Stadt denken: Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter [1. Aufl.] 9783839418468

Das Wissen von der Stadt muss befreien! In diesem Sinne beschäftigt sich Florentina Hausknotz mit der Stadt als Freiraum

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German Pages 366 Year 2014

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung
TEIL I: STADT?
Teil I: Stadt? Programm – Teil I
Max Weber und die Grenzen der Stadt
Webers Stadttext
Welche Praktiken erwecken die Steine zum Leben?
Die mittelalterliche Stadt
Grenzen der Stadt
Max Weber?
Urbanismus
Immanuel Wallerstein. Überleben im Weltsystem
Die Stadt der Menschen
Was ist ein System?
Mitbestimmung oder die Macht der Multitude
Die Wirklichkeit im Rahmen der Wissenschaften
Städte – Die Stadt ist relativ
Michel Foucault. Die Stadt: Eine kritische Lebenshaltung?
Von gewussten Orten des Lebens zu ihrer Moral
Sex. Das Fundament einer Stadt?
Städtische Aufklärung, eine Praxis ohne Begriff?
TEIL II: WELCHE DICHTE?
Teil II: Welche Dichte? Resümee und Programm – Teil II
Fürchterlicher Prolog
Ein urbanes Zeitalter
Drei Beispiele für Verdichtung: Autobomben, der Boxclub und eine Kreuzung
Drei Arten der Organisation
Autobomben
Der Boxclub
Eine Kreuzung
TEIL III: STADT DENKEN. DIE PRAXIS DER FREIHEIT IM URBANEN ZEITALTER
Stadt denken. Die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter
Schluß
Die PartisanIn
Urbane Kriegsführung
Literatur
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Stadt denken: Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter [1. Aufl.]
 9783839418468

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Florentina Hausknotz Stadt denken

Urban Studies

Florentina Hausknotz (Dr. phil.) arbeitet im Rahmen des Projekts »StadtSzenarien als MetaModelle« in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische und Interkulturelle Philosophie.

Florentina Hausknotz

Stadt denken Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter

Die Arbeit ist als Dissertation im Rahmen des Promotionskollegs »Formations of the Global« der Universität Mannheim entstanden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Florentina Hausknotz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1846-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung | 9

TEIL I: STADT? Teil I: Stadt? Programm – Teil I | 21 Max Weber und die Grenzen der Stadt | 25 Webers Stadttext | 25

Welche Praktiken erwecken die Steine zum Leben? | 27 Die mittelalterliche Stadt | 29 Grenzen der Stadt | 34 Max Weber? | 37 Urbanismus | 48 Immanuel Wallerstein. Überleben im Weltsystem | 55 Die Stadt der Menschen | 55 Was ist ein System? | 59 Mitbestimmung oder die Macht der Multitude | 68 Die Wirklichkeit im Rahmen der Wissenschaften | 80 Städte – Die Stadt ist relativ | 86 Michel Foucault. Die Stadt: Eine kritische Lebenshaltung? | 95

Von gewussten Orten des Lebens zu ihrer Moral | 95 Sex. Das Fundament einer Stadt? | 113 Städtische Aufklärung, eine Praxis ohne Begriff? | 129

TEIL II: WELCHE DICHTE ? Teil II: Welche Dichte? Resümee und Programm – Teil II | 151 Fürchterlicher Prolog | 155 Ein urbanes Zeitalter | 161 Drei Beispiele für Verdichtung: Autobomben, der Boxclub und eine Kreuzung | 177 Drei Arten der Organisation | 177 Autobomben | 178 Der Boxclub | 222 Eine Kreuzung | 285

TEIL III: STADT DENKEN. DIE P RAXIS DER F REIHEIT IM URBANEN ZEITALTER Stadt denken. Die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter | 335 Schluß | 339

Die PartisanIn | 342 Urbane Kriegsführung | 343 Literatur | 353

Danksagung

Dieser Text war nur möglich, weil es Menschen gibt, die immer wieder Interesse zeigen, die mir Kraft geben, es mir niemals erlauben mich der Lethargie preiszugeben. Ich danke den Betreuern dieser Arbeit Uwe Steiner und Franz Martin Wimmer. Ich bedanke mich bei meinen KollegInnen und FreundInnen in Mannheim und Wien. Ich danke Michael Hofstätter, Horst Rinnerberger, Gerhard Unterthurner für ihre Unterstützung. Ich möchte meinen Eltern und Bernhard Rehn Dank dafür aussprechen, dass sie mich auf dieser Reise begleitet haben und schlussendlich auch dem Promotionskolleg „Formations of the Global“ und der Uni Mannheim, in welchem Kontext dieser Text entstanden ist.

Einleitung

„Diese STADT IST NICHT FÜR JEDEN ZUGÄNGLICH. Da wird dein Spaziergang reguliert, durch deregulierte Märkte. Du gehst da draussen nur durch STADTMANAGEMENT SPAZIEREN! Und überhaupt gehst du nur durch Management spazieren. Dein Spaziergang ist MANAGEMENT! Du gehst durch diese Stadt, und dein Spaziergang, der wird reguliert durch Konsum, Milchkaffee und Architekturdesign, das du dir ansehen kannst oder EINWERFEN.“1

Diese Stadt ist nicht für jeden zugänglich? Es ist eine Stadt, in der ich spazieren gehen kann. Es ist eine Stadt, in der mein Gehen als Gefahr, als etwas zu Kontrollierendes betrachtet wird. Ich darf konsumieren, was man mir anbietet, und die Fassaden bewundern. Ich bin in dieser Stadt die ManagerIn meiner Einpersonenfirma und stelle mich im Café als AbnehmerInnenunternehmen zur Verfügung. René Pollesch beschreibt in seinem Text fürs Theater „Stadt als Beute“ die Stadt einerseits als Freiraum für jene, deren Unternehmen Gewinne abwerfen sollen, andererseits aber auch als Gefängnis für solche, die kreativ mit ihrem Potential umgehen lernen müssen und im Streben nach Gewinn durch den Verkauf einer Persönlichkeit überleben. Und weil diese Stadt nun auch nicht für alle zugänglich ist, so bleiben nur noch einige WandlungskünstlerInnen2 zwischen Werbe-

1

René Pollesch, „Stadt als Beute. nach spaceLab“, in Wohnfront 2001-2002,

2

Ich verwende in diesem Text nicht nur das sogenannte große I, sondern

ed. Bettina Masuch (Berlin: Alexander Verlag, 2002), 7. entscheide mich im Zweifelsfall (z.B.: er/sie) auch immer für die weibliche Schreibform. Ich verfahre so, weil ich aufgrund meiner Verwendung bei-

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plakaten bestehen, deren Wunsch es ist, sich immer besser im anregenden Ambiente von Einkaufsstraßen zu verlieren. Es bleiben nur solche StadtteilnehmerInnen erhalten, deren eigentliches Ziel es ist, die Stadt zu verlassen, so wie es bereits die Großen getan haben, denn „[…] Sony ist hier auch nicht-sesshaft. Sony ist sesshaft in Indien oder Afghanistan oder Libyen. Dieses Sony-Gebäude, das STEHT DA EIGENTLICH GAR NICHT!“3 Wie bewegt man sich im städtischen Raum? Was ist das für eine Stadt, die uns4 hervorbringt, die durch das Ausleben erbaut wird? Als eine Form von Materie städtischen Passierens vermögen wir in das Treiben des Marketings einzugreifen, können wir uns verbünden, um das Zusammenleben auszupressen. „Der Stadtwilderer ist eine romantisierte Figur. In Städten mit sozialem Ungleichgewicht, in denen diejenigen, die wenig haben, davon überleben müssen, dass sie denen etwas wegnehmen, die mehr haben, mag der Wilderer, der dem Wildhüter eine Mahlzeit vor der Nase wegstiehlt, für seinen Einfallsreichtum und seinen Wagemut sogar bewundert werden. AbdouMaliq Simone: „In Johannesburg gibt es junge Leute, die den halben Tag und mehr damit verbringen, einfach durch verschiedene Wohngebiete und Stadtteile zu ziehen und zu erkunden, was leicht zu entwenden ist, wobei sie dabei immer wieder Gleichgesinnten begegnen, mit denen sie Informationen und Eindrücke austauschen, mit denen sie sich manchmal für einen ,Job‘ zusammentun, die sie mitunter aber auch in die Irre schicken.“5

der Schreibformen von Kollegen kritisiert wurde, die meinten, dass der Text so unverständlich sei. 3 4

Pollesch, „Stadt als Beute. nach spaceLab“, 9. ,Uns‘, ,wir‘ sind verfängliche Bezeichnungen, denn wer ist gemeint? Welche Gruppe ist angesprochen? Mein ,wir‘ ist ein einladendes, es wünscht sich, dass alle LeserInnen sich mit mir auf den Weg eines städtischen Denkens begeben, mit mir in einen Kampf für ein freieres Leben eintreten. Das ,wir‘ ist die Aufforderung, sich persönlich in meinen Text zu involvieren, seine Richtigkeit an den eigenen Erfahrungen zu überprüfen.

5

Ivan Vladislavić, Johannesburg. Insel aus Zufall (München: A1 Verlag GmbH, 2008), 169.

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Wir vermögen in Verbindung zu treten mit Gebäuden, Straßen, den Materialen rund um uns, mit einer künstlichen Umwelt, die ihrerseits ins Gespräch kommen möchte. „Der Weg und der, der ihn geht (und der Fahrer ebenfalls, wenn er für derlei Dinge Zeit hat), befinden sich in einem Gespräch. Die ,Rhetorik des Gehens‘ ist ein Dialog. Stell an irgendeiner beliebigen Kreuzung eine Frage oder bitte um etwas – angenommen, du hättest gern Begleitung, suchst nach dem Mittelpunkt der Dinge, brauchst Wasser, wüsstest gern, welche Straße weniger befahren ist – und der Weg wird dir antworten.“6

Stadt ist kein in seiner Totalität beschreibbarer Umstand, Stadt ist immer etwas, das passiert. Städte sind nicht nur örtlich verankert, sondern finden auch immer zu besonderen Momenten statt, sie haben ein Datum. Stadt ist nicht total beschreibbar. Ich möchte Louis Althussers ideologische Staatsapparate zur Veranschaulichung dieser Behauptung heranziehen. Jede Gesellschaftsform muss sich reproduzieren, was einerseits durch den repressiven Staatsapparat möglich wird, der als organisiertes Ganzes erscheint und über Gewalt seine Macht erhält, andererseits aber durch die ideologischen Staatsapparate gewährleistet ist.7 Erst die Kombination aus diesen beiden Formen von Institution erlaubt, herrschende Ausbeutungsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Die ideologischen Staatsapparate sind durch eine herrschende Ideologie ausgerichtet. Die Ideologie der herrschenden Klasse schafft eine Synthese zwischen den vielen unterschiedlichen ideologischen Staatsapparaten, die aber dennoch zum Ort von Widerspruch werden können, weil sie auch autonom bleiben, nie ein kohärentes Ganzes bilden. Sowohl öffentliche als auch private Institutionen können als Elemente eines ideologischen Staatsapparats funktionieren.8 Auf den nach der Religion ausgerichteten herrschenden ideologischen Staatsapparat folgte die Schule, so Althusser, die „[…] herrschende Ideologie im

6 7

Ibid., 63-64. Vgl.: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate (Hamburg, Westberlin: VSA (Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung GmbH), 1977), 119.

8

Vgl.: Ibid., 120.

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reinen Zustand (Moral, Staatsbürgerkunde, Philosophie)“9 predigt, sowie sie die Ideologie als Anhängsel an Sprachen, Rechnen, Naturkunde usw. an die Frau, den Mann bringt. Die Schule stattet die Aufwachsenden mit der passenden Ideologie für ihr kommendes Leben aus, sie lehrt den SchulversagerInnen, ihr Leben in eben der Weise von im Denken Schwachen zu führen, sowie sie den Höchstgebildeten des richtigen Fachs erlaubt, ein Selbstverständnis der HerrscherIn auszubilden. Hierin zeigt sich, dass eine Ideologie niemals nur eine Idee ist, sondern aus dem Leben, dem Tun, dem Klassenkampf entspringt. Die Anwendung einer Ideologie liegt sozusagen vor ihrer Verschriftlichung, so Althusser. „Die Ideologie hat eine materielle Existenz. […] Eine Ideologie existiert immer in einem Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen. Diese Existenz ist materiell.“10 Diese ideologischen Staatsapparate sind nun Institutionen, die zwar nicht völlig vom repressiven Staat unabhängig sind, aber dennoch Freiheiten erlauben, welche ein bloß direktes Vorgehen gegen Gesetze, gegen staatliche Gewalt nicht in sich birgt. Die Institutionen der ideologischen Staatsapparate erwachsen aus dem Geschehen in den Städten, womit die Stadt zu einem ewig an der herrschenden Ideologie nagenden Zahn werden kann, zum permanenten Widerstand gegen den repressiven Staatsapparat, der von den ideologischen Staatsapparaten abhängig ist. Die Stadt ist damit vielfältig, nicht synthetisierbar und kann widerständig sein. Mein Text nimmt folglich an, dass in keiner erdenklichen Weise gegeben ist, was der Name Stadt bezeichnet. Vielmehr begegnet uns dieser Name in Form eines Magmas im Sinne von Cornelius Castoriadis11, als nicht einholbare Pluralität. Und dennoch möchte mein Text auch darlegen, dass die Stadt nicht lediglich dieser Name ist, sondern auch etwas materiell Existentes, welche Sichtweise meinem Stadtden-

9

Ibid., 128.

10 Ibid., 136-37. 11 „Ein Magma ist etwas, dem sich mengenlogische Organisationen unbegrenzt entnehmen lassen (oder: worin sich solche Organisationen unbegrenzt konstruieren lassen), das sich aber niemals durch eine endliche oder unendliche Folge mengentheoretischer Zusammenfassungen (ideell) zurückgewinnen läßt.“ (Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997), 564.)

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ken notwendig zukommen muss, um es von Spaten des politischen Philosophierens zu unterscheiden, deren Themen Recht, Gesetz, Gerechtigkeit, kurz, feste und formale Strukturen zur Regelung des Zusammenlebens sind, der repressive Staat – sowie ihm vergleichbare, feste Strukturen mit größerer Ausdehnung. Das von mir vorgeschlagene Stadtdenken soll die Bereiche füllen, die das Denken im Rahmen und anhand von Gesetzen nicht erreichen kann, es wird versucht werden, die Graubereiche zwischen Rechtsstrukturen einzunehmen. Es ist Ziel meines Texts, die Stadt als autonomen Ort/Raum zu denken, als eine vermischte Menge von Institutionen, deren weiche, deren ideologische Struktur alternative Anwendungen ihrer selbst, sowie des eigenen Lebens einer jeden erlaubt. Die Stadt soll als ein Ort der unscharfen Grenzen, zahlloser sich überlagernder Netze, als Möglichkeit zu vielfältigen Arten der Konsumtion beschrieben, erlebbar gemacht werden. Diese Stadt ist demnach eine, deren Eigenschaften nicht nur die ihren sind, sie schwappt hinein in andere Bereiche des Lebens, sie kümmert sich nicht um Unterscheidungen wie die zwischen öffentlich und privat, sie ist eine spezielle Form des (Über)Lebens, verlassen von Struktur und Sicherheit. Die Stadt ist ein dem engen Aneinanderleben innewohnendes Hilfsangebot, sie ist ein Raum für mögliche Autonomie, ein Raum aus Chancen zur Meinungsäußerung von unüblichen Orten des Sprechens aus. Autonomie bedeutet, sich einer unbewussten Gabe bewusst zu werden, das eigene Vermögen zu begreifen, das befähigt, schöpferisch vollkommen neue Arten von Institution auszuformen, so Castoriadis. Castoriadis fordert die Menschen auf, vorhandenes Material kreativ zu verwenden, die eigene Subjektivität und Kraft zur Erneuerung daran zu speisen, sowie er schlussendlich darauf verweist, dass Autonomie immer nur Autonomie für alle bedeuten kann, da es die anderen sind, die die vorhandenen Institutionen, welche schöpferische Subjekte erst hervorbringen, mit ausbauen.12 Weil die Menschen abhängige Wesen sind, müssen sie sich darauf einigen, gemeinsam freier zu werden. Wenn die Stadt ein Ort der Autonomie sein soll, dann muss sie ein Ort von Dichte sein, um die schnelle Verbreitung von Gedanken, Wünschen, Argumenten zu befördern. Dichte Räume bieten Materialen und Teilnehmende, die ihre unterschiedlichen Gravuren hinterlas-

12 Vgl.: Ibid., 184.

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sen. Dichte Räume können damit das einander Begegnen von schöpferischen Produkten gewährleisten. Demzufolge ist die Stadt medial, oder anders formuliert, ein Übersetzungsraum, selbst Übersetzung, weil den Transport von Gedanken immer etwas ermöglichen muss, womit die Stadt schließlich an Materielles gebunden ist. Sie ist demnach eine Baustelle, eine Baustelle des Sprechens – in einem sehr weiten Sinne dieses Wortes –, sie ist, wenn in Europa, eine Baustelle Europas, wie ich an Etienne Balibar anschließend behaupten möchte. „Die ,Sprache Europas‘ ist kein Code, sie ist ein in ständiger Veränderung begriffenes System einander begegnender Sprachgebräuche, anders gesagt: Sie ist eine Übersetzung. Oder noch besser, sie ist die Realität der gesellschaftlichen Übersetzungspraktiken auf verschiedenen Ebenen, das Kommunikationsmedium […].“13

Zusammenfassend gesprochen ist die Stadt, die ich untersuchen möchte, ein Ort der Dichte, von Kritik und sie existiert. Die Stadt ist Dichte als Ausgeliefertsein – „Schwachbrüstig zieht das Geheul einer Polizeisirene herüber, als käme es nicht gegen die Atmosphäre an, sich stauchend in einem urplötzlich dichter gewordenen Medium […]“14 –, sie ist Kritik als „[…] die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“15 und die Stadt ist Existenz als das Hinterlassen von Zeichen. „Diese Spuren, die Orte, an denen unsere Gedanken und Gefühle mit der Welt in Berührung gekommen sind, gehören uns aber nicht allein. Wir sind lediglich auf der Durchreise und lassen denen, die nach uns kommen und von denen wir erwarten, dass sie dieselbe Sprache sprechen wie wir, heimliche Zeichen zurück.“16

All diesen drei Eigenschaften treten in Konsequenz zwei weitere hinzu: Stadt ist erstens kein überzeitlich und -örtlich fixierter Zustand,

13 Étienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen (Hamburg: Edition HIS Verlagsges. mbH., 2003), 289. 14 Ulrich Peltzer, Bryant Park (Berlin: Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, 2004), 22. 15 Michel Foucault, Was ist Kritik? (Berlin: Merve Verlag, 1992), 12. 16 Vladislavić, Johannesburg. Insel aus Zufall, 235.

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sondern etwas, das in einem konkreten „ZeitRaum“17 begegnet. Die Stadt ist zweitens eine Vermischung von Form und Inhalt, von Ort und Geschehen. Womit eine Zäsur gesetzt sei; die Stadt, oder die Städte, über die ich im Folgenden sprechen möchte, sind am Ziel ausgerichtet, mehr Autonomie für Einzelne, Gruppen, Gesellschaften, Kulturen, Gemeinschaften… zu bringen. Mehr Autonomie im Leben muss zuerst mit breiteren Möglichkeiten zur gehörten Meinungsäußerung einhergehen, mit mehreren Angeboten, sich erfolgreich ins Zusammenleben einzubringen. Ein Ort von Autonomie muss demnach als ein Ort vielstimmiger Aufklärung gedacht werden. Ein solcher Ort kann meiner Meinung nach die Stadt werden. Mein Philosophieren ordnet sich damit einer spezifischen politischen Aufgabe unter, was bedeutet, dass alle allgemeinen Sätze, die im Folgenden gefunden werden, im Lichte dieser politischen Ausrichtung zu lesen sind. Ich begnüge mich, indem ich in solcher Art denke, nicht mit einer minderwertigen Form von Philosophie, sondern möchte behaupten, dass jede Art des Denkens an etwas orientiert funktioniert, dass diese Abhängigkeit lediglich oft unreflektiert bleibt. Diese Abhängigkeit des Denkens und die Notwendigkeit, sie zu reflektieren, werden im Folgenden aufzuzeigen sein, sowie ich diese Art des Denkens als eine spezifisch städtische, als eine an ihren Bedingungen und Ausrichtungen interessierte, bezeichnen möchte. Stadt wird demnach im Folgenden als ein möglicher Raum von Freiheit gedacht, sie wird damit als Gewusstes, als Bekanntes und als Ort des autonomen Lebens zum Thema. Zwei Arbeitsabschnitte und Fragen gliedern diesen Text: Stadt? Wie wurde das Thema Stadt für politische, wissenschaftliche oder finanzielle Zwecke instrumentalisiert? Was ist gemeint, wenn wir das Wort Stadt verwenden, wozu sprechen wir von der Stadt?

17 Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts (Weinheim: Beltz Athenäum Verlag, 1995), 169.

