus, das ewige Kind, und den gedankenabwesenden Schüler an, ruft den poeta doctus im „wise madman“ und den metaphysischen Trunkenen an, wie ihn Rosset in Lowrys Konsul wiederfindet. Die Mischung der Metaphern formt eine fiktive Persönlichkeit, ein Wesensetwas, und Cocteau verknüpft die Eigenschaften nicht, sondern lässt sie parallel laufen: Schüler, Kind, Wahnsinniger, Alkoholiker, Baum, Hund, Vögel usw. werden zu Entwicklungssträngen einer Gechichte, der man den 115
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Namen Orson Welles gegeben hat. Man mag Cocteau als kitschig empfinden. Ich erwähne ihn, weil es am Ende seines Textes, der in B azins Buch über Orson Welles zu finden ist, eine wichtige Wendung gibt. Kurz bevor Cocteau eine Reise nach New York antritt, schickt ihm Welles ein Paket. Als es Cocteau öffnet, erkennt er ein „reales Zeichen“, eine Signatur von Welles’ Leben, die das Generische und Idiosynkratische im ereignishaften Schweigen zusammenführt und damit zur eigentlichen biografischen Aussage wird – sein persönliches Rosebud. Im Paket war ein weißer Aufziehhase. Unbeschreiblichkeiten – Wenn Sartre schreibt, dass ein Mensch nie ein Individuum sei und es angemessener wäre, ihn als einen universellen Singular zu beschreiben, dann trifft er die Frage der Einzigartigkeit, die sich im Widerspruch mit der modernen Ideologie des Individualismus herausarbeitet. Als Einzelner wird der Mensch durch seine zeitliche Epoche zum Allgemeinen universalisiert. Im Gegenzug reproduziert er sich als personale Singularität. Populäre Biographien und Biopics erschaffen dagegen einen Mythos der Person, der sich anfühlt wie der Mythos einer anderen Person. Einzelfall wird Regelfall. Bernard Stiegler spricht hier von einem deskriptivem Algorithmus der biografischen Erzählung und sieht den Dichter als ein Beispiel, das sich diesem Algorithmus grundsätzlich entzieht: „Der Dichter ist unbeschreiblich – was auch den performativen Charakter der Dichtkunst und, noch allgemeiner, des Idioms ausmacht: Was im Bezug zum Dichter wahr ist, ist wahr im Bezug zum Idiom.“ Das Idiom entzieht sich jeglicher Beschreibung, denn um es zu beschreiben, benötigt man ein weiteres Idiom, für dessen Verständnis man wiederum ein weiteres Idiom benötigte ad infinitum. Es gibt keinen Algorithmus, der die Einzigartigkeit des Dichters darstellen könnte, weil jedes neue Werk für Unbeschreiblichkeit sorgt: „Das Gedicht überwindet jeden Scharfsinn und läßt Denken aus sich heraufkommen. Dies aufkommende Denken aber kann man nicht fassen wie einen Gedanken“ (Stiegler). Muss man dann auch über das, wovon man sprechen kann, schweigen?
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Niederste Zusammenfügung
Totalität und Fragment – Das gesamte Universum erschöpft sich in einer unvollendeten Geste. Der Gestengeber ist eine Figur, die vollständig den Ort ihrer Idiomatik besetzt: „Der Idiot spricht nur in Idiomen, auch wenn diese für ihn nicht als bunte Zutaten einer Sprache oder Kultur funktionieren, sondern nur von ihm allein verstanden werden“ (Eric Anthamatten). Alle anderen können nur darüber mutmaßen, welche Signaturen die Kommunikation der niedersten Zusammenfügung hinterlässt. Avital Ronell schreibt: „Sprache, wie durcheinander, mimetisch oder dereguliert sie auch sein mag, ereignet sich als und gehört zur Existenz, die der Idiotie eignet.“ Der Idiot bedient sich manchmal einer Fragmentsprache, wie sie etwa Faulkner in The Sound and the Fury Benjy Compson ausleben lässt, weil er im Zeichen seiner Sprache agiert. Benjy ist stumm, aber das erste Kapitel wird aus seiner Sicht geschildert. Die Erzählung ist zerrissen, springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, vermittelt traumatische Erfahrungen, als ob sie immer noch geschehen würden. Ähnlich hüpft auch Forrest Gump von Zeit zu Raum und stottert sich zum Idiot Hero seines Zeitalters. Als Begriffspersonen sind Idioten Subjekte, die mit ihren Fragmenten zugleich eine Totalität beanspruchen: „Sagt man zum Beispiel, eine Begriffsperson stottere, dann ist damit kein Typ gemeint, der in einer Sprache stottert, vielmehr ein Denker, der die ganze Sprache zum Stottern bringt, der das Stottern zum Merkmal des Denkens als Sprache macht“ (Deleuze & Guattari). Man könnte sagen: Ein Idiot spricht nicht, sondern sondert Sprache aus. Und man könnte sagen, dass die Umgebung mit Hilfe des Idioten spricht, indem dieser alles Geschehen ungefiltert weiterreicht. Benjy ist höchst empfindsam. Den Verlust der Jungfräulichkeit seiner Schwester riecht er („Caddy smelled like trees in the rain.“) und Quentins Suizid spürt er über große Entfernung. Die Imagination steckt ihren Autoren an. Faulkner schildert das Schreiben aus Benjys Perspektive als einzigartige literarische Erfahrung, die er später so nicht mehr erlebt habe, als „Emotion, die bestimmt und physisch und doch nebulös zu beschreiben ist, die das Schreiben von Benjys Abschnitt von The Sound and The Fury mir verlieh – dieser Rausch, dieser gespannte und freudige Glaube und die Vorwegnahme der Überraschung […].“ Der Idiot wird in Faulkner 117
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zum Literaten, wie auch der Literat zum Idioten seiner fiktiven Familie wird. Die Macke – Was für die Sprachform gilt, gilt auf Verhaltensebene für die Macke. Eine Macke ist ein Wiederholungszwang. Sie entspricht Lacans Bestimmung des Realen im Seminar 2 („Das Reale ist das, was am selben Platz immer wiederkehrt“). Eine Macke ist ein Kommunikationsfragment, ein Körper-Idiom, dass ebenso einzigartig wie unvollständig ist, d.h. eine Macke beschreibt eine Person nicht vollständig, sondern wahrhaft. Auch wenn oftmals gesagt wird, dass z.B. Computer Macken hätten, spricht vieles für die Ansicht, dass Computer prinzipiell unfähig sind, Macken zu entwickeln. Auf Softwareebene bedeutet eine Macke eine Dysfunktion. „Der Computer hat eine Macke“ bedeutet: er funktioniert nicht, wie er soll, während Personen gerade und aufgrund ihrer Macke als Personen ‚funktionieren‘. „Du hast eine Macke“ bedeutet dann, dass du spinnst, aber dass dich gerade dein Spinnen als dich selbst auszeichnet und ich mich darin erkenne. Du spinnst, also bin ich. Es ist mein oder dein Spinnen und nicht das Spinnen der anderen. Computermacken mögen genauso individuell sein wie Persönlichkeiten, aber ihre Macken verweisen nicht auf eine Totalität. Žižek schreibt im Hinblick auf Lacans Begriff des Sinthoms von einem „pathologischen Tick“, einem unbewussten Kern des Genießens, der die Stütze des Subjekts bildet. Das subjektstützende Sinthom (Lacans späte Version des Symptoms) gehört dem Bereich des Realen an, verknüpft aber die Sphären des Realen, Imaginären und Symbolischen zu einem Lebensganzen. Darin besteht auch die Totalität des idiotischen Fragments, seine Menschenähnlichkeit. Insofern bleibt dem Subjekt nichts anderes übrig, als sich mit seinem Symptom zu identifizieren („Liebe Dein Symptom wie Dich selbst“). Der Idiot ist dahingehend jemand, der sich vollständig mit seiner Macke identifiziert. Das gilt exemplarisch für Thomas Bernhards Ich-Erzähler in Holzfällen. Dieser lässt die Wiener Kulturszene im „Ohrensessel sitzend“ Revue passieren und identifiziert sich dabei vollständig mit der Macke des Meckerns: Die Anwesenden geraten unter die Räder seiner schlechten Laune, die immer schlechter wird, bis sie zur schlechtes118
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ten Laune aller Zeiten anwächst. Beim Holzfällen fällt der gesamte Wald der literarischen Axt zum Opfer, und doch bleibt am Ende der Eindruck, dass der kulturellen Welt nichts fehlt, vielmehr, dass ihr neuer Reichtum beschert wurde. Dingdramaturgien – Die Idiotie des Realen äußert sich auch in dem, was Jean Arp „Magie des Zufalls“ nennt. man könnte auch von ‚Zeitmacken‘ sprechen. Im Zufallsereignis wird eine Sinnstruktur evident, wird klar, dass der Zufall ebenso Gesetzen folgt wie die bestimmte Form des Sinns. Wie Rosset betont, „können sich die Manifestationen des Zufalls nur ereignen, soweit sie zugleich auch bestimmte und notwendige Manifestationen sind“. Arp zufolge kommt aber nicht jedem die magische Kraft zu, im Zufälligen das Notwendige zu erkennen, sondern nur Träumern und Mystikern, transzendental Berauschten, die es also verstehen, Zugänge zum Realen zu legen. C.G. Jung schreibt bezüglich dieser Taktung von Zeit und Sinn von „Synchronizität“. Hier ist allerdings wichtig, nicht irgendeine parapsychologische Transzendenz oder ‚höhere Sphäre‘ anzunehmen. Zufallsereignisse, d.h. Ereignisse, die sich zum Sinn fügen, sind allem Geschehen immanent, haben eine idiotische Anmutung – der Idiot fragt: „Warum schalten immer alle Ampeln auf Rot, wenn ich es eilig habe?“, ohne dass er jemand Bestimmtem oder einer höheren Instanz einen bösen Willen unterstellt (und wenn, dann hat sich das gesamte All gegen ihn verschworen). Zufallsereignisse sind unabhängig von der Redundanz der Zeitmuster oder einer statistischen Zufallsverteilung. Was Friedrich Schiller als „Wind des Zufalls“ und zwei Jahrhunderte später Bob Dylan als Idiot Wind besingen, ist ein chaosmotischer Strom, der die menschlichen Beziehungen ebenso zusammenkittet wie er sie auflöst, ein Strom, den man produktiv nutzen kann, wenn man ein Fluginstrumentarium entwickelt. Poseidippos fragt einmal K airos: „Warum hast du Flügel am Fuß?“ Und dieser antwortet: „Ich fliege wie der Wind.“ Luis Buñuel erinnert sich in seiner Autobiografie Mein letzter Seufzer an ein Zufallsspiel, das er mit Freunden durchführte: Eine Gruppe von Personen befindet sich in einem Raum. Eine Person tritt hinaus. Jemand versetzt einen Gegenstand. Die Person kommt zurück 119
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und muss nun sagen, welcher Gegenstand versetzt wurde und wer den Gegenstand versetzt hat. Bei diesem Spiel geht es nicht darum, die Lösung etwa mittels einer Cold-Reading-Praxis der Mentalisten herauszufinden, sondern darum, es wie Idiota ‚zufällig‘ zu wissen oder gar vorherzusagen. Auch wenn wir es andauernd mit der „idiotischen Natur des Unwahrscheinlichen“ (Stiegler) zu tun haben und jedes Zufallsspiel absurd ist, ist diese Praxis der Fußflügel in der heutigen ökonomischen Ratio verbaut. Auch eine Marke soll nicht rational hergeleitet, sondern objektiv wirken, als ob sie zufällig genau den Kundenwunsch vorhergesehen hat. Jedes so genannte Trendcasting (das Aufspüren zukünftiger Moden und Hypes) agiert ständig in einer Art Hellsehermodus. Dieser wird paradigmatisch in William Gibsons Roman Pattern Recognition von der Protagonistin Cayce Pollard verkörpert: Pollard ist eine Person, die die Zukunft erspüren oder Situationen vollständig erfassen kann, ohne zu wissen, wie. Sie ist eine Coolhunterin, d.h. ständig auf der Suche nach dem zukünftig Angesagten und neuen Profitgeneratoren. „Cayce Pollard zeichnet sich vor allem durch die Fähigkeit aus, das Neue zu erkennen, es vor allen anderen kommen zu sehen. […] Die Schwingungen in ihrem Körper sagen ihr, ob der neue Weg zur Marke funktionieren wird“ (Nikolas Kompridis). Wie eine Mischung aus physiologischem Detektor und einer technokapitalistischen Version von Sokrates bewegt sie sich agil in der Zeit und benutzt die Kontingenz als epistemologisches wie politisches Vehikel. Einerseits gibt es „das Potenzial des Marketings, ein Begehren nach Produkten zu wecken, die es nicht gibt und vielleicht auch nie geben wird. Mit anderen Worten, die Kraft, einen Konsumwunsch nach dem Un-Konsumierbaren zu erwecken – die bloße Möglichkeit der Neuheit selbst“ (ebd.), und andererseits hofft Pollard, „dass eine Offenheit für das wirklich Neue transformativ und emanzipierend sein wird – die Hoffnung (oder der Glaube), dass unsere Möglichkeiten nicht ausgeschöpft sind, dass ein Neuanfang noch möglich ist, dass es eine Form des Neuen gibt, die nicht verwertbar ist, die nicht instrumentalisiert werden kann, sondern den tatsächlichen menschlichen Bedürfnissen entspricht“ (ebd.). Kompridis sieht also in Pollard einen neuen Typus der politischen Hoffnungsträgerin, der sich gegen die Instrumentalisierung des Neuen 120
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immunisiert hat. In ihr steckt, was Hannah Arendt einmal ein „geistiges Organ für die Zukunft“ genannt hat. Reine Tat – Die Choreografie des Zufälligen ist die vernachlässigte Ebene politischer Rationalität. Jean-Luc Nancy schreibt in Was tun? (2017): „Nicht zu wissen, was tun, nicht einmal zu wissen, was man tun könnte, ohne deswegen ‚lieber nichts‘ zu tun, bedeutet, die Möglichkeit eines Tuns zu erwarten oder zu hinterfragen, von dem man eine Vorstellung hat, ohne seine Wirklichkeit zu erfahren“. Beim Idioten ist es umgekehrt: Er ‚vollzieht‘ Wirkliches ohne die Vorstellung des Tuns. Sein Tun hat wie bei Faulkners Benji keine feste Zeitsignatur, sie entspricht der Totalität eines Photons, dessen Entstehen und Vergehen ein einziges Quantenereignis sind. Wer über keine Ruhemasse verfügt, hat keinen Lebenslauf, sondern nur einen Lebenspunkt. Das Tun des Idioten zeugt in diesem Sinne von einer reinen Tat. Reine Taten sind Taten, die isoliert von aller Prämisse oder Konsequenz vonstatten gehen. Taten, die allen isolierten Wesen eigen sind, die sich gegen die Instrumentalisierung des Neuen immunisieren, die aber auch blanke Instrumente der Macht sein können. Taten, die Konsterniertheit, Stillstand oder Schweigen verursachen oder jedenfalls das, was am ehesten dem Tatbestand von ‚keine Reaktion‘ entspricht – vielleicht auch, weil in der reinen Tat auch schon alle Reaktion vorweggenommen ist. Taten, die „nicht ‚lokalisiert‘ werden [können] und im bestehenden logischen Raum der Lokalisierung widerstehen“ (Kompridis). Taten schließlich, die „das Neue in seiner reinen, unverfälschten Form“ (ebd.) erzeugen. Simon Critchley schreibt von einem „situativen Universalismus“, wenn er die Ereignisphilosophie Alain Badious beschreibt. Bei der reinen Tat geht es ähnlich um Zeitinstanzen der Universalität, in denen sich das Singuläre der Tat mit der Treue des Subjekts zum Ereignis koppelt. Das Tun der Idioten insistiert. Es ist gesellschaftlich betrachtet ein Ausdruck des Kampfes gegen die Ambivalenzen der Moderne, wie sie Zygmunt Bauman beschreibt, „das Gefühl der Unentschiedenheit, Unentscheidbarkeit und infolgedessen des Verlustes an Kontrolle. Die Konsequenzen der Handlung werden unvoraussagbar, während die Zufälligkeit, die doch eigentlich durch 121
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die Bemühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint. […] Der Kampf gegen Ambivalenz ist daher selbstzerstörerisch und selbsterzeugend.“ Auch die heute vom Spektakel massenweise erzeugten Kuriositäten ändern nichts am fundamental unspektakulären und spontanistischen Charakter der reinen Tat. Systemsturz – Aufnahmen einer Überwachungskamera in einem südkoreanischen Einkaufszentrum zeigen, wie ein Rollstuhlfahrer den Fahrstuhl verpasst und danach immer wieder vehement gegen die Fahrstuhltür anfährt und sie zu rammen versucht. Schließlich gibt die Fahrstuhltür nach, und der Mann stürzt in den Tod. Man kann nun fragen: Warum hat der Rollstuhlfahrer den Fahrstuhl gerammt und sich in den Tod gestürzt? Es gibt keine Antwort, die Polizei findet kein Motiv, und auch das psychologische Moment kann die Tat nicht vollständig erklären, denn nur „[w]enn die Wut ohne Gegenstand ist, kann man nichts gegen sie unternehmen“ (Rosset). Die Selbsttötung erscheint hier als Selbstzweck. Es wäre daher verwegen, sie in irgendeiner Weise zu beurteilen. Sie ist keine repräsentative Angelegenheit, keine O nline-Ankündigung geht ihr voran. Der Rollstuhlfahrer hat sich offenbar genauso viel oder wenig dabei gedacht wie die Fahrstuhltür, die seinem Streben nachgab. Deshalb ist zur Vorstellung des Fallens nicht die Vorstellung des Todes durchgedrungen. Und das ist in gewisser Hinsicht kreativ. Kreativ ist ja nicht, was man sich so ausdenkt, sondern der Abfall des Ausdenkens, der nebenan auf dem Kompost landet und Blüten treibt. Tun ohne alles Zutun. Die reine Tat entspricht hier einem Null-Ausdruck des Tuns, ein Tun, das jedem Tun zugrunde liegt. Die reine Tat geschieht isoliert von allen anderen Taten. Nichts geht ihr voraus. Darauf zielt etwa Charles Bukowskis Phrase Don’t Try, die passenderweise seinen Grabstein ziert. Denn wer versucht, etwas zu tun, tut nichts. Der Idiot der Tat schaltet alles außer seine Mission ab, die er verfolgt, weil er eine Situation auf der Ebene ihres Ereignens und nicht auf der Ebene ihres Verständnisses erlebt. Er ist, gleich einem Dichter, ein purer Realisierer, der vom „Verlust des Gegenstands“ (Marx) und einer entfremdeten Motivation getrieben ist. Sein Wissen ist habitualisiert, er kann wie der literarische 122
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Idiot Ennoch Emery mit Handlungsanleitungen nichts anfangen. Seinen funktionalen Autismus teilt er mit vielen anderen umtriebigen Realisierern. „Es gibt kein Warum“, antwortete Philippe Petit, als Journalisten ihn 1974 nach seiner Verhaftung gefragt hatten, warum er seinen riskanten Drahtseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers durchgeführt habe. Aber so spricht auch ein Technokrat, der vollständig im Staatsapparat aufgegangen ist. Am Anfang und am Ende steht der Idiotenimpuls, der einem bürokratischen oder künstlerischen Amoklauf gleichkommt: Maniac sein und als solcher zugleich Teil des grundlosen Ablaufs aller Dinge werden. Im Grund des Satzes versinken. Je größer der Widerstand gegen die Tat, desto rabiater die Anforderung, sich der Grundlosigkeit zu öffnen – hier spielt sich die Radikalität von Kunst und Nicht-Kunst ab. Sich zwischen zwei Unmöglichkeiten einen realen Raum erschaffen und im Übergang die Freiheit finden, die einem Drahtseilakt gleichkommt, über dem Schlund balancierend: Die Population der Moment-Hasardeure sind Übermenschen im akrobatischen Sinne, Menschen, die über der Ebene der niedersten Zusammenfügung balancieren. Sobald sie stolpern und fallen, werden sie zur grotesken Erscheinung, wie etwa der Schneidermeister und Fallschirmpionier Franz Reichelt, der 1912 in den Tod stürzt, als er mit seinem „Fledermaus-Anzug“ von Eiffelturm springt, drei Sekunden lang hoffend, dass Erfindergeist physikalischen Gesetzen trotzt. Von Reichelts Todesflug gibt es heute immer noch Aufnahmen – ein Beweis höherer Thompsonisierung. Nicht alles an Todesstürzen ist jedoch Irrtum. Der fallende Engel fragt mit seinem Körper danach, wo der kürzeste Weg zwischen Lappalie und Katastrophe liegt. In jeder Pionierstat herrscht ein intuitives Hinnehmen des Untergangs. Das Warum ist die Gravur der Tat. „Es geht also eher um das Sein-Machen, als um das Sein-Sollen“, schreibt Jean-Luc Nancy. Und Bayers Idiot sagt: „|was ich tue, geschieht, aber ich soll es nicht tun. es geschieht.|“ Flow – Es zeichnet viele Idiotypen aus, die ‚Grundschwingung‘ eines realen Momentes zu erfassen. Mihály Csíkszentmihályi hat den Moment in den 1970er Jahren als Flow-Zustand untersucht. Die wichtigsten 123
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spekte des Flows sind: A – eine extreme Fokussierung aufs Vorhaben – die Immersion der Handlung in der Aufmerksamkeit – zeitliche und räumliche Besinnungslosigkeit („Wo bin ich, wie spät ist es?“) – Antizipation (alle Zweifel ausgeräumt, „Ich schaffe es!“) – das Ziel ist das Ziel (autotelisches Bewusstsein, keine Motivation jenseits des Zieles) Csíkszentmihályi studierte zunächst den kreativen Prozess von Künstlern und weitete die Interpretation auf andere Gebiete aus. Aus den Flow-Studien ist schnell eine Beratungs- und Beeinflussungsindustrie erwachsen, die sich auf Win-Win-Erwartungen stürzt: Wer im Flow ist, wird beruflich on top sein. Die Zukunftsprojektion verknüpfte die Flow-Metapher mit systemischen Überlegungen, Psyche, Business und Big Data, welche die heutigen Computational Economics dazu animiert, immer neue Modelle für das optimale Schwingungsverhalten von Organisationen zu finden. Da ist etwa beim MIT-Computerguru Alex Pentland von „Idea Flow“ die Rede, wenn es darum geht, die Soziophysik von Organisationen zu untersuchen: „Die Soziophysik hilft uns zu verstehen, wie mit Hilfe sozialer Lernprozesse Ideen von Mensch zu Mensch fließen und wie dieser Ideenfluss letztendlich die Normen, die Produktivität und den kreativen Output unserer Unternehmen, Städte und Gesellschaften beeinflusst. Sie ermöglicht es uns, die Leistungsfähigkeit von kleinen Gruppen, von Unternehmensbereichen und sogar von ganzen Städten vorherzusagen“ (Pentland). Idea-Flow, Data-Flow, Cash-Flow: Im autotelischen Bewusstsein bildet sich unentwegt die Subjektform der heutigen Kapitalbeziehung ab, die sich zunehmend weg vom Vergangenen bewegt und im Flow dem Kommenden entgegentreibt. „Das Heute“, schreibt Fernando Pessoa, „ist für den Tatmenschen nur ein Vorspiel der Zukunft“. Signatur – Alles Geschehen befindet sich heute so im Fluss der „flüssigen Moderne“ (Bauman), wie es sich als Form des Spektakels abzeichnet. In den Worten Guy Debords: „Im Spektakel, dem Bild der herrschen124
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den Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles.“ Die Entwicklung ist aber immer eine zukünftige, sie erweitert das Ende um ein Vielfaches. Die Schwarmintelligenz dient als Matrix eines zukünftigen Optimalverhaltens, das den Flow sicherstellt. Debords Spektakel ist aus heutiger Sicht eine soziale Beziehung im Flow der Selbstbilder, der aus der Zukunft auf die Gegenwart zuströmt. Die diesem allgemeinen Fließen der Ideen, Konzepte, Bilder, Projekte usw. entgegenstehende reine Tat ist hingegen bildlos, ideenlos, konzeptlos und nicht repräsentierbar, d.h. sie ist real. Sie entzieht sich dem Spektakel, wie sie sich der kapitalistischen Grundordnung entzieht – wenn man so will: echtes Leben im echtem Leben im falschen. Und das heißt, im Tun ein Ende finden, das prinzipiell nicht zu Ende gedacht werden kann, das, um mit Adorno zu sprechen, die Signatur des Nichtidentischen hat. Die heutige Überforderung mit der unverstandenen Welt erklärt zumindest den Überfluss an Erklärungen und Feststellungsbemühungen durch Big Data und Soziophysik. Deshalb entsprechen unerklärliche Ereignisse, die sich inmitten des Spektakels dem Spektakel entziehen, Zugängen zu realen Zusammenhängen innerhalb dieser Welt. Das Phänomen des Idioten motiviert den Versuch der spekulativen Vernunft, das herkömmliche Verständnis der Dinge und Wesen von zwei Seiten her zu durchbrechen: Der Idio typus erster Ordnung entzieht sich mit seiner Tat dem Spektakel, der Idiotypus zweiter Ordnung setzt sich ihm vollständig aus, überidentifiziert sich mit ihm, resultierend in der fiebrigen Vision, wiederholt gegen eine Fahrstuhltür anrennen zu müssen… Klar, daher unerklärlich – Zweckorientiertes Handeln setzt sich ein Ziel, dem sich die Mittel unterordnen. Zweckfreies Handeln verwendet Mittel, denen sich das Ziel unterordnet. Das Handeln des Idioten kann innerhalb dieser Binarität nicht abgebildet werden. Es spiegelt das repräsentative Schema des Spektakels aus der Perspektive der niedersten Zusammenfügung. Die imbezile Welt ist rätselhaft, denn sie scheint nur sich als Ziel zu haben, in dem Zweck und Mittel ununterscheidbar werden. Dies gilt in allen Bereichen, in denen von „unerklärlichen Taten“ die Rede ist: Man denke an Verbrechen, bei denen jemand nur um des 125
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ötens willen tötet. So, wie Zivilisten stets ihren unzivilisierten Anteil T an sich haben, haben unpolitische Idiotypen stets ihren politischen Anteil an sich. Die Jahrhundertfrage Was tun? bekommt eine dezisionistische Note: das „Sein-Machen“. Es ist daher auch ein Aspekt der niedersten Zusammenfügung, dass die radikalste politische Durchsetzung dort Metaphern der Reinheit oder Klärung hervorruft („ethnische Säuberung“, „Endlösung“), wo das Verbrechen zum Selbstzweck geworden ist, wo unsichtbares Tun die sichtbare Tat bestimmt. Die „ethnische Säuberung“ beispielsweise ist zwar als Begriff zynisch, aber dennoch trifft sie die Logik des Geschehens präzise, weil nämlich die Gewalt von allem Verständnis ‚gesäubert‘ ist. Das ist einer der Gründe, warum nach den Nürnberger Prozessen die Kategorie des Genozids geschaffen wurde: weil nämlich nichts am Holocaust ‚verstanden‘ werden kann, insofern alles an ihm schon ‚klar‘ ist. Man kann feststellen, dass er stattgefunden hat und dass es Daten gibt, die das ausdrücken. Und zugleich kann man feststellen, dass das, was sich ereignet hat, zugleich auch in einem sehr bestimmten Sinne ‚unmöglich‘ ist, d.h. dass die Tatsache des Ereignisses komplett absurd ist und einen fundamentalen Zweifel an der Menschheit hervorruft. Deshalb fetischisieren Holocaustleugner vor allem diese ‚Reinheit‘ der Tat, wollen die nackte Tatsache des Bösen in ein historisches Gewand hüllen, wollen das Unmögliche, das sich de facto ereignet hat, im Nachhinein möglich machen (‚relativieren‘). Daher warten sie z.B. mit ‚realistischeren‘ Zahlen auf, wollen den Holocaust ‚ermöglichen‘. Dabei stürzt bereits ein einziger Vergaster die Welt in den Abgrund. Jede Idiotie drückt die Immanenz eines Geschehens aus. Die reine Tat vollzieht sich so, wie sich eine Fahrstuhltür öffnet. Sobald man sie feststellt, verfehlt man ihre Unmöglichkeit. Deshalb braucht im Grunde jede reine Tat einen neuen Gerichtshof, ein neues Nürnberg, und deshalb nennen wir unerklärliche Taten Amoktaten. Aber streng genommen müsste für jede reine Tat auch ein neues Wort erfunden werden. Struktur der Idiopraxis – „[J]ede Realität ist notwendig beliebig, zugleich bestimmt und zufällig, also unbedeutend“, schreibt Rosset. Da sich kein Moment metaphysisch vor jedem anderen Moment auszeichnet, ist die 126
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jedem Moment zugrunde liegende Realität ebenso notwendig wie zufällig. Da es sich aber im Erleben stets um nur einen einzigartigen Moment handelt, ist dieser ebenso bestimmt wie beliebig. Die Handlungsebene der niedersten Zusammenfügung stülpt die Zweckrationalität um. Ihr Motiv ist ebenso unbestimmt wie unmöglich, entsprechend den beiden Horizonten: Idiotypisches (vorpolitisches) Handeln erster Ordnung drückt aus: „Ich will etwas Unbestimmtes“ → Wille zum Anfang Idiotypisches (pseudopolitisches) Handeln zweiter Ordnung drückt aus: „Ich will etwas Unmögliches“ → Wille zum Absurden Die reine Tat, das Spektrum des idiotypischen Handelns, bestimmt sich durch Unbestimmtheit und Unmöglichkeit. Daraus erwächst das Sprachspiel der Mittel und Zwecke. „Wie sich das alles seltsam benimmt, | ineinandertreibt, auseinanderschwimmt: | freundlich, ein wenig unbestimmt. | Wie gut“, schreibt Rilke im Lied des Idioten. Wer ‚versucht‘, etwas zu tun, geht gegen eine Unbestimmtheit und Unmöglichkeit an. Wer aber die Unbestimmtheit und Unmöglichkeit in seinem Versuch inkorporiert hat, agiert auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung. Die Idiotentat ist nichts Neutrales, da sie, gleich dem Neutrum Blanchots oder Barthes’, die Binarität des Sinns angreift. Eine Partei, die zwei sich bekriegende Parteien attackiert, ist ebenso neutral wie kriegerisch. Rationale Entscheidungen sind mindestens einmal durch das Idiotenschema gelaufen – das unmögliche oder unbestimmte Dritte der Binarität. Der Idiot steht als Begriffsfigur der niedersten Zusammenfügung für die Aushebelung der Verhältnisse, die etwa Debord als Kampf gegen die epistemologischen, soziologischen und ökonomischen Trennungsmechanismen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verstand. Die Fragen, die die Praxis des Idioten begleiten, lauten: Wie bestimmt man das Unbestimmte? Wie vollbringt man Unmögliches? Nach Marie Curie sind es nicht die praktisch Veranlagten, sondern die Träumer, die Unmögliches vollbringen. Doch Idioten sind praktische Träumer, die für die paradoxen Kompetenzen einer bounded rationality stehen: Alltagsheurismen, Halbwissen, Rational Ignorance, „Blinks“ (Malcolm Gladwell) und „Bauchentscheidungen“ (Gerd Gigerenzer). Psychologische Studien bestätigen 127
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immer wieder, dass es im Nachhinein betrachtet „nicht immer von Vorteil [ist], bei einer Entscheidung ausführlich und bewusst abzuwägen. […] Komplexe Entscheidungen sollten unbedacht erfolgen“ (Dijksterhuis). Die mit jeder praktischen Träumerei einhergehende Unwägbarkeit kann man nicht immer von ihrer Kreativität separieren. Zwar gilt, was George Bernhard Shaw verlautbart: „Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an. Der unvernünftige Mensch versucht immer wieder, sich die Welt anzupassen. Deshalb hängt jeder Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab“. Der Idiot der Situation ist aber eine Figur, in der Vernunft und Unvernunft zusammenfallen: „Gewöhnlich, unoriginell, ohne Tiefe und Geheimnis begreifend, dass ihr günstigerweise gerade jetzt den Moment zum Leben erwischt habt, […] könnt ihr schöpferisch sein“ (Ludwig Rubiner). In jeder Gewöhnlichkeit schlummert ein ebenso ‚göttlicher‘ wie gefährlicher Sprung ins Freie: Man agiert axiomatisch, auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung, als Phänomen vor sich.
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ENTSPIEGELTES SELBST: DAS SEIN VOR DEM SEIN
„Fear has no brains; it is an idiot.“ Ambrose Bierce
Null-Ausdruck des Selbst? – Ob beim Null-Ausdruck des Idioten, seinen Idiotypen oder den Zugängen zum Realen: In der Idiotensaga stoßen wir ständig auf Vermutungen über das Bewusstsein, in denen das Verhältnis von Aktivität und Passivität, Intentionalität und Besinnungslosigkeit, Innensicht und Außensicht in Frage gestellt wird. Üblicherweise werden diese Bezüge und die Frage des Bewusstseins heute mit Mitteln der Hirnforschung durchleuchtet: Da befindet sich also das isolierte Organ im sozialen Schädel und der soziale Schädel in der ‚asozialen‘ Testapparatur, die ihn auf seine elektrochemischen Aktionspotenziale hin untersucht. Und nun erforschen wir die Korrelationen des Innenlebens mit dem Außenleben, um die Trennung von Innen und Außen zu überwinden und sie auf das Außen zurückzuführen, weshalb man ja überhaupt eine äußere Erkenntnisapparatur rechtfertigen konnte. Die äußere Erkenntnisapparatur konnte man aber erst dann rechtfertigen, als man seit Anfang des 20. Jahrhunderts der Introspektion gegenüber – die eine Erkenntnisapparatur des Inneren ist – eine gehörige Skepsis entwickelt hatte. Zu Recht. Wem traut man aber? Dem betrunkenen Fahrer oder dem dumpfen Autopiloten? Der eigenen Überlegung oder den Daten der anderen? Lässt sich meine Überlegung auf die Daten der anderen zurückführen? Und lassen sich deren Daten wiederum auf meine Überlegungen zurückführen? Jenseits der Dateneuphorie hat sich ein Bereich des Selbst hartnäckig erhalten, der vielleicht nur durch Introspektion erforscht werden kann und dessen experimenteller Nachweis nichts zu 129
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seiner subjektiven Gewissheit hinzufügen würde: Es geht um das Paradox des vorbewussten Bewusstseins, der präreflexiven Reflexion – oder hier kurz: Präflex(ion). Dabei handelt es sich um ein bekanntes philosophisches Terrain. Nach Jean-Paul Sartre etwa ist das Bewusstsein kein besonderer Erkenntnismodus, d.h. „innerster Sinn oder Erkenntnis von sich“, sondern „die transphänomenale Seinsdimension des Subjekts“ (Sartre). In einer Aufgabe zu versinken, in der Trance zu verschwinden oder im immersiven Medium aufzugehen bedeutet, ebenso unreflektiert wie bewusst zu sein. Zugleich ist aber auch „jedes objektsetzende Bewusstsein […] gleichzeitig nicht-setzendes Bewusstsein von sich selbst“ (Sartre). Der Gehalt des Präflexes ist leer, entspricht so einem Null-Horizont des Selbst. Sartre illustriert das mit dem „nicht-thetischen“ Zählen. Sagen wir, ich sehe zwei Kinder auf dem Spielplatz. Wenn man mich fragte, woher ich die Anzahl weiß, würde ich sagen: „Schau hin, es sind zwei.“ Was ich aber meine, ist: Ich habe gezählt, wie viele Kinder es sind, nur war das Zählen kein Thema, weil die Anzahl der Kinder trivial ist. Ich würde also nicht sagen: „Es sind zwischen null und vier Kindern.“ Es wäre interessant, so zu sprechen, aber auch absurd. Ich vollziehe im Alltag andauernd nicht-thetische Setzungen, ohne dass aber diese Setzungen nur unbewusste Kopien der bewussten Prozesse sind. Wichtig ist, nicht nur zu erkennen, dass „die Reflexion keinerlei Primat gegenüber dem reflektierten Bewusstsein hat“ (Sartre), sondern noch radikaler, was auch immer das neuronale Korrelat des Bewusstseins ist, dass das „nicht-reflektierte Bewusstsein […] erst die Reflexion [ermöglicht]“. Dieses präreflexive, nicht-thetische Selbstbewusstsein ist der „einzig mögliche Existenzmodus für ein Bewusstsein von etwas“. Die nicht-thetische Setzung liegt auch der Wahrnehmung zugrunde. Ich nehme mich nicht nur wahr, sondern bin schon vorab wahr, bevor ich wahr nehme. Keine Repräsentation kann meine Selbstvoraussetzung äußerlich ‚erklären‘. – Das alles klingt vertraut, denn die reflexive Unmöglichkeit begleitet auch die Geschichte des Idioten. Sie bildet die ontologische Basis, welche die paradoxe Story des inneren Idioten und sein Hervorholen in der Welt ausmachen.
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Trotzdem – Wie man diese ‚Avantgarde‘ des Selbst auch angeht, aus der präflexiven Strukturierung des Selbstbewusstseins folgt die Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Freiheit, wie sie in Hirnforschungsdebatten angerissen wird und in einer Aporie endet: Wenn der Physikalismus die endgültige Beschreibungsform ist, muss er mit Hilfe des Physikalismus beschrieben und erkannt werden. Ist diese Erkenntnis eine Folge der Beschreibung, oder ist sie deren Voraussetzung? Wenn sie deren Folge ist, kann es keine Entität geben, die erkennt, und Erkenntnis ist illusionär oder sinnlos. Wenn sie deren Voraussetzung ist, muss es etwas anderes als den Physikalismus geben. Gibt es aber etwas anderes, gelangen wir zu problematischen Annahmen über den Dualismus von Körper und Geist. So kann man heute z.B. unter „psychosomatischen“ Störungen leiden, ohne dass man weiß, wie genau psyche und soma aufeinander wirken oder was ‚wirken‘ überhaupt bedeutet, wenn physikalische und nichtphysikalische Vermutungen miteinander verknüpft werden. Eine Ärztin verschrieb mir einmal ein homöopathisches Präparat, obwohl sie, wie sie betonte, nicht an Homöopathie glaubte, fügte aber augenzwinkernd hinzu: „Es wirkt trotzdem“ – wie in der A nekdote mit Niels Bohr und dem Hufeisen: eine Anekdote, die auch dann wirkt, wenn man nicht an sie glaubt. Wir stoßen im Alltag permanent auf normalisierte Lösungen, die uns wie ein altüberliefertes Küchenrezept anmuten, weil uns Prämissen und Konsequenzen des Gesamtzusammenhanges nicht klar sind. Wir fahren durchs Große Ganze mit Globulivernunft ausgestattet – und doch, siehe da: Die Ahnungslosigkeit wirkt, es gibt Placebo-Heilungen jenseits des erwarteten Wissens, unsere „Intention arbeitet auf mehreren Bewusstseinsebenen“ (Glaser & Kihlstrom). Und umgekehrt präsentieren sich auch Fälle, in denen Menschen etwas aus nichts erzeugen und z.B. auch dann elektrosensibel reagieren, wenn sich keine Elektrizität in ihrer Nähe befindet. Mit anderen Worten: Nocebo, Placebo und Verum agieren wie die Hauptfiguren eines Theaterstückes über eine langjährige Beziehungskrise von Körper und Geist. Infinitiv – Das Für-sich-Sein in eine Form des Vorab-Seins, und das Vorab-Sein ist eine Form des Null-Ausdrucks. Jede Sache, so Clément 131
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osset, ist idiotisch, „wenn sie nur in sich selbst existiert, das heißt, unR fähig ist, anders zu erscheinen, als dort, wo sie ist und so, wie sie ist: in erster Linie also unfähig, sich zu reflektieren“. Die Idiotie entspricht hier einem Anfangsverdacht über die „versteckte und unfassliche“ Natur des Seins. Die präflexive Selbstahnung ist keine Repräsentation eines Wissens um sich, sondern eine Art ontologischer Infinitiv: zu-sein. Ist es ein Prozess oder die Form eines Prozesses? Ist es die Emergenz eines Subphänomens? Ist es das Subphänomen selbst? Manfred Frank behauptet, dass viele Theorien des Geistes das Selbstbewusstsein mit innerer Wahrnehmung verwechseln: „Wer Selbstbewusstsein für eine Art von Selbstrepräsentation hält, kann Standardfälle von pathologischen Störungen nicht sicher trennen. Dennoch hat das Modell der reflexiven Selbst repräsentation auch in den Neurowissenschaften […] und in der Psychiatrie […] seinen Siegeszug angetreten.“ Wie Dan Zahavi anführt, besteht das Hauptproblem der Reflexionstheorie darin, dass sie das Bewusstsein objektiviert und als Gegenstand seiner selbst entwirft. Dies ist eine alte Vorstellung, wie sie z.B. in Hölderlins Fragment Urteil und Sein auftaucht: „Wie ist aber Selbstbewußtsein möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesetzten als dasselbe erkenne. Aber inwieferne als dasselbe?“ Die Frage ist berechtigt, denn die zugrunde liegende Anschauung ist problematisch: Ich „erkenne“ mich gerade nicht als „dasselbe“. Wie Zahavi betont, ist eine innere Spiegelung kein zureichender Grund für Selbstbewusstsein, denn „die Wahrnehmung muss als identisch mit dem Akt der Reflexion verstanden werden“. Das wäre aber nur durch eine weitere Reflexion möglich, die wiederum eine weitere Reflexion nötig machte usw. Aus diesem generellen Argument gegen die Reflexionstheorie folgt, dass jedwede Erklärung des Selbstbewusstseins von einer Spaltung oder inneren Projektion absehen muss. Selbstbewusstsein ist eine „exstatische Einheit“ (Zahavi), oder es ist nicht. Phänomenologie des inneren Idioten? – Die Vorstellung eines vorab Gegebenen trägt seit Franz Brentano den Verdacht, als unphänomenologisch, d.h. vorurteilshaft zu gelten. Brentanos Antikantianismus wandte sich 132
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vor allem gegen die transzendentale Formenlehre, gegen den umständlichen Apparat des Wissens, Glaubens, Hoffens. Das Konzept des präflexiven Selbst ‚verrät‘ jedoch die phänomenologische Methode nicht, denn es handelt sich um keine transzendentale Wahrnehmungs- oder Denkform. Es konstituiert die bloße Tatsache und nicht das ‚Machen‘ des Selbstseins. Diese Konstitution entspricht in etwa Jean-Luc Nancys Beschreibung des Sinns der Welt: „[Die Welt] kommt sich zuvor und über-rascht sich selbst, und eben das ist das Faktum der Welt. Deshalb geht […] das ‚Selbst‘ des Sinns – die Selbstheit als weltweites, mondiales Existenzial – jeder Egoität und Subjektivität voraus“. Der ‚innere Idiot‘ im Sinne einer Prä-Konstitution des Selbst erweist sich als eine realisierte Metapher dieses Vorbewusstseins der Welt-Konstitution, das weder echt noch falsch, sondern frei ist, da es sich allen Bedingungen der Spiegelung entzieht – gleich dem perfekten Idioten Rousseaus, dem Subjekt ohne Eigenschaften, das eine abstrakte Freiheit auslebt, indem es sich permanent zuvorkommt. Dieses Zuvor ist als unendlich zu verstehen, es hat kein weiteres Zuvor. Freiheit kann in dieser Wendung nur als Überraschung gelebt werden, die das Abstrakte an ihr konkretisiert. Das meinte der Satz zu Beginn des Buches, dass es beim Idioten nicht um Dummheit, sondern um Freiheit gehe. Mit anderen Worten: „Die Idiotie des Seins besteht in der Auflockerung des Bandes der Determiniertheit“ (William Desmond). Die Frage, wie sich ein präflexives Selbst gesellschaftlich modelliert, entspricht somit der Frage, was es heißt, den „inneren Idioten hervorzuholen“. Es heißt einerseits, sich selbst zu thematisieren, ohne dass man notwendigerweise selbst das alles determinierende Thema ist – so schreibt Valéry in den Cahiers: „Das Selbst ist die Invariante sämtlicher möglichen Anderen“, und es heißt andererseits, das Vorbewusste einer Situation zu reflektieren, ohne diese Situation zu reflektieren. Das wäre der Punkt, an dem Valéry die literarische Reflexion ad absurdum führt, kulminierend etwa in seiner Vorstellung des niemals beendeten Gedichts. Denn die vergehenden Worte verweisen auf eine vorab bestehenden Zustand, welchen die poetische Reflexion niemals einholen wird. Valéry: „Wenn ich diese Hefte schreibe, schreibe ich mir, schreibe ich mich. Doch ich schreibe mir nicht alles, ich schreibe mich 133
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nicht ganz.“ Da ist immer ein uneinholbarer Rest. Diese beiden Aspekte des Ein- und Hervorholens entsprechen im Gedankenprozess einem Therapeuten und Patienten in einer Person. „Sich gut zureden“: Was bedeutet das, und wen bedeutet es? Michel Foucault hat mit seinen Forschungen zur écriture de soi auf die antiken Rituale der Selbstschreibungen Bezug genommen, die auch in Wittgensteins Forderung nach einer Philosophie als Arbeit am eigenen Selbst zugrunde liegen und bei Valéry zum Stilmerkmal werden. Es muss beim Selbstbezug allerdings unterschieden werden zwischen vorbewusst und unbewusst: Das Un- oder Unterbewusste in psychoanalytischer Deutung sind Seinsdimensionen der Psyche. Das präflexive Bewusstsein setzt vor aller Strukturierung der Psyche an. Als Vorbewusstes hat es keine äußere Repräsentation, sondern allenfalls nur das, was Valéry „innere Sprache“ nennt. Präflex und Immanenz – Etwas, das unreflektiert, sich-selbst-gleich und doch notwendig und gewiss ist, ohne mit Alain dieses „Wissen zu wissen“, ist prinzipiell idiotisch. In all den pathologischen Ausnahmen der Idiotenfigur verkörpert sich ein ontologischer Null-Ausdruck, ein Default-Zustand, der nicht mit dem epistemologischen deckungsgleich ist. Darauf bezieht sich die literarische Imagination, wenn z.B. der Idiot sein Wissen spürt, ohne etwas zu wissen, indem er einen Zugang zum Realen legt. Deshalb kann er darin so gut sein, worin er so schlecht ist. Nicht nur Sein und Begriff, wie in Adornos Negativer Dialektik, sondern auch das Wissen darüber ist nichtidentisch. Das idiotisch Reale ist etwas, das immer schon gegeben ist, das mit jedem Akt als radikale Immanenz ko-konstituiert ist. Wie Ray Bressier in Nihil Unbound im Hinblick auf Laruelles Konzept des Realen schreibt, wird radikale Immanenz „nicht durch einen Akt der Entscheidungssynthese gesetzt und vorausgesetzt, sondern axiomatisch anhand des Vokabulars der transzendentalen Philosophie als einer realen Instanz bestimmt, die keine Konstitution erfordert. Mit anderen Worten, das Reale ist axiomatisch […] als ‚bereits konstituiert‘ definiert. Genauer gesagt ist es axiomatisch definiert als das, was ‚immer schon‘ als Voraussetzung für jede Operation der transzendentalen Synthese gegeben ist.“ Das Reale ist das Phänomen an sich, 134
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das sich mit dem transzendentalen Apriori mitkonstituiert. Es hat die Strukturierung der reinen Tat, d.h. des Aspekts, der sich mit alltäglichen Ereignissen mitaufbaut, daran erlebbar wird, ohne dass es repräsentiert werden kann. Ein weiterer Aspekt dieser präflexiven Ontologie ist, dass das Reale vorgängig ist, so originär eine Erfahrung oder ein Akt auch erscheinen mag. Es steht vor aller Kognition und Intuition („Das Reale ist vor jeder kognitiver oder intuitiver Annahme schon-erworben“). Es ist voridentitär und im strengen Sinne in-dividuell, dass es sich der empirischen, transzendentalen oder metaphysischen Spiegelung entzieht. Mit der Idiotie als bestimmter Besinnungslosigkeit, als Diskurs des Realen, der Ontologie der Einzigartigkeit und der reinen Tat sind ebenfalls Zustände angesprochen, die sich der symbolischen Spiegelung entziehen. Auch der klinischste Idiot ist damit irgendwo wirklicher, ontologischer, innerer Idiot, d.h. auch er lebt in der Grundahnung seines Selbst, so selbst- oder besinnungslos er sich nach außen auch gibt. Wenn heutzutage etwa durch Stimulierung des Nucleus solitarius und des Thalamus über den Vagus-Nervenstrang bei Locked-in-Patienten basale Bewusstseinsprozesse induziert werden – „restoring consciousness“ oder „repairing lost consciousness“ (Martina Corazzol), wie es im Neurojargon heißt –, dann muss sich auch mit diesem Fragmentbewusstsein eine vollständige präflexive Ebene der Selbstahnung mitkonstituieren. Andernfalls machte die Verwendung des Bewusstseinsbegriffes keinen Sinn. Mit ‚Bewusstseinsreparatur‘ ist gemeint, dass der Patient seinen Zustand reflektieren und sich über einen vegetativen Status erheben kann – in etwa so, wie wir Außenstehenden ihn als Patienten reflektieren. Aber nochmals: Reflexion ist keine zureichende Bedingung für ein bewusstes Wesen, sonst könnte man jedes technische Gerät mit Vornamen ansprechen. Je mehr jemand auf sein idion reduziert ist, desto idiotischer gibt er sich für andere: unfähig, sich im Selbstbild zu repräsentieren, aber umso fähiger, es auszuleben. Der Null-Ausdruck stellt sich überall dort ein, wo sich ein entspiegeltes Selbst konstituiert, und diese Spiegellosigkeit ist ein Ausdruck für eine Intensität an sich.
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Verkennung und Identifizierung – Reflexion ist nicht das, worin sich die Vernunft inthronisiert, sondern eine Relation zweier Besinnungslosigkeiten: Selbstverkennung und Selbstidentifizierung. Wenn ich mich total verfehle, bin ich Idiot, und wenn ich mich total verstehe, bin ich Idiot. Die Reflexion ist das Desiderat zweier ‚Idioten‘, die sich zu denken wünschen: das Desiderat, d.h. das Erwünschte („desire“), das sich zwischen totaler Selbstidentifizierung und totaler Selbstverkennung ergibt. Denken ist Wünschen. Wenn Nietzsche 1884 in seinen Notizen vermerkt: „Ein Mensch, der sich absolut gut fühlt, müsste geistig ein Idiot sein“, dann bezieht er sich implizit auf eine Polarität: Jemand, der sich absolut gut fühlt, fühlt zwar sich auf eine bestimmte absolute Art und Weise, aber die absolute Bestimmung überkommt das Selbst in der totalen Auszeichnung des Sich-gut-Fühlens. Absolut meint hier also eine besinnungslose Form von Selbstverkennung oder Selbstidentifikation, ohne sich dabei selbst als Träger des Gefühls zu erfahren. Sich absolut gut zu fühlen meint im Grunde, dass das Gefühl zum Hegemon des Zustands geworden ist und damit alle Nuancen und Unterschiede verschlingt. Denn was nützt es, sich absolut gut zu fühlen, wenn man es nicht merkt? Die Frage ist dann, ob der absolut gute Gefühlszustand vom absolut schlechten unterscheidbar ist. Also verwendet Nietzsche den Idiotenbegriff, um diese Extreme einzufangen. Die Sinnlosigkeit des Zustands ist pathologisch. Zugleich scheint sie fürs Denken konstitutiv, wie Nietzsche etwa in seiner Kritik am abendländischen Denken einräumt. Wohin zielt obiger Satz über den „geistigen Idioten“ überhaupt? Bildet er eine psychologische oder philosophische Möglichkeit ab, und ist diese Möglichkeit physiologisch relevant? Wie müsste ein Experiment beschaffen sein, das uns darüber Klarheit verschafft? Mit sich selbst sprechen – Valéry definiert Denken als Fähigkeit mit sich selbst zu kommunizieren. Bei Heidegger zeichnen sich große Denker dadurch aus, dass sie ihr gesamtes Leben lang auf einen Gedanken zurückfallen. Das sind Figuren der Reflexion, denen innere Experimente zugrunde liegen. Das Sprechen mit sich selbst oder das Zurückfallen auf den einen Gedanken sind Resultate des Oszillierens zwischen Ver136
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kennung und Identität. Es ist irreführend, zu behaupten, dass man eine Beziehung zu seinem Gedanken entwickeln kann oder dass man mit sich selbst kommuniziert. Korrekter wäre es, zu sagen: „Ich wünsche mich“. Denn es gibt keine zwei Selbste, in denen die Aussage des einen Selbst auf das Verständnis des anderen Selbst stößt, in einer Antwort mündet und das Ganze als Denkprozess eines daraus synthetisierten „Selbstmodells“ (Thomas Metzinger) markiert. Der innere Dialog ist wie der ‚innere Film‘ eine Zweckillusion. Denken ist nicht „die Kommunikation mit einem anderen, der man selbst ist“, wie Valéry meint. Denken ist überhaupt keine Kommunikation, sondern ekstatische Performanz, oder wie auch immer man das insistierende idion bezeichnen möchte. Es verweist auf eine Oszillation zweier Basal-Idioten, die den Raum des Selbstwunsches definieren. Valéry selbst bestätigt dies, wenn er im Monsieur Teste schreibt: „Der fremde Blick auf die Dinge, der Blick eines Menschen, der nicht versteht, der außerhalb dieser Welt steht, Auge an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein – ist der des Denkers. Und auch der des Sterbenden, des Menschen, der den Verstand verliert.“ Der den Verstand verliert, ist ein Denker. Der außerhalb der Welt steht, ist ein Denker. Der Denker wünscht sich, innen zu stehen. Er wünscht sich, den Verstand zu gewinnen. Wodurch autorisieren sich der Orator und der Philosoph bei Cusanus außer durch die Tatsache, dass sie den Laien Idiota innerhalb ihres Wunschhorizontes qualifizieren? Sie wünschen sich, so schlussfolgern zu können, wie es der gedankenlose Laie mit seinen untrainierten Einfällen vermag. Sie wünschen sich, denken zu können. Sie haben alle scholastischen Denktrainings absolviert, doch sind sie nicht an den gedankenlosen Kern des Denkens gestoßen. Cusanus lässt sie daher etwas entdecken, was Max Weber später als zentrale Voraussetzung des wissenschaftlichen Denkens angeben würde: Leidenschaft – oder nennen wir es: Wunschfähigkeit. Narziss als Idiot – Die Kulturgeschichte steckt voller präflexiver Figurationen, in denen das Denken mit seiner Unmöglichkeit konfrontiert und auf den Moment des Selbstwunsches geworfen wird. Dabei muss nicht immer ein pathologischer Idiot im Zentrum stehen. Gerade Narziss, der 137
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gemeinhin als Paradebeispiel der Spiegelung gilt, steht hier für die präflexive Verfassung. Im Gegensatz zu Zeitgenossen oder Nachfolgern wie Poussin verstand es vor allem Caravaggio, den mythischen Spiegel zu ‚entspiegeln‘ und dadurch den Kern des Motivs herauszuarbeiten. Deutlich wird das, wenn man im Gemälde Kopf und Spiegelung einander annähert:
Caravaggio, Narcissus, 1594–96 (Ausschnitt, Köpfe digital angenähert).
Es ist zu erkennen, dass sich das Gesicht des Subjekts und seiner Spiegelung optisch verfehlen (Augen, Nase, Kinn). Es wirkt fast so, als ob sich die Spiegelung dem Blick verweigert und ihn dadurch weiter zu sich hin locken möchte. Man kann sich vorstellen, wie sich Narziss immer weiter nach vorne beugt, um sich in der Spiegelung zu erkennen, und dabei ins Wasser fällt und ertrinkt. Caravaggio stellt keine Spiegelung dar – denn „das vom Spiegel zurückgeworfene Bild ist mit der von ihm suggerierten Wirklichkeit nicht kongruent“ (Rosset). Das Selbst ist „unfähig, sich zu reflektieren“ (ebd.), weiß also nicht um sich, führt aber den Selbstwunsch mit sich. Das intuitive Vorgehen Caravaggios wird im Malprozess deutlich: Röntgenuntersuchungen haben ergeben, dass der Maler
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(der damals ungefähr das Alter seines dargestellten Jünglings hatte) die anfangs optisch korrekt dargestellte Spiegelung des Gesichtes korrigierte, indem er sie etwas zur Seite kippte. Er entwirft den Selbstwunsch als endlos im Bild verfangenen Prozess und lässt den Moment ‚gefrieren‘. „Für alle Zeiten ist die Sache so wie sie ist, ohne dass von ihr irgendein Zeichen, irgendeine Bedeutung ausgehe“ (Rosset). Nichts geschieht, ein unendlicher Zustand, kontinuierliches Nicht-Werden: „Die Idiotie, da zu sein, immer und notwendigerweise hier zu sein“ (Rosset). Es ist die Figuration eines präflexiven Zustandes, der im Gemälde die Form eines uroborischen Zirkels annimmt, der von Narziss’ Armen gebildet wird, „diesem Kreis, der ein wenig der Schlange ähnelt, die sich in den Schwanz beißt“ (Valéry). Christopher Lasch schreibt in seiner Kultur des Narzissmus, dass Narziss „jegliche Vorstellung der Differenz zwischen ihm und seiner Umgebung vermissen lässt“ und daher auch die Furcht vor dem Tod abschattet – die Aufhebung des Individuums im Selbstwunsch, im Gedanken, der sich aus der totalen Selbstverkennung speist. Man kann sich dem Sog dieses universellen Bildschirms nicht entziehen, weil Dopamine, Serotonine und Endorphine darin die Verheißungen des Glücks projizieren. Sie sind die Botenstoffe, mit denen der Idiot seine Erzählungen verfasst, die in den unendlichen Zeit-Räumen unserer Biografien stattfinden. Oscar Wilde kommt in einem Epigramm zum Schluss, dass es nicht Narziss, sondern die Quelle selbst ist, die sich in ihr Selbstbild verliebt. Doppelgänger – Der Einzelgänger verkennt sich mit sich selbst, der Doppelgänger identifiziert sich mit sich selbst. Was Rosset „Double“ nennt, hat die Anmutung einer Spiegelung, ohne eine Spiegelung zu sein. Ein Betrunkener, so Rossets Beispiel, sieht zwar ‚doppelt‘, aber dieses Doppelte ist ein Sachverhalt. Doppelgängermotive künden dahingehend vom Double der Identifikation.
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Dante Gabriel Rossetti, „Wie sie sich selbst trafen“, 1860 (Ausschnitt).