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Wobei nicht argumentiert werden soll, dass mein Gebrauch des Wortes der richtige oder ursprüngliche ist, sondern eben einer, der an der Erreichung des Ziels, dem autonomen Leben förderlich zu sein, orientiert ist. In diesem ersten Arbeitsschritt möchte ich mir sozusagen die Tricks aneignen, die es erlauben, ein Phänomen, einen Namen, ein wissenschaftliches Konstrukt oder Erlebnis, wie die Stadt eines ist, im eigenen Sinne zu instrumentalisieren. Ich werde zu diesem Zweck drei historisch interessierte Denker heran ziehen: Max Weber, Immanuel Wallerstein, Michel Foucault. Weber wird als Repräsentant einer Theorie verwendet, innerhalb welcher Städte als sich selbst versorgende Einheiten gedacht werden. Wallerstein steht Weber gegenüber, da er Städte erst als Knotenpunkte innerhalb von Netzen hervortreten sieht. Foucault wird den Schluss bestreiten. Seine Fragen zielen auf den Grund, warum es sich als politisch interessant darstellte, über das Funktionieren von Städten nachzudenken. Foucault ist zudem auf der Suche nach neuen Lebensformen. In der Sorge um sich findet er eine Art des Zusammen/lebens, die nach dem Verlust fester städtischer Strukturen ihre Wichtigkeit erhält. Foucault erlaubt mir außerdem die Thematisierung eines dritten Punkts: Wie wäre eine städtische Aufklärung vorstellbar? Mit der Diskussion jener Frage beschließe ich den ersten Abschnitt. In diesem ersten Abschnitt wird gezeigt, dass der Begriff Stadt erst innerhalb eines politischen Projekts, innerhalb einer Vorstellung vom richtigen Leben, als Teil ethischer Überlegungen seine spezifischen Konturen erhält. Welche Dichte? Den zweiten Teil eröffnet, einem Prolog-zum-Fürchten folgend, die Diskussion eines breit angelegten Sammelbands, der den Anspruch in sich trägt, den Stand des gegenwärtigen Wissens von der Stadt wiederzuspiegeln. Gemeint ist das Buch „The Endless City“ aus der Schmiede von The Urban Age Project der London School of Economics. Diese Auseinandersetzung erlaubt mir, einen Problem- und Fragenkatalog zu erarbeiten und aufzuzeigen, dass auch in der zeitgenössischen Stadtforschung das allgemeine Sprechen von der Stadt als Strategie dienen kann, dass die Rede von der Stadt als solcher einen Stellvertreterdiskurs abgibt. Dieser erlaubt es, andere Ursachen von aktuellen Problemen, neben dem Wachsen der Städte, nicht sichtbar werden zu lassen. Ich argumentiere im Zuge dessen für eine thema-

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tisch orientierte Auseinandersetzung im städtischen Kontext, für eine städtische Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen des Zusammenlebens. Thema des Abschnitts wird daraufhin die Dichte sein, wird die Frage nach der Dichte sein. Die Dichte wird von den TheoretikerInnen des Urban Age Projects als die vorherrschende Eigenschaft des zukünftigen Lebens beschrieben. Doch dieses Wort Dichte ist, wie meine bisherigen Andeutungen zur Begriffsbestimmung vielleicht vermuten lassen, nicht einfach festzumachen. Wenn man in Bezug auf Städte von einem dichten Ort spricht, so hat man rein dadurch noch nichts geleistet, da dieses Wort wenig über die tatsächlichen Lebens- und Denkprobleme verrät. Es ist zu untersuchen, was genau passiert an Orten der Bedrängnis, und aus eben diesem Grund sollen dem Hauptteil des zweiten Teils Beispiele zugrunde liegen, die Schlüsse ermöglichen. Ich werde mich mit konkreten Beispielen, mit ZeitRäumen großer Dichte auseinandersetzen, um mehr über ihr Verhältnis zum autonomen Leben zu erfahren, um mehr über Organisationsformen und Angriffsorte vor ihrer Abstraktion auf allgemeine Regeln zu lernen. Es sind eine Untersuchung zur Geschichte der Autobombe von Mike Davis, sowie eine Studie von Loïc Wacquant, eine Soziologie des Boxens als städtische Lebensform „Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto“, als auch eine Studie über eine belebte Kreuzung in Lagos „Ojuelegba: The Sacred Profanities of a West African Crossroad“ als zentrale Texte zur Besprechung ausgewählt. In diesem zweiten Abschnitt wird, den drei gewählten Texten entsprechend, gezeigt, wie sich Meinungen gewaltsam ihren Weg in die Gehirne der Menschen schlagen, wie Situationen positiver Dichte erzeugt und Angebote zum moralischen Lebenswandel geschaffen werden können, sowie Modelle von Städten abseits der okzidentalen Vorstellung einer Ordnung aus einem Wurf Thema sind. Kurz, dieser Abschnitt zeigt, dass unterschiedlichste Formen des gerichteten Lebens möglich sind, jedoch in all den besprochenen Fällen ein bestimmtes Maß an Enge im Zusammenleben, von Menschen, Dingen, Ideen… als notwendige Voraussetzung erscheint. Zum Abschluss wird noch einmal auf die Frage nach der Möglichkeit einer städtischen Kritik eingegangen. Die städtische KritikerIn wird sich als eine gewalttätige zeigen, als eine, die Grenzen überschreitet, als eine irreguläre KämpferIn. Am Schluss sollen noch einmal die Konsequenzen, die aus der mit Foucault gefundenen Defini-

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tion von Aufklärung, aus einer kritischen Lebenshaltung erwachsen, gezogen werden. Ich werde am Ende darüber nachdenken, was das Überschreiten von allgemeinen Grenzen im Konkreten, wie ich im ersten Abschnitt mit Foucault ausformuliere, für die Stadt bedeuten kann. Zwei Antwortmöglichkeiten werden gegeben: Einerseits ein irreguläres Pflanzen von Gemüse und Blumen, andererseits wird vom Ende der Stadt berichtet, das mit der Hilfe von Methoden, die als urban bezeichnet werden, herbeigeführt wird. Womit noch einmal eine These aus meinem ,fürchterlichen Prolog‘ und von Paul Virilio aufgenommen sei. Schlussendlich: Dieser Text spricht über mögliche Formen der Aneignung des scheinbar Nutzlosen, er spricht darüber, dass in der Stadt immer etwas übrig bleibt, dass die künstliche Umwelt Potentiale in sich birgt, die aufgefunden werden können, dass die Stadt ein Ort der Tomasons ist. „Der Begriff ,Tomason‘ geht auf Genpei Akasegawa zurück. Er beschreibt einen zwecklosen Gegenstand, den man auf der Straße entdeckt. Er selbst hat zahllose solcher Gegenstände in Japan und andernorts auf der Welt aufgespürt und dokumentiert. Ein Tomason ist ein Objekt, das nichts mehr mit seinem ursprünglichen Zweck gemein hat. Manchmal kann diese Trennung derart vollständig sein, dass sich der Gegenstand in ein rätselhaftes Gedankenspiel verwandelt. Andererseits ist es aber ebenfalls möglich, dass der ursprüngliche Zweck ganz offenbar bleibt und dadurch seine gegenwärtige Nutzlosigkeit anrührend oder belustigend wirkt. Es kann sich auch um einen Überrest einer größeren Anlage handeln, die zum größten Teil abgebaut worden ist. Oder der Gegenstand ist in sich vollständig und man hat seinen Zweck vergessen. […] Der natürliche Lebensraum des Tomason ist die Straße einer Stadt. […] Ein Tomason gedeiht am besten in der von Menschenhand geschaffenen Welt, in Räumen, die in einem fort umgebaut und neuen Zwecken angepasst werden, in denen die Funktion eines Gegenstands, der einst nützlich und notwendig war, von einer Welle der Veränderung weggespült oder wie ein Etikett abgewaschen werden kann.“18

18 Vladislavić, Johannesburg. Insel aus Zufall, 217-18.

Teil I: Stadt?

Teil I: Stadt? Programm – Teil I

Ziel des ersten Teils ist es darzulegen, dass das Wort Stadt aus unterschiedlichsten Gründen, zu verschiedensten Zwecken verwendet wurde. Es wird mit drei Denkern – Max Weber, der einen Grundlagentext zur Stadt verfasst hat, sie als zentralen Ort beschreibt, Immanuel Wallerstein, der als Gegenspieler zu Weber verstanden werden kann, weil er es nicht mehr erlaubt, Städte als nur Einzelne zu denken und Michel Foucault, der beide auf die Gründe ihrer Motivation zurückwirft, aufzeigt, dass Städte auch Elemente von Diskursen sind – ein Ort, ein Begriff Stadt eröffnet, der umstritten ist. Schlussendlich wird die Frage nach den Chancen eines pluralistischen Denkens, nach der Stadt als autonomem Ort gestellt werden können. Was ist eine städtische Kritik? Max Weber und die Grenzen der Stadt Erstens soll Max Weber mit einem Definitionsversuch des Wortes Stadt präsentiert werden. Ich habe diesen Text ausgewählt, weil er ein Unternehmen in Richtung Universalgeschichte darstellt, dem es weniger um die Beschreibung kleinteiliger Ereignisse geht, als vielmehr um das Nachzeichnen größerer Spannungsbögen und Strukturen. Selbst Kritiker Webers oder Gegner dieser Art Globalgeschichte gestehen dem Stadttext seine Wichtigkeit zu, da es so scheint, als ginge es Weber in seiner Auseinandersetzung mit Geschichte eher darum, auf besondere Arten des Handelns zu verweisen, als um die unverzerrte Darstellung vergangener Ereignisse. Diese Art der Betrachtung kommt mir als Philosophierender, als Arbeiterin für gesellschaftliche Veränderung entgegen, weil mich weniger interessiert, was wirklich passiert

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ist, als viel mehr, was ich mit dem vorliegenden Material anstellen könnte, um meine Gegenwart zu beeinflussen. Immanuel Wallerstein. Überleben im Weltsystem Mit Wallerstein kann ein neues Problem in die Diskussion der Stadt aufgenommen werden. Seine Thesen erlauben es, die Frage zu stellen, ob es überhaupt möglich ist, Städte als einzelne zu betrachten, oder ob es notwendig ist, sie immer als Teile innerhalb oder auch außerhalb von Netzwerken zu beschreiben und zu verstehen. Michel Foucault. Die Stadt: Eine kritische Lebenshaltung? Den ersten Teil des Texts abschließend, wird eine Auseinandersetzung mit Michel Foucault folgen, der helfen kann, die Frage zu beantworten, warum es uns überhaupt ein Anliegen ist, über Städte nachzudenken, warum wir herausfinden wollen, wie sie funktionieren. Wichtig und zentral ist mit Ende dieses Abschnitts die Frage nach einer möglichen städtischen Kritik. Es wird sich zeigen, dass eine solche Form der Kritik untrennbar von einer bestimmten Art des Lebens bleibt. Stadt ist als Gegenstand nicht total erfassbar. Es gibt keinen privilegierten Blick auf die Stadt. Vor diesem Hintergrund bietet die Stadt einerseits Möglichkeiten, unterschiedliche Ansichten ins Gespräch zu bringen, sowie in der Stadt neue Methoden der Kritik erprobt werden können – schon wie ich mich im städtischen Raum bewege, meine Umgebung konsumiere, bedeutet Veränderung, die nicht nur ein Bild von der Stadt betrifft, sondern auch ihre materielle Form des Existierens beeinflußt –, andererseits erlaubt eben dieses Potential zur nicht nur sprachlichen Mitbestimmung im städtischen Kontext, der Theorie nicht in gewohnt deskriptiver Weise fortzufahren. Stadttheorie ist als Praxis immer in das zu Verhandelnde, die Stadt, eingebunden, bringt ihren Gegenstand hervor, um eine Vorstellung vom richtigen Leben zu befördern, manchmal bewusst, manchmal aus Mangel an Selbstreflektivität. Diese These wird im Folgenden genauer ausgearbeitet werden. „Im neunzehnten Jahrhundert hat man in Reaktion auf die märchenhaften Obertöne so vieler früherer historischer Schriften das Ideal aufgestellt, Geschichte so zu erzählen, ,wie es eigentlich gewesen ist‘. Aber die soziale Wirklichkeit ist ephemer. Sie besteht nur in der Gegenwart und verschwindet, wenn

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sie zur Vergangenheit wird. Die Vergangenheit kann nur so erzählt werden, wie sie wirklich ist, nicht war.“1

1

Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert (Wien: Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., 2004), 21.

Max Weber und die Grenzen der Stadt

W EBERS S TADTTEXT Der Text zur Stadt ist nicht mehr von Max Weber selbst veröffentlicht worden, sowie die Arbeit an diesem Text ein plötzliches Ende fand (1913-1914).1 Aus diesen Gründen darf vermutet werden, dass Webers Studien unvollendet vorliegen. Weber stellt in seinem Text die Frage nach der Entstehungsgeschichte des selbstverwalteten Bürgertums, das ihm zufolge im mittelalterlichen Okzident aufgetreten ist. Er wählt den Vergleich zwischen Mittelalter und Antike als Methode der Erkenntnis, sowie Weber dem Okzident Indien und China gegenüberstellt. Die Anstrengung, die Weber unternimmt, eine ökonomische Städtetheorie zu entwickeln, ist als Auseinandersetzung mit Werner Sombart zu verstehen. Sombart spricht von der Notwendigkeit eine ökonomische Stadttheorie auszuarbeiten, da er jene, die mit Fremden Handel treiben, als die eigentlichen StadtgründerInnen identifizieren möchte.2 Aus mehreren Gründen ist Webers Text zur Stadt für die Stadtforschung, die sich mehr und mehr durch ihre Interdisziplinarität auszeichnet und auszeichnen sollte, interessant. Der Text nimmt bereits innerhalb Webers Werk eine Sonderstellung ein, da er sich gleichzeitig

1

Vgl.: Wilfried Nippel, „Einleitung“, in Die Stadt, ed. Wilfried Nippel (Tü-

2

Vgl.: Wilfried Nippel, „Webers ,Stadt‘. Entstehung – Struktur der Argu-

bingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1999), 1. mentation – Rezeption“, in Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, ed. Hinnerk Bruhns and Wilfried Nippel, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 140 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000), 22.

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mit zwei verschiedenen Arten des Vergleichs beschäftigt, mit dem über räumliche Distanz, sowie mit jenem über Zeitspannen. Der Stadttext wurde in seiner Gesamtheit selten wahrgenommen, da er die Grenzen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen ignoriert. Ein, durch feingliedrige Beschreibungen gebrochener, Weberscher Anspruch auf Universalität, verunmöglicht die Festlegung des Stadttexts auf nur eine Wissenschaftsdisziplin. Gerade dieses Querdenkertum Webers läßt ihn jedoch für die zeitgenössische Stadtforschung interessant werden.3 Johannnes Winckelmann, der Herausgeber der dritten Auflage von Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ ordnete den Stadttext den Überlegungen zu den Herrschaftsformen zu. Der Text übernimmt in diesem Verständnis die Erklärung der nicht- oder illegitimen Herrschaft. Soll demnach behauptet werden, dass städtische und nichtlegitime Herrschaft identisch sind? Eine nicht unumstrittene These. Dennoch, was diese Überschrift verrät, ist, dass man es mit einer besonderen Form von Herrschaftsgefüge zu tun hat, läßt man sich auf Webers Überlegungen ein, das mit einer besonderen Form von Widerstand einhergehen muss. Sprechen wir von nichtlegitimer Herrschaft, sprechen wir von „[…] einer Herrschaft, die auf ,nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes‘ beruht“4, sie benötigt keine Geltungsprinzipien. Schlussendlich muss darauf hingewiesen werden, dass ein Interesse Webers an der Stadt bereits in seinen früheren Arbeiten zur Antike festzustellen ist. Das Thema Stadt erlaubt Weber seine Betrachtungsweise der Geschichte auszuweiten, er schränkt bereits in den Studien zum Altertum sein Denken nicht auf die römische und griechische Antike ein. Des Weiteren war es ein Anspruch Webers, Kulturen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, wofür ihm die Auseinandersetzung mit der Stadt fruchtbar erschienen sein muss.5

3

Vgl.: Ibid., 36.

4

Stefan Breuer, „Nichtlegitime Herrschaft“, in Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, ed. Hinnerk Bruhns and Wilfried Nippel, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 140 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000), 65.

5

Vgl.: Nippel, „Einleitung“, 3.

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W ELCHE P RAKTIKEN ERWECKEN DIE S TEINE

ZUM

L EBEN ?

Max Weber erzählt eine Geschichte von Gesetzen, Kampf und Männern. Die Straße ist das Schlachtfeld, auf welchem über Recht und Demokratie verhandelt wird, die Akteure dieses wilden Treibens sind die Besitzenden der Antike oder gutbürgerliche Gewerbetreibende des Mittelalters. Gebäuden und Frauen bleibt kein Platz im Schreiben Webers, dessen Stadt mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Kapitalismus und Tyrannei rennt, und es ist eben dieses Entstehen erster kapitalistischer Mechanismen, die Weber in der mittelalterlichen Stadt beobachtet und beschreiben möchte. Hinnerk Bruhns unterstellt demzufolge einen bewussten Arbeitsabbruch Webers, als er sich schreibend bis ans Ende des Mittelalters vorgearbeitet hatte.6 Mit dem Ende der mittelalterlichen Städtefreiheit wurde der Staat zum Trägermaterial des Kapitalismus und aus diesem Grund nach Bruhns zum Gegenstand von Webers Interesse. Es sollte jedoch mitgedacht werden, dass Webers Stadttext nicht mehr von jenem selbst veröffentlicht wurde und auch von einem abrupten Arbeitsabbruch ausgegangen wird, somit unzählige andere Gründe für das der LeserIn eher überraschend plötzlich erscheinende Ende angedacht werden könnten.7 Das Aufkommen einer neuen und besonderen Art des Lebens macht die mittelalterliche Stadt zur Vorläuferin unserer heutigen Ballungsräume, welchen, so Weber, die antike Polis, die Heimat des homo politicus fremd ist. Doch nicht nur die Grenze zur Antike zieht Weber scharf, sondern auch jene zum nicht okzidentalen Raum, wo er keine vollwertige Stadt mit ihren speziellen Eigenschaften: Befestigung, Markt, eigenes Gericht, Verbandscharakter und Autonomie, zu finden meint. Ich möchte mich mit Weber auf die Suche nach den städtischen Wurzeln machen, die er die seinen nennt und herausfinden, was vor sich ging in Webers Version des Mittelalters. Eine Version, die er, wie

6

Vgl.: Hinnerk Bruhns, „Webers ,Stadt‘ und die Stadtsoziologie“, in Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, ed. Hinnerk Bruhns and Wilfried Nippel, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 140 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000), 54.

7

Vgl.: Nippel, „Webers ,Stadt‘. Entstehung – Struktur der Argumentation – Rezeption“, 11.

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man ihm unterstellen könnte, konstruierte, um uns etwas über die Städte seiner Zeit zu berichten. Kurz: Mit Weber möchte ich im Folgenden verstehen, welche Praktiken die Steine zum Leben erweckten. Städte, das sind für Weber geschlossene Siedlungen. In einer Stadt müssen die Bürger8 ihre Bedürfnisse am örtlichen Markt, durch Waren aus regionaler Produktion, stillen können. Demzufolge etabliert Weber drei Begriffe zur Benennung seiner Stadt: „Konsumentenstadt“, folglich auch „Produzentenstadt“ und „Händlerstadt“9. Kein existenter Ort entspricht jedoch einer dieser Masken genau, nur als eine Mischform aller drei Ausprägungen kann eine reale Stadt vorgestellt werden, so Weber. Daran anschließend fällt es nicht schwer zu verstehen, wie es zum Wachstum von Ballungsräumen kam. Es war der Wunsch nach mehr Angebot am örtlichen Markt, der die Oberhäupter der Haushalte eines Dorfes nach breiterer Gesellschaft streben ließ. Weber verweist darauf, dass die Entwicklung einer Stadt ihren Ausgang zumeist in einer Burggemeinschaft fand, deren Lebensunterhalt nicht mehr gesichert war. Diesem Wunsch nun, bessere Versorgung genießen zu können, musste der Lebensmittelpunkt am Lande aber noch lange nicht geopfert werden. Schon zu Beginn des Städtewachstums wurden die im Stadtbezirk produzierten Waren auch auf den Gehöften und Schlössern im Grünen genossen. Anders als der mittelalterliche Bürger, der seine Bedürfnisse am städtischen Markt stillte, versorgte sich jener der Antike von eigenem Grund und Boden, er war „Ackerbürger“10. Zur vollwertigen Stadt konnte es die antike Polis somit nie bringen, weil Stadt Weber zufolge nur ist, wo ein wirtschaftlicher Verband besteht und die Menschen versorgt, eine wirtschaftliche Gemeinschaft das Leben strukturiert, deren Mitglieder als Entscheidungsträger im demokratischen Verfahren auftreten.

8

Ich verwende an bestimmten Stellen die männliche Form der Worte um hervorzuheben, dass es nahe liegend ist zu behaupten, dass selbst wenn manche Frauen das Glück hatten mit z.B.: Bürgerin bezeichnet zu werden, für sie nicht die beschriebenen Eigenschaften des Begriffs gültig waren.

9

Max Weber, Die Stadt, ed. Horst Baier, et al., vol. 5, Gesamtausgabe Max Weber. Abt. 1. Schriften und Reden. Bd. 22-5. Wirtschaft und Gesellschaft: die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte; Nachlaß (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1999), 65-66.

10 Ibid., 68.

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D IE

MITTELALTERLICHE

S TADT

Fünf Funktionen beschreibt Weber als charakteristisch für den mittelalterlichen Stadtverband. Erstens waren Städte politisch selbstständig in Innen- und Außenpolitik, daraus folgt zweitens, dass eigenes Recht obligatorisch wurde. Die Erschaffung rationaler Rechtssprechung erlaubte es, defizitäre Institutionen wie jene des Zweikampfs aufzulösen, Frieden zu schaffen und so die ökonomische Leistungsfähigkeit der Individuen zu steigern. Drittens hatte jeder Bürger sich nur vor seinem eigenen Gericht zu verantworten. Viertens gab es festgelegte Regelungen der Besteuerung. Steuerschuld blieb nur gegenüber der eigenen Stadt bestehen. Schlussendlich und fünftens wurde im Verband über die Regeln entschieden, die den Markt kontrollieren sollten. Es war auch immer die Marktkraft einer Stadt, die die Macht ihrer Bürger bedingte. Hohe finanzielle Liquidität der Bürgerschaft vermochte es, Stadtgründer zu erheblichen Zugeständnissen zu zwingen.11 Die antiken städtischen Strukturen bereiteten Menschen von verschiedenstem Status ihre Heimat, sie erschufen Orte des Lebens, die zum Teil auch noch der mittelalterlichen Stadt bekannt waren. Wichtig an Webers Aufzählung dieser Lebenspositionen ist, dass sie zeigt, wie wenig die Stadt ein Ort für Vollbürger und deren Frauen war/ist. Abgesehen von der angenehmen Stellung eines Vollbürgers, die nur den mit Grundbesitz beglückten Kommunenmitgliedern zukam, konnte man zu den Hörigen zählen, der Gruppe ökonomisch Ausgenutzter, oder ein Schuldknecht sein, was soviel bedeutet wie verschuldeter Bürger. Der Schuldknecht begibt sich, um Schlimmeres zu vermeiden, zum Abbau seiner Schulden in Knechtschaft. Diese Praxis konnte ganze Familien ihrer Unabhängigkeit berauben, um das Gerechtigkeitsbedürfnis eines Herrn zu befriedigen. Außerdem gab es in der mittelalterlichen Stadt auch noch Menschen, die man als Klient benannte. Zwar nicht ökonomisch verpflichtet, die Ausbeutung eines Klienten galt als äußerst unedles Verhalten, waren sie ihrem Herrn jedoch in Dingen der Politik zur Folge verpflichtet. Schlussendlich bleiben die Freigelassenen. Und zum ersten Mal scheint in diesem Zusammenhang der weibliche Teil des Menschengeschlechts für Weber von Interesse zu werden, oder besser gesagt, es zeigen sich an dieser Stelle die Ehefrauen, als auf den Markt geworfenes Fleisch, denn die Freigelassenen

11 Vgl.: Ibid., 235-41.

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waren beispielsweise solche, die zu Heiratszwecken ihrem Herrn quasi abgekauft wurden.12 Wichtig ist, nach all diesen Kategorisierungen und Unterscheidungen, dass sämtliche Funktionen der mittelalterlichen Stadt nur der Gruppe der Vollbürger zum Vorteil waren. Das Erreichen bürgerlicher Rechte blieb jedoch insoweit offen, als sie oftmals eng an Kapitalhabe geknüpft waren und insofern erwirtschaftbar. Kurz gesagt, schon das Mittelalter kannte den Leitsatz der Gegenwart: Reichtum befreit von äußerem Zwang. Es bestand somit im Mittelalter die Möglichkeit, im städtischen Umfeld arbeitend Mehrwert zu erschaffen und sich so seines Herrn durch Freikauf zu entledigen. Eine Option, die man unter Webers letzten Punkt die Freigelassenen einordnen könnte. Wenn auch die Bezeichnung freigelassen nicht völlig passend anmutet, da es sich eher um einen Vorgang des Freiarbeitens handelte. Kurz, man konnte, einmal zu Geld gekommen, die eigene Person kaufen. Weil sich die Stadtbürger verständlicher Weise nicht um den ökonomischen Zuwachs bringen mochten, den solche, vermutlich manisch arbeitenden Mitmenschen, sicherstellten, entstand eine, mit der Mächtigkeit der Kommune untermauerte, Frist, die es den Landherrn nach einiger Zeit verunmöglichte, ihre ehemaligen Untertanen ins eigene Geschäft zurückzuholen. Doch war die Stadt einmal als Ort der neuen Freiheit etabliert, begann das Bürgertum auch schon Einschränkungen herbeizusehnen. So wagte man es nicht nur aus Gründen der Unterlegenheit gegenüber einem Herrn nicht, Ankommende aufzunehmen, sondern auch beispielsweise das Knappwerden von Nahrungsmitteln ließ starke Gegner als durchaus willkommen erscheinen. So kam es vor, dass die städtischen Entscheidungsträger selektierten und nicht jedem das Leben in Freiheit zu gönnen bereit waren. „Den politischen sowohl wie den Grundherrn waren Geldeinnahmen, die sie von ihren Hintersassen erheben konnten, äußerst erwünscht. Die Stadt erst gab aber diesen letzteren einen Lokalmarkt für ihre Produkte und damit die Möglichkeit[,] Geld statt Frohnden oder Naturalabgaben zu zahlen; ebenso gab sie den Herren die Möglichkeit, ihre Naturaleinnahmen, statt sie in natura zu ver-

12 Vgl.: Ibid., 275-79.

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zehren, je nachdem auf dem Lokalmarkt[,] oder durch den zunehmend kapitalkräftigen Handel auswärts, zu Geld machen zu lassen.“13