Dante Gabriel Rossettis Tuschezeichnung Wie sie sich selbst trafen (1860) stellt eine mittelalterliche Szene in Dantes selva oscura, dem dunklen Wald im Inferno, dar. Ein Paar trifft bei einem Waldspaziergang auf Doppelgänger, dargestellt durch eine weiße auratische Umrandung. Auch hier sehen wir an der Frauenfigur (rechts), wie sie sich der Spiegelung entzieht. Das Erscheinen von Doppelgängern hat unterschiedliche Konsequenzen. Dostojewskis Protagonist in der Novelle von 1846 versucht sich mit seinem Doppelgänger zu arrangieren, wird paranoisch und endet im Sanatorium. In den Sci-Fi-Filmen Oblivion (2013) und Moon (2009) sind Doppelgänger als Arbeitsklone konzipiert, die sich gegenseitig ablösen. Wo im Film das Aufeinandertreffen der Doppelgänger als Spannungsmoment aufrecht erhalten wird, führt sie bei Rossetti zum unaufhebbaren Schock. Denn das Paar trifft keine identischen Kopien, sondern sich selbst als reale Personen, unfähig, darüber auch nur einen Augenblick zu reflektieren, weil sie selbst der Erfahrungsmoment sind, um den es geht. Im Moment der totalen Selbstidentifizierung werden sie mit ihrem Realen konfrontiert. Die Frau stirbt, weil sie sich als jetzt Lebende erfährt – oder wie es Bernard Stiegler ausdrückt: die „merkwürdige wenn nicht gar tödliche Eigentlichkeit der Idiotie“. Was macht 140
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das Doppelgängermotiv so enigmatisch? Es ist die ebenso unheimliche wie untrügliche Gewissheit, dass der eigene Doppelgänger nicht spiegelverkehrt gemeint, sondern absolut identisch mit mir ist. Es ist die Erfahrung der Isotropie des Selbst, der kein Perspektivwechsel etwas anhaben kann, die Radikalität, die darin steckt, einfach man selbst zu sein, der Horror, am Leben zu sein, organisch oder zeitlich Weile zu haben. Es ist der Gegenpol zur narzisstischen Verkennung, nämlich die totale Identifikation, die aber gleichfalls im uroborischen Zirkel von der Selbstpräsenz zehrt. Doppelgänger gibt es nicht in der Realität, sondern nur als Reale, als Ereignis, in dem ein Double als Aspekt des Einen erscheint. Es geht also nicht um alltägliche ‚Doppelgänger‘-Darsteller, die ihren filmischen oder sonstigen Vorbildern durch Äußerlichkeiten nahekommen. „Die Nachahmung ist ein Anzeichen des Nichtidentischen“ (Brassier) und der Doppelgänger ein Anzeichen der totalen Identifikation. Double Life – Das Double verdeutlicht die Prozedur des präflexiven Selbstbezugs, die eine Analogie in Diskursen über die Wiedergeburt findet: Die Vorstellung ist nämlich, dass man als Identischer wiedergeboren wird, dass die Seele als Garant einer vorbewussten überzeitlichen Einheit fungiert. Der Wiedergeborene ‚spürt‘ es einfach, dass er früher einmal als anderer derselbe war, ohne darüber zu reflektieren. Die religiös konnotierte Wiedergeburtsgeschichte hat die Funktion einer Amplifikation dieser Grundahnung. Die ‚Seele‘ ist nicht unsterblich, sondern real, da sie als Generator unendlich vieler Identitätsvarianten dient. Die traditionellen Vorstellungen über die Wiedergeburt sind aus dieser Perspektive Interpretationen der immanenten Selbstgewissheit, die deshalb als zeitlos entworfen wird, weil sie jenseits des Spiegels existiert und Zeitverständnis stets eine Reflexion voraussetzt: Man denke an Augustinus’ Diktum in den Bekenntnissen, dass er wisse, was Zeit sei, wenn man ihn nicht danach frage. Und wenn man ihn frage, wisse er es nicht. Oder in Forrest Gumps Worten: „Ich kann mir Sachen ganz gut denken und so, aber wenn ich sie sagen oder schreiben soll, kommt sowas wie Wackelpudding dabei raus.“ Das Problem des realen und des fiktiven Philosophen liegt nicht darin, implizites Wissen explizit zu machen, 141
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wie das etwa Karl Polanyi beschreibt, sondern das Problem liegt im Verhältnis von präflexiver zu reflexiver Gewissheit, worin Tautologien oder Trugschlüsse lauern. Es geht bei der Wiedergeburt, bei der Seele, beim Zeitwissen, beim Selbst usw. um die untrügliche Gewissheit, derselbe zu sein, ohne sich als derselbe spiegeln zu können. Trivia & Trauma – Die basale Eigenschaft von Selbstbewusstsein, mit seinem Gegenstand auch sich selbst zu erfassen, ist im Schock ausgedrückt, der aus einer Wahrnehmung de re eine Erfahrung de se macht. Eine Situation, die einen wirklich belangt, ist keine repräsentative Situation mehr. „In einem Erlebnis […] ist uns irgendwie ‚zumute‘; es fühlt sich irgendwie an, in diesem Zustand zu sein […]. Und das scheint damit zusammenzuhängen, dass das Erlebnis nichts Fremdes repräsentiert, sondern sich so zeigt, wie es ist“ (Frank). Es ist nicht immer kodierte Xenophobie, wenn Aliens in Sci-Fi-Filmen als Monster dargestellt werden, die alles Leben auf der Erde vernichten wollen. Es ist auch Ausdruck des ontologischen Schocks, sich ‚roh‘ und als lebender Organismus buchstäblich zu er-leben. Nicht erst das heideggersche Vorlaufen zum Tode, sondern schon das Am-Leben-Sein noch ohne allen Tod, das Vorab-Sein, erzeugt Horror, Dringlichkeit und Sorge. Stiegler notiert, dass Freiheit oder Autonomie des Selbst nur als Un-heimlichkeit vollziehbar sind. Und Stanley Cavell schreibt von der „Unheimlichkeit des Gewöhnlichen“, wenn er auf eine Stelle bei Heidegger verweist, die das Geheure als ungeheuerlich auszeichnet. Filmische und andere Ungeheuer sind in dieser Hinsicht nicht nur Emanationen des xenophobischen oder sexuell Unbewussten (Alien, King Kong), sondern sie stehen für den transzendentalen Schock, dass wir uns nicht von der Stelle bewegen können, dass wir es selbst sind, die andauernd mit dem Lebendigsein gemeint sind, dass etwas in uns lebt, das wir sind. Dass alle unsere inneren Organe Aliens sind, die uns ermöglichen, weil sie innen bleiben und nicht wie im Alien-Film ausbrechen. Die Konfrontation mit dem Doppelgänger ist der pure Horror, ist traumatisch, aber zugleich die alltäglichste Erfahrung: Wir sprechen innerlich zu uns, ohne uns schon aufgrund dieser Tatsache für wahnsinnig zu halten. Zugleich 142
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wissen wir, dass das in sich versunkene Selbstgespräch als Klischee der Geisteskranken gilt oder dass Leute, die in der Öffentlichkeit lautstark mit Kopfhörern Handygespräche führen, wie Idioten wirken. Also sprechen die meisten vorsichtshalber nicht allzu laut und nicht allzu lange mit sich selbst. Denn auch die verlorensten Seelen ahnen, dass unserem Leben als immanenter Erfahrung kein Gott etwas anhaben kann. Diese Basis bestimmt „[d]ie Angst vor unserem Leben als Ende unseres Lebens“ (Meillassoux). Dieser Horror, man selbst zu sein, wird durch die Silbe Ich abgeleitet. Das Ich benötigt seinerseits eine Ableitung – mit Martin Buber ein universelles Du oder mit Levinas den Abyss des anderen. Benveniste schreibt einmal, dass Selbstbewusstsein nur möglich ist, wenn es durch Kontrast erfahren wird, wenn das Ich mit seiner Setzung ein Du adressiert und somit die Bedingung für die Möglichkeit einer Person schafft. Der andere ist ihm eine Art Echo des Ich, in dem sich die Polarität der Personen und die Sprache exemplifizieren. Allerdings sind das Ableitungen eines präflexiven Selbstwunsches, der weder Sprache noch Abyss kennt. Verrückte Körper – Die Präflexion deckt sich auch mit Überlegungen zur Autonomie des Körpers, dessen Unbewusstheit ein Fundament des Lebens ist. Fernando Pessoa schreibt: „Wenn das Herz denken könnte, würde es still stehen.“ Nach Jean-Luc Nancy hat Körperlichkeit eine eigene Epistemologie, der Körper wisse nicht im traditionellen Sinne, und doch sei er nicht unwissend. Der traditionelle Diskurs vom körperlichen Wissen impliziert jedoch eine Repräsentation: Sinne ‚nehmen wahr‘, Muskel ‚reagieren‘, das Gehirn ‚sammelt‘ und ‚verarbeitet‘ Eindrücke usw. Was ist aber, fragt Nancy, wenn der organische Körper nicht von einem Regime der Repräsentation erfasst werden könne? Was ist, wenn der Körper allein durch seine Gegebenheit, „Verlassenheit“ und ganz ohne Voraussetzungen, d.h. idiotischer Körper wäre? Damit geht es nicht nur um den organischen, sondern auch um den libidinösen Körper, der nicht einmal von der „körperlichen Vernunft“ (Onfray) erfasst wird, die die Ontologie als Unterkategorie der Physiologie ‚versteht‘. Lyotard erwähnt eine Episode mit dem Paranoiker Schreber: „Warum scheißen 143
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Sie nicht?“, wird Schreber gefragt. Dieser antwortet, dass er dafür zu dumm sei. Bei Büchner macht sich Woyzecks „Viehsionomik“ an den basalen Körperfunktionen fest („Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt“). Der libidinöse Körper hingegen agiert ‚unterhalb‘ der Natur, er ‚verbietet‘ dem organischen Körper, basale, sich der Repräsentation erschließbare Funktionen auszuführen. Lyotard erwähnt die Ungewissheit, welche hier die Instinkte umgibt, dass „der [organische] ‚Körper‘ nicht mehr [weiß], wie er scheißt, wenn er ‚muss‘, dass der Scheiße die Ausgangsroute nicht bewusst ist.“ Das merkwürdige Wissen des libidinösen Körpers stößt nach Lyotard in der „libidinalen Dummheit“ an seine Grenze, die unterhalb der gewöhnlichen Dummheit liegt. Als ob sie für die präflexive Sprache des Körpers einen Nachweis erbringen wollten, sammelten die englischen Performancekünstler Gilbert und George eine Zeit lang Proben ihrer Exkremente und kategorisierten sie nach Größe und Form. Und im Film Themroc (1973) ersetzen die Akteure menschliche Sprache durch das Grunzen der Körper. Der Film baut durch die Primitivisierung der Klassengesellschaft eine Entfremdungsinstanz auf (der Protagonist ist Arbeiter). Es wird nie erklärt, was Themroc bedeutet. Es ist das Rosebud der grunzenden Körper, in denen sich die Themen der modernen Zivilisation abspielen. Themroc deutet auf die Quintessenz der Humanität, die universelle Verkürzung des Menschenmöglichen, die im Körper ihre Ausdrucksplattform findet. In gewissem Sinne werden die Akteure erst durch das barbarische Grunzen als kultivierte Menschen erkennbar. Diese Konstitutionen des idiotischen Körpers sind etwas anderes, als Batailles „Bestialität“ umschreibt, die „unglaubliche Dummheit des verrückten Körpers“ (Lyotard). Es handelt sich um eine präreflexive Verfassung, eine den Tatsachen innewohnende Körper-Mystik, die metaphorisch den Organismus des Rumpfes beschreibt. Wie bemisst sich die Politik des Körpers? Wie vermisst man das neuronale Feuer des Azephalen?
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André Masson, Acéphale, 1936.
Headhunter – „Ich glaube nicht an Gehirne“ bemerkte einmal der desaströse Duke of Cambridge, wenige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Von diesem Unglauben beseelt, überschreitet auch der hirnlose Welten-Idiot Massons die Verbotene Zone und marschiert ins Zentrum des zivilisatorischen Selbstverständnisses, vergleichbar dem Impuls der Surrealisten, mit ihrem Psychokommunismus ins Zentrum des politisch-ästhetischen Geflechts vorzudringen. Die Blemmier, Akephalen und Headless People säumen allesamt den historischen Wegesrand eines unheimlichen Verdachts, der sich seit der Antike ständig re-formuliert: dass nämlich nicht das Haupt das Zentralorgan der Macht sei, dass vielmehr die gespenstische Natur der präflexiven Körper beim Tagesvolk in nächtlicher Zeit Angst und Schrecken verbreite (die Azephalen werden oft zusammen mit Waffen abgebildet). In der Moderne kommt noch ein Aspekt hinzu: Wie Hobbes’ Leviathan hält der Azephale Massons ein Schwert in der Hand, doch hat sich der Machtkörper beim Zepter vergriffen und führt stattdessen eine Art Rübe mit sich. Eine paradoxe Monarchie ohne Oberhaupt, dem trotzdem die Rübe abgeschlagen werden kann? Massons Kopfloser wird in der ersten A usgabe des A céphale-Magazins (1936) 145
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zur Allegorie von Selbstverlust und Schöpfungsbewusstsein. Nietzsches Worte über Heraklit stehen dem voran: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören ohne jede moralische Zurechnung in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes […] – und dieses Spiel spielt der Äon mit sich“. Bataille schreibt, dass der Azephale „Geburt und Tod vereint“, dass er weder Gott noch Mensch sei und doch „mehr als Ich bin“, dass er sich mit dem Kopflosen im Magen-Darm-Trakt verliert (der zum Zentralorgan wird) und sich dort als Monster wiederentdeckt. Der azephale Welten-Idiot gemahnt vage an Max Ernsts kulturellen Furor im Hausengel (1938). Allein die Art und Geschwindigkeit des Schritts bestimmen, ob er alles in Schutt und Asche legen oder blühende Landschaften hinterlassen wird. Man muss in der späten Moderne das Azephale so konditionieren, wie man gelernt hat, den kulturellen Zorn – mit Peter Sloterdijk die „tymotische Energie“ – zu kultivieren. Die Kräfte des Eros und Thanatos ergänzt der Acephalos, der als libidinöser, präflexiver Körper die Macht des Absurden repräsentiert: Der Stolz des Hirnlosen, Eros und Thanatos aufgehoben in der furzenden Körperexistenz eines König Ubu, der die moderne Enthirnungspraxis übers Jahrhundert gezogen hat, um dann irgendwo auf der Ebene des Unmöglichen ein Behandlungszelt aufzuschlagen. Es überrascht nicht, dass sich inzwischen zahlreiche Emporkömmlinge des neuen Absurden zeigen, die sich z.B. in Online-Foren darüber erkundigen, wie sie durch die Entfernung bestimmter Hirnareale zu Savants werden könnten – Superpower und ökonomische Optimierung auf die Spitze getrieben, dort oben im Olymp der Idioten.
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IDIOKRATIE
Programm: Bitte nennen Sie Ihren Namen. Joe: Ich bin nicht sicher, ob… Programm: Sie haben den Namen „NICHT SICHER“ eingegeben. Ist das korrekt? Joe: Nein, nicht korrekt. Programm: Vielen Dank. „NICHT“ ist korrekt. Ist „SICHER“ korrekt? Joe: Nein. Ich heiße Joe … Programm: Sie haben bereits bestätigt, dass Ihr Vorname „NICHT“ ist. Bitte bestätigen Sie den Namen „SICHER“. Joe: Mein Name ist nicht „Sicher“! Programm: Vielen Dank, NICHT SICHER. Idiocracy (2006)
NULL-AUSDRUCK DER GESELLSCHAFT
I'll laugh until my head comes off. Radiohead, Idiotheque
Etwas ist anders – Um zu verstehen, was in unserer Gegenwart anders ist als in all den Myriaden von Gegenwarten vor ihr, setze ich den Idioten in die politische Zeit. Wenn der Idiot im ersten Teil eine archetypische, kulturelle, gar ontologische Figur ist, liegt der gesellschaftliche Fokus nun darin, zu klären, warum das Thema heute relevant ist. Das Zeitalter des Idioten ist zunächst gekennzeichnet durch das Missverhältnis zwischen einerseits dem Privaten, Besonderen, Singulären und andererseits dem Öffentlichen, Allgemeinen, Universellen. Man könnte auch sagen, dass es um die erlernte Unfähigkeit geht, private, besondere oder einzigartige Belange auf das Große Ganze der Gesellschaft zu beziehen und umgekehrt. Die diesem Missverhältnis zugrundeliegende Verfasstheit bezeichne ich als Idiokratie, denn es handelt sich um einen Zustand, in dem die Selbst-Sabotage der Gesellschaft als ihr Gesellschaftliches auftritt. Die Idiokratie entspricht somit einer Gesellschaft am zweiten Horizont des Idioten. Sie ergibt das Bild einer „herausgeforderten Gemeinschaft“ (Nancy), die zur überforderten wird und als überforderte weiter ‚funktioniert‘ – getrieben von einem Bewusstsein, „das unter Zwängen der Selbsterhaltung in einem permanenten moralischen Selbstdementi abgewirtschaftet weiterwirtschaftet“ (Sloterdijk). Doch mehr als von einem generellen Zynismus bestimmt zu sein, wird das Denken und Handeln in einer Idiokratie von einem metaphysischen Trotz getrieben: Je mehr etwa von einer „Narzissmushysterie“ die Rede ist, desto eher ist Narzissmus genau das, was wir wollen. Je mehr von einem „erschöpften Selbst“ (Alain Ehrenberg) die Rede ist, umso frenetischer verausgaben wir uns. 151
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Vor dem Gegenteil wird deshalb andauernd gewarnt, weil wir genau das Gegenteil wollen. Wir wollen den Klimatod, weil alle davor warnen und auch weil wir selbst die Warner sind. Wir wollen Hasardeure an der Macht, weil wir sie abstoßend finden. Wir wollen Grenzen, weil wir uns grenzenlos wähnen. Wir wollen das Chaos, weil wir die Ordnung über alles andere erhöhen. Wir wollen den Untergang, weil wir dem Fortschritt frönen. Wir wollen die Antithese, ohne uns um These und Synthese scheren zu müssen. Wir wollen das Gegenteil, ohne Wenn und Aber. Das Dritte – Die Idiokratie muss keine Entsprechung in einem konkreten Staat finden, so wie auch der literarische Idiot keine Entsprechung in einem konkreten Menschen finden muss – aber hinterrücks dann doch findet, etwa über die Sprache: „Die Sprechakte im täglichen Leben verweisen auf psychosoziale Typen, die tatsächlich von einer dritten darunterliegenden Person zeugen: Als Präsident der Republik ordne ich die Mobilmachung an, ich spreche als Vater zu dir […]. Ich als Idiot denke, ich als Zarathustra will, ich als Dionysos tanze, ich als Liebender beanspruche. […] Wer ist ‚ich‘? Immer eine dritte Person“ (Deleuze & Guattari). Analog verweist die Idiokratie auf das ausgeschlossene Dritte von Individuum und Gesellschaft. Es geht bei aller Dysfunktion auch um eine aus dem Weltentrotz des Idioten herausragende „konkrete Utopie“ (Ernst Bloch) – enttäuschte oder erfüllte Hoffnung des Jetzt –, die heutige Einzelne und Viele im Hinblick auf den schwelenden Nullzustand begleitet. Daraus erwächst kein proletarisches oder bürgerliches Ideal, sondern nur der Idiot als Gesellschaft. Ein Fragezeichen. Wie ist dieser Korpus des idiokratischen Leviathan strukturiert? Welche Politiken und welche Masseform begründet er? Entspricht er Massons azephalem Monster? Nicht Sicher – Der dystopische Comedy-Streifen Idiocracy (2006) spielt die Vision einer sich aushebelnden Herrschaft durch: Soldat Joe und Prostituierte Rita werden für ein militärisches Forschungsprojekt angeworben und in den Tiefschlaf versetzt. Das militärische Projekt wird kurz darauf aufgegeben und die Schlafcontainer vergessen… Joe er152
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wacht fünf Jahrhunderte später auf einem gigantischen Müllberg. Er glaubt sich noch in der Gegenwart, aber die Einwohner verhalten sich wie bekiffte, daueronanierende Computernerds, die sich nur im Kommerzsprech unterhalten können. Emojis dominieren das öffentliche Leben. Joe glaubt sich in einer Halluzination und begibt sich in eine Klinik. Dort wird er verhaftet, weil er keinen Produktcode als Tattoo vorzeigen kann. Vor Gericht tritt Joes Zufallsbekanntschaft Frito als Verteidiger auf (jeder darf bei Prozessen mitmachen). Frito plädiert für eine Verurteilung seines Mandanten, weil dieser in seinem Soldatenoutfit so bescheuert aussehe. Joe wird nach der Urteilsverkündung von der staatlichen Tattoo-Maschine Nicht Sicher getauft und unterzieht sich einem IQ-Test. Er flieht und möchte eine Zeitmaschine ausfindig machen, von der Frito erzählt hat. Inzwischen haben sich Joes Testresultate herumgesprochen. Der einstige Loser wird aufgrund seines nun vergleichsweise hohen IQs zum „intelligentesten lebenden Menschen“ erklärt und ins Weiße Haus geladen. US-Präsident Camacho, ehemaliger Wrestler und Pornostar, beauftragt Joe, die Wirtschaftsprobleme des Landes innerhalb einer Woche zu lösen. Joe macht sich an die Aufgabe und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass die Kornfelder des Landes vom Sportdrink Brawndo bewässert werden und kontaminiert sind. Als Joe die Wasserzufuhr zu den Feldern öffnen lässt, fallen die Aktienwerte des mächtigen Brawndo-Herstellers, und Millionen von Menschen werden arbeitslos. Es kommt zu Unruhen. Joe wird zum Tode verurteilt und in eine Football-Arena gebracht, wo seine Hinrichtung vollzogen werden soll. In der Zwischenzeit entdeckt Rita, dass die verdorrten Felder erste Sprösslinge zeigen. Frito überträgt das Bild der Sprösslinge ins Stadion. Joe wird begnadigt und als Held gefeiert. Bald darauf entdeckt er, dass Fritos ‚Zeitmaschine‘ nur ein Exponat in einem Freizeitpark ist und er nicht mehr in seine Gegenwart zurückkehren kann. Er wird Präsident und heiratet seine Zeitgenossin Rita. Der Film endet mit einem Happy End im Zeitalter glückseliger Idioten. Zwei Trajektorien – Wie konnte es zu dieser Zukunft kommen? Die Erklärung wird in gespielten Interviews eingeblendet: Über Generationen 153
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haben die Bildungseliten keine Nachkommen gezeugt, während sich die Ungebildeten massenhaft vermehrt haben. In dieser Verdummungssaga, die mit Klassismus, IQ-Pop und Eugenik herumspielt, wird allerdings nicht klar, warum überhaupt irgendetwas funktioniert, warum es überhaupt ein Parlament gibt, warum es einen totalitären Überwachungsstaat gibt, der seine Bürger mittels Produktcodes erfasst – das übliche Filmklischee des Totalitarismus, der ja nur funktionieren kann, wenn es eine herrschende Klasse gibt, die strategisch denkt und handelt. Die Herrschaft in Idiocracy ist aber dysfunktional und die Politik inkohärent, das Land erstickt im Müll, es herrscht Hunger. Es sind dann eben doch nicht alle dummglücklich, weil Hunger intelligent und rebellisch macht. Die biologistische Prämisse des Films ließe dies aber gar nicht zu, der IQ ist angeboren, und die biologisch Dummen könnten politisch gar nicht aufbegehren, weil sie den Status Quo als alternativlos akzeptieren. Dieser Dauerwiderspruch zwischen anarchischer Dysfunktion und ordoliberalem Totalitarismus zieht sich durch den gesamten Film. Es finden zwei Szenarien in einem statt: (1) Die Menschen sind verwahrlost oder wie in der Brave New World sediert. Es herrscht ein (post)kapitalistischer Endzustand, da ausnahmslos alle Gesellschaftsbereiche – inklusive des Machtapparats – der Warenfetischisierung unterliegen und z.B. Dienstleistungen beim Arzt nach Warenpatterns strukturiert sind. Doch diese Strukturierung ist nur Fassade, auch der Staatsapparat ist ein Gimmick. Jenseits von Ernst K antorowicz’ corpus imaginatum gibt es keine realen, sondern nur entfremdete Körper, es herrscht bloßer „Visiotypus“ (Metz & Seeßlen). Subjekte sind Vollzugsinstanzen des Spektakels, Wünsche existieren nur in Dingform, Gedanken nur in Produktform, die „Ästhetisierung des Politischen“ (Benjamin) ist einer postfaschistischen Ästhetisierung des Ästhetischen gewichen. Alles, was das kapitalistische Horrorszenario seinen Gegnern einst vorzeichnete, ist eingetroffen. Das revolutionäre Subjekt ist unmöglich, undenkbar oder vergessen. Der Geschichtsprozess ist beendet. Auch der Zufall spielt nicht mehr mit. Alles beugt sich redundanten, konventionellen Abläufen, Information findet nicht statt. Es herrscht eine Art psychosoziale Entropie. Jedes Gefühl ist zum Sentiment verkürzt, 154
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die Welt der Zeichen entbehrt der Konsistenz. Fahnen würden mit Stolz geschwenkt, aber niemand wüsste, was sie bedeuteten, nur dass man stolz darauf sein solle. Und selbst wenn man es wüsste: die Fahnen wären zeichenlos. Und selbst wenn man Zeichen hätte und verstünde, könnte man sie nicht mit dem eigenen Denken und Handeln in Einklang bringen; z.B. Kerzen auf einer Torte bedeuteten „Geburtstag“, aber man käme nicht auf „Alter“ und „Gratulation“ – nicht im schizophrenen Sinne, sondern wie in einer Kommunikation mit dem wittgensteinschen Löwen. Bruchstücke des Sinns, so vollständig sie sein mögen, summieren sich nicht zu einer Sprache. Die Welt in ihrer Ganzheit ist eine unvollständige Welt. (2) Zugleich wird im Film ein funktionierendes Instrumentarium der Macht inszeniert, ein staatlicher Kontrollapparat, der sich der allgemeinen Verwertungslogik entzieht, und von einer Elite der offenbar nicht ganz Dummen beherrscht wird. Ein totalitäres Muster vollständiger Kontrolle der Strategen über ihre nützlichen Idioten. In dieser Szenerie macht die hungernde Masse politisch Sinn. Sie entsteht aus den inneren Widersprüchen des Systems und lehnt sich gegen die Verhältnisse auf. Dieser revolutionäre Antrieb kommt aber nur kurzzeitig auf, progressiv als Hungerrevolte oder regressiv als Lynchmob. Der von den Herrschenden als Sündenbock verurteilte Joe, ein Idiot nach heutigen Maßstäben, wird schließlich zur messianischen Heldenfigur der Zukunft, die passenderweise Nicht Sicher heißt. Die Heldentat Nicht Sichers besteht in einer ‚realsozialistischen‘ Maßnahme: Die staatliche Intervention der Felderflutung hebt den Zorn der Hungernden auf. Die Strukturen der Herrschaft bleiben aber intakt. Die reale Bewegung der Massen dient nur als dramaturgisches Drohszenario, um dem Idiot Hero ein Happy End zu bereiten. Joes ‚Geniegene‘ werden für Nachwuchs sorgen. Er wird die BioElite der Zukunft. Das Volk ist dummglücklich, da es satt ist, ohne frei zu sein. Es ist lediglich ein anderer Idiot an der Macht. Hysterisch, aber wahr – Der Film suggeriert eine herrschende Klasse und zugleich ihre Unmöglichkeit. Nicht Anarchie herrscht hier, sondern – im Ganzen über Ort und Zeit betrachtet – ein Null-Ausdruck der Gesellschaft, der im Film treffend durch den Kinoblockbuster Ass 155
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symbolisiert ist: Er zeigt stundenlang einen Hintern in Naheinstellung (gemahnend an Yoko Onos Fluxusfilm No.4 von 1966). Im Gegensatz zum Totalitarismus kennt die Idiokratie keine politischen Motive. So absurd wie der Alltag ist, ist die befreite Zukunft idiokratisch. Der gesellschaftliche Sinn ist fragmentiert oder inkommensurabel mit der Erfahrung. Wie Fredric Jameson voraussagte, herrscht eine Situation vor, „in der wir sagen können, dass, wenn individuelle Erfahrung authentisch ist, sie nicht wahr sein kann; und dass, wenn ein wissenschaftliches oder kognitives Modell mit demselben Gehalt wahr ist, es sich der individuellen Erfahrung entzieht“. Regisseur Mike Judge wurde in den 1990ern als Schöpfer der MTV-Cartoonserie Beavis & Butthead bekannt. Insofern liegt sein Fokus auf der Vision einer infantilisierten und durchkommerzialisierten US-Gesellschaft. So kam es nicht überraschend, dass die US-Studios ihren eigenen Film boykottierten. Die Studiobosse wollten dem Publikum offenbar einen derartigen Sozialrealismus ersparen. Der Film ist zu nah, um für eine Katharsis zu sorgen, und er ist zu universell, um nur amerikanisch zu wirken. Nicht aufgrund seiner albernen Prämissen, sondern aufgrund seines kapitalistisch Realen wird der Film zur idiokratischen Vision und damit zur Klammer, in der Eliten und Masse, Herrschende und Beherrschte ‚untypisch‘ werden. Die Idiokratie besteht weder als fordistische Dystopie der Brave New World noch als Comedy-Version von Orwells phantasmatischem 1984, sondern offenbart sich auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung als hysterischer Realismus. Und dieser ‚realisiert‘ die Metaphern als politische Wirklichkeit: Eine von D onald Trumps Ministerinnen ist in ihrem früheren Leben professionelle Wrestlerin gewesen. Seine Beraterin Omarosa war ein TV-Sternchen, das er aus The Apprentice kannte. Sein Kurzzeit-Kommunikationsdirektor, Anthony Scaramucci, fand im Scaramouche der Commedia dell’arte eine nahezu wörtliche Realisierung der Metapher, denn ital. Scaramuzzo bedeutet „Scharmützel“, und im Englischen bezeichnet der Begriff ein Großmaul oder einen Aufschneider (Scaramucci war nach einem mit Obszönitäten beladenen, angeberischen Interview gefeuert worden). Trumps angebliche Orgien oder Affären mit Porn-Starlets schließlich ergänzen das Bild, das der Film zehn Jahre früher vor156
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zeichnet. Mike Judges Drehbuchautor erklärte, dass es sich bei Idiocracy um den ersten Film handele, der als Spielfilm anfange und als Dokumentarfilm ende. Entblödung – Idiokratie bedeutet keine allgemeine intellektuelle Degeneration, wie sie in der gegenwärtigen, kapitalismuskritischen Populärliteratur als Generalthese auftaucht. Dummheitskritiker witzeln heute gerne über die „Macht der Dummheit“, über die „Generation Doof“ (Bonner & Weiß), es herrsche eine „Diktatur der Dummen“ (Witzer) oder eine „globale Verdummung“. Wir wüssten „selbst die einfachsten Dinge nicht mehr“ (Pöppel & Wagner), verblödeten zunehmend und rieben uns im oberflächlichen Marktgebaren auf. Die Dummheit sei eine Art „unheimliche Weltmacht“, „eine Triebfeder des Lebens“ (Zänker), die uns als „Kollektiv“ (Steinbuch) betreffe, daher müsse gelten: „Keine Macht den Doofen“ (Schmidt-Salomon). Derlei Slogans geben sich populistisch, sind es aber nicht. Nach Sartre ist diese „Entlarvung der bürgerlichen Dummheit von einem angenehmen Überlegenheitsgefühl begleitet. Alle sind sie davon überzeugt, dass ihre Ironie oder ihre rachsüchtigen Schimpfreden ausreichend beweisen, daß sie nicht derselben Spezies angehören wie der Untermensch, den sie brandmarken.“ Wenn man Idiokratie als bloße Herrschaft der „Inintelligenten“ (Rosset) versteht, endet man in indifferenter Generalkritik oder in der Affirmation – nach dem Motto: Der Kapitalismus und seine asozialen Technologien machen uns irgendwie blöd, und wenn wir nur alle unsere kleinen und großen Dummheiten ablegten, würde die kapitalistische Zukunft leuchtend und golden. Die Dummheitsthese ist zu bequem, sie lenkt vom Problem ab. Stattdessen ist es notwendig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Dummheit die rationale Ader der Macht ausmacht und Idiotie die anarchische, dass wir es hier also mit intrinsischen Konstellationen zu tun haben, denen man mit einer generellen Anklage von der Warte einer unhinterfragten und unbewegten Rationalität nicht beikommen kann. Die Aufgabe der Kritik, die sich hier stellt, diskutierten schon Adorno und Marcuse in den 1960er Jahren: Sie besteht darin, die inflationäre Dysrationalität ‚einzufangen‘ und als innere Form der R ationalität zu 157
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‚entlassen‘. Sie besteht darin, den Kritiker in den Gegenstand der Kritik mit einzubeziehen und gleichzeitig den Gegenstand der Kritik als konstitutiv für die Rationalität der Erkenntnis zu erkennen. Default Society – Die Realisierung der filmischen Zukunftsmetapher besteht darin, ein Gesellschaftsverhältnis zu imaginieren, in dem alle am jüngsten Tag der Ökonomie zu nützlichen Idioten des Marktgeschehens geworden sind, das sie im Hamsterrad des Win-Win hält, wenn alles um sie herum Lose-Lose ist. Nur in dieser Hinsicht macht es Sinn, die Idiotie als gesellschaftliches Paradigma zu besprechen, nämlich als Verhältnis, in dem die Kriterien der Macht konfus werden. Wie es Félix G uattari 1982 in einem Gespräch mit Sylvère Lotringer ausdrückte: „Wir stecken heute in einer Phase der Gärung, die man früher als ‚vorrevolutionär‘ bezeichnet hätte, in der es niemandem mehr gelingt, noch etwas unter Kontrolle zu behalten.“ Eine Idiokratie ist in dieser Hinsicht die Selbst-Sabotage der Macht als Macht. Sie kann dahingehend die Form eines kapitalistischen Postkapitalismus bzw. eines „post-kapitalistischen Interregnums“ (Wolfgang Streeck) annehmen. Es geht um Leerstellen, Blockaden, Stagnationen, Selbstaufhebungen, Überladungen, Absurditäten usw., die als Default-Modus des Systems figurieren. Welches Systems? Der eine Kapitalismus bedeutet inzwischen viele Dinge, auch nicht-kapitalistische oder anti-kapitalistische Dinge – weil er selbst der Bedeutungsgeber ist, in dem sich die spätmodernen Absichten artikulieren, ob als Desasterkapitalismus, Finanzkapitalismus, kognitiver Kapitalismus, Semiokapitalismus, Kulturkapitalismus, Überwachungskapitalismus, Krisenkapitalismus, Narkokapitalismus, Spätkapitalismus, Cyber-Kapitalismus, Postkapitalismus, Chaoskapitalismus. „Geld schafft Zeit“, heißt es in Don DeLillos Cosmopolis (2003), aber das Kapital schafft Zeichen. Wenn Jean-Luc Nancy noch in Der Sinn der Welt (1993) schreibt, „dass es keine zuweisbare Bedeutung der Welt mehr gibt, oder dass die Welt sich ganz allmählich dem gesamten verfügbaren Regime der Bedeutung entzieht“, dann gilt das nicht für das unerschöpfliche Zeichenarsenal des Kapitals und seiner Ismen, die den Null-Ausdruck der Gesellschaft auf immer neue Weise artikulieren. Es geht dabei nicht nur um eine auf John 158
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Rawls zurückgehende Vorstellung der original position, d.h. einen imaginären Anfangspunkt der G esellschaft, sondern auch um einen permanent vorweggenommenen Endpunkt – eine extropische Form des Untergangs oder eine melancholische Form des Happy End.
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IDIOTIE ALS POLITISCHES PARADIGMA
ἰδιο-λόγος: „besonders redend, untersuchend; ein besonderer Beamter in Ägypten“
Schon nicht mehr – Die idiokratische Verfasstheit erscheint paradigmatisch für eine Entwicklungsstufe des spätmodernen Subjekts, das sich zwischen totaler Partikularisierung und totaler Verallgemeinerung aufreibt, in der das Universelle keinen Anhaltspunkt mehr findet. Es geht nicht mehr nur um die großen Erzählungen der Aufklärung, sondern auch um das Finden historischer, ästhetischer oder logischer Konturen im unbenennbaren Ganzen, das früher einmal Gaia, Gott oder Geist geheißen hat. Wie kann sich der Einzelne gegen diesen Wellengang von Sinn und Sinnlosigkeit behaupten? Denn die großen Erzählungen verschwinden nicht spurlos, sie verknappen sich zum Fachdiskurs (Ökonomen oder Klimaexperten als Weltrettungsautoritäten) oder sie reproduzieren sich im Puls der industriellen Produktion, wie sich auch alles andere reproduziert. Die Mehrheit spricht im Gestus der Minderheit (wenn eine hegemoniale Dominanz bedroht ist), und eine Minderheit spricht im Gestus der Mehrheit (wenn sie sich eine hegemoniale Dominanz herbeisehnt). Wie es auch immer schwerer wird, das Globale und das Lokale in lebensweltlichen Einklang zu bringen, so wird es immer schwerer, unser Einzelwissen mit dem generellen Wissen zu vereinen. Die ‚politische Idiotie‘ bezeichnet hier kein verfehltes Kalkül. Sie bezeichnet ein merkwürdiges Gelingen, nämlich das Allgemeine und das Besondere kurzzuschließen, ohne damit ein Weltverhältnis aufzubauen. Oder umgekehrt: Sie behauptet eine Welt, ohne das Allgemeine und das Besondere in ein Verhältnis zu bringen. Entweder wir verallgemeinern bis zur Plattitüde, oder wir verlieren uns im F achdiskurs (oder beides 161
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z ugleich!), beanspruchen aber den gesamten Raum der Bedeutung. Hier spiegelt sich auch die Inkongruenz von abstraktem Wissen und indu strieller Produktion, die Karl Marx in den Grundrissen vorhergesagt hat und die heute in der Green oder New Economy widerhallt: Die Verallgemeinerung der Arbeit durch den Zusammenbruch des Tauschwertes ist nicht mehr mit den Besonderheiten der postindustriellen Produktion in Einklang zu bringen. Paolo Virno sieht hier im Aufstieg des abstrakten Wissens zur Produktivkraft eine epochale Selbst-Sabotage des Wertgesetzes begründet. Darin liegt insofern ein idiokratischer Sachverhalt, als „die vollständige faktische Verwirklichung der von Marx beschriebenen Tendenz“, d.h. des „Zusammenbruchs der auf dem Tauschwert basierenden Produktion“, ohne emanzipatorische Konsequenzen bleibt. Die spätmoderne Inkongruenz von Wissen und Arbeit hat nach Virno „neue und stabile Formen der Herrschaft hervorgebracht“, anstatt zum Kommunismus zu führen. Ähnliche Selbst-Sabotagen beinhaltet Zygmunt Baumans Vorstellung der flüssigen bzw. „flüchtigen Moderne“: ein „beständiger Prozess des Relationierens von Interessen, Bedürfnissen und Beziehungen, ohne dass eine längerfristige Stabilität erreicht wird“ (Bauman). Es geht bei der Inkongruenz von Allgemeinem und Besonderem um nichts Neues, aber es fühlt sich andauernd neu an, weil mit der Beschleunigung der Arbeitsprozesse (und gleichzeitigen Ausdehnung der Produktionszeiten) auch die Produktzyklen der Wissenserzeugung immer kürzer werden. Daraus entsteigt nicht die „Affektivität des Jetzt“ (Andreas Reckwitz), sondern eher die Affektivität des Jetzt-Gleich und des Nicht-Mehr. Nicht nur jedes vorletzte Produkt, auch jeder vorletzte Satz ist schon veraltet. Was schicke ich dem übernächsten Satz voran? Was bedeutet es, auf etwas zu schließen, wenn die Prämissen vergangen sind? Kurzschluss – Die Inkongruenz von Allgemeinem und Besonderem, die sich selbst reproduziert und dabei auch für eine „Allgemeinisierung“ (Reckwitz) des Besonderen sorgt, übersetzt sich politisch zur Konfusion: Die Begriffe sind einem Bedeutungskreislauf unterzogen, und es wird im öffentlichen Meinungswettstreit arbiträr, wo und wann ein 162
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Satz in den Kreislauf eingreift, um Sinn zu machen. So wird in einer Idiokratie das Engagement für die Freie Rede zum effektivsten Werkzeug, andere mundtot zu machen. In den USA wird die Free-SpeechDebatte zum Agitationsmittel, um rechten Verschwörungsnarrativen und Hate Speech eine Plattform zu ermöglichen, die ihrerseits andere vom Widerspruch ausschließt. Die ‚politisch Inkorrekten‘ lassen keine politisch inkorrekte Kritik an der Inkorrektheit zu. Die Selbst-Sabotage liegt darin, dass eine liberale Medienlandschaft dazu genutzt wird, humanistische Standards in Frage zu stellen, um dem liberalen Mainstream eins auszuwischen, verkennend, dass dieselben humanistischen Standards auch für diejenigen gelten, die sie abschaffen möchten. Sie hätten also Nachteile von ihrer Forderung, wollen aber, was sie als absolutes Gegenteil empfinden, zugleich als ‚Weltethos‘ ausleben. Hier wird also ein Denkfragment – ein „Standpunkt“, eine „Identität“ – aufs Ganze projiziert, ohne die Inkongruenz zu spüren, die jeden Akteur der gegenwärtigen Wissens- und Arbeitsstruktur gleichermaßen betrifft. Es entsteht als Folge keine Solidarität unter Konfusen, sondern ein wilder Tanz der Diversität, der im politischen Alltag als Wettstreit der Meinungen und Ideen verklärt wird. Diese Dysfunktionalität der Meinung führt dann im Extremfall dazu, dass frenetische Abtreibungsgegner in den USA Ärzten nachstellen oder bewaffnet in eine Abteilung für Planned Parenthood einfallen und im Namen des ungeborenen Lebens ein Blutbad anrichten. Die Praxis der diskursiven Selbst-Sabotage gilt – allerdings nicht ausschließlich – auch für hiesige ‚rechtspopulistische‘ Slogans: Der Satz „Deutschland schafft sich ab“ schafft in diesem Sinne ‚Deutschland‘ erst ab. Denn nur, wenn wir das Verhältnis von Implikation zu Explikation der Bedeutung festgestellt haben, kommen wir dahin, darüber zu diskutieren, was ‚abschaffen‘ im Zusammenhang mit nationalem Pathos bedeutet. Die „Entdeutschung“ hat schließlich ein Deutscher, nämlich Nietzsche, erfunden, als er sich nach 1871 mit real existierender Verdeutschung konfrontiert sah. Um diesen Punkt zu ‚entdeutschen‘, d.h. auszuweiten: „Faschismus, Rassismus, Sexismus und Unterdrückung im Allgemeinen“ sind nicht „Produkte universaler Dummheit“ (Steinweg), wenn diese nicht der Selbst-Sabotage des 163
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ertgesetzes unterliegen. Das heißt aber: Die idiokratische Form von W Faschismus, Rassismus, Sexismus usw. ist nicht so leicht auf ein generelles Manko zurückzuführen, weil sich auch die darin abgebildete Macht des Partikulären andauernd reproduziert oder auch gegen sich selbst wendet. Alles wird, wenn man so will, zum real existierenden Meme und einer Verhandlung zugeführt, in der Radikalität und Mainstream zu Aspekten eines einzigen Geschmackstribunals werden – ganz so wie die Gerichtsverhandlung in Idiocracy. Konfusion – Wie der Idiot kein Schimpfwortidiot, sondern wirklicher Idiot ist, so ist die idiokratische Konfusion nicht psychologisch, sondern real: Im November 2018 gingen landesweit US-Liberale auf die Straße, um ihre Unterstützung für den konservativen Justizminister Jeff Sessions kundzutun, weil sie in seiner Entlassung eine politische Beeinflussung der Justiz durch die Trump-Regierung sahen. Eine Demonstrantin hielt ein Transparent hoch, das besagte: „Ich kann nicht glauben, dass ich für Jeff Sessions auf die Straße gehen muss.“ Das heißt: Sie demonstrierte für die Wiedereinsetzung eines Politikers, gegen dessen Wiedereinsetzung sie war. Das war vollkommen rational und zugleich idiotisch: weil man sich nämlich inzwischen oftmals nur noch selbstsabotierend positionieren kann, unabhängig davon, wie strategisch man vorgeht. Versinnbildlicht wurde das während der Brexitdebatten im britischen Parlament, wo sich 2019 die Situation ergab, dass der Premier Neuwahlen vermeiden wollte, sie aber prozessual anstrebte, während der Oppositionsführer seit Jahren Neuwahlen forderte, sich aber zugleich weigerte, sie umzusetzen. In einer Idiokratie wird die fragmentierte Intelligenz zur politischen Norm und die politische Norm zur Pathologie der Normalität, die alles strategische Geplänkel in sich selbst aufhebt. Das Allgemeine und das Besondere finden nicht zueinander, aber das auf immer neue Weise. Das ist gewissermaßen der produktive Aspekt der politischen Idiotie. Politische Thermodynamik – In der Idiokratie zeichnet sich das ebenso abstrakte wie reale politisch-ökonomische Geschehen einer Welt ab, der 164
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das Welthafte abhanden gekommen ist. Das Kapital erscheint hier nach Félix Guattari als der semiotische Operator, der als „Integral der Machtformationen“ globale Wirkung entfaltet und dabei permanent Pseudowelten und Pseudokollektive hervorbringt. Dieser Fokus auf die kapitalistische Totalität hat Theodor Adorno oder auch später Moishe Postone umgetrieben, Guattari fokussiert aber auf die semiotisch-technischen Aspekte der Subjektivierung. Die Funktion des semiotischen Operators besteht in der Aufrechterhaltung ‚kühler‘ technokratischer Hegemonie- und Finanzsysteme. Diese bilden zugleich ‚warme‘ menschenähnliche Komplexe heraus, die nach Paolo Virno durch „das unmittelbare Zusammenfallen von Produktion und Ethizität, von ‚Basis‘ und ‚Überbau‘ […], durch die Überlagerung von Revolutionierung des Arbeitsprozesses und Gefühlen, Technologien und Stimmungen, materieller Entwicklung und Kultur“ gekennzeichnet sind. Man könnte hier auch frei nach Ernst Bloch vom Wärmestrom des Kapitalismus sprechen: Entfremdungsmuster werden durch vermenschlichende Zeichen und Ideologeme übertüncht. Das lässt sich schon am populären Sprachgebrauch festmachen: „Wie geht es den Unternehmen?“, „Wie wird die Börse reagieren?“, „Die Wirtschaft krankt“, „Werden sich die Märkte erholen?“, „Den Märkten gefällt das gar nicht!“ Umgekehrt werden auf Personen bezogene Floskeln ökonomisiert: Wie viel Zeit investiere ich für eine Aufgabe? Wie viel kann ich aus einem Treffen herausschlagen? In einem geflügelten französischen Wort etwa soll man inzwischen den Urlaub nicht nur genießen, sondern von ihm profitieren (Profite bien de tes vacances). Die Anthropomorphisierung des Kapitals bestimmt sich reziprok durch die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse und die Psychologisierung bzw. auch Medikalisierung des Selbst. Das ist es, was Eva Illouz als Domäne des „emotionalen Kapitalismus“ ansieht: „Es ist diese fortschreitende Verschmelzung des Marktrepertoires und der Sprachen des Selbst im zwanzigsten Jahrhundert, die ich als ‚emotionalen Kapitalismus‘ bezeichnet habe. In der Kultur des emotionalen Kapitalismus sind Emotionen zu Einheiten geworden, die bewertet, inspiziert, diskutiert, ausgehandelt, quantifiziert und kommerzialisiert werden müssen.“ Warmes Gefühl trifft auf kühles Kalkül. P ublikationen wie etwa George 165
Idiokratie
Ritzers „McDonaldization of Society“ blickten in den 1990er Jahren noch auf die Organisationsstrukturen einer Operationalisierungs- und Optimierungskultur, die den Unterbau der kapitalistischen Emotionalität bilden. Die Muster reichen noch weiter zurück. Historisch gehen die Wirkungen des globalen semiotischen Operators nach Guattari mit einer Gleichzeitigkeit von Territorialisierung/‚Besonderung‘ und Deterritorialisierung/‚Verallgemeinerung‘ des Kapitals einher: einerseits die Entwurzelung lokaler „Weisen der Semiotisierung von Mächten“, die mit einer Verallgemeinerung der Zeichensysteme einhergeht, die Kälte erzeugen, und andererseits die Verwurzelung der allgemeinen Signifikanten in nationalstaatliche Ordnungssysteme, die besondere Formen der Wärme erzeugen: Patriotismus bereitet warmes Gefühl, Globalisierung ist kühl. Man könnte derlei einer ‚politischen Thermodynamik‘ zusprechen. Auch Politiker besitzen Temperatur: Trump ist warm, Merkel ist kühl. Bolsonaro ist warm, Putin ist kühl. Duterte ist warm, Orban ist kühl. Die thermischen Metaphern kommen nicht von ungefähr, haben sich doch neoklassische Ökonomen zu Ende des 19. Jahrhunderts beim Formelvokabular der physikalischen Thermodynamik bedient, um die politische Ökonomie zur Wissenschaft zu objektivieren, wie dies etwa Philip Mirowski dargestellt hat. Daher rühren auch die Metaphern vom Equilibrium oder der „Überhitzung der Märkte“. Wie der ‚neue Kapitalismus‘ zur Anthropomorphisierung und Emotionalisierung führt, herrscht auch auf globaler Ebene ein thermodynamischer Kreislauf, der die Wärmeerzeuger mit ihrer Kälte koppelt. Es ist dann z.B. kein Zufall, „dass die meisten Zeitungen, die die nativistische Agenda verbreiten, Hass gegen Einwanderer schüren und von Souveränität poltern, sich im Besitz von milliardenschweren Steuerflüchtlingen befinden, die im Ausland leben“ (George Monbiot). Die einen Flüchtlinge wettern gegen die anderen Flüchtlinge, Steuer versus Border. Die universellen Ansprüche heutiger Nationalismen zeichnen sich ähnlich durch die Bewegung zwischen Verallgemeinerung und Verortung, Unterkühlung und Überhitzung aus – Michael Billig unterscheidet hier zwischen heißem und kaltem Nationalismus. Der Nationalstaat ist territorial und bisweilen ‚heiß umkämpft‘ aber die territoriale Signatur ist 166
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planetarisch, d.h. ‚kühl‘ bestimmt. Der Space-of-Places und der Spaceof-Flows (Hendrikse & Fernandez), d.h. das Nationale und das Transnationale, oszillieren und bilden eigene thermodynamische Muster. So klingen beispielsweise alle Nationalhymnen ähnlich, weil sie weltweit als Hymnen erkennbar sein müssen. Viele südamerikanische Hymnen klingen nach italienischen Opern, weil sie nach deren Vorbild oder von italienischen Komponisten verfasst wurden. Die Nationalhymnen der Türkei und Israels haben dieselbe Grundmelodie. Arabische Hymnen beruhen auf westlicher Marschmusik, wie auch Nationalhymnen eine westliche Erfindung sind. Wer die Temperatur erhöhen und sich z.B. vom Westen distanzieren möchte, könnte pfeifen oder tanzen, anstatt stramm zu stehen. Doch tut das niemand. Selbst verfeindete ‚Kulturen‘ scheinen sich in der Frage des Identitätsdecorums einig. Die Hymne erzeugt ein warmes Gefühl, obwohl der Staat, wie Zarathustra meint, „das kälteste aller kalten Ungeheuer“ ist. Außensinn – Idiokratie bedeutet, dass territoriale Verortung und planetarische Verallgemeinerung keine kongruente Struktur begründen, d.h. dass der Wärmekreislauf gestört ist und Phänomene der Unterkühlung oder Überhitzung hervorbringt – die Konsequenz eines ‚politischen Klimawandels‘. Dies läuft in der Endperspektive darauf hinaus, was Jean-Luc Nancy bereits kurz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in Der Sinn der Welt als Replik zum „Ende der Geschichte“ schrieb: „Es gibt keine Welt mehr: keinen mundus, keinen cosmos, keine durchkomponierte vollständige Anordnung, innerhalb der oder aus deren Innern her Ort, Aufenthalt und Anhaltspunkte für eine Orientierung zu finden wären. Anders gesagt, es gibt keinen Sinn der Welt mehr“. Ich würde diese als damalige Gegenwart empfundene Zukunft so pluralisieren, wie Nancy die Künste pluralisiert: Es gab und gibt dahingehend keine Sinne mehr, dass im globalen Zusammenhang eine Art pluralistisches Locked-in-Syndrom herrscht, bei dem es immer schwieriger wird, die Innenräume des Kapitalgeschehens mit seinen Außenwirkungen in Einklang zu bringen. Engagierte Weltretter und dogmatische Hinterweltler sind in dieser Konstellation keine Gegensätze mehr, denn jeder 167
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Akteur beansprucht das Außen in Bezug zu einem postulierten Innen und umgekehrt. So „schwindet der Glaube an ein Ende des Wegs, auf dem wir voranschreiten, an ein erreichbares Telos des historischen Prozesses, an einen Zustand der Perfektion, den wir morgen oder im nächsten Jahrhundert erreichen können, der Glaube an eine gute und gerechte Gesellschaft, ohne Konflikte in irgendeinem Sinne: und sei es ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und die Befriedigung aller Bedürfnisse, die perfekte Ordnung, in der alles und jeder seinen Platz gefunden hat, niemand am falschen Ort ist und kein Zweifel darüber herrscht, wer oder was wohin gehört“ (Bauman). In diesem Zusammenhang wird es wichtig, die ziellosen Bewegungen und die Sinnenlosigkeit immer wieder zu kartographieren oder auf die verschiedenen Unmöglichkeiten der kognitiven Verortung in der sinnelosen Welt hinzuweisen, wie dies etwa Fredric Jameson mit seinem „ cognitive mapping“ vorgeschlagen hat. Es geht heute also gleichsam um das A bfahren des idiokratischen Territoriums und die Auslotung seiner (De-)Territorialisierungsverfahren, samt den Effekten bzw. Ineffekten, die sie hervorbringen. Um eine technologische Analogie zu benutzen: Das allseits vorhandene Geo-Tagging in Apparaten definiert den einzigartigen Standpunkt des Subjekts, aber die daraus gewonnene Information führt nicht zur besseren Verortung des Subjekts in seiner Welt. Stattdessen reproduzieren sich Scheinanwesenheiten und raumzeitliche Unabbildbarkeiten. Selbst die vollständige Erfassung aller Koordinaten der Welt würde keine Welt, sondern nur etwas Weltähnliches beschreiben. Die sich in den letzten Jahren häufenden GPS-Pranks von Militär- und Privatflugzeugen, die mit ihren Flugrouten phallische Zeichnungen auf dem Radar hinterlassen, sind mikroskopische Anzeichen dafür, dass die Welt von Big Data mit der unkoordinierten Welt interagiert. Man kann sie auch als Wärme erzeugende Selbst-Sabotage des Ordnungssystems verstehen, wobei die subversive Form keinen subversiven Inhalt hat.
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„Reality Mining“ – GPS-Tracking von Handynutzern in San Francisco (Sense Networks, 2008) und Flugroute eines US-Kampfjets über Kalifornien, 2018.
Das, was in der IT-Branche als Reality Mining bezeichnet wird (das In strumentalisieren von Big Data zur Kartographierung und zur Vorhersage menschlichen Verhaltens) erfährt so auf individueller Ebene eine Reihe semiotischer Rückkopplungen. Die Homepage einer US-Joggerin etwa stellt täglich Laufrouten aus, die die Form von Penissen haben. Der Phallus wird der infantilen Vernunft zum naheliegendsten Zeichen, so wie der Mittelfinger zum naheliegendsten Finger wird. Deshalb versuchen sich andere Jogger an komplexeren Zeichnungen, und die neue Disziplin der GPS-Kunst ist entstanden. Der unpolitische Quatsch ist auf anderer Ebene politisch, und das arbiträre Phänomen ist auf anderer Ebene zentral: Es ist der schöpferische Versuch, seinem ziellosen Umherschweifen einen noch so ordinären Außen-Sinn zu geben. Lieber ordinär sein, als gar nicht sein. Deshalb produziert jeder andauernd irgendetwas und nicht nichts. Das Abbildungskonzept stammt von Dennis Oppenheim, der in den 1970er Jahren Kampfjets Spiralen in den Himmel zeichnen ließ – ein Flugmuster, das abstürzende Flugzeuge kennzeichnet. Fügung – Die Molekularisierung der Macht in der Spätmoderne bringt statt des solidarischen Engagements zunehmend Politiken hervor, die auf eine Selbstermächtigung des Einzelnen ausgerichtet sind. Diese Tendenz der Selbstpolitik dient der idiokratischen Form, d.h. als 169
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„ Verschiebung vom sozialen Pluralismus zur dogmatischen Anwendung privatisierter Lösungen“ (Neil Curtis). Gerade weil der idiotisierte Einzelne beliebig aus dem Reservoir des globalen Angebots schöpft, kann er die willkürlichste Position für sich behaupten. Er sieht sich zwar als Einzelner unter Vielen, aber er akzeptiert sich nicht als Beliebiger eines Weltgeschehens, das ihn in die Solidarität mit anderen zwingen würde. Er stilisiert sich vielmehr als Akteur mit Alleinstellungsmerkmal – Neros letzte Worte waren: „Ach welch ein Künstler stirbt mit mir“. In baldiger Zukunft kann das jeder von sich sagen. Nicht: adaequatio intellectus ad rem, sondern: adaequatio rei ad intellectum. Die Dinge müssen sich dem Idioten fügen, weil er sie auf die gleiche Weise selbst schafft, wie er selbst ein Geschaffener ist. Deshalb kann die Selbstpolitik volatil und in sich widersprüchlich sein, die Diskurse in sich zusammenstürzen lassen und den Zusammensturz selbst als Diskurs behaupten. Anything Goes – aber dieses Mal ernst gemeint: „Man greift auf allgemeinste Kategorien zurück, um sich durch verschiedenste, jeweils anders bestimmte Situationen hindurchzumanövrieren, und verfügt dennoch über keine speziellen, bestimmten Sektoren zuzurechnenden ethisch-kommunikativen Codes mehr“ (Virno). Die Geister des Staates – Die Inkongruenz von Besonderem und Allgemeinem ist auch einer der Gründe, warum der Neoliberalismus als Diskurs der Entstaatlichung von Anfang an eine Chimäre gewesen ist. Die Deregulierung der Märkte, das Verschwimmen der Grenze zwischen Arbeits- und Lebenszeit, die sozialen Verwerfungen der Globalisierung, die Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche, die Atomisierung des Sozialen, die Kommerzialisierung des Kulturbetriebs usw. reproduzierten Verblendungszusammenhänge, die Kapital und Glück fusionieren. Es handelt sich dabei um eine großangelegte Selbst-Sabotage, denn: Mehr Staat geht nicht als derjenige, der sich selbst abschafft (dies gilt auch für Marxens Verwalter des „abgestorbenen Staates“ im Zukunftskommunismus). Neoliberal ist nicht die Abwesenheit staatlicher Kontrollmechanismen, sondern der privatwirtschaftliche Eiertanz im Schutze des Staates – und das gilt auch für Robert Nozicks libertäre 170
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Version des minarchistischen Minimalstaats. Solange es eine verbürgende Rechtsordnung und solange es Nationalstaaten gibt, gibt es nicht mehr oder weniger, sondern immer nur 100% Staat (es ist ein ähnlich beliebter Mythos, dass Menschen nur einen Bruchteil ihrer Hirnkapazitäten abrufen). Wie es Fernand Braudel einmal ausdrückte: „Der Kapitalismus triumphiert nur, wenn er mit dem Staat identifiziert wird, wenn er selbst Staat wird.“ Das hat einst auch ein Friedrich von Hayek eingesehen, als er einmal Kapitalismus und Stalinismus auf die Waagschale packte und erkennen musste, dass beide Systeme auf ihre Weise das staatliche Glück auf Erden suchen. Es geht dabei um die Erkenntnis, dass das internationale, deterritorialisierte Finanzkapital „aus dem Souveränitätsgeflecht von Staaten gewoben ist und so die kapitalistische Welt des Eigentums (dominium) mit der zügellosen Kommerzialisierung der staatlichen Souveränität (imperium) verankert“ (Hendrikse & Fernandez). Zygmunt Bauman schreibt von einer „Staatlichkeit ohne Staat“. Der sich selbst aufhebende, abstrahierte, aber weiterhin insistierende Staat – der ‚Geist‘ der Staatlichkeit – ist sowohl Garant der universellen Vernunft als auch Schirmherr der libidinösen Versenkung im Risikokapitalismus – ob Off-Shore oder On-Shore, ob Online oder Offline –, die wiederum seiner universellen Vernunft den Garaus macht. Wir leben im Neoliberalismus, aber den Neoliberalismus gibt es nicht. Wo leben wir? Höhere Blindheit – Die Idiokratie steht als radikale Konsequenz spätkapitalistischer Subjektivierung in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz). So rechtfertigt sich auch die Rede vom „Idio ten paradigma“ (Matthew Poole). Damit ist ein „Paradigma der Parad igmalosigkeit“ umschrieben, in dem gesellschaftliche Leitunterscheidungen ihre Bedeutung verlieren und jegliche Differenzierungsmobilität sabotiert wird, da sie zugleich an das singuläre Individuum und die Totalität des Man delegiert ist, d.h. man selbst ist total ausdifferenziert, deshalb muss es der Diskurs nicht mehr sein. In den Worten Matthew Pooles gehen die Widersprüche des Idiotenparadigmas einher mit den W idersprüchen der politischen Ökonomie: „Das heißt, dass 171
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das k apitalistische Wirtschaftssystem als ein derartig blind machender Komplex, der mit allen Aspekten des Lebens verbunden ist, erscheint, dass wir anscheinend nicht mehr in der Lage sind, die Beziehungen von Ursache und Wirkung zwischen den gesellschaftlichen, politischen, ethischen oder ökonomischen Aktivitäten auf der Welt zu unterscheiden“. Die Diagnose lässt sich u.a. an Thomas Piketty anknüpfen, der die zunehmende Diskrepanz der Einkommen einer exponentiell wachsenden Blindheit zuschreibt, die das Realwachstum der Löhne ‚überwältigt‘. Das Ganze werde von einem „meritokratischen Extremismus“ beflügelt, der Supermanager mit exorbitanten Einkommen hervorbringe. Moishe Postone hat schon in Hinblick auf Marx betont, dass die Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse einen „blinden Charakter“ habe und das Kapital die unaufhörliche Selbstvermehrung des Wertes darstelle, als Abstraktion, die am laufenden Band konkrete Sündenböcke produziert (Juden, Muslime, Migranten usw.), um den kapitalistischen Eros und die globale Episteme zu bündeln. Die Sündenböcke sind die meritokratische Spiegelung der Leistungsmanager: Beide Gruppen ‚leisten nichts‘ für die Gesellschaft, werden aber negativ bzw. positiv sanktioniert, um von den Ursachen der Einkommensdiskrepanz abzulenken. Der Kapitalismus benötigt aber beide Gruppen, um die meritokratische Wertedynamik aufrecht zu erhalten. Flüchtlingszentren und Finanzzentren sind zwei Aspekte ein und desselben Gebäudes, zwei A spekte einer globalen Fluchtbewegung, aus dem Kapital und in das Kapital. Auflösung – Mit der Idiokratie schwimmen nicht nur die Kollateralmenschen, sondern auch die wohlhabenden Subjekte leblos im Meer des Ungefähren, das sie mitunter selbst produzieren, vergleichbar dem selbstverwertenden Wert des Kapitals als „automatischem Subjekt“ (Marx). Nach Bernard Stiegler findet entlang dieser Entwicklung eine Auf lösungserscheinung statt, die das Dasein im 21. Jahrhundert kennzeichnet. Diese besteht im Aufgehen der individuellen Existenz in den Prozeduren der globalen Ökonomie: „Die Unterwerfung des Daseins unter die Imperative der globalen Existenz […] führt 172
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zu einer epochalen Auf lösung: Die moralische und spirituelle Krise unserer Welt ist nichts anderes als das äußerst beunruhigende Symptom dieser Auf lösung.“ Diese Auf lösung entspricht der oben angesprochenen Selbst-Sabotage des Wertgesetzes qua Automatisierung und abstrakter Arbeit. Nach Stiegler ist jeder Mensch durch eine „intime und ursprüngliche Beziehung“ zu sich selbst gekennzeichnet, was er mit Freud als „primären Narzisssmus“ bezeichnet. Dies sei der Grund, warum jegliches Unterwerfen unter die globale Ordnung zur Unzufriedenheit und zum Vertrauensverlust gegenüber der Zukunft führt. Stiegler sieht einen Teufelskreis darin walten, dass der Vertrauensverlust das Schwarmverhalten verstärke, statt die ursprüngliche Beziehung wiederherzustellen. Deshalb sind Idiotismus und Konformismus keine Gegensätze. Dem heutigen Schwarm existiert die Welt als Übertreibung, als projizierte Hypertrophie und Hyperplasie von allem, das welthaft ist. Und diese Überzeichnung verlangt nach Entscheidungen, die dem Einzelnen unmöglich sind. Sein Glaube opfert die Wahrheit, um zu neuem Wissen zu gelangen – cogito quia absurdum, ergo non sum. Die Krise der Krise – Was Andreas Reckwitz in Gesellschaft der Singularitäten (2017) als „Krise des Allgemeinen“ bezeichnet, erweist sich als Beziehungskrise: die Krise der Beziehung von Allgemeinem und Besonderem. Es gibt keine Krise des Allgemeinen, wenn singularisierte Standpunkte, wie etwa Identitätspolitiken, zu Imperativen verallgemeinert werden, wenn sich idiosynkratische und verallgemeinernde Prozesse permanent gegenseitig reproduzieren. Vielleicht sollte man von einer Impotenz des Universellen sprechen, d.h. von der Unmöglichkeit eines gedanklichen Ruhepols. Hartmut Rosa hat mit seiner sozio-ontologischen Beschleunigungskritik eine vergleichbare Krisenpoetik der Gesellschaft entworfen. Die in den zeitisolierten Subjekten steckende Dynamik einer unaufholbaren Moderne ist nach Rosa nur durch Resonanzerfahrungen zu meistern, die die Sozioontologie des Gemeinsamen konstituieren. Woraus entsteigt das Gemeinsame? Ist es ein ethisches Abstraktum, das sich jeglichem Produktionsprozess 173
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e ntzieht? Ist es die Krise selbst, die für das Gemeinsame bürgt? Identifizieren wir uns über unsere privaten ‚Lebenskrisen‘ als Gemeinsame? Der Krisenbegriff wird hier mit jeder polit-ökonomischen Unwägbarkeit zu einer Art epistemologischer K lammerformel, wie dessen Überwindungsrezepte zur Krisenvalorisierung werden. Das führt zu einer Inflation der Konstellation von Krise-Lösung, wie sie etwa die heutigen Beratungsdisziplinen speist. Nancy Fraser schreibt von einer „Hegemoniekrise“, aber jede Hegemoniekrise ist auch eine Krise der ihr zugrunde liegenden Subjektivität. Der Krisenbegriff scheint zugleich nur dort angebracht, wo die zivilisatorische Grundordnung in Frage steht und nicht dort, wo sich z.B. eine Gruppierung mit sich selbst beschäftigt. Die Krise der globalen Linken ist z.B. keine Krise, sondern das Abbild einer radikalisierten Medialisierung. Linke Politik ist nämlich nicht nur fragmentarisiert und in sich zerstritten, sondern auch allgegenwärtig: ob als Dauerphantasma des Establishments (die demokratische US-‚Sozialistin‘ Alexandra Ocasio-Cortez ist der Anti-Star beim Republikaner-Sender Fox News, der jeglichen Hauch von sozialdemokratischer Politik als „communist“ beschimpft), oder ob als dauerpräsenter solidarischer Appell der Menschheitsrettung angesichts von Ressourcenkampf und Klimawandel oder ob als andauerndes schlechtes Gewissen des Kapitals (auch Finanziers trennen Müll). Je dringlicher der humanistische Appell, desto dreister die Leugnung der anderen. Behaupter wie Leugner wollen die Krise, die es zu überwinden gilt. Der allgemeine Krisenhype färbt auch das Konfliktbewusstsein: Da heute der immer komplexer zu definierende Low Intensity Conflict zur Matrix jeglicher Auseinandersetzung geworden ist (wann hat zuletzt ein Staat einem anderen offiziell den Krieg erklärt?), verschwimmt mit ihm auch das Ernstfallbewusstsein im Bilderstrom des Spektakels. Diese kriseninduzierte Selbstpolitik stülpt sich auch in Notfallsituationen gleichmäßig, aber unverhältnismäßig über alle Phänomene, die dann die Sprache des ‚Meinen‘ sprechen. So kommt es, dass Kriegsflüchtlinge dem Mainstream (bzw. ‚Meinstream‘) schwer als Kriegsflüchtlinge vermittelbar sind, wenn sie ein Handy in der Hand halten – als ob es sich um eine Frage des Lifestyles handelte und Flucht und Migration zu einer glo174
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balen Casting-Show oder einem meritokratischen „Flüchtlings-Bingo“ geworden seien („Wir wollen nur die Besten“). Im Ernstfall würden sich aber auch diejenigen Einheimischen an ihr Smartphone klammern, die es sonst für optional halten, in Not geratene Flüchtlinge aus dem Meer zu fischen. Hallo Individuum! – Eine Idiokratie ist ein gesellschaftlicher Zustand, in dem auch die Verhandlungsformen über das, was man ein Individuum bezeichnen könnte, verwischen – in dem also inmitten des allgemeinen Individualismus eine ‚Krise des Individuums‘ herrscht. Das Abstrakte und Kategorische, schreibt Oliver Sacks in seinem Essay The Autist Artist (1985), finde keine Entsprechung in isolierten Geistern. „Dem Allgemeinen gegenüber abgeneigt oder es gänzlich missend, scheinen sie ihr Weltbild vollständig aus Einzelteilen zusammenzufügen. So leben sie nicht in einem Universum, sondern in etwas, das William James ein ‚Multiversum‘ unzähliger, genauer und leidenschaftlich intensiver Details nannte.“ Der seismische Wandel, der sich in dieser Diagnose abbildet, reicht nicht nur in den Auf bau unseres Vokabulars, sondern auch in den Auf bau unserer Sozio-Grammatik. „Die Worte, die den ökonomischen Prozess auszudrücken versuchen, haben keinen Zugriff auf die Wirklichkeit des Lebens oder der Technologie oder des Wissens. Die Worte, die das ökonomische Feld beschreiben und konzeptualisieren, bringen andauernde Missverständnisse hervor, da sie mit der Wirklichkeit des menschlichen Lebens oder des Planeten nicht übereinstimmen“ (Franco Berardi). Was bedeutet es dann, sich individuell zu verhalten? Was tue ich in diesem Moment, der mir eigen ist? Und wie eigen ist er mir? Es ist doch mein Moment, und im nächsten Moment bin ich tot und momentlos. Wenn wir den Idioten aus den Grundfesten des Individuums und seiner Einzigartigkeiten gewonnen haben, was ist uns dann die Individualität? Das Dilemma ist: Wenn jeder auf die gleiche Weise einzigartig ist, dann ist niemand wirklich individuell, weil dann alle identisch sind, so unterschiedlich sie sich geben. Und wenn jeder auf unvergleichliche Weise einzigartig ist, dann ist auch niemand individuell, weil es keinen gemeinsamen Maßstab 175
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oder keine Beziehung zum Gemeinsamen gibt, anhand derer Individualität festgestellt werden könnte. Wenn Oliver Sacks fragt: „Gibt es einen Ort auf der Welt für einen Mann, der wie eine Insel ist, der nicht enkulturiert und in den Mainstream überführt werden kann?“, dann muss man die Frage auch umkehren: Kann das Besondere Platz für das Allgemeine schaffen? Ich-Epidemie – Gerade weil das Individuum in Frage steht, werfen sich in der Idiokratie Medienwissenschaftler, Soziologen und Psychologen nahezu reflexhaft auf den Narzissmus als Leitdiagnose: entweder im Sinne einer neuen „protestantischen Ethik der Gegenwart“ (R ichard Schuberth) oder als pop-psychiatrische Selbstbespiegelung innerhalb neuer Medienwelten. Die Narcissistic Personality Disorder zählt zu den inzwischen am häufigsten untersuchten Persönlichkeitsausformungen, auch wenn (oder gerade weil) das Narzissmus-Konzept Brüche und Inkonsistenzen hat oder mit anderen Symptomatiken verschmilzt. Das liegt auch an der Vielgestaltigkeit des antiken Mythos: In Ovids Metamorphosen etwa ist Narziss zwar vom Selbstbild benommen, kommt aber durch die Hilfe der Nymphe Echo schließlich zur Reflexion darüber, was ihm widerfährt. Denn die akustischen Bruchstücke, die Echo als Reaktion auf seine Ausrufe erwidert, ermöglichen es ihm, sein Unglück zu erfassen. Das Verhältnis zu Echo macht die eigentliche narzisstische Spiegelung aus, doch was er ungebrochen ausruft, kommt gebrochen aus der medialen „Echokammer“ zurück. Die Untersuchungsfelder des heutigen Narzissmusverständnisses reichen entsprechend in die weitere Umgebung: von der Selbstthematisierung, der Persönlichkeitsstörung, dem kulturellen Sprachgebrauch, individualistischem Lifestyle bis hin zur Auslotung des Narcissistic Personality Inventory (NPI), einer klinischen Standardreferenz. Wie Keith Campbell und Jean M. Twenge in The Narcissism Epidemic (2015) aufzeigen, stellen Wissenschaftler in all diesen Feldern seit Jahren eine Zunahme narzisstischer Muster fest: „unrealistische Erwartungen, Materialismus, geringes Einfühlungsvermögen, […] agierende […] Selbsteinschätzung, Selbstwertgefühl, Selbstfokussierung, Auswahl einzigartiger Namen für Kinder, 176
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geringere Beachtung von anderen, weniger Interesse an der Umwelt und geringes Einfühlungsvermögen“. Reflektierte und unreflektierte Tatbestände, Eitelkeit und Egoismus werden indifferent in einen Topf geworfen, um eine gesellschaftliche Tendenz, die man intuitiv voraussetzt, hinterfragen zu können. In der Medienlandschaft geschieht das oft mit einer Mischung aus Defätismus und Hysterie. „Me! Me! Me! Are we living through a narcissism epidemic?“ (The Guardian). Was Aufmerksamkeit erregt, basiert seine Erklärungsmuster auf der Aufmerksamkeitsökonomie. Der Narzissmus wird zur Diagnose seiner selbst. Doch es geht um mehr als das andauernde Nichts, das er hinterlässt. Christopher Laschs Studie Culture of Narcissism aus den 1970er Jahren beschäftigte sich lange vor den Social Media Studies damit, wie Individuen die Gesellschaft als Repräsentation ihrer privaten Wunschmaschine verkennen. Die Verkennung setzt vor aller Gesellschaft und zuhause vor dem Spiegel an. Man glaubt, wenn man sich nur tief genug in die Augen blickte, sein Potenzial zu erkennen. Doch das spätmoderne Subjekt ist ,gebrochen‘ und mit sich nichtidentisch, also missversteht es die Mehrwertdynamiken des modernen Lebens. Auf diese Weise wird der im narzisstischen Gewand erscheinende Einzelne zum vorauseilenden Gewinner, der sich das Recht auf Erfolg zuspricht, ohne eine Leistung damit zu verrechnen. Das mündet wie der antike Mythos in der Selbstaufhebung, wenn man z.B. 2007 als Hausbesitzer im Mittleren Westen der USA die Schulden nicht begleichen kann, obwohl man sie innerlich längst beglichen hat. Die heutigen Identitätsanwärter haben eine vorauseilende Existenz: Sie schnappen sich den Status, bevor sie ihn erwerben, sie kaufen mit Geld, das sie nicht haben, sie behaupten, was sie noch nicht wissen, sie leben das Leben, das sie noch nicht leben, sie verneigen sich vor Publikum, das gar nicht da ist, weil sie jede mögliche Vervollkommnung vorweggenommen und abonniert haben. Das erklärt zumindest im Ansatz, warum arme Leute Parteien wählen, die Steuererleichterungen für Reiche durchsetzen: Denn die Armen sehen sich im heutigen Beuteschema als noch nicht realisierte Reiche, die sich in Zukunft, wenn sie dann zu Millionären aufgestiegen sind, keine hohen Steuern aufbürden wollen. Sie sorgen für eine innere Zukunft 177
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und halten sie gegen die äußere. Selbst ihr Selbstzweifel ist perfektioniert, bevor es überhaupt etwas zu hinterfragen gibt. Ich-Wir-Stimme – Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass die moderne Individualität eng an Mechanismen der Macht gekoppelt ist, d.h. „dass wir im Grunde durch die Macht selbst individualisiert sind“. Foucault erklärt das vor allem anhand staatlicher Kontrollinstanzen, die Identität ‚feststellen‘, jedem und jeder einen bestimmten Platz im Organon der Gesellschaft zuweisen. Jeder bekommt eine individuelle Nummer (Telefonnummer, Passnummer), macht sich dadurch prinzipiell angreif bar. Daran ändert der rigideste Persönlichkeits- und Datenschutz nichts, denn es bleibt bei der einen Nummer und der einen zuweisbaren Identität. Die Individualitätsmacht macht sich hier vor allem am Ideologem der Einzigartigkeit fest. Nach Bernard Stiegler ist Individualität aber nicht allein in der Idiosynkrasie, sondern nur durch einen Prozess der Individuation erreichbar, in dem zugleich ein Ich und ein Wir begründet liegen. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie bezeichnet das als Wir-Ich-Balance. Spielt aber nicht schon Søren Kierkegaard darauf an, wenn er von der gegenseitigen Bedingtheit des autopathischen und sympathischen Zweifels schreibt: „Der auto pathische und der sympathische Zweifel können nämlich nur zugleich miteinander beruhigt werden, weil sie wesentlich gleicher Natur sind. Der autopathische Zweifel ist […] eine Forderung derjenigen Selbstliebe, die im selben Sinn ihr eignes Ich und das Selbst jedes andern fordert.“ Das Selbst jedes anderen spielt auf derselben Verhandlungsebene wie das eigene Selbst. Eine Stimme kann individuell genannt werden, wenn in ihr auch das Gemeinsame spricht. Eine Stimme, in der nur der/die Einzelne oder nur die Gemeinschaften (als ‚Einzelne‘) sprechen, ist die Stimme eines Idioten. Diese Stimme kann wie die Stimme eines Berauschten im Gemenge verschallen, oder sie kann als produktive Störung wahrgenommen werden. Auch aus dem Idioteneinsatz kann sich also ein Individuationsprozess ergeben, so wie sich aus dem regressiven Individuum nach Adorno prinzipiell ein
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emanzipiertes entwickeln kann, d.h. „die Rettung des Einzelwesens […], das gerade in seiner Beziehung aufs Allgemeine erst ein Besonderes würde“. Es genügt unter Umständen also nicht, sich nur individuell oder nur solidarisch zu verhalten, man muss in gewissem Sinne auch ein Idiot sein können – der ethisch-politische Schritt von Kants Vernunft der M ündigwerdung zu Hegels ‚Wahnsinn‘ der Selbstverwirklichung, gemäß des idiokratischen Imperativs: Sei gerade Idiot! Denn dann kannst du die aller emanzipierenden Ethik zugrundeliegenden Vorbehalte entlarven. Dieser ‚ethische Idiot‘ ist nicht unbedingt der künstlerische Eskapist, der sich den Kontrollsystemen der postdemokratischen und postfordistischen Gegenwart entzieht. Es geht eher darum, im kapitalistischen Innenraum die sinnliche Überfütterung zu überbieten, die semiotische Unterfütterung zu unterbieten oder Radikalitäten und Konformismen zum „Normcore“ (Dana Yago) kurzzuschließen, d.h. die Überidentifizierung mit dem Normalen. Was in dieser Perspektive bei Ulrich Beck aus der „Normalbiographie“ im Prozess der Individualisierung eine „Wahlbiographie“ macht, findet im Normcore-Idioten den Prozess der Entbiografisierung und des Lebensfragments. Wir leben unsere Biografien. Aber es gibt keine Biografien mehr. Wie leben wir? Nicht mehr als unnötig – Vielleicht ist das populäre Interesse an bürgerlicher Erotik (Fifty Shades of Grey) oder autobiografischer Prosa ein Symptom der spätmodernen Selbstsuche, die die Identität in der Intimität sucht, ohne sie darin in Gänze zu finden. Auch der intimste Mensch ist nicht vollständig. Autobiografisch orientierte Erfolgsautoren wie Karl Ove Knausgård fangen das Intime ein und präsentieren es allen anderen wie ein erlegtes Tier. Viele Worte braucht es für diese Einfachheit: „Es ist eine Sache, im Inneren banal, dumm und idiotisch zu sein, und eine andere, es im Schreiben zu erfassen“ (Knausgård). Das heißt nicht, dass das Geschriebene je vom Banalen, Dummen und Idiotischen ausgenommen ist. Dessen Schwachkraft waltet auch jenseits des Mediums. So blättert man bei allerlei ‚Skandalautoren‘ und vertieft sich mit an
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deren V oyeuren in das Metier, das sie selbst sind, dass sie alles Intime veräußern und dabei ihre Singularität mit sich selbst kurzschließen, ohne sich dem allgemeinen ökonomischen Idiotismus auszusetzen. Das Schreiben öffnet keine Türen und ist keine Handlungsanleitung, sondern der ultimative Prozess der Individuation und dahingehend universell und unanstastbar (man kann Bücher verbrennen, aber das Schreiben ist unantastbar). Die Universalität ist eine Frage der Technik und des Maßes. Je besser man etwas beherrscht, desto universeller wird es. Die Identität eines Weltchampions wird nicht in Frage gestellt, er/sie ist über jeden Zweifel erhaben. Ein Weltstar transzendiert Herkunft, Greta Garbo ist wichtiger als Schweden, und die Zentralperspektive ist relevanter als Italien. Universelle Autorschaft setzt ebenfalls Maßbewusstsein voraus. Walter Benjamin verweist auf die Ergonomik allen Schreibens, wenn er notiert, dass die Sprache nicht nur der Ausdruck, sondern auch die Realisierung des Denkens sei: „[Der gute Schriftsteller] sagt nie mehr als er gedacht hat. So kommt sein Schreiben nicht ihm selber, sondern allein dem, was er sagen will, zugute.“ Auch Intimität ist nur Mittel zum Zweck einer wie auch immer gearteten ‚Selbstfindung‘. Das ist ein wichtiger Wegweiser, vor allem weil die hier implizierte Meisterschaft und Präzision auch jeden Wahnsinn definiert, der als Wahnsinn immer genau das ausdrückt, was er ist. Der Wahnsinnige sagt nie mehr nach außen hin, als der Wahnsinn nach innen spricht. Dieser benjaminsche ‚Normcore-Modus‘ beschreibt einen Zugang zum Realen, der eine totale Verhältnismäßigkeit kennt: kein Zuviel oder Zuwenig, so wie man atmet: nicht zu viel und nicht zu wenig, genau richtig (das mag ein Grund sein, warum für Elias Canetti der Ursprung der Freiheit im Atmen liegt). Der idiokratische Nährboden befruchtet sich damit, dass man entweder mehr oder weniger von sich gibt, als man sagen will, dass man das genaue Maß von Besonderem und Allgemeinen nicht kennt und dadurch mehr/weniger erkennt und sagt, als es zu erkennen und zu sagen gibt. Ähnlich zaubert der heutige „Drang, sich selbst zu entwerfen“ (Bauman) bzw. der „produktive Narzissmus“ (Boris Groys) als Folge eines permanenten „Selbst-Designs“ (ebd.) mehr oder weniger Selbste hervor, als da sind: Entweder Einzelne nehmen so viele Rollen 180
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ein, bis sie dahinter verschwinden, oder Gruppen von Leuten können auf einen einzigen Idiotypus zurückgeführt werden, so individuell sie sich geben.
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DER WILLE ZUM ABSURDEN
2 × 2 = grün Heinz von Foerster
Alle alles – Im täglichen Datenfluss erscheint das Video eines Mannes, der mit einem Wasserschlauch sein Auto abspült, während es in Strömen regnet. Sicher zunächst nicht mehr als eine Kuriosität des Online-Idiotentums, brennt sich der Anblick dennoch ins Gedächtnis. Im Gegensatz zum Schrebergärtner, der im Regen steht und sich maßlos darüber aufregt, dass er seinen neuen Rasensprinkler nicht ausprobieren kann, verfährt der Autowäscher stoisch: Er will sich vom Wetter nicht befehlen lassen, wann er sein Auto zu waschen hat. Also spült er mit eigenem Wetter weiter. Bis seine Tat – ich ziehe das Bild über seinen Rahmen – zur autotelistischen Formel wird. Denn vielleicht würde der Mann sein Auto auch dann waschen, wenn es eine Überschwemmung gegeben hätte, oder wenn die Welt im nächsten Moment endete? Vielleicht gerade dann, denn im Angesicht des Weltuntergangs werden ja alle Taten gleich, gibt es nichts Lächerliches mehr. Der Mann könnte auch wie Luther ein Apfelbäumchen pflanzen oder eine SMS verschicken. Alles, was passierte, wäre von diesem Weltende her gedacht und absolut normal, d.h. jede Handlung wäre ebenso nebensächlich wie radikal. Besitzen inzwischen nicht viele politische Handlungen diesen endzeitlichen Trotz des Autowäschers? Ragen heute nicht viele Ereignisse aus dieser undefinierten Apokalypse in die Gegenwart, in der jede Handlung ihre eigene Bedeutung schafft, unabhängig davon, wie bedeutungsarm sie sich gibt? Es geht beim trotzigen Autowäscher um das Sinnbild einer aufsteigenden Zeit. Einer Zeit, in der Metaphern real werden, in der das Wirkliche absurd und das Absurde wirklich ist. Einer Zeit, in der 183
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die Weisheit des Pangloss Kapriolen schlägt: „Das Unglück im Einzelnen eben begründet das allgemeine Wohl, so dass es um das Ganze desto besser steht, je mehr die Übel im Einzelnen sich häufen.“ Die heutige Welt dreht sich um Voltaires Grab. So dichtet das Forbes Magazin im November 2018: „Die Zunahme der Vermögensungleichheit ist ein glückliches Zeichen dafür, dass das Leben viel bequemer wird“. Dass die Absurdität aus allen Informationslöchern strömt, ist einem neuen Idiotypus geschuldet, einem epochalen Meme, in dem sich die Weissagung des einäugigem Weisen erfüllt, dass nämlich alle alles wissen werden, wenn jeder Einzelne nichts mehr weiß. Wirklich & absurd – „Niemand außer einem Idioten würde nach einem kleinen Hammer greifen, wenn er einen großen zur Hand hätte.“ … „Nun, und niemand anderer als ein Idiot tat es“, heißt es in einer Kurzgeschichte Gilbert Keith Chestertons, Der Hammer Gottes. So ist es mit den metaphysischen Hämmern: Bis einer das Absurde festgeklopft hat, kommt man nicht auf die Idee, dass es auch das Wirkliche sein könnte. Aber was ist dieses Absurde? Wer gerne in Begriffsmoden denkt, verknüpft es mit einer bestimmten Zeitperiode. Dann erscheint es so, als ob nur in den 1930er, 40er, 50er und 60er Jahren das Leben noch absurd gewesen sei und danach nicht mehr, weil niemand mehr die Vokabel in den Mund nahm (die intellektuelle Abhängigkeit von den Mündern der anderen mutet schon für sich genommen absurd an). Aber gilt nicht auch heute, was Eugène Ionesco schrieb: „Abgeschnitten von seinen religiösen, metaphysischen und transzendenten Wurzeln, ist der Mensch verloren; all sein Tun wird sinnlos, absurd, nutzlos“? Sind Wurzeln nachgewachsen? Nein. Gerade die Gotteskrieger und Abendlandverteidiger belegen die moderne Verlorenheit, weil ihr Pathos so überzogen ist, weil sie über Gott und Nation hinausschießen und auf einem unbewohnbaren Planeten landen. Und das „absurde Theater“? Ist denn nicht jedes Theater absurd? Ahnen denn die Beteiligten nicht, dass alles Bühnenleben sinnlos ist, und trotzen sie nicht gerade deswegen der immer kunstfeindlicher werdenden Zeit? Auch und vielleicht gerade heute verweist die Gesamtheit unserer Handlungshorizonte auf eine Endperspektive 184
De r W i l l e z u m A b s u r d e n
(Wozu? Wofür? Weshalb?), der wir keine Transzendenz entgegensetzen können. Deshalb setzen wir ihr unsere Immanenz entgegen. Das Absurde besteht nach Thomas Nagel aus der „Kollision zwischen dem Ernst, dem wir unseren Leben zusprechen, und der ständigen Möglichkeit, alles, was wir ernst nehmen, als nebensächlich oder zweifelhaft anzusehen“. Man schlägt die Hände auf und erkennt, dass da nichts ist, dass also die Ernsthaftigkeit des Lebens stets aufgehoben werden kann. Einsinnig & unsinnig – Rosset erwähnt eine Stelle bei Ernst Mach, in der dieser das Weltall als etwas beschreibt, das nicht gespiegelt werden kann, etwas, das keine Reflexion ermöglicht und nur in dieser Einseitigkeit ist, was es ist. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich daher im monotheistischen Singular, nach Bedeutungen des Lebens fragt keiner, weil die Bedeutungen das Leben selbst sind. Otto Weininger zufolge liegt in der Einsinnigkeit der Zeit „der Grund dafür, daß unser Unsterblichkeitsbedürfnis nur auf die Zukunft (nicht auf das Leben vor unserer Geburt) sich erstreckt. Deshalb interessiert uns wenig unser Zustand vor der Geburt, gar sehr aber jener nach dem Tode.“ Der Sinn ist gerichtet, und deshalb ist er der eine Sinn des Lebens. Niemand interessiert sich für das Paradies, das existierte, bevor Gott die Welt schuf. Schwer ist es, sich religiöse Extremisten vorzustellen, die sich in die Luft sprengen, um ins Jenseits vor ihrer Geburt zurückzukehren. In dieser Einsinnigkeit der Zeit bricht sich das Leben des Menschen Bahn, wie sich Wellen an der Felsenküste brechen. Kierkegaard schreibt in seinem Katalog der Paradoxien, dass die Wahrheit an der Absurdität erkennbar sei. Dem Menschenleben liegt, sofern der Mensch die Wahrheit sucht, eine „absolute Absurdität“ (Sartre) zugrunde, die an keiner Stelle aufgebrochen oder abgeführt werden kann – aber doch permanent aufgebrochen, abgeführt und aufgekündigt wird, wodurch sich der Sinn des Lebens in den Unsinn des Lebens verkehrt. Der neue Idiot – Deleuze und Guattari sehen an diesem Punkt den zweiten Horizont des Idioten vor den ersten ziehen: „Der alte Idiot wollte Evidenzen, zu denen er aus sich selbst gelangen würde: unterdessen würde 185
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er an allem zweifeln, selbst an 2 + 3 = 5; er würde alle Wahrheiten der Natur in Zweifel ziehen. Der neue Idiot will überhaupt keine Evidenzen, er wird sich nie damit abfinden, dass 3 + 2 = 5, er will das Absurde […] zur höchsten Macht des Denkens erheben, das heißt schöpferisch tätig sein.“ Der Idiot erster Ordnung, der alte Idiot, sieht die Wahrheit in der anfänglichen Weltanschauung. Der neue Idiot macht nicht nur ungeachtet aller Umstände ‚sein Ding‘, sondern führt im Machen das Machen ad absurdum. Das ist kreativ, denn es bezieht im Akt die Voraussetzungen des Schaffens mit ein. Zugleich zeigt sich in ihm „das überwältigende und unauslöschliche, nie zu stillende Streben nach kreativer Zerstörung“ (Bauman). Der neue Idiot bestimmt daher nicht zufällig die modernen Figurationen der Absurdität, wie sie in der Kulturproduktion etwa Père Ubu für das Fin dè Siecle, Dada bis 1922, die Surrealisten für die Zwischenkriegszeit oder die Situationisten für die Nachkriegszeit bestimmten. Durch die Atomisierung der Stile und Bewegungen bleibt der darin rumorende Idiotypus quasi als kulturelles Residuum der Gegenwart erhalten. Anders formuliert: Der neue Idiot übernimmt die Rolle der Begriffsperson, mit der wir heute der Absurdität des Lebens beikommen und mit der wir über die (Un-)Sinnhaftigkeit der Welt befinden. Wo er mit Idiotypen erster Ordnung dialektisch durchdrungen ist, wo er also die Absurdität vom Anfang her oder als Anfang denkt, lässt er sich im Kulturbetrieb als eine Form des ‚Zeitaktivismus‘ festmachen, wird zum Idiot Hero seiner spezifischen Zeit. Wo er apokalyptisch auf das Ende hin projiziert ist, erscheint er als das Symptom einer dysfunktionalen Ereignisepoche, der Idiokratie, die sich vor ihrer Absurdität abschirmt, sie aber permanent reproduziert: das Kontraproduktive, das man benötigt, um produktiv zu sein oder umgekehrt, wie es Frantz Fanon einmal nannte: „Konditionierung durch Absurdität“. Das Absurde ist heute philosophisch aus der Mode gekommen, wird nicht mehr ‚verstanden‘, weil wir größtenteils diesseits der Absurdität und im Bannkreis des neuen Idioten leben. Dieser ist es, der die Absurdität der Macht heutzutage am direktesten realisiert.
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Trickle-Down-Ontology – Der oben beschriebene Auto-Mann ist so gesehen auch die realisierte Metapher eines Systems, dessen Wahrheit unerbittlicher heruntertröpfelt als Regen. Eines Systems, in dem jede Tat den Charakter einer ökonomischen Durchhalteparole hat, um die planetarische Regenmaschine am Laufen zu halten. Egal, was einem die Propaganda des Regens weismachen möchte, im Produktschema des metaphysischen Automobilismus, im trotzigen Spülen, da ist er Akteur und Auto-r, unbestimmtes Subjekt, das dafür sorgen wird, dass das eigene Wasser das fremde Wasser und überhaupt alle Konkurrenz verdrängt. Und wie wir uns vorstellen können, dass die Sonne die Szenerie beleuchten wird, so ist der Abglanz des Wagenlacks ein Symbol der Perfektion, in dem die Wirklichkeit des Absurden ihre materiale Entsprechung findet. Der neue Idiot ist in der absurden Handlung aufgehoben wie ein frisch gebadetes Kind im Handtuch und fühlt sich warm und wohlig darin. Alle Dinge und Wesen beschreiben einen Naturkreislauf des Interesses. Sie verdunsten, tröpfeln herunter, werden zu Flüssen und münden im Strom des absurden Glückes, das sich in der Summe der Vielen umso stärker vermehrt, je unglücklicher alle Einzelnen sind. Es gibt heute deshalb so viele Therapeuten, Berater, Coaches und Lebensratgeber, weil sie die Unglücklichen auf das Niveau des allgemeinen Glückes hieven sollen. Gelänge ihnen das, wäre das allgemeine Unglück perfekt. Realisierung – Der Wille zum Absurden beschreibt nicht nur den Wandel der Begriffsperson, sondern emuliert den realen Gehalt der polit- ökonomischen Wirklichkeit. Es ist die Schwelle, an dem die Metapher des Idioten zur politischen Realität wird. Die „Realisierung der Metapher“ ist nicht nur ein literarisches Stilmittel wie etwa im russischen Formalismus, sondern, wie Dubravka Ugrešić in Kultur der Lüge (1995) und zwei Dekaden später Suzan Jacoby in The Age of American Unreason in a Culture of Lies (2018) illustrierten, auch ein Hinweis auf einen grundlegenden Konflikt. Wo die Metaphern real werden, sind die Zugänge zum Realen gelegt, herrscht schon irgendwie Krieg als Wörtlichkeit des Zeichens, der einer Ironielosigkeit der postmodernen Ironie entsteigt. Jacobys historische Analyse der amerikanischen Öffentlich187
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keit trägt insofern idiokratische Vorzeichen, als sie die Mannigfaltigkeit dieser g esellschaftlichen Entwicklung in einer einzigen Bewegung denkt: „Amerika ist heute an einem ungeheuren Gemenge aus Ignoranz, Anti-Rationalismus und Anti-Intellektualismus erkrankt, das durch Technologie zu etwas Gefährlicherem als die chronischen alten Konflikte mutiert ist. Die Heftigkeit des gegenwärtigen Ausbruchs ist untrennbar mit einer Unbekümmertheit verbunden, die paradoxerweise sowohl aggressiv als auch passiv ist.“ Jacoby nennt es das Zeitalter der Unvernunft. Das Zeitalter des Idioten aber ist streng genommen weder unvernünftig noch vernünftig – oder es ist beides zugleich.
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TRANSZENDENTALER TRUMP
trump·er·y n. pl. trump·er·ies 1. Deceit; fraud. 2. Something serving to deceive by false show or pretense; falsehood; worthless but showy matter; Webster’s 1913 Dictionary
Untenherum – Ein zentrales Motiv der Existenzialisten ist das Anrennen gegen „absurde Mauern“, wie Camus die Sisyphos-Aufgabe nannte. Der neue Idiot ist hingegen jemand, der so viel Mauern wie möglich einfordert und zuletzt selbst Mauer wird. Steht nicht gerade das Wahlversprechen Donald Trumps, eine Mauer zu Mexiko errichten zu lassen, für die wortwörtliche Realisierung der Metapher? Ein Vorhaben, das deshalb bizarr war, weil stagnierende Einwanderungszahlen die Mauer zum Symbol des Abschottens statt des Ausschließens machten und weil Trump auf einem steinernen Bau beharrte. Wohl aufgrund dieser Mauerhaltung hatte der Immobilientycoon innerhalb eines Jahres geschafft, was vorher der gesamten politischen Klasse der Vereinigten Staaten unmöglich erschienen war: alle Regeln des politischen Alltags zu brechen und obendrein damit durchzukommen. Der „Master-Brander“(Mark Cuban) schaffte es, mit seiner launenhaften, libidinösen Rotzigkeit den gesamten Medienapparat in seinen Bann zu ziehen. Oder wie es Don de Lillo einmal fasste: „Wir werden auf jeder Ebene mit Informationen über Trump überflutet […]. Aber was für mich heraussticht, ist, dass all seine enormen Fehler und Unwahrheiten innerhalb von 24 Stunden verschwinden“. Was Naomi Klein über Trump zur Vorstellung ihres Anti-Trump-Buches No Is Not Enough (2017) schreibt, muss man analytisch durchdringen: „Er ist zweifellos ein Idiot, aber unterschätzen Sie nicht, wie gut er darin 189
Idiokratie
ist.“ Trumps Dauersubversionen haben zur Verzweiflung seiner Kritiker geführt, die lernen mussten, dass in einer Idiokratie die mediale Performance die mediale Wirklichkeit ablöst. Schon die Tatsache, dass Trump seit seiner Nominierung täglich den Nachrichtenzyklus dominierte, dass Fans und Gegner täglich an seinem Twitter-Account hängen, um sich die erwünschte Ration von Nervenkitzel abzuholen, zeigt, dass seine TV-Instinkte von Anfang an auf die Aufmerksamkeitsökonomie abgestimmt waren. Dieses Sich-Takten mit der billigen Situation, die Ebene der niedersten Zusammenfügung, gilt für alle Bereiche, in dem sich der Wille zum Absurden manifestiert. Einer Analyse des neuen Idioten muss es daher, anders als Naomi Klein, um den transzendentalen Trump gehen, d.h. um den Trump in uns bzw. um alle Trumps dieser Welt und um das Verständnis für deren Unfähigkeiten und Fähigkeiten. Über Alfred Jarrys absurden König heißt es schon: „Herr Ubu ist ein gemeiner Mensch, daher gleicht er uns allen (jedenfalls untenherum)“. Selbst-Saboteur – Was heißt es, „gut darin zu sein“, ein Idiot zu sein? Es ist die Fähigkeit, den Willen zum Absurden als Handlungsmaxime durchzusetzen, die Fähigkeit, andere für das Projekt einer Unmöglichkeit zu gewinnen. Der empirische Trump galt Skandal für Skandal als politisch erledigt, während der transzendentale Trump weiter aufblühte. Gerade weil der eine Trump den anderen Trump als Angriffsfläche darbot und obendrein selbst die Munition lieferte, überstand er sein Debakel und siegte, weil weder Analysten noch politische Gegner auf einen Selbst-Saboteur eingestellt waren. Der transzendentale Trump ist so gesehen das Paradebeispiel eines neuen Idioten – jemand, der unvermittelt in die Geschicke einer Welt eingreift und sie dabei anders hinterlässt, als er sie vorgefunden hat. Der neue Idiot agiert dabei wie eine Useless Machine: Er untergräbt eine Prämisse zu seinem Nachteil, nimmt dabei die Rolle eines Zerstörers ein und behauptet daraus einen Diskurs der Meinungsführerschaft, was klappt oder nicht klappt – und das heißt: Es klappt. Wenn man Trumps öffentliche Aussagen über Jahre hinweg vergleicht, fällt die Selbst-Sabotage als durchgehendes Merkmal auf:
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„I’m not a politician.“ (CNN, 2015) „I’m no different than a politician.“ (New York Times, 2015) „I’m on the ticket, because this is also a referendum about me.“ (CNN, 2018) „I wasn't running. My name wasn't on the ballot.“ (FOX News, 2018)
Und derlei ist nur eine konsequente Fortsetzung eines etablierten Musters: „The simplest approach is often the most effective.“ (The Art of the Deal, 1987) „It’s always good to do things nice and complicated so that nobody can figure it out.“ (The New Yorker, 1997) „Surround yourself with people you can trust.“ (How to Get Rich, 2004) „Hire the best people, and don’t trust them.“ (Think Big, 2007)
Die Zitate sind nicht aus dem Zusammenhang gerissen, weil es keinen Zusammenhang gibt. Das idiokratische Prinzip ist, jeglichen Zusammenhang zu zerstören und durch Heuristiken zu ersetzen, die in einem engen Rahmen Gültigkeit haben, aber zugleich indefinitive Gültigkeit beanspruchen. Um die Selbst-Sabotage des neuen Idioten zu verstehen, ist es wichtig zu begreifen, dass alle Truthisms für sich bestehen bleiben – als performative Tautologie: Alles ist zwar zugleich wahr und falsch, aber in toto stets zutreffend –, woraus dann willentlich eine Position hypostasiert wird, die es nicht geben kann, es aber durch die Setzung effektiv gibt. Denn in Trumps idios kosmos ist alles Verhandlungssache und bezieht sich darauf, wer wen über den Tisch zieht. Es geht nicht um ausgeklügelte Business-Strategien, sondern um deren Verwirbelung. Trump rechtfertigt sich nach öffentlichen Attacken gegen seine mentale Gesundheit als „stable genius“ und spricht sich zwei einander ausschließende Eigenschaften zu. Seine Selbstaushebelungen sind keine „figures of speech“, sondern Vorwegnahmen: Nur ein Idiot will sich den größtmöglichen Umfang einer Bedeutung sichern und geht so weit, die Bedeutung selbst dafür zu 191
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opfern. Die Methode fruchtet: Der demokratische Kongressabgeordnete Brendan Boyle brachte am 9. Januar 2018 den STABLE GENIUS ACT ein, ein sogenanntes „Backronym“ für Standardizing Testing and Accountability Before Large Elections Giving Electors Necessary Information for Unobstructed Selection Act. Der neue Idiot setzt ein Meme und schafft die Traktion, der seine Antipoden in Bewegung setzt. Trump wird dadurch mächtig, dass ihn alle für einen Idioten halten und dadurch im Bannkreis seines Zeichens verbleiben, darauf wartend, welche Neuigkeit der Idiot aus seinem Zeichenarsenal schöpft. Trumps stable genius besteht darin, dass er weder stabil noch genial, sondern unmöglich ist (in allen möglichen Bedeutungen dieses Wortes). Das galt schon für die performative Selbsterfüllung des Bestsellers The Art of the Deal, denn Trump hat gerade in der Zeit nach 1988 seine größten Fehlinvestitionen getätigt. Dennoch hat er sich als Selfmade-Man im Bewusstsein der US-Amerikaner erhalten. Auch konnte er sich erlauben, nachdem er jahrelang vehement abgestritten hatte, mit Russland kooperiert zu haben („No collusion!“), in einem Interview stolz zu verkünden, dass er jederzeit Material fremder Mächte über seine politischen Gegner akzeptieren würde, was er dann in der folgenden Ukraine-Affäre in die Tat umsetzte. Um das Zitat Chestertons zu paraphrasieren: Nur ein Idiot würde sich irreparabel schaden, um sich unangreifbar zu machen. Nun, und niemand anderer als ein Idiot hat sich irreparabel geschadet, um sich unangreifbar zu machen. Rekursivität – Trump überhöhte seinen vermeintlichen Anti-Establish ment-Kurs durch eine Polit-Performance, die ihn auch mit vielen Wählern kurzschloss, die ansonsten mit dem Mischtypus von TV-Personality, Plantagenbesitzer und Wutbürger nichts anfangen konnten. Damit ist nicht Trumps ständiger Verweis auf die eigene Potenz (vom Penis bis zur Zuschauerzahl), sondern eine strukturelle Selbstbezüglichkeit gemeint, in der jeder Impuls den Impulsgeber mit einbezieht: Am Tag, als Trump die Google-Suchresultate zu seiner Person verurteilte (29. August 2018), weil die Suchmaschine angeblich nur negative Top-Resultate zu seiner Person lieferte und sich der Suchalgorithmus vermeintlich als ‚parteiisch‘ entlarvte, konnte man – wenn man am selben Tag Google zu Trump 192
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abfragte – die Meldungen zu seinem Tweet an oberster Stelle sehen. Es waren negative Meldungen, die er selbst produziert hatte. Er hatte sich also durch seine Beschwerde selbst widerlegt. Das Absurde ist, dass gerade durch diesen präsidialen Quatsch die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Praktiken des Google-Konzerns fokussierte, dessen Geschäftsmodell ja de facto darin besteht, Suchergebnisse zu filtern. Der erste liberale Reflex in diesem Online-Theater war es, nach Trumps Attacke den Monopolisten Google als neutralen Agenten der Menschheit zu beschützen. Und so ging das pausenlos: Ausgerechnet Finanzspekulanten wie George Soros, außenpolitische Scharfmacher wie John M cCain oder Überwachungstechnokraten wie John Brennan wurden als Antipoden Trumps zu neuen Lieblingen der US-Liberalen, welche nicht merken wollten, dass sie die nützlichen Idioten des neuen Idioten geworden waren. Ähnlich erging es dem Oppositionsführer im Senat, Chuck Schumer. Im November 2018 war Trump auf die US-Verfassungsrichter wegen ihrer vermeintlichen Parteilichkeit losgegangen, was auch die Kritik des obersten Verfassungsrichters Roberts nach sich gezogen hatte. Schumer schrieb daraufhin, dass er zwar politisch nicht oft mit Roberts’ Richtersprüchen einverstanden sei, diesen aber unterstütze, weil er der einzige Republikaner sei, der gegen Trump aufbegehre. Schumer verteidigte also die Unparteilichkeit des Richters mit dem Hinweis darauf, dass dieser ein Republikaner sei, mit dem er nicht oft politisch übereinstimme! Schumer wie auch das gesamte W ashingtoner Establishment glauben im Modus des nationalen Konsenses und Decorums sprechen zu müssen, während der blonde Präsident die präsidiale Position aufgibt („unpresidented“) und andere in die Rolle des Older Statesman zwingt, um daraufhin das ‚Establishment‘ zu attackieren. Trump benimmt sich wie ein Möchtegern-Reicher, der zufällig auch Milliardär ist („blue-collar-Billionaire“). Er verkörpert das Klischee des Präsidenten, als ob er selbst nicht Präsident sei – ein Möchtegern-Leader, der zufällig auch Leader ist. Daher rührt Trumps ‚hilfloses‘ Anrennen gegen die eigenen Behörden, als ob er außen vor stünde: Jemand solle etwas gegen den Deep State machen, jemand müsse endlich die Grenzen dicht machen, gegen die Mainstream-Presse v orgehen, Social-Media-Giganten 193
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regulieren usw. – dabei verkennend, dass jede Klage über einen Tatbestand einen neuen Tatbestand kreiert oder auf den beklagten Tatbestand zurückwirkt. Es geht nicht um demagogische Floskeln. Der Wutbürger schlägt um sich, aber die Dinge, die er fortschlägt, fallen wütend auf ihn zurück. Also wird er noch wütender. Trumps andauernde Fiebrigkeit steckt sein gesamtes Umfeld an. Das gilt inzwischen auch für die Positionen der US-Republikaner, die Trumps massive Verschuldungspolitik oder Agrarsubventionen mittragen – was vor ein paar Jahren völlig undenkbar war. Die Rekursivitätseffekte werden auch vom präsidialen System der USA gestützt. Die sich in Trump anbahnende Verfassungskrise gipfelte beispielsweise während der Mueller-Untersuchungen mehrmals in der ernsthaften juristischen Frage, ob sich ein Präsident selbst begnadigen könne. Die politische Rekursivität ist so selbstreproduzierend wie Bruegels Narr. Wie sagte Trump einmal: „This is Air Force One and I think the coolest thing of this plane is: it’s Air Force One“. Alles ist offensichtlich – Das Neue des neuen Idioten ist, dass sein Verdecktes unverdeckt ist. Trump projiziert offen seine eigenen Symptome auf die politischen Gegener und lügt exzessiv – selbst über Sachverhalte, für die es Fernsehaufnahmen oder Belege gibt, wo also zu lügen absurd ist: Er verlegt z.B. während eines Press Briefings den Geburtsort seines Vaters spontan von New York in einen „wunderschönen kleinen Ort in Deutschland“, offenbar weil er Momente zuvor über die Bundeskanzlerin gesprochen hatte. In den 1980er Jahren etablierte die Familie Trump noch den Mythos der schwedischen Herkunft, als die deutsche Herkunft nicht opportun war. Trumps Verlogenheit ist so selbstevident, dass er unbewusste narrative Rituale entwickelt hat: Der Journalist Daniel Dale hat z.B. herausgefunden, dass Trump, wenn er dabei ist, eine Lüge zu erzählen, dazu neigt, ein „Sir“ in die Erzählung einzubauen. Er benutzt „Sir“, wenn ihn z.B. in seiner Erzählung jemand anspricht, damit er eine persönliche Distanz in die fiktive Erzählung einbaut, um seine Version glaubhaft zu machen. Ein anderer Selbst-Trigger ist die Vokabel „infested“, wenn er schwarze Abgeordnete angreift, um deren Stadtteil zu diskriminieren: Es ist eine alte rassistische Trope, dass Schwarze nicht für 194
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Recht und Ordnung sorgen könnten, dass sie also des weißen Mannes bedürften (Trump betont, dass er von allen Präsidenten am meisten für Schwarze getan habe). Trumps Ideologie ist Fadenscheinigkeit, Trumps Idealogie ist Dreistigkeit, Trumps Idiologie ist Offensichtlichkeit. Seine Selbst-Performance hebelt mit offener Ansage auch die geopolitische Ordnung aus: „Trump darf Zölle verhängen, anderen Staaten mit Krieg drohen, einzelne Unternehmen attackieren – alles ungestraft, obwohl das dem Interesse der freien Märkte in krasser Form entgegensteht“ (WELT-Online). Aber Trump „darf“ das nur, weil er mächtiger als andere neue Idioten ist und das genauso offensichtlich ist wie die Anbiederungsversuche internationaler Gäste im Trump Tower. Wenn man sich die weltweiten Börsenverläufe ansieht, haben es nicht nur Institutionen, sondern auch Märkte gelernt, sich auf diese Offensichtlichkeit einzustimmen. Das, was passiert, ist das, was offenliegt. Auch die versteckteste politische Panne ist offensichtlich. Nichts, was über finanzielle Offshore-Praktiken oder Diplomaten-Communiques bekannt wurde, überrascht. Das Geheimnis des politischen Hinterzimmers ist in einer Idiokratie keines mehr. Das traute Ineinander von partikulärer und universeller Vernunft, Idiotie und Strategie bestimmt auch die Verlautbarungspraxis Trumps. Er antwortet in einem Interview auf die Frage, ob er ein Team für Außenpolitik zusammengestellt habe, mit: „Ich spreche mit mir selbst, erstens, weil ich ein sehr gutes Gehirn habe und viele Dinge gesagt habe. […] Ich weiß, was ich tue, und ich höre auf viele Leute, ich spreche mit vielen Leuten. […] Aber mein Hauptberater bin ich selbst und ich habe, wissen Sie, einen guten Instinkt für diesen Kram.“ Bezeichnend ist, dass Trump mit „erstens“ eine Auflistung beginnt, ohne sie fortzuführen. Der neue Idiot stellt Listen auf, die nur aus einem Punkt bestehen. Denn er leitet seine Kompetenz wie bei einem scholastischen Gottesbeweis nur aus der Tatsache des Selbstseins ab. Und das alles funktioniert trotzdem und irgendwie, weil alle anderen irgendwie auf die Absurdität reagieren müssen. Der neue Idiot wirft den anderen Quatsch vor, so wie der Gott in Zardoz dem Stamm Waffen vorwirft. Und nun springen alle nach dem Quatsch, zerreißen sich nach ihm wie im Quatsch-Schlussverkauf. Und immer wieder machen sie etwas daraus, weil sie alle im Bann des neuen 195
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Idioten stehen und selbst neuer Idiot werden wollen und schließlich zum neuen Idioten werden und ihrerseits neue Idioten reproduzieren. Unzählige kleine Trumps bevölkern die Welt. Die Jetztmaschine – Der Kurzschluss des neuen Idioten mit dem Moment der Macht kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es lebe das Man Baby: „Trump is living in the eternal Now“ (Michael Gerson), und dieses ist sowohl auf der Bühne wie auch im Twittermedium am besten aufgehoben. Darin steckt auch eine physiologische Notwendigkeit. Trumps Ghostwriter des Bestsellers Art of the Deal, Tony Schwartz, betonte in Interviews, dass der Milliardärserbe unfähig sei, sich jenseits von zwei Satzlängen zu konzentrieren und ständig seinen nächstbesten Eingebungen folge, die keine Synthesen oder Schlussfolgerungen zuließen. Als Leitmotiv Trumps dient offenbar Karl Lagerfelds Mantra: „Was ich sage, ist nur gültig, wenn ich es gerade sage.“ Und auch das ist jetzt schon nicht mehr gültig. „Es gibt schlicht keinerlei Hinweis, ob er seine Meinung in der nächsten Minute ändern könnte“, tönt es nach Bob Woodward aus Trumps innerstem Zirkel. Dies ist auch Trumps Art, mit seinem Umfeld umzugehen: „Die gleiche Person kann ein guter und ein schlechter Mensch sein. […] Er wechselt alle fünf Minuten [seine Meinung], weil es nur um die Aufmerksamkeitsspanne geht und darum, mit wem er zuletzt gesprochen hat und welches Schlaglicht es in jedem gegebenen Moment auf ihn wirft. Das kann seinen gesamten Ansatz ändern“ (Politico). Das gilt auch für Fälle, in denen Trump eine politische Agenda ankündigt, die er kurz zuvor bei seinem Lieblingssender FoxNews aufgeschnappt hat. Es ist bemerkenswert, wie es die Macher bei Fox & Friends fertig bringen, ihr Ein-Mann-Publikum ebenso subtil zu steuern wie auch bei Laune zu halten, indem sich an den Präsidenten gerichtete Lobhudeleien mit Beiträgen abwechseln, die für die konservativen Stammwähler wichtig sind. Ein Sendebeitrag kann zwar Trumps politischen Ansatz ändern, aber es ist eben nicht alles steuerbar, da der neue Idiot aus dem Vollen schöpft. So kann etwa eine einzige Äußerung Trumps ein mühsam errichtetes Narrativ umstürzen, wenn es denn der Moment erfordert. Nach dem Parkland-Schulmassaker in Florida lud sich Trump Interessenvertreter 196
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ins Weiße Haus und begann zur Überraschung der anwesenden Republikaner, Forderungen zur Waffenkontrolle aufzustellen, die selbst die progressivsten Demokraten nicht in ihren Wahlprogrammen hatten. Er polterte zudem, dass man sich nicht von der Waffenlobby einschüchtern lassen solle. Konservative Politiker und Waffenlobby zeigten sich entsetzt. Es war das erste Mal, dass ihr Kalkül, den Herostraten in Zaum zu halten, nicht aufgegangen war. Schon am nächsten Tag flog also ein Vertreter der NRA ins Weiße Haus, um Trump wieder auf Linie zu bringen. Von dem Vorschlag hat man seither nichts mehr gehört, auch nicht nach späteren Massakern. Prinzipienlos, Prinzipien zerstörend, quer über etablierte Positionen stolpernd und zugleich immer wieder pedantisch auf Prinzipien pochend. Lebender Widerspruch, selbstentlarvende Schwäche, rücksichtlose Ignoranz, kombiniert mit dreister Schamlosigkeit plus bühnenreifer Spontanität und brillianter Improvisationsgabe. Jede Hyperbole wird aufrechterhalten, im selben Atemzug vernichtet und daraufhin mit Verve wiederholt. Wie kaum ein anderer Bühnenpräsident beherrscht Trump die Kunst des Improtheaters: Als er nach dem Debakel seiner Pressekonferenz mit Putin 2018 während einer Kabinettssitzung den US-Geheimdiensten demonstrativ das Vertrauen aussprechen wollte, gingen plötzlich die Lichter aus. Zielsicher schloss Trump: „Das müssen die Geheimdienste gewesen sein“. Die Stimmung im Raum lockerte sich, das Thema war verflogen. Es geht dem neuen Idioten nicht um Floskeln, sondern um die Aufgabe der Objektkontinuität im Jetzt. Synthese ohne Aufhebung – Im Jetzt gibt es keine Synthesen. Das Jetzt ist die Synthese. Während Hillary Clinton im US-Wahlkampf 2016 widerstrebende Bewegungen im Demokraten-Mainstream ideologisch einfangen wollte, machte Trump sich gar nicht erst die Mühe, die Fraktionen unter den Republikanern zu vereinigen, woraus dann Abspaltungen wie die Never-Trumpers entstanden. Trumps Kontrahentin Hillary Clinton gab als Mainstreamdemokratin vor, gesellschaftliche Mauern niederzureißen, und sie versuchte sich an einer absurden Koalition aus Wall Street und Occupy-Wall-Street, aus Blue Chip und Rust Belt, aus identitären und inklusiven Leitformeln im Sinne eines strategischen Ü bertünchens 197
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realer Widersprüche, die sie als inklusive Botschaft kommunizierte. Die Presse nahm Clinton dennoch als die rationalere Kandidatin wahr. Während bei Clinton der ideologische Unterschied bestehen blieb und durch liberale Floskeln kaschiert wurde, war Trump zugleich PRO Wall Street und CONTRA Wall Street, ohne dass sich daraus Sinn oder Synthese ergaben. Er ist ‚marxistischer‘ als Clinton, indem er die realen Unterschiede nicht kaschiert, doch zugleich ‚faschistischer‘, indem er die Unterschiede in seiner Person aufhebt, und ‚bürgerlicher‘, indem er weiterhin der „Logik des Millionärs“ nacheifert, d.h. er will sich wie ein Kleinbürger beim Schlussverkauf durch das Prestige des Amts bereichern. Diese parallelen Welten liegen in Trump als ein einziger Tatbestand vor. Ein ähnlicher monolithischer Parallelismus findet auch unter Trumps Anhängern statt, unter denen sich Antisemiten (Alt-Right) und Philosemiten (konservative Israel-Lobbyisten), Afroamerikaner und Ku Klux Klan, Evangelikale und Rustbelt-Arbeiterklasse, Wall Street Executives und White Nationalists die Hände reichen. Trump agitiert auf Ebene der niedersten Zusammenfügung, um alle Widersprüche sowohl zu verstärken als auch im Zaum zu halten. Bei einem Wahlkampfauftritt in New Hampshire 2019 verkündet er: „Ob ihr mich liebt oder hasst, ihr müsst mich wählen.“ Sobald der politische Gehalt nicht zur Synthese widerstreitender Ansichten führt, kommt die ästhetische oder moralische Intervention, um eine Scheinsynthese herzustellen. Emblematisch drückt sich das in den Worten einer Trump-Anhängerin aus, die Vertreterin der verschwörungstheoretischen QAnon-Bewegung ist. Auf die Bemerkung eines Reporters, dass es für die bizarren Behauptungen der Bewegung keinerlei Belege gebe, antwortete sie: „OK, aber es gibt auch keine Nicht-Belege.“ Monologik – Trumps Parallelismus führt dazu, dass Wähler ‚hinter‘ die Aussage blicken und von Suggestionen des Realen geleitet werden. Daher die glorifizierende Rede von True Speech und Wahrheitserfahrung unter seinen Anhängern, und daher der Nimbus der Unverwundbarkeit nach krassesten Äußerungen, daher der alles verzeihende Führerkult. Daher rührt auch Trumps Popularität im rechtsradikalen 198
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Spektrum und unter Confederate-Nostalgikern, denn Trump sprach aus – als offene Suggestion zwischen den Zeilen –, was andere nicht auszusprechen wagen: „Tell it like it is“, aber nur in der Suggestion und im Dauerwiderspruch, um die binäre Ordnung der Begriffe auszuhebeln. Trumps Rassismus ist so gesehen keineswegs ambivalent, aber er hat dieselbe Flachheit wie sein Verständnis der internationalen Handelsbilanzen. Er attackiert immer wieder prominente ‚Schwarze‘ unter Hinweis auf ihre mentalen Defizite, aber sie haben für ihn dieselbe Dummheit, die eine defizitäre Volkswirtschaft hat, die sich ‚über den Tisch ziehen lässt‘ (man achte auf Trumps daraus abgeleitete Praxis des Händedrucks, bei der er die Gegenseite ruckartig zu sich herzieht, um nicht selbst gezogen zu werden). Trump hat im Grunde nur eine Meinung, die er wie eine rote Kappe über alles stülpt, was ihm nicht passt. Die Handelsbilanz muss seiner Meinung nach positiv sein, unabhängig davon, ob eine Volkswirtschaft auf Konsum (USA) oder Export (Deutschland) ausgerichtet ist oder ob der Dienstleistungssektor einberechnet wird. Als sein Wirtschaftsberater Gary Cohen ihn einmal mit der ökonomischen Realität konfrontiert, äußert Trump, dass er nicht wisse, wie er zu seiner Handelsweisheit gekommen sei, es bleibe dabei. Hedonismus, Markenbewusstsein, Rassismus und Handel bilden die Konstanten im Leben Trumps, aber sie sind ein einziger Sachverhalt. Diese Monologik übersetzt sich auch auf technologische Aspekte der Kommunikation: Wie der ehemalige Eventkoordinator des Weißen Hauses, Josh King, feststellte, vollzog Trump auf der Rednerbühne einen Paradigmenwechsel: Im Gegensatz zu der seit Jahrzehnten üblichen Praxis seiner Vorgänger, die in zwei oder mehr Mikrophone sprachen, benutzt Trump bei Auftritten jeweils nur ein Mikrophon, das er dicht vor den Mund hält. Dadurch wirkt seine Stimme eindringlicher, verzerrter, eindimensionaler als eine Stimme, die von zwei Mikrophonen abgenommen wird. Zwei Mikros verschaffen der Stimme Raum und lassen sie damit zur öffentlichen Stimme werden. Trumps Mono-Stimme hat akustisch gesehen keine Öffentlichkeit, sie ist die Stimme des Einzigen, die alle Nebengeräusche schluckt.
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Alleserfinder – Der neue Idiot widerlegt sich in einem Atemzug, ohne den geringsten Widerspruch zu spüren, behauptet eine Position, ohne eine zu haben, und prahlt mit etwas, wovon er keine Vorstellung hat. Er glaubt, Abläufe zu steuern, auf die er keinen Einfluss hat, spricht von Wahrheit, ohne einen Begriff davon zu haben. Alles, worum es ihm geht, ist, die Unmöglichkeit in Anspruch zu nehmen und sie als Wirklichkeit zu behaupten. Seine Rationalität besteht aus Rationen. Und darin liegt auch seine Epik: Tun um des Tuns Willen, aber nie darüber verzweifeln oder existenzialistisch empfinden. Wir erinnern uns an die Worte von Bayers Idioten klein-a: „|was ich tue, geschieht, aber ich soll es nicht tun. es geschieht.|“ Die traditionelle absurde Tat ist vergeblich, weil sie ihren Sinn aus der Totalität der rationalen Anstrengung gewinnt, die scheitern muss, so wie eben die liberale Hoffnung auf einen humanen Kapitalismus andauernd enttäuscht werden muss, um sich selbst wachzuhalten. Endliche Wesen verenden. Der neue Wille zum Absurden ist hingegen endlos, unmöglich, dadurch auf anderer Ebene ebenso selbstzerstörerisch wie schöpferisch. So war Trump im Erfinden populärer Schmähformeln für seine Opponenten einfallsreich („Little Marco“, „Lying Ted“, „Crooked Hillary“, „Pocahontas“, „Failing New York Times“, „Rocket Man“, „Sleepy Joe“, „Nasty Nancy“, „King Elijah“ usw.). Trumps Überzeugung ist, dass er seine Gegner besiegt, wenn er sie gleich einem Produkt branden kann. Viele seiner Äußerungen wurden instantan zu Online-Memes, was mit der Zeit seinen semiotischen Einflussbereich ausweitete. Seine Tweets erhielten den offiziellen Status der Regierungserklärung, während die traditionelle Form der Presseerklärung abgeschafft wurde. Nur ein Idiot kann das Unmögliche in so kurzer Zeit zum Alltäglichen machen. Dies gilt auch für den politischen Extremismus innerhalb der Trumpwelt. Timothy Snyder zufolge ist Trumps Extremismus dahingehend kreativ, dass er kein Faschist mehr sein müsse, um einer zu sein: „[Trump] begibt sich in eine faschistische Pose, gibt daraufhin allgemeine relativierende Bemerkungen ab und streitet alle Verantwortung für seine Worte und Taten ab. Da totale Verantwortungslosigkeit ein zentraler Bestandteil der faschistischen Tradition ist, wäre es vielleicht am zutreffendsten, Trump als Innovator zu würdigen.“ Es ist bezeichnend, dass vor allem 200
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Künstler ein panoramisches Verständnis des transzendentalen Trump und der damit verbundenen Transgression des ‚Neoliberalismus‘ entwickeln, ohne dabei die Eskapaden des empirischen Trump zu relativieren. So sagt David Lynch in einem Interview mit dem Guardian 2018: „[Trump] könnte als einer der größten Präsidenten in die Geschichte eingehen, weil er alles so durcheinandergewirbelt hat. Niemand ist in der Lage, diesem Kerl auf intelligente Weise zu begegnen.“ Irgendwann werden sich sämtliche Anklageschriften über Trump aufwölben und ihn unter sich begraben. Oder auch nicht. Es geht um den Idiotypus. Und der kennt weder Gefängnisse noch Verhängnisse. Wenn einer hinter Gittern landet, wird eben ein anderer Präsident. Derselbe andere. Absurder König – Der neue Idiot wirft mit Zeichen um sich, er ist ein bewegter Beweger, der in einer Welt voller fließender Objektbezüge schwimmt. Er kennt zwar Kategoriales, endet aber regelmäßig im Selbstwiderspruch. Daher rührt auch der vorgebliche Widerwille gegen „politische Korrektheit“. Die Tyrannei semiotischer Operatoren bestimmt das neue ‚Freidenkertum‘ der Beliebigen: Das Provisorische wird absolut genommen und damit falsche Freiheit behauptet. Semantische Herleitungen sind dem neuen Idioten politisch ebenso korrekt wie suspekt. Er will mit Bestimmtheit etwas, das nicht existiert, das Größte im Kleinsten, das Beharrende im Flüchtigen, die Kultur in der Globalisierung, die Globalisierung in der Kultur. Er hat ein Geheimnis, das keinen Inhalt hat („Verschwörung“), ist von etwas überzeugt, an das er nicht glaubt („Wahrheit“), strebt nach etwas, ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben („Nation“). Volk sein, Präsident werden, das Abendland beschützen, Drogendealer töten, Grenzen schließen, das Internet abschalten, die Wahrheit sagen: Es herrscht die glühende Vorstellungswelt eines Pubertären, der sich seinen ersten Bordellbesuch imaginiert. Diese Denk- und Verhaltensmuster mögen sich in kleinen und großen Anführern wiederfinden, sie kulminieren aber am Zungenschlag der künstlerischen Moderne. Alfred Jarry hat mit seinem Fettwanst Père Ubu den Prototypen dieses modernen Möchtegern-Menschen geschaffen: eine Figur, die das Entitlement zur höchsten Kunstform erhoben hat. Wie Papa Trump will 201
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auch Papa Ubu anfangs nicht König werden, andere drängen ihn dazu. Aber die anderen: das ist auch er. Als er wider Erwarten König wird, hat er schon immer gewusst, dass er es werden wollte. Er weiß aber nicht, was König-Sein ist und ob überhaupt etwas ist. Ubu geht es um Selbstbereicherung und das Ausleben seines Idiotypus, aber dahinter steht kein Ziel. Er wird gestoßen, und das will er dann, oder er stößt etwas weg, und es kommt zurück, und das will er dann nicht. Als Fassungsloser hangelt er sich zu neuen Mächten und Maximen. Als Azephaler be-hauptet er sich dort, wo andere des Königs Neue Kleider sehen. Sobald geringster Widerstand auftaucht, bricht das imaginäre Oberhaupt in sich zusammen. Ubu verkriecht sich weinend im Bunker oder unterm Tisch, oder er schimpft: „Schoiße!“ Ein Wutbürger als König. Wie der zeitgenössische Kritiker Catulle Mendes zur Uraufführung Père Ubus am 9. Dezember 1896 im Pariser Théâtre de l’Œuvre schrieb: „Trotz der idiotischen Handlung und der mittelmäßigen Struktur ist ein neuer Typus entstanden, der einer außergewöhnlichen und grausamen Kindheitsphantasie entstammt. Vater Ubu ist unter uns. […] Sie werden ihn nicht mehr los, er wird Sie verfolgen, und Sie werden ihm von nun an immer wieder begegnen. Er wird eine populäre Legende niederer Instinkte werden…“.