Aber woher kommt sie überhaupt, diese Vorstellung, dass in einer Stadt für alle Menschen gleiche Ausgangsbedingungen herrschen sollten? Weber hat eine klare Antwort: Es ist das Christentum, das, weil es weder beispielsweise eine Sippenstruktur, noch das Kastenwesen beinhaltet, einen Kodex der Gleichheit im städtischen Leben unterstützt.14 So galt es auch bei Neugründungen als Einzelner in den Stadtverband einzutreten und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Familie oder Verbänden anderer Art. Doch weist auch Weber auf die Ungereimtheiten hin, die ein solcher Anspruch in christlichem Mantel mit sich bringt, denn welche ist beispielsweise die Rolle der jüdischen Stadtbürger im Ritual des christlichen Abendmahls? Wohl keine, da dieser Art des Essens im Judentum keine Bedeutung zukommt, so Weber.15 In Italien, im Mittelalter meint Weber die Ausbildung der Stadt des jungen Kapitalismus am besten beobachten zu können. Die „campagna communis“16, ein politischer Verband, ging dort den Stadtgründungen voraus. Die Schaffung der Kommunen sollte vorrangig dem friedlichen Zusammenleben und der einhergehenden „Monopolisierung der ökonomischen Chancen“17 dienen. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass es genau in der Zeit nach dem Gelingen der internen Befriedung war, als die Menschen ihre Waffen gegen Stadtfremde zu richten begannen. Es war mit dem 11. Jahrhundert, dass die Kommunen einander kriegerisch gegenübertraten und mit Ende derselben hundert Jahre wurde die städtische Verwaltung durch das Auftreten der „consules“18 in ihrer neuen Art fixiert. Die Consules wurden von diesem Zeitpunkt an jährlich von den Bürgern selbst oder durch ein von diesen erstelltes Gremium gewählt. Obwohl nun die Wahl an die Stelle der Ernennung eines Stadtherrn trat, blieb der Einfluss doch in den Händen der auch zuvor herrschen-

13 Ibid., 246. 14 Vgl.: Ibid., 114. 15 Vgl.: Ibid., 119. 16 Ibid., 128. 17 Ibid., 129. 18 Ibid., 130.

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den Familien. So war die Teilnahme an der Bürgerversammlung bald auf nur manche Geschlechter beschränkt und auch diese kamen ihrem Amt zu Beginn mit wenig Freude nach, man sah die Versammlungen eher als Last an, die man aus öffentlicher Pflicht zu ertragen hatte, aber auch geschäftlicher Gespräche wegen. Kurz gesagt, die Teilnahme am demokratischen Verfahren der mittelalterlichen, italienischen Stadt war ein Freizeitvergnügen und man konnte es sich auch nur dann leisten, wenn der Müßiggang finanzierbar war. So traf man ausschließlich Bürger mit Grundbesitz und einem Einkommen, das unabhängig von Grund und Boden war, in den öffentlichen Anstalten der Stadt an. Venedigs Doge war zum Beispiel gleichzeitig Großgrundherr, Großhändler und hielt das Monopol auf die Briefpost zwischen Okzident und Orient. Obwohl der Doge der mächtigste Mann in der Stadt war, kann im Falle Venedigs doch auch nicht von Tyrannei gesprochen werden, da er einer Machtverschmelzung der anderen Familien, einer Verbündung der Oberhäupter der Geschlechter, nicht standgehalten hätte.19 Venedig kann jedoch auch als ein Beispiel an Vollkommenheit verstanden werden, so nennt es Le Corbusier beispielsweise eine „großartig funktionale Maschine“20 aufgrund seiner besonderen Ausgeglichenheit von Land und Wasser. Doch nicht nur dies ist auffällig, sondern auch die frühe Entwicklung seiner Strukturen. So bestand Venedig in seiner endgültigen Form bereits am Ende des 11. Jahrhunderts und erlebte die durchgängige Ausbildung seiner politischen Mechanismen im 13. Jahrhundert, bereits 1094 wurde der Markusdom eingeweiht und erst im Jahr 1797 verlor Venedig nach einer Belagerung durch Napoleon und dem Aufheben der Verfassung seine Unabhängigkeit. Venedigs Autonomie, argumentiert Leonardo Benevolo, stabilisierte sich besonders gut, weil es zwar formal dem Herrschaftsbereich Konstantinopels zugehörte, praktisch aber autonom verwaltet war. Dieser Umstand bewirkte, dass sich die Stadt der Streitereien mit umliegenden Fürstentümern entziehen konnte und gleichzeitig von der Anbindung an den Orient profitierte. Venedig etablierte sich zur Zeit seiner Stadtautonomie zum wichtigsten Umschlagplatz für Waren aus dem Osten.21

19 Vgl.: Ibid., 152. 20 Le Corbusier nach Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt (Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2000), 381. 21 Vgl.: Ibid., 375 ff.

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Der Podesta war der nächste Verwalter und Machträger, den die Entwicklung von Mitbestimmung in den Mittelmeergebieten hervorbrachte. Er war ein von der Gemeinde berufener, gut bezahlter Beamter, dem die höchste Gerichtsgewalt zukam. Doch schon zu seiner Zeit stand die nächste wesentlich revolutionärere Neuerung an, „die Plebejerstadt“22 mit ihrer neuen Gemeinschaft, dem Popolo. „Der italienische Popolo war nicht nur ein ökonomischer, sondern ein politischer Begriff: eine politische Sondergemeinde innerhalb der Kommune, mit eigenen Beamten, eigenen Finanzen und eigener Militärverfassung: im eigentlichsten Wortsinn ein Staat im Staate, der erste ganz bewußt illegitime und revolutionäre politische Verband.“23

Wollte man ein Amt im Popolo bekleiden, so musste man Mitglied der Partei sein und erneut wäre es vermessen, so zu sprechen, als ob die Mitgliedschaft in der „Parte Guelfa“24 jedem in die Wiege gelegt wor-

22 Weber, Die Stadt, 198. 23 Ibid., 200. Auffällig ist, dass der Stadttext seit seiner dritten Herausgabe, als Teil des größeren Abschnitts Wirtschaft und Gesellschaft, dem Überkapital zur illegitimen Herrschaft zugeordnet wird (vgl.: Nippel, „Webers ,Stadt‘. Entstehung – Struktur der Argumentation – Rezeption“, 29. Breuer, „Nichtlegitime Herrschaft“, 63-64.). Diese Einteilung stammt von Johannes Winckelmann, dem Herausgeber, und ist nicht unumstritten, so meint beispielsweise Gerhard Dilcher, dass es sich beim Stadtverband lediglich um einen Wandel der Legitimität handelt. (Vgl.: Gerhard Dilcher, „Max Webers ,Stadt‘ und die historische Stadtforschung der Mediävistik“, in Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, ed. Hinnerk Bruhns and Wilfried Nippel, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 140 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000), 128.) Ich finde es trotzdem interessant, durch dieses Zitat, ein Textstück, das Weber ja immerhin selbst formuliert hat, auf den Faktor der Illegitimität des Städtischen zu verweisen, weil ich meine, dass das Problem der Selbstermächtigung ohne rechtlichen Rückhalt mir in meiner Auseinandersetzung mit dem Leben in der Stadt immer wieder begegnen wird, ja, sich sogar als eine typisch städtische Eigenschaft herauskristallisieren könnte! 24 Weber, Die Stadt, 204.

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den wäre, denn es handelte sich diesmal um die Eliten des Großbürgertums und gebildete Stadtbewohner, die das Ruder zum Lenken der Stadt in ihren Händen hielten. Wie meine Wortwahl, oder der möglicherweise lesbare Tonfall, schon ankündigt, ist der Weg nicht mehr weit ins Verderben. Denn der Wunsch nach Rückkehr ins Herz der Städte schlief in den Schichten der Nobili nicht und so war es bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts, dass ausgeschlossene Proletarier und der Adel zusammenstanden, gegen die Macht des Bürgertums. Die ersten Beamten wurden für längere Amtsperioden gewählt, wie es Weber beispielsweise in den Städten Piacenza und Mailand beobachtet, die Kraft des Bürgertums im Kampf schwand und die Stadt verlor ihre Vormachtstellung gegenüber dem Land, woher dann auch oft die Energien zum Sturz der Versammlung kamen. Wie konnte es zur erneuten Stärkung des Adels kommen? Weber nennt drei wichtige Provokationen einer solchen Entwicklung. Erstens hatte der Hofstaat dafür gesorgt, dass manche Bürger in sozialer und ökonomischer Abhängigkeit von seinem Fortbestehen lebten, zweitens förderte zunehmende Konkurrenz prekäre ökonomische Verhältnisse und den einhergehenden Rückzug aus dem öffentlichen Leben, aber drittens und als wichtigsten Punkt nennt Weber die systematische Entwaffnung der Bürgerschaft. Vollständig mit ihren Geschäften ausgefüllt, hatten die Bürger keine Zeit, den Waffendienst zu absolvieren. Mit dem 16. Jahrhundert kann Weber zufolge vom endgültigen Niedergang der Städte gesprochen werden, es war auch um dieses Datum herum, dass Unternehmer es nicht mehr für gewinnbringend erachteten, ihre Produktionsstätten in als Kommunen organisierten Gebieten anzusiedeln.25

G RENZEN

DER

S TADT

Sowohl in Richtung seiner zeitlichen als auch der räumlichen Ausdehnung gibt Weber seinem Konzept von Stadt scharfe Konturen. Wie bereits angesprochen, ist Stadt Weber zufolge nur im europäischen Mittelalter zu finden und zu dieser Zeit, einschließlich all ihrer nötigen Eigenschaften, eigentlich auch nur in Italien. Eine Frage bleibt in die-

25 Vgl.: Ibid., 243.

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sem Zusammenhang von Weber unbeantwortet: Leben wir, oder besser, lebten die Menschen zu Webers Zeiten in Städten? Oder war es vorbei mit der Stadt, nachdem die Autonomie ihrer Bürger ein trauriges Ende in der Stadttyrannei fand? Wo liegen sie nun die Unterschiede in den Arten des Zusammenlebens? Vorrangig ist es wohl die Zugehörigkeit zu einer Sippe oder Gruppe, über die man erst Zugang zum städtischen Verband erhält, was Weber als antistädtisch beurteilt und welche Konstellation er als deutlich unterschieden zu seiner Vorstellung von Stadt herausarbeitet. In der Antike war man beispielsweise über die Familie Mitglied eines Verbandes, weswegen auch die Polis nicht als Stadt im Weberschen Sinne besprochen werden kann. In Indien korrespondiert der antiken europäischen Familie, wie Weber sie beschreibt, die Kaste. Das Kastenwesen griff trennend ein und verunmöglichte Weber zufolge den Zusammenschluss der Einzelnen, wie er für die Stadt charakteristisch ist.26 Die Ausbildung von Städten in China war dagegen mit Hemmnissen militärischer Art konfrontiert. Hatte das Beamtentum den Familien auch oft nichts entgegenzusetzen, wenn die Menschen die Macht ihrer gebündelten Arbeitskraft mobilisierten, um Rechte einzufordern, da die Familien es, etwa durch Arbeitsniederlegung, vermochten, das Stadtleben auf Zeit einzufrieren und den königlichen Beamtenapparat zu entmachten, so konnte der Schritt zur Selbstverwaltung doch nicht getan werden. Die Notwendigkeit großer Bauvorhaben hatte die Ausbildung einer Organisatorenschicht ermöglicht, deren Herrschaft nach Abschluss der Projekte, mit Hilfe der Soldaten des Königs, bestehen blieb. Des Königs Interesse an Freiräumen zur Selbstbestimmung war ein geringes. Der königlichen Streitmacht hatten die Stadtbewohner in China nicht genug entgegenzusetzen, wie Weber es beschreibt.27 Zusammenfassend kann mit Weber behauptet werden, dass es die Bewaffnung des europäischen Bürgertums in den Städten des Frühkapitalismus und der Antike war, die es den Stadtbewohnern ermöglichte, sich gegen aufgezwungene Herrschaft zu erheben. An den kultischen Gemeinschaften der antiken okzidentalen Städte war nun bemerkenswert, dass sie jeweils eine eigene Kultur des Speisens und Feierns ausbildeten. Dieser Umstand macht wiederum ver-

26 Vgl.: Ibid., 109-10. 27 Vgl.: Ibid., 144.

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ständlich, dass nicht bloß Besitz oder Abstammung Voraussetzungen für den Eintritt ins bessere Leben waren, sondern manchmal auch die Praxis der ritterlichen Lebensführung genügte. Dieses ist ein Merkmal, das sowohl antike als auch mittelalterliche Stadt vereint; die Aufnahme in den Stadtverband hatte auch mit dem Benehmen des jeweiligen Menschen zu tun. War man zum Beispiel als Edelmann dem Besitze zwar nicht abgeneigt, so galt es doch als unschick, sich diszipliniert für die eigene Kapitalakkumulation zu engagieren. Kurz gesagt, der wahre Städter musste auch damals schon, wie zumindest Weber berichtet, die Gabe haben, sich ein gutes Leben leisten zu können, ohne zu arbeiten.28 An all dies anschließend scheint es fast so, als ob Stadtarten vorrangig durch die Ausprägung ihres Bürgertums zu unterscheiden wären, doch auch die Ausgestoßenen, jene, die man als Bedrohung empfand, waren in der Antike andere als im Mittelalter. In der Antike waren es die unvermögenden Söhne ehemaliger Bürger, die Besorgnis erregten. Ihnen war der Wunsch nach Recht und Grund spezifisch. In der mittelalterlichen Stadt war unterdessen bereits eine ärmere Schicht von HandwerkerInnen und Arbeitslosen herangewachsen, die das Gleichgewicht des stadtbürgerlichen Zusammenlebens gefährdete, so Weber. Arbeitslosigkeit kannte die Antike nicht, enorme Staatsprojekte verschafften den Unbeschäftigten eine Arbeitsstelle und damit ihren Lebensunterhalt. Im Mittelalter wiederum hatte die Bauernschaft die Stadtmacht nicht mehr inne, während genau dies ihre Aufgabe in der Antike gewesen war. Des Weiteren unterschied sich auch die Raumpolitik des antiken und mittelalterlichen Europas. Für die Antike spricht Weber von Festungsstädten, die auch kein Interesse hatten sich auszudehnen oder andere Dörfer mit in den Stadtverband aufzunehmen, während für das Mittelalter charakteristisch ist, dass die Stadt im Zuge des Strebens ihres Gründers nach Gütern und Marktvorteil zustande kam. So war das Bürgertum an Expansion und dem Erstellen von Städtenetzwerken interessiert. Das Ziel des gemeinschaftlichen Zusammenlebens präsentiert sich im Mittelalter folglich vorrangig als die Stärkung des eigenen Handels- und Finanzstandortes. Man dachte seine Heimat somit bereits im Weberschen Mittelalter in Bezug auf andere Siedlungs- und Produktionsgebiete.29

28 Vgl.: Ibid., 191. 29 Vgl.: Ibid., 247.

Max Weber?

Weckt Webers Denken auch das Interesse tiefer in die Problematiken unseres städtischen Zusammenlebens einzutauchen, so bleibt doch auch das Gefühl zurück, vielleicht betrogen worden zu sein. All diese Empfindungen kulminieren meiner Meinung nach in einer Frage, die lauten könnte: Wozu das alles, wozu könnte ein Stadtbegriff gebraucht werden, dessen Anwendbarkeit im strengen Sinn auf einige italienische Städte des Mittelalters eingeschränkt bleibt? Ich denke es lohnt sich, mit Gerhard Dilcher einhergehend zu behaupten, dass es Weber darum ging, eine durch Empirie untermauerte Theorie des menschlichen Handelns zu entwickeln, weniger darum eine Wunderbrille zu erschaffen, die es nun für immer erlauben sollte, Städte klar von anderen Siedlungsformen zu unterscheiden.1 Und es ist genau dieser Umstand, der Weber zu entlasten scheint, denn plötzlich wird einsichtig, warum nur wenige Städte als solche gelten dürfen, plötzlich ist klar, warum Webers Text vielleicht eher als eine Sammlung von Beispielen zu den wenigen, aber klar formulierten Grundsätzen auf den Seiten seiner Abhandlung gelesen werden sollte. … und, warum ist das Stadt? Kurz gesagt, im Folgenden wird es mein Versuch sein, alle durch Weber herausgearbeiteten Eigenschaften darauf hin zu befragen, warum gerade sie es sein sollen, die das Wesentliche einer Stadt ausmachen können. Zu Beginn scheint es mir jedoch notwendig, eine der grundlegendsten Behauptungen Webers noch einmal hervorzuheben, nämlich: Städte gibt es nur im Okzident zur

1

Vgl.: Dilcher, „Max Webers ,Stadt‘ und die historische Stadtforschung der Mediävistik“, 121.

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Zeit des Mittelalters. Genauer gesprochen: Ein selbstverwaltetes Bürgertum konnte sich nur zu jener Zeit an diesem Ort herausbilden. Nicht richtig!2 Entgegnet beispielsweise Peter Feldbauer, der anmerkt, dass die Zeit zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert auch gewaltige persische Metropolen mit sich brachte. Den Islam beschreibt er als eine Religion des Urbanismus.3 Des Urbanismus? Schon mit diesem Wort scheint wieder eine Differenz zu den europäischen Städten des Weberschen Mittelalters fixiert. Sollten die frühen Perserstädte nicht vielleicht besser in Analogie zu unseren heutigen Ballungsräumen erforscht werden? Feldbauer kritisiert an Webers Darstellung der islamischen Stadt, dass die Beschreibungen sich im Aufzeigen des Mangels wichtiger städtischer Bestandteile erschöpfen, dass Weber keine neuen Eigenschaften zu erfassen versucht. Weber zufolge fehlt es der islamischen Stadt an autonomem Bürgertum, politischem Verantwortungsbewusstsein und Solidarität auf gleicher Augenhöhe.4 Es fanden jedoch andere WissenschaftlerInnen ihre Aufgabe darin, der islamischen Stadt Struktur zu geben. Das Resultat dieser Bemühungen ist die „MosaikTheorie islamischer Gesellschaften“5. Als zentrale Texte dieser Art von Stadtbeschreibung gelten die Studien von Jean Sauvaget. Sauvaget behauptet, dass sich die Gesellschaften der Städte Aleppo und Damas-

2

Nicht richtig wäre es aber auch, meine außereuropäischen Stadtbeschreibungen als mehr zu sehen als sie sind, nämlich bloße Beispiele. Ich spare an dieser Stelle vieles aus, wie zum Beispiel die ,Wetsche‘ in Russland und mehr, das vielleicht auch noch gar nie Thema geschichtlicher Studien wurde. (Vgl.: Andreas Kappeler, „Stadtluft macht nicht frei! Die russische Stadt in der Vormoderne“, in Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich., ed. Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, and Wolfgang Schwentker, Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte (Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik, 2002), 198.)

3

Vgl.: Peter Feldbauer, „Die islamische Stadt im ,Mittelalter‘“, in Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich., ed. Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, and Wolfgang Schwentker, Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte (Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik, 2002), 79.

4

Vgl.: Ibid., 81.

5

Vgl.: Ibid., 82.

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kus aus selbstverwalteten Gemeinschaften zusammensetzten und aus diesem Grund keine übergreifende Organisation einer ganzen Stadt möglich war.6 Innerhalb der beschriebenen Einheiten sollen sich somit Gemeinschaften ausgebildet haben, deren Leben in jeder Hinsicht speziell und exklusiv gewesen ist. Sauvaget beschreibt Gruppen mit eigener Administration, deren Mitglieder auf begrenztem Gebiet wohnten und schlussendlich auch durch ethnische und religiöse Bande verknüpft waren. Doch wozu schildert Feldbauer all das? Um zu zeigen, dass es genau diese Art der Theoriebildung ist, die zu vermeiden wäre, da er meint, dass mit einer solchen Festlegung der islamischen Stadt nur ein Bild festgeschrieben wird, das sich in eine Reihe von ideologisch gefärbter Theoriebildung der Islamwissenschaft einordnen ließe. Kurz gesagt, das Konzept der Mosaikgesellschaften beurteilt Feldbauer als eine Möglichkeit, die islamische Stadt gegenüber dem „europäischen Erfolgsmodell“7 abzuwerten. Meine Frage an Feldbauer ist jedoch, wenn ich auch nicht bestreiten möchte, dass die Beschreibung der islamischen Stadt nicht mit gleichem Interesse am Lernen vom Alten wie die Wissenschaft der antiken Polis betrieben wird, ob es nicht auch immer unsere einzige Möglichkeit ist, die Dinge irgendwie neu zu erfinden und dem, was wir beschreiben, eine Struktur aufzudrücken. Meine Frage ist, ob es nicht vielleicht sogar ein Weg des politischen Handelns sein könnte, Beschreibungen von Städten in spezieller Weise anzugehen, oder Vorhandenes, wie die Theorie des Mosaiks, in ihrer Bewertung umzuändern. Kurz: Warum sollte man nicht einfach auch behaupten, dass das Leben in kleinen Einheiten vollkommener ist als das im Stadtverband. Wichtig sind wohl immer eher die Umstände, unter welchen eine bestimmte Form von Zusammenleben verwirklicht wird. Feldbauer verweist darauf, dass die islamische Stadt weniger durch staatliche Bauprojekte als durch ein komplexes Netz von Straßen strukturiert war, welche Form durch den Vorrang des Privateigentums

6

Vgl.: Ibid. Jean Sauvaget, „Esquisse d'une histoire de la ville de Damas“, in Revue des Etudes Islamique 8 (Paris: Librairie Orientaliste Paul Geuthner, 1934). Jean Sauvaget, Alep. Essai: sur le développement d'une grande ville syrienne des origines au milieu du XIXe siécle (Paris: Librairie Orientaliste Paul Geuthner, 1941).

7

Vgl.: Feldbauer, „Die islamische Stadt im ,Mittelalter'“, 85.

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gegenüber prunkvollen staatlichen Bauten verursacht wurde. Dem zufolge war der Handel der islamischen Stadt wichtigstes Merkmal. Dennoch, Feldbauer möchte nicht in dieselbe Falle tappen wie seine Vorgänger und Unterschiede überbetonen, die er eigentlich für weniger relevant hält. Seine These ist, und auch jene Eugen Wirths, dass durchaus gleiche Strukturmerkmale beider Stadtarten herausgearbeitet werden können.8 Es sind nun drei Funktionen, die die Beschreibung Feldbauers und Wirths als die eigentlichen einer Stadt hervorhebt. Die von ihnen ausgearbeiteten Richtlinien zum Erkennen von Städten haben gegenüber Webers Behauptung den Vorteil, dass sie bereits auf einen größeren Teil der Weltgesellschaft angewandt werden können, nämlich auf die abendländische und feudale Stadt und die in diesem Zusammenhang diskutierten, vormodernen Städte des Orients. Die drei Funktionen der Stadt: Herrschaft, Ökonomie, religiöses und geistiges Leben. Auch Indien hatte seine Metropolen, behauptet Monica Juneja.9 So gab es zwischen der Mitte des dritten und des zweiten Jahrtausends vor Christus die ersten Planstädte der Harappa-Kultur. Junejas Interessensgebiet ist die indische Stadt der vorkolonialen Zeit, für diesen geschichtlichen Abschnitt identifiziert sie vier Arten von Stadt. Erstens nennt sie Städte, die ihre Existenzberechtigung in ihrem Dasein als Zentren des Handels erhielten. Städte dieser Art waren auch immer Teile eines Netzwerks, sie beheimateten Banken und transferierten Informationen. Zweitens nennt Juneja Städte, deren Funktion als politisches Zentrum sie überleben ließ, drittens Pilgerstädte und abschließend vermerkt Juneja, dass es Städte gab, die sich durch das besondere Fachwissen ihrer Bewohner auszeichneten und aus diesem Grund von Interesse für die Menschen waren.

8

Vgl.: Ibid., 102. Eugen Wirth, Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika: städtische Bausubstanz und räumliche Ordnung, Wirtschaftsleben und soziale Organisation (Mainz: von Zabern, 2001).

9

Vgl.: Monica Juneja, „Vorkoloniale Städte Nordindiens. Historische Entwicklung, Gesellschaft und Kultur, 10-18. Jahrhundert“, in Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich., ed. Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, and Wolfgang Schwentker, Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte (Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik, 2002), 110-11.