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INEFFEKTE – ZUR DIALEKTIK DER INKOMPETENZ
„Give me ten men like Clouseau and I could destroy the entire world.“ Commissioner Dreyfus, A Shot in the Dark (1965)
Grundlos – Ortega y Gasset erkannte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Grundverfassung des neuen Idioten: Zum ersten Mal erscheine in Europa ein Menschentypus, schreibt der Autor des Aufstands der Massen, „der darauf verzichtet, Gründe anzugeben und recht zu haben, der sich schlechtweg entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen. Das ist neu: das Recht darauf, nicht Recht zu haben, Grundlosigkeit als Grund.“ Diese neue, ‚ubueske‘ Verfassung, in deren planetarischer Echokammer inzwischen Myriaden von Online-Kommentaren widerhallen, äußert sich nach Ortega y Gasset in einem inkompetenten Anspruch auf Kompetenz: „Der durchschnittliche Mensch entdeckt ‚Gedanken‘ in sich, aber er kann nicht denken. Er ahnt nicht einmal, wie scharf und rein die Luft ist, in der Gedanken leben. Er will ‚meinen‘, aber er will die Bedingungen und Voraussetzungen alles Meinens nicht anerkennen.“ Lange vor dem Einsetzen des postmodernen Unbehagens beschreibt Ortega y Gasset den neuen Idioten aus der Perspektive eines bürgerlichen Anarcho-Aristokraten, übersieht aber, dass auch die Inkompetenz eine Fortschritts geschichte hat. Er übersieht, dass sich dem Durchschnittsidioten von Anfang an der überdurchschnittliche hinzugesellt, der heutzutage etwa als „Intellektuellen-Idiot“ (Taleb) fröhliche Urständ feiert. Er übersieht, dass die abstrakten Prozesse des Kapitals die Grundlosigkeit des absurden Königs wie des absurden Bürgers bestimmen. Die damit einhergehende hegemoniale Entdifferenzierung sorgt für Ineffekte, die Situationen den Grund unter dem Boden wegziehen und dadurch gegebenenfalls 203
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neuen Grund freilegen. Hier zeigt sich eine Dialektik der Inkompetenz: Wenn, wie Commissioner Dreyfus im obigen Zitat andeutet, zehn Unfähige in der Lage wären, die gesamte Welt zu zerstören, dann kann man sie schwerlich als unfähig bezeichnen. „Es gibt keine größere Autorität als die Ignoranz“, sagt Orson Welles einmal, als er gefragt wurde, wie er es als 23-Jähriger geschafft habe, Citizen Kane zu drehen. Der Ineffekt lässt sich auch gut am Fall des Hochstaplers Uri Geller illustrieren. So führte erst Gellers Unfähigkeit, seine ‚übersinnlichen‘ F ähigkeiten im Fernsehen unter kontrollierten Bedingungen vorzuführen, zum Geller-Hype der 1970er Jahre. Die Zuschauer sahen nämlich sein Scheitern als Beweis dafür, dass er kein Illusionist, sondern ein ‚wirklicher Übersinnlicher‘ war – denn, so die Glaubenslogik, bei professionellen Zauberern klappt ein Trick immer, während authentische Übersinnliche auch Fehler machen, sie sind sozusagen ‚natürliche‘ Übernatürliche. Der Ineffekt besteht darin, dass sich eine Inkompetenz als Kompetenz reproduziert – ob gewollt oder ungewollt, ist nicht immer vorherzusehen. Das gilt auch für die gewollt-ungewollte Aktion der 83-jährigen Witwe Cecilia Giménez aus dem spanischen Borja, die 2012 ein Jesusfresko zum Äffchenbild verunstaltete. Die Tat machte die Rentnerin zur Mediensensation und Kulturheldin: Die Region erlebte aufgrund des Touristenandrangs einen wirtschaftlichen Aufschwung. Weinhändler buhlen um Bildrechte, um ihre Flaschen mit Cecilias Jesus-Affen zieren zu können. Der 25. August, der Tag der Kirchensabotage, ist zum lokalen Feiertag geworden. Cecilia kommt in einem spanischen Krimi vor, und sie ist Schirmherrin eines Amateur-Kunstpreises, der die gelungenste Darstellung des Ecce Homo prämiert. In den USA ist eine komische Oper in Vorbereitung, die davon handelt, wie eine Frau ein Fresko ruiniert und dabei eine Stadt rettet. Und so weiter. Cecilias Bildverschandelung ist nun mehr wert als das Originalfresko, weshalb ihr Werk inzwischen hinter einer Glaswand geschützt wird – nicht auszudenken, wenn die Verschandelung verschandelt würde. Auch wenn diese Fälle der performativen Inkompetenz unterschiedliche Charaktere und Motivationen zeigen, verweisen sie auf den gemeinsamen Grund. Geller war so gesehen ein ‚aufrichtiger‘ Betrüger, denn wie die spanische Rentnerin sah er seinen Ruf aufgrund 204
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des öffentlichen Versagens als ruiniert an. Der Ineffekt kündet aber nicht nur von massenenmedialer Hysterie, Sensationssehnsucht und dem Meme-Panoptikon, sondern auch von der Tatsache, dass Inkompetenz ein politisch-ökonomischer Faktor ist, dass Grundlosigkeit eine produktive Kraft ist, deren Konsequenzen nicht immer eindeutig auszumachen sind. Um es in einen ökonomischen Alltagsfall zu übersetzen: Eine Mitarbeiterin eines großen deutschen Autoherstellers ist z.B. dafür bekannt, bei Unternehmenspräsentationen regelmäßig zu versagen. Sie ist so inkompetent, dass die Zuhörer froh sind, wenn die Präsentation vorbei ist. Auch hier kehrt sich die operationale Unfähigkeit ins Gegenteil: Die Mitarbeiter nehmen die Performance wie einen sonntäglichen Gottesdienst wahr, auf den niemand Lust hat, der aber im Namen einer unternehmerischen ‚Transzendenz‘ stattfinden muss. Warum? Weil ein Gegenteil gespürt werden muss. Deshalb verbleibt die Mitarbeiterin seit Jahren auf ihrem Posten. Sie hat die Rolle inne, die Jaroslav Hašek im Braven Soldaten Schwejk dem „ehrenwerten Idioten“ zuwies. Gerade aufgrund seiner offensichtlichen Unfähigkeit setzt sich der ehrenwerte Idiot in der offiziellen Hierarchie durch, nicht nur, weil er „ungemein einflußreiche Leute hinter sich“ weiß, sondern weil er völlig unbefangen ist und die Unbefangenheit zum Ausweis einer bestimmten Fähigkeit wird. Ähnlich schafft die obige Mitarbeiterin eine neue Bewertungsinstanz, die negative Psychodynamiken des Unternehmen umlenkt – der Negativwerbung vergleichbar, die Kunden bindet. Man kann die versammelten Inkompetenzen in der Wirtschaft oder in der Politik auch als Enzyme verstehen, die die Kompetenzen der anderen zum Tanzen bringen. Denn manche dieser operationalen Idioten sind derart unfähig, dass sie die Effizienz der anderen steigern. Entließe man in einer perfekten Welt alle Inkompetenten und besetzte sie mit Kompetenten, liefe ja nicht alles wie geschmiert. Denn die Kompetenten würden inkompetent, weil sie sich nicht mehr an den Inkompetenten rieben – eiserner bürokratischer Grundsatz der Idiotie zweiter Ordnung. Es muss also neben all den niederen Gründen, warum absolut unfähige Leute an Posten kommen (qua Familie, Beziehung, Intrige, Trickserei, Anbiederung), auch höhere, „ehrenwerte“ Gründe geben, warum sie dort verbleiben. Ein besonders 205
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ehrenwertes Beispiel gab kürzlich der stellvertretende Leiter des japanischen Cybersicherheit. Der Minister erklärte in einer Parlamentssitzung, keinen Computer zu besitzen, und auf die Frage, ob in japanischen Nukleareinrichtungen USB-Festplatten benutzt würden, musste er zugeben, mit dem Konzept „USB“ nicht vertraut zu sein. Das führte zur öffentlichen Häme, aber ein Kommentator erklärte, dass der Cyber-Minister wohl das beste Beispiel für Sicherheitsschutz böte: Wo nichts sei, könne auch nichts gestohlen werden. Unterkompetenz & Freakfaktor – Es ist die leere Geste, die Selbst-Sabotage und prinzipielle Unvorhersehbarkeit, durch welche der neue Idiot eine außerordentliche Position im sozialen Setting einnimmt. Er macht sich durch seinen Freakstatus unangreifbar, wird Hofnarr und König, Hochstapler und Talent, Profi und Amateur in einem. Die Lehre aus obigen Possen besteht einerseits darin, nicht bloß inkompetent, sondern genügend unterkompetent zu sein, um eine Überqualifizierung zu vermeiden, und andererseits besteht sie darin, zu spüren, welches Wissen man weglassen muss, um sich als kompetent und nicht als ‚gelehrt‘ zu profilieren. Dass derlei Abwägungen auch längst die Hebel der Ökonomie in Bewegung setzen, lässt sich an den zahlreichen Off-Beat-Publikationen zur Unternehmensoptimierung ablesen. Ein typisches Beispiel ist Think Like a Freak (2014) der „rogue economists“ Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner, die mit ihrem Bestseller Freakonomics bekannt geworden sind. Die Autoren verstehen unter Freaks strategisch unterkompetente Akteure, die konventionelles Wissen herausfordern und dadurch unternehmerische Performanz ermöglichen. Entrepreneur-Idioten als Role Models – „Freaks like to have fun“, heißt es hier. Die Autoren listen eine Reihe von Beispielen auf, die das Unkonventionelle mit dem Vergnügen und das Unnütze mit dem Nützlichen verknüpfen. Das klappt nicht immer: Ein Beispiel bezieht sich etwa auf die Tatsache, dass US-Amerikaner ihr Geld lieber bei Lotterien einsetzen anstatt zu sparen oder es für gemeinnützige Zwecke auszugeben. Also gründeten die Autoren die Plattform Spin for Good, die es Kunden ermöglicht, Gewinne aus Glücksspielen zu Benefiz-Zwecken einzusetzen. Sie erspielen sich also auf der 206
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Onlineplattform ihre Spende. Was die Autoren hier veranstalten, sind aber keine Freakonomics, sondern ist traditionelle Selbstvermarktung mit Mitteln des Rational-Choice-Verfahrens: Nicht einfach verausgaben, wie es etwa ein bataillescher Akteur täte, sondern maßvoll agieren. Die Autoren widerlegen im nächsten Satz also ihre eigene Prämisse, wenn sie zugeben, dass ihr Angebot „nicht ganz so viel Spaß macht“ wie das Geld für sich zu behalten, dass es aber so vernünftiger sei, als das Investierte in den Schlünden von Social-Media-Giganten verschwinden zu sehen. Kurzum: Ein Freak kann ein gewinnbringender ökonomischer Stimulus sein, aber er erschöpft sich gerade nicht im Ungewöhnlichen der rational choice. Vielmehr geht es ihm um die frenetische Ratio der irrational choice. Denn wenn man ein Regelwerk zur Überwindung von Konventionen bereitstellt, die einem einen Wettbewerbsvorteil beschaffen sollen, schafft man neue Konventionen, die man dann entweder umgeht oder befolgt, aber dann ist der Freak kein Freak mehr, sondern tut, was jeder andere ‚Freak‘ auch tut. Die disruptive Energie kommt nur von einem Freak ohne Anführungszeichen, aber dann sind die Kriterien von Erfolg und Misserfolg ebenso unscharf wie die Performanz, die zu ökonomischen Konsequenzen führt. Es kann so gesehen keine Ratgeber, sondern allenfalls nur Ratnehmer über Freaks geben. Stümperland – Der Ineffekt gilt für alle Arten der globalen Leadership inklusive ‚Führer-Freaks‘. Die Willfährigkeit des neuen Idiotentums prägt inzwischen internationale Zwischenfälle, wie etwa die Ermordung des saudischen Dissidenten Jamal Kashoggi im Herbst 2018 zeigte. Saudi-Arabien stritt zunächst ab, dass Kashoggi in der Botschaft in Istanbul ermordet worden war. Als sich Beweise häuften, lancierten staatliche Vertreter zunächst die Version eines schiefgelaufenen Verhörs, dann die Version der „rogue operators“. Später tauchten Überwachungsbilder eines Doppelgängers Kashoggis auf, mit dem die Täter versucht hatten, die türkischen Ermittler hinters Licht zu führen. Diese Aktion war aber so fadenscheinig (der Doppelgänger trug zwar Kashoggis Anzug, aber die falschen Schuhe), dass die Saudis den Plan aufgaben. Den Ineffekt macht nicht nur die „seltsam naive, arrogante und stümperhafte Aktion“ 207
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(CNN) der saudischen Offiziellen aus, sondern bezieht sich auch auf die Offensichtlichkeit der Aktion. Hierzu zählt das diplomatische Gerangel, das folgte – von den Treueschwüren der US-Regierung gegenüber dem saudischen Partner bis zur Tatsache, dass sich der türkische Präsident als Verteidiger der freien Presse stilisieren konnte, während Dutzende von Journalisten noch in seinen Gefängnissen einsaßen. Da der Thronfolger bin Salman inoffiziell als Auftraggeber der Ermordung feststand, blieb man im Modus der unmöglichen offiziellen Erklärung, im Limbo öffentlicher Vernunft. Die Ermordung von Dissidenten hat Geschichte. Es sind klandestine Operationen, deren Aufklärung viele Jahre beansprucht. Die kaum zu verschleiernde Ermordung eines Dissidenten in der eigenen Botschaft gehört aber nicht in diese alte, sondern in eine neue, absurde Ära des Staatsterrors. Ein Öl-Prinz möchte einen Kritiker irgendwie loswerden, und dieses ‚irgendwie‘ wird zur Staatsräson, als ob staatliches Handeln im Vakuum stattfände. Und es findet ja auch so statt: Zygmunt Bauman zufolge erleben wir eine „Scheidung von Staat und Politik“, in der sich Handlungskompetenzen gegenseitig sabotieren. Macht und Machtvakuum werden in der Idiokratie deckungsgleich. Schamlos – Ähnliches gilt für den Mordversuch am ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal im englischen Salisbury 2018. Man denke an das bizarre Fernsehinterview mit den zwei russischen Tatverdächtigen, die später in westlichen Medien als mutmaßliche Geheimdienstoffiziere entlarvt wurden. Die beiden trugen auswendig gelernte Wikipedia-Einträge über Salisbury vor, um sich als arglose Touristen zu geben. Für einen zweitägigen Aufenthalt flogen sie aus Russland in die englische Provinz, um sich angeblich die Kathedrale anzusehen, dabei ‚zufällig‘ zwei Mal am Haus des Anschlagsopfers vorbeigehend, das in entgegengesetzter Richtung liegt. Es mag sich bei Geheimdienstinszenierungen um ‚4D-Schach‘ handeln, strategische Winkelzüge, die das öffentliche Narrativ beeinflussen und Zweifel wecken sollen: Waren diese beiden die dumpfen Naivlinge, als die sie auftraten, oder waren sie Agenten, die ihre Rollen spielten, um das heimische Publikum zu überzeugen? Vielleicht gibt es hier kein Entweder-Oder. Es mag ein groteskes Zeug208
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nis eines Staatsapparates sein, dass er sich nicht einmal mehr Mühe bei der Verschleierung seiner Aktivitäten gibt. Der Staat handelt ‚rein‘, d.h. so, als ob es nirgendwo auf der Welt Konsequenzen gäbe, als ob die Tat in ihrem Vollzug alles um sich herum verschlingt und sich keiner Realität beugen muss. Zur politischen Choreographie passt hierbei, dass einer der beiden mutmaßlichen Täter ausgerechnet den Klarnamen Mischkin trug. Der Staat schickt Idioten, weil der Staat Idiot ist. Diese Episode fügt sich ins allgemeine Profi-Stümper-Schema behördlicher Vorgänge. Gemäß einer Studie der Rand Corporation beugen sich neue Formen staatlicher Propaganda dem Absurden. Das Modell russischer Psyops, das man aber inzwischen auf den gesamten internationalen Manipulationsbetrieb öffentlicher Meinung anwenden kann, benennt die Studie eine „Firehose of Falsehoods“ („Feuersäule der Lügen“). Neben klassischen Markern der Propaganda – hohes Volumen und breite Streuung von Botschaften, schnelle, kontinuierliche und wiederholte Bespielung der Medienkanäle – fallen zwei neuere Vorgehensweisen auf, die man auf den ersten Blick gar nicht als Vorgehensweisen interpretieren würde: – Aufgabe des Realitätsbezugs – Aufgabe der Objektkonsistenz So kann es heute als Strategie durchgehen, ein Narrativ zu konstruieren, das niemand glauben kann, das dann aber gerade deswegen wirksam ist. Die neue Propaganda besteht darin, traditionelle Verfahren der Beeinflussung mit absurden Verfahren zu verknüpfen, die den traditionellen Verfahren entgegenstehen. Es geht hier um das Gegenteil des modernistischen Propagandamodells à la Bernays oder Goebbels, welches das Unmerkliche gegen das Überdeutliche und das Heitere gegen das Martialische ausspielt – auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges produzierten beispielsweise Deutschland und England eine Rekordzahl an Unterhaltungsfilmen. Die neue idiokratische Propaganda funktioniert dagegen diesseits des Absurden. Sie ist das Pendant der neuen Spionagemethode der Angewandten Idiotie („Applied Idiotics“) in T homas Pynchons Roman Gegen den Tag (2008). Ihr geht es nicht nur um die „schamlose Bereitschaft, Teilwahrheiten oder vollkommene Fiktionen zu verbreiten“ (Paul & Matthews), sondern darum, das Absurde so zu ü berheben, dass 209
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Politik erst durch ihre andauernde Unmöglichkeit überzeugt. Zugleich ist aber schon das Vorhandensein dieser ‚Strategie‘ ein Beleg dafür, dass sie auch die Konstitution des Kontrollapparates selbst umfasst. Dass Hillary Clinton gemäß online verbreiteten Verschwörungsnarrativen einen Pädophilenring von einer Washingtoner Pizzeria aus betrieb, mochte auch den schärfsten Kritikern Clintons unwahrscheinlich anmuten, aber je absurder es klang, desto wahrer musste es sein. O nline-Trolls und P syops-Agenten reichen sich quer über dem Erdball die Hände. Es realisiert sich, was Thomas Bernhard in den Ereignissen formuliert: „Und selbst wenn es Lüge wäre, es ist wahr“. Elitenmaschinen – Die Absurdität der Macht fällt auf sich selbst zurück und lässt die Herrschenden zu nützlichen Idioten ihrer Verhältnisse werden. Denn der Innenraum der Idiokratie kennt keine Spiegel. Was die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff als „Instrumentarismus“, d.h. als gegenwärtige Ausprägung des Überwachungskapitalismus bezeichnet, hängt dem Reflexionsparadigma an: Die Myriaden an Daten, die wie Rutenbündel zur einen Quelle der Verbrauchersteuerung führen, werden von rationalen Akteuren mit Hilfe rationaler Systeme gesteuert, geleitet von Strategien, die optimalen Profit sicherstellen. Die Gesamtrationalität des Apparates steht nicht in Frage, vielleicht auch weil sie mit der Rationalität der Wissenseliten getaktet ist. Die internationale Leadership rekrutiert sich aus deren universitären Eliteschmieden. Mein Punkt ist, dass der Instrumentarismus ebenfalls dem Ineffekt unterliegt, der dem Strategem seines Wirkungsanspruchs entspringt. Denn was Ernst Mach vom Weltall sagt, lässt sich aufs Kapital übertragen: Es ist in seiner Einseitigkeit das, was es ist, pure Immanenz. Es gibt keine Reflexion darüber, was jenseits davon liegt. Der Kapitalismus erscheint deswegen so unüberwindbar, weil der eine Lebenssinn des Alls auch dem einen Sinn der Werterzeugung entspricht. Der neue Idiot ist die Begriffsfigur dieser Einwertigkeit. Diese weitet sich global aus, nimmt unterschiedlichste Formen an und tritt wohl am prominentesten in Form des „Tribalismus“ auf, der das Kapital-Eine zum National-Einen übersetzt. Das ist es, was Donald Trump in den USA, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, S ilvio 210
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Berlusconi/Matteo Salvini in Italien, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Viktor Orbán in Ungarn, Jair Bolsonaro in Brasilien oder Narendra Modi in Indien in ihrem Nation-First-Prinzip eint. Ihre Demagogie orientiert sich nicht zufällig am Absurden, weil das Absurde die Denkund Wahrnehmungsform der Einwert-Politik ist. Wie sie sich wo äußert, ist akzidentell: Die indische Version des Great-Again etwa brachte groteske Narrative hervor, wie z.B. dass das alte Indien über Internetzugang verfügte, bevor es Elektrizität gab, oder dass die Erfindung des Fernsehens auf eine traditionelle Yogapraxis zurückgehe. Aber dieser politische Surrealismus, so originell er daherkommen mag, erinnert längst an den ideologischen Kitsch des postjugoslawischen Konfliktes, in Serbien etwa mit der Propaganda des „himmlischen Volkes“. Es sind nur verschiedene Melodien auf derselben Klaviatur des Absurden. Stets spielt sich darin die Dialektik der Inkompetenz auf: Je absurder der Herrschaftsdiskurs, desto wahrer die Botschaft. Man könnte einwerfen, dass der innere Widerspruch die herkömmliche Eigenschaft jeder Ideologie sei, doch diese Diagnose hat sich dahingehend radikalisiert, dass mit zunehmender Komplexität der Welt die chaosmotische Energie in alle Richtungen strömt, die Ideologen selbst umfasst und die Ideologie zur Idiologie werden lässt: Macht als Primärform der Selbst-Sabotage – Zuboff selbst bezeichnet diese Art der Ideologie als „radikale Indifferenz“. Diese Tendenz hat schon Adorno früh erkannt und als Kulturkritik formuliert: „Heute, da das Bewußtsein der Herrschenden mit der Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzufallen beginnt, zergeht die Spannung von Kultur und Kitsch. Kultur schleift nicht länger ohnmächtig ihren verachteten Widersacher hinter sich her, sondern nimmt ihn in Regie. […] Nichts bezeichnet den zugleich integralen und antagonistischen Zustand genauer als solcher Einbau der Barbarei.“ In dieser Hinsicht sind, auf die ökonomische Gegenwart übertragen, auch die globalen Administratoren der „Blödmaschinen“ (Metz & Seeßlen) inzwischen nicht mehr in der Lage, ihre eigenen Machtalgorithmen zu beherrschen, weil sie an der Segmentierung der Wissenssysteme beteiligt sind und genau dem Teufel unterliegen, der in jenem Detail steckt, das sie einmal ins Kleingedruckte geschrieben haben. Es ist der apokalyptische Punkt, an dem jedem das .
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Kleingedruckte des anderen widerfährt. So lautet etwa das Resümee eines Regulierungsbeamten zur Finanzkrise 2008: „Die wirkliche Gefahr besteht nicht darin, dass uns ein Bankenmanagement Dinge verheimlicht, sondern dass es selbst nicht weiß, wo die Risiken liegen.“ Was die Behavioral Economics in den letzten Jahrzehnten zutage gefördert hat, gilt für Kunde und König gleichermaßen: „Die Leute neigen dazu, zu selbstsicher zu sein; sie zeigen einen unrealistischen Optimismus; sie gehen oft schlecht mit Risiken um; sie vernachlässigen langfristige Entwicklungen“ (Cass R. Sunstein). Viele der Selbstverkennungen lassen sich unter Illusory superiority oder Superiority bias einordnen: Menschen überschätzen sich, weil sie ihre eigenen Grundlagen verkennen. Sie überschätzen die Kontrolle, die sie über ihr Leben zu haben glauben. Sie überschätzen die Zeit, die ihnen bleibt. Sie überschätzen ihre Urteilskraft. Sie überschätzen ihre soziale Intelligenz. Sie überschätzen ihre Attraktivität. Sie überschätzen ihre Kreditfähigkeit. Sie überschätzen ihre Kompetenz. Sie überschätzen, wie lange sie arbeiten. Sie überschätzen ihr politisches Engagement. Sie überschätzen ihre Fähigkeit, andere zu kontrollieren. Und das gilt für die Rolle, die sie in einer Gesellschaft einnehmen. Entrepreneure werden sich daher gerne den Anstrich von Altruisten oder Aktivisten verpassen, siehe z.B. Kunstsponsoring von Banken, Umweltsponsoring von Mineralölunternehmen, Philanthropie von Milliardären. Ein reicher Mäzen wird betonen, dass durch seinen Einsatz der Menschheit geholfen werde, die Möglichkeit ausblendend, dass sein Reichtum auf Kosten der Menschheit erwirtschaftet wurde. Diese Ausblendungen und Verblendungen sind relevant. Wenn wir uns Nassim Talebs Metapher vom Black Swan vor Augen führen, der für das Eintreten eines extrem unwahrscheinlichen Ereignisses steht, gibt es hier allen Grund zur Sorge, da bis zum heutigen Tag keine Mechanismen der „Antifragilität“ (Taleb), d.h. der Resistenz gegen die eigenen Selbstverkennungen und Unzulänglichkeiten geschaffen wurden, die mit einer zukünftigen Herausforderung fertigwerden könnten. Das liegt nach Taleb vor allem am Unverständnis vergangener Abläufe und die damit zusammenhängende Ignoranz des eigenen Unvermögens (Dunning-Kruger-Effekt), die wiederum zum Entitlementverhalten führt: Man glaubt, es stehe einem 212
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mehr zu, als einem zusteht, und man leiste mehr, als man leiste usw. So handelt man dann auch. „Es ist nicht nur so, dass einzelne Individuen als korrupt oder egoistisch entlarvt werden (derlei ist so alt wie die Politik selbst), sondern dass das Establishment selbst beginnt, betrügerisch und fragwürdig zu erscheinen“ (William Davies). Daraus folgt, wie Zygmunt Bauman meint, „der Verfall des Vertrauens, der Glaube, dass unsere Führungskräfte nicht nur korrupt und dämlich, sondern auch unfähig sind“. Paradoxerweise geht aber gerade der Aufstieg der inkompetenten Hasardeure dieser Welt mit der Tatsache einher, dass das Vertrauen in Führungskräfte unter Angestellten gestiegen ist (Edelman Trust Barometer 2019) und dass gerade von Firmenchefs mehr politisches Handeln gefragt wird – der Abstieg des Politikers als Role Model geht mit dem Aufstieg des CEO zum Social Justice Warrior einher. Kurzschlüsse – Das Zeitalter des Idioten wird begleitet vom Age of Scam, unterfüttert vom „Zeitalter der Entropie“ (Streeck), dem digitalen Zeitalter, dem „nihilistischen Zeitalter“ (Rancière), dem Zeitalter der Monopole, dem Medienzeitalter oder dem „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ (Zuboff). Es ist ein Zeitalter, in dem man sich vor Zeitaltern kaum retten kann – im Sinne von Paul Valérys tot capita tot tempora. Vergleichbar der Ideologiekritik der 1960er Jahre oder zur Postmoderne-Debatten der 1980er Jahre mit ihrem Fokus auf die libidinösen Strukturen des Kapitals und seiner Wunschmaschinen, drehen sich heute Diagnosen um die Dysfunktion politischer Institutionen in der „Post-Demokratie“ (Rancière) oder „Post-Politik“ (Mouffe & Žižek). Zugrunde liegen hier die Nivellierungen des Widerspruchs von Arbeit und Kapital, postideologische All-in-One-Parteien, apolitische Konsensrituale, eine Demokratie ohne Demos sowie das Verwischen des Expertenwesens mit dem Dilettantentum (Blogger vs. Journalisten, Privatiers vs. Berufspolitiker), einhergehend mit neuen „radikalen Technologien“ (Adam Greenfield), die unseren Alltag zunehmend kolonisieren – von Smartphones, Blockchain, Augmented-Reality-Interfaces und der Verbreitung selbststeuernder adaptiver AI (Drohnen, selbstfahrende Autos, Home Assistants). Emanzipative Aspekte dieser Entwicklung durchdringen 213
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sich mit regressiven: Es ist ebenso von Vorteil, dass ‚jeder Trottel‘ Regierungschef werden kann, wie es von Nachteil ist, dass dann tatsächlich ‚ein Trottel‘ Regierungschef wird. Es ist ebenso von Vorteil, dass ‚jeder Bürger‘ ungefiltert etwas veröffentlichen kann, wie es von Nachteil ist, dass dann tatsächlich ‚jeder Bürger‘ ungefiltert etwas veröffentlicht. Es ist ebenso von Vorteil, dass man es im Berufsleben mit ‚Individualisten‘ zu tun hat, wie es von Nachteil ist, dass man man es im Berufsleben mit ‚Individualisten‘ zu tun hat. Es ist ebenso von Vorteil, dass Außenseiter ‚frischen Wind‘ in die Disziplinen bringen, wie es von Nachteil ist, dass Außenseiter ‚frischen Wind‘ in die Disziplinen bringen. Es ist von Vorteil, wenn alles Private politisch werden kann, wie es von Nachteil ist, dass dann alles Private politisch wird. Es lohnt hier, etwas auszuholen und auf das Widerspiel von Herrschaft und Wissen zurückzukommen, das dieser doppelbödigen Tendenz zugrunde liegt. Die Eliten der Moderne haben ihre Autorität damit gerechtfertigt, dass sie sich in die Tugenden der Aufklärung und des Wissens gehüllt haben. Zugleich haben sie aber auch jenes Chaos zu verantworten, das sie mit dem Hinweis auf die Unwägbarkeiten der Straße („Populismus“) zu bekämpfen vorgegeben hatten. Denn ihr Status und ihre Lösungen sind Teil des Problems: „Eliten zeigen ihrer Herde gegenüber väterliche Fürsorge und schützen sie vor ihren eigenen rebellischen Geistern […]. Aber die Frage, wer diese Pastoren erziehen soll und durch welche Zeichen wir ihre Weisheit erkennen können, bleibt ziemlich unklar“ (Rancière). Die moderne Masse erscheint den Eliten von Grund auf irrational, unwissend, erratisch, formbar. Sie ist nach Edmund Burke ein revolutionärer „Sauhaufen“ (Swinish Multitude), im Laufe des 19. Jahrhunderts wird sie gar zum psychopathologischen Tatbestand: Die Vorläufer von Gustave Le Bons Massenpsychologie im Umfeld der positivistischen Kriminalistik um Cesare Lombroso etablieren die moderne Masse am Fin de Siècle als psychologischen Korpus, der mehr als die Summe seiner Teile ist und aufgrund seiner Gewaltbereitschaft und Unvorhersehbarkeit die Grundzüge eines manisch-depressiven Kriminellen hat. Die Haltung ist: „Bei Menschenmassen ist alles möglich“ (Laurent de Sutter). Aber wie auch bei Delinquenten gibt es bei der „straffälligen Masse“ (so ein zeitgenös214
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sischer Buchtitel um die Jahrhundertwende) eine Therapie. Hier kommt die wissenschaftliche Vernunft ins Spiel, die psychologische und pharmakologische Erkenntnisse in Beherrschungsmechanismen übersetzen, um die Masse vor sich selbst zu schützen, sich dabei aber zugleich vor Erhebungen der Masse schützend. Die Masse wurde zum therapierbaren Körper, dem sich die manisch-depressive Psychose als Diagnose und z.B. Chloralhydrat als Beruhigungsmittel massenhaft hinzugesellten. Zivilisatorischer Fortschritt ist nicht zufällig das, was Flauberts „Idiotie der Masse“ am besten in Zaum zu halten versteht. Diese Tendenz setzt sich im digitalen Zeitalter der Online-Giganten fort: „Sie sitzen auf dem Gipfel der Wissensteilung und haben durch ihre Aneignung unseres Verhaltens einen ebenso beispiellosen wie exklusiven Hort von Reichtum, Informationen und Fachwissen angehäuft“ (Zuboff). Zugleich produziert dieser Fortschritt und Reichtum andauernd den Regress, der ihm als Schmiermittel dient. Denn ein epochaler Ineffekt liegt den in allen Algorithmen implizierten Beruhigungspraktiken zugrunde, die sich gegen die Unruhe der Massen wenden, ihr phantasmatisches Konstrukt der Massenunruhe aber erst dadurch realisieren. Diese Entwicklung fasst Laurent de Sutter unter „Narkokapitalismus“ zusammen, also die aus wissenschaftlichen Disziplinen und Disziplinierungen geborene Anästhesierung der Massen, etwa durch die Verbreitung von Medikamenten als Therapierung der massenhaften „Erregung“. Diese Anästhesie lässt sich auf die digitale Disziplinierung übertragen: Jedes Sicherheitsupdate schafft eine Beruhigung. Aber die vorherige Beunruhigung beruht ebenfalls auf einem Algorithmus. Die unzähligen Sicherheits-, Überwachungs- und Kontrollmechanismen sind nur ein Ausdruck eines Chaos-Kreislaufs, der inzwischen auch politische Konsequenzen hat: Man denke an die virale Verbreitung von Polit-Bots und die Schwierigkeiten der Social-Media-Giganten, mit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung umzugehen, entweder aus Ignoranz oder aus Spekulation über ihre Marktführerschaft. Die in Abhängigkeit von digitalen und pharmakologischen Stimulanzien befindliche, aber den Stimulanzien immer wieder entzogene Masse agiert mit der Zeit wie ein Drogenabhängiger, der sich täglich Stoff besorgen muss. Insofern überrascht das Resultat 215
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einer kürzlichen medizinischen Studie nicht, die herausfand, dass „chronischer Missbrauch von verschreibungspflichtigen Opiatpräparaten mit der Stimmvergabe zugunsten des republikanischen Kandidaten bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 korrelierte“ (J.S. Goodwin). Der narkotische Mechanismus fungiert als chaosmotischer Aktivator, der Profit und Befriedigung ermöglicht, die zu Ineffekten führen, die Profit und Befriedigung unmöglich machen, was wiederum den chaosmotischen Aktivator stimuliert, der Profit und Befriedigung ermöglicht, die zu Ineffekten führen, die Profit und Befriedigung unmöglich machen, was wiederum den chaosmotischen Aktivator stimuliert… und so weiter. Naomi Klein nennt das Kurzschließen von Chaos und Ordnung Disaster Capitalism, aber man könnte es einfach Kapitalismus nennen – oder in spätmoderner Ausführung Kommunismus des Kapitals. Kommunismus des Kapitals – Das Chaos erscheint dort als ‚Methode‘, wo sich der Kapitalismus mit seinem ‚imaginären‘ Gegenteil rückkoppelt – imaginär deshalb, weil der Kapitalismus kein Gegenteil hat, sondern selbst das Gegenteil ist. Paolo Virno hat in diesem Zusammenhang auf eine Reihe von Ineffekten der postfordistischen Entwicklungsstufe des Kapitalismus hingewiesen. Während der Fordismus einst als „Sozialismus des Kapitals“ bezeichnet wurde (Zentralisierung verstaatlichter Industrie, Projektieren des Konjunkturzyklus, Organisation des Wohlfahrtsstaates, Ziel der Vollbeschäftigung usw.), schlägt Virno vor, den Postfordismus als „Kommunismus des Kapitals“ zu bezeichnen: „Während sich der Fordismus einige Aspekte des Sozialismus einverleibt und diese auf seine Weise umgeformt hat, hat der Postfordismus sowohl den Keynesianismus als auch den Sozialismus ihrer Grundlagen beraubt. Der Postfordismus eignet sich auf seine Weise typische Positionen des Kommunismus an (Abschaffung der Arbeit, Auflösung des Staates usw.).“ Der Kommunismus des Kapitals hat nun aber zwei Trajektorien, eine reaktionäre und eine emanzipative: (1) Das kommunistische Absterben des Staates wird heute zum buchstäblichen Programm eines Steve Bannon, wenn er die „deconstruction of the administrative state“ einfordert, um Mittelstand und Arbeiterschaft vom Joch der Regulierung zu lösen. 216
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Die meisten ökonomischen Nationalisten der letzten Jahrzehnte spielen mit der einen oder anderen Variante der „antibürokratischen Revolution“ (Miloševićs einstiger Wahlkampfslogan), die nicht zum Kommunismus, sondern zum ‚Rechtspopulismus‘ führt, samt der damit einhergehenden Liberalisierung und Privatisierung des Machtapparates (von Privatisierung des Militärs bis zur Akkumulation der Medienmacht). Diese Entwicklung ist getrieben von einem „fetischartigen Kult der Differenzen“ (Virno), der sich bis zum bewaffneten Konflikt entfalten kann. (2) Dieser Kult steht aber paradoxerweise zugleich für eine emanzipatorische Version des Kommunismus des Kapitals, die etwa der Zukunftsvisionär Ray Kurzweil vertritt: Kurzweil geht davon aus, dass keine politische, sondern eine technologische Revolution des 21. Jahrhunderts zur kommunistischen Gesellschaft im Endzeitkapitalismus führen wird. Es ist das Gegenteil der filmischen Zivilisationswüste in Idiocracy: Die Ziele des Kommunismus würden durch fortschrittliche technologische Entwicklungen im 21. Jahrhundert verwirklicht, herbeigeführt durch niedrige Herstellungskosten, Überfluss an Produktionsmitteln, freiem Unternehmertum und Open-Source-Praktiken. Roboter sind die Kommunisten der Zukunft. Die Dynamik der Informationstechnologie ist hierbei ein wichtiger Antrieb der ‚antibürokratischen Revolution‘, denn die Entwicklung beschleunigt sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts exponentiell, sie wurde nicht einmal durch die zwei Weltkriege beeinträchtigt, wie Kurzweil betont, und sie hat bereits jetzt Auswirkungen auf die soziale Organisation: „Heute beruhen kollektive Entscheidungsfindungen nie auf Zwängen, sondern sie sind spontan. Menschen kommen zusammen, um Ideen auszutauschen und darauf aufzubauen“. Neue Kollektive sieht auch Google-Pionier Larry Page aufkommen, weshalb für sein Unternehmen gelte: „Das gesellschaftliche Ziel ist unser primäres Ziel.“ Und: „Wir brauchen einen revolutionären Umschwung“, der von neuen Technologien angetrieben wird – „Wandel hat die Eigenschaft, revolutionär und nicht evolutionär zu sein“. Wie ein Kommunist erster Stunde propagiert Page die Abschaffung der Lohnarbeit, die in naher Zukunft von Robotern und AI ersetzt werde. Mit der Überwindung von Arbeit und Staat und der daraus folgenden Realisierung des marxisti217
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schen Admin-Paradieses ist er unter Tech-Giganten nicht alleine. Wenn man die Vokabel „revolution“ und einen IT-Namen in die Suchmaschine eingibt, kommt in der Regel etwas Sinnvolles heraus. Der Kommunismus des Kapitals hat zwei vollkommen unterschiedliche Zukunftstrajektorien – den Kult des irrationalen Fleisches und den Kult der rationalen Maschine –, die insofern ‚ineffektiv‘ sind, als sie sich zeitgleich ereignen. Wirklichkeitsesoterik – Ein Dauerwiderspruch seit dem Ende des Kalten Krieges trägt eine Signatur des Ineffektes: Einerseits hat die Geschichte 1989 gemäß Fukuyama ihre Erfüllung in der liberalen Demokratie gefunden und ist ‚beendet‘, andererseits gibt es eine andauernde, ahistorische Fortschrittsgeschichte, wie man nicht nur der Zivilisierungsrhetorik der EU, sondern auch akademischen Optimisten wie Steven Pinker (Enlightenment Now) oder Hans Rosling (Factualness) entnehmen kann. Diese verweisen auf zivilisatorischen Fortschritt: auf den weltweiten Rückgang der Gewalt, auf Bildungserfolge in Entwicklungsländern, auf den weltweiten Rückgang der Kindersterblichkeit, auf den wirtschaftlichen Aufstieg der Schwellenländer, auf die dortige Ausbildung einer starken Mittelschicht, auf die zu erwartende Stabilisierung des Bevölkerungswachstums, auf die Chancen der Vollbeschäftigung, auf die positiven Effekte der Rationalisierung der Arbeit usw. Der Geschichtsprozess hat sich im Liberalismus erfüllt und ist zum Halten gekommen, schreitet aber ständig voran. Die permanente Revolution Trotzkis übersetzt sich liberaldemokratisch zur „Reformagenda“, d.h. zur Perfektionierung des Kapitalismus in der ‚besten aller möglichen Welten‘, wie schon der Karikaturphilosoph Pangloss in Voltaires Candide propagiert. Für die chinesische ZK-Nomenklatura ist die Vervollkommunung des Sozialismus im Kapitalismus kein Widerspruch, sondern ein aus LED-Lichtern zusammengesetztes Epitaph der Revolution. Die perfektionierte Welt wird trotzdem immer besser, so wie die neueste Handygeneration die bereits bestehende Beste als neue Beste überflügelt. Derlei Wirklichkeitsesoterik speist auch die Transitionsideologien Osteuropas, deren demokratische Geschäftsmodelle auf immer höheren Erwartungen beruhen und zugleich die Enttäuschung eingepreist haben, die jeweils besser als die 218
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alte Enttäuschung ist: Man lief den westlichen 1980er Jahren hinterher, um etwas später festzustellen, dass die ‚besten Jahre‘ nicht mehr wiederkehren würden, dass man sich also weiterhin in der defizitären besten Gegenwart befand, die einfach nicht verschwinden und der ‚besten Zukunft‘ Platz machen wollte. Also dichtet man sich seither immer wieder die bessere Welt zur besten. Dunkle Metapher – Die logische Konsequenz des modernen Panglossismus und seiner Domestizierungen der Massen ist die irrationale Unruhe der Massen und überall aus dem Boden sprießende reaktionäre Bewegungen, die sich mit der Irrationalität der Eliten kurzschließen. Gerade in diesem klassenübergreifenden ‚Populismus‘ können sich dann die Milliardäre dieser Welt als authentische Volkstribune verkaufen, weil ihnen eben kein Schafott mehr droht, weil man gar nicht wüsste, wo man es hinstellen würde, wer es bedienen würde und warum. Denn wir leben bereits in einem sich ständig verbessernden Optimum. Mit anderen Worten: Der regressive, dem Kapitalismus dienende Antikapitalismus ist keine barbarische Antithese zum liberalen Mainstream, er speist sich aus deren ureigenster Dynamik, ist ihre dunkelst realisierte Metapher. Das „Volk“ der heutigen Rechten ist nicht von dieser Welt – jedes Volk ist ein „himmlisches Volk“ –, es wird aber in realen Körpern als indifferente Wut projiziert. Es lebt im Magen-Darm-Trakt von Massons azephalem Monster. Daher ist gerade bei den ‚politisch Inkorrekten‘ die Empörungsschwelle noch niedriger als bei liberalen „Snowflakes“, und für ihre Xenophobie benötigen erstere nur die eigenen Körpersäfte und keine Festkörper des Feindes. In migrationsfreien Regionen gehen Menschen für kulturelle Reinhaltung auf die Straßen. Selbsternannte ‚wehrhafte Demokraten‘ stilisieren sich hier gerne als Gegner dieser regressiven, „antidemokratischen“ Bewegungen, diese sind aber zuletzt auch nur die nützlichen Idioten des Wertgesetzes, die das politisch Korrekte eben ‚inkorrekt‘ zum Ausdruck bringen. Auch sie sind „Marionetten an Strippen, die das Wertgesetz zieht“ (Pohrt). In analoger Weise können besorgte liberale deutsche Eltern durch Tricksereien bei der Adressangabe ihre Kleinen von einer mehrheitlich von „Arabern und Türken“ 219
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besuchten Grundschule abziehen und zugleich auf Pro-Immigrationsdemos gehen oder sich zum moralischen Ausgleich in Flüchtlingsfragen engagieren, so wie man den Nazi-Opa dadurch aufzuheben glaubt, dass man sich für Israel oder jüdische Kultur engagiert. Zwar gilt (erneut): „Jede Ideologie muss widersprüchlich sein, um Wirkung zu erzielen“ (Žižek), aber manchmal ist die Wirkung widersprüchlich, die Ideologie nicht. Man will ein abstraktes Europa, abstrakte Liberalität, und deshalb kriegt man konkrete Rechtsextreme, die es aber nicht in derselben Reinheit gibt, in der eine Kita nur hellhäutige Kinder beherbergt. Es herrscht ein Proxy-Krieg gegen das eigene „Unbehagen in der Kultur“. Wie Nancy Fraser schreibt, war es „gerade die Hegemonie des progressiven Neoliberalismus, die den Aufstieg Trumps ermöglichte“. Und Wolfgang Pohrt erinnert an eine alte dialektische Einsicht, wenn er behauptet: „Jeder Widerstand wird erzeugt von den Triebkräften der gleichen Gesellschaft, gegen die er sich richtet“. Als ob ein ‚stolzer Europäer‘ kein Euro-Nationalist wäre, als ob ein ‚grüner Unternehmer‘ kein Kapitalist wäre. Die „postnationale Konstellation“ (Habermas) wird in diesem Zusammenhang sowohl zur Schreckensvision als auch zur Zweckillusion des Nationalen. Die Bourgeoisie bestellt nicht nur ihre eigenen Totengräber und zeigt sich über ihre „antidemokratischen Kräfte“ oder „Nationalismus“ schockiert, sie sieht auch an anderer Stelle genüsslich bei ihrer Destruktion zu. Im hintersten Verlies der Geschichte werden Faschismus und Liberalismus dann in der Idiokratie deckungsgleich. Absurdität & Faschismus – Während sich der alte Faschismus vollständig der Frivolität ergab, ergibt sich der neue Faschismus vollständig dem Absurden. Der neue Faschismus ist daher am besten als Ineffekt zu lesen, d.h. als Phänomen weltweiter rekursiver Inkompetenz. Schon für George Orwell hatte der Faschismusbegriff „keine Bedeutung, es sei denn, er bedeutet ‚etwas nicht Wünschenswertes‘“. Vielleicht stellt aber gerade diese Vagheit des Begriffes seine Stärke dar, denn sie gilt schon für den alten Faschismus: So konnte beispielsweise ausgerechnet der Kleinbürger Hitler einst gegen die „Kleinstaaterei“ poltern, so konnte er die klassenübergreifende Rasse inthronisieren und zugleich das 220
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rbeiter-Deutschtum aufleben lassen, so konnte er den Material geworA denen Staat fetischisieren und zugleich ein esoterisch-luftiges „tausendjähriges Reich“ heraufbeschwören, so konnte er Revolutionsarchitektur für Repräsentationsbauten entwerfen lassen und zugleich Bauhausprinzipien bei Zweckbauten einsetzen, so konnte er die Germanisierung der Kultur propagieren, aber die Germanisierung der Sprache ablehnen, so konnte er für die Nationalökonomie rauben und zugleich eine transnationale europäische Nachkriegswirtschaftsordnung – gewissermaßen nach ‚EU-Vorbild‘ – avisieren. Die ersten italienischen Faschisten im Umfeld von Giovanni Papini nannten sich anfangs, auf William James Bezug nehmend, „Pragmatisten“, und Mussolini war ebenfalls ein Verehrer des amerikanischen Philosophen. Die Entgrenzung des Faschismusbegriffs ist heute fortgeschritten, weil der Begriff viele Phänomene nicht mehr fasst oder im Themenvokabular des Mainstreams aufgegangen ist. Es wäre zwar theoretisch sinnvoll, aber dennoch praktisch falsch, den Begriff ganz aufzugeben. Wer sich Wahlplakate der NPD aus den 1980er Jahren ansieht, findet heute vergleichbare Trigger, nur wird die Verwandtschaft heute mit dem Populismusbegriff relativiert und demokratisch legitimiert. Also kommt heute in der Forschung die Notwendigkeit auf, von Neo- oder Postfaschismus zu sprechen. Dass es eindeutig erkennbare Nazis und Faschisten gibt, bedeutet nicht, dass es ihre nicht feststellbaren Varianten nicht gibt. Die nichtfeststellbare, absurde Variante, welche die Kompassnadel wild rotieren lässt, ist meines Erachtens aber die Gefährlichere. Wer den Begriff beibehalten möchte, muss den neuen Faschismus in seiner Absurdität denken. Das faschistisch Absurde strukturiert sich dreifaltig als: (1) „palingenetischer Ultranationalismus“: im Sinne Roger Griffins als traditioneller Kurzschluss von Geburts- und Todeskult, Zeitmacht und Territorium, d.h. die Vorstellung, dass einem das Land ‚gehört‘ oder dass man es sich quasi in einem Akt nationaler Wiedererweckung aneignet, auch wenn man sonst kein Eigentum hat. Das erklärt auch die Frenetik, mit der sich Tribalisten heute auf alles Migrantische stürzen, noch bevor die Realität der Frage der „Sozialsysteme“ überhaupt aufkommt. 221
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(2) Zugleich strukturiert sich das faschistisch Absurde als (klein-) bürgerliche Demokratie: im Sinne Adornos als Konsequenz einer permanent aufgeschobenen Revolution. Adorno erachtet in einer Rundfunkrede 1959 „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“, d.h. das Aufgehen des Faschismus in demokratischen Institutionen – heute etwa im Zusammenhang von NSU-Komplex und Bundesverfassungsschutz – ist tiefgreifender als der äußerliche „Angriff auf unsere Demokratie“ durch den ‚rechten Mob‘. (3) Zugleich strukturiert sich das faschistisch Absurde als semiotisches Weltintegral: im Sinne Guattaris als „neuer Typ von Faschismus im planetarischen Maßstab“, der Markt und Psyche kurzschaltet, bis alle Individuen ein und dasselbe Glück empfinden. Sie sind dann wie die beiden enthirnten schwarzen Hausangestellten in Jordan Peeles Horrordrama Get Out vom selben leeren liberalen weißen Lächeln beseelt. Achille Mbembe schreibt in ähnlichem Zusammenhang von der Triade „DingMensch, Maschinen-Mensch, Code-Mensch“ und skizziert damit eine auf diesem weißen Lächeln basierte „Schwarzwerdung der Welt“, d.h. die allgemeine Versklavung der Menschheit (conditio nigra). Die Rechten, die heute in Deutschland als „Widerstand“ durch die Straßen ziehen, haben auf perverse Weise recht: Sie demonstrieren gegen eine „gleichgeschaltete“ Mehrheit, deren unbewusster Teil sie selbst sind. Das Siegeslächeln des internationalen Jet-Sets, die multikulturelle Behaglichkeit und das Gröhlen der Wutbürger zeigen eine unheimliche Verwandtschaft, die dem Hamsterrad des Spätkapitalismus entspringt und auf Ebene der niedersten Zusammenfügung interagiert. Die These vom faschistisch Absurden führt zu einer Art Zweck-Paranoia, die auch faschismusferne Akteure einbezieht und unter Generalverdacht stellt. Diese ‚Faschismuskeule‘ ist aber analytisch notwendig. Ist es denn nicht schon ein Anzeichen der unheiligen Dreifaltigkeit, wenn das Gedenken an den Holocaust bei einer Zeremonie der britischen National Union of Students mit der Begründung abgelehnt wird, es handele sich dabei um eine imperialistische Geste? Ist es nicht schon ein Anzeichen, wenn auf der Konferenz der Democratic Socialists of America 2019 Vorträge durch 222
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langwierige Aushandlungen des Privilegienstatus sabotiert werden, wenn nicht mehr applaudiert werden darf, um keine „Trigger“ auszulösen, oder wenn die traditionell linke Klassenthematisierung durch die bürgerliche Idiosynkrasie einer weißen Mittelschicht-Befindlichkeit im Namen von Minderheiten ausgehebelt wird, wenn also die Thematisierung der critical whiteness unter den Bedingungen einer uncritical whiteness stattfindet? Hier irgendwo, im Gewimmel des planetarisch Absurden, muss man die Petrischale des neuen Faschismus suchen. Wie sagt es Félix G uattari: „Die neue totalitäre Ordnung […] wird überall und nirgends sein.“ Totale Bedeutung – Die Idiokratie, in der sich die universelle Vernunft aus freien Stücken aushebelt, geht über die Kompetenzen der Einzelnen und ihrer Gruppen hinaus. Denn es ist inzwischen gar nicht so einfach, ohne Widersprüche zu formulieren, wofür man steht und was man überhaupt will, weil sich die Gegenstände des Meinens und Wollens mit den Begriffen verwischen, die im öffentlichen Gebrauch zirkulieren. „Liberal“ kann z.B. als Schimpfwort gebraucht oder als Wert empfunden werden – und zwar von ein und derselben Person, wenn man es z.B. einmal ökonomisch und ein andermal ethisch meint, oder wenn man es einmal politisch oder ein ander Mal programmatisch im Sinne der „Freiheit des Andersdenkenden“ meint. Und nun kann man sich ein Streitgespräch vorstellen, in dem die Indifferenz des Begriffes durchgehalten wird und das entstehende Denkfragment totalen Bedeutungsanspruch bekommt. Man streitet in der Idiokratie nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Auch diese Tendenz hat Orwell erkannt: „Die Wörter Demokratie, Sozialismus, Freiheit, patriotisch, realistisch, Gerechtigkeit haben jeweils verschiedene Bedeutungen, die nicht miteinander in Einklang gebracht werden können. […] Wörter dieser Art werden oft bewusst unehrlich verwendet. Das heißt, die Person, die sie verwendet, hat seine eigene private Definition, lässt aber seinen Hörer glauben, dass er etwas ganz anderes meint.“ Der Unterschied zu heute liegt darin, dass die Worte nicht immer bewusst unehrlich verwandt werden. Das Ideal des sokratischen Gesprächs sich gegenseitig erbauender Individuen ist am zweiten Horizont des Idioten verschwunden und hinter den Rand der Erdscheibe in 223
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den Abgrund gestürzt. Falls die Erde eine Kugel sein sollte, werden wir es wohl wiedersehen. Wenn nicht, dann ist die Erde wohl doch eine Scheibe. Nothing on this page is real – „Wir leben in einer Idiokratie“, behauptet Christopher Blair aus Maine. Der selbsternannte Online-Troll ist ein Idioten-Generator. Der US-Liberale ist berüchtigt dafür, während des US-Wahlkampfs 2016 auf seinem Blog die skurrilsten rechten Verschwörungstheorien erfunden und verbreitet zu haben. Sein wichtigster Motivator für die Alt-Right-Persiflage America’s Last Line of Defense war das Geld. Mit Leuten, die glauben, dass illegale Migranten die Gesichter auf Mount Rushmore abgehackt haben, dass Bill Clinton ein Serienmörder ist oder dass in Kalifornien die Scharia herrscht, ließ sich gut Geld verdienen. Werbeeinnahmen bescherten Blair bis zu 15.000 Dollar monatlich und Millionen von Anhängern – dafür nahm Blair sogar Trumps Wahlsieg in Kauf. Seine News wurden von russischen und mazedonischen Bloggern aufgenommen und verbreiteten sich in Wahlbeeinflussungskampagnen auf Social-Media-Plattformen. Manche dieser Kampagnen hatten skurrile Konsequenzen: So organisierten russische Hacker einer Trollfarm in St. Petersburg am 21. Mai 2016 eine Anti-Islam-Demo vor dem Da'wah Center in Houston, um die „Islamisierung von Texas“ zu stoppen. Dieselben Hacker organisierten gleichzeitig auch die Gegen-Demo, der ebenfalls Tausende US-Amerikaner folgten. Dieser absurde Proxy-Krieg kostete Russland etwa 200 Dollar, wie der Vorsitzende des Senate Intelligence Committee, Richard Burr, verlautbarte. Angesichts derartiger Entwicklungen wurde für PolitTrolls wie Blair die politische Aufklärung zum Imperativ. Er platzierte zu jedem seiner Verschwörungsnarrative einen Disclaimer, der auf den Satirecharakter seiner Seite hinwies. Nachdem sich aber die Inhalte in rechten Kreisen weiterhin als politische Narrative etablierten, versuchten Blair und Kollegen in den entsprechenden Foren eine Informationskampagne zu starten, um die Desinformationskampagne zu kontern. Aber es war zu spät: „Es kommt zu einem Punkt, an dem ich die absolute Absurdität der von mir geposteten Dinge nicht mehr kontrollieren kann. Egal wie lächerlich, wie offensichtlich falsch etwas ist, oder wie 224
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oft Sie es denselben Nutzern sagen, […] sie werden dennoch auf ‚Like‘ klicken und auf ‚Share‘ drücken.“ Denialism – Der neue Idiot zweifelt nicht, er leugnet. Er will keinen Seinsgrund freilegen, sondern die Grundlosigkeit zum Paradigma des Denkens erheben. Diese Grundlosigkeit nennt er „Wahrheit“. Die willkommene Demokratisierung des Außenseitertums geht einher mit der internationalen Sabotage des Wissens, die in verschwörungstheoretischen Zusammenhängen inzwischen eine industrielle Spannweite hat. Genozidleugner etwa traten in den letzten Dekaden stets als klandestine Gruppen auf oder waren Staatsräson, wie z.B. im Iran im Bezug zum Holocaust oder in der Türkei in Bezug zum Genozid an Armeniern. Es gibt auch kein jährliches zeremonielles Gedenken in den USA zu Ehren der indigenen Bevölkerung. Neu ist, dass durch die Online-Verbreitung politischer Imaginarien Leugner-Netzwerke entstehen und ein ganzer Leugner-Mainstream klandestinen Gruppen die nötige ideologische Absicherung bietet. Man sieht das z.B. an der Alt-Right-Bewegung, die ihren Antisemitismus jüngst über den islamophoben Umweg artikulierte und so unter Trump mainstreamtauglich wurde. Die Grundidee aller dieser rechten Bewegungen ist, dass das ‚jüdische‘ Finanzkapital, repräsentiert durch ‚Globalisten‘, dafür sorgt, dass muslimischen und/ oder dunkelhäutigen Flüchtlingen Tür und Tor geöffnet und der weiße Westen damit unterwandert würde. Das Ideologem der „Islamisierung“ meint also in Wirklichkeit eine Proxy-Unterwanderung durch Juden. Zudem wird Juden ein vom ‚Holocaust-Opfermythos‘ profitierender, dämonischer Einfluss in der Welt zugesprochen, und zugleich wird gerade dieser Holocaust geleugnet. Die Leugnungsdynamik gilt auch für die heutigen ‚Klimaleugner‘, die wohl aus Trotz nicht auf die Idee kommen, dass selbst das unwahrscheinlichste Eintreten des Klimakollapses ihnen selbst schaden würde. Das idiokratische Lebensmotto lautet: lieber falsch liegen und sterben, als richtig liegen und leben. Der in verschiedenen Formationen wiederkehrende Denialism hat in der Tat nicht nur logische, sondern auch fatale Konsequenzen. Man muss nur in die jüngste Geschichte blicken: So führte etwa die Einflussnahme von 225
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HIV-Leugnern wie Peter Duesberg auf Südafrikas ehemaligen Präsidenten Thabo Mbeki und die dadurch unterlassenen Hilfsprogramme zu Hunderttausenden von Toten. „Der Denialismus bietet eine dystopische Vision einer unbewohnten Welt, in der nichts selbstverständlich ist und niemandem vertraut werden kann. Wenn Sie glauben, ständig belogen zu werden, besteht die Gefahr, dass Sie die Unwahrheiten anderer akzeptieren“ (Keith Kahn-Harris). Jahrzehnte vor der Internetdämmerung erkannte Adorno in diesen Anpassungsdynamiken eine epidemische Gefahr: „[D]ie abgründige Einsamkeit des Wahns hat eine Tendenz zur Kollektivierung, die das Wahnbild ins Leben zitiert. Dieser pathische Mechanismus harmoniert mit dem heute bestimmenden sozialen, daß die zur verzweifelten Isolierung Vergesellschafteten nach Miteinandersein hungern und zu kalten Haufen sich zusammenrotten. So wird Narrheit epidemisch: die irren Sekten wachsen nach dem gleichen Rhythmus wie die großen Organisationen.“ Es geht beim Denialism nicht um Dummheit, Psychose oder Propaganda. Vielmehr offenbart sich in ihm ein postaufklärerischer Zustand, in dem der Mensch die Grundfesten menschlicher Erkenntnis zertrümmert. „Etwas abzustreiten bedeutet, auf einer bestimmten Ebene zu wissen. Ein Denialist zu sein bedeutet, nie wissen zu müssen“ (Kahn-Harris). Falsch & authentisch – Hier ist der Fall der von Alex Jones gegründeten US-Verschwörungsplattform Infowars und der damit verbundenen Rechtsstreitigkeiten exemplarisch. Jones propagiert seit Jahren, dass es eine globale Verschwörung gegen das weiße, rurale Streben nach Unabhängigkeit gebe, wofür das 2nd Amendment, d.h. die Privatbewaffnung der Bürger im Mittelpunkt stehe. Deshalb lanciert er Verschwörungstheorien, welche die Opfer von Massenerschießungen in den USA diskreditieren. Amokläufe seien nach Jones’ Auffassung von der Bundesregierung gesteuerte Maßnahmen, um die Amerikaner gegen die Waffenlobby aufzubringen. Jones' Aktionen hatten Folgen: Eltern von beim Sandy-Hook-Massaker getöteten Kindern erhielten Morddrohungen, weil Jones behauptet hatte, dass sie bei der Inszenierung des Massakers mitgespielt hätten. Jones wurde deswegen angeklagt. Die 226
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Beweisrhetorik seiner Verschwörungstheorien übertrug sich nun interessanterweise auf die Beweisführung seiner Anwälte vor Gericht. Sie behaupteten nämlich, Jones beabsichtigte in seinen Sendungen gar nicht faktisch zu sprechen („the statements are mere opinions‚ masquerading as a fact“). Da Jones kein Literat ist, versuchten die Anwälte seinen Behauptungen eine sowohl ‚irre‘ als auch kreative Aura zu verpassen, ohne ihnen aber die politische Relevanz zu nehmen. Die Anwälte betonten, dass Jones zwar ‚herumspinne‘ und seinen Charakter spiele, insistierten aber zugleich darauf, dass er authentisch sei. Ähnliche Verteidigerreflexe zeigten Trumps Anwälte, die sich wiederholt auf Trumps ‚Idiotenstatus‘ („Trump being Trump“) beriefen, argumentierend, „dass seine Worte und Taten unerklärlich und willkürlich sind, anstatt Belege für einen kriminelle Absicht zu sein“ (R. Mariotti). Die Grundaussage des Mueller-Reports war ja ebenfalls, dass Trump und sein innerer Kreis im Grunde zu inkompetent waren, um eine Straftat zu begehen. Narrenfreiheit ist gleich Konsequenzfreiheit. Wie es einmal ein verzweifelter Journalist twitterte: „Also: der Präsident drohte heute Morgen mit einem bewaffneten Konflikt mit unserem südlichen Nachbarn, und das bekommt keine Aufmerksamkeit, da jeder weiß, dass der Präsident verrückt ist und sowieso niemand seinen Befehlen folgt.“ Konfusionismus – Wie Chesney & Citron in Deep Fakes: A Looming Challenge for Privacy, Democracy, and National Security (2018) zeigen, ist inzwischen eine Branche für medialen Konfusionismus-Diffusionismus entstanden, die es möglich macht, Echtzeitmanipulationen von politisch relevanten Videos durchzuführen, „die eine schnelle und weitreichende Verbreitung ermöglichen und damit sowohl kompetenten als auch inkompetenten Akteuren in die Hände fallen“. Die Autoren studieren u.a. die Folgen der medialen Sabotage im Zusammenhang mit der Verzerrung des demokratischen Diskurses, mit Wahlmanipulationen, mit dem schwindenden Vertrauen in Institutionen, mit der dadurch verstärkten sozialen Dissonanz, der Unterwanderung öffentlicher Sicherheit, internationaler Diplomatie oder journalistischer Standards und der damit einhergehenden Fake-News-Debatte. Zum Deep-Fake-Komplex zählen 227
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auch Microtargetingtechnologien (durch Bots, Werbung, Influencerkampagnen) und Language-Modelling-Systeme wie etwa AI-basierte „Fake-Text-Generatoren“, die inzwischen sinnvolle, zusammenhängende Artikel verfassen können, ohne dass an der Kommunikation beteiligte Menschen merken, dass es sich um einen Algorithmus handelt (z.B. GPT-2 von Open AI). Jede Manipulationstechnologie hat indes den Vorteil, dass sie auch die Technologie ihrer Entlarvung ermöglicht – es handelt sich also um Fortschritt, getrieben vom Interesse an Manipulation, die wiederum das Interesse an der Manipulation der Manipulation weckt. Am unüberschaubaren Ende dieses Prozesses treibt der Informationskollaps jegliche Kommunikationsverschwörer auch gegen ihre Verschwörung an. Tatsachenläuten – Was uns Ineffekte und der Denialism lehren, ist nicht, dass die Lüge Konjunktur hat, sondern dass die Zugänge zu Kompetenz und Inkompetenz, Wahrheit und Lüge blockiert werden und dass die Fähigkeit, zugleich kompetent und inkompetent, falsch und authentisch zu sein, politische Konsequenzen hat. Am Ende jeder Sinnblockade gilt: Wer sie zuerst durchbricht, hat recht. Trump erklärte, dass die Stimme auf der berüchtigten „Pussygrabber“-Tonaufnahme nicht die seine sei, nachdem er sich für seine Aussagen auf der Aufnahme entschuldigt hatte. Diese Reihenfolge scheint in einer Idiokratie relevant. Dass das Idiotenthema immer wieder in der Presse als kultureller oder politischer Tatbestand auftaucht, verdeutlicht, dass der Informationsstod der Gesellschaft als Endperspektive inzwischen ebenso abbildbar wie der Kältetod des Universums ist. Ein gesellschaftlicher Endzustand, in dem absolut nichts mehr Sinn macht, in dem das Absurde das Wirkliche und das Wirkliche das Absurde ist. Es wäre irreführend, das als generellen Wahnsinn zu bezeichnen, weil es keine Außenposition gibt, die diesen Wahnsinn feststellen könnte. Der Informationstod beschreibt vielmehr einen immanenten, ‚rationalen‘ Zustand, in dem eine Botschaft aus einer Ecke des Einzigenbewusstseins in die andere Ecke geschoben wird, ohne dass es einen Grund, eine Erklärung oder ein Verständnis dafür gäbe. Man verschiebt Bedeutungsklötze, ohne eine Ahnung vom Sprachspiel zu haben. 228
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Oder man schafft neue Regeln des Sprachspiels. Mehr noch scheint analog zur Kälteidiotie der Wille zum Absurden alle anzutreiben, damit der Informationstod umso schneller eintrete, je mitteilungsbedürftiger man ist. Die Frage nach der Idiokratie spürt so immer wieder der apokalyptischen Grundlosigkeit nach, dem Null-Ausdruck von Kommunikation und Gesellschaft. Diese Grundlosigkeit, so meine These, ist auch der eigentliche Gehalt der heutigen Rede von der postfaktischen Gesellschaft oder der post-truth-Politik. Mich interessiert, welche Funktion die neue Rede über das Danach der Tatsachen hat, denn offensichtlich nehmen es auch die Künste mit Fakten nicht so genau, und nationale, religiöse oder kulturelle Erzählungen hangeln sich seit jeher bequem an den Tatsachen vorbei. Wo liegen die Unterscheidungen? Woher stammt die Dringlichkeit der neuen Begriffe?
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DIE DENKPOLITIK DES IDIOTEN
In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen. Guy Debord
Poesie & Bullshit – Wenn Franz Kafka im Prozess schreibt, dass das richtige „Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache“ einander nicht vollständig ausschlössen, dann sabotiert der heutige Online-Troll den jeglichem Quatsch zugrundeliegenden Widerspruch. Er sorgt für Konfusion, wo im Grunde keine möglich ist, und sein einziger Nutzen ist die Zerstörung des Diskurses und die Erschaffung von Pseudo-Diskursen, Pseudo-Politiken, Pseudo-Staaten und Pseudo- Geschichte. Diese Politik schließt z.B. real existierende Akteure wie Nigel Farage ein, der nach dem Brexit-Votum damit prahlte, dass im Zuge des Referendums kein einziger Schuss gefallen sei. Allein, die Labour-Abgeordnete Jo Cox war eine Woche zuvor von einem rechtsradikalen Brexit-Befürworter erschossen worden. Von diesem Beispiel rührt der Begriff der post-truth politics. Der Polit-Narr ersetzt eine unangenehme Tatsache einfach durch eine angenehme und fährt mit seiner Begründung fort. Ist seine These nicht richtig, muss halt die Antithese herhalten. Der neue Idiot übernimmt die Geste des flusserschen Taschenspielers (aka Künstlers), schafft aber keine Klarheit oder Schönheit, sondern verklärt die Sachlage, schafft Hässlichkeit à la Farage und schlechten Kitsch à la Trump. Es ist nicht alles Fantasie, was hinten herauskommt. Diese unverdaute Sinnverwertung zeichnet nach Harry G. Frankfurt Bullshit-Akteure aus. Diese sind gerade keine luftigen Freigeister und freien Quatschmacher, sondern irgendwo zwischen Neurotiker, Jongleur und Hochstapler einzuordnen. Sie erzeugen durch gezielte 231
Idiokratie
Willkür immer wieder neue Formen der Grundlosigkeit. In seinem Aufsatz On Bullshit (2005) führt Frankfurt seine zentrale Unterscheidung aus: Während der Lügner einen Wahrheitswert akzeptiert, um von ihm in seiner Lüge ablenken zu können, kennt der Bullshit-Akteur keinerlei Wahrheitswert. Fakten und Fantasien liegen wie im Regal vor ihm, und er greift in beliebiger Reihenfolge darauf zu, je nachdem, was er zur Formulierung seiner Ansprüche benötigt. Frankfurt schreibt deshalb, dass Bullshit gefährlicher für die Wahrheit als die Lüge sei, „denn das Wesen des Bullshits ist nicht, dass er falsch, sondern dass er fadenscheinig ist“. Es ist daher passend, wenn in den letzten Jahren die Rede vom „Bullshit-Job Boom“ (Nathan Heller) aufkommt. Mit „Bullshit-Jobs“ sind nach David Graeber unproduktive Arbeitsplätze gemeint, die als Folge der Jahrzehnte langen Rationalisierung den Markt bevölkern. Wenn zunächst eine Maschine den Arbeiter zum Überwacher der Maschine macht und als nächster Schritt ein AI-gestütztes System auch diese Überwachungsfunktion ersetzt, bleibt am Ende des Prozesses nur die Repräsentation des Produktionsprozesses als Form der Arbeit, d.h. Pseudo-Arbeit übrig. Am Ende der ausdruckslosen Bewegung eines Fertigungsroboters bleibt wieder das leere Lächeln der Angestellten, die so tun, als ob sie diesen Prozess steuerten. Sie werden sich in ihren schicken Büros in der Hierarchie weiter oben ansiedeln als diejenigen Arbeiter, die noch am Fließband stehen, obwohl die augenscheinliche Verflachung der Hierarchie eine Zweckillusion des Ordnungssystems ist. Neben der Schicht der produktiven Arbeitskräfte und unproduktiven Arbeitslosen gibt es also nach Graeber eine große Schicht unproduktiver Arbeitskräfte, „die im Grunde bezahlt [werden], um nichts zu tun […], und zugleich ein schwelendes Ressentiment gegen jeden fördern, dessen Arbeit einen klaren und unbestreitbaren sozialen Wert hat“. Kurzum: Analog zum Bullshitdiskurs lässt der Bullshit-Arbeitsmarkt die Unterscheidung von Produktivität und Unproduktivität verschwimmen. So zu tun, als ob man arbeitete, wird äquivalent zum Arbeiten. Poser dominieren den Berufsalltag, jeder macht auf ‚busy‘ und hat keine Zeit für den Plausch, weil er/sie angeblich arbeiten muss, während manche Arbeitswoche in ihrem produktiven Kern wohl an einem Nachmittag abgeleistet wäre. Ein jeder lebt 232
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‚in der Zwischenzeit‘. Der Bullshit-Akteur, ob als Fake-Arbeiter oder als Fake-Behaupter, ist eine praktische Konsequenz und eine zwischenzeitliche Emanation des neuen Idioten, der seine Fastfood-Freiheit mit unerkannter Kunstfreiheit verwebt: „Die Art der Kreativität, auf den [der Bullshit] sich stützt, ist weniger analytisch und weniger abwägend als diejenige, die durch Lügen mobilisiert wird. Sie ist expansiver und unabhängiger, mit weitreichenden Möglichkeiten für Improvisation, Farbe und fantasievolles Spiel. Dies ist weniger eine Frage des Handwerks als der Kunst. Daher die bekannte Vorstellung des ‚Bullshit Artist‘“ (Frankfurt). Die Kunstbezeichnung ist indes dort irreführend, wo gerade kein „fantasievolles Spiel“ herrscht. Es gibt auch in der Bullshit-Welt gute und schlechte Kunst. Die Bullshit-Grenze wird dadurch überschritten, dass nicht nur der Aussageninhalt (oben: die Arbeit), sondern auch der Kontext erfunden und dass das nicht einmal verschleiert wird, weil man das Absurde will. Nichts am Bullshit – von der leeren Behauptung bis zur leeren Arbeit – ist also heimlich, er hat keine versteckte Wahrheitsebene, keine Ambivalenz, außer dass die Ambivalenz selbst als codierte Klarheit auftritt. Der Null-Diskurs wird zum Paradigma des Wahren. Zwei Seiten des Palindroms – Ein Postskriptum ist ein Zusatz, den man einem Brief anfügt. Ein Postfaktum ist das Überbleibsel einer Wahrheit, die als solche nicht mehr existiert. Es ist kein Kontrafaktum, keine Gegendarstellung des Wahren, keine Lüge, sondern eine Anmutung von Wahrheit, ohne Wahrheitsfunktion zu besitzen, oder eine Anmutung von Lüge, ohne Lügenfunktion zu besitzen. Ein Parafaktum lässt die Unterscheidungen wahr/falsch, meinen/wissen, ahnen/raten bestehen und errichtet seine eigene Parallelwelt, entlang der Tatsachen, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Nietzsche argumentiert parafaktisch, wenn er die Inkongruenz von Wahrheit und Erfahrung behauptet, ohne aber die Wahrheit selbst zu leugnen: „[Z]wischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache: wozu es 233
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aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf.“ Der Bezug aufs ästhetische Verhalten und aufs freie Erfinden kommt im parafaktischen Diskurs nicht von ungefähr. Er findet sich auch bei Alfred Jarry und seiner Pseudowissenschaft der Pataphysik. Die Pataphysik als parafaktische Welt der Kunst ist ein höheres Supplement der Nicht-Kunst, wie die Metaphysik ein höheres Supplement der Physik ist. Diese eigene Welt (idios kosmos) verschlingt im Werk nicht die Tatsachen der gemeinsamen Welt (koinos kosmos), sondern erwächst daraus als ‚höchste Form‘, d.h. es geht beim parafaktischen Anspruch um eine Art universelles Palindrom, das sich nicht die Leserichtung aufzwingen lässt. Beide Leserichtungen sind zugleich legitim, die Wahrheit der Kunst ist bifokal, wie Wahrheit und Erfahrung bifokal sind. Wenn Alfred Jarry dem Theaterpublikum sagt, Père Ubu spiele in „Polen, und das heißt nirgendwo“, dann ist das im Sinne des universellen Palindroms gemeint: Das Wort „Polen“ liest sich aus anderer Richtung als „nirgendwo“. Es ist insofern keine Beliebigkeit, dass Guy Debord in seinem Film ein lateinisches Palindrom nutzt, um auf die diskursive Bestimmung der Situationisten hinzuweisen: in girum imus nocte et consumimur igni („Wir gehen des Nachts im Kreise und werden vom Feuer verzehrt“). Wenn Heiner Müller behauptet: „Die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen“, dann gilt diese Unmöglichkeit für die Tatsache des parafaktischen Wirklichkeitsraums. Dieses sinngebende Verfahren soll das politische Urteilsvermögen nicht überwinden, sondern erweitern, soll nicht verschleiern, sondern neue Klarheiten schaffen. Peter Handke betont in einem Interview in den 1980er Jahren: „Ich kenne niemand Lebenden, der so reine Literatur macht wie ich. Alle anderen verbreiten bloß Meinungen.“ Die Unterscheidung zwischen Dichtung und Meinung besteht darin, dass der Meinungsidiot mitten in der Gesellschaft die Festung erbaut, während der Dichteridiot als Dauermigrant schon immer jenseits der Gesellschaft denkt und überall dort, wo er auftaucht, die Menschheit zum Duell auffordert. Zu Recht, denn die Menschheit hat es verdient, zum Duell aufgefordert zu werden. Die Fronten sind klar, weil selbst der großspurigste ‚Kunstquatsch‘ beide Richtungen des Palindroms kennt. 234
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Funktionen – Der Bullshit entzieht sich der Klarheit. Sein Postfaktum bedeutet Krisenleugnung ohne Krisenlösung, Menschenähnlichkeit ohne Menschen, kriegsähnliche Zustände ohne Krieg: These und Gegenthese gleichzeitig in Anspruch nehmen, das Gegenteil behaupten, ohne eine Synthese zu erlauben, Diskurs durchsetzen, ohne einen Diskurs zu behaupten, Unmögliches durchsetzen, indem man Reales behauptet – d.h. gerade nicht parafaktisch „Wirklichkeit unmöglich machen“. In diesem Sinne waren für Hannah Arendt die idealen Subjekte einer totalitären Herrschaft postfaktisch: Subjekte, für die alle Fakten „alternativ“ sind und in alle Richtungen gelesen werden konnten. George Orwell behauptete einmal, dass die Sprache der Politik „Lügen wahr macht“ und dem „Windigen den Anschein des Soliden verleiht“. Die Sprache der postfaktischen Politik vermag aber diese Unterscheidungen zu brechen und das Windige und Solide als zwei Optionen ein und desselben Sachverhalts darzustellen und damit das Beliebige als höchsten Ausdruck des Willens zum Absurden zu erklären. Auch die Künste fordern die Unterscheidung von Fakt und Fiktion permanent heraus, ohne dabei aber das Subjekt einer totalitären Herrschaft zu werden, aber auch ohne die Totalität selbst in Frage zu stellen. Eine Tatsache ist etwas, was der Fall ist. Ein Dada-Gedicht oder eine Improvisation von Ornette Coleman schaffen neue Fälle, ohne dass diese Fälle auf Tatsachen beruhten. Dennoch behalten beide Formen die Grundkoordinaten des Tatsachenbezugs bei. Ich unterscheide folgende Funktionen: Fakt → Das, was der Fall ist und auch der Fall sein könnte. Kontrafakt → Das, was nicht der Fall ist, aber der Fall sein könnte. Parafakt → Das, was der Fall ist, ohne ein Fall sein zu können. Postfakt → Das, was nicht der Fall ist, aber zum Fall wird. Fakt & Kontrafakt – Neben der Faktizität eines Ereignisses steht der Möglichkeitsraum seiner Wirklichkeitsfunktion. Das, was ist, behauptet sich phänomenologisch mit einem Halo von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. In einer faktischen Welt dient das Kontrafakt als Korrektiv: Das, was nicht ist, aber sein könnte, hilft dabei, das, was ist und auch 235
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a nderswo oder anderswann sein könnte, besser zu verstehen. Robert Musil diskutiert im Mann ohne Eigenschaften das kontrafaktische Verhältnis des Möglichkeitssinns zur Wirklichkeit: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Das Mögliche wird in der kontrafaktischen Welt genauso bedeutsam wie das Wirkliche. So nimmt sich Musils Ulrich vom Leben im Seinesgleichen Urlaub und erklärt – wie der Perspektivismus des Romans selbst vollführt – das Möglichkeitsdenken zum Wirkungsprinzip. Kontrafakte beschreiben so z.B. auch die Trajektorien einer alternativen Geschichtsforschung: Was wäre gewesen, wenn x beim Attentat ums Leben gekommen wäre oder wenn y den Krieg gewonnen hätte? In der analytischen Philosophie sind Counterfactuals als Möglichkeitssyntax besprochen worden, um besser zu verstehen, wie wir uns mittels Sprache auf die Realität beziehen. In der Dialektik, die nach Adornos Lesart einen steten Fluss von Nichtidentitäten generiert, ist ein Fakt keine Essenz, sondern ein durch seine Negation Vermitteltes. Die kontrafaktische Welt ist dahingehend die Welt der Utopie, der visionären Projekte, die Welt des Designs und der Hoffnung. Man entwirft auf das Nicht-Bestehende hin, unabhängig davon, ob es je bestehen wird, aber mit dem Bewusstsein, dass es einmal bestehen könnte. Parafakt & Postfakt – Die parafaktische Welt unterscheidet sich von der kontrafaktischen dadurch, dass sie ihre Utopie bereits verwirklicht sieht: Das, was der Fall ist, und anderswo und anderswann nicht der Fall sein könnte, aber im Werk der Fall ist. „Homer lässt Lügen so wirklich erscheinen, dass sie in die Welt treten und darin herumspazieren“ (Lewis Hyde). Niemand malt ein Bild oder schreibt ein Buch, wenn diese nicht irgendeine vorweggenommene Totalität behaupten. Die Kunst entwirft eine real existierende Parallelgesellschaft – im Gegensatz zur religiösen 236
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oder ethnischen Spekulation, deren Adepten nur konventionelle Verhaltensmuster reproduzieren (z.B. patriarchale) –, und sie richtet sich darin ein: „Man sagt immer, ein Schriftsteller sei das Kind seiner Zeit. Ich bin aber der Meinung, ein Schriftsteller, überhaupt: Der Künstler ist ein Kind der anderen Zeit“ (Handke). Die Künste verbleiben also nicht nur bloße kontrafaktische Spekulationen, sondern schaffen zeitliche und räumliche Realisierungen. Das Parafakt bestimmt sich nach dem Ereignis selbst und nicht nach einer vorab bestimmten Kategorie des Ereignens. In einer postfaktischen Welt sind dagegen Realitäts- und Möglichkeitssinn ineinander gekehrt. Der postfaktische Akteur ist kein Befreier, kein Hoffender, kein Gestaltender. Sein Möglichkeitssinn führt ihn immer wieder auf Seinesgleichen zurück. Er hat die politische oder ästhetische Vision nach innen gekehrt oder nach außen verloren. Er will etwas abschaffen oder jemanden herausschaffen, ohne das Abschaffen selbst als schöpferisch zu verstehen. Dennoch ist er als neuer Idiot darin schöpferisch, dass er immer neue Formen der Verunklärung und des Gaslighting erschafft. Diese postfaktische Kreativität ist schwer zu fassen. Sie usurpiert die Disziplinen, um der Gesellschaft das Spiegelbild ihres Null-Ausdrucks zu verpassen. Sie symbolisiert sich heute vor allem in Online-Memes, die keinen Werks anspruch haben und sich generisch behaupten. Das Parafakt zielt auf die Unmöglichkeit qua Werk. Das Postfakt zielt auf die Unbestimmtheit qua Diffusion/Konfusion. Oder wie Arron Banks, Gründer der britischen Leave-EU-Kampagne, einmal formulierte: „Facts don’t work.“ Aber er hätte hinzufügen müssen: „Possibilities don’t work either.“ Wenn der parafaktische Möglichkeitssinn verschwindet oder erst eingetrichtert werden muss, dann ist er nur Pseudo-Möglichkeit und in letzter Projektion totalitäre Wirklichkeit. Dies sind allerdings idealtypische Unterscheidungen, die nicht auf die gesamte Polit- oder Kunstpraxis zutreffen. So ist in etwa zeitgleich mit dem Auftauchen der „Relationalen Ästhetik“ (Nicolas Bourriaud) oder verwandter diffusionistischer Praktiken auch das Kunstverständnis in dem Sinne postfaktisch, dass das Ganze der Weltbeziehung in einen unverbindlichen Zusammenhang gebracht wird, in dem die Grenzen zwischen Kunst, Künstlern, Markt, Werk, Repräsentation und Wirklichkeit verschwimmen. Ein Installationskünstler stellt dann 237
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nicht nur seine Kunstwerke aus, sondern gestaltet das Interieur einer Museumskantine, und eine Malerin malt dann nicht nur, sondern verkauft auch Produkte, auf denen ihre Motive abgebildet sind. Und ein anderer Künstler baut Publikumstribünen, auf denen politische Diskussionen stattfinden sollen, oder richtet Suppenküchen ein. Das alles geschieht als Kunst, Mitkunst oder Halbkunst, die den Kunstraum bevölkern. Der politische Gewinn durch die Auflösung überkommener Vorstellungen, was und wie Kunst zu sein hat, wird durch die damit aufsteigende Beliebigkeit aufgehoben, die auch das Berufsprofil betrifft. Früher musste man genial oder talentiert sein, um ein Künstler sein zu können. Heute ist das optional, weil Künstlersein zum bürgerlichen Beruf geworden ist. So geschieht es, dass auch Bullshit-Artists, die sich in einem kreativen Netzwerk behaupten, den Kunstolymp besteigen, während sie vorgeben, ihn nicht zu besteigen. Die Ästhetik des Bullshit umfasst also ebenso die Kunst wie die Nicht-Kunst. Während aber ‚relationale‘ Kunsttexte, die im Ausstellungskontext eine Milieufunktion erfüllen und, so sinnlos und poesiefrei sie auch sein mögen, eine sinnvolle Werksfunktion haben, verschwimmen an anderer Stelle die nötigen Unterscheidungen. So verwendet etwa Yuval Noah Harari in 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (2018) die K ategorie des Postfaktischen für die Darstellung von Religion, Lüge, Stalinismus, Ideologie usw. Alles ist hier irgendwie postfaktisch, was nicht dem liberalen Konsens entspricht. Harari flicht dadurch am postfaktischen Konsens eifrig mit. Entblößung – Botho Strauß schreibt: „Die Blöße, die sich der Idiot gibt, erschreckt wie jede Epiphanie durch Unverständlichkeit“. Während die kontrafaktische Unverständlichkeit auf eine noch nicht verwirklichte und die parafaktische Unverständlichkeit auf eine verwirklichte Möglichkeit hinweist, verweist die postfaktische Unverständlichkeit auf Ihresgleichen. Wie ein Idiot ist das Postfaktum auf eigentümliche Weise un(be)greifbar. Politisch gesehen ist das relevant, denn es finden sich um ihn herum stets „Analysten“, „Experten“, „Anhänger“, die genau zu erklären meinen, was der neue Idiot meint, auch wo er nichts meint. Solange sein Vokabular nicht übersetzt wird, solange der Guru nur im 238
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Keller sitzt und noch keine Galerie oder Gemeinde findet, bleibt er ‚verkanntes Genie‘ oder bedeutungsloser Trottel, der das Absurde will, aber nicht kriegt, dessen Metaphern keine Realisierung erfahren – irgendein Künstler Hitler in irgendeinem Wiener Atelier, von dem niemand jemals etwas hören wird, auch wenn die Weimarer Republik ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Wenn der undefinierte Idiot aber aus seiner Behausung tritt und seine bizarre Seelenkostümierung zur Schau stellt, sich mit ihr gar um die Gunst der anderen bewirbt und plötzlich von Administratoren und Mob interpretiert wird, entpuppt sich aus ihm der charismatische Führer. Irgendwann glaubt dann auch der Idiot an die Bestimmung, die er sich vorher eingeredet hat. Der Unmögliche wird zur Tatsache, zum objektiven Idioten, dessen Kellerlicht sich in ein Bühnenlicht verkehrt und gegebenenfalls später zum Verhörlicht wird. Denn der prinzipiell Unverstandene passt seine Grimassen in die Verzerrungen der Welt, um verständlich zu sein. Er führt den Null-Ausdruck in den Augen, damit seine Anhänger alles Ihrige in ihm ablesen können. Die Unverständlichkeit des neuen Idioten vollzieht sich mit heruntergelassener Hose und im Lichte der Öffentlichkeit. Irgendwo – Nach George Eliot ist ein Idiot jemand, der erwartet, dass Dinge passieren werden, die nicht passieren können. Mit Adorno ist der hegelsche Widerspruch von Fakt und Kontrafakt in Hinsicht auf die Identität nichtidentisch. Widerspruch und Identität sind „zusammengeschweißt“. Fakt und Kontrafakt sind aufeinander bezogen, wie Theisten und Atheisten über den Gottesbegriff aufeinander bezogen sind. Faktum und Postfaktum haben hingegen keinen gemeinsam identifizierten Grund, der anzunehmen oder abzulehnen wäre. Sie haben kein Faktum, sondern nur ein Fatum. Chantal Mouffe bezieht sich in ihrer politischen Theorie darauf, wenn sie den Agonismus vom Antagonismus unterscheidet: Ein Konflikt hat entweder einen gemeinsam identifizierten Grund (Agonismus), oder jede der Streitparteien bringt ihre eigene Definition in die Konfrontation (Antagonismus). Der Kampf wird dann jenseits des Spielfeldes stattfinden, und sein Ausgang ist nicht determiniert, gleich einem kriegerischen Konflikt, dessen Regeln beide Seiten nicht anerkennen und 239
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der daher länger dauert als ein deklarierter Krieg. Bei Clausewitz entspricht das in etwa dem „absoluten Krieg“. Ein postfaktischer Konflikt besteht z.B. heute darin, dass eine Partei irgendein Objekt attackiert, das sie als Repräsentation des Feindes vorwegnimmt, und dieser Feind ‚entdeckt‘ durch die Attacke das Objekt als autochthone Repräsentation seiner Identität. Sprichwörtlich jeder Idiot kann sich in der postfaktischen Welt als Terrorist definieren, indem er irgendwo auf der Welt irgendetwas angreift. „Man wirft irgendwo Bomben ab, und danach findet man den Feind, den man erwartet hat“ (Armen Avanessian). Selbstverlust – Das Postfaktum ist nicht nur ein Fatum der Weltpolitik, sondern breitet sich in alle Lebensbereiche aus. Eine Konversation im sozialen Netzwerk soll das verdeutlichen: Irgendein Austin hat sein Mobiltelefon verloren und meldet dies via Computer auf seiner Facebook-Seite: Austin: „Ich habe mein Telefon in der Nähe von Blatt Field verloren. Wenn jemand da draußen ist und es zufällig findet, ruft mich bitte an oder schickt mir eine SMS.“
Der Junge meldet den Handyverlust, ohne das mit der Tatsache zu verknüpfen, dass er damit nicht mehr kommunizieren kann. Sein Facebookfreund Pierce hakt nach: Pierce: „Es wird wirklich ziemlich effektiv für sie sein, dich anzurufen, wenn sie diejenigen sind, die dein Telefon haben.“ Austin: „Was meinst du?“ Pierce: „Sie finden dein Handy. Sie heben es auf. Sie rufen dich an. Es klingelt in ihren Händen.“ Austin: „Aber es ist mein Handy, nicht ihres.“
Austin verbleibt im ‚Standby-Modus‘, obwohl kein Gerät vorhanden ist, weil er die Bruchstücke der gewohnten Welt nicht zusammenfügen kann, aber doch eine vollständige Welt behauptet. Er schreibt, ohne Konsequenz zu spüren. 240
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Denkpolitik – Der neue Idiot verfolgt eine fragmentierte Denkpolitik, deren Bruchstücke über das gesamte Bewusstsein verstreut sind. „Der Idiot hörte die Geräusche, aber sie hatten keine Bedeutung für ihn. Er lebte irgendwo innendrin, abgesondert, und die kleine Verbindung zwischen Wort und Bedeutung war unterbrochen“ (Theodore Sturgeon). Er ist auch ein Repräsentant neuer Pseudo-Communities, die mit Gesten der Zugehörigkeit an dem Sprachduktus ihres Milieus arbeiten. Man lese sich beispielsweise Textbeilagen durch, die in Kunstgalerien ausgelegt werden: Gedankenbruchstücke, die gerade dadurch bedeuten sollen, dass man sie nicht zusammenfügt, „ermüdende […] ‚intellektuelle‘ Wortspiel-Kunst, die zur Vergessen- und Versunkenheit führt“ (Amanda Beech). Derlei Sprachbruch ist das Pendant zu Social-Media-Netzwerken: Das Verhalten, Denken und Gestalten bleibt in akzeptierten, wenn auch unverbundenen Sinn-Stimuli des Milieus verfangen, Meme-Generatoren stimulieren Marktwert oder politische Verbindlichkeit. Derlei Kommunikationen sind „insofern strikt bedeutungslos, als sie nicht nur auf ein nicht auffindbares Objekt deuten, sondern dies auch von den Lesern kaum erwartet wird“ (Orwell). Mit dieser Tatsache sind alle Idiokraten zufriedengestellt. Denkbilder – Walter Benjamin konstatiert in seinen Denkbildern, dass „keine Begebenheit uns mehr erreicht, die nicht schon mit Erklärungen durchsetzt ist. Mit anderen Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute.“ Was oben für die Beziehung des Faktums zur Information gilt, gilt hier für das Verhältnis von Information zu Erzählung. Eine Geschichte zu erzählen, die sich von Erklärungen freihält, bedeutet nicht, Fakten aufzuzählen, welche die Funktion der Erklärung übernehmen. Das Merkwürdige ist, dass in dem Maße, indem das Geschehene zunehmend von der Erzählung separiert und der Erklärung überwiesen wird, auch die Erklärung vom Verständnis separiert wird. Mit anderen Worten: Je mehr nur erklärt wird, desto unverständlicher wird alles. Die ‚Dramaturgie‘ der Erklärung geht vollständig in der Information auf. „Der Philister“, zitiert Benjamin H ebbel, „hat oft in der Sache recht, aber nie in den Gründen.“ Die 241
Idiokratie
Information separiert sich von ihrer Geschichte, vergleichbar mit Quizsendungen, bei denen man Daten, aber keine Gründe erfragt. Überhaupt wird dem neuen Idioten alles zum Datum, zum Gegebenen, das in jedem nächsten Moment verloren zu gehen droht und das deshalb andauernd mit neuer Bedeutung aufgefüllt werden muss. In einer Idiokratie lässt sich aber die politische Realität nicht in eine schlüssige Erzählung packen, oder sie lässt sich nur in eine schlüssige Erzählung packen. Und beide Sachverhalte lassen sich wiederum nicht mit der eigenen Überzeugung in ein Verhältnis bringen. Zugleich ist jeder aufgrund medialer Möglichkeiten zunehmend informierter über eine Sachlage, die er/ sie gar nicht durchdrungen hat. Die Konfusions- und Diffusionstechnologie erfordert den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Mündigkeit. Diese „Blödmaschine“ (Metz & Seeßlen) durchknetet permanent das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen. Individuen treten ans Licht, die mit Überzeugung Positionen vertreten, die es nicht gibt und nun plötzlich gibt. Das ist wiederum das Schöpferische des neuen Idioten, dass er hinter seiner Erzählung verschwindet, wie ein Jester bei Shakespeare, und sich doch permanent über seiner Erzählung wähnt. Man könnte über das diskursive Spektakel hinwegsehen, doch gilt immer noch, was Adorno in den Minima Moralia prognostiziert: „Es gibt nichts Harmloses mehr“. Das gemeint-Gemeinte beansprucht nämlich im politischen Diskurs unmittelbare Wirksamkeit, das Postfaktum fordert die Realität ein, die es leugnet. Der von Dschihadisten ermordete Charlie-Hebdo-Cartoonist Georges Wolinski schrieb einmal: „Das Paradies ist voller Idioten, die glauben, dass es existiert.“
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DAS FRENETISCHE SUBJEKT
Let me be the world’s biggest example. Kanye West
Entzündung – Ist es demokratisch, wenn jeder zum Demagogen seiner selbst wird, oder ist es totalitär? Eine totalitäre Demokratie? Jetzt schon wählt in der Wahlkabine jeder sich selbst, will es ‚denen da oben‘ zeigen, als ob er selbst da oben stünde und nach unten zeigte. Die Selbstpolitik des neuen Idioten bürgt für ein frenetisches Subjekt, d.h. für das Potenzial eines an seinem Sein ‚entzündeten‘ Ich, das andauernd daran ist, etwas zu tun, etwas zu wollen, etwas zu sein oder sein zu lassen, ohne sich von diesem Zustand befreien zu können. Als neuer Idiot fordert es diesen Zustand permanent ein. „We’re dying to be ourselves“, twittert Kanye West, bevor er sich einmal auf den Schoß des US-Präsidenten im Oval Office schwingt und vor laufenden Kameras von alternativen Universen, Drachenenergien und wasserstoffgetriebenen Flugzeugen schwadroniert. Derlei ist ein Abglanz dessen, was Eva Illouz einmal als „Bildung einer stark spezialisierten emotionalen Kultur“ bezeichnet hat oder was bei Laurent de Sutter als „Regime der Intensität“ auftaucht, „das die Art und Weise, wie sich das Sein orientiert, in Frage stellt“. Daher sind nicht nur Gefühlsaktivität und Brandingperformance, sondern auch Langeweile, Lustlosigkeit oder Müdigkeit voll von frenetischem Selbstwunsch. Wenn müde, dann todmüde, wenn nett, dann supernett, wenn Urlaub, dann toll, wenn Party, dann krass, wenn Karriere, dann Erfolg, wenn erschöpft, dann Burnout, wenn Kind, dann begabt, wenn Partner, dann verständnisvoll, wenn Hobbys, dann viele, wenn Kino, dann gerne, wenn frei, dann Freidenker, wenn Kunst, dann Messe, wenn Literatur, dann aufregend, wenn Konflikt, dann Bewältigung, wenn Lärm, dann 243
Idiokratie
Ruhestörung, wenn Problem, dann Krise. – Das Wort frenetisch geht zurück auf die Phrenitis (gr. φρήν phrēn für „Geist, Seele“ u.a.), eine in der Antike gebrauchte Bezeichnung für eine fiebrige mentale Erkrankung. Diese Fiebrigkeit unterscheidet den neuen Idioten vom alten Idioten. Je schneller sich das Hamsterrad täglicher Abläufe dreht, desto frenetischer verhält sich sein Ich, umso weiter verfehlt es sich, umso schneller versinkt es in medialen Fluten, umso deutlicher tritt es als Bezeuger des Absurden in Erscheinung, umso selbstbezogener ist sein Lustprinzip, umso ‚reiner‘ wird die Tat und umso opaker ist seine Weltbeziehung. Alain Ehrenberg spricht von einer „Pathologie des demokratischen Menschen“, in der sich eine „Kultur der Autonomie“ offenbare, aber das ist gewissermaßen ein Aspekt der Frenetik, die heute in der Modediagnose der Depression erscheint, wie Ehrenberg gezeigt hat. Die „Mühsal, man selbst zu sein“ (fatigue d'être soi) ist die Folge einer Entzündung. Das Ziel des Frenetikers ist es, „möglichst alle Potenziale, die in einem schlummern, zu mobilisieren und ihnen zur Entfaltung zu verhelfen“ (Reckwitz). Und das ist ebenso kreativ, wie es konformistisch oder selbstzerstörerisch ist. Die frenetischen Subjekte entsprechen dahingehend verschiedenen Typen des neuen Idioten. Sie entsprechen verschiedenen Weisen, das Absurde zu wollen. Dieser multiplizierte Wille überragt dabei stets seine Subjekte, ist Teil der Materialstrukturen der Macht und fördert die „Selbsttransformation um ihrer selbst willen“ (Reckwitz). Es geht um einen Menschentypus, „der vollständig die Dynamik des Kapitals verinnerlicht hat“ (Camatte). „Verdammt zu lebenslangem Lernen, zur Flexibilität, zur Herrschaft des Augenblicks, muss er seine Lage als auflösbares und fungibles Subjekt hinnehmen, um der Forderung zu entsprechen, die ständig an ihn gestellt wird: ein anderer zu werden“ (Mbembe). Die Frenetik ist so gesehen Ausdruck einer systemischen Preisgabe, in der das Kapital ein Exempel am Einzelnen statuiert und dadurch für die Vielen zum Vorbild wird. St. Kevin – Erst in der Aussonderung findet das frenetische Subjekt zu seiner ‚Kultur‘. Ulrich Beck hat die Tendenz in den 1990er Jahren als „Selbst-Kultur“ gefasst, d.h. „den Zwang und die Lust, ein eigenes, 244
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u nsicheres Leben zu führen und mit anderen eigen(artig)en Leben abzustimmen“. Man achte aber auf die Komplexionen, die allein schon in den Begriffen Zwang und Lust aufscheinen. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen, vor allem wenn es um die massenmediale Selbst-Präsentation geht. Es ist mir aus den 1990ern noch ein Kevin bei RTL in Erinnerung, der mit der These „Ich bin ein Trottel“ am nachmittäglichen Trash-Talk teilnahm. Seit dieser Sendung hat es viele andere Kevins gegeben, die Kevin hießen oder einfach Kevins waren. So entstand die Kevin-Kultur: Inzwischen kann man bei Portalen wie Stupidedia den so genannten Kevinismus studieren. Mit Kevinismus infizierte Familien seien stark gefährdet, heißt es, „in hochnotpeinlichen Reality-Shows im Fernsehen vorgeführt zu werden“. Und selbst hierfür gibt es Studien, die sich mit dem Zusammenhang von negativ konnotierten Namen und sozialer Interaktion beschäftigen. Da schneidet der deutsche Kevin nicht gut ab, wie z.B. Dating-Plattformen wie eDarling bestätigen können. Kevinisierung qua Selbst-Kulturisierung ist indes nur ein Sonderfall einer ubiquitären Idiotisierung. Unter Idiotisierung verstehe ich den Komplex der Aussonderung, aus dem sich eine Kultur der Zurschaustellung speist, mit der man sich als Einzelner durch Zwang und Lust gleichermaßen identifiziert – irgendein Land sucht irgendeinen Superstar. Das hat seinen Preis wie es seinen Sinn hat: Die Isolation der vorgeführten Idioten lenkt von der Isolation aller anderen Idioten ab, manichäische Opferlämmer, Gekreuzigte, die den Sieg des Lichts sicherstellen sollen. Kulturfreaks – Je größer das Inseltalent, desto größer die Ablenkung von der Inselnatur des Gesellschaftlichen. Der idiotes glaubt, mit der Stimme der agora zu sprechen, und die agora kommt darin überein, es jedem idiotes recht zu machen. Der Preisgegebene ist einer, der uns Publikum als Freak nicht gefährlich werden kann, aber zugleich dient der Freak, wie wir oben sahen, dem Kerngeschäft der ökonomischen Optimierung, die sich zugleich qua Publikum demokratisch legitimiert. Alle NichtFreaks wähnen sich sicher im Imaginarium der bürgerlichen Mitte, in deren Schoße die „selbstverordnete Regression“ (Adorno) stattfindet und sich die „repressive Toleranz“ (Marcuse) mit der tolerierten 245
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epression abwechselt. Der Freak wird den demokratischen Vielen zum R Talking Point, zum Problemträger als Bestandteil einer frenetischen Aktions- und Vorzeigekultur. Das betrifft Big-Brother-Formate wie den hiesigen so genannten „Integrationsgipfel“, in dem Migration als Manko vorabdefiniert und zur Freakshow kultureller Antragsteller wird, deren Partikularitäten über die politische Bühne gezerrt werden. Auch der M igrant wird zum Freakindividuum, zu dessen Vervollkommung nur noch die Integration fehlt. Die ist nach außen entzündungshemmend, nach innen infiziert sie die Wunde. Jegliche Idiosynkrasie erscheint als Packungsform eines frenetischen, wenngleich in den Schranken der Normalität verweilenden Pseudoindividualismus, der jeden Versuch des Außenseiters/Ausländers zunichte macht, eine authentische, d.h. politische Stimme zu finden. Migranten werden nicht wie die Stammbevölkerung in linke, liberale und rechte, sondern nach Herkunft oder Religion unterteilt. Eine Freakshow der Kulturalisierten. Kultürliche Selektion – Zugleich gilt: Nicht jeder Frenetiker geht als Freak durch. „Die Strategie der radikalisierten Singularisierung setzt bei der Erfahrung an, dass die Gesellschaft der Singularitäten durchaus nicht jede Einzigartigkeit anerkennt, sondern nur jene, die als ‚attraktiv‘ und darin akzeptabel gelten“ (Reckwitz). Und akzeptabel ist das, was der jeweils geltenden (Kultur-)Norm entspricht. „Jede Erregung außerhalb des privaten Raumes und außerhalb der dafür vorgesehenen geschlossenen Erregungsräume erscheint als verwerflich, illegal oder gefährlich […]. Das erklärt, warum die geschlossenen Erregungsräume mit so viel Hysterie gefüllt sind (immer in Gefahr des ‚Überkochens‘), sowie umgekehrt, dass sich, sobald der Erregungsraum und seine Hysterie verlassen wird, das komplementäre Gefühl einstellt: Langeweile. […] So kann auch Politik nur als Abfolge von Hysterie und Langweile begriffen werden“ (Metz & Seeßlen). Es gibt keinen Normalpunkt der Idiotisierung. Der gesellschaftliche Null-Ausdruck ist kein Passivum, sondern frenetische Null oder rumorender Grund, aus dem ständig etwas entsteigt. Monster oder Minions. Die Wunschmaschinen der singularisierten Gesellschaft entsprechen jenen Apparaturen, welche die Massenidiotisierung und ihre Nütz246
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lichkeit einerseits in den privaten, geschlossenen und andererseits in den virtuellen Erregungsräumen potenziert, kontrolliert und variiert. Das erklärt auch die gesamte Palette der populistischen Starproduktion, die nichts anderes als ein frenetischer Ausdruck einer Null-Reihe ist. Während der besondere Idiot, der wirkliche Freak, konsequent unterdrückt oder nivelliert wird, kann zugleich potenziell ‚jeder Idiot‘ Starware werden, vom Youtube-Video bis zum Schauspieler oder Sportler. „Die Starifizierung ist konstitutiv für die Ökonomie der Singularitäten“ (Reckwitz). Deshalb sind Prozeduren der Idiotisierung die bevorzugte Form der Selbstdarstellung in den sozialen Medien – durch zwanghafte Lust. Untäglicher Wahnsinn – „Es macht mich furchtbar traurig“, sagt Martin Pages Antoine, der sich aufmacht, ein Idiot zu werden, „zu sehen, dass wir nicht frei sind und dass jeder freie Gedanke, jede freie Tat nur auf Kosten einer Verletzung möglich ist, die nicht verheilt.“ Wichtige Pfeiler des Idiotisierungsprozesses (bzw. der ‚Selbst-Kulturierung‘) sind: • Überall dort, wo ein einzelner ‚Idiot‘ auftaucht, wird er als Aus sätziger dem Chor des Spektakels der vielen Idioten preisgegeben (die Verletzung); • Der Idiot verwirklicht sich dadurch, dass er sich den anderen aussetzt, ohne je zu sich zu finden (das Absurde); • Dieses Aussetzen ist selbst aussätzig, d.h. das Spektakel sabotiert sich selbst (das Idiotische). Diese Prozedur bürgt für das ubiquitäre Potenzial der Idiotisierung. Denn auch die zynischen Programmmacher werden, sobald sie ihre hegemonialen ‚Safe Spaces‘ (Programmgebäude, Villa, Club usw.) verlassen, zu nützlichen Idioten ihrer Verhältnisse. Diejenigen Geldeliten, die sich inzwischen Isolationsbunker für die kommende Ökokalypse bauen, vergessen, dass mit der Idiotisierung jeder zum „Survivalist“ oder „Prepper“ wird, dass auch die Eliten Teil eines umfassenden Beuteschemas sind, das sie nicht verstanden haben, und dass ihre selbst auferlegte Isolation das Problem sein wird, das sie für die Lösung gehalten haben. Am 247
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Ende aller Tage wird nämlich nicht irgendein Saboteur ihre Luftversorgung kappen. Sie selbst werden es sein. Erster Wahnsinn ließ sie nämlich schon den B unker bauen. Zweiter Wahnsinn wird ihn zerstören. Die Nützlichen werden immer nützlicher – Frenetische Subjekte entstehen, wenn systemische Last auf den Einzelnen übertragen wird, die dieser unmöglich tragen kann, aber dann doch trägt. Man wird Teil eines Schemas, dessen Nutzen die Zwecke überragt. Das ist es, worum es beim sogenannten „nützlichen Idioten“ geht: Wenn ich mit einer bedruckten Einkaufstüte in der Stadt herumlaufe, werde ich zum Werbeträger des Unternehmens, bei dem ich gerade eingekauft habe, ohne dass ich dafür bezahlt wurde. Wenn ich also die Souveränität über die Situation gewinnen möchte und z.B. die Tüte umstülpe, um das Firmenlogo nach innen zu kehren, werden mich die Kassiererinnen verwundert anblicken und mich für einen Idioten halten, obwohl ich mich doch gerade entidiotisiert habe. Ein Frenetiker hingegen will das Gegenteil: dass nämlich alle in der Stadt sehen, wo er einkaufen geht, auch wenn er persönlich nichts davon hat (das ist gewissermaßen der Punkt). Vergleichbar hierzu sind Assistenten an der Selbst-Scan-Kasse im Supermarkt, die bei ihrer eigenen Überflüssigwerdung als Verkäufer tatkräftig mithelfen und das auch ökonomisch rationalisieren (es gäbe genügend zu tun, das Unternehmen müsse effizient sein, bei Fehlfunktionen müsse ja sowieso einer eingreifen usw.). Jedes Marktsegment ist dem Frenetiker zugleich eine Community, für die er Verständnis zeigt, zu der er gehören möchte, selbst wenn sie seiner überdrüssig wird. Der Frenetiker bringt sich alternativ auch für geringes Entgelt im viralen Marketing ein. Er macht das Produktschema zum Lifestyle und kommt womöglich als Influencer zu Online-Ruhm. Jede Steigerung der Schamlosigkeit geht mit gesteigerter Produktivität einher. Er „wird verschlungen von einer rätselhaften Geschäftigkeit, die alle Züge der kommerziellen trägt, ohne daß es eigentlich dabei etwas zu handeln gibt“ (Adorno). Der Frenetische will immer nützlicher werden, ob er will oder nicht. Sein Ziel ist es, kostenlos zu sein und schließlich überflüssig zu werden.
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Idiotenschleifen – Neue Dinge und Narrative platzen ins Leben, behaupten ihren Nutzen und werden dadurch zum Maßstab der Nützlichkeit. Der neue Idiot wählt das Neue, wie er das Alte wählt. Seine neue Nützlichkeit ist, verglichen mit der alten Nützlichkeit, phasenverschoben. Dies wird bei immer kürzer werdenden Produktzyklen deutlich. Während in der Vergangenheit technische Geräte Jahrzehnte überdauerten, werden heute in immer rasanterer Abfolge immer komplexere Geräte angeboten, die oft ihren Ansprüchen nicht gerecht werden: „Exzellente professionelle Maschinen werden durch idiotische, komplexe, spielzeugartige Gadgets ersetzt.“ (André Vltchek). Neue Nützlichkeiten katapultieren Kunden in Idiotenschleifen, die besonders in den sozialen Medien auffällig sind. Das Ziel der Anbieter ist „ein geschlossener Kreislauf, der sich von den Bedürfnissen und Neigungen seiner Nutzer nährt, diese verstärkt und dann potenziert“ (Zuboff). Das objektiviert das Begehren: „Das Kapital erzeugt eigene Bedürfnisse, die wir fälschlicherweise als unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen. Es stellt eine neue Transzendenz, eine neue Subjektivierungsform dar. Wir werden wieder aus der Immanenzebene herausgeworfen, wo das Leben sich auf sich selbst bezöge, statt sich einem äußeren Zweck zu unterwerfen“ (Han). Aber äußerer Zweck und selbstbezogenes Leben sind zwei Aspekte des frenetischen Subjekts. Der Widerstand gegen das Begehren ist Teil des Begehrens oder das Begehren selbst. „Das dumme Ding ist nicht außer mir, sondern mehr noch als mit mir: in mir. […] Die Gebrauchstiefe des Dings […] ist genau jener Abgrund, der, wenn man längere Zeit in ihn hineinsieht, so unergründlich zurückblickt. […] Die Benutzeroberfläche macht mich zum Idioten, die Gebrauchstiefe bringt mich zur Verzweiflung“ (Metz & Seeßlen). Das frenetische Subjekt lebt somit die Paradoxie der konsumistischen Verfassung aus: verzweifelt und glücklich, ohnmächtig und frei. Zwangfreiheit – Ein Idiotisierter ist das strukturelle Residuum einer ökonomischen, ästhetischen oder politischen Entscheidung, dessen Ursachen und Folgen hinter seinem Rücken oder direkt vor seinen Augen verhandelt werden, ohne dass er das Geringste davon verstünde oder 249
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darauf irgendeinen Einfluss hätte, aber andauernd vermittelt bekommt, dass er etwas dafür tun kann, indem er seine berufliche Performance steigert. Nach Adorno zwingt die „Unterwerfung des Lebens unter den Produktionsprozeß […] einem jeglichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf, die wir für die Sache unserer überlegenen Wahl zu halten versucht sind.“ Laurie Penny beschreibt eine hieraus erwachsene „Wellnessideologie“, die auf die individuellen Optimierungsraster des modernen Lebens fokussiere und zu einem „einsamen Kampf ums Überleben“ führe. Ken Loachs Film I, Daniel Blake (2016) liefert hierzu eine düsteres Gegenwartsbild. Er schildert den Kampf eines herzkranken Arbeitslosen gegen seine Zwangsidiotisierung, die darin besteht, dass Behörden ihn dazu zwingen, sich dem bürokratischen Prozedere auszuliefern, aber zugleich dafür sorgen, dass er aus dem Raster fällt. Es handelt sich um einen kapitalistischen Catch-22 für die Unfitten: Die Tatsache, dass Blake einen Arbeitslosenantrag stellen kann, beweist seine Arbeitstauglichkeit. Nur als Toter würde er eine Bescheinigung bekommen. Insofern reproduziert der Film im Herzinfarkt des Protagonisten eine Art absurde Katharsis des Arbeitsmarktes: Im ‚perfekten‘ Sozialstaat ist jeder Arbeitslose tot und entlastet so die Sozialkassen. Als Lebender kann er systemisch gegängelt werden. Was Richard Sennett einmal als „infantilisation of the workers“ beschrieb, lässt sich radikaler als frenetische Strukturierung unseres gegenwärtigen Lebens beschreiben, als „Konsequenz eines Systems, das Menschen daran hindert, selbständig zu denken, und darin scheitert, Mitarbeiter als Erwachsene zu behandeln“ (Paul Verhaeghe). Das ist die eine Seite der Frenetik. Loach zeigt auch – und der Filmtitel zeigt es –, wie sein Protagonist mit einer Graffiti-Aktion seinen Individuationsprozess öffentlich macht, ‚gegen das System protestiert‘ und damit sein Einzelschicksal politisiert. I, Daniel Blake wird zur Inschrift auf einem öffentlichen Gebäude. Das ist die Geste der Thompsonisierung, aber zugleich politisch gewendet. Das frenetische Subjekt ist einerseits im Pool der Namenlosen getrieben, andererseits separiert es sich in vitalem Übermut von der Masse und wird zum Aktivisten seiner selbst. Wo eine Aktion als progressiv erscheint, weil sie der Entfremdung entgegnet, ist zugleich die regressive Version 250
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(‚Thompsonisierung‘) z uhanden. So treiben etwa vor allem der Massentourismus und die sozialen Medienwelten auf ihre Weise die Selbstzeichen des Freaks voran. Schildbürger – Zygmunt Bauman hat die Figuren des Flaneurs, Vagabunden, Touristen und des Spielers eingeführt, um Lebensentwürfe zu skizzieren, die sich heute den Unwägbarkeiten der Postmoderne entgegenstellen. Die damit umzeichneten Eigenschaften der Unverbindlichkeit, Freiheit, Mobilität und Abenteuerlust lassen sich inzwischen in der Figur des frenetischen Touristen vereinen, der sämtliche Anforderungen einer „flexiblen Identität“ (Bauman) erfüllt. Dieser Idiotypus entzündet sich daran, immer flexibler auf die Umweltbedingungen zu reagieren, ihnen sogar vorauszueilen. Touristen entdecken und applizieren neue Technologien für ihr ‚Fachgebiet‘, und sie erschließen neue Urlaubsziele, machen daraus ein Geschäft, gründen Vereine oder agieren politisch, wenn man die Urlaubs-Pilger einbezieht, die sich jährlich in Mussolinis Geburtsort einfinden. Diese Para-Avantgarde agiert kulturübergreifend und multidisziplinär. Manche Aktivitäten führen sie gar in Kriegsgebiete, in denen sich ansonsten nur noch Künstler und Krieger aufhalten. Die Abenteurer wollen sich selbst und anderen etwas beweisen, als ob ihr Leben davon abhinge. Und es hängt manchmal davon ab, wenn man sich, wie jüngst geschehen, die zahlreichen Toten der Mount-Everest-Besteigung vergegenwärtigt. Was früher als Metier von Extremsportlern galt, ist heute dem Massentourismus gewichen. Der Idiotenbegriff fällt so gesehen nicht zufällig im Zusammenhang mit Urlaubern, die heilige Stätten entweihen, Strände vermüllen oder ein natürliches Habitat zerstören, um ihre Daseinsgravuren zu hinterlassen. Das reicht vom spontan gedrehten Privatporno am Fuße einer ägyptischen Pyramide, dem Balconing, einer in spanischen Urlaubsgebieten beliebten Disziplin, buchstäblich sturzbesoffen zwischen Hotelbalkonen oder vom Balkon in den Pool zu springen, Fotodrohnen, die in den Mailänder Dom krachen, bis hin zu sonstigen Kunstformen des zivilisierten Vandalismus, der sich mit dem barbarischen im Nahen Osten messen kann. Seit den 1950er Jahren sprechen Psychologen auch 251
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vom „neurotischen Paradox“: einem zerstörerischen Verhalten, das eine kurzfristige Belohnung anstrebt, obwohl diese auf Dauer negative Auswirkungen nach sich zieht. Es entspricht dabei der dialektischen Einsicht, dass der touristische Fundamentalismus die Urlaubsziele ruiniert, die ihn erst ermöglichen, wie im Fall der Millionen von Liebespärchen, die ihre symbolischen Vorhängeschlösschen ans Brückengeländer der Touristenattraktion anbringen und dieses dann irgendwann einmal unter der Last zusammenbricht („How love is destroying infrastructure“). „Der Massenmensch verachtet alle normalen Zwischenstufen und schreitet unmittelbar zur Durchsetzung seiner Wünsche“, meinte Ortega y Gasset. Nach Zygmunt Bauman hängt der Belohnungstrieb mit der Bürde der spätmodernen Rastlosigkeit zusammen: „Mit der Abdankung der zentralen Organisationskomitees, die sich um Ordnung und Regelmäßigkeit, um die Differenz zwischen richtig und falsch kümmerten, erscheint die Welt heute als grenzenlose Ansammlung von Möglichkeiten: ein Container, randvoll mit zu ergreifenden oder verpassten Gelegenheiten. Es gibt – schmerzhaft – viele Alternativen, deren Menge den Rahmen eines individuellen Lebens sprengt.“ Aus Mangel an zukünftigen Zielen multiplizieren sich Gegenwartsreize, mit dem Ersatz-Ziel, „Wünsche anzuregen, die im Augenblick ihrer Erfüllung neue Wünsche hervorbringen“ (Streeck). Das erklärt zumindest die Warteschlangen beim Gipfelaufstieg. Selfiemade – Die mediale Frenetik macht in der Endperspektive jeden zum Touristen seines eigenen Lebens, das sich mit seinem Erleben zugleich ‚entlebt‘. Die weltweite Zunahme von tödlichen Selfie-Unfällen begründet dahingehend inzwischen so etwas wie eine metaphysische Disziplin. Es ist vielleicht die netteste und zugleich tragischste Form der Selbst-Sabotage. 2015 hat das russische Innenministerium eine Broschüre herausgegeben, die mittels folgender Signets deutlich macht, um welche Situationen es sich handelt. Hier eine Auswahl:
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Der neue vernetzte Sisyphos filmt sich bei seiner Bemühung und stürzt dabei in den Tod. Die Signets decken eine Reihe von Fällen ab: einen rumänischen Jugendlichen, der auf dem Dach eines Zuges mit dem Handy in der Hand einen tödlichen Stromschlag erlitt, einen Mexikaner oder wahlweise Texaner oder Russen, die sich mit geladener Pistole fotografierten und sich dabei in den Schädel schossen, oder eine Frau, die mit ihrem Auto verunglückte, als sie sich bei Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn filmte und das Video während der Fahrt auf Facebook posten wollte. Wöchentlich werden neue Fälle gemeldet, wie z.B. ein 66-jähriger Japaner, der auf der Suche nach der besten Position für ein Foto des Königstors des Taj Mahal eine Treppe herunterfiel – er wäre bei den obigen Warnschildern nachzutragen. Vielleicht wäre statt eines religiösen Symbols ein Signet am Grab des Verblichenen angebracht – nicht als zynische Geste, sondern als besondere Auszeichnung: „Hier ruht ein Idiot.“ Wenn W alter C. Parker schreibt, dass „ein Idiot in einer gewissen Hinsicht suizidal bzw. definitiv selbstwiderlegend ist, weil er nicht weiß, dass Privatheit und individuelle Autonomie vollständig von der Gemeinschaft abhängen“, dann repräsentieren gewollt ungewollte Suizidalakte eine absurde Übererfüllung des Gemeinschaftsverständnisses. Dadurch, dass einer so abtritt, wissen die anderen, dass alle gleich sind. Der neue Idiot setzt als Frenetiker permanent den Unterschied von Selbst und Welt außer Kraft, er ist gleich Eintagskünstlern vom „Moment des Alltäglichen“ getrieben, der nach Henri Lefebvre den Versuch darstellt, „die totale Verwirklichung einer Möglichkeit zu erzielen“. Wie man Gegenwart aufpustet – Das frenetische Subjekt bestimmt Projektionen und Projektile der Gegenwart. Es bläst sie auf, so dass mehr 253
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da scheint, als wirklich da ist. Eine Idee, die ein Mehr propagiert, in dem sie den umgebenden Raum expandiert. Und das ist, was in einer Idiokratie eine erfolgversprechende Strategie ist. Als der Hasardeur „Mad“ Mike Hughes vor ein paar Jahren versuchte, mit einem Kickstarterprojekt Gelder für den Start einer selbstgebauten bemannten Rakete einzutreiben, war er zunächst erfolglos. Erst als er sich öffentlich zum Flat- Earther bekannte, flossen Gelder aus den Taschen Gleichgesinnter. Denn nun wurde der Raketenflug zum Forschungsprojekt, das die Flachheit des Planeten „unabhängig von der herrschenden Meinung“ entlarven sollte. Je flacher die Erde ist, desto großartiger soll ihre Entlarvung sein. Hughes’ erster Versuch scheiterte, die Ambition blieb. Wie David Foster Wallace in This is Water notiert, stolzieren überall auf der Weltebene sich gegenseitig zusprechende Majestäten, deren Kronen sich gravitätisch anziehen und dabei Grüppchen bilden. Es ist daher keine Überraschung, dass irgendwo auf der Erde die Erde wieder zur Scheibe erklärt wird. Die Flat-Earth-Society hat übrigens, wie es auf deren Webseite heißt, „members all around the globe“. Expansion – Obwohl hypertrophe Phänomene in vielen gesellschaftlichen Bereichen auftreten, sind sie nach Régis Debray eine spezifische Tendenz der Spätmoderne: „Es handelt sich hierbei […] um eine inflationäre Überproduktion an Darbietungen, Theorien und überflüssigem Schnickschnack, die mit einer zunehmenden Realisierungsgeschwindigkeit und einem beschleunigten Umlauf der verwendeten Zeichen (für Währungen, Gemälde, religiöse Belange, usw.) einhergeht.“ Es wird permanent überproduziert, um die Leugnung der Begrenzung natürlicher Kapazitäten voranzutreiben, um überhaupt die Leugnung einer fixen Totalität der Dinge voranzutreiben. Damit suggeriert die Hypertrophie eine frenetische Totalität, die dem plotinschen Einen, dem autopoietisch-expandierenden Weltall oder der sich stetig reproduzierenden Wunschmaschine des Kapitals analog ist. Apples iPhone 6 wurde 2014 beispielsweise in der Online-Werbung mit der Eigenschaft „größer als größer“ bedacht, d.h. Größe wird nicht mehr diskret vorgestellt, sondern als absolute Relation, als ein generelles Mehr an Mehr, das das Unendli254
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che in der Vorstellung übersteigt – unendlicher als unendlich. Es ist ein weiterer Beleg des idiokratischen Bewusstseins, dass es das Besondere nicht mit dem es übersteigenden Allgemeinen in Beziehung setzen kann, weil der Größenwert relationslos wird – so wie Wahrheit im Postfaktum wahrheitslos wird. Stattdessen wird die Relation selbst zur fixen Größe, die es zu überflügeln gilt. Um es mit einer astrophysikalischen Metapher zu formulieren: Nicht die Geräte werden größer, sondern der sie definierende Raum expandiert. Es ist die Gegenwart, die alle Rahmen sprengt. Überflüssig – Inzwischen scheint es für viele Menschen das Schwierigste, zu akzeptieren, dass es bei der Sache des modernen Lebens gar nicht um sie selbst geht. „Während es gestern noch die Tragödie des Subjekts war, vom Kapital ausgebeutet zu werden, ist es heute die Tragödie der Vielen, nicht mehr ausgebeutet werden zu können und einer ‚überflüssigen Menschheit‘ zugewiesen zu werden, die aufgegeben [hat] und vom Kapital für sein Funktionieren kaum noch gebraucht wird“ (Mbembe). Richard Sennett hat in der Kultur des neuen Kapitalismus auf die zunehmende Empfindung der Sinn- und Nutzlosigkeit im Arbeitsprozess hingewiesen, die sich aus den Anforderungen des weltweiten Arbeitskräfteangebots, der Automatisierung und der gesellschaftlichen Bewältigung des Altersprozesses ergeben. Im ersten Fall führt das zum Ausgrenzungsverhalten und Ressentiment der jeweiligen ‚Stammarbeiterschaft‘, die durch einen Migrantenzustrom ihre Überflüssigkeit gespiegelt bekommt. Im zweiten und dritten Fall führen technologische und demographische Entwicklungen zur Ausgrenzung vormalig sinnvoller Beschäftigung. Gegen diese beiden letzten Punkte haben im übrigen auch die ‚Rechtspopulisten‘, die sich vor allem auf den ersten Fall beziehen, keine Antwort. Sie haben keine Antwort, weil es keine Antwort gibt und weil das Problem auch ein psycho-ökonomisches ist. Was der Identitätstheoretiker Erik Erikson einmal über die Veränderungen der Ich-Psychologie schrieb, gilt in verstärktem Maße für die spätmodernen frenetischen Subjekte der Gegenwart: „Der Patient unserer Tage leidet vorwiegend unter dem Problem, was er glauben soll […], während die Patienten in den Anfängen der Psychoanalyse vorwiegend unter 255
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emmungen litten, die sie daran hinderten, das zu sein, was sie […] zu H sein glaubten.“ Die Frenetik als Problemempfindung greift auf alle Psycho- und Einkommensschichten über. Sie hat damit zu tun, dass man im Grunde nicht existiert, wenn man nicht massenmedial oder beruflich existiert, wenn man nicht als Oberfläche existiert oder wenn man den Körper nicht zur Oberfläche macht. Und weil man überflüssig und sinnlos ist, muss man wie ein Avatar in Erscheinung treten. Wie ein Profisportler muss man seinen Hobbykörper malträtieren, wie ein Journalist muss man einen ‚Kommentar‘ verfassen. Sonst ist man nicht. Man muss sich thematisieren, mobilisieren und rekonfigurieren, um da zu sein. Es herrscht eine Furcht vor der Indifferenz, nicht vor dem Nichts. Schlimmer noch als der Tod, schreibt Fernando Pessoa im Buch der Unruhe, sei die Vorstellung, nie existiert zu haben.