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Klar unterscheidet sich nach Juneja jedoch die indische Stadt vom Weberschen Modell, weil es ihr nicht vergönnt war, vom Staat als autonome Einheit anerkannt zu werden. – Hatte die europäische Stadt dieses Glück? War sie nicht nach Weber nur so lange frei wie ihre Form jene des Stadtstaats war und was war dann genau Spielplatz des Verhandelns, erster oder zweiter Wortteil, Stadt- oder -staat? – Die Aufgabe der indischen Stadt war so gesehen eher eine verwaltungstechnische, man kümmerte sich um Besteuerung und sicherte das Einhalten der Marktordnung. Die Stadt sorgte für innere Sicherheit und machte manchmal auch die Wasserversorgung der Bevölkerung zu ihrem Problem. Kurz gesagt, die indische Stadt der vorkolonialen Zeit übernahm polizeiliche Funktionen im foucaultschen Sinn10, sie kümmerte sich um das Wohl und die Sicherheit ihrer Bevölkerung. Gegen Webers Argument, dass es in Indien kein kapitalistisch motiviertes Bürgertum gegeben hätte, weil jenem das Kastenwesen im Wege gestanden wäre, erhebt Juneja jedoch Einspruch.11 Die Gemeinschaft von bestimmten Familien hatte nicht nur den Zweck, klare Bezugssysteme zu schaffen, diente nicht nur der spirituellen Orientierung oder ermöglichte lediglich mit Hilfe bestimmter sozialer Konstellationen eine ehrenvolle Stellung im Leben zu erreichen, sondern es waren auch ökonomische Interessen an diesen Zusammenhalt der Menschen geknüpft. Betrachtet man die indische Kaste in dieser Art, so scheint sie auch unserer Tage ihre Wichtigkeit zu beanspruchen. Die zeitgenössischen Kasten wären solche Gemeinschaften, die man als Szene bezeichnen könnte. So scheint das Bild einer Gruppe von Golf spielenden, Geschäfte machenden Multitaskinggenies, möglicherweise auch manchmal weiblich, wenn schön anzusehen, bereits fest im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaften der KapitalismusgewinnerInnen verankert zu sein. Bloß die spirituelle Ausrichtung scheint im Fall der Kaste des 21. Jahrhunderts eher durch einen Mangel gezeichnet. Aber, zurück nach Indien. Delhi war eine jener Städte, die ihre Berechtigung im Handel fanden, dementsprechend prägten sowohl schlimme Armut als auch gro-

10 Vgl.: Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006), 470. 11 Vgl.: Juneja, „Vorkoloniale Städte Nordindiens. Historische Entwicklung, Gesellschaft und Kultur, 10-18. Jahrhundert“, 116.

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ßer Reichtum das Stadtbild, aber viel interessanter erscheint in diesem Zusammenhang, dass Delhi oft erobert wurde und dennoch immer die Stadt im Zentrum blieb. Kurz gesagt, Delhi schaffte es im Laufe seiner Geschichte Hauptstadt mehrerer unterschiedlicher Reiche zu sein. „Während in diesem Sinne die ,Sieben Städte‘ von Delhi zur Legende wurden, lassen sich tatsächlich 15 verschiedene städtische Siedlungsansätze nachweisen, beginnend mit Dilli, der Hauptstadt der Tomar- und der ChauhanRadjputen im 9. und 10. Jahrhundert. Unter den türkischen Herrschern folgten eine Reihe von Festungen, meist jeweils beim Wechsel der Dynastien des Delhi-Sultanats (1206-1526), die eine vielfältige Stadtlandschaft hinterließen, die aus zahlreichen kulturellen Linien zusammengesetzt war – arabisch, türkisch, iranisch, und natürlich auch aus lokalen Komponenten.“12

Aus diesem Textstück scheint mir eine wichtige Eigenschaft des Städtischen hervorzugehen. Städte können und konnten nie einem Kulturkreis, einer besonderen Art des Lebens oder einer Tradition zugeordnet werden, weil ihre Geschichte zwangsweise Veränderungen mit sich bringt, da eine Stadt, die es nicht schafft, sich an die veränderten Situationen des Lebens anzupassen, nicht zu überleben vermag. Kann eine Stadt ohne Geschichte, eine geplante Stadt funktionieren? Mit dieser Frage ist das schwierige Thema Städteneugründungen angesprochen und die Frage danach, ob es des Guten mehr bedarf als nur einiger Arbeitsstellen und so manches Bauwerks, um Menschen an einem Ort zu halten. Mir scheint schon. Es ist eine vernächlässtigte Frage in Webers Text, ob Menschen aus nicht nur praktischen Gründen in einer bestimmten Stadt leben wollen. Weber macht zwar zum Thema, dass Stadtbürger einen eigenen und besonderen Lebensstil kultivieren, stellt aber beispielsweise keine Überlegungen darüber an, inwieweit es Unterschiede im Leben der Hauptstadt und einem solchen in Provinzstädten gibt. Es scheint für Weber uninteressant zu sein, welche Gefühle einer Stadt entgegengebracht werden. Was eine meint in der emotionalen Behauptung ,Ich liebe meine Stadt‘ und wie sich eine solche Einstellung auf das Verhalten der Jeweiligen auswirken kann.

12 Ibid., 120.

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Zumindest in Sachen Hauptstadt13 agiert der Philosoph und Historiker Arnold J. Toynbee anders. Er widmet einen großen Teil seines Buchs „Unaufhaltsam wächst die Stadt“ ausschließlich der Beschreibung von Hauptstädten, so wie der Untersuchung jener Umstände und Ursachen, die sie zu solchen zu erheben vermochten. Toynbee nennt im Zuge seiner Auseinandersetzung zwei grundlegende Voraussetzungen, die eine Stadt mitbringen muss, um sich als Hauptstadt zu eignen. Eine Stadt mit Hauptstadtqualitäten muss entweder aus der Tradition Prestige beziehen, sie kann ihren Ruhm im Spielen einer Schlüsselrolle in der Verteidigung des Landes erringen, oder muss aufgrund herausragender Funktionalität jenen Status erreichen. Brasilia ist beispielhaft für Städte des zweiten Typs, Toynbee beurteilt die von dieser Stadt ausgehenden Straßen, die sich wie „Fühler“14 ins Land vorarbeiten, als das wichtigste Element Brasilias. Allein hoher Verkehr auf diesen Straßen, die Brasilia mit der Stadt Sao Paulo seinem Industrie- und Handelszentrum und Belem einem Hafen verbinden, können Toynbees Meinung nach diese Hauptstadt erhalten, ihrer Existenz Legitimation verschaffen. Hauptstädte der ersten Gruppe müssen geschichtliches Ansehen genießen, wie Han-liu-pang, die erste Hauptstadt des geeinten China, die auch nach dem Ende des Machteinflusses der grausamen Qin-Dynastie ihre Stellung behielt. Scheinbar wog der Stadt Ansehen, weil sie als erste Symbol für das geeinte China war, schwerer als das brutale Wesen der ersten EinigerInnen, wie Toynbee argumentiert.15

13 Auch unseren ZeitgenossInnen mit Einfluss ist es nicht egal, wie das Prestige der Stadt ist, in der sie mitreden. So wurden 1990 alle EinwohnerInnen von Pagan nach Neu-Pagan umgesiedelt. Man begründete dieses Unternehmen damit, indem man behauptete, die EinwohnerInnen würden die Ausgrabungen des Palasts behindern. Für wen sind sie nun da, die Städte? Für EinwohnerInnen oder TouristInnen? (Vgl.: Tilman Frasch, „Anuradhapura - Angkor - Pagan. Versuch eines strukturgeschichtlichen Vergleichs“, in Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich., ed. Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, and Wolfgang Schwentker, Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte (Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik, 2002), 56.) 14 Arnold J. Toynbee, Unaufhaltsam wächst die Stadt (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: W. Kohlhammer GmbH, 1971), 85. 15 Vgl.: Ibid., 75.

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Diese Situation läßt jedoch meiner Meinung nach mindestens zwei weitere Interpretationsmöglichkeiten zu. Ich möchte meinen Gedanken in dieser Richtung kurz nachhängen, um Toynbees klare Feststellung etwas zu relativieren. Zum einen könnte man behaupten, dass eben gerade diese Aura des Gewalttätigen auch den neuen HerrscherInnen wieder entgegen kam, da so die Unterdrückung des Volks einfacher erschienen sein mag. Denn wird man durch den Namen der Hauptstadt immer wieder an eine schreckliche Vergangenheit erinnert, nimmt man möglicherweise seine staatsbürgerlichen Pflichten ernster. Zweitens könnte man aber auch vermuten, dass es bereits damals Theorien gab, die die Stadt als eine Art Durchlauferhitzer beschrieben haben. Kurz: Es wäre möglich, dass schon im alten China davon ausgegangen wurde, eine Stadt könne zu jedem Zweck verwendet werden und sollte es bereits die Strukturen einer Hauptstadt von alten Regierenden her geben, so sei es sinnvoll, jene neu zu beleben. Vielleicht gab es ja auch das Anliegen, eben durch die Wiederbelebung der alten Steine, die Erinnerung an das Vergangene auszulöschen. So kann, scheint mir, niemand genau angeben, warum eine Hauptstadt eben genau eine bestimmte ist, viel eher zeigen sich verschiedenste, einander auch widersprechende Gründe, sich für eine bestimmte Siedlung zu entscheiden. Für mein Weiterarbeiten möchte ich es so halten, jede Stadt hauptstädtisch zu denken und auch das Konstrukt (das Stattfinden) von Stadt, das ich zu beschreiben versuchen werde, sollte ein wenig Hauptstadt sein. Ich verfahre so, weil ich meine, dass es vielleicht in Zukunft sinnvoll sein wird, darüber nachzudenken, ob nicht jede Stadt wichtigen Einfluss auf die Entscheidungen eines Landes haben sollte, weil sich mehr Menschen so der Regierung näher fühlen könnten. Und schließlich gibt es ja auch immer mehr von ihnen, den Menschen, denen es an korrespondierenden Städten fehlt. Toynbee beschreibt auch Beispiele aus der Vergangenheit, wo die Parallelexistenz mehrerer Hauptstädte zu funktionieren schien. Erfolgreich waren solche Unternehmungen jedoch immer nur dann, wenn die Herrschenden von Stadt zu Stadt zogen, um in jeder eine gewisse Zeitspanne zu verbringen. Schlussendlich und allgemein gesprochen, was muss eine Hauptstadt nach Toynbee nun zu leisten vermögen? „Wenn eine Regierung in den Provinzen nicht mehr für eine tüchtige öffentliche Verwaltung, eine wirksame Polizei und eine erfolgreiche Verteidigung der

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Grenzen sorgt, werden die Sachlieferungen und Geldlieferungen, die aus den Provinzen in die Hauptstadt strömten, aufhören, und damit werden auch der Reichtum und die Bevölkerungszahl der Hauptstadt sinken.“16

Um nach diesem enormen Hauptstadtausflug zurückzufinden, möchte ich Weber endlich ein letztes Zugeständnis machen. Wie schon angesprochen, arbeitet Weber ja eigentlich nur über jene Zeit, in der Stadt zumeist auch Stadtstaat bedeutete, somit das Problem der Hauptstadt auch wahrscheinlich von geringerer Bedeutung war. Doch bleibt die Lücke in seinem Text, wo es darum gehen müsste, aus wie vielen unterschiedlichen Gründen Menschen in die Städte kamen, Gründe abseits von Konsum, Handel oder vielleicht noch religiösem Antrieb, wie sie auch die Landflüchtigen unserer Tage bewegen. Denn in einer Stadt leben bedeutet auch Abenteuer, Trunkenheit und Unsicherheit, kurz gesagt, seltene Freuden verquickt mit tiefstem Leid, und all das soll einfach ausgeklammert werden?17 All diese anderen Gründe schafft es Richard Sennett in einem Satz zu formulieren: „Diese zerklüftete und schwierige urbane Landschaft gibt ein besonderes moralisches Versprechen. Sie kann jenen als Heimat dienen, die sich selbst als Exilierte des Gartens akzeptieren.“18

16 Ibid., 68. 17 „Die Stadt bot weiter Bildungseinrichtungen, in begrenztem Umfang auch medizinische Hilfe. Es ist deshalb verständlich, daß für die Menschen der Antike nicht so sehr Rom das Vaterland als ihre Stadt die ,Vaterstadt‘ (patris) war. […] Es gab also einen heftigen Wettstreit unter den Städten um Rang, Ehre, Ansehen, und diese Konkurrenz stärkte noch den Patriotismus gegenüber der Vaterstadt.“ (Jochen Martin, „Die griechische und römische Stadt der Antike“, in Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich., ed. Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, and Wolfgang Schwentker, Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte (Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik, 2002), 1920.) 18 Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, suhrkamp taschenbuch (Berlin: Berlin Verlag Verlagsbeteiligungsgesellschaft mbH & Co KG, 1997), 34.

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Einige Eigenschaften von dem, was Weber als Stadt bezeichnet, treten nun eindeutiger zu Tage. Zuerst stellt sich die Frage, warum es genau die Tätigkeiten Produzieren, Handeln und Konsumieren sein sollen, die eine Stadt ausmachen, eine Annahme, die auch andere der besprochenen TheoretikerInnen übernehmen. Um diesem Problem auf die Spur zu kommen, werde ich die Frage in umgekehrter Form stellen: Wo wird produziert, wo wird gehandelt, wo konsumiert? Ein erstes Nachdenken präsentiert mir eine klare Antwort: Im Gastgewerbe. Im Wirtshaus finden alle diese Tätigkeiten zeitgleich und in einem Haus statt. Damit weiter im Text: Gibt es so etwas wie selbstverwaltete Gasthäuser? Einerseits könnte diese Frage als Vorschlag zum Füllen einer Marktlücke gelesen werden, andererseits ist es durchaus plausibel zu behaupten, dass GastwirtInnen demokratisch gewählte AmtsträgerInnen sind, denn in jedem meiner Besuche gebe ich meine Stimme für eine bestimmte Art des Kochens, für gewisse Gerichte auf der Speisekarte ab. Möchte man einwenden, dass dies nichts mit Demokratie zu tun hat, weil meine Stimmabgabe nur über die Investition von Geldscheinen funktionieren kann, so sei daran erinnert, dass eben genau dies die Praxis von Mittelalter und Antike gewesen ist, und selbst Weber wird nicht müde, die Wichtigkeit finanzieller Liquidität aufzuzeigen, die zwingend war, um aktiv im Stadtrat mitreden zu können. Eine weitere städtische Eigenschaft der Weberschen Stadt ist die Unabhängigkeit von fremder Versorgung. Eine Stadt muss fähig sein, eigenständig für ihre Gebrauchsgüter aufzukommen. Und genau hier scheint der Punkt erreicht, an dem keine Analogien zum Wirtshaus mehr gezogen werden können, weil WirtInnen importieren ihre Rohstoffe zumeist und zu großem Anteil, wie auch die Gäste. Ich denke, dass ich hiermit an einem springenden Punkt angelangt bin. Denn es muss demzufolge auch ein Wesensmerkmal der von Weber beschriebenen Stadt sein, dass sie nicht ohne größere Schwierigkeiten verlassen werden kann. Wohl war es vielleicht möglich, als reicher Stadtbürger Reisen zu unternehmen oder sich das Bleiberecht in einer anderen Stadt zu erkaufen, doch erwähnt Weber mit keinem Wort Menschen, die freiwillig auf ihr Stadtrecht verzichteten, um beispielsweise noch freier zu sein. In Webers Darstellung kommt klar heraus, dass man entweder DienerIn eines Herrn war, oder in irgendeiner Form am Stadtverband partizipierte, als Freie oder Unfreie. Als dem gegenüberstehend kann eine These von Karl Bücher gelesen werden, die lautet, „[…] daß die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte immer

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seßhafter geworden ist.“19 Bücher unterscheidet zwei Arten der Wanderung, einerseits beschreibt er Reisende, die als Gesellen, ländlichen Gegenden entstammend, Fernwanderungen antraten, was bedeutet, dass sie zwischen städtischen Siedlungen herumzogen und zumeist nur kurze Zeit Arbeit an einem Ort fanden. Ein Drittel der Suchenden zog bereits nach weniger als einem Monat weiter. 20 Andererseits beschreibt Bücher das Phänomen der Wanderung über kürzere Strecken, wiederum aus ländlichen Gebieten, das er als charakteristisch für den Handel mit Nahrungsmitteln anführt. Aber warum erzähle ich dies alles? Natürlich um zu veranschaulichen, wie wenig passend das von Weber beschriebene Stadtkonzept schon zur damaligen Zeit gewesen sein muss und dass in diesem Zusammenhang von Demokratie zu sprechen als noch vermessener erscheint, denn in welchem Verband sollten all die Herumreisenden partizipieren, in jenem ihrer Heimatstadt, die sie vielleicht nur zu Beginn ihres Lebens erblickten? Kurzfristig, am Ort ihrer Arbeitsstelle? Auch diese Option scheint unmöglich, weil darauf hätte sich das Bürgertum wohl kaum eingelassen. Am wahrscheinlichsten erscheint, dass Weber entweder nicht mit dem Umstand vertraut war, dass auch die vormoderne Zeit schon stark von Migration geprägt war, oder, dass er die Reisenden einfach ihrem Schicksal überließ. Im zweiten Fall könnten diese aber nur als rechtlose Flüchtlinge verstanden werden. War Weber vielleicht bewusst, dass es schon zu den Beginnzeiten des Kapitalismus nötig war, ArbeiterInnen zu produzieren, die zwar frei von Herrschaft, aber auch von Rechten waren? Kurz gesagt, mit dieser These Büchers scheint es wieder um ein Stück unwahrscheinlicher, dass die Stadt des Mittelalters ein sich selbstversorgender Verband

19 Josef Ehmer and Reinhold Reith, „Die mitteleuropäische Stadt als frühneuzeitlicher Arbeitsmarkt“, in Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich., ed. Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, and Wolfgang Schwentker, Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte (Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik, 2002), 233. Vgl.: Karl Bücher, „Die inneren Wanderungen und das Städtewesen in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung“, in Die Entstehung der Volkswirtschaft. Erste Sammlung, Karl Bücher (Tübingen: 1922). 20 Vgl.: Ehmer and Reith, „Die mitteleuropäische Stadt als frühneuzeitlicher Arbeitsmarkt“, 250.

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war. Von Selbstbestimmung durch Abstimmung zu sprechen, fühlt sich mittlerweile mehr als frevelhaft an.

U RBANISMUS Zwei wichtige Gründe nennt Weber, warum die Stadt des Mittelalters dem Untergang geweiht war; das Verschwinden der Produktionsstätten aus dem Stadtgebiet und die Entwaffnung der Bürger, die nunmehr völlig in der Akkumulation von Kapital aufzugehen schienen. Doch mangelt es gegen die Feststellung, dass es die Stadt seit dem Mittelalter nicht mehr gibt, nicht an Widerspruch. Der Blick in Richtung Gegenwart und Zukunft bleibt für viele TheoretikerInnen zwingend. Dieser Art von Theoriebildung soll im Folgenden Beachtung zuteil werden. Es gilt nun eine These darzulegen, die in etwa lautet: Die Stadt ist nicht tot, sie expandiert! Danach wird es auch Zeit, zum Ende zu kommen und die Frage zu beantworten: Welche Theorie des Handelns versucht Weber nun zu propagieren und wie ist ihm sein spezielles Stadtkonzept dabei dienlich? „Allem voran sei eine Hypothese gesetzt: die von der vollständigen Verstädterung der Gesellschaft.“21 Notiert Henri Lefèbvre gleich zu Beginn seines Buchs „Die Revolution der Städte“. Es kann somit nicht die Rede vom Ende des Städtischen sein, viel eher erscheint Lefèbvre dessen gewaltige Explosion die Menschenwelt zu verunsichern. Man könnte behaupten, dass man es hier mit einer Figur zu tun hat, die in umgekehrter Weise auch Webers Schriften prägt. So wie dieser das Ende der Stadt, aber den Fortbestand der Menschheit beschreibt, so arbeitet Lefèbvre schwarzmalerischer und verkündet das Ende der Menschheit aufgrund der Expansion des Urbanen. Nachdem wir die Epochen von politischer Stadt, am Anfang der Zeit unseres Stadtlebens; Handelsstadt, zur Zeit des Mittelalters; und der verstädterten Gesellschaft, die dem Prozess der Industrialisierung korrespondiert, überwunden haben, sind wir Lefèbvre zufolge in den Zeitraum einer kritischen Phase eingetreten.22 Für das Umfeld, in dem wir uns heute

21 Henri Lefèbvre, Die Revolution der Städte, ed. Hans Peter Dreitzel, Entwicklungsaspekte der Industriegesellschaft (München: List Verlag, 1972), 7. 22 Vgl.: Ibid., 22.

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bewegen, gibt es keine klar abgrenzbare Art von Wissenschaft mehr und jeder Entwurf, die Stadt zu beschreiben, muss auch ein Konzept zur Erklärung globaler Mechanismen bereithalten. Kurz gesagt, Lefèbvre behauptet, dass die Stadt nun überall hin vorgedrungen ist, die Weltbevölkerung in ihr eine Heimat gefunden hat. Möchte man einwenden, dass dies eine übertriebene Vorstellung ist, bei all dem Grün, das es erlaubt, sich in natürlicher Umgebung zu entspannen, so entgegnet Lefèbvre: Und eben dazu wurde es geschaffen, dieses Grün, das nur mehr Symbol des Natürlichen ist, ein Trugbild des freien Raums.23 Lefèbvre möchte nicht mehr von der Stadt, oder von mehreren Städten, sprechen, sondern den Begriff des Urbanen zur Beschreibung seiner Gegenwart verwenden. Und wenn ich von seiner Gegenwart spreche, so passiert dies nicht ohne Grund, denn es ist Lefèbvre, der uns für das Jahr 2000 eine neue Art des Sozialismus prophezeit hat, doch scheint dieser uns nicht eingeholt zu haben. Dennoch liegt Lefèbvre mit seinen Vermutungen nicht wirklich neben unserer Lebenswelt, da die Umstände, welche nach dieser neuen sozialistischen Art des Zusammenlebens verlangt hätten, durchaus ihre Realität fanden. „Um das Jahr 2000 herum werden – mit oder ohne Atomkrieg – Luft und Wasser derart verschmutzt sein, daß das Leben auf der Erde schwierig geworden sein wird. Schon jetzt zeichnet sich ein ,Sozialismus‘ ab, der gänzlich anders sein wird als das, was man heute darunter versteht und was Marx definierte. Güter, die einst Mangelware waren, werden im Überfluß vorhanden sein: das Brot und ganz allgemein die Nahrung (noch immer auf einem Großteil unserer Erde, in den unterentwickelten Gebieten, knapp, aber in den entwickelten Gebieten im Überfluß vorhanden). Aber Güter, die einst reichlich vorhanden waren: Raum, Zeit, Begierden, werden rar sein. Das gilt auch für Wasser, Luft und Licht. Muß es nicht zwangsläufig eine Kollektivverwaltung dieser dann selten gewordenen Güter geben?“24

Zwei Probleme umreißt Lefèbvre, die uns das neue Leben im Urbanen bringen wird. Erstens können Ereignisse immer nur in einem System stattfinden. Da die neue Stadt nicht mehr klar als ein bestimmtes System beschrieben werden kann, ist sie kein Nährboden und Ort von Er-

23 Vgl.: Ibid., 33. 24 Ibid.

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eignissen und Veränderung mehr. Zweitens werden sich in unserer Gesellschaft (der Weltgesellschaft) Ungleichheiten verfestigen, die kommende Massengesellschaft wird es nicht erlauben, in Freiheit zu leben. Jener diffuse Haufen an Menschen und Material, der unsere Stadt in der kritischen Phase ist/sein wird, erlaubt Lefèbvre zufolge Organisation seiner Bestandteile lediglich durch Zwang. In der urbanen Gesellschaft ist (wird) Unterdrückung demnach zum Dauerzustand geworden (sein).25 Doch scheint nicht alle Hoffnung verloren, denn das neu entstehende urbane Raum-Zeit-Gebilde26 bringt eine bisher unbekannte Chance mit sich. Es erlaubt, jeden beliebigen Ort vorübergehend zu einem Zentrum zu erheben. So kann ein bunter Markt kurz ein wichtiger Punkt auf der Landkarte werden, so können Menschenmassen kurze Zeit im Zentrum des Urbanen, der Welt agieren. Lefèbvre zufolge muss diese neue Art des Städtischen als eine Ansammlung verschiedenster Netzwerke beschrieben werden. Dieses Verständnis von Urbanität entspringt einer Vorstellung, die das Städtische als bloße Form mit fluktuierendem Inhalt präsentiert. Spätestens bei dieser Feststellung angelangt, wird klar, dass es Lefèbvre so wie Weber um eine Theorie des Handelns geht. Doch macht Lefèbvre sein Denken in dieser Hinsicht explizit, nicht wie Weber, für dessen Texte diese Art des Zugangs lediglich eine Verwendungsmöglichkeit darstellt. Für jenes städtische Handeln, das Lefèbvre vorschlagen möchte, scheint es zentral zu sein, sich der Unzulänglichkeit von Theorien bewusst zu sein, denn Pläne können seiner Meinung nach niemals in ihrer erdachten Weise verwirklicht werden. „Die Analyse, die sich dem ,Wirklichen‘ nähert, akzeptiert den politischen Opportunismus. Die Analyse, die sich von ihm entfernt und sich zu weit auf das Unmögliche (Utopische in des Wortes banaler Bedeutung) zubewegt, ist zum Scheitern verurteilt.“27

Abschließend sei die Aufgabe formuliert, die ein Leben im Urbanen stellt: Es bleibt uns, „Raum-Zeit-Einheiten“28 zu definieren, Beulen in

25 Vgl.: Ibid., 100. 26 Vgl.: Ibid., 126. 27 Ibid., 155. 28 Ibid., 190.

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die Netzwerke zu drücken, den Komplex Stadt auf Zeit thematisch zu fixieren. Kurz gesagt, wir leben in der Zeit des Aktivwerdens von Einzelnen und Gruppen. Zusammenhalt findet sich nicht mehr in einer übergeordneten Struktur, einem Vereinslokal oder Gruppenmotto, sondern in den Momenten des Handelns. Ein anderer, bereits zu Wort gekommener, Prediger einer Zukunft voll von Megacities ist Toynbee. Toynbees Stadtbeschreibung unterscheidet sich stark von Webers. Aber hören Sie selbst: „Eine Stadt ist eine Siedlung, deren Einwohner innerhalb der Stadtgrenzen nicht die gesamte Nahrung produzieren können, die sie zu ihrem Lebensunterhalt benötigen.“29 Kurz gesagt, Toynbee widerspricht Webers Behauptung sogar wortwörtlich. Toynbee beschreibt Stadt nicht ohne Grund anders als Weber, sollen sich doch am Ende seiner Abhandlung die Städte ineinander mischen. Wie könnte eine solche Entwicklung aber möglich sein, wenn die Stadt per definitionem immer abgeschlossen vom Rest der Welt für sich zu sorgen vermag? In Toynbees Text begegnet man einem Wunsch, der mittlerweile schon zwei Mal den Mittelpunkt meiner Lektüreerfahrungen bildete. Auch er möchte den Menschen zu einer besonderen Art des Handelns raten. Toynbees Vorschlag ist jedoch wesentlich konkreter, er fordert das unmittelbare Ausbilden einer Weltregierung. Sollte die Weltbevölkerung in dieser Hinsicht versagen, räumt Toynbee der Menschheit aufgrund der Strukturlosigkeit ihrer Lebenswelt und wachsender Belastung durch Stress – Mängel, welchen bessere und umfassendere Organisation Toynbees Meinung nach wirksam entgegentreten könnte – keine rosige Zukunft ein.30 Abschließend bleibt noch auf einen Dritten im Bunde der Verkünder des Untergangs zu verweisen, Aiden Southall. Nur soviel zu ihm; sein Buch „The City in Time and Space“31 ist ein ausschweifendes Werk, das die Vermutung nahe legt, Southall ging es niemals darum, ein Buch über die Stadt zu schreiben, sondern viel eher um eine unglaubliche Anhäufung von Material, die eines Titels bedurfte. Doch auch Toynbee und Weber arbeiten mit genauen Beschreibungen und geschichtlichen Daten. Wie unterscheiden sich die Texte dieser Auto-

29 Toynbee, Unaufhaltsam wächst die Stadt, 14. 30 Vgl.: Ibid., 178. 31 Aidan Southall, The City in Time and Space (Cambridge: Cambridge University Press, 1998).

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ren nun aber von jenem Southalls? Toynbees und Webers Texte sind mir ja als solche zur Stadt leicht erkennbar. Ich vermute, dass dies eben an den Handlungstheorien liegt, die bisher jeder der zentral besprochenen Stadttheoretiker im Hinterkopf mit sich herumgetragen hat, denn Southall ist nun auch der erste, der zwar die herrschenden Lebensumstände beklagt, aber keinen Ausweg präsentiert. Mit dieser Vermutung versuche ich eine weitere zu wagen: Ist es vielleicht nicht sogar notwendig, das Reden über Stadt als ein bloßes Mittel zur Erarbeitung einer politischen Theorie des Handelns zu verwenden, um vieles, was ungehindert in einen solchen Text einfließen würde, ausblenden zu können? Kann man vielleicht nur auf diese Weise LeserInnen noch verständlich machen, dass sie es überhaupt mit etwas zu tun haben? Wäre es nicht möglich, dass das, was wir uns als Stadt so zusammenreimen, immer nur das Material ist, das unsere Vorstellung vom Leben am besten oder eben am schlechtesten zu verdinglichen vermag? Stadt ist damit als ein Gegenstand der Erkenntnis zu beurteilen, der sich erst zeigt, wenn gewisse Einschränkungen vorgenommen werden, da er in seiner Ganzheit nicht zu erfassen ist. Jede mögliche Einschränkung der Beschreibung trägt jedoch politische Implikationen in sich, die Theorien von der Stadt immer zu, von Intentionen gelenkten, Theorien machen. Rein konstative Stadttheorie wird damit ein unmögliches Unterfangen. Webers Text kann demzufolge als eine bewusst eingeschränkte Beschreibung von Stadt gelesen werden. Als wesentliches Element soll darin ein beinnahe intimer Verband von Menschen hervorgehoben werden, der die Insignien des Herrschens in Händen hält. Es ist dann auch erst diese Exklusivität, die es erlaubt, eine besondere Art des Handelns vorzuführen. Diese Art des Handelns, die Weber als würdigungswert ansieht, wäre das Aktivwerden der Einzelnen und die gemeinsame Erarbeitung von Vertretungen, deren Aufgabe es sodann ist, sich um die Rechte ihrer UnterstützerInnen zu kümmern. Eine andere an Weber anschließende Aufgabe könnte sein, sich beständig bewusst zu machen, in welcher Art des Verbandes man selbst mitzuentscheiden vermag, oder eben auch nicht, und wer die ,Rechnungen‘ für die eigene rechtliche Abgesichertheit, das eigene Mitbestimmungsrecht, zu zahlen hat. Denn, so zeigte uns Weber: Der Stadtverband lädt nicht jeden an den Tisch im Gemeindeamt.

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„In Hotels gibt es normalerweise diese formalisierten Leistungen und Gegenleistungen, aber hier in dieser Zuhausefabrik kannst du die Arbeitsleistungen, die dir entgegengebracht werden, mit der Vorstellung aufladen, dass sie dir zustehn, weil du gut und erfolgreich arbeitest.“32

32 René Pollesch, „Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels“, in Wohnfront 2001-2002, ed. Bettina Masuch (Berlin: Alexander Verlag, 2002), 46.

Immanuel Wallerstein. Überleben im Weltsystem

D IE S TADT

DER

M ENSCHEN

Wallerstein lesen? Einfaches Interesse an Geschichtsforschung mag nicht genügen, sind die Texte doch sperrig, mit endlosen Fußnoten aufgeladen und, was der all zu strengen WissenschaftlerIn auffallen wird, irgendwie merkwürdig anders in der Auslegung allgemein anerkannter geschichtlicher Daten. Dazu kommt der völlig ,unzulässige‘ Umfang jenes ,barocken‘ Werks mit seinem Thema Weltsystem, wird doch vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert erzählt. Warum Wallerstein lesen? Weil er den riskanten Weg politisch-praktischen Denkens mit geschichtlicher Legitimation verfolgt, weil seine Texte eine Stütze im Auffinden des richtigen Moments, sich im politischen Engagement zu exponieren, sind, weil Wallerstein die Brücke zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und revolutionärer Praxis bauen möchte. Doch bleibt trotz aller Belege Wallersteins dafür, dass wir in einem Zeitalter des Übergangs leben, das uns alle Chancen eröffnet, uns aber auch genauso vielen Risiken aussetzt, zuerst die Akzeptanz des Wallersteinschen Weltsystems nötig. Es braucht Wallersteins spezielle Art Zeit und Raum zu betrachten, um den propagierten Übergang zwischen der alten und der neuen Lebensform als solchen erfassen zu können. Weniger naiv als weitblickend scheint mir jedoch eben dieser groß angelegte Wallersteinsche Versuch ins Geschehen einzugreifen, denn, wie ich meine, müssen wir lernen unsere Welt so zu beschrei-

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ben, dass Erzählungen vom Wirklichen uns erlauben, aktiv zu werden.1 Ein Hauptkritikpunkt Wallersteins an den im 19. Jahrhundert entstandenen Sozialwissenschaften ist, dass die akribische Suche nach Fakten, die Ordnungsmuster hinter den Ergebnissen, welche Raster niemals empirisch auffindbar sind, sondern in der Theorie beginnen müssen, vergessen ließ. Erst diese Praxis des Aussparens der Ermöglichungsbedingungen wissenschaftlicher Forschung erlaubt es, von Tatsächlichem zu sprechen, die eigenen Ergebnisse, als Fakten benannt, der offenen Diskussion zu entziehen, so Wallerstein. Kurz: Wallerstein glaubt nicht an die EINE notwendige Deutung geschichtlicher Ereignisse. Er behauptet, dass die Entstehungsgründe eines Forschungsgegenstands immer im entsprechenden Untersuchungsergebnis wieder zu finden sind. Das Hilfsgerüst der Geschichtsschreibung wurde im 19. Jahrhundert die Aufgliederung des Ganzen in Nationalstaaten. Staaten galten als autonom und miteinander vergleichbar. Wallerstein setzt diesem Horizont des Nationalstaats sein Weltsystem entgegen und behauptet starke Wechselwirkungen zwischen verschiedensten Gebieten. Wallerstein schließt die Vergleichbarkeit von Nationalstaaten folglich aus, weil unterschiedliche Konstellationen innerhalb des Weltsystems verschiedene Möglichkeiten im nationalen Kontext bedeuten können. Doch sei angemerkt, dass Wallerstein keine neue und abgeschlossene Art von Betrachtung vorlegen möchte, sondern seine Weltsystemanalyse eher die beständige Kritik jedes traditionellen Blicks auf Geschichte zu sein versucht. Wallerstein erlaubt es demnach, die quälende Frage aller Sozialphilosophie zu beantworten: ,Warum lohnt es sich, überhaupt, etwas aufzuschreiben?‘ Weil unsere Art, zu begreifen, was Welt ist, es ermöglicht, das zu erschaffen, was Welt einmal sein könnte. Punkt eins, warum Wallerstein für mich von Interesse ist. Punkt zwei bringt mich zurück zur Stadt oder, klarer gesprochen, zur Hauptstadt, denn was passiert mit diesen Orten des Prunks, beschreibt man sie nicht mehr als Kronen der Nationalstaaten, sondern eher als Möglichkeit zur Manifestation für eine reisende Aristokratie? Wessen Diamanten füllen die Kassen der Hauptstädte, wenn es nicht die der Staatsoberhäupter sind?

1

Vgl.: Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 23.

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Könnte man argumentieren, dass es zur Manifestation von Reichtum in den Städten gekommen ist, dass die Privatisierung der Gebiete des Alltäglichen, ihre Umwandlung in Heterotopien2 der Entspannung, des Nervenkitzels oder des Luxusarbeitens, erlebbar wird? Anders als der liquide Bürger in Webers Stadt, die als Zentrum und Recht stiftende Einheit verstanden wurde, könnte man im Sinne einer These der Machtübernahme einer unstet lebenden KapitalistInnenschicht behaupten, dass die Auflösung aller Verbindlichkeiten stattfindet. Thierry Paquot, Philosoph und Urbanist, schreibt zu jenem Problem anhand des Beispiels Hochhaus.3 Hochhäuser, so schreibt er, sollen Ausdruck von Urbanität sein, sie gelten als Zeichen eines lebendigen Stadtlebens und zerstören doch das, was die Stadt als menschliche erst konstituiert: öffentliche Orte der Begegnung. Erst im Lift gefangen oder in der Fortbewegung auf standardisierten Wegen ist es den Menschen erlaubt, in Kontakt zu treten, in standardisierter Weise. Paquot liegt es fern, den Wolkenkratzer als Satanswerk zu verteufeln, einige dieser Bauprojekte befindet er als sehr stimmig und in Wechselwirkung mit ihrem Umfeld stehend, doch scheint ihm, als ob es einen Zwang zum Höhenwachstum gäbe, der es verlangt, mit teuren Materialien und auf Kosten der Gesamtheit eines Viertels die Türme gen Himmel zu treiben. Fraglich wird: Wie kommt es dennoch zu der Vorstellung, dass Wolkenkratzer das Eigentliche des Städtischen zum Ausdruck bringen? Warum soll es gerade die erfolgreiche Vertreibung, mit Hilfe einer konstruierten Benutzungsunfreundlichkeit, der Menschen von den Straßen sein, die aussagt: Hier blüht die Metropole? Im vermeintlichen Sinne Wallersteins geantwortet: Das Hochhaus erlaubt es zu zeigen, dass man es sich eben leisten kann Geld auszugeben, das Hochhaus erlaubt es glo-

2

„Die erwachsene Gesellschaft hat lange vor den Kindern ihre eigenen Gegenräume erfunden, diese lokalisierten Orte, diese realen Orte jenseits aller Orte. Zum Beispiel Gärten, Friedhöfe Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die Dörfer des Club Méditeranée und viele andere.“ (Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe mit CD, trans. Michael Bischoff (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2005), 10-11.)

3

Vgl.: Thierry Paquot, „Der nächste wird noch höher. Hochhäuser und moderne Urbanität,“ Le Monde diplomatique (2008): 3.

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bal aktiven Firmen, oft aber nicht der „Stadt der Menschen“4, sich Manifestation zu verschaffen. Mit diesem Nachdenken über Höhe5 und Finanz sei eine Art das Wort Stadt zu verwenden angesprochen: Die Stadt ist dort, wo reiche und folglich bewegliche KosmopolitInnen sich materialisieren. Sie ist dort, wo man das Kapital treffen kann. Zweitens aber kann die Stadt auch ansässig sein. Die Stadt kann dort sein, wohin die Menschen abwandern, um sich zu organisieren, um ihre Leben abseits vom Überschussschick der Paläste des Globalen neu zu konfigurieren. Diese Räume müssen nicht außerhalb der City6 liegen, weder am Land noch in der Wildnis, sie leben in der Energie, die Architektur im Benutzen moduliert, sie verwendet. Diese Orte entstehen mit ihren DemonstrantInnen, es ist die Aufgabe der Menschen, sie immer neu zu finden und festzulegen. Beständige Neuerfindung sollte jedoch nicht nur als schöne neue Möglichkeit gesehen werden, sondern möglicherweise als die einzige, da nur ein gewaltiger Überschuss an Geld es erlaubt, sich für längere Zeit eines Stückchen der Erde zu bemächtigen. Exkurs: An dieser Stelle angelangt sollte die Verwirrung perfekt sein. Ständig wird von Orten oder Räumen geredet, die beiden Worte werden scheinbar synonym verwendet, könnten aber auch unterschieden sein. Kurz: Bisher habe ich von Orten und Räumen in äquivalenter Weise gesprochen, mit Wallerstein wird es jedoch sinnvoll, eine

4

Antonio Negri Eric Alliez, „Krieg und Frieden,“ Lettre International 22 (2002): 22.

5

Ich bitte zu beachten, dass es sich bei diesem kurzen Exkurs zum Hochhaus um ein Beispiel handelt, jedes andere beliebige Bankhaus oder jeder Prunkpark, der nicht zur Rasennutzung freigegeben ist, damit die BanksitzerInnen nicht Ihres sinnlichen Vergnügens, sich in geordneter Umwelt ausleben zu können, verlustig gehen, hätte die gleiche Veranschaulichung ermöglicht.

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Die Verwendung des englischen Wortes finde ich in diesem Zusammenhang als besonders passend, denn etwas anderes empfinde ich, wenn ich von den Cities dieser Welt spreche, als wenn ich an den ersten Wiener Gemeindebezirk denke, der mir zu antiquiert, ja beinahe konserviert erscheint, um als City bezeichnet zu werden. Jenes Gebiet könnte schon eher den Namen Themenpark tragen. Eine City findet ihren Sinn im Genuss, der Ausschweifung, dort darf es an nichts fehlen, nichts sollte dort nicht für Geld zu haben sein.

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Unterscheidung einzuführen, die es erlaubt, die beiden einander ungleichen Städte, die ich mit Hilfe seines Denkens auszuarbeiten versuche, besser zu beschreiben. Zum Zweck dieser Grenzziehung möchte ich mich an Michel de Certeau wenden, welcher Ort und Raum so unterscheidet: Ein Ort hat eine starre Ordnung, er ist ein klar definiertes Konstrukt, ein Punkt auf einer Landkarte, während Räume Orte in ihrer Anwendung sind. Räume erstehen an bestimmten Zeitpunkten, um nachher zu verschwinden, sie sind beispielsweise kurze Momente des Aufeinandertreffens, die die Beteiligten einen Ort im eigenen Sinne artikulieren lassen.7 Zurück bei Wallerstein soll im Folgenden vom Unterschied zwischen Ort und Raum, dem zwischen festen Strukturen und Material oder von der Verschiedenheit des Konzepts Stadt und einer gemachten und verwendbaren Stadt die Rede sein. Als negative Extrembeispiele für Ort und Raum könnten diese genannt werden; einerseits der Ort eines Polizeiregimes oder auch des Konsumzwangs sowie andererseits informelle Ballungsräume. Jeder dieser Städtearten entspricht eine spezielle Form von Architektur, sowie eine eigene Art des Kommunizierens. Nur eine dieser Stadtformen bleibt jedoch mit dem Anliegen dieses Texts, die Stadt als tätige, als verändernde, als bewegliche, revolutionäre, sowie als ein Instrument und als Akteurin einer neuen Aufklärung zu bestimmen, vereinbar; natürlich die zweite, der umrissenen Charaktermasken, die Stadt der Menschen. In drei Kapiteln möchte ich Wallersteins Werk erforschen, um im Anschluss eine Bündelung der Gedanken vorzunehmen. Erstens möchte ich der Frage auf den Grund gehen, was das überhaupt sein soll, ein System, zweitens soll über die Stadtbevölkerung, die Akteure der neuen Zentren gesprochen werden und drittens bleibt es, der Frage nach den Möglichkeiten der Wissenschaften nachzuspüren.

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IST EIN

S YSTEM ?

Das System ist ein zentrales Element in Wallersteins Denken. Systembegriffe gibt es unzählige. Was Wallerstein besonders und für das Nachdenken über Städte fruchtbar macht, ist, dass Wallersteins Syste-

7

Vgl.: Michel de Certeau, Kunst des Handelns (Berlin: Merve Verlag GmbH, 1988), 218.

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me immer historisch verankert sind, sie finden innerhalb einer bestimmten Zeitspanne statt, während der sie alle Dimensionen und Bereiche des Lebens erfassen, autonom bestehen können. Eine Einschränkung bezüglich dieser Regel kann jedoch gleich vorausgeschickt werden. Der historische Kapitalismus, das erste und einzige Weltsystem nach Wallerstein, bleibt in einer bestimmten Art von seinem Umfeld abhängig, es gliedert an Macht nicht ebenbürtige Nachbarregionen, ob jene nun als System bezeichnet werden können oder nicht, ein. Wallersteins Systeme sollen weniger als Mittel zur wissenschaftlichen Erfassung von Welt verstanden werden, denn als aus dieser Welt hervortretende, die Welt transformierende. Ein System ist ein konkretes Gesamtes. Es wird von speziellen Gesetzen beherrscht, die nicht immer und überall gelten, sondern nur für ein bestimmtes in Raum und Zeit Ausgedehntes. Es ist somit gewiss, dass jedes System, ob gut oder schlecht funktionierend, human oder menschenverachtend, eines Tages auch wieder zu Ende gehen muss. Es handelt sich bei Systemen somit per definitionem auch immer um historische Systeme, deren Gestalt jedoch variieren kann, welcher Grenzen keine unumstößlichen sind.8 Solche Systeme vermögen es, nebeneinander auf Erden zu existieren, sie beeinflussen sich untereinander wenig und können als autonom betrachtet werden. Wallerstein sieht in der Arbeitsteilung die wichtigste Grundlage zur Ausbildung von historischen Systemen, folglich erscheinen Systeme als Netze mit wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Charakter. Es sind nicht Nationalstaaten9, die Wallerstein als System beschreiben möchte, sondern einerseits sehr kleine Einheiten, „Minisysteme“, und andererseits sehr große, die Wallerstein „Weltsysteme“10 nennt. Die Vorsilbe Welt- sollte in diesem Zusammenhang jedoch nicht missverstanden werden. Wallerstein benutzt diese Wendung, weil er auf besondere Größe hinzuweisen versucht. Der Name Weltsystem soll keine Totalität ausdrücken, sondern nur aussagen, dass von

8

Vgl.: Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen

9

Vgl.: Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer

der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 272 ff. Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 518. 10 Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 274.

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einem System die Rede ist, das alle anderen in Dauer und Ausdehnung weit übertrifft.11 Minisysteme sind räumlich klein und dauern auch nicht an, sie funktionieren durch das Prinzip der Verantwortlichkeit, ihre homogenen Gemeinschaften werden vom gleichberechtigten Tausch zusammengehalten. Dieser Art des Zusammenlebens vorhersagt Wallerstein jedoch kaum Zukunft. Nicht nur, weil der historische Kapitalismus alles in sich aufgenommen hat und es damit keine Koexistenz verschiedener Lebensformen mehr zu geben scheint. Sondern auch, weil das umfassende Weltsystem erst die Bühne bereit stellte, die von Nöten war, um auch kleinere Systeme ins Rampenlicht der Wissenschaft zu stellen. Das Erscheinen kleinerer Einheiten ist damit als Effekt des bestehenden umfassenderen Rasters zu verstehen. Der historische Kapitalismus, jenes Weltsystem, das Wallerstein untersuchen möchte, unterscheidet sich von Imperien. Das Weltsystem ist in sich heterogen und nur im Handel gebunden, einzelne Gebiete erleben finanziellen und politischen Auf- und Abstieg und im beständigen sich Verändern bleibt nur ein Wesen12 oder spezielles Funktionsprinzip erhalten. Imperien als politische Einheiten verpflichten ihre OrganisatorInnen und MachtträgerInnen hingegen jedem Bereich relativ gleichberechtigte Bedeutung zukommen zu lassen. Systemprozesse können des Weiteren zum Funktionieren eines Organismus13 in Analogie gesetzt werden. Und wie es von Organismen gern behauptet wird – verkehrter Weise meiner Meinung nach, da kein Organismus unabhängig von seiner Außenwelt existiert, da es schwerlich Antworten auf die Frage gibt: Wo endet ein Organismus, wo endet der meinige? –, beschreibt auch Wallerstein die Energie des Weltsystems rein von diesem selbst erzeugt. Was bedeutet das für die Teile eines Organismus? Dass es ihre Aufgabe ist, Energie und zwar eine zu erzeugen? Wohl kaum totale Selbstbestimmtheit.

11 Vgl.: Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 27. 12 Vgl.: Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 277. 13 Vgl.: Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 517.