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MÉNAGE À UN – DIE PRIVATEN LEBEN DES IDIOTEN
Romeo: „Liebst du mich?“ Julia: „Das ist meine Privatsache.“
Like – Müsste in einer Idiokratie nicht auch eine ausdifferenzierte Kultur der Selbstbefriedigung herrschen? Ein heftiger masturbational turn? Die damit verbundene Vorstellung des Ménage à un zielt auf verschiedene Areale: Selbstbeschäftigung, Selbstbestätigung, S elbstmedialisierung, Selbsterfahrung, Selbsterfüllung, Selbstkritik, Selbstverwirklichung, Selbstliebe, Selbsterbauung, ja selbst die Selbstlosigkeit als Modus des Selbst (Meditation, Altruismus). Dazu passend die neuen Tendenzen der Self-Partnership und Single Positivity Movement oder Online- Praktiken – von ASMR-Videos bis zum Nischen-Fetisch –, die für eine zunehmend ausdifferenzierte Selbstwahrnehmung sorgen. Foucault brachte das antike Prinzip der Selbstsorge ins theoretische Rampenlicht, um eine allgemeine Formel für erkenntnis-, wahrnehmungs- und handlungsrelevante Einsichten moderner Selbstpraxis zu liefern. Gleichwohl erscheint in einer Idiokratie, wie etwa im männlich konnotierten Nerdtum in Idiocracy angedeutet, die sexuelle Selbstbefriedigung als Ursequenz aller Selbstpraktiken, die wiederum stets medial, juridisch oder kulturell kodiert sind: der nach außen getragene Fetisch des Privaten, Eigenen, Tribalen, Religiösen usw. vermittelt Attribute des Selbstwunsches, den man nach hormonellen Ausschüttungen oder neuronalen Belohnungsprozessen kartografieren könnte: die Selbstbefriedigung, eine Nationalhymne zu hören, die Selbstbefriedigung zu beten, die Selbst befriedigung, alleine zu sein, die Selbstbefriedigung, guten Sex zu haben, die Selbstbefriedigung, ein Schnäppchen gemacht zu haben usw. Die 257
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ebenso inflationäre wie tabuisierte Allgegenwart der Online-Pornographie trägt also zur Selbstbefriedigung nicht mehr oder weniger als andere Phänomene bei, sofern die pornographische Praxis nur ein Ersatz für eine Paarbeziehung oder ein neues Handy ist. Alle Phänomene geraten gewissermaßen auf dieselbe Befriedigungsebene. Man beendet eine Beziehung, wie man ein Programm schließt, oder man führt sie mit vielen geöffneten Fenstern. Und wie man Gefühle hat, wird identisch dazu, wie man sie nicht hat. Die Nivellierung des Empfindens, Denkens und Verhaltens lässt sich in idiokratischer Endperspektive auf einen einzigen „Like“-Daumen zurückführen. Jeder für sich, alle für einen. Lust an und für sich – Die höchste Form der Freundschaft (philia) ist nach Aristoteles diejenige, die keinem wirtschaftlichen Nutzen oder sexuellem Interesse folgt, sondern durch sich selbst begründet ist. Unterliegen aber nicht auch die anderen Konzeptionen der Liebe – Agape, Storge, Xenia und selbst der Eros – in gewissem Sinne der Selbstsorge? Vielleicht verdeutlicht das der Fall eines jungen Paares, das vor ein paar Jahren im dichten Nebel auf einer Autobahn in ihrem Auto in Richtung Rio de Janeiro fuhr. Der Moment ist nicht mehr zu rekonstruieren, jedenfalls überkam beide plötzlich die ungezügelte Lust, miteinander zu schlafen. Es blieb nicht einmal Zeit, auf den Standstreifen auszuweichen. Der Wagen kam auf der Fahrbahn zum Stehen, die beiden machten sich sofort übereinander her. In diesen Momenten erklingt im Universum der Verliebten, was Rilke in seinem Lied des Idioten intoniert: „Es kann nichts geschehen.“ Das Auto wurde wenige Augenblicke später von einem anderen Fahrzeug erfasst, beide starben an der Unfallstelle. Aber ist das nicht auch höchste Ethik? Nur reine Tat des Eros zu sein, nur Lust auszuleben, ohne alles ‚sexuelles Interesse‘, da man ja den Abstand zum anderen und zur Situation gar nicht wahrnimmt? In früheren Zeitaltern wäre Tristanho und Isoldinha eine Oper gewidmet worden, in unserem Zeitalter war es eine Meldung in der brasilianischen Lokalpresse, eine Widmung bei den Darwin Awards und eine Strophe bei Joe Jackson: „Fools in love, they think they're heroes | Cause they get to feel more pain | I say fools in love are zeros.“ 258
M é n a g e à u n – D i e p r i v a t e n Le b e n d e s I d i o t e n
Zweckliebe – Heute ist die Liebe die sublimste Form der Idiotie und der Liebestod die endgültigste Form der Befriedigung, weil nichts aus dem unerkannten Selbstbegehren hinausführt. „[D]ie Substanzialität der Liebe ist objektlos“, und die geliebte Person ist „bloßer ‚Anstoß‘ für die subjektive Innerlichkeit“, schreibt Adorno. Diese Innerlichkeit ignoriert heute insbesondere den unerkannten Anteil im geliebten Anderen, sie hegt die realitätsfremde Vorstellung, „eine Einheit zu sein und alles über einander zu wissen“, wie es eine Paartherapeutin formuliert. Die idiokratische Liebe zeichnet aus, dass sie das Besondere des Selbst (z.B. die sexuelle Phantasie) nicht mit dem Allgemeinen der Präsenz des anderen in ein Verhältnis bringt und sich im Lieben quasi selbst ‚entliebt‘. Darauf bezieht sich Eva Illouz, wenn sie schreibt, dass sexuelle Phantasie und Liebesvorstellungen inzwischen zum „Selbstzweck“ geworden sind. Damit ist eine mittels sozialer Technologien rationalisierte „Autonomisierung von Begehren und Vorstellung“ gemeint, geprägt „von zunehmend monadischen Individuen, deren Phantasien keine spezifischen realen Vergegenständlichungen haben“ (Illouz). Die Konkretheit der Regeln, mit denen sich Beziehungen organisieren (z.B. ein ‚Date‘), wird vom Ausleben eines Begehrens begleitet, „das sich selbst nährt und kaum Spielraum hat, den Übergang von der Phantasie zum Alltag zu vollführen“ (Illouz). Dies führe dazu, dass romantischen Erlebnissen immer mehr die „ganzheitliche Form“ abhanden komme. Anders gesagt: Die Gegenwartsliebe wird zu einer Art emotionaler Fachidiotie, in der das objektivierte Selbstgefühl zum höchsten aller Objekte wird. Viele heutige Liebesanwärter wollen sich keine Blöße geben, wollen nicht „alles stehen und liegen lassen“, weil sie sich permanent dabei beobachten oder ihre Zustände optimieren, diese Selbstpraxis aber leugnen. Es ist ein Zustand der Philisterliebe. Die Alltagskultur beraubt „das Selbst der Fähigkeit, sowohl in die volle Erfahrung der Leidenschaft einzutreten und diese zu leben als auch den Zweifeln und Ungewissheiten zu widerstehen, die mit dem Prozess der Liebe und der Bindung an jemanden verbunden sind“ (Illouz). Liebe ist nach Harry G. Frankfurt weder emotional noch kognitiv, sondern volitional. Da aber die volitionale Bindungsdynamik heute keine Objektkonsistenz hat, ist die Liebe wie andere W unschmaschinen 259
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dem Begehren des Marktes ausgesetzt. Die ganzheitliche Form erkennt nur der Idiot erster Ordnung, der naiv Verliebte, der vom Wert des Verliebtseins keine Ahnung hat, der keine Definitionen seiner Zustände kennt. Nur dieser Idiotypus lebt eine Liebe, die im nächsten Moment von einem Auto erfasst werden kann oder, vom höchsten Gefühl bemächtigt, sich in der Dunkelheit der Nacht versteckt. Wie schreibt Trakl: „Der Idiot spricht dunklen Sinns ein Wort | Der Liebe, das im schwarzen Busch verhallt“. Da kommt nichts mehr zurück. Sexuelles Apriori – Wird sich in einer Idiokratie einst die kantsche Formel umdichten lassen zu: „Die Onanie begleitet alle meine Vorstellungen“? Man kann die Selbstbefriedigung als ontologische Praxis verstehen, die jeder Lust vorausgeht – für wen onaniert man schließlich als für sich selbst? Eine Benefizveranstaltung mit prominenten Selbstbefriedigern wäre zwar vorstellbar, aber wohl selbst in einem Land, das den Kinofilm Der Wixxer (2004) hervorgebracht hat, schwer vermittelbar – auch wenn z.B. Promi-Benefiz die Anmutung von Selbstbefriedigung hat: Es befriedigt einen mehr, den anderen zu helfen, als es die anderen befriedigt, die Hilfe zu bekommen. Ferner: Das Selbstbefriedigen funktioniert, weil es präflexiv ist – ein sexuelles Apriori. Es zu wollen und zugleich keine Lust darauf haben, geht irgendwie nicht, und wer sich dabei von außen vorstellt, wie er es sich macht, lässt sofort davon ab – außer man ist, wie die heutigen Incels („unfreiwilliges Zölibat“), dazu verdammt, weiterzumachen, nachdem man einmal die schwarze Pille des männlich-sozialen Versagens geschluckt hat. Die Pillenmetaphorik der enttäuschten Nerds, die vom Film The Matrix herrührt, ist politisch relevant: Die blaue Pille steht für die ideologische Illusion, die rote Pille steht für die Welt, wie sie wirklich ist, die schwarze Pille steht für eine illusorische Welt, in der man sich keine Illusionen machen kann, in der man also als Einzelgänger jede Hoffnung verloren hat und der Blick nach innen zu wandern beginnt. Es ist der Punkt, an dem Selbstbefriedigung die Form extremer Asozialität und auch mörderischer Gewalt annimmt, der Punkt, an dem Onanie und Macht deckungsgleich werden.
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Onanologie – An dem mythisch-etymologischen Ursprung der Ménage à un steht die Verweigerung einer göttlich auferlegten Pflicht: Juda hat zwei Söhne, Er und Onan. Er stirbt, und Juda fordert Onan auf, die Frau Ers, Tamar, zu schwängern, um seinem Bruder Nachkommen zu ermöglichen. Es geht um den dynastischen Strang, den Bezug zur Urfamilie, den Bezug zu Gott. Aber Onan verweigert sich dem Strang: „Onan wusste also, dass die Nachkommen nicht ihm gehören würden. Sooft er zur Frau seines Bruders ging, ließ er den Samen zur Erde fallen und verderben, um seinem Bruder Nachkommen vorzuenthalten. Was er tat, missfiel dem Herrn und so ließ er auch ihn sterben“ (1. Moses 38). Wie auch immer man die Sanktion deutet – ob als sexuelle Regulierung oder als Stammespolitik (ich sehe eher eine sexuell konnotierte Stammespolitik), die Onanie erscheint als anarchische Verweigerung, als Mittel, das seinen eigenen Zweck dem göttlichen Zweck vorzieht. Mit Lacan ist das eigene Begehren allein das Begehren des anderen, ‚spricht‘ mit der Sprache des anderen. Onan entdeckt mit seiner spermischen Revolte, dass er sich selbst gegen die Erfüllung eines anderen Begehrens befriedigen und den Reproduktionszyklus unterbrechen kann. Das ist denn auch der idiokratische Aspekt der heutigen Beziehungsdebatten, an dem sich der Grundwiderspruch von Produktion und Reproduktion festmacht. Der Rückgang der Geburtenraten in den industriellen Ländern ist ein Anzeichen dafür, wie millionenfach die Reproduktionspflicht zugunsten der onanischen Selbstsorge unterlaufen wird: „Der Kapitalismus weiß nicht, wie man Reproduzenten produziert“ (Illouz), obwohl die Reproduktion der Produktionsbedingungen seine Kernkompetenz ausmacht. Selbstzweck subvertiert Selbstzweck. Seedbed – Die öffentliche Sanktionierung der Selbstbefriedigung durch höhere Autoritäten – von der Kirche bis zu Erziehungsanstalten – hat in der Onanformel ihren Ursprung. Sie setzt sich in der Moderne fort. Im 19. Jahrhundert wurde exzessives Onanieren als Geisteskrankheit diagnostiziert und in die Pathologie des klinischen Idioten verfrachtet: Der Idiot onaniert, weil er, obschon selbstlos, zugleich keinen Außenbezug aufbauen kann. Seine sinnlosen Ausschüttungen sind gewissermaßen 261
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der Null-Ausdruck der Existenz. Mit der zunehmenden ‚Individualisierung‘ nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich der sexuellen Revolution wurde die Onanie zum öffentlichen Politikum und schließlich zur künstlerischen Ausdrucksform. Emblematisch ist hierfür nicht nur die Selbstverständlichkeit, mit der sich einst Jim Morrison auf der Bühne an sich verging, sondern vor allem sublime Akte, wie beispielsweise die Aktion „Kunst und Revolution“ im Juni 1968, als die Wiener Aktionisten im Gebäude der Wiener Universität marodierten und masturbierten, während Oswald Wiener eine Rede über das Verhältnis von Sprache und Denken hielt. Oder die Installation Seedbed (1972) des italoamerikanischen Künstlers Vito Acconci. Während Besucher oben durch die Ausstellung schritten, lag Acconci unter einer hölzernen Rampe und onanierte. Das zeigte offensiv die Tatsache an, dass überhaupt Kunst zu machen, eine Form der Onanie ist. Für wen macht man Kunst als zuallererst für sich? Wer ist befriedigt, wenn das Werk gelingt, wenn nicht zuallererst man selbst? Wem stellt man seine Werke zuerst aus, wenn nicht zuallererst sich selbst? Wer ist der erste vernichtende Kritiker, wenn nicht zuallererst man selbst? Wer ist der größte Verehrer der eigenen Genialität, wenn nicht zuallererst man selbst? Und erneut: Welchen Zweck erfüllt ein Werk außer den Selbstzweck? In Leben ohne Poesie (1972) schreibt Handke: | Ich lebte in den Tag hinein und zum Tag hinaus | hatte Augen für nichts | Ich beneidete auch niemanden um seine Tätigkeit | nicht aus Faulheit | nicht aus Gleichgültigkeit | sondern weil mir mein Nichtstun im Vergleich noch | vernünftig vorkam | In meinem Stumpfsinn hatte ich mich den anderen | überlegen gefühlt | ohne daß mir das freilich half | denn obwohl ich den Zustand für ein Symptom hielt | ging es nur um mich“. Hier schließt sich ein literarischer Zirkel. Denn die universelle Idiopraxis der Kreativen findet ihren Ursprung im Kreator. Max Stirner schreibt in Der Einzige und sein Eigentum: „Gott bekümmert sich nur um's Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat sich im Auge […]. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur sich.“ Aber was soll Gott sonst tun? Onan hatte zumindest die Wahl und wählte den Selbstzweck als Selbstsorge. Dieser idios operandi hat seither den Siegeszug über die Modalitäten des menschlichen Denkens 262
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angetreten. Selbstzweck ist Trumpf. So ist die reine Vernunft nach Kant „in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt“. Er blickt in der transzendentalen Dialektik auf das „regulative Prinzip der systematischen Einheit der Welt“, indem er den selbstsorgenden Weltenurheber zur Denknotwendigkeit einer Vernunft erklärt, welche „diese systematische Einheit nicht anders denken [kann], als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kann“. Auch die etwa von Habermas abgeleitete Forderung einer Moderne, die ihre Normativität aus sich selbst generieren müsse, setzt eine gewisse onanologische Selbstsorge voraus. Dies gilt auch für die unpolitische wie die politische Ökonomie: Wie Jean-Luc Nancy schreibt, „stellt der Kapitalismus den einzigen effizienten Versuch dar, eine zweite Welt zu erschaffen […], die in sich selbst ihren eigenen Endzweck hat“. Auch „die proletarische Bewegung [ist] ihr eigenes Produkt, und dieses Produkt ist der Produzent selbst. Sie ist sich selbst ihr eigener Zweck“ (Debord). „Angesichts dessen“, schreibt George Bataille an die Adresse der Menschheit, „dass ihr über alle Ressourcen der Erde verfügt, […] solltet ihr sie aktiv verausgaben, aus keinem Grund als dem Verlangen, das ihr danach habt“. Jeder ist Zweck seiner selbst, und der Selbstzweck ist der Zweck des Guten, d.h. der Zweck Gottes. Onan ist als Randfigur der Bibel kein Verweigerer oder Deserteur, sondern die einsame Wahrheit der alles transzendierenden Welt – der lonesome rider, der abgeschossen wird, weil er das principium divinum realisiert und dabei zum Doppelgänger Gottes geworden ist. My private parts – Die Entscheidung Onans beruht auf einer persönlichen Entscheidung. Er hätte Nachkommen zeugen können, „but he has preferred not to“. Gott kann ihn richten, aber er kann die Entscheidung Onans nicht rückgängig machen. Denn der Umfang seiner Entscheidung definiert den Raum, der sich durch die Tat außerhalb der Verfügungsgewalt der höheren Macht befindet. „Was er tut oder läßt, bleibt ohne Bedeutung, hat keine Folgen, und was ihn angeht, geht niemanden sonst an“, schreibt Hannah Arendt über den Privatmenschen. Aber was tut dieser Private, dass es keine Bedeutung hat? Wie tut er sein Privates, damit 263
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es keine Bedeutung hat? Warum tut er es so, wie er es tut? Tut er es so wie alle anderen auch? Die „Alleinstellungsmerkmale“ im heutigen Berufsleben täuschen Privatheit nur vor, die längst in Zielgruppen, Data und Strata aufgeschlüsselt ist. Wer auf sich zugeschusterte Werbung erhält, hat kein Privatleben mehr, aber auch wer überhaupt keine öffentlichen Signale empfängt, hat kein Privatleben mehr. Paradox taucht der Privatier immer wieder ins Licht der Öffentlichkeit, da es ein Spannungs verhältnis zwischen der Geschichte der Einzigartigkeit, dem principium individuationis und der politischen Ökonomie der Individualisierung gibt, die nach Adorno für einen regressiven Individualismus steht. Dieser bürgerliche Individualismus ist eine Folge der Institutionalisierung von Privatperson und Privatsphäre, während das Geheimnis des Einzelnen vorprivat ist, weil es nicht nur niemanden etwas angeht, sondern auch, weil es niemanden etwas angehen kann. Der Individuationsprozess wiederum spielt sich weder allein in der heimischen Sphäre noch in der Öffentlichkeit ab. Das Idiosynkratische daran kann niemanden etwas angehen, weil es in gewissem Sinne alle zugleich angeht. Onan kann heimlich entscheiden, aber er kann die Entscheidung nicht verheimlichen. Seine Selbstbefriedigung zieht er nicht aus der Heimlichkeit, sondern aus der Offensichtlichkeit seiner Verweigerung. Das Private des Privaten – Heutzutage wird die Privatsphäre vor allem dann zum ‚un-heimlichen‘ Politikum, wenn sie verletzt wird, etwa im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung oder die NSA-Affäre, die ein globales Überwachungssystem zutage brachte. Eine gänzlich andere Vorstellung wird angesprochen, wenn es um Idiosynkrasien geht, die prinzipiell folgenlos sind. Hier ist nicht die Politik des Privaten, sondern das Private des Privaten angesprochen. Dieses Private des Privaten kann gar nicht geschützt oder verletzt werden, denn es ist kein Gegenstand einer öffentlichen Verhandlung über seine Legitimität. Deshalb kann es öffentlich ausgeplaudert werden, und deshalb ist es zugleich generisch, einzigartiges Datum und Common. Sobald hingegen etwas zu Meinem wird, ist es potenziell auch das eines anderen, denn überall, wo Heimlichkeit vermutet wird, definieren sich (neu)gierige Nachbarn. Aber wo geheimnis264
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los gedacht wird, da gibt es auch nichts zu spionieren. Dadurch entsteht das Rätsel dieses Geheimnislosen, das den ersten Horizont des Idioten auftut. Dies lässt sich gut am Beispiel der Savant-Kunst i llustrieren: „Die verblüffende oder rätselhafte Wirkung von beispielsweise Adolf Wölflis riesiger epischer und kosmischer Autobiographie Von der Wiege bis zum Graab trägt zur Wahrnehmung bei, dass ein solches Werk, auch wenn es sich scheinbar an ein Publikum richtet, eine hartnäckige Dimension der Geheimhaltung an sich hat. Aber das sind keine ‚privaten Welten‘ in irgendeinem einfachen Sinne, denn sie enthalten erkennbare Bezüge zur Außenwelt […]; vielmehr geben sie die vertrauten Bilder der uns bekannten Welt in seltsamer, fantastischer Form wieder“ (Maclagan). Das Rätsel des Idioten tritt dort zutage, wo er als höheres Individuum erscheint, wo seine idiosynkratischen Impulse mit den sozialen identisch werden und dies offen, aber zugleich in geheimnisvoller Weise geschieht. Die Gedanken sind frei… – Der Gesang von der Freiheit unserer inneren Geschichten will bedeuten, dass sie von der unsichtbaren Hand von Markt und Macht nicht belangt werden können. Wenn der Gesang Sinn machen soll, dann bedeutet die Freiheit auch: Frei von mir selbst, daher mein Privat-Privates und insofern basal Idiotisches, anderen gegenüber Offenes und zugleich Rätselhaftes, nicht Sanktionierbares. Das meint wohl Wittgenstein, wenn er feststellt: „Was wesentlich privat ist, hat keinen Besitzer“. Und darauf bezieht sich auch Žižek, wenn er einmal süffisant davon spricht, dass Behörden nichts über ihn erfahren könnten, selbst wenn sie alle seine Texte und Korrespondenzen einsähen („Vielleicht lernen sie dabei etwas“). Das Un-heimliche bzw. wesentlich Private steht nicht einfach wie ein Auto in einer Garage, das man stehlen kann, sondern es entsteht im Prozess der Individualisierung, die simultan eine Form des Ich und Wir abbildet. Und eine Form lässt sich nicht sanktionieren. Wittgenstein trieb die Frage der Idiosynkrasie schon früh um: Bertrand Russell erzählt in einem Interview von seinem ersten Treffen mit dem jungen Studenten Ludwig, als dieser dabei war, sich zwischen einer Ingenieurskarriere und dem Philosophiestudium zu entscheiden. Wittgenstein grübelte darüber nach, welche Entscheidung ihn als k ompletten Idioten („total 265
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idiot“) entlarven würde. Nachdem Wittgenstein eine Arbeitsprobe vorlegte, bestätigte Russell ihm, dass er kein Idiot und somit fürs Philosophiestudium geeignet sei. Welch ein Trugschluss. Atop – In seiner Verteidigungsrede vor dem Athener Volksgericht, wo er 399 v. Chr. wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend angeklagt wurde, begründet Sokrates, warum er von Tür zu Tür schlendert, um in kleinen elitären Zirkeln seine Lehre zu verbreiten, anstatt sich öffentlich zu engagieren. Er erzählt, dass er für kurze Zeit ein öffentliches Amt innegehabt habe, was ihm aber gehörigen Ärger einbracht habe und er um ein Haar hingerichtet worden wäre. Ferner erzählt er von einer göttlichen Stimme, die ihm seit seiner Kindheit immer wieder abgeraten habe, sich politisch zu engagieren. Die politische Klasse sei korrupt. Deshalb könne kein Mensch überleben, der sich ihr öffentlich widersetze und Unrecht zu verhindern suche. Notwendig muss also, „wer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, […] ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches.“ Sokrates muss praktisch von der Gesellschaft abstrahieren, behält diese aber theoretisch im Visier. Platon nennt ihn daher nicht idiotes, sondern atopos. Das ist jemand, der überall, wo er privat ist, am rechten Platz ist, und überall, wo er öffentlich ist, fehl am Platz ist. Er ist nicht utopos, d.h. ortlos, sondern er passt politisch nicht hin, egal wo er ist. Man darf sich mit Sokrates einerseits nicht in das tägliche politische Geschäft einmischen, um einen universellen Überblick zu bewahren. Andererseits nützt die allgemeine Aktivität nichts, wenn sie sich nicht in anderer Leute Dinge einmischt. „Das einzige, was sich verantworten läßt“, schreibt Adorno in den Minima Moralia, „ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es […] die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.“ Der Atop ist jemand, der diesen Widerspruch in seiner Person manifestiert, der aber zugleich universelle Geltung einfordert. Gemeinschaftliches Wissen ist öffentlich verhandelbar, aber nicht appropriierbar. Ironischerweise wird Sokrates gerade deswegen zum Tode verurteilt: Weil er die impliziten Regeln der Eigentumsverhältnisse 266
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bricht. Sokrates hat kein Geheimnis, weil er prinzipiell nichts hat – außer den autosubversiven Antrieb, den Umfang seines Wissens verstehen zu wollen. Sokrates’ Anspruch tritt im grundsätzlichen Verzicht auf Eigenes zutage. Der Atop steht in einem Spannungsverhältnis zum idiotes, zur Privatperson, und dieses Spannungsverhältnis besteht auch heute noch, wenn wir akzeptieren, dass es überhaupt so etwas wie eine fundamentale Idiosynkrasie oder Idioten erster Ordnung geben kann. Denn davon gehen Wittgenstein und wohl alle Philosophen mit einem Faible fürs Un-heimliche aus. Vorprivat – Die Privatsphäre des antiken idiotes ist nicht mit der heutigen vergleichbar, denn der neue Idiot zielt auf eine ebenso gesellschaftliche wie epistemologische Kategorie. Im Gegensatz zum traditionellen Privatier kann sich das frenetische Subjekt in alle Himmelsrichtungen veräußern, kann sein Intimstes verkaufen, sich auf jeder Bühne präsentieren. Es ist un-heimlich, aber auch ohne Rätsel. Der Atop ist der Form nach Idiot, dem Gehalt nach ein Common, ein unvölkisches Wir. In ihm drückt sich etwas Gemeinsames aus, das sich wiederum mit seiner Idiosynkrasie deckt – das role model eines Individuums. Der Idiot des ersten Horizontes hingegen ist kein Individuum, sondern das role model eines Dividuums. Denn er ist so, wie er gerade ist und als solcher nicht identifizierbar, unvergleichlich und zugleich gleich. Es herrscht also ein Spannungsverhältnis zwischen den gesellschaftlich vermittelten Weisen der Selbstpraxis: Dividualsphäre ⇔ Individualsphäre ⇔ Privatsphäre
Die Privatsphäre steht für die Abschottung des antiken idiotes, der mit seinem Verhalten und seinen Dingen alles (Des-)Interesse auf sich zieht. Die Dividualsphäre steht für das Open-Source-Subjekt, das un-heimlich, d.h. offen und zugleich rätselhaft ist. Die Individualsphäre steht für die Vermittlung zwischen völliger Abschottung und völliger Offenbarung. In der liberalstaatlichen Öffentlichkeit dominiert die Idealisierung der Privatsphäre, was wiederum zur Inflation ihrer Verletzbarkeit führt. Das erklärt frenetische Empörungsmuster im öffentlichen Diskurs, die 267
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von Shitstorms und Hypes befeuert werden. Die Grenzen des Privatiers werden wie die Gärten von Kleinbürgern mit aller Macht gehegt und gepflegt. Individuell ist daran nichts. Die Alarmanlage, der Wachhund, das Verbotsschild oder das Passwort sind Embleme dieser ökonomisierten Verletzbarkeit. Was andererseits nicht privat, sondern idiosynkratisch ist, kann man gar nicht beschützen, es hat keinen Markt, hat keinen Garten, sondern nur Wildnis. Keine Vorsichtsmaßnahme nützt dem Idioten, weil der Idiot selbst die Gefahr ist, weil er qua bloße Existenz das Wertgesetz hintertreibt. Eine Gefahr kann man nicht beschützen. Das ‚Private‘ des Idioten liegt wie der entwendete Brief bei Edgar Allan Poe offen aus und würde von einem Dieb keines Blickes gewürdigt, denn es ist zu auffällig oder eben selbst diebisch oder ordinär in der Anmutung. Ein Dieb klaut nicht etwas, das ihn bestiehlt. Das Ordinäre ist anregend, aber uninteressant. Ein Open-Source-Code verschließt sich dem öffentlichen Interesse, da er mit ihm deckungsgleich ist. Es wäre idiotisch, einen Open-SourceCode knacken zu wollen. Das heißt aber auch: Jemand, der so etwas tut, ist prinzipiell unschuldig.
Unzugänglich – Idiotypen erster Ordnung haben in gewissem Sinne ein apokalyptisches Szenario innerlich abgefahren. Sie sehen keine Schilder, keine Häuser, keine Wände, sondern nur eine weite Ebene, auf der sich die Dinge und Wesen aufreihen. Jegliches Mittel zwischen diesen Dingen und Wesen erscheint abstrakt. Ein Geldschein wird zum bedruckten Fetzen, der keine Funktion mehr hat. Ein Schild wird zum Gemälde, 268
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ein Monitor zu unzusammenhängenden Leuchtpunkten. Auf dieser Betrachtungsebene gibt es keine Geheimnisse. Statusfragen gehen die Un-Heimlichen nichts an. Die Entstehung einer Privatsphäre bedeutet auf dieser Ebene: Ein Idiot hat sich nützlich gemacht. Merkwürdige Tyrannei – Anders verhält es sich, wenn die Macht des Privatiers idiosynkratisch wird, wenn der Idiot nicht als nützlicher auftritt, sondern sein privates Privates Bewegungsmoment einer apokalyptischen Seinsweise wird, einer merkwürdigen Tyrannei, die nur sich selbst zum Gegenstand hat, die Privatsphäre nicht abgeschafft, sondern im Idiotypus des Einzigen aufgehoben ist, in der apokalyptischen Vernunft als radikalster Vereinigung von Selbst und Selbst-Sabotage besteht. Die kleinen alltäglichen Tyrannen und die großen nicht alltäglichen haben gemein, dass sie alles Interesse in der Figur dieses Einzigen aufheben.
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DER EINZIGE
Allein es ist klar, dass der Staat, je mehr er vorschreitet und zu einer Einheit wird, kein Staat mehr bleiben wird. Denn er ist von Natur eine Menge von Menschen und ist er also mehr eine Einheit geworden, so wird er aus einem Staate eine Hauswirthschaft und aus der Hauswirthschaft ein einzelner Mensch werden. Aristoteles, Politeia [paranoisch interpretiert]
Gewissheit – Die meisten Momente ziehen bedeutungslos an einem vorbei. Massenware. Doch manche Momente sagen etwas über alle anderen Momente. Das Privatvideo eines Black-Friday-Schlussverkaufs in einem britischen Einkaufszentrum zeigt tumultartige Szenen. Es wird geschrien, gefuchtelt. Dampfende Menschenklumpen bewegen sich durchs Bild. Zwei Männer zerren an einem Produktkarton. Ohne von ihm abzulassen, bewegen sie sich in Richtung Kasse. Zwei Frauen reißen sich um einen Einkaufswagen, eine dritte Frau tanzt im Verbund mit, schlägt mit ihrer Tasche auf die anderen ein. Der Kamerablick erfasst einen Mann, der sich gerade einen Plasmafernseher geschnappt hat. Ein Jäger mit erlegter Beute. Für einen Moment zeigt sich in ihm der Schlund aller. Es geht um diesen Moment, etwas für sich ergattert zu haben, das, was man im kindischen Ausdruck „Meins!“ zusammenfassen kann. Was diesen Urmoment des Meinen auszeichnet, ist die Gewissheit, der Einzige zu sein, der ihn erlebt. Zygmunt Bauman beschreibt den Kaufmoment als „Exorzismus der Alpträume“, eine Praxis, die ein endgültiges Gefühl der Sicherheit erzeugen möchte. Dieser Exorzismus ist jedoch nur ein Aspekt, denn erst, wenn man alle anderen überwunden hat, wenn das Ding also endgültig meines und unmöglich deins werden kann, kann ich mir meiner Sache absolut sicher sein. Aus der Meinsgewissheit entspringt 271
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die Seinsgewissheit. Bei Kafka heißt es zwar: „Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein“, doch im Seinsverlangen verkehrt sich das Interesse für das Objekt in ein Desinteresse und dieses wiederum in das Meine – der einzig übrig gebliebenen Form der Gewissheit. Ich mag nicht wissen, ob es einen Gott gibt, wie das Universum entstanden oder was der Sinn des Lebens ist, doch ich weiß, was Meins ist. Der Erste und der Letzte – Thomas Hobbes’ Rechtfertigung des Absolutismus bestand darin, dass durch die Machtübertragung der Vielen an den Einen der Kampf aller gegen alle aufgehoben würde. Das war die deduktive Verfassung des Leviathan, die von einem Grundprinzip ausging, das sich zur prästabilierten Ordnung fügen sollte. Die nachrevolutionäre, bürgerliche Souveränitätsordnung synthetisierte das Prinzip im Konzept des Volkes, das, wie Paolo Virno schreibt, „das Resultat einer zentripedalen Bewegung [ist]: von den atomisierten Individuen hin zur Einheit des ‚politischen Körpers‘, zur Souveränität“. In der Spätmoderne findet eine Umkehrung des Souveränitätsprinzips statt, das nun mit dem von Spinoza herrührenden Begriff der Multitude beschrieben werden kann. Diese steht dem Begriff des Volkes entgegen, denn: „Die Multitude […] ist das Resultat einer zentrifugalen Bewegung: vom Einen zu den Vielen.“ Dieses Eine ist nicht Rousseaus volonté générale, sondern entspricht gemäß Virno dem marxschen Begriff des General Intellect, d.h. einer vorindividuellen Öffentlichkeit, zu der jeder Mensch kraft seines Menschseins beiträgt: „Die Einheit, von der die Multitude ausgeht, konstituiert sich durch die ‚Gemeinplätze‘ des Bewusstseins, durch die sprachlich-kognitiven Vermögen, die der menschlichen Spezies gemein sind“ (Virno). Dieses Vermögen eint uns Menschen, ist das Eine, das sich in uns Vielen abspielt, so feindlich wir auch gegeneinander gestimmt sind. Die idiokratische Trajektorie bestimmt nun allerdings, dass die Aushebelung des zentripedalen Souveränitätsprinzips in einer Art ‚Zentrifuge‘ der Vielen mündet. „Wenn der General Intellect […] nicht zur […] politischen Gemeinschaft wird, vervielfältigt er ungebremst Formen der Unterdrückung“ (Virno). Virno nennt es das 272
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„Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit“ – im Sinne einer fundamentalen Entblößung bzw. Idiotisierung des Einzelnen, in dem sich das Eine der Multitude verkörpert. Beim hobbesschen Leviathan geht es um den Ersten. Eine Idiokratie handelt vom Letzten. In ihr erzeugt der zentrifugale Kampf aller gegen alle die ‚Ordnung‘, und der Souverän ist dann jemand (oder etwas), der als Letzter und somit Einziger aus der Multitude hervorgeht. Es ist ein absurder Monarch oder Postmonarch, wenn man so will, denn was soll der Letzte mit sich anstellen, wenn er alle anderen überlebt hat? Was auch immer er anstellt, es wird die Anmutung des Onanischen haben. Der absolutistische Monarch konnte sich durch Krieg oder Vermählung das Territorium eines anderen Monarchen vornehmen. Nicht so der postmonarchische Einzige. Er ist der Letzte und hat schon alles, was man haben kann, und ist alles, was man sein kann – fast so wie die Entität AC in Asimovs The Last Question, die nach Billionen von Jahren das Menschheitsrätsel über die Umkehrung der Entropie löst. Doch am Ende „gab es keinen Menschen mehr, dem AC die Antwort auf die letzte Frage mitteilen konnte“. Die idiokratische Multitude, die alles Gemeinsame aufhebt, mündet analog in einem imaginären Omegapunkt der Ökonomie. Was etwa Frank Tipler, Hans Moravec oder Robert Nozick zu metaphysischen Denkfiguren des Endzwecks der Menschheit ausformuliert haben, findet sich hier in der Verkörperung des ‚Meinen‘ als Einzigem wieder. Im frenetischen Käufer ist dieser apokalyptische Postmonarch, bestimmt durch seinen Willen zum Absurden, zigfach vorweggenommen – wie Bataille schreibt: „das Verlangen ist in euch, und es ist lebhaft; ihr werdet es nie vom Menschen trennen können“. Endverbraucher – Der Idiotypus des Einzigen tritt in der Ausschließlichkeit ins Licht, in der jemand seinen Anspruch behauptet, in der Zirkelhaftigkeit von irrem Subjekt und irrem Objekt – im obigen Bild: das Einverleiben der Beute als Ur-Aussage des Organismus, der seinerseits aus sich gegenseitig ‚anverleibenden‘ Organen besteht. Denn dann ist dieses Ur-Eigentum des Einzigen, das sich durch das Ding ins wahn-sinnige Hirn frisst, nicht mehr etwas außer mir, sondern wird ein Aspekt eines 273
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fetischisierten Selbst, das sich in vorgeschichtlichen Zeiten anders zeigt als zur Zeit der Industrialisierung oder in den lichtdurchfluteten Büroräumen der postfordistischen Ökonomie. Wenn im 19. Jahrhundert mit Marx die Arbeitskraft zur Ware geworden ist, so ist im 21. Jahrhundert auch der private Raum und die private Zeit in der Projektion des Einzigen verdinglicht. Dies verdeutlicht sich etwa in Robert Nozicks libertärer Phantasie des Minarchismus, in dem der Einzelne Endzweck und Privateigentum seines Selbst wird. Das ist zugleich auch, was Guy Debord mit seiner 66. These in der Gesellschaft des Spektakels formuliert: „Jede bestimmte Ware kämpft für sich selbst, kann die anderen nicht anerkennen, will sich überall durchsetzen, als ob sie die einzige wäre.“ Debord schreibt vom „Zur-Ware-Werden der Welt“ und davon, dass „die Warenform auf ihre absolute Verwirklichung zugeht.“ Darauf bezieht sich auch Shoshana Zuboff, wenn sie von der „Warenwerdung der Wirklichkeit“ spricht, zum Zwecke transformativer Verhaltensökonomien und Profitfelder. Diese ‚Verwirklichung der Wirklichkeit‘ ist die Verwirklichung des Einzelnen im Einzigen und des Einzigen in seinem Eigentum. Der idiokratische Einzige ist weder der existenzialistische Einzige Martin Heideggers, der dem Man seine Eigentlichkeit entgegenschleudert, noch ist es der politische Hedonist Michel Onfrays oder der esoterische Kyniker Peter Sloterdijks, der sich „in Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie und Gelächter, Kreativität und Verantwortung, Meditation und Extase“ vom Sein zum Tode entkrampft. Der Einzige-als-Eigentum ist die letztmögliche herunterbrechende Einfachheit einer apokalyptischen Selbstumarmung, deren Freiheitsmoment gewiss, aber unbestimmt ist. Eine Wildheit an sich. Deren Freiheit liegt nicht außerhalb des Produktkartons, sondern entspringt der Umarmung. Und der Kampf des Produktes um das Produkt ist die Existenzform einer Endzeit, die „die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert“ (Zuboff). Wie Silicon-Valley-Größen seit Jahren unverhohlen signalisieren, sind Endverbraucher in der Social-Media- und Sharing-Economy längst zum ultimativen Produkt aufgestiegen, sind Teil des selbstverwertenden automatischen Subjekts, das den üblichen Akkumulationsprin274
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zipien, der Computational Economy und den Zugriffen der Soziophysik unterliegt. Wie der CTO eines Technologiegiganten einmal prognostizierte, werden innerhalb weniger Jahre Personendaten („people data“) 90% des gesamten Datenbestands der Erde ausmachen. Wenn man sich zudem die rasante Entwicklung bei Mensch-Maschine-Interfaces (etwa Arm- oder Sprachsteuerung durch Gehirnimpulse) vergegenwärtigt, bekommt der profane Ausdruck Endverbraucher etwas Apokalyptisches, das auf die mögliche technologische Singularität hinweist. Die instrumentelle Vernunft führt im Zusammenspiel mit Technologie und Big Data zu Hoffnungs- oder Horrorszenarien, die nicht immer voneinander zu unterscheiden sind. Man muss aber gar nicht in Richtung Zukunft beschleunigen, denn der letzte Käufer auf Erden ist schon jetzt das andere Ende des Schöpfers. Überall, wo Schlussverkauf herrscht, wird ein neuer Gott geboren. Endkampf – Constantin Costa Gavras erzählt in Le Couperet (2005), einer Adaption des Romans The Ax von Donald E. Westlake, von Bruno, einem arbeitslosen Manager, der nach etlichen erfolglosen Bewerbungen nicht mehr willens ist, die Rolle des Verlierers zu spielen. Als ein Posten beim Unternehmen Arcadia frei wird und Bruno an die Liste der Mitbewerber kommt, entschließt er sich, sämtliche Konkurrenten zu töten, um als einziger Bewerber übrig zu bleiben und die Stelle zu bekommen. Zwar zweifelt Bruno immer wieder an seinem Vorhaben, aber Zufälle und Umstände drängen ihn dazu, seinen Plan durchzuziehen. Bruno wird zum bürgerlichen Terroristen und fühlt sich dazu ethisch legitimiert, denn in seiner Berufswelt existieren keine niederen Beweggründe mehr. Die Toten sind lediglich der Kollateralschaden der allgemeinen ökonomischen Mobilmachung. Nachdem alle Konkurrenten beseitigt sind, erhält Bruno den Job. Aufgrund glücklicher Umstände kommt ihm die Polizei nicht auf die Spur. Am Schluss des Films gerät er selbst auf die Abschussliste einer Konkurrentin, die sich seine Stelle vorgenommen hat. Bruno schwant, dass er nur Teil eines übergeordneten Marktkreislaufs ist, der den Naturkreislauf ersetzt hat. Mit dieser Mutmaßung endet der Film. Wie schreibt 275
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Adorno: „Auf die paranoide Phantasie spricht etwas in der Realität an, die von jener verbogen wird.“ Es geht in der Einzigwerdung Brunos um die Überspitzung des strategischen Gewissens: Wie weit ich auch gehe, um meine Ziele zu erreichen, ich muss immer davon ausgehen, dass mir andere zuvorkommen werden. Es genügt nicht, dass ich smarter als andere bin. Ich muss alle beseitigen. Planetarisch multipliziert: Um der letzte Überlebende zu sein, schließt der zahllose Einzelne einen Teufelspakt mit seinem Gewissen und nimmt dabei den Untergang aller, inklusive seiner selbst, in Kauf. Wie schreibt Nietzsche in einem anarchistischen Kapitel des Zarathustra: „Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern über einander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe. | Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, – als ob das Glück auf dem Throne säße!“ Nietzsche nennt diese Affen auch „die Überflüssigen“. Der Einzige will sich von der Überflüssigenmeute absetzen, obwohl (und gerade weil) dies seinen Untergang bedeutet und Teil seiner Überflüssigwerdung ist. Der idiokratische Leviathan entspricht hier mit Günther Anders dem letzten Herostraten, der die Doomsday Machine anwirft: „[D]ie Wirkung, die er erzielen würde, würde mit seinem Ziele keine Ähnlichkeit mehr haben. Was eintreten würde, wäre nicht, daß der Weg im Ziel bzw. das Mittel im Zweck aufginge, sondern umgekehrt, daß der Zweck in der Wirkung des angeblichen ‚Mittels‘ sein Ende fände“. Dieser apokalyptische Moment durchwaltet das alltägliche wie auch das totalitäre Begehren. Man denke etwa an Hitlers eigentliches ‚politisches Testament‘, einen Nebensatz in der Wolfsschanze 1941: „[W]enn das deutsche Volk nicht bereit ist, für seine Selbsterhaltung sich einzusetzen, gut: Dann soll es verschwinden!“ Der selbstaufhebende Impuls des Einzigen wird sich auch im überlebenden Volk fortsetzen, die Rasse ist nur ein Alibi, denn gerade die Rasse ist führerlos, vollzieht sich als biopolitischer Organismus, züchtet sich selbst, wie Gottfried Benn 1933 noch hoffnungsvoll anstimmt. Der Wille zur Macht erscheint als Antrieb des Einzigen, sich aus der idiotischen Rasse hervorzuheben, es vor allen anderen zu schaffen, den rettenden Hügel zu erklimmen. Die Frage, was man dann a lleine dort machen wird, ist eine Frage, die niemals auftauchen wird, 276
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so wie auch die Frage, was nach dem Endsieg folgen wird, nicht auftaucht, weil der Untergang mit eingerechnet ist. Auch der Kampf ums Gerät auf den Fluren der Mall kann schließlich niemals mit der späteren Nutzung aufgewogen werden. Der Einzige ist die Synthese dessen, was Bataille als Dichotomie von kapitalistischer Ökonomie (Akkumulation) und einer „Ökonomie des Festes“ (Vergeudung) herauszeichnete: die Aufhebung des Kapitalismus im Exzess des Einzigen und die Aufhebung des Einzigen im Exzess des Nichts. Einverleiben – Der Einzige ist nach Elias Canetti die paranoische Trajektorie der Macht. Wie er in Masse und Macht betont, „ist die tiefste Tendenz in jedem ‚idealen’ Machthaber, als der letzte am Leben zu bleiben.“ Canetti analysiert die Aufzeichnungen des berühmten Paranoikers Schreber (dem formulierfreudigen Vorzeigeparanoiker des damaligen Wissensbetriebs) und sieht im Einzigen die ‚Gesundheit der Macht‘ aufblitzen. Dieser Idiotypus verfügt über drei aufeinanderfolgende Aufrichtigkeiten. Erstens: Ich überlebe dich. Zweitens: Ich trauere um dich. Drittens: Ich vergesse dich. Wie der Anti-Held und Normalo Bruno ist Canettis Idiotypus des Machthabers nicht wahnsinnig, sondern wahnmächtig. Denn „hinter jeder Paranoia wie auch hinter jeder Macht [steckt] dieselbe tiefere Tendenz […]: Der Wunsch, die anderen aus dem Wege zu räumen, damit man der einzige sei, oder, in der milderen und häufig zugegebenen Form, der Wunsch, sich der anderen zu bedienen, dass man mit ihrer Hilfe der einzige werde“ (Canetti). Es drängt sich hier die bekannte Serie von Fotomanipulationen aus der Sowjetära auf, die Stalin in seiner Anfangszeit mit Gefolge zeigt. Im Laufe der Jahre und mit jeder Retusche werden die in Ungnade gefallenen Gefolgsleute aus dem Foto retuschiert, bis der Machthaber am Ende als Einziger übrig bleibt. Was wie ein Schema der ökonomischen Monopolisierung anmutet, ist zugleich das paranoische Daumenkino des Einzigen. Denn es geht hier um die in jeder Einzigwerdung steckende Tendenz zur Totalität.