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Den historischen Kapitalismus14, welche Wesenzüge kennzeichnen dieses konkrete Raum-Zeit-Ausgedehnte? Am sinnvollsten, so scheint mir, läßt es sich mit dem Anfang, mit der Geburt beginnen. Dieser Zeitpunkt kann mit Wallerstein im 15. und 16. Jahrhundert datiert werden.15 Zu jener Zeit existierten mehrere Wirtschaften nebeneinander, doch der europäische Weg in Richtung Kapitalismus war der einzige, der es vermochte, sich gegen alles andere durchzusetzen, der es bewerkstelligte, die anderen Systeme in sich aufgehen zu lassen, so Wallerstein. Europa gliederten in dieser Zeit feudale Strukturen, der Raum organisierte sich durch „[…] eine Reihe winziger ökonomischer Zellen […]“16, deren Grundherren17 den Vorteil hatten, auch Richter und Gesetzgeber zu sein, sie konnten so sämtlichen Überschuss aus der landwirtschaftlichen Produktion abschöpfen. Um nun nicht auf Getreidebergen sitzen zu bleiben, die selbst ein zum Herrschen bestimmter Magen schwer verkraftet hätte, wirkte der Adel unterstützend auf das Städtewachstum ein, um am Marktplatz die vorrätigen Naturalien an die Frau bringen zu können, um Konsumierende auszubilden. Auch für die Bauernschaft bedeutete das Städtewachstum Veränderungen. Die Städte boten eine neue Alternative zur bekannten Abhängigkeit vom Grundherrn. Fraglich bleibt: Wieso wurde dieses Feudalsystem in ein kapitalistisches geändert, da es doch zumindest für jene, die befehligten, gut zu funktionieren schien? Wallerstein vermutet eine „Krise des Feudalismus“18, die auf mehrere be-

14 Eine zusammenfassende Auflistung der Eigenschaften des kapitalistischen Weltsystems, die in diesem und den folgenden Kapiteln zu Wallerstein angesprochen werden, findet sich an diesem Ort: Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 318. 15 Vgl.: Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 27 ff. 16 Ibid., 30. 17 Auch in diesem Fall gab es mit hoher Sicherheit wenn, dann nur eine höchst marginale Zahl an Herrscherinnen. Ein Grund für mich, auch an dieser Stelle und den Folgenden die weibliche Form auzusparen. 18 Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert,

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reits langfristig existierende Probleme zurückzuführen wäre, deren Druck die Gewalt einer Klimaverschlechterung jedoch Ernsthaftigkeit verliehen haben soll. Der Dreh in Richtung Kapitalismus wurde dem Adel somit Ausweg aus der Krise und Strategie zur Machterhaltung. Dreierlei trieb die neue kapitalistische Entwicklung voran: Expansion, Kontrolle und Förderung geplanter Vielfalt.19 „Dies Buch [,Das Moderne Weltsystem I‘ (F.H.)] will den Beweis führen, daß für die Etablierung einer solchen kapitalistischen Weltwirtschaft drei Dinge wesentlich waren: eine Ausweitung des geographischen Umfangs der betreffenden Welt, die Entwicklung von Arbeitskontrollmethoden, die für unterschiedliche Produkte und Zonen der Weltwirtschaft sehr abwechslungsreich sein mußten, und die Schaffung von relativ starken Staatsapparaten in den Gebieten, die zu den Kernstaaten dieser kapitalistischen Weltwirtschaft werden sollten.“20

Die nächste interessante Frage scheint mir: Wer waren die AkteurInnen dieser Entwicklung? Eine Art Systemregierung oder umfassendes Herrscherhaus konnte es ja nicht gewesen sein, da man es in diesem Fall mit einer politischen Einheit zu tun hätte, einem Imperium, dem direkten Gegenteil der Weltwirtschaft. Kurz gesagt, Wallerstein zufolge war es Portugal, das vorstürmte, um ganz Europa in unterschiedlichster Weise mit sich zu ziehen. Weil Fisch begehrtes Gut war, wagte sich Portugal vor, in Richtung Meer und dem ungewissen Dahinter. Doch nicht nur die Möglichkeit zur Expansion allein schien Anstoß genug zu solch hohem Risiko gewesen zu sein, sondern auch der Mangel an Alternativen. Dem portugiesischen Adel war es verwehrt, zu Pferde Neuland in Besitz zu nehmen, wie man in Resteuropa begann,

46., Vgl.: Immanuel Wallerstein, Der historische Kapitalismus (Berlin: Argument Verlag GmbH, 1984), 36-37. 19 Es wäre vermessen in Wallersteins Sinn zu behaupten, dass man sich tatsächlich entschied, von nun an kapitalistisch zu werden. Das Kapitalistische jener Entwicklungen lag eher in einer Ansammlung verschiedener Problemlösungen, die im Einzelnen dem Machterhalt oder auch als Antwort auf Missstände im Produzieren dienten. 20 Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 47.

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den eigenen Lebensstandard zu sichern, und es war eben der Adel, der sich bewegte, denn kein Geschäftsmann war ähnlich beunruhigt wie jene Adeligen, die ihren Reichtum langsam schwinden sahen, so Wallerstein.21 Doch nicht nur der Blick auf Staaten in Europa ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, sondern auch jener gen China erlaubt die Besonderheit der europäischen Entwicklungen dieser Zeit besser zu sehen. In China existierte Wallerstein zufolge gegen Ende des europäischen Mittelalters ein Imperium im vollen Wortsinn. Zwar geschwächt im Vergleich zu dem straff organisierten Reich, das China einmal gewesen war, waren die ehemaligen Strukturen doch nicht in dem Maße in Vergessenheit geraten wie jene des römischen Reichs während der Zeit des Mittelalters in Europa. Im Gegensatz zu Europa sehnte man sich in China nicht nach dem Meer. Es scheint sogar so, als ob die Dokumente des Cheng Ho (er starb 1434), eines Eunuchen vom chinesischen Hof, absichtlich zurückgehalten worden wären, um keine Nachahmung seiner weiten Schiffsreisen, von welchen er mit reichhaltigen Aufzeichnungen zurückgekehrt war, und damit Veränderung zu provozieren.22 Chinas Desinteresse an Expeditionen zu Schiff führt Wallerstein darauf zurück, dass China unter anderen demographischen Schwierigkeiten litt als Europa, denn nicht das Problem Raummangel, dem man in Europa zu antworten versuchte, beschäftigte das chinesische Imperium, sondern die Angst, ein Teil der Bevölkerung könnte sein Glück anderen Orts versuchen. Kurz: Was China fehlte, waren ArbeiterInnen. China trieb seine Expansion nach Innen voran, man forcierte die Reisproduktion im eigenen Land. Zusammenfassend gesprochen gibt es zwei Hauptgründe, warum man sich in Europa der Expansion und dem Kapitalismus zuwandte, in China aber nicht: Erstens konnte China es sich nicht leisten, in die Schifffahrt zu investieren, weil es ein großes Reich war und die Herrschenden Verantwortung für jeden Winkel zu tragen hatten. Zweitens aber gestalteten sich die Problemstellungen in Bezug auf Produktion und Selbstversorgung anders als in Europa und ließen Expansion als eine eher unattraktive Alternative erscheinen. Europa sprengte seine Grenzen nicht als Einheit. Portugal, das frei war von der Sorge um den Rest des Kontinents, aber trotzdem in Handel mit ihm verstrickt war,

21 Vgl.: Ibid., 54. 22 Vgl.: Ibid., 61.

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segelte in Richtung Kapitalismus. Und so, oder näher an Wallerstein, und nur so konnte der Sprung in ein neues Weltsystem passieren.23 Im neuen Weltsystem kam es schnell zur Ausdifferenzierung von Bevölkerung und Arbeitsweisen. War es gewinnbringend für Arbeiten, die keiner Motivation bedurften und leicht erzwungen werden konnten, SklavInnen einzusetzen, so zeichnet sich die Lohnarbeit durch die Innovationen aus den Reihen der Arbeiterschaft aus. „Freie Arbeit ist in der Tat ein entscheidendes Merkmal des Kapitalismus, aber nicht freie Arbeit durchgängig und überall im produktiven Bereich. Freie Arbeit ist die Form der Arbeitsorganisation, die bei anspruchsvolleren Arbeiten in den Zentralländern angewandt wird, während erzwungene Arbeit für weniger anspruchsvolle Tätigkeiten in peripheren Gebieten verwendet wird. Die Kombination daraus ist das Wesen des Kapitalismus. Wenn die Arbeit überall frei ist, haben wir den Sozialismus erreicht.“24

Warum aber dieses Streben nach maximaler Ausbeutung? Warum entstand überhaupt der Wettbewerb zwischen den Staaten? Wie kam es, dass die verschiedenen Teile der Welt innerhalb des Weltsystems einander sowohl mit Waffen als auch im Warenkrieg bekämpften? Neue Ressourcen oder Möglichkeiten galt es eifersüchtig zu schützen, da die politische Unabhängigkeit der Staaten eine Stärkung der eigenen Staatsfinanzen notwendig machte. Wallerstein unterscheidet drei Gebiete innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft, die gleichzeitig Stufen auf einer Leiter des Wohlstands bezeichnen: Das Zentrum (der Macht, der Technologie, des Reichtums, der Freiheit!), die Semiperipherie und die Peripherie.25 Wie jene der Weltwirtschaft selbst, so veränderten sich auch die Gren-

23 Vgl.: Ibid., 61 ff., 518. 24 Ibid., 151. 25 „Weltwirtschaften sind also geteilt in Zentralstaaten und PeripherieGebiete. Ich nenne sie nicht Peripherie-Staaten, denn eine Charakteristikum eines Peripherie-Gebietes ist, daß der jeweilige Staat schwach ist, was von Nichtexistenz (also einer kolonialen Situation) bis zu einem geringen Grad von Autonomie (also einer neokolonialen Situation) reichen kann.“ (Ibid., 520.), Vgl.: Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 222.

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zen ihrer Untergebiete mit der Zeit, jedoch wäre es übertrieben zu behaupten, dass es Auf- oder Abwärtsmobilität quer durch alle Kategorien gab. Innerhalb der Weltwirtschaft war man somit entweder Ausbeuter, Pufferzone zwischen Arm und Reich oder Rohstofflager. Charakteristisch für alle diese Positionen ist ihre direkte Abhängigkeit voneinander. Gebiete, die völlig außerhalb der Weltwirtschaft lagen, wie China, waren autonom organisiert und finanziell sowie militärisch stark, denn nur so lange eine gewisse Überlegenheit der „Außenarena“26 bestehen blieb, akzeptierte es das Zentrum der Weltwirtschaft, zu fremd auferlegten Konditionen, außerhalb der Grenzen des Systems, Produkte zu erstehen. Ein Handel, der sich zumeist auf Luxusgüter beschränkte. Einheiten, die sich das Weltsystem aneignete, stiegen folglich immer am unteren Ende, deren Einwohner als Dienende ein. Interessant wäre daran anschließend zu fragen, in Bezug auf Toynbee27, der eine Weltregierung fordert, was eine solche Institution für die Struktur des Weltsystems bedeuten könnte. Doch sollte man dieses Problem nicht überstrapazieren, da, wie Wallerstein argumentiert, das Weltsystem in der Gegenwart von seiner Auflösung begriffen ist. Vielleicht eben wegen Bestrebungen, die dem Toynbeeschen Ratschlag zu folgen versuchen? Wenn ein System zu Ende geht, so Wallerstein, beginnt eine Zeit voll Freiheit und Gefahr, es ist nur zu diesen Zeitpunkten möglich, in den Verlauf der Geschichte aktiv einzugreifen. Wallerstein zufolge erleben wir genau jetzt einen solchen Übergang, der uns nicht nur zwei Alternativen bietet oder drei, sondern uns in eine Situation völliger Regellosigkeit und Unsicherheit wirft, eine Situation, die unsere Kreativität als Überlebenswillige fordert. An eben diesem Übergang sind wir angekommen, weil Unternehmen und mit ihnen Staaten immer verletzlicher werden durch Angriffe aus allen Ecken dieser Welt, durch den Kampf der ArbeiterInnen, die im Laufe der Geschichte ihre gemeinsame Macht kennen und kontrollieren gelernt haben.28 Zum Vorteil jener großen Gruppe Menschen, deren Ziel es ist, auf unter-

26 Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 479. 27 Siehe oben. 28 Vgl.: Immanuel Wallerstein, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts (Wien: Promedia Druck- und Verlagsges.m.b.H., 2002), 9.

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schiedlichste Weise über- und weiter zu leben, wurde, dass im Fortleben ihr Haupt- und auch einziges Interesse liegt. Diese diffuse Gruppe vereint das Getriebensein durch die Angst ums Überleben, um die Zukunft ihrer Kinder. Kurz gesagt, die finanziell schlecht bis durchschnittlich ausgestatteten Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen nichts zu verlieren zu haben, sie sind somit die schlimmsten GegnerInnen des Establishments. Das ist eine These, die auch Michael Hardt und Antonio Negri in ihren Büchern „Empire“ und „Multitude“ wieder aufnehmen. Wallerstein beschreibt die Gegenwart als eine Situation, in der wir nur versuchen können, das Richtige zu tun, jedoch kaum Gewissheit über die Auswirkungen unserer Handlungen erlangen können. Um dieses Dilemma – handeln zu müssen, aber nicht zu wissen wie – etwas abzuschwächen, unterstützen es Hardt und Negri sich unter dem Motto Arbeiten am Frieden zu versammeln. Sie meinen, dass Friede erstens das einzige Ziel wäre, dass alle widerständischen Gruppen unter sich vereinigen könne, und zweitens Demokratie im Zusammenleben ermögliche, sowie sie argumentieren, dass Kriege ein Abbruch jedes demokratischen Verfahrens sind. „Der Protest gegen den Krieg scheint denn auch so etwas wie die Summe all dieser Beschwerden zu sein: Weltweite Armut und Ungleichheit beispielsweise werden durch Krieg verschärft, und der Krieg verhindert jede mögliche Lösung. Frieden ist deshalb die gemeinsame Forderung und notwendige Bedingung aller Projekte, die sich mit den globalen Problemen befassen.“29

Doch warum sollte der Pazifismus Demokratie bringen? Im Krieg müssen Menschen nur funktionieren, es gibt schnelle Befehlsausführung, aber jedoch keine Zeit zum Abstimmen oder auch nur Nachdenken. Folglich könnte man den Krieg als die schlagartige Beendigung jeglicher intellektuellen Leistung zum Thema Zusammenleben verstehen. Nach Wallerstein befinden wir uns in einem „VerwandlungsZeitRaum“30, in einer Zeitspanne, die es von uns verlangt, ins Geschehen einzugreifen, die uns auffordert, neue Strukturen anzudenken und Wirklichkeit werden zu lassen. Oder anders: Wir leben Wallerstein zu-

29 Michael Hardt and Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire (Frankfurt am Main: Campus Verlag Gmbh., 2004), 315. 30 Wallerstein, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts, 9.

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folge in einer Phase, die es nötig macht, die Stadt als Lebensraum neu zu erfinden, als eine Stadt, wie wir sie haben möchten, um am Thema dieses Texts orientiert zu formulieren. So wie ich Wallerstein verstehe, stellt er uns vor die Wahl, dieses neue System selbst auszubilden, oder eines Tages aufzuwachen und nicht mehr umhinzukönnen anzuerkennen, dass es bereits andere nach ihren Vorstellungen gestaltet haben. Was kann die Weltsystemanalyse zu diesem Aktivwerden beitragen? Die Weltsystemanalyse möchte essentialistische Begrifflichkeiten auflösen, indem sie die gängigen Analyseeinheiten anzweifelt. Sie nimmt sich weniger dem Problem an, was die Dinge eigentlich angeblich sind, als der Frage, wann und wo Interessantes zu beobachten ist, sowie von welchen anderen Ereignissen der Forschungsgegenstand umgeben erscheint. Die Weltsystemanalyse stellt die kritische Brille dar, die es erlaubt, geschichtliche Erklärungen zu relativieren, sie erstellt bisher unbeachtete Kontexte. Weltsystemanalyse hat damit das Anliegen, die Geschichte in ihre Geschichten zu zerlegen, jedoch immer nur zu dem Zweck, sie unter unterschiedlichsten gegenwärtigen Umständen beständig (anders?) wiedererzählen zu können.31

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„Multitude ist die soziale und politische Existenzform der Vielen als Vieler: eine bleibende Form, keine vorläufige oder vorübergehende.“32

Die Multitude ist demnach eine Gruppe von Menschen, die nicht an stabilen Gemeinschaften oder Gesellschaften partizipiert. Die Bevölkerung eines sich beständig verändernden Weltsystems kann folglich in ihrem Versuch, Existenzen entlang fließender Grenzen auszubilden, als Multitude begriffen werden. Diese individualisierten Identitäten verbindend, bleiben Empfindungen und Erfahrungen von Unsicherheit.

31 Vgl.: Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 308-13. 32 Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect. Individuation bei Duns Scotus und Gilbert Simondon, es kommt darauf an 4 (Wien: Turia+Kant, 2005), 26.

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Ein Gemeinsames, das sich im Moment des Widerstands, im Moment des Zusammenstehens für einen bestimmten Wunsch, somit im Freiheitskampf von in prekäre Lebensformen Eingeübten aktualisiert. Um im Folgenden dem Reden von der Multitude, vom Mundus33, von einer Stadtbevölkerung, die ihrer gemeinschaftlichen und rituellen Lebensformen verlustig gegangen ist, mehr Präzision zu verleihen, wird Wallerstein zwei Mal zu Wort gebeten: Erstens: Welche Gründe gab es seit der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems, die Stimme zu erheben? Welche strukturellen Ungerechtigkeiten fallen seit dem Bestehen des Weltsystems auf? Kurz: Wann konnte die Multitude manifest werden? Zweitens möchte ich mich mit dem Aufbrechen der sozialen Verhältnisse selbst beschäftigen, mit dem Moment der Revolution. Sexismus und Rassismus als Werkzeuge des Kapitalismus Der Sexismus sowie der Rassismus sind nicht nur fundamentale Bestandteile der kapitalistischen Produktionsweise, sondern auch Elemente dieser Herrschaftsform, die nicht nur durch Gesetze verankert sind, sondern ihre Grundlage ebenfalls in der alltäglichen Lebenspraxis finden. Sie, sowie der ihnen entgegen tretende Widerstand, sind damit auch Teil jener Konstrukte, die ich mit Althusser in der Einleitung als ideologische Staatsapparate benannt habe. Mithin müssen Sexismus und Rassismus im Kontext einer Untersuchung von Städten, die eine Herrschaftsform in ihrem täglichen Wirken festigen, diskutiert werden. Wesentlich kommt dem kapitalistischen System, nach Wallerstein, scheinbar unumstritten ein Leitsatz zu: ,Privilegien werden aufgrund von Leistungen errungen. Diese Praxis sichert Gerechtigkeit. Sie ist jener des erblichen Vorrechts moralisch überlegen‘. Das kapitalistische System legitimiert sich über bürgerliche Werte, nennt sich auf diesem Fundament demokratisch. Jedoch, garantiert eine bürgerliche Einstel-

33 „[…] der Mundus lässt sich nicht in einer distinkten Repräsentation vereindeutigen, sondern ist das Dynamisch-Viele dessen, zu dem Menschen ihn je gestalten.“ (Jens Badura, „Einleitung“, in Mondialisierungen. ,Globalisierung‘ im Lichte transdisziplinärer Reflexionen, ed. Jens Badura (Bielefeld: transcript Verlag, 2006), 14.)

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lung Demokratie? Wallerstein bemerkt, dass zum Beispiel der bürgerliche Wert Brüderlichkeit, dessen Macht sein Demokratischsein, seine Gerechtigkeit legitimiert hat, spätestens in den siebziger Jahren mit dem Aufkommen massivem Einforderns von Frauenrechten Lügen gestraft und in seinen Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen entlarvt wurde.34 Dieses Aufbegehren der Frauen steht in einer Tradition gesellschaftlicher und kultureller Bewegungen, deren Ziel und Widerstand nicht unmittelbar die kapitalistische Produktionsform35 ist, und dennoch wirkte die Frauenbewegung Kapitalismus hemmend, weil der Beschreibung des Weiblichen im Kapitalismus eine tragende Rolle zukommt, so Wallerstein. Ein Effekt des modernen Frauenbildes war es, Frauen scheinbar berechtigt schlechter für ihre Tätigkeiten zu bezahlen. Dieses Frauenbild transportiert nicht nur, dass die Frau die Herrin des Hauses ist, eine Rolle, die ihr schon in früheren Epochen als die eigentliche galt, sondern auch, dass nämlicher Arbeitsplatz ein minderwertiger, ein Nichtarbeitsplatz ist. Vor diesem Hintergrund wurde für Angehörige der optisch wahrnehmbaren Gruppe Frauen generell – konsequenter Weise – aufgrund ihrer geschichtlich bewiesenen Nichtbegabung zu ernsthafter Arbeit schlechtere Entlohnung passend. Womit die Situation zwar paradox, jedoch perfekt begründet ist. Jenen, die sich fragen mögen: ,Warum werde ich als Frau schlecht entlohnt?‘ kann geantwortet werden: ,Weil Ihre Arbeit eine weibliche, von der Hausarbeit hergeleitete ist. Die Hausarbeit ist eigentlich keine Arbeit, sondern muss zum menschlichen Stoffwechsel, wie die Aufnahme von Nahrung, gerechnet werden.‘ Umgekehrt: ,Warum soll ich als Frau nicht außer Haus arbeiten?‘ ,Weil Sie aufgrund Ihrer Begabung an diesen, im langen Prozess der Evolution gewordenen Arbeitsplatz gehören. Dieser Prozess ließ Sie zu einer minderwertigen Arbeitskraft heranwachsen.‘ Einhergehend erlaubt die Abgrenzung zum Frauenbild ein edles Männlichkeitsideal; beispielsweise den Mann als Kämpfer im ersten Weltkrieg, als Verteidiger des Staates und seines Systems. In der Ausformung dieser Rollenbilder, einerseits weiblich und fern vom

34 Vgl.: Immanuel Wallerstein, „Ideologische Spannungsverhältnisse im Kapitalismus: Universalismus vs. Sexismus Rassismus“, in Rasse-KlasseNation: ambivalente Identitäten (Hamburg, Berlin: Argument-Verlag, 1992), 39. 35 Vgl.: Michael Hardt and Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung (Frankfurt am Main: Campus Verlag Gmbh., 2003), 283-87.