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Twitter, Google, Amazon, Yahoo
Google, Amazon, Yahoo
Google, Amazon
Google
Ob politisch, ob technologisch begründet, die instrumentelle Vernunft strebt die Aufhebung der Vielen im Einen an. Das gilt heute insbesondere für Big-Data- oder Social-Media-Giganten: „Der Instrumentarismus sucht die Totalität als Bedingung der Marktbeherrschung; […] Ergebnis dieser Anwendung von instrumentärer Macht ist die gesellschaftliche Optimierung um überwachungskapitalistischer Marktziele willen: ein Utopia der Gewissheit“ (Zuboff). Der optimistische Technokommunismus von Ray Kurzweil findet dabei nolens volens in der IT-Avantgarde von Google & Co eine neobolschewistische Kontroll instanz, den Staatsapparat, den heute jeder in seiner Hand hält. Aber auch das altbolschewistische Hauptwort ist Meins, das im Gewand des Unseren auftritt. Stalin-Meins lässt seine Konkurrenten beseitigen, aber mit gleicher Berechtigung kann man behaupten, dass er sie in der instrumentellen Vernunft seines Körpers aufgehen lässt – der einzige Körper, der am Ende als corpus monstrosum übrig bleibt als „Herr der Welt, der sich auf diese Weise die absolute Person ist, für deren Bewußtsein kein höherer Geist existiert“ (Debord). Das ist Zuboffs Überwachungskapitalismus in Reinform (wenn man übliche Totalitarismusklischees vermeidet), denn auch er kennt in letzter Perspektive keine Transzendenz außerhalb seines Instrumentariums. In dem Aufgehen im Einen steckt die Religiosität jedes Endzeitsystems, für das gilt, was Christopher Lasch in The Minimal Self über Paranoia schreibt, dass diese nämlich „als Ersatz 278
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für Religion dient, weil sie die Illusion ermöglicht, dass Geschichte einem inneren Prinzip der Rationalität unterliegt“. Das folgt gemäß Lasch aus der Lektüre von Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, in dem Slothorp den Wahnsinn als Phänomen beschreibt, in dem nichts mehr zueinander passt, d.h. eine Art „Anti-Paranoia“. Paranoia wäre dann wiederum die Entdeckung, dass im Gegenzug alles mit allem verknüpft ist … Der Eigner – Der Idiotypus des Einzigen lugt ebenso aus der Literatur über Paranoiker wie aus der Religionsgeschichte hervor. Der Einzige ist heute aber eher eine ökonomische denn eine theologische Figur. Die göttliche Monologik ist in die kapitalistische übergegangen, der Monotheismus in den Monopolismus einer allgemeinen Ökonomie. Deren Trajektorie verweist auf einen absoluten Eigentumsanspruch, in dem das Besondere mit dem Allgemeinen aufgehoben wird. Diese Trajektorie begleitet Max Stirner, wenn er in seinem Hauptwerk zum Einzigen auch dessen Eigentum hinzugesellt. Der stirnersche Eigner ist jedoch eine ambivalente Figur: Er vereinnahmt mit seiner Selbst- und Weltaneignung einerseits jede Form der Transzendenz und begründet damit ein Moment postbürgerlicher Freiheit. Andererseits bildet er darin eine Radikalform des Bourgeois ab, der sich um nichts anderes als um sich selbst schert. Der philosophische Außenseiter Stirner erstrahlt dahingehend als unwahrscheinlicher Prophet des künftigen Zeitalters, wenn er schreibt: „Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!“ Stirner schattet mit der Abschattung aller zuletzt auch sich selbst ab. Sein philosophischer Ziehvater Hegel bezeichnete das als „Wegwerfen des Selbstbewusstseins“ („Das zerstörende Wühlen in diesem wesenlosen Boden gibt sich dagegen das Bewußtsein seiner Allherrschaft, aber dieses Selbst ist bloßes Verwüsten, daher nur außer sich, und vielmehr das Wegwerfen seines Selbstbewußtseins“). Im Einzigen herrscht die Verkennung als Leitmotiv des Aneignens, das reine Mein im trotzigen Kind, dem die Konsequenzen des Habens völlig unverständlich sind, das aber an das Haben glaubt: „Meine Macht ist mein Eigentum. Meine 279
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Macht gibt Mir Eigentum. Meine Macht bin Ich selbst und bin durch sie mein Eigentum.“ Das Meine eignet sich alles an und wirft sich mit diesem Aneignen weg. Das ist auch, was Stirners Begriffsperson des „Unmenschen“ ausmacht. Die Präflexe des Eigners werden in der historischen Lupe als großes Unbewusstes des Kapitals sichtbar. Der Einzige ist seine Negation, wie der Idiot-klein-a Bayers die Negation des Menschen ist. Er verlagert die Reflexion außerhalb des Ich, gebärt aber zugleich das Moment der Freiheit, in dem er sich aller Ehrfurcht, aller Moral, aller Zucht entledigt hat. Die tyrannische Seite des Einzigen ist heute dennoch leichter auszumachen als diese befreiende Seite des Eigners. Tabula rasa – Für Stirner war alle Gesellschaft bis dato eine auf verschiedenen Egoismen aufgebaute Willkür. Er erwähnt das Volk, das seine Patrioten im Vaterlandskrieg verheize und davon alleinig profitiere. Er nennt den Sultan, der so lange für die Seinen sorge, wie sie sich als die Seinen ausgäben. Alle anderen landeten im Kerker. „Und an diesen glänzenden Beispielen wollt Ihr nicht lernen, dass der Egoist am besten fährt? Ich Meinesteils nehme Mir eine Lehre daran und will, statt jenen grossen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein.“ Der Egoist benötigt die Gesellschaft, um ein Egoist zu sein, d.h. Stirners Egoist ist keiner. Sein Idiotypus findet sich bei Nietzsche als „Wille zur Macht“ übersetzt wieder, ein im Einzelnen wirkender Sozio-Instinkt. Christlicher Herdentrieb und Aristokraten-Decorum werden zu physiologischen Kategorien. Stirners Einziger steht aber noch vor aller Natur als etwas da, das Georg Simmel als eine „merkwürdige Art von Individualismus“ bezeichnete, ein gegen das „innere Jenseits“ gerichteter Atheismus, der gleichwohl einen Ich-Demiurgen entwirft: „Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muss Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner“ (Stirner). Wenn Hegel die Gedanken Gottes bei der Weltschöpfung nachvollziehen wollte, so vollzieht Stirner die Gedanken eines Paranoikers nach, der ihn zum Denken zwingt. Das bestimmt nach Deleuze & Guattari die schizophrene Begriffsperson des Einzigen: „Philosophie und Schizophrenie sind häufig zusammengebracht worden; doch in dem 280
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einen Fall ist der Schizophrene eine Begriffsperson, die im Denker lebt und ihn zum Denken zwingt […].“ Der ‚schizophrene‘ Einzige ficht in Stirner eine Art Dialektik von Herr und Herr aus. „In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren […]. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster […]. Zerstöre Ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme Ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme Ich die Welt als das, was sie Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich.“ Wenn zutrifft, was Foucault über die psychiatrische Konzeption des Wahnsinns im 19. Jahrhundert schrieb, dass nämlich der „Mensch im Wahnsinn […] in seine Wahrheit [stürzt]“, dann bestimmt umgekehrt die „Sprache des Wahnsinns“ auch das Vokabular des Philosophen. Stirners Vorhaben ist es, die einzige mögliche philosophische Position als Position des Einzigen zu reklamieren. Dabei vereinnahmt er in der Figur des Eigners alle Gesellschaftskräfte, bis ihm die Freiheit im Maule hängt – in etwa so, wie Kafka über einen Panther schreibt, der im Käfig den Hungerkünstler ablöst und „die Freiheit mit sich herumzutragen [schien]; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken“. Heilig – Nicht innere Gleichgültigkeit, sondern innere Gültigkeit zeichnet das kuriose Tier aus. Karl Marx hat sich den konsequenten Idiotismus, der im stirnerschen Werk vorliegt, vorgenommen und ihn als Irrweg der Deutschen Ideologie gedeutet. Zugleich hat Marx aber, wie die Marxforschung gezeigt hat, in dieser Auseinandersetzung entscheidende Impulse zur Ausformulierung des historischen Materialismus gefunden. Die marxsche Polemik gegen Stirner, die diesen überhaupt als geistesgeschichtliche Figur sichtbar machte, sagt mehr über Marx, als sie über Stirner zu urteilen glaubt. Statt von einer tabula rasa schreibt Marx von einer „Leerheit des Unsinns“, die Stirners Philosophie umgebe, die zuletzt nichts als untiefe Adaptation des Weltgeistgedankens sei. Marx polemisiert gegen Stirner, indem er ihn als Säulenheiligen (Sankt Max) und philosophischen Thompson behandelt, der den „spekulativen Inhalt der Geschichte weiter treibt als irgendeiner seiner Vorgänger“ (Marx). Mithilfe ihres eigenen Sarkasmus lässt sich Marx’ Diagnose wenden: Stirner 281
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hat durch seine Strukturparanoia die von Hegel praktizierte akademische Großmannssucht, dessen Weltgeist, sowie die preußische Staatsideologie so verinnerlicht, dass sie in etwas Neuem mündet, das Marx zwar erkennt, aber nicht würdigt. Denn Marx hat für die Unfreiwilligkeit, mit der das Ganze geschieht, nur ein mildes Lächeln übrig. Stirner wird aber durch seine Überidentifizierung mit dem Hegelianismus zur eigentlichen Wahrheit Hegels und – auf die Beine gestellt – auch zur Wahrheit Marxens. Nur ein Idiot besiegt sowohl David als auch Goliath, ohne dabei einen Finger zu krümmen. Wenn Marx über die Anmaßung Stirners spottet, „‚Gott‘ und ‚der Wahrheit‘ Konkurrenz zu machen“, ist der „wissenschaftliche Sozialismus“ nicht minder anmaßend. Die realen Gesetze der historischen Wirklichkeit nachzuschreiben ist in gleicher Weise philosophische Amtsanmaßung wie die Anmaßung Hegels, die Gedanken Gottes bei der Schöpfung darzustellen, oder die Anmaßung Feuerbachs, Gott in den Menschen zu verlegen. Aber: Amtsanmaßung ist philosophisch nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Seit Platon Philosophen zu Königen erklären wollte, stellt das Denken eine Amtsanmaßung da. Stirner hat nur unter all den Amtsanmaßern eine idiotypische Funktion (vergleichbar mit der Immanenzanmaßung Spinozas), weil die Anmaßung selbst zum ontologischen Programm wird. Ludwig Rubiner hob Stirners Werk deswegen als das „bedeutendste Manifest des Jahrhunderts“ hervor. Er sagte nicht, welches Jahrhunderts. Ökokalypse – Weltinterpretation und Weltveränderung haben ein phasenverschobenes Verhältnis: Die Welt, die ich interpretiere, ist eine andere als die Welt, die ich verändere. Und die Welt, die ich verändere, muss ich neu interpretieren, um sie erkennen und verändern zu können. Jede Welt ist eine andere, bis sie die Welt ist, die ich meine, wenn ich mich auf sie beziehe. Inwiefern sind wir heute die Erben Stirners? Jeder Wirtschaftsakteur ist heute über kurz oder lang mit einem „Überlebenskampf“, d.h. der Erwartung, der einzige Überlebende zu sein, konfrontiert – ob es der einzige überlebende Betrieb in einem Stadtteil, einer Nische oder einer Region ist. Die Phrase „Too big to fail“ für systemrelevante Unternehmen bedeutet nichts anderes, als dass sie sich gegenüber anderen Unterneh282
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men einen Überlebensvorteil gesichert haben und sich am Jüngsten Tag der politischen Ökonomie gegen alle anderen behaupten können. Das ist die apokalyptische Verlängerung dessen, was Naomi Klein als Korrelation von „Superprofit und Megadesaster“ sieht, welche die globale Ökonomie mit zyklisch wiederkehrenden Systemabstürzen taktet. Desasterkapitalisten aller Couleur versprechen sich von katastrophalen Ereignissen Profite, wie dies Klein etwa am Beispiel eines CIA-Contracters im Irak zeigte. Die Anwesenheit der „Schock-Doktrin“ (Klein) bürgt auch inmitten des ökonomischen Aufschwungs für eine „postkapitalistische Interregnum-Gesellschaft“ (Streeck). Zeitgleich wird mit Daten-Monopolisten, die unbemerkt Kundeninformationen extrahieren, „die Enteignung als vorhersehbare politische und kulturelle Operation auf der Basis einer komplexen Palette administrativer, technischer und materieller Fähigkeiten“ (Zuboff) zum modus operandi der globalen Markwirtschaft. Der Ökokalyptiker sieht hier ein weites leeres Feld vor sich, das Klein mit einer „blank slate economy“ vergleicht, auf dem alle Widerstände des gewöhnlichen Lebens beseitigt sind. Wirtschaftsdaten sind letztlich nur ein Alibi, der Exzess des Einzigen ist das Einzige, was zählt. So überrascht es nicht, wenn der Ayn-Rand-Adept Alan Greenspan gerade im Krisenjahr 2008 betont, dass jeder Wirtschaftskollaps eine Chance sei, die anderen zu überleben. Wie in The Road von Cormac McCarthy, wo der Überlebenskampf vor einem unerklärten Weltkollaps stattfindet, herrscht in der Gegenwart das Jüngste Gericht des Kapitals, der symbolische Gegenpol dessen, das Investoren als unterbewusstes Signal ihrer „bells and whistles“ einfordern: Techno-Revolutionen, die sie mit universeller Emanzipation und dem gleichberechtigten Zugang zu Wissen verbinden, einhergehend mit exponentiellem Wachstum und totaler Marktdominanz. McCarthys Road entspringt der Wall Street wie ein Fluss einer Quelle entspringt: eine Dystopie der Jetztzeit, mit dem Untergang als höchstem zivilisatorischen Fortschritt. Das Ende ist nicht wie bei Apokalyptikern „nahe“, sondern es ist immer schon da, Antrieb des absurden Glücks. Monologik – Die ‚anderen‘ sind aus Sicht des Einzigen eine verwegene These. Peter Thiel, der einstige Trump-Berater und Co-Gründer von 283
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ayPal, ist davon überzeugt, dass man sich mit den anderen nicht allzu P lange aufhalten dürfe. Ansonsten würde man selbst wie sie: ein anderer. Thiel behauptet: „Wettbewerb ist für Loser“. Der Silicon-Valley-Entrepreneur und ‚Bad Boy‘ der kalifornischen Start-Up-Elite attackiert regelmäßig das zentrale Mantra der Marktwirtschaft. Er weist darauf hin, dass der freie Wettbewerb ein Gleichgewicht sicherstelle, wenn das Angebot die Nachfrage decke. In einer perfekten Wettbewerbssituation entdifferenziere sich jedoch das Angebot, da jedes Unternehmen aufgrund des Wettbewerbs zur Homogenisierung der Produkte beitrüge. Da in einem perfekten Wettbewerb keine Firma ein Privileg genieße, müsse jeder Anbieter zu den Preisen verkaufen, die der Markt hergebe. Falls ein Gewinn zu erzielen sei, entstünde ein Interesse an diesem Marktsegment, neue Anbieter träten in den Wettbewerb, drückten dadurch die Preise und eliminierten die bestehenden Profite, deren Versprechungen sie erst in den Markt geführt hätten. Bei allzu vielen Marktteilnehmern komme es daher zu Verlusten oder Pleiten. Dadurch würden die Preise wieder stabilisiert. Langfristig, so Thiel, würde kein Unternehmen Gewinne erzielen. Auch wenn das die Wahrheit des Kapitalismus sei, so könne sie nicht der Sinn von Kapitalismus sein: „Kapitalismus und Wettbewerb sind Gegensätze. Kapitalismus basiert auf der Akkumulation von Kapital, aber in einem perfektem Wettbewerb werden alle Gewinne durch den Konkurrenzkampf vernichtet“ (Thiel). Das einzige, das den wirtschaftlichen Erfolg ermögliche, so Thiel, sei das Prinzip des Einzigen: „Monopole treiben den Fortschritt voran, weil das Versprechen jahrelanger oder sogar jahrzehntelanger Monopolgewinne einen starken Anreiz für Innovationen darstellt. Monopole können dann immer wieder innovativ sein, weil die Gewinne sie in die Lage versetzen, langfristige Pläne zu entwickeln und die ehrgeizigen Forschungsprojekte zu finanzieren, von denen im Wettbewerb gefangene Unternehmen nicht einmal träumen können.“ Neoklassische Ökonomen, so Thiel, seien vor allem aus nostalgischen Gründen in der Idee des Wettbewerbsequilibriums verfangen, sie sähen Marktteilnehmer im Rückgriff auf die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts als austauschbare Elementarteilchen und nicht als einzigartige, selbstsetzende Schöpfer. Das Equilibrium, die „Oikodizee“ (Joseph Vogl), sei 284
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ein Grundantrieb der liberalen Marktordnung, aber es verheiße langfristig nur Stagnation. „Im Geschäftsleben bedeutet Gleichgewicht Stillstand, und Stillstand bedeutet Tod.“ Thiel kehrt die Perspektive der Wettbewerbsökonomie um und spricht von der einsamen Warte des (Wert-) Schöpfers: „In der realen Welt außerhalb der ökonomischen Theorie ist jedes Unternehmen genau so erfolgreich, wie es etwas zu tun vermag, was andere Unternehmen nicht tun können. Das Monopol ist daher keine Pathologie oder Ausnahme. Das Monopol ist die Bedingung eines jedes erfolgreichen Geschäfts.“ Um zu signalisieren, dass er Skin in the Game hat, überträgt Thiel das monopolistische Prinzip auch auf sich. Wie kein anderer finanziert er mit seinen Breakout Labs die Erforschung lebensverlängernder Technologien. Er nimmt an einer klinischen Studie teil, die parabiotische Blutkuren testet, die regelmäßige Infusion des Blutes junger Menschen in ältere. Thiel möchte „den Tod erfolgreich verdrängen“, offenbar weil in diesem Feld der Verdrängungswettbewerb am stärksten ist. Wenn das nicht klappt, will er sich nach seinem Ableben kryokonservieren lassen. Das von Thiel kofinanzierte Seasteading-Projekt, das den Bau künstlicher Inseln in den Weiten des Pazifischen Ozeans zum Ziel hat, fügt sich hier nahtlos ein. Die künftigen High-Profile-Eskapisten werden hier ihre libertäre Fantasie der Staatenlosigkeit (wohl unter dem Schutz irgendeines Staates) ausleben können. Andere Einzige denken noch weiter: „Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht irgendein Milliardär seine Pläne verkündet, die Erde ganz zu verlassen und Weltraumkapseln oder andere Planeten zu kolonisieren“ (Monbiot). Der kosmische Auftrag entstammt sowohl den kalifornischen Schmieden des Transhumanismus als auch einer soliden deutschen Philosophenschulung. Toben – Mit seinem Soloritt übersieht Thiel, dass die Unterscheidung zwischen Monopol und Wettbewerb von Anfang an in die Kapitalslogik eingeschrieben ist, das heißt, er übersieht, dass er im Grunde auch nur wie alle anderen ist. Zum einen verlagert die Monopolisierung „den Wettbewerb lediglich von einer horizontalen auf eine vertikale Ebene. Das heißt, statt eines Kampfes der Automobilhersteller oder z.B. zwischen Wal-Mart und Target, haben wir einen Wettbewerb zwischen dem Monopolisten 285
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und allen ihm unterstehenden Akteuren“ (Barry C. Lynn). Zum zweiten rumort strukturell in jedem ökonomischen Akt der Einzige als Tendenz, wie sie Jacques Camatte in Against Domestication (1973) beschrieb: „Jedes Quantum an Kapital tendiert dazu, zur Totalität zu werden; der Wettbewerb findet zwischen den verschiedenen Kapitalen statt, von denen jedes dazu tendiert, zur Totalität zu werden.“ Bei Camatte wird das Kapital, das sich der bürgerlichen Gesellschaft entledigt hat, zu einem selbsterzeugenden Demiurgen, der den Wettbewerb aufhebt, um sich selbst zu reproduzieren. Thiel formuliert also im Grunde nur das von Anfang an rumorende Unbewusste des Kapitals, das sich der Errungenschaften der Bourgeoisie bemächtigt, nur um sie hegelianisch ‚wegzuwerfen‘. Es ist das Pendant zu Marx’ Vorstellung von der Überwindung des Privateigentums auf Basis des Privateigentums, oder wenn man will, die Aufhebung des Kapitalismus als Kapitalismus: Mit der Pluralisierung von Wettbewerb und Geschäftsleben (Freelancer, Start-Ups) geht zugleich eine Monopolisierung der Weltwirtschaft einher, in der immer weniger Akteure immer mehr Branchen unter sich aufteilen. Denkt man die Entwicklung weiter, hebt sich irgendwann auch der am Ende übrig gebliebene Monopolist durch sich selbst auf, denn die inneren Widersprüche des Systems – etwa der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsmitteln – werden als innerer Konflikt in ihm selbst ausgetragen. Oder wie es Bataille in seiner allgemeinen Ökonomie formuliert: „Die überschüssige Energie dient […] dem Toben der Einzelwesen“. Weil der Einzige innerlich alles in sich vereinnahmt hat, empfindet er alle anderen als Bedrohung, denn er versteht die Konsequenz der Vereinnahmung. Er will im Sinne Fichtes zu dem werden, was er ist, um sich jeder Fremdvereinnahmung zu widersetzen. Da dem Einzigen alle Konkurrenten akzidentell erscheinen (es könnte sie auch nicht geben), stellt, wie im Falle des Bürgerterroristen Bruno, ihre Beseitigung kein Hindernis, sondern einen Imperativ dar. Oder wie es das Mantra des IT-Tycoons Larry Ellison einfordert: „Es genügt nicht, dass ich gewinne – jeder andere muss verlieren.“ Idiotypen des Einzigen – Jeder Sieger spekuliert auf eine Zukunft, die den Sieg überflüssig macht. Bei Larry Ellison ist das insofern erreicht, als er 286
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mit anderen Milliardären dem Giving Pledge um Bill Gates und Warren Buffett beigetreten ist und einen Großteil seines Vermögens philanthropischen Zwecken zukommen lassen wird. Bei vielen anderen Einzigen sind Sieg und Wirklichkeit aber noch nicht so weit, der Reichtum ist volatil, der Wettbewerb real, und seine Aufhebung liegt noch in der Zukunft. In den Chefetagen vieler Unternehmen bringt die vorweggenommene Siegerstasis daher andauernd Psychocharaktere hervor, die sich ihren zukünftigen Philanthropenstatus mit aller Macht erkämpfen wollen. Der Weg vom Taking Pledge zum Giving Pledge führt über Idiotypen des Einzigen. Nicht nur in der Investmentbranche spricht man in diesem Zusammenhang von „Assholes“ (Sutton) oder auch von „Psychos“ (Dutton) an den Schaltstellen der ökonomischen Macht. Damit ist asoziales Verhalten gemeint, wie es Firmengründern von der Film- bis zur IT-Branche in den letzten Jahren immer wieder vorgehalten wird, deren Delikte von Nötigungen bis zu Vergewaltigungen reichen. Das wird öffentlich skandalisiert, aber hinter vorgehaltener Hand als Auszeichnung der Skrupellosigkeit verstanden, die man benötigt, um sich in einem radikalisierten Marktgeschehen zu behaupten. Diese Skrupellosigkeit wendet sich auch gegen das eigene Unternehmen: „Männlich, Mitte 30 bis Mitte 50, Führungskraft und schon mindestens sechs Jahre im Unternehmen beschäftigt – so sieht heute der typische Wirtschaftskriminelle aus. […] Alleine zwei Drittel […] sind sogenannte Innentäter, die noch dazu in der Hierarchie weit oben stehen und häufig unbeschränkte Autorität genießen“, so die Zusammenfassung einer Studie von 2016 zur Wirtschaftskriminalität in Deutschland. Der Nadelstreifenkriminelle stiehlt im Gestus des Gebens (als Philanthrop: er tut dem Unternehmen und der Menschheit damit einen Gefallen) und ist nachher, wenn er erwischt wird, darüber empört, dass die Leute so ein Aufhebens daraus machen. Sein Motiv ist u.a. „das schlichte Gefühl ‚Ich kann es und ich mache es‘“ (ebd.). Wie George Akerlof und Robert Shiller in Phishing for Phools (2015) schreiben, bestimmt ein korruptes Verhalten auch die reguläre Wunschökonomie, was sich etwa im „bankruptcy for profit“ ausdrücke: „Wenn sich die Inhaber einer solventen Firma heute einen Dollar aus der Firma auszahlen, verringern sie den Betrag, den sie morgen um diesen Dollar plus ihre 287
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Einnahmen an sich selbst ausschütten können. Somit haben die Eigner einer solventen Firma keinen besonderen Anreiz, heute Geld aus ihr herauszuholen. Im Gegensatz dazu haben die Eigentümer eines bankrotten Unternehmens, wenn sie einen zusätzlichen Dollar aus ihrem Unternehmen holen, morgen buchstäblich nichts zu verlieren. Warum? Weil die bankrotte Firma bereits alle ihre Vermögenswerte ausschöpft und alle Hinze und Kunze ausbezahlt. Da für die Eigner nichts übrig bleiben wird, haben sie die gleichen wirtschaftlichen Anreize wie die Armee Dschingis Khans, als diese durch Asien marschierte: Was sie heute nicht nehmen, werden sie morgen nie sehen. Ihr Anreiz ist es, zu plündern.“ Wenn Trump behauptet, dass er Schulden liebe und im gleichen Atemzug seine zahlreichen Insolvenzen leugnet, dann verdeutlicht er, dass es sich in beiden Fällen um den gleichen Anreiz handelt. Beide – insolventer Bankrotteur und solventer Schuldenmacher – geben Geld aus, das sie nicht haben. Der neue Idiot zeichnet sich dadurch aus, dass er damit prahlt und am Abgrund auch noch Pirouetten dreht, mit der Freiheitskraft des Eigners (Trump: „I am the king of debt!“). Das Thema zieht sich schon seit Jahren durch die Chefetagen von Politik und Ökonomie. Je dominanter der „Arschloch-Faktor“, so Stanford-Managementexperte Robert Sutton, desto gewissenloser das Vorgehen und desto größer die Selbstüberzeugung und die damit einhergehende Erwartung, dass sich der Einzige in Berufs- oder Marktbeherrschung umsetzt. Man kann das z.B. an den Debatten um den Social-Media-Giganten Twitter ablesen, der 2015 solide im Markt stand, Investoren und Auktionäre aber eine stärkere globale Marktdominanz einforderten. Die ökonomische Devise lautet dabei „Weltherrschaft oder Tod“ (Paul Mason). „Der Druck der Finanziers zur Gewinnsteigerung hat zu einer immer schnelleren Monopolisierung […] der Industriesysteme geführt“ (Lynn), und die Überreizung der Erwartung mit Vorstellungen darüber, was sich alles in der Welt bewerkstelligen lässt, führt zur Radikalisierung von CEO-Leadership und G overnance-Eliten. Erfolgreiche Leader in Wirtschaft und Politik hätten daher notwendigerweise psychopathische Züge, meint der Wirtschaftspsychologe Kevin Dutton. Die erfolgreichsten Leader-Psychos kennten keine Angst, seien emotionslos, unmoralisch, handlungsbeses288
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sen, lebten im Hier und Jetzt. Manche psychopathischen Eigenschaften fänden sich sogar häufiger bei Managern und Politikern als bei Kriminellen. Dutton kritisiert das nicht, sondern versucht, die psychopathische Kraft wie eine Energieform zu nutzen, erklärt, was wir alle aus der Sieger-Psychose der globalen Führungskräfte lernen könnten und wie sich jeder durch eine ‚gesunde‘ Psychose den zukünftigen Erfolg sichern könne. Es zeichnet den Erfolg der Psychopathen aus, dass sie in der Natur des Ökonomischen aufgehen, dass sie von ihrem Auftrag nicht zu unterscheiden sind – „jene Typen, die […] reflexartig den objektiven Zug widerspiegeln“, wie das Adorno einmal ausdrückte. Perfekte Mitläufer, aber zugleich auch mit individueller Ambition besetzt. Dass sich inzwischen zahlreiche Unternehmen ein grünes Portfolio anlegen oder dass manche CEOs zu Social Justice Warriors werden, um durch persönlichen Einsatz den Klimawandel aufzuhalten, ändert nichts am Psycho-Schema. Die befreiende Kraft des Eigners, der sich allen Zwang einverleibt, das ‚böse‘ Unternehmen verlässt, um ein ‚gutes‘ zu gründen, wird immer wieder von ihrer eigenen Ambition aufgehoben – bis das Böse vom Guten nicht mehr zu unterscheiden ist. So prahlte einmal eine DB-Personalmanagerin damit, gezielt Führungskräfte mit psychischen Störungen zu suchen. Sie stelle für die Bereiche Finanzen, Controlling und Compliance „gerne Zwanghafte“ und Leute „mit einer schönen Angststörung“ ein. Diese seien „super pedantisch“ und könnten „die ganze Nacht nicht schlafen, weil die Zahlen nicht stimmen“. Diese freien Zwangscharaktere übernehmen die Rolle objektiv feststellbarer Idioten, die in ihrem Umfeld optimal funktionieren. Es gibt hier eine Analogie zum Konzept des Geisteskranken im 19. Jahrhundert, demzufolge „das wesentliche Moment der Objektivierung im Menschen mit dem Übergang zum Wahnsinn in eins falle“ (Foucault). Das heißt: „Der Mensch wird für sich selbst nur in dem Maße Natur, in dem er zum Wahnsinn fähig ist“ (ebd.). Jobanwärter, die sich mit ihrer Psychose in die sozio-funktionale Natur ihrer Umgebung einfügen können, haben Selektionsvorteile gegenüber gesunden Konkurrenten. Der perfekte Angestellte muss ein objektiv Wahnsinniger sein, im besten Falle ein „Tier in Menschenform“. Ein Idiot.
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WENDYS WELT – ÜBERLEGUNGEN ZUM PLANETARISCHEN IDIOTISMUS
„They’re not thinking straight!“ Wendy
Visionen – Wir sind von Zukunftsvisionen umgeben. Nur ist es schwierig, Visionen von inflationären Zukunftsbildern zu unterscheiden. Nahezu jedes technologische Produkt wird inzwischen als visionär vermarktet, modelliert Zukunft zum Marketingschema, welches Insignien des Fortschritts enthält: Sci-fi-Filme reduzieren die Materialität, werden umso minimaler, sauberer, heller und luftiger, je zukünftiger sie sich geben – außer in dystopischer Form, dann dominiert der Steampunk, und Staub rieselt von der Decke. In der sauberen Silicon-Valley-Zukunft werden Kontrollpulte zu Projektionen, Bildschirme zu Hologrammen und Menschen zu Androiden. Pausenlos werden künftige Gegenwarten prognostiziert oder heraufbeschworen, im Kleinen wie im G roßen, von der Wettervorhersage bis zum Wahlkampfslogan, vom Programmheft bis zur demoskopischen Prognose. Eine Vision ist jedoch etwas anderes als eine Vorhersage über zukünftiges Geschehen. Eine V ision ist das Zukunftsbild eines Ereignisses, das sich bereits ereignet hat.
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Das Loch – Ein Werbefilm der Fastfoodkette Wendy’s (2013) beschreibt einen Weltzustand, der entweder nie eintreten wird oder aber längst eingetreten ist. Man sieht zu Anfang des Films eine Ebene, in der sich ein kreisrundes Erdloch auftut. Menschen rennen darauf zu, springen hinein und verschwinden darin. Der Strom reißt nicht ab. Die Leute scheinen weder in Panik noch irritiert, es wirkt so, als ob das Vorgehen seine Richtigkeit habe. Inmitten der Menge macht sich ein Kerl mit roter Pippi-Langstrumpf-Perücke bemerkbar: Das ist Wendy. Wendy beginnt der Situation zu misstrauen. Sagt Wendy: „Hey, something’s not right here. It feels a little creepy. They’re not thinking straight!“ Dämmert Wendy: „A Hamburger that sits around in a warming tray?“ Wendy räsoniert nun darüber, wie knusprig das Fleisch eines Hamburgers gegrillt werden müsse, aber dass es nicht knusprig sein könne, wenn der Hamburger zu lange warmgehalten würde, da so das Fleisch zu trocken werde. Andere Läufer werden nun auf Wendy aufmerksam. Sie bleiben stehen und gruppieren sich um den Wendy-Mann. Er animiert sie dazu, sich vom Loch abzuwenden. Das Grüppchen widersetzt sich dem Menschenstrom und läuft in eine andere Richtung. Immer mehr Läufer folgen ihnen. Man sieht einen Werbeeinspieler, der den Hamburger zeigt. Dann erscheint der Slogan: Wendy’s – Made to Order. Stellen wir uns für einen Moment vor, die Werbewelt würde wirkliche Welt: Das Loch wäre eine Art modernes Totem, es leitete alle unsere 292
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orstellungen. Generationen über Generationen von Mitläufern würden V sich darüber definieren, Kindern würde in Gute-Nacht-Geschichten vom Loch erzählt, das Loch würde schon in der Loch-Bibel erwähnt. Jesus würde darin nicht gekreuzigt, sondern eingelocht. Alles wäre lochartig. Jeder Wunsch, jede Erzählung wäre lochartig und begänne mit „Eines Tages…“ und endete mit: „…im Loch“. Dieser zentrale Attraktor ist vergleichbar mit der Insel im Hollywood-Streifen The Island (2005). Die Bewohner einer von der Außenwelt abgeschotteten Kolonie leben in der Hoffnung, als Belohnung für ihre erbrachte Lebensarbeit auf eine Trauminsel zu kommen. In Wirklichkeit sind sie von zahlungskräftigen Kunden finanzierte Zuchtklone, die für die Organentnahme verwertet werden sollen. Anders als die Protagonisten in The Island oder Logan’s Run (1976) kommt Wendy-Mann nie der Gedanke der Befreiung. Zunächst scheint es so, als ob er die planetarische Bestimmung des Lochs hinterfragte („They are not thinking straight“). Aber das erste, was dem ‚Revoluzzer‘ daraufhin einfällt, ist, eine bessere Variante des gleichen Produktes anzupreisen. Er bezieht sich nicht auf die Absurdität, dass es ein Loch gibt und alle hineinspringen, sondern er spricht weiterhin ‚hirnlos‘ von Fastfood, sein New Deal ist nur ein „New Deal!“. Wendy wird also mit seiner Idioten-Avantgarde ein neues Loch buddeln, in das neue Mitläufer hineinspringen werden. Er ist vollständig im Produktschema aufgegangen. Das Loch ist zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der Kritik, die vermeintliche Revolte entlarvt sich als Reproduktion des Bestehenden durch Scheinkritik, ohne die planetarische Bestimmung zu verlassen. Der allseits präsente Untergang aller, das Loch, die Absurdität des Ganzen: Das ist nie Thema. Gleichzeitig stellt der nicht enden wollende Zustrom der Vielen den ‚natürlichen Lauf‘ der Dinge sicher. A bunch of idiots – Traditionelle Figurationen des Idioten erster Ordnung besetzen die Positionen des Außenseiters, der inneren Emigration, die ihnen ermöglicht, die Welt anfänglich und so zu sehen, wie sie ist, während die heutigen willfährigen Konsumenten keine Außenseiter, sondern austauschbare Flaneure auf den Urlaubspromenaden des Spätkapitalismus sind. Man könnte also auf den Gedanken kommen, die über die 293
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Ebene laufenden Konformisten seien das Gegenteil von Idioten, wie etwa Byung-Chul Han meint: „Heute scheint der Typus des Außenseiters, des Narren oder des Idioten aus der Gesellschaft so gut wie verschwunden zu sein. Die digitale Totalvernetzung und Totalkommunikation erhöht den Konformitätszwang erheblich. Die Gewalt des Konsenses unterdrückt Idiotismen.“ Das ist zutreffend, wenn man nur einen Horizont des Idioten erkennt und davon ausgeht, dass die Prozeduren der Konvention selbst nicht idiotisierend sind. Der neue Idiot ist so gesehen das zoon paradoxon der Gegenwart, dessen Einzigartigkeit und Allgemeinheit sich in Gestalt der Vielen durchdringen. Alain Ehrenberg hat etwa in Das erschöpfte Selbst dargestellt, wie in heutigen Gesellschaften jeder dazu aufgerufen ist, ein Ausnahmemensch zu werden. Er schreibt von einer „Popularisierung des Außergewöhnlichen“. Das besondere Ich und das allgemeine Ich sind ebenso inkommensurabel wie identisch, haben kein Verwandtschaftsverhältnis und doch die gemeinsame Vokabel des Ich. Sie werden vom selben Loch angezogen, dem Attraktor, in dem sich das Wertgesetz verkörpert, der also alle Menschen zum gleichen ‚Lebensziel‘ hinführt: Man arbeitet sein Leben lang, um am Ende zu erkennen, dass das Lebensziel in der Arbeit liegt, die man sein Leben lang geleistet hat. Planetarismus – Dass der Idiotismus ein globales Phänomen des Zusammenfallens von Differenz und Indifferenz ist, behauptet auch Martin Heidegger: „Der ‚Idiotismus‘ meint nicht eine psychiatrische Bestimmung der Beschränktheit von Geist und Seele, sondern jene Bestimmung des geschichtlichen Zustandes, der zufolge jedermann jederzeit überall sein ιδιον – sein Eigenes als das Gleiche mit dem Eigenen aller Anderen erkennt und entweder willentlich oder unwissend betreibt. Das seynsgeschichtlich unbedingte Wesen des Man ist der Idiotismus.“ Heidegger verknüpft diesen Idiotismus auch mit dem, was er „Planetarismus“ nennt. Er meint damit die globale Überantwortung des Menschen an die anonyme Totalität des Alltags, die „Seynsverlassenheit des Seienden“. Avital Ronell hat darauf hingewiesen, dass Robert Musil seinen Mann ohne Eigenschaften und Martin Heidegger seine Denkfigur des „Man“ in etwa zur gleichen 294
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Zeit ersannen. Zusammen hätten sie das Man ohne Eigenschaften schreiben können. Das würde die planetarische Bestimmung des Idiotismus gut beschreiben. Das Man drückt die Unterschiedslosigkeit der Technik gegen die Eigentlichkeit des Daseins aus, dem das Eigene als das jeweils ‚Meinige‘ und das aller anderen entspringt, wie Heidegger betont: „Der Idiotismus besagt: daß man das Eigene auf das Jedermann gehörige verlegt […]. Man findet sich überall selbst im Eigenen, das doch gerade das Jedermann Gehörige ist“. Heidegger sieht im Idiotismus eine „Beschränkung auf das Weltläufige“, die zugleich mit einer ‚wendigen‘ Besinnungslosigkeit, einem agilen Idiotentum, einhergeht: „Der Idiotismus ist […] nicht etwa | ein Vorrecht von ‚Idioten‘ (d. h. beschränkt begabter Menschen). Ganz im Gegenteil: zum Idiotismus gehört die unbedingte Gerissenheit und Wendigkeit und Geschicklichkeit des technischen-historischen Menschen. […] Es genügt nicht, daß in jedem Haus und in jedem Stockwerk ein Apparat in Gang ist. Jedes ‚Familienmitglied‘, die Dienstleute, die Kinder müssen je ihr eigenes Gerät haben, um so jedermann sein zu können, schnell und leicht das zu kennen und zu hören und zu ‚sein‘, was jeder andere ebenso ist“. Es kommt nicht von ungefähr, dass Heidegger den Planetarismus auch als „Amerikanismus“ bezeichnet, als „Verendung der Neuzeit | in die Verwüstung“. Alexis Tocqueville hat – Heideggers politisches Ressentiment abgerechnet – diese Konstellation in seinem 1840 veröffentlichten Werk Über die Demokratie in Amerika erkannt und als neue Form der Tyrannei bezeichnet: „Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber […] er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er existiert nur in sich und für sich alleine.“ Die Trajektorie einer Macht, die ebenso umfassend wie unscheinbar ist („absolute, minute, regular, provident, and mild“), d.h. eine „demokratische Despotie“, ein „inverted totalitarianism“ (Sheldon Wolin), zieht sich als nivellierende Energie durch die industrielle Moderne ins digitale Zeitalter. Heute zeigt sich das in der öffentlichen Kommunikation: „Heruntergeregelt auf den verträglichsten Stimmungsgrad […], bildet sich eine feste, 295
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kieselartige Förmlichkeit des aufeinander abgestimmten Sprechens, die jeden einzelnen vom eigenen (schärferen) Bewußtsein abschirmt“ (Strauß). Guy Debord schreibt schon in der Gesellschaft des Spektakels, dass „Bilder, getrennt von allen Aspekten des Lebens, sich zu einem großen Strom vereinigen“, dass sich „die Wirklichkeit zur neuen Allgemeinheit entfaltet“ und dass das Spektakel als „Umkehrung des Lebens zur Bewegung des Nichtlebens geworden ist“. Das Spektakel ist gleich dem Loch der große Attraktor der mannigfaltigen Bewegungen innerhalb der modernen Gesellschaft. Subjekte, Bilder und Leben sind entkoppelt, laufen vereinzelt ab, ihre Bedeutungen ebenso vielfältig wie unbestimmt. Debord: „Der Ursprung des Spektakels ist der Verlust der Einheit der Welt, und die riesengroße Ausbreitung des modernen Spektakels drückt die Vollständigkeit dieses Verlustes aus […]. Was die Zuschauer miteinander verbindet, ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum selbst, das ihre Vereinzelung aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als Getrenntes.“ Emblematisch wird dies in einer Szene in Steven Soderberghs Film Schizopolis (1996) vorgeführt, in dem die zwischenmenschliche Kommunikation nur deskriptiv abläuft und dabei das Allgemeine über das Besondere der Situation stülpt: Fletcher: „Generische Begrüßung.“ Ehefrau: „Generische Begrüßung wird erwidert.“ Fletcher: „Unmittelbar anstehende Nahrungsmittelzuführung.“ Ehefrau: „Übermäßig dramatisierende Aussage über das bevorstehende Essen.“ Fletcher: „Oh! Falsche Reaktion, die auf Hunger und Aufregung hinweist!“
Homo stans & homo mutans – Wie Herbert Marcuse in den 1960er Jahren feststellte, greifen lineare Beherrschungs- und Entfremdungsmuster zu kurz, „wenn sich die Individuen vollständig mit dem Dasein identifizieren, das ihnen auferlegt wird, und an ihm ihre eigene Entwicklung und Befriedigung haben“. Marcuse sieht in diesem Selbstbezug den eindimensionalen Menschen aufsteigen: „Die Erzeugnisse durchdringen und mani296
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pulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. […] So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden.“ Von dieser Immanenz der Welterfahrung kündet ein halbes Jahrhundert später auch die digitalisierte Industriegesellschaft, in der sich nach Andreas Reckwitz die „kulturelle Krise der Selbstverwirklichung“ vollzieht. Pier Paolo Pasolini sprach in den 1970ern von der „anthropologischen Mutation“ oder „anthropologischen Revolution“ und bezog sich damit auf die strukturelle Verengung des konsumistischen Menschen zum homogenisierten Einzelnen. Diese Mutation, die Roland Barthes als kulturelle Homogenisierung beschrieb, kommt einem gesellschaftlichen Paradigma gleich, das die Stresszonen des sozialen Daseins neu umreißt. Wie es schon Adorno in den Minima Moralia fasste, ist das bürgerliche Prinzip „aus der Objektivität des gesellschaftlichen Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoßenden und drängenden Atome, gleichsam in die Anthropologie übergegangen.“ Die anthropologischen Veränderungen sind ubiquitär. Eine sozio-kognitive Verflachung lässt sich z.B. daran ablesen, wie die Massenkultur Inhalte inzwischen bis zur Unkenntlichkeit nivelliert, indem sie sie z.B. ‚überkenntlich‘ macht. Sachbücher, Verkaufsgespräche, Vorträge oder Online-Kommentare, so individuell sie sich auch geben, können zunehmend auf einen einzigen Sprachtypus zurückgeführt werden. Social Bots übernehmen irgendwann die Dialogfunktion, und am Ende aller Tage sprechen deskriptive Algorithmen zu sich selbst, entsprechend Jacques Camattes Vision von der „Verwandlung des Geistes in einen Computer, der von den Gesetzen des Kapitals programmiert wird“. Ein vollständig programmierter, festgestellter Mensch, homo stans, als das Resultat des sich verändernden Menschen, homo mutans: Das wäre die höchste Stufe des Idiotismus und der Beginn eines invertierten Turing-Experiments. Das Imitation Game bestünde darin, zu fragen: Wie kann eine natürliche Intelligenz eine künstliche davon überzeugen, dass die natürliche künstlich ist? Man spricht ja schon heute artifiziell, um im Berufsapparat zur Geltung zu kommen, um sich der zweiten 297
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Natur des Sozialen anzupassen. Das Künstliche der Intelligenz ist eine soziopolitische Kategorie: Zum einen als anthropologisch mutierender „Wahnsinn der ökonomischen Vernunft“ (David H arvey) und zum anderen als Realisierung dessen, was Franco Berardi als „neuro-totalitäres System“ bezeichnet hat, in dem sich zwar alle Wünsche erfüllen, „aber die Menschen können sich darin nicht finden, ihr Genießen liegt ständig in der Zukunft“ (Camatte). Nivellierung & Potenzial – Beim Bild der Mitläufer kommt einem Kafkas Parabel ins Gedächtnis: „Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.“ Ein paradoxer Beherrschungsmechanismus bestimmt die Geschicke der Kuriere, denn obwohl bzw. gerade weil es keine oberste Instanz gibt, wagen sie es nicht, sich umzubringen (der Diensteid steht hier für den Großen Anderen der Bürokratie). Im Idiotismus geht es eher um autopoietische Nivellierung, d.h. um die planetarische Angleichung aller an alle, ohne die Abstraktion der Macht als Bürokratie und ohne den Verlust der Identität. Es ist liberale Gleichmacherei analog zur totalitären. Alle sind in der Endtrajektorie auf dieselbe Weise individuell, auf dieselbe Weise glücklich, auf dieselbe Weise unglücklich, sterben auf dieselbe Weise, haben auf dieselbe Weise gelebt, getrunken, gefeiert, gelacht – als generische Individuen eines besinnungslosen Glücks. Im Gegensatz zu Kafkas Kurieren wollen sich die Gleichglücklichen nicht umbringen, und falls doch, dann aus Übermut oder Entitlement. „[D]as ganze System der Marktwirtschaft beruht darauf, dem einzelnen zu suggerieren, daß gerade er eine Hoffnung hat“, sagte einmal Heiner Müller. Aber das gilt zuletzt auch für den Selfie-Suizid: In ihm drückt sich die Hoffnung aus, den perfekten Moment erwischt zu haben. Wer kann in dieser Projektion die ‚bessere‘ Hoffnungslosigkeit vorweisen? Wer hat seine Hoffnungslosigkeit zum Glück optimiert? 298
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Alarm – Wie Fredric Jameson gezeigt hat, stellt die Ubiquität des kapitalistisch Absurden nicht nur eine ideologische Stasis dar, sondern bürgt zugleich für utopisches Potenzial. Die Aushebelung des Status quo ist ein dem Status quo inhärenter Mechanismus: Das Danach ist immer schon da, wie nach Althusser die Ideologie immer schon da ist. So lehren uns gerade die heutigen filmischen ‚Revolutionsführer‘ des Marvel-Universums auf subversive Weise, dass es nicht mehr um die Optimierungen des Kapitalismus geht, sondern darum, den Kapitalismus zu überleben. Die filmischen Superhelden schleudern ihre kollektiven Botschaften strahlenförmig ins Zentrum des hochindustrialisierten Wohlstands. Alles Getue mit Superkräften und die Grüppchenbildung der Guten, wie etwa in der Avengers-Reihe, zeugen von planetarischem Bewusstsein, das vom zukünftigen Ernstfall getrieben ist. Und das ist vielleicht auch die durchgehende Botschaft vieler Superheldenfilme der letzten Jahre, dass nämlich in jeder Erscheinung eines Bösewichts sofort das planetarische Ganze angesprochen ist, als ob dieses Ganze die Filmapokalypse als Botschaft nutzte, um zur Menschheit zu sprechen: „Das Ende naht“, sagt Thanos, der Mächtigste aller Mächtigen. Aber Thanos ist nicht König, sondern Kurier. Zombie und Zeit – Heideggers planetarische Herrschaft des Man geht von der Indifferenz eines „Gestells“ aus, das nur als Totalität auftritt. In popkulturellen Repräsentationen kann man z.B. an Klone oder Zombies denken, um sich einen Subjektpol des Idiotismus zu verbildlichen. Klone – die Reproduktion von Menschenähnlichkeit, ob durch Bio-, R oboter- oder Nanotechnologie – verkörpern einen technoutopischen und Zombies einen postapokalyptischen Angriff auf den Individuationsprozess. Klone, Cyborgs, Hybride usw. entstehen. Sie werden nicht aus sich heraus. Deshalb ist ihre Schwellenerfahrung das, was wir Persönlichkeit, Seele oder Bewusstsein nennen, wie sie im Sci-Fi-Genre durchgespielt wird. Star Treks Commander Data entdeckt z.B. immer wieder menschliche Gefühle, oder er zeigt sie, ohne sie zu haben. Zombies sind, obwohl sie als Einzelne agieren, ebenfalls keine gewordenen Individuen. Sie sind Einzelgänger, die identisch anmuten – einzelne 299
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Viele. Sie v erhalten sich nicht individuell, aber sie bilden auch keine Zombie-Ethnien. Deshalb werden sie zur Metapher fürs azephale Konsumententum, wenn sie wie z.B. in Dawn of the Dead (1978) in Malls herumtraben. Zombies und Klone sind als filmische Figuren deshalb so ‚nachhaltig‘, weil sie menschenähnlich sind, ohne Menschen zu sein, und weil sich in ihnen das Reale des Doppelgängertums offenbart: Irgendetwas an ihnen entspricht irgendetwas in uns. Das ist es, was Adorno als Merkmal der kapitalistischen Totalität versteht: den „Übergang der Subjekte in passives und atomistisches, reflexähnliches Verhalten“ (Adorno). Man könnte das heute auch hegelianisch verdreht als glückliches Unbewusstsein bezeichnen, denn das subjektive Glück ist nicht mehr bewusst, sondern unbewusst, weshalb es mit aller Zeichengewalt an die Oberfläche gezerrt werden muss. Jordan Peeles Us (2019) gibt den jüngsten Kommentar zu dieser permanenten Selbstaushebelung der bürgerlichen Idylle. Er verknüpft das glückliche Unbewusste mit dem Zeichenarsenal der Solidaraktion Hands Across America (1986) zu einem mörderischen Endzeit-Plot. Dieser konfrontiert die Identität jeder Menschenfamilie mit ihrer real existierenden Unterweltvariante – den in unterirdischen Kanalsystemen subsistierenden zombie-artigen „Gebundenen“ (the tethered). Diese sehen ihre Zeit gekommen und drängen an die zivilisatorische Oberfläche, um ihre Parallelfamilien umzubringen. Es geht hier, vergleichbar zum im ersten Abschnitt besprochenen Bild Rossettis, um ein mörderisches Doppelgänger-Motiv, das hier auf soziale und Rassenthematiken der USA anspielt und zugleich die Morbidität des American Dream betont. Dies hat schon Bret Easton Ellis’ American Psycho für die 1980er Jahre getan, nur hat Us eine umfassendere, planetarische Anmutung. Wenn sich am Ende des Films die Unterwelt-Menschen händehaltend wie bei Hands Across America aneinander ketten, wird plötzlich deutlich, dass sich in diesem Moment die Antithese der US-Gesellschaft von ihrer ideologischen Bindung ans Pursuit of Happiness gelöst hat – als Gegenteil an sich.
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Einbunkern – Marx’ Vorstellung des Idiotismus beschreibt zunächst das Gegenteil des Planetarismus, denn dem Bourgeois, der dem Millionär nacheifert, geht es gerade nicht um das planetarische Ganze, sondern um das kleine Private. Marx’ Idiotismusbegriff (auch sein Begriff der Fachidiotie) impliziert einen Gegenpol: eine totale Ausdifferenzierung der Einzelnen als Privatindividuen (d.h. das Gegenteil von Zombies und Klonen), wie sie notwendig die Abstraktionskette von Arbeit, Wert, K apitalverhältnis usw. einfordert und im ultimativen Bourgeois endet, dem letztlich alle Mittel recht sind, um als Letzter aus der kapitalistischen Endzeit hervorzugehen. Dieser Einzige ist der imaginäre Gegenpol zum Klon/Zombie, die nur als Viele ihre Wirkung entfalten. Aber beide Pole beschreiben Aktionspotenziale derselben Jetztzeit-Apokalypse, wie sie Us vorführt: Den Bunker, den der Privatier baut, versuchen die Menschenähnlichen zu stürmen. Aber der Kampf findet in der ökonomisierten Psyche des Einzelnen statt. Zwei Kapitalismen? – Wendys Welt ist eine Welt voller glücklicher Idioten. Es ist eine Welt, in der sich jeder verwirklicht, ohne sich je erfahren zu haben. In diesem Szenario kristallisieren sich zwei Trajektorien heraus: Einerseits führt das Produktschema zur Uniformierung von Verhalten, Denken und Aussehen, d.h. wir werden durch abstrakte Kapitalprozesse und semiotische Operatoren zu real-abstrakten Menschen. Zugleich singularisieren sich Standpunkte bis zum Widersinn, d.h. jede/r wird nur aus jeweils ureigener Perspektive verständlich, imaginär-konkret, jede/r spricht eine (unmögliche) Privatsprache, hat eine Privatreligion, besitzt Privateigentum, ist absolut einzigartig, unverständlich und unvergleichlich. Gegenseitiges Verstehen beruht auf Zufällen, und doch sind in diesem intimen Nebeneinander alle miteinander gleich. Was Bernard Stiegler als „Ende der Zukunft“ bezeichnet, tritt uns hier als bifokale Vision der Gegenwart vor Augen. Wir haben einerseits eine totale Verallgemeinerung und andererseits eine totale Ausdifferenzierung zur Selbstpolitik, bis zum solipsistischen Eigner. Einerseits führt die Isolierung zur Vielzahl an Einzigartigen, und zugleich ist die Idiosynkrasie aller in Marktprozeduren eingebettet, die auf die totale Uniformierung 301
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aller hinauslaufen: Praktisch jeder besitzt ein Handy (von Ölmilliar dären bis zu Kriegsflüchtlingen), und zugleich benutzt jeder das Handy auf ureigenste Weise – aber zugleich benutzen alle das Handy auf ein und dieselbe Weise, die z.B. durch vorgegebene Fingergesten definiert ist. Im Werbefilm wird die Gleichzeitigkeit von idiosynkrasierenden Monopolen, die zur maximalen Produktausdifferenzierung führen, und Polypolen („perfect competition“), die zur vollständigen Homogenisierung führen, so aufgelöst, dass die einzelnen Personen nicht als M änchen [sic], d.h. anonyme Personalisierungen des Man, d.h. in uniformierter Klonform, sondern als individuelle Personen dargestellt sind. Sie sind dabei alle so identisch, wie sie einzigartig sind. Wir könnten auch von der Präsenz zweier Kapitalismen im Subjekt sprechen: einer diffusionistischen Variante und einer konfusionistischen Variante. Eine Variante, die Strukturen auflöst, eine Variante, welche die Auflösungen zu neuen Gestalten zusammenfügt, d.h. ‚konfusioniert‘. Félix Guattari hat mit seinem Modell des weltweiten integrierten Kapitalismus auf diese zwei Formen hingewiesen, die schon seit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert unterschwellig präsent sind und erst in der Gegenwart zur vollen Entfaltung kommen: „Diese Transformationen haben nicht zur Folge, dass der neue Kapitalismus den alten vollständig ersetzt. Es gibt eher eine Koexistenz, eine Stratifizierung und Hierarchisierung von K apitalismen unterschiedlicher Ebenen […].“ Guattari führt zwei E benen an, die sich mit den beiden hier besprochenen decken: 1) Idiotismus des Einzigen – das umfasst „die traditionellen segmentären Kapitalismen, die auf den Nationalstaaten territorialisiert sind und die ihre Vereinigung ausgehend von einer Weise der monetären und finanziellen Semiotisierung betreiben“. 2) Planetarischer Idiotismus – d.h. „einen integrierten weltweiten Kapitalismus, der sich nicht mehr nur auf die Art und Weise der Semiotisierung des finanziellen und monetären Kapitals stützt, sondern viel grundlegender auf eine Gesamtheit von Steuerungsverfahren, die technisch-wissenschaftlich, makro- und mikrosozial, massenmedial usw. sind“.
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Der eine Kapitalismus erzeugt die einzelnen Vielen, der andere Kapitalismus die vielen Einzelnen. Denn auch die innere Logik des territorialisierten Tribalismus besteht darin, dass, wenn einmal die Identi fizierungsmaschine angeworfen wird, immer mehr Subidentitäten produziert werden, die wiederum ein Ausdruck des Anspruchs auf authentisches Territorium und identische Zeit sind. Der Prozess der Individuation ist an beiden Polen außer Kraft gesetzt. Der eine Kapitalismus führt die Menschheit an ihren Anfang (präindustrielle Natur), der andere Kapitalismus führt die Menschheit an ihr Ende (postindustrielle Natur). Einerseits anarchoprimitivistischer oder tribal-regressiver Rückzug aufs Land, andererseits grüne Silicon-Valley-Zukunft in der Vorstadt oder Blade-Runner-Dystopie in der Metropole. Die Gegenwart ist das, was uns als Phasenverschiebung der beiden Kapitalismen die radikalen Visionen bezeugt, bzw. allein schon die Tatsache, dass wir sie erspüren, erzeugen und lesen können. Die zwei Kapitalismen beschreiben die Extreme der verdinglichten Form individueller Entindividualisierung: eigenschaftsloser Nutzer oder ein Supersubjekt, das nur Eigenschaften hat. Die Menschenähnlichen – vom Superhelden bis zum Supermonster – sind keine Metaphern der Unmenschlichkeit oder Übermenschlichkeit. Sie sind die symbolischen Pole des täglichen Kampfes ums Individuum. Glatter Sinn – Der planetarische Idiotismus bezieht sich auf zwei Enden des Vergangenheit-Zukunft-Komplexes, die oft in Sci-Fi-Filmen behandelt werden. In Surrogates (2009) etwa wird das öffentliche Leben von menschenähnlichen Androiden bevölkert, die wiederum von ihren Wirten von zu Hause aus gesteuert werden – eine dystopische Verlängerung des antiken idiotes. Surrogates sind in die Welt geschickte Stellvertreter, die die Erfordernisse des Berufslebens stemmen, weil der degenerierte Wirtsorganismus dazu nicht mehr in der Lage ist und sein öffentliches Leben als ein in der Technoblase vegetierender Privatier qua Interface bestreiten muss. Auf der einen Seite die glatten öffentlichen Marktmarionetten und auf der anderen Seite die isolierten Wirte, nur geht es auch hier um einen Tatbestand mit zwei Interpretations 303
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ebenen. E inerseits die vermeintlich authentische, private Welt mit sozialen Spannungen (Ehekrise, Arbeitsstress usw.), andererseits die Überzeichnung der problemlosen Menschenähnlichen in der Außenwelt, als planetarische Repräsentationen des Man. Realkörper und Avatar sind in ständiger intimer Relation zu sich selbst, ohne sich dabei zu empfinden. Es ist, als ob die Wirtsorganismen einen Teufelspakt mit ihrer Erscheinung geschlossen hätten. Um das glückliche Leben im Fortschritt weiterleben zu können, mussten sie ihren Körper vor der Öffentlichkeit verschließen, dem falschen Bewusstsein das Feld der öffentlichen Repräsentation überlassen. Was in James Camerons Avatar im Dienst einer naturromantischen Verklärung des Exoten exerziert wird, läuft in Surrogates auf eine Oberflächenspannung des Alltags hinaus. Surrogate sind die dreidimensionale Echtzeit-Version heutiger Online-Avatare. Die darin steckende Ikonodulie wird immer dann deutlich, wenn sich reale Heimkörper ihren Surrogaten physiologisch annähern. So ist etwa von Snapchat Dysmorphia die Rede, wenn sich Nutzer einer Schönheitsoperation unterziehen, um optisch mit ihrem Avatar zu verschmelzen. Der Film Surrogates bringt den versehrten Körper als Teil des Produktionskreislaufs zum Vorschein und zeigt die darin steckenden Widersprüche auf. Es ist bezeichnend, dass im Vergleich zur T ruman Show (1998) auch in diesem Hollywoodfilm am Ende nur eine Scheinauf hebung der Verhältnisse stattfindet. Der gegen das Surrogate-Universum agitierende Revolutionsführer erweist sich nämlich seinerseits als Surrogat. Dynamischer Stillstand – Die Projektionen des planetarischen Idiotismus penetrieren alle Vorstellungsebenen. An jeder Ecke tut sich ein Schlund auf, und ein Pol des Idiotismus ruft sofort den anderen Pol hervor, ohne dass es dabei eine Auflösung gäbe. Nathan Brown beschreibt diese Konstellation als „Dialektik im Stillstand“ und illustriert diese Absorption von Differenz und Inklusion anhand eines Gedichtes von Steve McCaffery aus dem Band Shifters (1976). Darin heißt es:
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you are what i am apart from what i is a part of
du bist was ich bin abgesehen davon wovon ich ein teil ist
Der Anfang kann auch gelesen werden als: „Du bist etwas, wovon ich entzweit bin“. „Apart“ und „a part“, Trennung und Teilhabe werden zur ontologischen Funktion, planetarischer Idiotismus und die Singularität der Person sind ein Aspekt des Satzes. „Du bist, was ich bin“, aber zugleich ist dieses mit Dir identische Ich ein Teil von etwas, der von Dir absieht, das in völliger Isolation und doch identitätslos mit sich, aber paradoxerweise zugleich mit allen anderen identisch ist. Dieser dynamische 305
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S tillstand bestimmt die Gegenwartsaporie des planetarischen Idiotismus, der für die totale Isolierung der Subjekte steht, die in ihrer Isolation alle zu Identischen werden. Spiegelkabinett und fensterlose Monade in einer einzigen Bewegung. Der Wirkungsbereich des neuen Idioten ist in der planetarischen Konstellation aufgegangen. Das Wollen des Klons ist entfremdet (wird aber permanent einverleibt), und das appetitive Wollen der Monade ist unverständlich (wird aber permanent verständlich gemacht). Die volonté générale äußert ein Wollen, das sein Gegenteil will. Verkennung – Die Utopie des Individuums besteht darin, dass sie sich niemals verwirklichen kann, ohne die Einzigartigkeit jedes Einzelnen in Frage zu stellen. Und der liberale Egalitarismus kann sich nicht erfüllen, ohne das Glück in der Figur des Einzigen erfüllt zu sehen. Individuell ist man stets in Beziehung zu etwas Übergeordnetem, Teilbarem: einer Gruppe, einer Organisation, eines Gemeinsamen. Ein Politiker verhält sich z.B. individuell, wenn er sich vom Parteidiktat absetzt. Ein Bürger verhält sich individuell, wenn er sich nicht-bürgerlich verhält, wenn er sich gegebenen Normen nicht nur verweigert, sondern sie in etwas anderes überführt, innovativ handelt. Und umgekehrt: Pasolini hat etwa durch seine Untersuchung der Hippie-Kultur auch auf die entindividualisierenden Tendenzen einer individualistischen Protestbewegung hingewiesen, was man heute mit Jonathan Toubull als „Hipster-Effekt“ umschreiben könnte. Ein Fall ist hier besonders erhellend: Nachdem im Februar 2019 im MIT Technology Review Toubulls Studie Der Hipster Effekt – Warum Antikonformisten alle gleich aussehen besprochen worden war, meldete sich ein junger Mann verärgert bei der Redaktion. Er verlangte unter Androhung juristischer Schritte, dass man ein Foto, auf dem er zu sehen war, aus dem Artikel entferne, da es ohne seine Erlaubnis veröffentlicht worden sei (das Titelfoto zeigte einen bärtigen jungen Mann mit Wollmütze auf dem Kopf und sollte einen „prototypischen Hipster“ darstellen). Durch die Stigmatisierung als Hipster sah der junge Mann sein Persönlichkeitsrecht verletzt. Das Problem war nur, dass es sich bei der fotografierten Person um einen anderen jungen Mann, ein männliches Fotomodell, handelte. Mit anderen Worten: Der Anrufer hatte 306
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sich mit einer anderen Person verwechselt, die einen typischen Hipster darstellte, um sich daraufhin darüber zu beschweren, dass er als Hipster stigmatisiert würde. Er bestätigte Toubulls Studie auf kuriose Weise. Wie es ein Redakteur ausdrückte: „Hipster sehen sich so ähnlich, dass sie sich nicht einmal mehr selbst voneinander unterscheiden können“. An dem Fall zeigt sich nicht nur eine Posse der Selbstbezüglichkeit oder Verwechslung. Es zeigt sich vor allem das fundamentale Verkennungspotenzial des Einzelnen und seiner Repräsentationen, das auch die Unangepassten zu Konformisten macht. Entzweiung – Ein Hauptwiderspruch heutiger Demokratien besteht darin, dass sie einerseits zunehmend auf die Entfaltung der freien Persönlichkeit und ihrer Identität geeicht sind und dass andererseits die Verwirklichung dieses Ziels die Gesellschaften und dadurch auch jedes Individuum unmöglich macht. Bleibt eine wie auch immer geartete Synthese dieses Widerspruchs aus, manövrieren wir uns in eine unmögliche Gesellschaft. Nach Christoph Menke spiegelt sich im Widerspruch eine Entzweiung des Subjekts wider: „Die Entzweiung der Freiheit ist die in uns selbst. Auf der einen Seite ist das freie Subjekt etwas absolut Besonderes, bis hin zum Idiotischen, abgründig Unverständlichen. In der liberalen Ordnung wird daraus das Subjekt, das nur seinen eigenen Interessen folgt. Auf der anderen Seite wollen wir das Allgemeine, also die Gleichheit aller. […] Damit hat die liberale Ordnung die beiden Freiheitsmomente jeweils getrennten Sphären zugeordnet, der ökonomischen und der staatlichen. Und in der Trennung der beiden Momente verlieren sie ihre befreiende und überschreitende Kraft. Beide Seiten werden im Liberalismus unfrei.“ Die Entzweiung ist nicht das, was landläufig als Stichwort der „gespaltenen Gesellschaft“ artikuliert wird, sie beruht auf der Inkongruenz des Allgemeinen und des Besonderen. Das heißt mit Adorno: „Die Selbsterhaltung glückt den Individuen nur noch, soweit ihnen die Bildung ihres Selbst mißglückt, durch selbstverordnete Regression“. Wenn die Frage des Sozialaktivisten lautet: „Warum betreiben wir diesen welt- und selbstverzehrenden Wahnsinn aus Umweltzerstörung und sozialer Zerrüttung, wenn er nur unerträgliche Qualen 307
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verursacht?“ (Monbiot), dann lautet die Antwort, dass Menschen ihren Subjektstatus gerade durch diese Zerrüttung erlangen, dass das Subjekt also a priori ein ins Loch hüpfendes ist und sein Warum mit sich in die Tiefe zieht oder es verschlingt wie ein Fast-Food-Menü.
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PHÄNOMENOLOGIE DER VIELEN
The future belongs to crowds. Don DeLillo, Mao II
Mengenlehre – Die Zukunft gehört den Vielen. Aber in welcher ‚Masseform‘ realisieren sie sich? Die Vielen sind entweder als diskrete Ansammlungen von Menschen sichtbar, dann bewegen sie sich auf einer offenen Ebene, durch die Fußgängerzone, durch den dichten Straßenverkehr, oder sie versammeln sich in Stadien, werden dort zum „Publikum“ oder zur „Geräuschkulisse“. Die Stimme der Vielen, mit der ein Team angefeuert oder eine Hymne gesungen wird, hat eine kultische Qualität, sofern sie die Stimme des Einzelnen aufhebt (hier lässt sich Mladen Dolars Philosophie der Stimme dahingehend ergänzen, dass es nicht nur „ein kleiner Schritt von der Linguistik zur Theologie“, sondern auch ein kleiner Schritt von der Akustik zur Theologie ist). Die Masse hat auch Ikonencharakter. Die Vielen vermengen sich, wenn sie sichtbar sind, zur Menschenmenge, die wahlweise „grau“ oder „bunt“ erscheint: eine bunte Menschenmenge beim Karneval der Kulturen oder eine graue Menschenmenge bei einer Straßen-Demo oder Trauerfeier. Das Bild der Vielen hat nicht nur Stimme und Farbe sondern auch, wie Canetti in Masse und Macht dargestellt hat, Richtung und Bewegungsmoment. Die Masse hat eine Raumordnung, eine Ebene, eine Geometrie. Deshalb kann sie dort als Bedrohung wahrgenommen werden, wo eine andere Geometrie vorherrscht. Ein eindrückliches Beispiel war der syrische Flüchtlingszug, der sich im Sommer 2015 durch Slowenien in Richtung Norden bewegte. Eine Aufnahme hat sich mir in ihrer Kombination aus humanitärer Katastrophe, existenzieller Dringlichkeit und geometrischer Schonungslosigkeit ins Gedächtnis gebrannt: 309
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Der Flüchtlingszug bewegt sich auf weiter Ebene in Richtung Grenze, quer durch die geometrische Ordnung, als anonymisierter Verbund, als politisches Zwangskollektiv, das keinen Staat kennt. So stark politische Wirklichkeit und Teilnahme den Blick bedrängen, gilt es sich vor Augen zu führen, wie sehr die Geometrie der Vielen zu ihrer medialen Wirkung beiträgt, denn immer wieder blicken auf bestimmte Viele andere Viele und auf bestimmte Einzelne andere Einzelne. Wenn z.B. ein totes Kind aus dem Wasser geholt wird, reagieren andere Einzelne, und wenn eine Menschenmenge von Streitkräften beschossen wird, reagieren andere Viele. Die archaische Kombination von „Volk und Land“ erscheint im Landschaftsbild in aller Rohheit, weckt entweder Hilfsinstinkte oder regressive Atavismen des Stammvolks, das sich seiner Geometrie versichern will. Martin Warnke hat in seinem Band Politische Landschaft (1992) aufgezeigt, wie sehr die historische Formation der Landschaft politische Wirkung entfaltet oder hegemoniale Bedeutsamkeit bezeugt (z.B. ein Fluss als natürliche wie politische Grenze). Da die Natur die Allgemeinheit der Vielen betrifft – man denke an Hobbes’ „Naturzustand“, der wie jede Annahme einer original position bis hin zu John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit immer auch politisch konfiguriert ist –, werden die Vielen auch zum Subjekt des politischen Territoriums. Die deterritorialisierten Flüchtlinge werden aufgrund ihrer Erscheinung zur territorialen Aufhebung des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert, zur „Völkerwanderung“ ohne Volk. 310
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Attraktor – Je weiter sich das Auge von den vielen Einzelnen entfernt, desto abstrakter, aber auch desto verwandter werden sie. Aus der Astronautenperpektive lassen sich keine Ethnien, sondern nur Weltpunkte ausmachen, die sich gegebenenfalls zu Haufen und Clustern bündeln. Diese Weltpunkte sind nicht immer deutlich sichtbar, sondern sie ‚verstecken‘ sich in Hütten und Hochhäusern, sind durch Wände, Flüsse oder Straßen getrennt. Würde ein Astronaut mit einer Infrarotvorrichtung auf eine Stadt blicken, sähe er unzählige aufleuchtende, nebeneinander bzw. übereinander ruhende oder sich bewegende Weltpunkte. Diese vielen Einzelnen scheinen keine grundsätzliche Richtung zu haben (wie etwa die Einzelnen in Wendys Welt), außer sie drängen z.B. allmorgendlich zum Arbeitsplatz. Wenn sich die Weltpunkte abends schlafen legen, sind sie viele Einzelne, die keine gemeinsame Richtung haben. Wenn sie am nächsten Tag wieder in Bewegung kommen, sind sie auf Feldern, in Fabriken oder als Autofahrer in einem Stau konzentriert, oder sie stellen sich irgendwo an und bekommen Richtung, weil sie sich gleich Magnetnadeln auf einen Attraktor hin ausrichten, z.B. ungefähr so:
°°°°°°°° →
@
Es ist dabei zu beachten, dass am Attraktor @ stets etwas ‚menschenähnlich‘ sein muss (hier symbolisiert durch die Kreisform des @), sonst entfaltete er keinen sozialen Magnetismus, d.h. das Interesse der vielen Einzelnen würde nicht im Attraktor reproduziert, wenn dieser nicht durch alle Kälte der Apparatur hindurch irgendeine Form der Wärme ausstrahlte. Auch stehen die Einzelnen nicht immer in Reih und Glied, sondern drängeln sich auch zum Attraktor oder umzingeln ihn. Was auch immer der Grund für einen sozialen Magnetismus sein mag – Kinokasse, Wahlkabine, Führerrede, Schlussverkauf, Wasserausgabestelle, Massenkundgebung: Stets reproduziert der Attraktor ein Interesse und sorgt damit für Richtung, sei es auch die Richtung eines zum Gruß erhobenen Armes, der in Richtung Rednertribüne zeigt. Viele Machtkonstellationen, für die eine bestimmte Richtung wichtig ist, beschränken sich daher auf einen einzelnen Attraktor: Die Warteschlange oder der Autobahn311
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stau beispielsweise haben eine andere Anmutung als eine Demo oder eine Militärparade, doch sind alle topologisch dahingehend verwandt, dass sie einen Attraktor und eine Richtung besitzen. Dieser Attraktor kann sich auch aufheben oder kurzschließen: In Godards Weekend wird beispielsweise der Stau zur Gesellschaftsmetapher, die sich gegen sich selbst wendet. Alle wollen irgendwo hin, wollen ankommen, aber der Verkehr stockt – sozusagen ‚für immer‘ –, und sie vergessen mit der Zeit, wo sie als Individuum oder als Gesellschaft hinwollten. Es scheint so zu sein, als ob im Stau alle auf Godot warteten, als ob sie darauf warteten, dass sich das Leben mit Ereignissen anfüllt, dass sich die Welt um sie dreht und dabei Bedeutungen abwirft.
Vorrichtungen für die Vielen: Airbus-Patent für effizientere Passagierunterbringung in der zivilen Luftfahrt (2013).
Vor-Richtungen – Wo die Vielen nicht als diskrete Masse erkennbar sind, ist die Masse abstrakt und kann nur symbolisch interpretiert werden, etwa als Verkehrsaufkommen, als Nation oder als statistisches Datum. Die einzelnen Vielen bekommen dann im Durchschnitt 1,4 oder 0,9 Kinder, abstrahieren sich statistisch zur Bevölkerung, romantisch zum Volk oder postromantisch zur Multitude. Die Vielen sind multimodal und immer da – als Weltpunkte, als Einzelne, als Masse, als Symbol, als abstrakte Vielheit, als Zahl, als Gruppe, als Man, als Publikum, als Welt. Ein Weltpunkt bin ich, ein anderer Weltpunkt ist ein anderes Ich. Ein Du oder ein Wir gibt es unter Punkten nicht, wir existieren jenseits der 312
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Individuation und diesseits der vielen Einzelheit und einzelnen Vielheit einer politisch immer wieder zu bestimmenden Anzahl. Ohne moderne Trennvorrichtungen, die bis in die fragilste Separierung der Privatsphäre die Einzelnen bestimmen, wäre die Menge der Vielen unvermittelt und sinnlos. Die Trennungen, die materialen Anrufungen in Althussers Sinne entsprechen, schaffen unzählige Vor-Richtungen, an denen sich die Einzelnen orientieren und subjektivieren. Je mehr dieser Trennvorrichtungen existieren und je technologischer sie werden, desto bestimmter ist die Richtung der Vielen und desto abstrakter erscheint die Masse. Dem welträumlichen, in Einzelhaft oder am Computer sitzenden Einzelnen wird nach einiger Zeit die Menschheit als abstrakte Idee vorkommen. Dem im Gemenge aufgehenden Massenmenschen ist das Individuum abstrakt. Doch ist das Verhältnis ein vermitteltes: Aus dem zentralen Topos der alten Moderne, der Masse, ist im neuen Jahrtausend der zahllos Gespiegelte und planetarisch Vernetzte als dessen Epiphanie hervorgegangen – das Nacheinander oder Nebeneinander des Schwarms, der vielen Einzelnen, die auf Richtung aus sind und von Organisationsprinzipien der Soziophysik abgebildet und mit Hilfe von Soziometern festgestellt werden. Jeder Einzelne wird zum Daten aussondernden Schwarmelement, das politische oder ökonomische Entitäten statistisch bestimmt und ko-steuert. Sich gegenseitig stimulierende Systeme und Subsysteme schaukeln sich gegenseitig ins Optimum einer zunehmend von abstrakten Datenströmen bestimmten Welt, die auf eine vollständige Automatisierung und (kapitalistische) Enteignung aller oder auf das totale Eigentum des Einen hinausläuft. Die dichte, gerichtete und sichtbare Masse hingegen, die etwa die Bastille stürmt oder als proletarisches Kollektiv die Institutionen der Bourgeoise stürmt, ist heute entweder unmöglich geworden oder nur ansatzweise auszumachen. Heutige Proteste und Massendemonstrationen besitzen eine andere Geometrie als die Millionen, die 1989 in den Ostblockstaaten auf die Straßen zogen, oder die Myriaden heutiger Online-Fans, die inzwischen in Milliardenstärke ihren Celebrities folgen. Und das öffentliche Wir („Wohin wollen wir?“, „Wie wir gesehen haben…“) hat die Geometrie von Gemeinplätzen.
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Ubiquität der Distanzen – Die architektonischen Zeichnungen des Savant-Künstlers Gilles Tréhin in seiner Serie Urville (2006) schaffen eine idiotypische Vision der Vielen. Der Künstler wurde dadurch bekannt, dass er, wie auch andere Inselbegabte, äußerst detaillierte und maßstabsgetreue Stadtszenerien entwirft. Eine typische Straßenszene in Urville zeigt ausführlich dargestellte neoklassizistische Gebäude, die an Pariser Stadtteile erinnern. Und auf den Straßen tummeln sich Menschen auf folgende Weise:
Um eine belebte Stadt darzustellen, verteilt der Künstler die Figuren in gleichmäßigen Abständen über Straßen und Plätze. Es bilden sich keine Grüppchen, jeder ist als Einzelperson dargestellt, die Straßen sind pointillistisch angefüllt. Tréhin versteht Urville als reale Stadt. Die Personendarstellungen sind aber im Gegensatz zur Architektur sehr schematisch. Menschen wirken wie architektonische Alibis, welche die Detailfülle der Gebäude kontrastieren. Dort lebendige Architektur, hier untote Figuren. Unweigerlich wird man nun bei der Betrachtung der Zeichnungen auf die eigene Neurotypik zurückgeführt: Der erste Reflex wird sein, daran zu denken, dass künstlerische Savants ein unverstandenes Sozialleben führen und diese Vereinzelung der Figuren eine Art unbewusster Ausdruck dieser gesellschaftlichen Isolation ist. Zudem scheint es wissenschaftlicher Konsens zu sein, dass die Aufmerksamkeit von Autisten „in erster Linie auf nichtsoziale Gegenstände gerichtet ist“ (Zahavi) und dahingehend „geistesblind“ ist (sie können die mentalen Zustände anderer Personen nicht erkennen). Man könnte aber genauso gut andersherum argumentieren: Gerade das Werk eines Savants ermöglicht den Neurot ypischen, ihre normierte soziale Wirklichkeit zu erkennen, weil der S avant ‚unparteiisch‘ ist. Eine Inselbegabung ist nicht nur auf das 314
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b eschränkt, was jedem offensichtlich ist („toll Gebäude zeichnen können“), vor allem weil die Zuschreibung des Talentes neurotypisch ist. Jemand, der kein Talent hat, definiert den Talentgehalt des Neuro untypischen, aber was weiß der Typische vom Talent? Die Einzelnen sind in Urville statisch über die Ebene verteilt, um statistisch durch das Labyrinth der Straßen zu gehen. Sie sind abstrakte, durchschnittliche Viele. Nicht das architektonische, sondern das gesellschaftliche Talent des Savants, das sich im vermeintlichen Unvermögen zeigt, erweist sich hier als relevant: die im Grunde abschätzige Darstellung der Menschen, die sich strichhaft durch die Straßen bewegen. Aber ist nicht gerade das die adäquate Darstellung einer Welt, in der sich der Einzelne von systemischer Perfektion umgeben sieht, ohne dabei einen realen Bezug zu dieser Perfektion aufbauen zu können? Die allgemeinen und leeren Baualgorithmen der technologischen Vernunft kontrastieren die besonderen und imperfekten Einzelwesen, die sich in gleichmäßigem Abstand in den Straßen tummeln – eine Welt, die einem Computerspiel gleicht, in dem es nur Hintergrundcharaktere, aber keine Spieler gibt. Irgendwo & überall – Es sollte nicht überraschen, dass die vielen Einzelnen und die einzelnen Vielen eine Entsprechung in der gegenwärtigen Online-Meme-Welt finden, die mit ihren Rekursionen, Besinnungs losigkeiten und Kürzeln alle Züge des planetarischen Idiotismus zeigt. Dieser offenbart sich in einem quasipolitischen Gamer-Widerstreit: Es ist vom Kampf zwischen Player Characters (PC) und Non-Player Characters (NPC) die Rede, d.h. einerseits ein Individuum mit Teilhabe und andererseits ‚hirnloser‘ Mitläufer, dessen Figuration auf den passiven Hintergrundfiguren in Videospielen beruht, die nur einen rudimentären Algorithmus besitzen. NPCs verhalten sich nicht, sondern fahren Bewegungsmuster ab, sind an kleineren Interaktionen beteiligt, ohne das Spielgeschehen zu steuern. Wenn man sich mit den NPCs beschäftigt, fällt auf, wie viel Charakter sie trotz aller Begrenzung vermitteln. Seit Joseph Weizenbaums Eliza-Algorithmus in den 1960er Jahren ist die Menschenähnlichkeit des programmierten Verhaltens ein Fokuspunkt der Turing-Gemeinde. Dort aber, wo Menschenähnlichkeit auftaucht, 315
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ohne dass überhaupt eine Täuschungsabsicht vorliegt, ist der Mensch schon zum deskriptiven Algorithmus seiner selbst, d.h. zum NPC mutiert, der die artifizielle Vernunft von der natürlichen einfordert. Das hat auch schon jenseits des Meme-Universums Konsequenzen: Vor kurzem hat sich die größte US-Bank, JPMorgan Chase, dazu entschlossen, Produktslogans und Kundenkommunikationen von AI-Algorithmen verfassen zu lassen. In einem dreijährigen Pilotprojekt stellte sich nämlich heraus, dass Kunden deutlich häufiger auf von AI-generierte als auf von menschlichen Textern verfasste Botschaften reagierten. Die Programme scheinen ‚erspüren‘ zu können, wie Kunden ‚ticken‘, aber nicht weil die AI-Intelligenz immer menschlicher wird, sondern umgekehrt: weil Kunden inzwischen wie Programme ‚ticken‘, die wiederum von Programmierern zum Ticken gebracht werden, die mit Kunden nichts zu tun haben. Letztlich dominieren wie im Film Idiocracy die Sprachen des Nerds das öffentliche Leben. Werbeprofis finden mit ihrer professionellen Intuition daher keinen Zugang mehr zur intimen maschinellen Relation von Nerd und Nutzer, App und Consumer. Um diese heutigen Schwellenerfahrungen der Maschinenwerdung oder ‚Azephalität‘ deutlich zu machen, wurde in den Meme-Communities die Verwandlung des PC in einen NPC ebenfalls zum Meme. Es bemüht eine Horror-Metaphorik: Man sieht eine Gruppe von NPCs, die einen PC umzingeln. Einer von den NPC durchstößt den PC von hinten und reißt ihm das Herz heraus (das Herz als Kitsch-Metapher für Menschlichkeit). Die beschwichtigenden Arme auf den Schultern des PC und der immergleiche Null-Ausdruck verdeutlichen den hegemonialen Charakter der NPC-Population, die den PC wie in einem Zombie-Ritual zum Untoten macht.
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Diese Imagologien des Meme-Universums finden eine politische Entsprechung in David Goodharts The Road to Somewhere. Goodhart beschäftigt sich mit den politischen Antinomien, welche die Moderne erzeugt hat, und dem daraus erwachsenden Antagonismus zwischen „Somewheres“ und „Anywheres“, d.h. Verorteten und Unverorteten. Der PC entspricht dahingehend dem Somewhere, d.h. jemandem, der seinen Ort im Polit-Spiel definiert hat und Handlungstraktionen bzw. ‚Magnetismus‘ entfaltet, während der NPC durch seine Passivität dem allgemeinen Spielfluss ausgesetzt ist und quasi überall eingesetzt werden kann. Irreführend wird die Unterscheidung, wenn Somewheres mit Tribalisten und Anywheres mit Globalisten gleichgesetzt werden und die Verortung im Spiel absolut genommen wird. Denn somewhere ist anywhere. Inflation der Attraktoren – In Wendys Welt gibt es mit dem Loch einen zentralen Attraktor. Da sich alle Mitläufer darin ähnlich zu einem Rutenbündel konzentrieren und aufgehen, ist diese Welt strukturell ‚faschistisch‘. Das ist aber nur ein Aspekt, denn die Einzelnen marschieren nicht uniformiert in Reih und Glied, sondern laufen ‚individuell‘ in Richtung Loch. Das Loch entspricht nicht der charismatischen Anwesenheit eines Führers, sondern im Gegenteil: Es entspricht seiner Abwesenheit. Wendys Bild beschreibt nicht die traditionelle faschistische Masse, sondern entspricht dem besagten Faschismus im „planetarischen Maßstab“ (Guattari). Wendys Bild müsste, wenn man es zur politischen Allegorie formte, wie bei einem Triptychon um zwei Bilder ergänzt werden: Eine Variante, in der das Loch zugebuddelt ist und alle Einzelnen sinnlos über die Ebene laufen, sich gegenseitig anziehen oder abstoßen, und eine Variante, in der es unzählige Löcher und unzählige Wendys gibt, die ihre eigenen Hamburger produzieren. In diesem Triptychon haben wir es mit der unheimlichen Anwesenheit des großen Loches, einer absurden Leerbewegung der Vielen ohne Loch, Sinn und Verstand und zugleich mit einer Inflation von Mikro-Attraktoren zu tun, welche die einzelnen Vielen umzingeln und ihnen dadurch das Entkommen erschweren (vergleichbar mit Malls, in denen sich Kunden durch viele Attraktionen so lange wie möglich aufhalten sollen). Das Triptychon entspricht der 317
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weiter oben geschilderten postfaschistischen Dreifaltigkeit: dem palingenetischen (ein zentrales Loch), dem bürokratischen (unzählige Löcher) und dem planetarischen (keine Löcher) Aspekt. Die ökonomische Subjekt-Objekt-Beziehung ist in der dreifaltigen Gleichzeitigkeit aufgehoben: Jeder Einzelne ist nicht nur von zahllosen Attraktoren umgeben, sondern wird selbst zum Attraktor, geht im Produktschema selbstbezüglicher semiotischer Operationen auf, das nur eine einzige Form der Attraktion kennt. Übersetzt in die gegenwärtige Marktlogik: Ein Influencer trifft z.B. auf einen anderen Influencer, die dem jeweils anderen dasselbe Produkt anpreisen, die wiederum auf andere Influencer treffen, die sich gegenseitig dasselbe Produkt anpreisen usw., ohne dass irgendjemandem Zweck und Ende dieser Dynamik klar werden. Die Idiokratie beschreibt ein multimodales Attraktorenfeld, das man sich auch in Form von Myriaden gleichberechtigter Online-Nutzer vorstellen kann, die das egalitäre Potenzial des digitalen Kapitalismus darstellen, und zugleich bildet es dystopisch nur eine Form der Attraktion als Modus ab, in dem das Interesse des Einzelnen im entfremdeten Interesse aller aufgehoben ist. Stars – Die Einzelnen in Urville sind indifferente richtungslose Mänchen. Die Einzelnen in der singularisierten Gesellschaft sind Attraktoren, als viele Einzelne, die potenziell selbst Magnetismus und Marktmacht entfalten. Die Attraktivsten unter ihnen – die Stars – stehen nicht in der Schlange an, oder sie stehen zumindest so an, als ob andere auf sie warten. Die Stars tun, was sie wollen, und sie wollen, was sie tun. Zugleich haben Stars als viele Einzelne bisweilen die Anmutung der einzelnen Vielen, frönen der „Idiotie der Masse“, wie eben ein Popstar den Geschmack seiner Fans schafft, trifft oder nacheifert, als einer von ihnen. Massenmedien stellen den Kreislauf der Starwerdung und Starformung sicher. Werbeslogans wie „Jedes Kind ist einzigartig“ bedeuten immer auch: „Jeder hat das Zeug zum Star“, auch wenn nicht alle für die Starifizierung in Frage kommen. Jeder Star – beginnend auf unterster Stufe der Star werdung – ist autark und autonom, total eigen und somit eigenschaftslos. Er tritt als Star auf, bevor er bekannt ist (worauf auch der I diotenstatus 318
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v ieler sich selbst überschätzender Casting-Performer beruht). Wird ein einzelner Vieler durch eine günstige Marktdynamik tatsächlich zum Superstar, formt sich um ihn herum ein Schwarm, der seinem Star auf Schritt und Tritt folgt (unter den Top Ten Instagram-Accounts mit weit über 100 Millionen Followern finden sich heute einige Popstars, zwei Fußballer, ein Schauspieler und zwei TV-Starlets). Der Star kann etwas online posten – auch nur ein Wort –, und sofort werfen sich die Anhänger danach, legen sich millionenfach dieses Wort an und folgen der daraus folgenden Meme-Dynamik. Trotz dieser semiotischen Verlässlichkeit sind die Myriaden von Followern nicht unmittelbar politisch verwertbar, weil jeder Einzelne in seinem jeweiligen Feld selbst Starallüren hat. Jeder will selbst ein Star sein und sammelt eifrig Follower, um durch Wertdynamik und Rückkoppelung selbst M agnetismus zu entfalten. Dieser ‚Individualismus‘ rettet ihn vor dem Massenwahn. Nach unten gerechnet ist aber jeder Star nur ein Star in seiner Nischenwelt und in seiner Nachbarwelt unbekannt. Magnetismus – Jeder Weltpunkt ist im idiokratischen Koordinatenraum prinzipiell ein Subjekt der Starifizierung. Zugleich ist er in anderem Zusammenhang ein einzelner Vieler, ein Massenpunkt. Es gibt drei Varianten, wie Stars (Attraktoren @) und einzelne Viele (Follower o) in Beziehung treten können: @→@
° °→° @→
Entweder zwei Stars treffen aufeinander (@→@), die sich gegenseitig respektieren oder ignorieren. Kooperation zwischen Stars ist impotent, desaströs oder unmöglich, weil jeder Star als Star nur innerhalb seiner Nische existiert (auch in Filmen findet ja keine zwingende Potenzierung des Startums statt, wenn viele Stars zusammenkommen). Kooperation ist also sinnlos, weil es keinen Raum gibt, in dem sie stattfinden könnte, außer man schafft einen eigenen Star-Raum und die Möglichkeit neuer 319
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Starbildung. Oder ein Star trifft auf einen einzelnen Vielen (@→o), der sein Fan werden kann, dann bleibt der Fan an @ haften (wird zum Follower), oder er ist kein Fan von @, dann ignoriert er @ und schweift in Richtung eines anderen @ ab, dessen Fan er ist. @ kann dabei eine Person, ein „automatisches Subjekt“, eine Institution, ein Medium sein, das einen Magnetismus entfaltet. Zuletzt gibt es die Möglichkeit, dass zwei einzelne Viele aufeinander treffen. Ähnlich wie die Stars oben können sie zunächst nichts miteinander anfangen, weil sie jeweils nach einem @ Ausschau halten und Richtung wollen. Es kann hier aber auch zu einer Dialektik von Knecht und Knecht kommen, wenn sich beide im Bezug auf ihr gegenseitiges Verhalten ihres eignen Magnetismus bewusst werden und sich dadurch von bestehenden Attraktionen lossagen – wie wenn man die Anziehungskraft eines Planeten nutzte, um auf eine andere Umlaufbahn zu gelangen. Das entspricht ungefähr der klassenaufhebenden Klasse des Proletariats, sofern sich aus der Unternehmung ein gesellschaftlicher Pol bildet, der eine andere Form der Anziehung @' generiert als die bereits bestehenden oder grundsätzlich den sozialen Magnetismus aufhebt bzw. neu erschafft. Sonst würde aus der Dialektik der Vielen wie in Wendys Fall wieder nur eine Starproduktion. Wer nur ein neues Unternehmen gründet, ändert nichts. Und wer nur ändern will, endet in der Unternehmensgründung. Bruch des Phänomenologischen – Die operativen Strukturen der Weltpunkte implizieren Machtverhältnisse, welche die unpolitischen Vielen zur politischen Multitude machen: Wenn man sich in einer Warteschlange befindet, heißt das, dass man ein Anliegen hat (etwas zahlen, etwas beantragen, ausreisen), es heißt, dass die anderen in der Schlange denselben Status haben wie man selbst, und es heißt, dass die Erfüllung dieses Anliegens nicht in der Machtbefugnis der Wartenden liegt. Im Bezug auf sein Anliegen ist man eigenschaftslos und eindimensional, ein Punkt, sofern man dieser Struktur ausgeliefert ist, z.B. nur ein Antragsteller von Vielen und etwaiger Behördenwillkür ausgesetzt oder im schlimmsten Fall als Flüchtender ein lebloser, ‚masseloser‘ Punkt im Mittelmeer: 320
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An diesem ‚Punkt‘ kommt dann ins Spiel, was Achille Mbembe die „Schwarzwerdung der Welt“ bezeichnet, d.h. die Unterwerfung der Menschheit unter die Prinzipien der allgemeinen Versklavung – und im gleichen Zug auch die Vision und Subjektivierung ihrer Befreiung, der Geburt einer universellen Perspektive aus dem Tod des Subalternen: „[D]ie Frage der Welt stellt sich uns seit dem Augenblick, da der Mensch aus Fleisch und Blut und Geist unter dem Zeichen des Negers hervortrat, das heißt der menschlichen Ware, des menschlichen Metalls und des menschlichen Geldes.“ Aus dieser Frage der Welt erwächst die Vision „des Projekts einer kommenden Welt, […] deren Bestimmung universell ist“ (ebd.). Die Weltpunkte (o) sind in dieser Perspektive nicht als Ansammlungen farbloser Individuen zu verstehen, sondern stellen einen Null-Ausdruck des universellen Individuums dar, das in der historisch-politschen Wirklichkeit ‚Farbe‘ bekommt, in der doppelten, d.h. geschichtlichen sowie visionären Bedeutung des Wortes. Die Universalisierung des Gegenteils – Die Phänomenologie der Vielen führt uns dahin, Don de Lillos Aussage, dass den Massen die Zukunft gehöre, zu überdenken. So lässt sich mit Stieglers Wort vom Ende der Zukunft behaupten, dass der Zustand, in dem wir uns jetzt befinden, in gewissem Sinne endgültig sein könnte. Dies läuft auf Philip Bobbitts Kontinuuum des Market State als Hypothese hinaus – die ‚unendliche‘ Verlängerung des Kapitalismus in die Zeit, die sich in drei symbolischen Szenarien behauptet: Park, Garten und Wiese. Auf der Wiese kann jeder Akteur ungestraft sein Geschäft verrichten, und es herrscht libertäre Beliebigkeit: „In dieser Welt sind diejenigen erfolgreich, die die schnell lebigen, flüchtigen Möglichkeiten der Hochtechnologie und des globalen Marktes geschickt ausnutzen“ (Bobbitt). Im Park spielt jeder Akteur den Wächter, es gibt staatliche Kontrollmechanismen – die Verfassung des Parks „spiegelt eine Gesellschaft wider, in der die Werte und Einstellungen des unternehmerischen Market State vorherrschen“ (ebd.). Im Garten schließlich ist der Akteur uneingeschränkter Herrscher seines 321
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Kleinods, die Kontrolle ist Teil der Kultivierung, Staat und Identität werden deckungsgleich, d.h. die „Staaten des Gartens werden zunehmend ethnozentrisch und kulturprotektionistisch“ (ebd.). Kurzum: „Auf einer Wiese ist alles Überschwang, Zufall, Vielfalt. Ein Park ist überwiegend öffentlich gepflegt, stark reguliert mit verschiedenen Sektoren für unterschiedliche Zwecke. Ein Garten ist kleiner, nach innen gewandt – er zielt auf das Erhabene, nicht auf das Effiziente oder Gerechte“ (ebd.). In diesem Triptychon erscheinen die potenziellen Agents of Change heute als systemisches Geflecht unterschiedlicher Institutionen und Gruppierungen. Die Vielen haben keine diskrete Geometrie, mit der sich klare Bewegungstrajektorien abbilden könnten. So geht zivilisatorischer Fortschritt mit allerlei technologischen, kulturellen und politischen Regressionen einher, welche die Masse fragmentieren und die einzelnen Vielen gegeneinander aufbringen. Revolten wie der „Arabische Frühling“ werden sofort im Keim erstickt und übergeben sich der „Parabel der Revolution“ (Egon Friedell), an deren Ende also ein Zustand herrscht, der mit dem vorrevolutionären identisch oder schlimmer ist: In Ägypten etwa ist die El-Sisi-Herrschaft dahingehend repressiver als die Mubarak-Herrschaft, dass die antiautoritäre Revolution bereits ‚absolviert‘ ist (was gibt es Schlimmeres, als zu erfahren, dass sich die Zukunft bereits ereignet hat, dass nichts mehr kommt?). Wenn sich herausstellen sollte, dass sich Geschichte nur als Farce wiederholte, dann gilt auch die linke Ermunterung zum „Fail better“ nicht mehr. Vielleicht sind wir bereits an diesem Punkt, denn die üblichen Rechnungen linker Positionen zur Emanzipation der Vielen scheinen nicht mehr aufzugehen: Der Staatssozialismus ist vollends im Staatskapitalismus und der globalen Logik aufgegangen: Wer heute sicherstellen will, dass er zu Hungerlöhnen produzieren kann, investiert im kommu-kapitalistischen China. Wer immer noch glaubt, mit einer Parteiennomenklatur Sozialismus vorgaukeln zu können, betreibt wie die venezuelanischen Chavisten organisierten Zynismus. Ferner hat der in linkspopulistischen Politkampagnen (Sanders, Corbyn, Syriza, Podemos usw.) aufblitzende New Deal samt Wohlfahrtsstaatsnostalgie keine Traktion entwickelt, weil die systemischen Stellschrauben des Kapitals offenbar kein Zurück zur alten Sozialdemokratie mehr erlauben. 322
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Schon Roosevelts New Deal war eine mit Großindustriellen ausgehandelte Notlösung, um nach der Great Depression eine proletarische Revolution in den USA abzuwenden (mit dem ebenfalls kurzzeitig anschwellenden America-First-Faschismus hätten diese sich wohl arrangiert). Dem heutigen Idiokratenschwarm ist Wohlfahrtsstaatlichkeit indes zu reflexiv, zu undynamisch, zu skandinavisch. Der New Deal bekommt in den USA daher ein „Green“ vorgesetzt, um den Glauben an den Kapitalismus ideologisch abzufedern. Derlei scheint auch hierzulande nötig, denn: „Studien zeigen, dass die Grünen-Wählerinnen und -Wähler das Fliegen am problematischsten finden, aber verglichen mit den Wählern der anderen Parteien die höchste Flugquote haben“ (van Dyk). Verblendung herrscht allerorten, wenn man sieht, wie schnell der Vorschlag eines linken Politikers, Erste-Klasse-Abteilungen in Zügen abzuschaffen, für Schnappatmung sorgte, auch bei Kunden, die sich diesen Luxus nie leisten können (es würde vielleicht klappen, wenn man ausschließlich Erste-Klasse-Bestuhlung für alle vorschlüge). Zuletzt verfügen auch Grassroots-Initiativen, die das Selbstorganisatorische und Netzwerkhafte linker Organisation betonen, über keine realistische Machttrajektorie, vielleicht weil es keine übereinstimmende gesellschaftliche Vision gibt und der azephale Leviathan alle jungen Graswurzeln zertritt. Die Occupy-Zelte sind verschwunden, die Bankgebäude stehen noch. Daraus folgt eine neue Symbiose: Manche heutigen Grassroots- und Klimaaktivisten werden inzwischen durch Finanzkapital aus der Green-EnergyBranche gefördert. Welchen Massen gehört welche Zukunft? Es sind nicht die Volksmassen, es sind nicht die Massenbewegungen, nicht die gesponserten Nischen. Franco Berardi fordert hier eine generelle Befreiung des Einzelnen und der Vielen aus den Klauen der „ökonomischen Semiotisierung“, die Flucht aus dem allgemeinen Schema der Politik: „Nur durch Dissoziation (nicht durch Widerspruch) können unterschiedliche Formen entstehen“. Hierfür avisiert er die „poetische Kraft der Entfremdung“. Dann, so die Hoffnung, tut sich etwas beim Gegenteil.
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Politischer Perspektivismus – Der Umschlag von Nietzsches „ästheti schem Verhalten“ zu Kierkegaards ethischem Verhalten zu Marx’ politischem Verhalten setzt das Ästhetische oder Ethische nicht außer Kraft, sondern betont die Interaktionen der Handlungs- und Ausdruckssphären: die Ethisierung der Politik im Liberalismus, die Ästhetisierung der Politik im Faschismus, die Ethisierung der Ästhetik im Aktivismus, die Politisierung der Ästhetik im Staatssozialismus, die Ästhetisierung der Ethik im Postfordismus, die Ästhetisierung der Ästhetik im Postfaschismus. Die klassische fordistische Strukturierung der Multitude beschrieb Organisationsprozesse, in denen Programmmacher, Unternehmen oder Staatsapparate materielle Attraktoren installierten und den Vielen durch Anrufungsmechanismen ‚Eigenschaften‘ verpassten, wie z.B. eine Arbeitsethik, eine ‚Kultur‘, eine Identität. Dies geschah strikt innerhalb geo-metrischer Ordnungslinien, die klare Grenzen zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit, Arbeitsplatz und Wohnraum schufen, die die Vor-Richtungen des öffentlichen Lebens betonten und regelten. Die Theorie der Proletarisierung setzt innerhalb dieser geometrischen Ordnung an. Aus dieser Perspektive erscheint z.B. die globale Migration als Aushebelung dieser Ordnung, denn sie stellt die Vor-Richtungen, an die wir uns gewöhnt haben, in Frage. Sie erscheint als Träger eines neuen Proletariats, das die geopolitische Tektonik in Bewegung bringt und Fragen zur (Inter-)Nationalisierung der Arbeiterbewegung aufwirft, die Marx etwa schon in Bezug zur irischen Arbeitsmigration adressierte. Welche Antworten man hier auch gibt, es herrscht ein emanzipatives Heilsversprechen vor, das Negri & Hardt bei ihrer Theoretisierung der Multitude leitet, die als revolutionäres Subjekt die Ordnung der Produktionsweisen aushebeln soll. Doch das idiokratische Verhältnis ist ein weitergehendes, radikaleres, paradoxes, komplexeres. Es beschreibt „eine grenzenlose Marktform, die ältere Unterscheidungen zwischen Markt und Gesellschaft, Markt und Welt oder Markt und Person ignoriert“ (Zuboff). Die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit, Arbeitsplatz und Wohnraum sind längst durchlässig geworden, die Migration als gesellschaftliche Strukturierung ist ubiquitär. Wir migrieren, sobald wir einen Schritt vor die Tür setzen. Die Arbeit ist überall hin ‚gewandert‘, hat die 324
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Lebenszeit der Vielen ‚unterwandert‘, die sich längst nicht mehr gegen ihre Attraktoren abschotten, sondern sie mit nach Hause nehmen. Dieser Komplex leitet sich von der Verwobenheit von geistiger und manueller, komplexer und einfacher Arbeit ab, die zugleich mit Dekonstruktionen der politischen Repräsentanz einhergeht. So wie das Berufsfeld unsere Freizeit zergliedert, zerfasern sich die Repräsentationen des politischen Willens, lassen sich nicht mehr an einer Partei, einer Organisation, Bewegung und nicht einmal an einem Standpunkt festmachen. „Sie repräsentieren uns nicht!“, lautete etwa der paradigmatische Ausruf der Indignados, die sich im Mai 2011 auf der Puerta del Sol in Madrid zusammenfanden. Aber diese Diagnose muss man umfassend verstehen. Die Dekonstruktionen der Vor-Richtungen spiegeln sich auch in den oben besprochenen idiotypischen Figurationen wieder: dem Willen zum Absurden, in der Frenetik, im Einzigen usw. Diese Entwicklung ist dahingehend regressiv, dass sich im Zusammenbruch der Repräsentation ein Endzustand abzeichnet, der zivilisatorische Errungenschaften untergräbt. Und emanzipatorisch ist sie dahingehend, dass im Zusammenbruch der Repräsentation permanent neue Horizonte aufgerufen werden. In den Worten Paolo Virnos: „Nicht das Vorübergehende, das Marginale oder die Überbleibsel vergangener Lebensformen überwiegen [in der nicht-repräsentativen Demokratie], sondern vielmehr die konkrete Aneignung und Neuformulierung des Wissens und Könnens […]“. Der Idiot und sein Idiotisches setzen hier die erstarrten Formen durch den Einsatz des Absurden in Bewegung. In derselben Bewegung liegt die Bedingung der Möglichkeit einer emanzipierten Öffentlichkeit. Die postfordistische Multitude ist kein repräsentatives Kollektiv, das neue Proletariat kein ‚Volk‘, keine Klasse der Klassenlosen, sondern ein Ausdruck des General Intellect, eines menschlichen Potenzials – ein kartesischer Nullpunkt der Erkenntnis. Ähnlich wie das entspiegelte Selbst die Ebene des Realen anspricht, sind die emanzipierten Vielen als General Intellect eine präflexive Kategorie der Organisation. Sie sind im Sinne Rosa Luxemburgs spontan, oder sie sind nicht. Hier zeigen sich das Potenzial und die Gefahr, die von der Soziophysik und der Computational Economics ausgehen. Als rationale Tools der politischen Organisation sind 325
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sie zu begrüßen, da eine Organisation der Vielen auf lange Sicht nicht irrationalen Marktgesetzen unterliegen darf, deren ständig komplexer werdende Formalisierungen in ökonomischen Formeln uns permanent eine Schein-Rationalität vorgaukeln. Die universelle Vernunft liegt nicht in der Formalisierung begründet. Andererseits bildet sich gerade im rationalen Versuch der planetarischen Steuerung komplexer Systeme die Irrationalität von Markt und Macht ab. Einerseits kann Big Data also, wie Alex Pentland meint, eine „humanizing force“ sein, andererseits bildet es in der dystopischen Perspektive des „Überwachungskapitalismus“ à la Zuboff den planetarischen Totalitarismus perfekt ab. „Big Data gibt uns die Möglichkeit, die Gesellschaft durch die Millionen von Netzwerken interpersonellen Austauschs in all ihrer Komplexität zu sehen. Wenn wir eine ‚Gottesperspektive‘ hätten, den totalen Überblick, könnten wir potenziell zu einem wahren Verständnis der Funktionsweise unserer Gesellschaft gelangen und Schritte unternehmen, unsere Probleme zu reparieren“ (Pentland). Doch sind „unsere Probleme“ andere Probleme als die Probleme, die die instrumentelle Vernunft erkennt. Die Idiokratie steht für die Unwägbarkeiten und zugleich für die Notwendigkeit, den emanzipierten Raum der Vielen als Raum des Absurden, als Raum des Widerspruchs zu definieren, der multimodale Weisen des Politischen ausagiert. Diese Notwendigkeit befördert zugleich auch eine parafaktische Fähigkeit, die Weltoptimierern, Marktschreiern und Computergurus offenbar abgeht: Die Flexibilität, mit verschiedenen Zeichenarsenalen egalitär bzw. gleich ‚dilettantisch‘ umgehen zu können. Mit anderen Worten: Wenn schon Idiot, dann in jeglicher Hinsicht.
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IDIOPRAXIS
„Auf das Podest … und Idiot sein.“ Erwin Wurm
Null-Ausdruck der Zukunft – Als er einmal gefragt wurde, ob er ein Optimist oder Pessimist sei, antwortete Pasolini mit: „Ich bin ein Apokalyptiker.“ Das Spiel mit Endszenarien ist auch in einer Idiokratie ein wichtiger Ansatz. Es geht um die Suche nach einer Bedeutung, die man dem Ende der Dinge und Wesen abgewinnt: Was kommt nach dem Ziel? Wie lebt es sich nach dem Happy End? Was kommt nach dem Glück? Was kommt nach dem Danach? Denn, wie es in Don DeLillos C osmopolis heißt: „Die Zukunft insistiert“. Derlei Überlegungen mögen in einer Praxis münden, die Antonio Negri einmal als „ Humanismus nach dem Tod des Menschen“ bezeichnete. Bernard Stiegler sieht auf ähnliche Weise eine Epoche des Neganthropozän aufsteigen: eine organologische Entgegnung, eine extropische Praxis, die sich dem Informationstod der Gesellschaft entgegenwirft. Es geht hier nicht um fixe Zeiträume. Diese transanthropologischen und neohumanistischen Perspektiven eint, dass sie sich dem Ende gegenüber öffnen und damit auf ein perpetuiertes Denken des Neubeginns hinauslaufen, eine ‚permanente Revolution‘ der Zukunft, wenn man so will, die sich dem obigen „Ende der Zukunft“ entgegenwirft. Diese Perspektiven boten sich in Ansätzen schon im ausgehenden 19. Jahrhundert den Avantgarden, und sie hallen heute etwa in Mbembes Hoffnung auf einen „kollektiven Aufstieg zum Menschsein“ wider. Diese Vision bricht sich immer wieder im Prisma idiokratischer Vernunft, denn der Aufstieg zum Menschsein betrifft die vielen Einzelnen, die, vom Glanz des Neuen geblendet, selbst zu Glänzenden werden. Die Produktionsweisen färben aufeinander ab, Gattungsgrenzen sind 327
Idiokratie
so durchlässig, dass sie von keinem Grenzregime in Schranken gehalten werden können. Es gibt keine kollektive Aufstiegsrichtung der Menschheit, ihre Bewegungen vermengen sich mit dem Stimmengewirr von Macht und Meinung. Manche Akteure bauen dennoch darauf, mit ihrer Botschaft die Inflation der Zeichen und Zeiten zu überleben: „Das letzte Wort hat der Dichter. Nicht jetzt. Nicht zwischendrin, solange alle noch laut und getrennt vor sich hin reden. Aber später, wenn die Stimmen verebben und die Erde ganz Ohr wird“ (Strauß). Das „letzte Wort“ ist die literarische Hoffnung des Einzigen. Werden aber in dieser letzten aller Gegenwarten Ding und Unding, Mensch und Unmensch, Dichtung und Deutung ineinander übergehen, bis selbst das Ende als Kriterium und das letzte Wort als Wort nicht mehr erkennbar ist? Wenn also alles gleich vorhanden ist und nichts mehr verschwindet? – „Was wir ausscheiden, kommt zurück, um uns zu verzehren“, schreibt Don DeLillo. Ist es aber andererseits nicht gerade die Aufgabe jeder kritischen Fantasie, die Logiken und Widersprüche des Endes ständig zu hinterfragen, Enden aufzulösen oder zusammenzuführen, lose Enden aufzunehmen und an andere Enden zu knüpfen? „‚Jede Straße‘, hat Carlyle gesagt, ‚sogar diese Straße von Entenpfuhl führt dich bis ans Ende der Welt.‘ Aber wenn man die Straße von Entenpfuhl ganz bis zum Ende verfolgt, kehrt man nach Entenpfuhl zurück; derart daß Entenpfuhl, wo wir schon gewesen sind, eben das Weltende ist, das wir suchen wollten“ (Pessoa). Blicken wir also zum Schluss – und in gewissem Sinne wieder an den Anfang zurückkehrend – auf die Praxis-Optionen, die sich aus diesem End-Spiel ergeben. Rückzugsraum – Die traditionellen philosophischen Ratschläge für das gute Leben sind anti-apokalyptisch und gegen das Ende gewandt. Die Idee ist: Wenn sich jeder Einzelne vorbildlich verhält, wird ‚am Ende alles gut‘ und das Ende im Glück aufgehoben: Ende gut, alles gut. Die philosophische Haltung bescheidet sich dabei seit Sokrates’ Verteidigungsrede damit, angesichts der Unwägbarkeiten der Vielen den kontemplativen Rückzug zu empfehlen. Ein Leben ohne Selbsterforschung, sagt Sokrates, sei es nicht wert, gelebt zu werden. Mit anderen Worten: Das unerforschte Leben hat kein Ende in sich. Zugleich lehrt die Erfah328
Idiopraxis
rung, dass diese heimelige „Wendung aufs Subjekt“ (Adorno) im öffentlichen Leben an ihre Grenzen stößt. Um einen Bürger-Solipsismus zu vermeiden, soll man den Blick aufs Große Ganze nicht verlieren. Man soll stets das Besondere, das man zuhause antrifft, auf das Allgemeine der agora beziehen. Das politische Motto lautet: Besinnt euch aufs Wesentliche! Agitiert in kleinem Kreise, denkt aber in großen Kreisen und arbeitet auf die Gelegenheit hin, öffentlich das Wort zu ergreifen. Wie Pessoa schreibt, geht es hierbei auch um eine Praxis der Sensibilität: „Die wahre Erfahrung besteht darin, den Kontakt mit der Wirklichkeit einzuschränken und die Analyse dieses Kontakts zu verstärken. So gelangt die Sensibilität in die Breite und in die Tiefe, weil alles in uns liegt“. Eine andere Art der philosophischen Empfehlung ist ungeduldiger und nach außen drängender. Sie führt über Kants Aufklärungsethik zu Habermas’ Primat der „kommunikativen Vernunft“, d.h. zur öffentlichen und universellen Aufforderung: Werdet vernünftiger! Seid keine Idioten, setzt euch an den runden Tisch und handelt gemeinsam die Verfassung der Zukunft aus! Diese Aufforderung zur maximalen Kooperation ist aber im Zuge der reflexiven Modernisierung, in der jede Maxime „sich selbst zum Thema und Problem [wird]“ (Beck) mit Caveat versehen und mündet im Dialektikbewusstsein der Aufklärung. Entsprechend ändert sich die Devise zu: Werdet alle vernünftiger, aber bedenkt, dass ihr dabei ebenso unvernünftiger werdet! Womit der gesamte Möglichkeitsraum genauso umschlossen wäre wie der Rückzugsraum des einzelnen Weisen. Immanenter Eskapismus – Eine Idiopraxis, im engeren Sinne einer Performanz nicht verwertbarer Eigenheit, bezieht sich nun weniger auf die Bewegung ins private oder öffentliche Engagement als auf das Entkommen jenseits von Heim und Markt. Es bezieht sich auf die Überwindung individueller und kollektiver Positionen und auf die Schaffung dividueller, idiosynkratischer Gestaltungsräume, die sich dem Überblick und der Definition verweigern, quasi als „Gleichzeitigkeit eines ‚Wir‘ und eines ‚Getrenntseins‘“ (Wolfgang Müller), wie es noch die „Genialen Dilletanten“ der 1980er Jahre einforderten. Das entspricht einer über den zweiten Horizont gewanderten und am ersten Horizont angekom329
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menen politischen Philosophie des Idioten, der mit seinem Einsatz stets auf eine Anfangserfahrung aus ist, eine Erfahrung, die Henri Michaux einmal in die Worte fasst: „Ich möchte ein vielfaches, fächerförmiges Verlassen. Ein unaufhörliches Verlassen, ein ideales Verlassen derart, daß ich gleich wieder mit dem Verlassen beginne, sobald ich verlassen habe.“ Es ist eine Praxis des Auswegsuchens, die darin besteht, abgefahrene Routen zu umfahren. Dieser Ansatz erscheint ebenso notwendig wie der philosophische Rückzug, denn Öffentliches und Privates sind kompromittiert: Das Heim ist durch Medientechnologie unheimlich geworden, der runde Tisch erweist sich als Falle, die Öffentlichkeit als Chimäre, die Gleichberechtigung der Sprecher als fadenscheinig, und obendrein wird das Gespräch durch eben jene Macht abgehört, die den universellen Diskurs ermöglichte. Die Devise des funktionalen, sich aller Nützlichkeit entziehenden Idioten lautet also: Nichts wie weg! Verschwinde vom Bildschirm (auch buchstäblich gemeint: Weg von Handy und Laptop)! Es geht dabei je nach Ansatz um Techno-Askese, um strategische Vereinzelung, um künstlerische Verwaisung, um den SelbstFreak, um die totale Anonymisierung, um das anarchische Ausreißerkollektiv, um digitale Spurenverwischung, um Nischenbildung, kurzum: um das Desertieren aus Zwangszusammenhängen, ohne dabei das kontaminierte Heim oder die kontaminierte Öffentlichkeit anzusteuern. Was macht CIA-Mitarbeiter Joe Turner (Robert Redford) in Die drei Tage des Condor, als er feststellt, dass er weder nach Hause gehen noch sich in der Öffentlichkeit blicken lassen kann? Er heftet sich an eine zufällig ausgewählte Person und quartiert sich in ihrem Apartment ein. Es geht dabei nicht um die gewaltsame Methode (Turner handelt rechtswidrig, aber interesselos), sondern um den Musterbruch, durch den er der Macht gegenüber ‚unsichtbar‘ wird. Ähnlich widersetzen sich heute im politischen Raum klandestine Gruppierungen dem ‚System‘, indem sie kontingente Systeme bauen oder selbst systemisch agieren. Oder einzelne Aussteigerfiguren vollführen Mikrorevolten, etwa nach dem Muster von Martin Pages Antoine, die einen autonomen Zwischenzustand für sich definieren. Bei diesem Ansatz muss es sich nicht immer um einzelne A kteure handeln, sondern kann auch Kollektivsubjekte wie 330
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Luther Blissett betreffen: ein Pseudonym, unter dem eine Vielzahl politischer oder künstlerischer Aktivisten seit Jahrzehnten öffentliche Proteste organisiert oder Werke publiziert. Die dadaistische Installation des Idioten ist kein singulärer und auch kein abgeschlossener Prozess. Bei semiotischen Aussteigern oder ‚Flüchtlingen‘ geht es darum, sich der instrumentellen Vernunft und ihren Grenzregimen kategorisch zu verweigern. Diese Idiopraxis ist demonstrativer und definitiver als der intime, selbsterfragende Pfad der Philosophen oder das öffentliche Bürgerengagement. Sie ist auch unorganisierter, isolierter und auch nicht immer ‚aktivistisch‘ gemeint. Das zeigt etwa der Fall eines US-Amerikaners, der die Trumpwahl 2016 zum Anlass nahm, sich für ein Jahr komplett aus dem Nachrichtenloop herauszunehmen, bisweilen mit Sonnenbrille und Ohrstöpseln durch die Stadt schlendernd. Manche Kommentatoren warfen dem „most selfish man in America“ daraufhin eine destruktive Haltung vor, weil er sich mit seinem Akt der bürgerlichen Verantwortung entzogen hätte. Aber das ist zugleich auch der Punkt: ‚bürgerliche Verantwortung‘ nicht als automatische Lösung für alles, sondern auch als Teil des Problems zu verstehen. Dieser Verweigerer wollte nicht ‚vernünftig‘ sein, rebellierte dagegen und wurde so zum funktionalen Piefke. Und das auch nur ein einziges Mal: Es soll daraus keine Bewegung entstehen. Wir müssen hier lernen, das Motto Martins im Candide bifokal zu verstehen, wenn er sagt: „Laßt uns arbeiten, ohne zu vernünfteln, das ist das einzige Mittel, sich das Leben erträglich zu machen.“ Es ist einerseits die Aufforderung zum Konformismus (arbeiten, ohne sich etwas dabei zu denken), und zugleich ist es ein Entzug aus den Klauen der instrumentellen Vernunft (sich nichts dabei denken, wenn man etwas arbeitet), d.h. es geht um eine Aktivität, die potenziell neuen Ärger erzeugt. Denn sobald man sich heute ‚etwas dabei denkt‘, ist der ökonomische Kalkulus im Spiel – das Kapital denkt, der Mensch lenkt. Die Umgehungsstraße der instrumentalen Vernunft umfasst somit nicht nur die Fachdisziplin des politischen Aktivismus, sondern auch alle möglichen bürgerlichen ‚Kauzigkeiten‘, wie etwa den Fall eines sterbenskranken Rentners, der vor ein paar Jahren „ohne zu vernünfteln“ ankündigte, seinen Lieblingssexfilm mit ins Grab nehmen zu wollen, was für Aufruhr 331
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sorgte. Der Streit handelte darüber, ob man jemanden dazu verpflichten kann, seinen Tod ernst zu nehmen. Der Sterbende hatte seine Kompetenzen überschritten und sich der bürgerlichen Verantwortung des anständigen Todes entzogen. Mikro-Revolutionen – Die Erzeugung neuer Formen des Ärgers, und das heißt: die Erzeugung neuer politischer Setzungen, die sich aus dem Vokabular des alten Ärgers speisen, ist einem situationistischen Ethos verpflichtet, das den politisch-künstlerischen Aktivismus seit den 1950er Jahren bestimmt. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf die Situationistische oder Lettristische Internationale als konkrete historische Kollektive, sondern vor allem auf das in ihnen wirkende Motiv, das in vielen Gruppierungen der letzten Dekaden aufgespürt werden kann: Für manche Netzkunst, Spielarten des Neoismus, Parodiereligionen (Diskordianismus), künstlerische Untergrundbewegungen (No Wave Cinema), partizipatorische Netzwerke oder politisch-ökonomisch agierende Künstlergruppen (z.B. Adbusters, ®™ark, Yes Men, Superflex), Kommunikations-, Kunst- oder Spaß-Guerillen (Guerilla Girls, „Geniale Dilletanten“, Spaßguerilla), Aktionen einzelner Idiopraktiker („Monopoly-Man“), Berliner Idioten-Salons zum Thema „Idiotie als Widerstand“ bis hin zu Vereinigungen wie der Association of Autonomous Astronauts gilt: Welche Subjekt- oder Organisationsform diese Nullkunst, Halbkunst- oder Vollkunst-Aktivitäten auch annehmen, es liegt jeweils eine Praxis der kreativen Begründung vor, die unangreifbar, da ‚anfänglich‘ in der Anmutung ist – „selbst durch die schlimmsten Regime des Terrors ist diese Fähigkeit zum Neuanfang nie völlig zerstörbar“ (Oliver Marchart). Jede Vision eines Gemeinsamen ist, wie Achille Mbembe schreibt, „untrennbar mit der erneuten Erfindung der Gemeinschaft verbunden“. Zudem zehren diese ‚Gründerbewegungen‘ von Nachahmungseffekten, wie am Beispiel der dänischen Theatergruppe Solvognen deutlich wird, deren Akteure 1974 als Weihnachtsmänner verkleidet in einem Kaufhaus die ausgestellten Artikel als Geschenke an die Kunden verteilten. Aus dieser Aktion sind später die ritualistischen Bewegungen der Santarchy bzw. Santa Con in den USA hervorgegangen. Gesellschaftspolitische Idiopraxis führt 332
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ebenso zur Ritualisierung des Einzelfalls wie zur Idiosynkrasierung der Konventionen. Während sich viele Aktivitäten der symbolischen Subversion auf Kollektive berufen, atomisiert sich manche Idiopraxis auch zu ‚konzertierten‘ Einzelaktionen. Diese spontanistischen Idiopraktiken akzeptieren das Politische nicht als fest gegebene Größe, sondern ‚erfinden‘ die Politik gleichsam mit ihrer Aktion mit. Das gilt insbesondere für den Einzelgänger, der sich in der Nacht vor einem Black-Friday-Schlussverkauf im Mittleren Westen der USA als Polarbär verkleidete und um 4 Uhr morgens die vor dem Markt zeltenden Kunden terrorisierte. Die Polizei wurde eiligst herbeigerufen und brachte den Moment-Man weg. Dieser betonte hernach, dass er diese Aktion spontan durchführte und nur zum Spaß mache und es daher jederzeit wieder tun würde. Es gab nichts zu widerrufen, weil nichts war. Die politische Implikation dieser Apolitik wird aber sofort deutlich: Behausungen von Obdachlosen werden von Behörden sofort abgeräumt, wenn sie sich vor Einkaufszentren tummeln. Wenn man aber als Schlussverkaufsfanatiker vor dem Konsumtempel nächtigt, wird man staatlich beschützt. Der Idiot übernimmt hier die Rolle einer Parallel-Polizei und macht durch seine Aktion auf die Absurdität des Status quo aufmerksam, ohne dass er dabei als Kapitalismuskritiker aufträte. Vielmehr: „Der Idiot möchte gegen die allgemeine Anspannung, die sich als bloßes Funktionieren begreift und damit gleichsam verleugnet, Überspanntheit als Konstitution setzen“ (Monika Rinck). Fachaktivismus – Die beste Subversion liegt nach Roland Barthes darin, die, „Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören“. Das gilt auch für die Codes, die den eigenen Einsatz definieren, ob als Amateur, bewusster Dilettant, Vollprofi oder Fachidiot. Die Idiopraxis spiegelt nicht nur die Verhältnisse, sondern geht auch unmittelbar mutierend daraus hervor. Wie gesellschaftlich eine Spezifizierung der Disziplinen zunimmt, führt beispielsweise eine aktivistische ‚Fachidiotie‘ Eingriffe bei Nischenproblemen durch, ohne dabei die gesamte Welt retten zu wollen (um damit die gesamte Welt zu retten). Diese Idiopraktiker sehen das Große Ganze im Kleinen Fragmentierten und müssen dafür nicht von höheren I nstanzen 333
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‚ermächtigt‘ werden. Typisch hierfür sind z.B. Aktionen, wie im Fall des als Grammar Vigilante bekannt gewordenen Wutbürgers von Bristol. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, Rechtschreibfehler im öffentlichen Leben zu korrigieren, indem er sich nachts an Schilder und Geschäftslogos macht, die ortografische Regeln nicht einhalten. Aber auch dieser kauzige Einzelinstinkt kommt nicht alleine: Unter dem Namen Acción Ortográfica Quito verbessern seit Jahren auch zwei Korrekturkünstler aus Quito, Ecuador, öffentliche Beschriftungen. Sie haben weltweit eine Vielzahl von Nachahmern inspiriert. Hierzulande gibt es Apostroph-S-Verbesserer. Im Gegensatz zu Berliner Aktivisten, welche die U-Bahnstation Mohrenstraße zur antirassistischen „Möhrenstraße“ umbenennen, sind die Street-Lektoren keine politischen Aktivisten, und sie machen keine ‚Kunst‘ daraus. Eher kann man sie als selbstermächtigte zivile Mitarbeiter verstehen, die eine Singularisierung des öffentlichen Dienstes betreiben, vergleichbar der Straßenreinigung oder Müllentsorgung. Wichtig ist, diese Einzeltäter von Privataktionen „engagierter Bürger“ zu unterscheiden, denn in letzteren steht das politische, ästhetische oder private Interesse im Vordergrund, während der Idiopraktiker in gewissem Sinne interesselos und auf der Ebene der niedersten Zusammenfügung arbeitet. Er hat nichts davon, bereichert sich nicht und bleibt anonym – nimmt also die Form irgendeines Idioten an, der irgendetwas anstellt. Den grammatikalischen Rächer aus Bristol lassen aus seiner souveränen Null-Position heraus betrachtet daher alle Beschwerden über die beschmierten Schilder kalt. „Es sei“, so sagt er, „ein größeres Verbrechen, die falsche Interpunktion stehen zu lassen“. – Wer die Multitude ernst nimmt, muss auch den Agitpop aller isolierten Nichtsnutze politisch zu würdigen wissen. Für sie gilt, was Pessoa an die Adresse der Null-und-Nichtigen schreibt: „Wir besitzen nichts, weil wir nicht einmal uns besitzen. Wir haben nichts, weil wir nichts sind.“ Nicht eine generische Vielfalt, sondern eine Vielfalt des Widerspruchs ist es, worauf es dabei nach Ernesto Laclau ankommt: „Ein globalisierter Kapitalismus schafft unzählige Bruchstellen und Widersprüche […], und nur eine Überbetonung dieser Widerspruchsvielfalt kann globale antikapitalistische Subjekte erzeugen, die in der Lage sind, einen Kampf zu führen, der seinen Namen verdient. 334
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Und, wie alle historischen Erfahrungen zeigen, ist es unmöglich, a priori festzustellen, wer die hegemonialen Akteure in diesem Kampf sein werden. […] Wir wissen nur, dass sie die Außenseiter des Systems sein werden, die Underdogs […], die Heterogenen“. Strategien & Anti-Strategien – Manche Analysten unterscheiden beim politischen oder „kreativen Aktivismus“ zwischen konfrontativen, kreativen, professionellen, kasualistischen und alltagsspezifischen Ansätzen (Harrebye). Darunter fallen: Sabotagen von Produkten, Praktiken der Überidentifizierung zum „Normcore“, Aushebelungen, Mutationen oder Entfremdungen öffentlicher Kommunikationen, Entlarvung korrupter Individuen, Institutionen und Korporationen, Autonomisierung eigener Räume, hedonistische Verweigerung der Arbeit, Regelsetzungen (was z.B. den digitalen Kapitalismus angeht), Anonymisierung der Praxis, um Diskreditierungen politischer Positionen zu umgehen und so weiter. Aus idiopraktischer Sicht wird aber, wie wir oben sahen, nicht nur die übliche subversive Haltung, sondern auch deren Negation in der heutigen Umgebung zum ‚Aktivismus‘. Wie sich der semiotische Operator des Kapitals um den Erdball zieht, bespielt jede Tat die gesamte Klaviatur von Ästhetik und Politik. So ist Dostojewskis Myschkin schon allein dadurch gesellschaftlich ‚wirksam‘, dass er ein durch und durch guter Mensch, d.h. ein Idiot ist. Noch einfacher gedacht kann jedes Herumstehen, Blicken oder Innehalten Irritationen hervorrufen, wenn sie nicht die Injunktionen des üblichen ‚Erwachsenenverhaltens‘ widerspiegeln, wenn kleinste Gesten verunsichern können, sei es das Stehenbleiben, wo es unangemessen ist, oder das Auflachen, wo niemand lacht, oder das Auftauchen, wo niemand auftaucht, sinnlose Rituale, Flashmobs… „Zieht eure Hosen aus, bevor ihr streitet“, heißt es einmal bei Yoko Ono. Das dadaistische Ausleben der „aktiven Einfachheit“ ist ein Stigma und damit zugleich auch eine Chance, wie heute etwa an den verschiedenen Ausdrucksformen des Craftivism zu sehen ist, bei dem z.B. ‚häusliche‘ oder kunsthandwerkliche Aktivitäten im Namen eines politischen Auftrags zum Einsatz kommen. Die vielfältigen Möglichkeiten der Idiopraxis verweisen darauf, dass man das politische und ästhetische 335
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Wühlen nicht erst erfinden muss, denn der Idiot und sein Idiotisches sind immer schon als Usurpatoren da. Sie schlummern selbst in den souveränen Machern und der kulturellen Leadership, sie schlummern als Null-Ausdruck oder „derp face“ auch in den ernsten Fratzen dieser Welt. Der Idiomodus stülpt einerseits permanent um, kreiert Störungen, Fehler, Abstürze, Neuheiten, Blindheiten, Sichtungen – die Frage ist dann, ob, wo und wann man „mehr Idiotie wagen“ soll oder nicht–, und er kann andererseits nicht nur von einer Praxis abgeleitet werden, die nur Saboteure, Quatschmacher, Singularitäten oder pathologische Fälle kreiert. Es gilt zwar: „wenn die Befreiung nicht in mir ist, ist sie nirgendwo“ (Pessoa), aber dieses ‚nirgendwo‘ ist zugleich auch die Voraussetzung jeder Befreiung, die V oraussetzung einer präfigurativen Politik. Diese setzt sich auf die neuen Verhältnisse ‚drauf‘ und wühlt zugleich wie Ubu in ihren Bedingungen ‚unten‘ herum: „Die neue politische Kunst – sollte sie überhaupt möglich sein – wird […] festhalten müssen an der wesentlichen Tatsache, am neuartigen Welt-Raum des multinationalen Kapitals. Dabei sollte ein Durchbruch möglich sein zu heute noch nicht vorstellbaren neuen Formen der Repräsentation dieses Raums, mit denen wir wieder beginnen können, unseren Standort als individuelle und kollektive Subjekte zu bestimmen“ (Jameson). Die heutige idiokratische Energie richtet sich inzwischen gegen die „Repräsentation dieses Raums“. Sie wird eines Tages beinhalten müssen, die chaosmotischen Kriech- und Schleifspuren, die von Ubu herrühren, in einem zukünftigen Museum der Enthirnung einzubetten – womöglich als ein „Sammelsurium von Banalitäten, Vorurteilen, Stereotypen, absurden Situationen – völlig frei aus dem Alltag assoziiert“ (Guattari). Bifokalität – „Hab ich denn nicht einen Arsch wie andere auch?“, fragt Ubu vollherzig. Die Idiopraxis in weiterem Sinne steht nicht nur für eine Kon-Fusion der Weltzeichen, einen generellen Regress oder den gewollten Tod von Bild und Sprache, Macht und Gegenmacht, „full of sound and fury, signifying nothing“, wie es dem alten Idioten geziemt, sondern für etwas viel Radikaleres, nämlich was Guattari als „Versöhnung von Chaos und Komplexität“ bezeichnet, wenn er von „chaosmotischer Im336
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manenz“ schreibt. Es gibt viele Perspektiven für diesen modus operandi des gesellschaftlichen Lebens. Ich nannte es Idiokratie – die Herrschaft des Eigenen, mit all den Komplexitäten und Unmöglichkeiten, die das Eigene bereithält. Die Koinokratie, die Herrschaft des Gemeinsamen, ist aber von der Idiokratie nie genau zu trennen. Die Idiopraxis schafft neue Sensorien, neue Sichten und Sichtungen aus der schöpferischen Seite des neuen Idioten. Ebenso aber reproduziert sich in einer Welt, die immer mehr sieht, auch die Blindheit um ein Vielfaches. Wir wissen nicht, wo welche Gesellschaftsentwürfe erstritten werden, wir wissen nicht, auf welchen Servern welcher Content lagert, wir wissen nicht, welche Utopien die Bildproduktionen der Künste leiten, wir wissen nicht, welche Taten welche Konsequenzen haben. Aber auch unser Unwissen ist jedes Mal ein Neues, das neue Fragen und neue Sichten nach sich zieht. Im post-avantgardistischen Zeitalter schlafen alle im Schoß des Kapitals, und alle sind auf der Vorhut. Man kann sich nicht auf eine Seite stürzen, ohne die andere zu berücksichtigen. Wir müssen hier dem Pfad folgen, den Fredric Jameson als „dialektischen Imperativ“ bezeichnete: „Marx fordert uns eindringlich auf, das Unmögliche zu tun, nämlich diese Entwicklung zugleich positiv und negativ zu denken; mit anderen Worten, eine Art von Denken zu erreichen, das in der Lage wäre, die nachweislich bösartigen Eigenschaften des Kapitalismus zusammen mit seiner außerordentlichen und befreienden Dynamik in einem einzigen Gedanken zu erfassen, ohne die Kraft eines der beiden Urteile abzuschwächen. Wir sollen sozusagen unseren Verstand an einen Punkt bringen, an dem es möglich ist zu verstehen, dass der Kapitalismus gleichzeitig das Beste und das Schlimmste ist, was der Menschheit je widerfahren ist.“ Wer den Kapitalismus überwinden will, muss mit gleicher Energie von ihm überzeugt sein, muss sich, wie Friedrich Engels einmal, eine „recht flotte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft“ wünschen. Was bedeutet aber eine Aktivität, die sich dem allgemeinen Geschehen auf die gleiche Weise beugt, in der sie sich ihm verweigert? Warum soll man etwas tun und nicht nichts? Die Bifokalität bedeutet zunächst einmal, unter Rückgriff auf eine Dada-Maxime anzuerkennen, dass das Denken und Handeln diesseits des Inkohärenten stattfindet, dass also eine Strategie 337
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genauso inkohärent wie eine Nicht-Strategie ist. Wer glaubt, den Kapitalismus überwinden zu können, ist ein Idiot – aber ein Idiot in zweifacher Hinsicht: Ein Idiot, da er das Unmögliche anstrebt, und ein Idiot, weil nur ein Idiot das Unmögliche verwirklichen kann. Rest – Idiopraxis bedeutet zuletzt: Ich finde nur dann zum Ausgang aus meiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, wenn ich mich nicht vollständig verstehe, wenn ich Anfänger in Bezug auf meine Gefühle, mein Wissen, meine Impulse bleibe, wenn ich einen neuen Mythos des Selbst zulasse. Deleuze schreibt: „Man spricht aus der Tiefe dessen, was man nicht weiß, aus der Tiefe der eigenen Unterentwicklung“. Smarte Unaufgeklärtheit, geniales Dilettantentum, totale Improvisation, sofern sich darin auch der Wille zum Absurden als Dispositiv abzeichnet. Dann wird die Idiopraxis in einer gleichfalls absurden Welt auch ‚lesbar‘ und vielentauglich. Ähnliches gilt schon für die Modulationen des Ur-Dilettanten: Jarrys Figur bildet mit ihrem ‚Gang durch die Inkompetenzen‘ neue, absurde Kompetenzen, die von der Enthirnung bis zur pataphysischen Be-hauptung der Welt reichen. Die heutigen Ubu-Darsteller sind allerdings noch unvollkommene Idiopraktiker der Macht. So ist zwar ein Präsidentendarsteller wirklicher Präsident geworden, Satiriker gründen Parteien oder ziehen ins EU-Parlament, und 1967 ist sogar einmal ein Fußpuder („Pulvalpies“) zum Bürgermeister einer ecuadorianischen Kleinstadt gewählt worden. Aber da geht noch mehr. Es scheint zumindest ein pataphysischer Hinweis dafür zu sein, dass sich das Reale über das Reale auf surreale Weise lustig macht. Diese rekursive Verfassung entspringt der kreativen Energie der Idiokratie, welche die „azephale supranationale Weltordnung“ des Empire ebenso ein- wie herausfordert. Selbst der unpolitische, ‚hirnlose‘ Internettrend des Planking brachte den Nachweis, dass jede Stelle der Welt – vom OP-Saal bis zur Gipfelspitze – für das Querlegen geeignet ist und dass alle Menschen jederzeit für jede Belanglosigkeit zu haben sind. Die Dingwerdung des Bewusstseins manifestiert sich in der Dinggeste des Einzelnen. Aber vielleicht kann man heute nur noch als regungsloser Gegenstand etwas bewegen? Hier B itcoin-Bewusstsein, dort Barter Economy? Hier Gelbe Westen, 338
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dort Warndreiecke? Hier fließender Aktivismus, dort Stolpersteine? „Wir müssen das Tun in seiner Diskrepanz denken, in seiner Abkopplung vom Projekt, von der Intention und der Frage“, schreibt Jean-Luc Nancy in Was tun?. Denn: „Nie ist der Sinn einem Objekt, einem Projekt oder einer Wirkung adäquat“. Hier fordert sich, was Paolo Virno als Analogie von Virtuosität und Politik ansieht, in der zentrifugalen Bewegung „vom Einen zu den Vielen“. Das Paradox der Herde ruft nach einer paradoxen Politik, und der Weg führt nicht immer über die säuberlich abgesteckte Expertenroute. Eine Aktivität ist kein Alibi für eine Vernunft der Leblosigkeit, sondern schon mit Kant eine Vernunft der „reine(n) Spontanität“ und, nach vorne gedacht, ein Ansporn zur aktiven Verausgabung: „Allein die Gabe ohne Hoffnung auf Profit […] kann die gegenwärtige Welt aus der Sackgasse befreien“, schreibt Bataille. Damit bezieht er sich auf „unsere souveränen Augenblicke, wo nichts zählt, als das, was da ist, was in der Gegenwart empfunden wird und entzückt“, d.h. „das Gegenteil von Zukunftserwägungen und Berechnungen, die die Basis von Arbeit bilden“. Virtuosität, Spontanität und Souveränität überführen den Zweck allen Nutzens in eine „Ökonomie des Festes“. Ließe sich derlei Festliches auch für eine politische Praxis denken? – Wenn alle von sich aus das gleiche tun, wird alles anders.
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© DIAPHANES, Zürich 2020 Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage ISBN 978-3-0358-0190-3 Layout, Satz: 2edit, Zürich Druck: Steinmeier, Deiningen www.diaphanes.net