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Arbeitsmarkt, andererseits männlich und in Geschäfte verwickelt, war es möglich, eine Gruppe völlig von bezahlter Arbeit auszuschließen. Frauen nahmen/nehmen in dieser Gesellschaft schneller in Kauf, unterbezahlte Arbeit zu verrichten, da sie bereits einen nicht geschätzen Arbeitsplatz, im Haus, verlassen hatten, der eigentlich auch zu entlohnen gewesen wäre. Solche Hierarchisierungen innerhalb der ArbeiterInnenschaft verunmöglichen Solidarität. Der Rassismus ist eine andere Art des Denken und Handlens, die es erlaubt, die ArbeiterInnenschaft auszudifferenzieren. Der Rassismus sichert das kapitalistische System, weil er Zwietracht säht und so Klassenbewusstsein verhindert. Im sicheren Glauben an die eigene wesenhafte Überlegenheit mag dieser Glaube auf Biologie oder Sozialisation gegründet sein, scheint kollektives Vorgehen undenkbar. Sich selbst dem ,Erscheinungsbild‘ der ArbeitgeberIn näher fühlend, als dem mancher KollegInnen, wird kein System oder eine ausbeutende Klasse für missliche Lebensumstände verantwortlich gemacht, sondern die nicht Standesgemäße, in ihrem unrechtmäßigen Aneignen von Arbeit. So kann das Konzept der Chancengleichheit im Kapitalismus aufrechterhalten werden; man – ein wer, dem noch nachgegangen werden sollte – ordnet manche mit guten Gründen unter, reguliert und argumentiert Hierarchien durch die Behauptung von Menschen zweiter Klasse. Kurz: Der Universalismus des Kapitalismus ist abhängig von seinem Partikularismus, wie Wallerstein schreibt.36 Fraglich bleibt: Wie funktionieren Rassismus und Sexismus? Wallerstein zufolge finden sie ihre Kraft in den Konstitutionsmechanismen und Zukunftshoffnungen spezieller Gruppen, in etablierten Kulturen, die in Wechselwirkung mit der Gesellschaft entstehen. Doch was ist Kultur in eben diesem speziellen Wortsinn? Wallerstein möchte: „[…] die ,Kultur‘ einer ethnischen Gruppe als jenes System von Regeln verstehen, das die zu dieser Gruppe gehörenden Eltern dazu zwingt, ihre Kinder den vorgegebenen Regeln entsprechend zu sozialisieren. […] Doch ist den ethnischen Gruppen die jeweils unterschiedliche Sozialisierung ihrer Mitglieder

36 Vgl.: Wallerstein, „Ideologische Spannungsverhältnisse im Kapitalismus: Universalismus vs. Sexismus Rassismus“, 46.

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nicht nur als Möglichkeit anheimgestellt; vielmehr definiert sich eine ethnische Gruppe durch ihre bestimmten Sozialiserungsmechanismen.“37

Sexismus und Rassismus können folglich als eingeübte Rituale und Denkformen verstanden werden, die in ihrer beständigen Reartikulation als sich selbsterhaltende Systeme funktionieren. Einmal erfunden, genügt es so die Praxis weiterzutragen, denn kaum wird nach längerer Zeit des Wiederholens noch gefragt werden: ,Woher kommen eigentlich diese seltsamen Ideen?‘ und wenn doch, so leisten Geschichten Abhilfe, die sich passend zur politischen Situation als gänzlich flexibel zeigen. Doch auch die Macht hinter den Sprechenden und mithin Handelnden verleiht einer Rede Gewicht, so fällt es SprecherInnen, deren Hintergrund das Herrschaftsinstrument Staat ist, ungleich leichter, rassistische Strukturen zu generieren. Die rassistische Praxis wird demnach zum Instrument jedes beruhigten Staatsapparats, da gesetzliche Diskriminierung es erlaubt, die Maske der lückenlos funktionierenden demokratischen Strukturen zu tragen und sich gleichzeitig als Heimatort des ewig wachsenden Kapitals zu behaupten. Étienne Balibar, ein Freund von und Gegenüber im Denken für Wallerstein, benennt den Rassismus als „totales soziales Phänomen“38, das sämtlichen Institutionen – dieser Begriff möge in dem weiten Sinn verstanden werden, in dem auch beispielsweise die Sprache als gesellschaftliche Institution gilt – einer Gesellschaft anhängt, demzufolge auch den Theorien, die für die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Phänomene verantwortlich zeichnen. Zur Veränderung rassistischer Argumentationsweisen: Frantz Fanon beschreibt biologistische Argumentationsmuster, die französische ÄrztInnen der algerischen Bevölkerung überstülpten.39 Offiziell läßt

37 Immanuel Wallerstein, „Die Konstruktion von Völkern: Rassismus, Nationalismus, Ethnizität“, in Rasse-Klasse-Nation: ambivalente Identitäten (Hamburg, Berlin: Argument-Verlag, 1992), 104. 38 Etienne Balibar, „Gibt es einen ,Neo-Rassismus‘?“ in Rasse-KlasseNation: ambivalente Identitäten (Hamburg, Berlin: Argument-Verlag, 1992), 23. 39 Porot (Fanon nennt keinen Vornamen) nach Fanon: „,Der Primitivismus ist kein Mangel an Reife, kein Stillstand in der Entwicklung des intellektuellen Psychismus. Er ist eine soziale Bedingung, die zum Endpunkt ihrer Entwicklung gelangte, er ist in logischer Weise einem Leben angepaßt, das

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man diesem auf Biologie basierenden Rassismus gegenwärtig keine Bedeutung mehr zukommen. Doch wurde jene Art des Argumentierens vom Sprechen über Sozialisation und deren teuflische Auswirkungen abgelöst. Trotzdem wird beispielsweise das Reden über afroamerikanische Ghettos, im Herzen von US-amerikanischen Großstädten, die mancher Argumentation zufolge nur moralisch völlig verwerfliche Subjekte hervorzubringen vermögen, als ein Sprechen sichtbar, dass die von Frantz Fanon beschriebenen Muster erneuert. Wieder dient die schwarze Hautfarbe als Mittel zur Panikmache.40 Virulent scheint der RassistIn, auch im aktuellen Zusammenhang, nicht die Frage zu sein: ,Wieviel Geld müsste ich investieren, um in den ärmeren Vierteln bessere Ausbildungsmöglichkeiten zu garantieren?‘, sondern es ist diese Fragestellung, die ihren Vorrang erhält: ,Welches Problem haben diese Leute? Warum bilden sie sich nicht weiter?‘ Doch welche gedankliche Arbeit muss die RassistIn leisten oder besser, welcher Denkaufgabe müssen wir uns selbst beständig stellen, um nicht in allzu gewohnte chauvinistische Verhaltensweisen zu verfallen? Wir müssen unseren Blick beständig auch auf die Strukturen und deren Zwangsmechanismen richten, bevor wir eifersüchtig und leichter Hand eine KonkurrentIn im Streben nach Platz, Zeit, Geld usw. verurteilen. Konkrete Veränderung von Lebensumständen jedoch, die Überwindung alter Gewohnheiten, kann nur durch die Umwandlung des Denkens der Ausgebeuteten passieren, da der gesellschaftliche Adel

sich von dem unseren unterscheidet. […] Dieser Primitivismus ist nicht nur eine Lebensweise, die aus einer speziellen Erziehung resultiert, er hat viel tiefere Wurzeln, und wir nehmen sogar an, daß er sein Substrat in einer besonderen Anlage der Architektonik, zumindest der dynamischen Hierarchie der Nervenzentren haben muß. […] Das Zögern des Kolonisators, dem Eingeborenen eine Verantwortung zu übertragen, ist kein Rassismus oder Paternalismus, sondern beruht ganz einfach auf wissenschaftlicher Einschätzung der biologisch begrenzten Möglichkeiten des Kolonisierten.‘“ (Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 668 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1981), 252.) 40 Vgl.: Loïc Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays (Basel, Gütersloh, Berlin: Birkhäuser - Verlag für Architektur, Bauverlag BV GmbH, 2006), 77-79.

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schwerlich für radikale Änderungen zu gewinnen sein dürfte. Nur die Veränderung im Selbstverständnis der Mehrwert schaffenden Klasse, ein sich als Einheit bewusst werden, kann den Schritt in Richtung Klassenbildung und Gruppenauflösung bedeuten. Kurz: Es bleibt lediglich sich fordernd an jene zu wenden, die über die Geldverteilung entscheiden, an die PolitikerInnen oder UnternehmerInnen (Um nur zwei Begriffe zu nennen. Es darf nicht übersehen werden, dass es auch z.B.: UnternehmerInnen gibt, die sehr wenig zu entscheiden haben, die sich selbst ausbeuten.), die für die Garantie eines ungleichen Wettkampfes bürgen. Der Kapitalismus: Er ist ein Universalismus, weil nämlich ein freier Wettkampf für alle, die als Menschen oder Rechtssubjekte im vollen Wortsinn gelten, der jedoch auf einem Partikularismus aufbaut, denn niemals können alle gleichberechtigt sein, damit der Luxus gewährleistet ist, der Unsicherheit und Ausbeutung gnädig ertragen lässt. Das Wort Ausbeutung möchte in diesem Zusammenhang in seiner aus der marxistischen Tradition überlieferten Bedeutung begriffen werden. Gemeint sei damit im Speziellen, dass es Menschen gibt, die Mehrwert produzieren, den sie jedoch nicht selbst behalten, sondern an eine KapitalistIn abgeben. Ausgebeutete ArbeiterInnen sind somit nicht solche, deren Leben am finanziellen Existenzminimum passiert, oder solche, deren Arbeit unterbezahlt ist, im Gegenteil, die Ausgebeuteten können sogar sehr gut leben, ihre einzige festzuhaltende Eigenschaft ist, dass sie eben noch für andere mitarbeiten.41 Das Proletariat wird somit Wallerstein zufolge von denen gebildet, „[…] die einen Teil des von ihnen produzierten Mehrwerts anderen überlassen“, was Wallerstein auch dazu führt, weiter zu behaupten: „So verstanden gibt es in der kapitalistischen Produktionsweise nur Bourgeois und Proletarier. Die Polarität ist strukturell bedingt.“42 Diese Behauptung basiert darauf, dass es, wenn es Ausgebeutete gibt, eben immer auch AusbeuterInnen geben muss, oder anders formuliert: Es kann die Gruppe jener, die Mehrwert schaffen, und anderer, die ihn ausgeben, immer nur gemeinsam geben, beide Klassen sind voneinander abhängig.

41 Vgl.: Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Theorie.org (Stuttgart: Schmetterling Verlag GmbH, 2005), 93-94. 42 Immanuel Wallerstein, „Der Klassenkonflikt in der kapitalistischen Weltwirtschaft“, in Rasse-Klasse-Nation: ambivalente Identitäten (Hamburg, Berlin: Argument-Verlag, 1992), 147.

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Revolutionen Wallerstein beschreibt den historischen Kapitalismus von Diskontinuität, Ungleichheiten und Unterdrückung geprägt, von der Unterdrückung konstruierter kollektiver Identitäten (Rassismus…), von den Ungleichheiten im Status der verschiedenen Gebiete des Systems (Peripherie, Semiperipherie und Zentrum), von schwierigen Zeitperioden mit rückläufiger Wirtschaftsentwicklung. Diskontinuität entspringt im kapitalistischen System den notwendigen Zyklen der Weltwirtschaft. Ein Beispiel ist die Stagnationsperiode während des 17. Jahrhunderts, die auf schnelles Wirtschaftswachstum und die Entstehung der Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert folgte. Stagnationen sind jedoch noch keine Systemkrisen, so Wallerstein, sie bezeichnen lediglich den Moment des Einatmens eines Systems, jenes Energiesammeln ermöglicht erst erneute Expansion.43 Die Annahme erscheint einleuchtend, dass all jene von Wallerstein beschriebenen Wechsel im Hierarchiegefälle der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht ohne Ausbruch von Gewalt zu überwinden waren, und dennoch zweifelt Wallerstein an der Veränderung materieller Lebensumstände aufgrund von politischen und gewalttätigen Revolutionen. Wallerstein beurteilt Revolutionen eher als den Ausdruck von Umständen, denn als geschichtlichen Motor. Da Wallerstein selbst jedoch nie allgemein gültige Erklärungen für sich beansprucht und seine Aussagen immer historisch bindet, sollte meine Art des Formulierens an dieser Stelle keine generellen Behauptungen provozieren. Um der Gefahr eines platten Universalismus zu entgehen, sei somit im speziellen von der französischen Revolution44 gesprochen. Wallerstein behauptet:

43 Vgl.: Immanuel Wallerstein, Die große Expansion: Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert (Wien: Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., 2004), 35. 44 „Das Jahr 1799 ist der Schlusspunkt in Sobouls Kurze Geschichte der Französischen Revolution. […] Man kann freilich auch andere Endpunkte wählen, z.B. 1793, 1792 oder 1815. Es lassen sich ferner andere Ausgangsjahre benennen, z.B. 1787 oder 1763. Dabei verändert jede Periodisierungswahl die inhaltliche Interpretation.“ (Ibid., 55.)

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„Die Transformation der staatlichen Strukturen war nur die Fortsetzung eines Prozesses, der bereits zwei Jahrhunderte lang vor sich gegangen war. […] Folglich markierte die Französische Revolution weder eine grundlegende ökonomische noch eine grundlegende politische Transformation. Vom Standpunkt der kapitalistischen Weltwirtschaft aus war die Französische Revolution der Moment, in welchem der ideologische Überbau den Anschluss an die ökonomische Basis fand. Sie war die Folge des Übergangs, nicht seine Ursache noch der Moment seines Eintretens.“45

Die französische Revolution antwortete demnach einem Frankreich, das sich nicht bereits im kapitalistischen Zeitalter befand, sondern noch in der vorkapitalistischen Phase seiner Entwicklung lebte.46 Aus diesem Grund wird es notwendig, auch über die AkteurInnen des Spektakels und deren Charakter neu nachzudenken, da, dem Argument folgend, das Bürgertum ohne die Ausprägung des ihm eigentümlichen kapitalistischen Lebensstils vom Adel so unterschieden nicht sein konnte. Eine Revolution des Bürgertums erscheint unter den von Wallerstein beschriebenen Umständen damit unwahrscheinlich, denn bereits Teil der oberen Gesellschaftsschicht hätte man zu viel zu verlieren gehabt, als dass der bürgerliche Geist ein revolutionärer hätte sein können. Zusätzlich, so Wallerstein, strebte das Bürgertum seit Entstehung des kapitalistischen Weltsystems weiter danach, adelig zu werden, oder zumindest die Symbole jenes Standes tragen zu dürfen. Der Akt des Erstehens von Ländereien vermochte diese Statusverwandlung herbei zu führen: „Das traditionelle Symbol für dieses Phänomen ist der Erwerb von Länderein gewesen; es bezeichnete den Übergang vom bourgeoisen Fabrikbesitzer und Stadtbewohner zum adligen Land- und Gutsbesitzer.“47 Kurz: Die Stimmung am oberen Rand der französischen Gesellschaft war eher von Konsens, denn Dissens gezeichnet. Die Differenz der beiden Lebensarten ist demzufolge mehr durch die Unterschiedlichkeit der Lebensorte ausgedrückt, als durch ein ökonomisches Ungleichgewicht oder konkurrierende politische Vorstellungen. Anders formuliert: Die sie unterscheidende Eigen-

45 Ibid., 78. 46 Vgl.: Ibid., 62. 47 Immanuel Wallerstein, „Bourgeois(ie): Begriff und Realität“, in RasseKlasse-Nation: ambivalente Identitäten (Hamburg, Berlin: ArgumentVerlag, 1992), 170.

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schaft der Adeligen bildet die Potenz als Selbstversorger, von der Stadt unabhängig leben zu können, während die Bürgerlichen der Stadt und ihrer Institutionen bedurften. Gleichgestellt waren Bürgerliche jedoch im Lebensstil. Wallerstein schreibt, „[…] dass der Ausdruck „Bourgeois“ im Frankreich des 18. Jahrhunderts, auch wenn mit ihm zugegebenermaßen Nicht-Adelige gemeint waren, in seiner Verwendung dennoch ,auf wirtschaftlich nicht aktive soziale Gruppen beschränkt‘ blieb.“48 Damit sei über diese Revolution soviel ausgesagt; sie ist keine bürgerliche gewesen. Die tragenden antisystematischen Kräfte kamen aus ärmeren Kreisen, aus der Bauernschaft. Wallerstein vermutet, dass die Bauernschaft als entscheidende Kraft die Revolution ins Rollen brachte. Den Aufstand der BäuerInnen beschreibt er aufgrund seiner Dringlichkeit als besonders explosiv. Man sah sich zunehmend durch den Verlust eigenen Landes und der damit einhergehenden Proletarisierung nicht funktionierenden ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen ausgesetzt. Es waren demnach basale Bedürfnisse, wie Hunger und Wohnstatt, deren Verlust gewalttätig zum Ausdruck kam. Kurz gesagt, der Staat oder allgemeiner gesprochen, die herrschenden Umstände hatte/n begonnen, der Bauernschaft ihre Lebensgrundlage zu entziehen, man konnte es sich aber gleichzeitig nicht leisten, die neuen Abhängigen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Wallerstein scheint mir an dieser Stelle einen wichtigen Punkt sichtbar zu machen: Revolutionen passieren nicht aufgrund bloßer Meinungsverschiedenheiten. Menschen riskieren ihr Leben, wenn die Umstände untragbar, die Lebenssituation als vollkommen schlecht betrachtet wird, nicht aufgrund vorgefertigter Theorien, sondern als Kritik am Aktuellen. Theorien und Erklärungen folgen demnach erst später, nach dem Moment der Anklage. Hieran anschließend wird es möglich, eine andere von Wallersteins Fragen aufzuwerfen: Warum fand die Revolution in Frankreich statt und nicht etwa in Großbritannien? Mit Frankreich und Großbritannien seien auch die beiden Kontrahenten um die Vormachtstellung im kapitalistischen Weltsystem dieser Zeit angesprochen. England sollte das Rennen machen, einen Erfolg, den Wallerstein vorrangig auf die Liquidität des englischen Staats und dessen Willen und Möglichkeit, ak-

48 Wallerstein, Die große Expansion: Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert, 146.

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tiv ins Marktgeschehen einzugreifen, zurückführt. Auch unterschieden sich Frankreich und Großbritannien in der Regelung der Eigentumsrechte, während in Frankreich feste Gesetze bestanden, die aussagten, wem was gehöre, war die Situation in Großbritannien weniger definitiv und es wurde dem Staat möglich, größere Produktionseinheiten zu erzeugen. In Frankreich wurde das Land kleinteilig bearbeitet und besessen.49 Es waren Wallerstein zufolge die materiellen Interessen der französischen Besitzenden, die mit Hilfe des Staats gesichert waren, dem es an Autonomie zur marktwirtschaftlichen Intervention fehlte, die verunmöglichten, sich schneller und besser an die neuen kapitalistischen Strukturen anzupassen. Neben vielen anderen ,Zufällen‘ war ihr besonderer Zugang zu Finanzen ein Vorteil der Regierung Großbritanniens. Wallerstein verfolgt diesen finanziellen Vorteil Großbritanniens bis zu den Plünderungen in Indien, mit deren Ertrag es der Staat vermochte, das zuvor als Entwicklungsspritze von Holland geliehene Geld zurückzuzahlen.50 Die französische Revolution war somit eine Erinnerungskarte der ausgebeuteten Klasse, die aussprach, was in der Rentnerschicht noch nicht angekommen war: ,Das Zeitalter des Kapitalismus hat nun endgültig begonnen, damit ist ein Zeitalter der Arbeit gemeint, das nicht mehr nach Regeln des Benimms oder Status funktioniert, sondern nach dem Diktat der kapitalistischen Produktion.‘ Mit dem Anspruch, diese Erinnerung hinauszutragen, ist jener verknüpft, das System zu kritisieren und zwar vom Ort derer her, denen die Aufnahme ins Zentrum versagt geblieben ist. Die Mehrwert schaffende Klasse forderte in der französischen Revolution die Anerkennung ihrer neuen Position im staatlichen Gefüge ein. Damit sei noch einmal auf den Anfang meiner Diskussion der Revolution bei Wallerstein verwiesen: Die französische Revolution selbst hatte keine verändernde Wirkung. Das Ziel der Revoltierenden war es, wenn auch nicht mit diesem abstrakten Hintergedanken, sondern von unmittelbaren Problemen getrieben, den bereits erfolgten Übergang zum Kapitalismus auch ins Bewusstsein der wirtschaftlich nicht aktiven Klasse zu pressen, das Ende nämlicher Lebensform war mit der Revolution auch besiegelt, so Wallerstein.51 Mit

49 Vgl.: Ibid., 106. 50 Vgl.: Ibid., 121. 51 „Deutlich wird dabei vielmehr, dass es die Bauern waren, die nach dem 14. Juli ihre Forderungen selbst umzusetzen begannen, indem sie die Zahlung

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der französischen Revolution entstand der Mythos antisystematische Revolution, der dem kapitalistischen Weltsystem von diesem Zeitpunkt an ein ständiger Begleiter wurde. Dieser Mythos ist jedoch ein antibürgerlicher.52 „Was bleibt dann von der Französischen Revolution? Etwa nur viel Lärm um nichts? Mit Sicherheit nicht. Die Französische Revolution bedeutete drei Dinge – drei Dinge, die jeweils für sich genommen äußerst unterschiedlich, miteinander jedoch auf Engste verwoben waren. Erstens stellte sie den verhältnismäßig bewussten Versuch der in sich heterogenen Gruppe der herrschenden kapitalistischen Schichten dar, Reformen des französischen Staatswesens zu erzwingen – und zwar jene Reformen, die im Licht des von ihnen für ein Faktum gehaltenen ,großen Sprung nach vorn‘, zu dem die Briten in Richtung des Hegemonialstatus in der Weltwirtschaft ansetzten, dringend erforderlich waren. […] Zweitens brachte die Revolution einen ausreichend großen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung mit sich, um die erste bedeutende antisystematische (d.h. antikapitalistische) Bewegung in der Geschichte des modernen Weltsystems entstehen zu lassen, diejenige der französischen ,Volksmassen‘. Als solche war sie freilich ein Misserfolg, geriet aber gleichzeitig zur intellektuellen Grundlage für alle nachfolgenden antisystemischen Bewegungen. […] Drittens sorgte die Revolution für die erforderliche Erschütterung des modernen Weltsystems als Ganzes, um die kulturell-ideologische Sphäre endlich in Einklang mit der ökonomischen und politischen Realität zu bringen.“53

des Zehenten und der Abgaben einstellten und ihre verloren gegangenen Kollektivrechte wieder geltend machten. […] Die so genannte Abschaffung des Feudalismus am 4. August 1789 war nicht das Programm der revolutionären Bourgeoisie. Sie wurde ihr von der aufständischen Bauernschaft aufgezwungen. Die Nationalversammlung ihrerseits wandte nicht wenig Energie auf, um das Ausmaß dieser institutionellen Umgestaltung zu begrenzen.“ (Ibid., 150.), Vgl.: Wallerstein, Die große Expansion: Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert, 146. 52 Vgl.: Wallerstein, Die große Expansion: Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert, 79. 53 Ibid., 160-61.

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D IE W IRKLICHKEIT IM R AHMEN DER W ISSENSCHAFTEN Was hat der wissenschaftliche Blick mit der Stadt zu tun? Einige Reflexionen zu diesem Thema liegen bereits hinter uns. Wie ich bereits in der Diskussion Max Webers Thesen argumentiert habe, ist es ein fragwürdiges Unternehmen, die Stadt, wie sie ist, untersuchen zu wollen. Die Beschreibung von Städten bringt immer auch ihren Gegenstand hervor. Betrachtungen einer Stadt zeichnen sich durch ihre Vielfalt an Perspektiven aus, die erst alle zusammen, in ihrer Unfassbarkeit als Ganzes, das umfassende Bild erlauben würden. Kein Blick auf die Stadt, in ihrer Gesamtheit, ist falsch, jedoch verfolgt jedes Hinschauen seine eigenen Ziele, hat einen bestimmten Grund. Im Folgenden soll an eben dieser These mit Wallerstein weiter gearbeitet werden. „Wahrheit als kulturelles Ideal hat als Opium fungiert, vielleicht als das einzig ernsthafte Opium der modernen Welt. Karl Marx hat gesagt, Religion sei Opium der Massen. Raymond Aron hat zurückgeschlagen, daß marxistische Ideen umgekehrt Opium der Intellektuellen sei. In allen beiden dieser polemischen Vorstöße liegt Scharfsinn. Aber ist Scharfsinn Wahrheit? Ich möchte nahelegen, daß Wahrheit vielleicht das wirkliche Opium sowohl der Massen als auch der Intellektuellen war.“54

Vom Rausche verdrehte Gedanken beherrschen dem zufolge die Wissenschaften. Doch wie die WissenschaftlerIn auf der Suche nach Wahrheit, so muss auch ihre KritikerIn immer, in der Auseinandersetzung mit einer behaupteten Wahrheit, ein auf Aufklärung versessenes Projekt verfolgen! Dennoch, Wallersteins Einwand ist auch nicht so einfach abzuschmettern. Wallersteins Methode unterscheidet sich von der Suche nach der endgültigen Wahrheit, weil Wallerstein versucht, mehrere Geschichten über das Wahre zuzulassen, weil er sich auf einen unabschließbaren Prozess des Suchens einlassen möchte, dessen Ergebnisse sich in der Art eines Schirms über eine Wahrheit legen sollen. Die Wahrheit soll jedoch durchscheinen, dem Mantel seine Richtung geben. Wallerstein schreibt für das Recht, eigene Erzählungen vom Unerzählbaren formen zu können, er verlangt von den Wissenschaften, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert fanden, Akzeptanz da-

54 Wallerstein, Der historische Kapitalismus, 71.

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für, dass auch ihre Erzählungen nur eine Art des Sprechens über das Wahre sind. Kurz gesagt, Wallerstein unterstellt den Erzählungen über das Wahre, dass sie im Hinblick auf Ziele passieren, mit Hilfe bewusst oder unbewusst getriebener AutorInnen. Er argumentiert, dass Geschichten durch Vorstellungen provoziert sind, die erst die Festlegung auf eine Erzählung oder Beschreibung, die von diesem Zeitpunkt an als die richtige gilt, erlauben. Doch, was wollten die im 19. Jahrhundert entstandenen Wissenschaften? Es war ihr Anliegen, einen geregelten sozialen Wandel in Bewegung zu halten, so Wallerstein.55 Die Wissenschaften hatten folglich ein gesellschaftspolitisches Ziel. Als politisch ausgerichtete Art des Wissens mussten sie entweder zur Quelle der Legitimation eines Handelns gegen die eng mit dem historischen Kapitalismus verflochtenen systemfeindlichen Bewegungen werden oder jenen eine theoretische Grundlage anbieten. Wenn Wallerstein von Wissenschaften spricht und deren Auswirkungen auf die politischen Umstände, so sind seine Aussagen als allgemein gültig in dem Sinne zu verstehen, als dass sie sich nicht nur auf so genannte weiche oder Geistes-Wissenschaften beziehen. Wallerstein formuliert seine Wissenschaftskritik auch in Richtung Physik, Chemie, Mathematik oder allgemeiner gesprochen, auch in Bezug auf Wissenschaften, die sich der Suche nach den Naturgesetzen verschrieben haben. Es ist Ilya Prigogine als Vertreter für Naturwissenschaften und Chaostheorie, der Wallerstein aus jenen Gefilden zu beeinflussen vermochte. Prigogine steht Wallerstein insofern nahe, als er die Nichtachtung des Zeitpfeils im Formulieren von Naturgesetzen zu seinem Problem gemacht hat.56 Es ist ihm ein Anliegen, synchrone und diachrone Betrachtungsweisen miteinander zu vereinigen. Diese Intention belebt auch das Werk Fernand Braudels, eines Historikers, der geschichtliche Forschung nicht als den Versuch beschreibt, über eine Vergangenheit zu sprechen und deren Wahrheit aufzudecken, sondern Geschichtsforschung als eine Wissenschaft versteht, deren Aufgabe es ist, das Soziale in Bezug auf Zeitlichkeit zu betrachten. Braudel meint, dass gesellschaftliche Phänomene der Gegenwart und Vergangenheit miteinander

55 Vgl.: Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 26. 56 Vgl.: Ilya Prigogine, Die Gesetze des Chaos, insel taschenbuch (Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag, 1998), 17.

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verbunden sind und somit jedes Betrachtungsobjekt eines der Geschichtswissenschaft sein kann, deren Merkmal es lediglich ist, sich der Bedeutung der Dinge in ihrer zeitlichen Ausdehnung anzunehmen.57 Oder: „Unter Geschichte verstehe ich eine wissenschaftlich geführte Untersuchung, sagen wir notfalls eine Wissenschaft, aber eine komplexe: Es gibt nicht nur eine Geschichte, eine Historikerzunft, sondern mehrere Zünfte, mehrere Geschichten, eine Summe von Kuriositäten, Gesichtspunkten, Möglichkeiten, eine Summe, zu der sich morgen weitere Kuriositäten, andere Gesichtspunkte, andere Möglichkeiten gesellen werden.“58

Als Geschichtswissenschaft kann somit anschließend an Braudel und Wallerstein ein Nachdenken über Gegenwärtiges verstanden werden, das zeitlichen Abschnitten und den verschiedenen Möglichkeiten, die in unterschiedlichen Zeituniversen ihre Existenz finden, verschrieben ist. Kurz: Der Geschichtswissenschaft wichtigstes Merkmal ist das Bekenntnis zum Pluralismus. Mit Braudel und Prigogine sind die beiden Theoretiker angesprochen, die wohl den stärksten Einfluss auf das, was man eine Wallersteinsche Wissenschaftstheorie nennen könnte, genommen haben. In Prigogine findet Wallerstein drei Punkte, die er in seine Forschungen aufnimmt. Erstens grenzt sich Prigogine gegen jene Art der Naturwissenschaft ab, die lediglich das Gleichmäßige zu beschreiben versucht, die es nicht vermag, unvorhersehbare Ereignisse zu denken, gegen eine Wissenschaft, in der das Unvorhersehbare unpassenden Ausgangsbedingungen zu Lasten gelegt wird. Betrachtungen der von Prigogine verworfenen Art führen zum Streben nach Idealbedingungen. Zufolge der newtonschen Physik kann damit nur gelten: Erst innerhalb klarer und erkannter Strukturen kann unser Leben kontrolliert und durchsichtig passieren. Es wird damit zur Aufgabe einer Gesellschaft, eben solche, dem Experiment entsprechenden Ausgangsbedingungen, beständig neu zu produzieren, sich dem nagenden Zahn der Zeit zu entziehen, so Wallerstein. Zweitens fordert Prigogine die Reflektion

57 Vgl.: Fernand Braudel, „Geschichte und Soziologie“, in Schriften zur Geschichte 1. Gesellschaften und Zeitstrukturen (Stuttgart: Klett-Cotta, 1992), 106. 58 Ibid., 99.

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über etablierte Analyserahmen und drittens die Akzeptanz einer „Vielheit von Zeiten“59, deren klare Unterteilung nicht zu bewerkstelligen sein muss und kann. Oder zusammenfassend, wie Wallerstein formuliert: „So werden wir beschworen, die Idee von der Wissenschaft als ,Entzauberung der Welt‘ zurückzuweisen und sie als eine ,Wiederverzauberung der Welt‘ zu würdigen.“60 Braudel bereichert Wallersteins Ideen um die ihm spezielle Art der Betrachtung auf mehreren Ebenen. Braudel sieht sich im Zeichen seines Anspruchs, das Soziale als Ganzes zu erfassen genötigt, mehrere Zeiten der Betrachtung einzuführen. Er zweifelt an der Möglichkeit einer durchgängigen und umfassenden Erfassung sozialer Phänomene, da Perfektion wenigstens hundert oder tausend verschiedene Arten von Zeitlichkeit benötigen würde. Braudel beschränkt sich und sein Projekt auf vier Arten der Dauer, um nicht aufgrund von Feingliedrigkeit völlig ungreifbare Forschungen zu betreiben. Diese vier Zeiten sind nicht nur durch ihre Ausdehnung definiert, sondern auch auf die zu betrachtenden Umstände zugeschnitten: die episodische Zeit (die Zeit der Ereignisgeschichte), die zyklische Zeit (die Zeit der zyklischen Geschichte), die strukturelle Zeit (die Zeit der Struktur-Geschichte), die Zeit der ewigen Grundwahrheiten (Diese vierte Art der Zeit führte Braudel ein, um die Dauer der Strukturen von Claude Lévi-Strauss zu erfassen. Diese Strukturen meinen, ewige menschliche Wahrheiten bezeichnen zu können.).61 Mit seiner Einteilung wendet sich Braudel

59 Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 44. 60 Ibid. 61 „Diese Forderung nach Ordnung ist die Grundlage des Denkens, das wir das primitive nennen, aber nur insofern, als es die Grundlage jedes Denkens ist: denn unter dem Blickwinkel der gemeinsamen Eigenschaften finden wir zu den Denkformen, die uns sehr fremd sind, leichter Zugang. […] Beim Spiel ist die Symmetrie also prästabiliert; und sie ist struktural, da sie sich aus dem Prinzip ableitet, daß die Regeln für beide Lager die gleichen sind. Die Asymmetrie dagegen wird erzeugt; sie entsteht unvermeidlich aus der Kontingenz der Ereignisse, ob diese nun der Absicht, dem Zufall oder dem Talent unterliegen. Beim Ritual ist es genau umgekehrt: man setzt eine im voraus entworfene und postulierte Asymmetrie zwischen profan und sakral, Gläubigen und Priestern, Toten und Lebendigen, Initiierten und Nicht-Initiierten usw., und das ,Spiel‘ besteht darin alle Teilnehmer

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gegen die Praxis, Geschichtsforschung als eine bloße Aneinanderreihung von Geschehnissen ohne Berücksichtigung eines Betrachtungsrahmens zu betreiben. Braudels Forschungsinteresse gilt vor allem der longue durée, der langen Dauer. Er möchte mehr über Arten des kollektiven Verhaltens, über verschiedene Formen des Zusammenlebens erfahren. Solche gewordenen Gewohnheiten des Umgangs ändern sich jedoch nicht plötzlich, bei eintretenden Schwankungen im Gleichgewicht einer Gesellschaft, wofür die Expansionen und Kontraktionen der kapitalistischen Weltwirtschaft als exemplarisch angeführt werden könnten. Sie brauchen demnach einen zeitlich längeren Betrachtungsraum, als ihn die ErforscherInnen der Geschichten nationalstaatlicher Ereignisse anlegen. Doch ist die lange Dauer auch nicht mit menschlichen Grundwahrheiten, wie denen von Levi-Strauss, zu verwechseln, denn auch gegen dieses Konzept, obwohl Braudel es als beschreibungswürdig in seine Ordnung mitaufnimmt, versucht er das Seinige abzugrenzen. Braudel möchte nichts wissen von der gewaltigen Architektur dieser idealen Stadt62, die man selbst doch nie zu erleben vermag.63 Braudel öffnet Wallersteins Blick auf größere Einheiten hin, doch fasziniert Wallerstein auch Braudels Anliegen, Zeit und Gegenstand miteinander in Beziehung zu setzen, zu überlegen, welche Dauer einen Gegenstand zum Erscheinen bringen kann. Wallerstein nimmt diese

auf die Gewinnerseite zu bringen, und zwar mit Hilfe von Ereignissen, deren Natur und Anordnung einen wahrhaft strukturalen Charakter tragen. Wie die Wissenschaft (obwohl sie sich hier noch auf der spektulativen oder auf der praktischen Ebene befindet) bringt das Spiel, von einer Struktur ausgehend, Ereignisse hervor […]“ (Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973), 21 und 47-48.) Vgl.: Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 169. 62 Vgl.: Braudel, Fernand nach Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ,kaputtdenken‘. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, 167. 63 „Ereignisse sind nicht nur Staub, weil sie vergänglich sind, sondern auch weil sie Staubkörnchen in unseren Augen sind. Die unbewegliche IdealStadt ist allerdings in ähnlicher Weise eine Illusion, die uns blenden kann.“ (Ibid., 168.)

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Gedanken auf und entwirft die Idee des Zeitraums64. Er versucht, die Konstruktion des Zeitraums am Moment der Krise auszurichten, auf die Fixierung jenes Punkts in Zeit und Raum Wallersteins Suchen erst abhebt. Die Krise vermag ein System nur zum Zeitpunkt seines Ablebens zu ereilen, sie eröffnet eine wilde Zeit voll Möglichkeiten und Unsicherheit. Wallerstein versucht die Koordinaten des Endes unseres Systems, des Todes unseres Kapitalismus, zu finden, um die Zeit des Umbruchs möglichst gewinnbringend den Aktionen von Handelnden zu eröffnen, ja mehr noch, um Handlungen zu provozieren. Wallersteins Interesse gilt somit der langen Dauer, die es als Analyseeinheit erst ermöglicht, Systeme zu beschreiben, andererseits aber abhängig vom System des Kapitalismus lebt, dessen Materialität diese spezielle lange Dauer erst aufzuspannen ermöglicht. Kurz: In der Erforschung von gesellschaftlichen Ereignissen, die einem Analyseraster angepasst werden, dessen Ziel die Früherkennung der Krise ist, hofft Wallerstein Umbrüche zeitlich fixieren zu können. Dieser Forschungszeitraum soll es Wallerstein ermöglichen, mit Hilfe von geschichtlichen Studien, die Gegenwart weniger diffus erscheinen zu lassen, den Menschen Aufgaben in die Hände zu geben. Abschließend sei noch die Frage nach den Konsequenzen der Ausführungen von Wallerstein und Braudel für das Problem der Begriffsbildung angesprochen. Dieses Thema möchte ich anhand von einer Frage angehen, die Wallerstein sich selbst als Aufgabe stellt: „Gibt es Indien?“65 Drei Behauptungen formuliert er in diesem Zusammenhang: Erstens, dass Indien eine Erfindung des modernen Weltsystems ist; zweitens, dass die Geschichte des vormodernen Indiens eine Erfindung des modernen Indiens ist; drittens, dass Indien zwar im Moment existiert, jedoch über die Zukunft keine definitiven Aussagen in dieser Richtung gemacht werden können.66 Abgesehen von Indiens spezieller Geschichte, die tatsächlich aus den Reportagen von europäischen Besuchern und Unterdrückern Indiens als solche zusammengesetzt und erfunden wurde, wo man tatsächlich in europäischer Manier einfach begann, die eigenen Begriffe als selbstverständlich gebräuchlich über die Kenntnisse des fremden Gebiets und Lebens zu legen,67 gilt es an

64 Vgl.: Ibid., 180. 65 Ibid., 158. 66 Vgl.: Ibid., 159-62. 67 Vgl.: Ibid., 161.

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diesem Ort allgemeiner zu fragen, wie es denn kommen konnte, dass uns einige Bezeichnungen als passender erscheinen als andere und in das allgemeine Sprechen aufgenommen sind? Wallerstein gibt auf diese Frage eine sehr einfache Antwort: Es ist erst die Dauer, die einem Begriff Legitimität verleiht, je größer der Abstand zu vergangenen Ereignissen, desto größer der Wahrheitswert der richtigen Aussagen über diese. Legitimität entsteht somit mit Aussagenwiederholungen durch berechtigte Personen an speziellen Orten zu passenden Zeitpunkten. Würde beispielsweise der Name Indiens durch die Zerstörung der Macht derer, die ihn hochzuhalten vermochten, entwertet, würde das so genannte Gebiet von der Schweiz eingenommen, welches Beispiel Wallerstein wählt,68 dann würde sich der Name ändern und wiederum Jahre später würde es so scheinen, als wäre Bern immer schon die Hauptstadt dieses Gebiets gewesen. Woran Wallersteins dritte These anschlussfähig wird, die fordert: Konkrete Aussagen über den zukünftigen Wortgebrauch von Indien zu vermeiden. Und, abschließend: Gibt es die Stadt?

S TÄDTE – D IE S TADT

IST RELATIV

Was macht Wallerstein zum Stadttheoretiker? Zuerst sein Insistieren auf eine Betrachtungsart, die Vernetzungen fokussiert, Pluralität erscheinen lässt und die Zerschlagung gewohnter Rahmen der Betrachtung, als jedem neuen Studium eines gesellschaftlichen Gegenstands vorgängig, verordnet. Kurz gesagt: Wallerstein lehrt uns im Plural zu sprechen, denn eine Stadt kann es, in seinem Denken, immer nur in Abhängigkeit von anderen Ballungsräumen und Machtfeldern geben, als Teil vielfältiger Beziehungen zwischen Städten, auf den unterschiedlichsten Ebenen einer und zwischen Gesellschaft/en. Städte müssen mit Wallerstein als Teil eines Systems gedacht werden. Dies impliziert zweierlei: Erstens braucht es Grenzen jeder individuellen Städteeinheit, um sie als Teil eines Systems erscheinen zu lassen, zweitens jedoch müssen die Elemente von ihren Verbindungen abhängig bleiben, da ansonsten das Reden über größere Zwangszusammenhänge völlig sinnentleert wäre. Folglich gilt es Stadtgrenzen zu be-

68 Vgl.: Ibid., 162.

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schreiben, die zwar vorhanden, aber durchlässig sind. Das Land? Seine Beschreibung bewegt sich zwischen den Polen revolutionäre Versammlung und städtisches Kolonialgebiet.69 Wallerstein stielt unserem Denken demnach, was ihm Weber gegeben zu haben scheint. Wallerstein relativiert unser Wissen über Städte, er bezweifelt bereits durch die Form seines Denkens die Möglichkeit, Definitives über solche Konstrukte aussagen zu können, sowie er das Unternehmen Stadtgeschichte anhand von speziellen Städtenamen fraglich erscheinen läßt, da, seiner Meinung nach, die Namen wenig über das Geschehen hinter der Bezeichnung auszusagen vermögen. Doch nicht nur Unsicherheit im Ziehen von Grenzen, in der Beschreibung von Gegenständen, wenn das auch mit Sicherheit einer der ehrenswertesten Verdienste ist, die eine TheoretikerIn für sich beanspruchen kann, soll die Beschäftigung mit Wallerstein eingebracht haben. Entsprechend der drei Teilbereiche, die Wallersteins Denken in meinem Text strukturierten, möchte ich drei Fragen formulieren, um mit Wallerstein tiefer in das Nachdenken über Städte einzudringen. Ziel sollen anschließend nicht noch effizienter klingende Zusammenfassungen sein, sondern im Formulieren von Aufgaben liegt mein Interesse. Damit sei gefragt nach, erstens: Was bedeutet es, Städte als Systeme zu denken? Zweitens: Welche Rolle bleibt den Hauptstädten im kapitalistischen Weltsystem, was bedeutet es in Bezug auf Wallerstein, von zwei Arten der Stadt zu sprechen? Drittens: Wie wäre die Weltsystemanalyse, die sich als beständige Kritik an geschichtlichen Erzählungen versteht, als eine Wissenschaft von Städten zu denken? Zu eins: Beginnen wir, Städte als Systeme zu denken, so muss sich der Blick unweigerlich auf die Verbindungsstrukturen, die Machtgefälle

69 Vgl.: „Dabei wurden zwei Verfahren angewandt. Einerseits versuchten die Städte, nicht nur gesetzliche Rechte zu erlangen, um An- und Verkauf besteuern zu können, sondern auch das Recht, die Handelstätigkeiten (wer handeln dürfe, wann dies stattfinden solle, womit gehandelt werden durfte) zu regeln. Sie versuchten darüber hinaus noch, die Möglichkeiten ihres Umlandes zu beschränken; der Handel sollte so weit wie möglich über die entsprechende Stadt abgewickelt werden. Das Ergebnis war etwas, was Dobb eine Art ,städtischer Kolonialismus‘ nennt.“ (Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 144-45.)

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und -verschiebungen, sowie deren Lebensdauer richten. Eine Stadt als System betrachten, bedeutet aber auch die Unmöglichkeit, sich verschiedensten Problemen, wie dem gefeierten Thema der Slumbildung, in einer eingeschränkten Weise anzunähern, deren Motto zu sein scheint: Schockierende Tabellen sind schon politisch aktiv. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf Frantz Fanon verweisen, dessen Anliegen zwar nicht die Kritik eines Bildes, das Slums als abgegrenzte Inseln des Bösen, nicht als Teile der eigentlichen Stadt betrachtet, gewesen ist, der aber die passende Aussage – warum passend zeigt sich hoffentlich im Anschluss – tätigt: „[…] eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht.“70 Fanon spricht sich gegen einen Diskurs aus, der behauptet, dass Rassismus lediglich ein Problem in den Kreisen der Arbeiterschaft wäre. Frantz Fanon fordert die Betrachtung von Gesellschaften als Ganzes, womit das Problem des Rassismus auf mehreren Ebenen zu untersuchen ist: Als unkorrektes Verhalten im alltäglichen Leben, als medizinischer Diskurs, als Pflicht zur Verleugnung der eigenen Identität, um als Mitmensch anerkannt zu werden. Wie Fanon, so argumentiert auch Wallerstein gegen das analytische Zerpflücken des Gesellschaftlichen zur Betrachtung einzelner Krisenherde, da auf diese Weise jeder Gegenstand bereits in einer gewissen Färbung erscheint, die nicht immer dem zu befragenden Problem entsprechen muss. Einen Einwand, den wir von Wallerstein bereits aus seiner Kritik der Nationalgeschichte kennen. Städte in und als Systeme zu denken bedeutet aber auch, mit deren Vergänglichkeit zu rechnen. Denn bleiben sie vielleicht ihrem Namen nach Studienobjekt innerhalb Braudels langer Dauer, so kaum in der momentanen Ausprägung, als lebendige Umwelt der Gegenwart, die es zu bewältigen gilt. Städte könnten demzufolge als gallertartige Masse verstanden werden, die sich dem tätigen Angriff einer jeden zu beugen vermag, als Orte, an denen es möglich wird, das Alltägliche als Manifestes zur Betrachtung kommen zu lassen, als Plätze, wo die Dichte an Menschen hoch genug ist, um tatsächlich gemeinsame Veränderungen greifbar erscheinen zu lassen. Keine neue Erkenntnis! Wie Marx mich belehrt:

70 Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, suhrkamp taschenbuch 1186 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980), 63.

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„Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteilen zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter.“71

Die StädterIn tauscht somit in gewisser Weise Gesundheit gegen Hoffnung. Zu zwei: Hoffnungsvoll in der Stadt angekommen, bedeutet jedoch nicht am Ziel zu sein. So ist es eher die Erfahrung von Orientierungsund Chancenlosigkeit, welche Neuankommenden auf den armen Inseln der Stadt, in Form von informellen Arbeitsplätzen, aufzulauern scheint. Erst der sichere Lebensunterhalt erlaubt den örtlichen Wechsel in den Themenpark des Kaffees mit Milchschaum, weg aus den diffusen Schleusen, die gebrochenen Lebensläufen ein Zuhause geben. Es sind eben diese Treffpunkte der Hauptstraßenflüchtlinge, die mein Forschen bündeln möchte, weil sich eben dort die Reste an Öffentlichkeit finden, die meiner Meinung nach eine Stadt ausmachen sollten, weil es die Öffentlichkeit ist, die auch schon den Hintergrund der Stadtbeschreibungen der Vergangenheit bewohnte und als Element der innerstädtischen Freiheit beschrieben wurde. Stellt man sich die Frage nach Chancen zur freien Veröffentlichung mit Wallerstein selbst, so ist sie eng mit der Frage nach der Wichtigkeit des Status einer Hauptstadt verbunden. Es war im England des 16. Jahrhunderts, wo er der Hauptstadt synthetisierende Funktionen zuschrieb: „England war in der Lage, eine starke Hauptstadt als Mittel zur kulturellen und wirtschaftlichen Vereinheitlichung zu entwickeln. Außerdem gelang es in England, den inneren Frieden auch in einer Zeit zu erhalten, da auf dem Kontinent

71 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW (Berlin: Dietz, 2005), 528.

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Unruhe herrschte, und dies ohne stehendes Heer, was zum Teil die Ursache für den industriellen Fortschritt war.“72

Die Aufgabe der Hauptstadt zu dieser Zeit war demzufolge, stark zu sein, was für Wallerstein nicht nur gewalttätig oder militärisch hoch ausgerüstet bedeutet, sondern vor allem auch flexibel. Die Hauptstadt vermochte es, ihre Arbeiterschaft und die kursierenden Informationen so zu organisieren, dass die Menschen in Frieden zusammenlebten. Als EntscheidungsträgerIn hatte man somit die Aufgabe, das Leben der Menschen gerade um das bisschen besser zu gestalten, welches das Ausbrechen von Aufständen verhinderte. Doch scheint diese Angst vor der Revolte in allgemeine Vergessenheit geraten zu sein, kaum eine Regierung verschwendet Gedanken an mögliche Revolutionen. Man fühlt sich entweder sicher, weil man es beinahe ist, da keine NachbarIn unmittelbar zu verhungern droht, oder man verteidigt den erkämpften Raum, was aufgrund überlegener Technologie auch in Maßen zu funktionieren scheint, die ein Leben im Luxusgefängnis erlauben. Und doch tobt die Revolution in großen Teilen der Welt, sowie die Kämpfenden das Recht auf Mitsprache auch in den Reihen der KapitalismusgewinnerInnen fordern, wie die Hochkonjunktur der Praxis, per Autobombe sich tödlich einzumischen, belegen kann.73 Zusammenfassend gesprochen: Die Hauptstadt ist im kapitalistischen Weltsystem das Medium sowohl der Bevölkerung, als auch der Regierenden. Die einen finden Strukturen, die es ihnen erlauben, gegen sie zu revoltieren, die ihnen Orte bieten, um ihren Protest manifest werden zu lassen, die anderen können die Hauptstadt als Laboratorium verwenden, um Meinungstrends abzulesen, um auf die Verhaltensweisen der Menschen einzuwirken. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch gleich einem Einwand antworten; man könnte kritisieren, dass diese Qualitäten einer Hauptstadt in der Gegenwart nicht mehr von Bedeutung sind, da doch jeder per Satellit einbezogen ist. Dem möchte ich widersprechen. Es gibt natürlich elektronische Medien, die es mir erlauben, an sämtlichen Diskussionen, Entscheidungen und Kulturereignissen auch

72 Wallerstein, Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 345. 73 Vgl.: Mike Davis, Buda's Wagon. A Brief History of the Car Bomb (London, New York: Verso, 2007).

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aus der Ferne teilzunehmen, doch gilt das vorrangig für jenen Teil der Menschheit, der die Stadt eigentlich bereits verlassen hat – wenn wir uns an René Pollesch zurück erinnern wollen –, für jene, die entweder aus Gefallen an der Menschendichte geblieben sind, aus Faulheit, oder aber weil ihnen das fleischliche Mitdabeisein in Masseninstitutionen, wie das Kino eine darstellt, noch schön erscheint. Kurz gesagt, es gibt immer noch Menschen, denen es versagt bleibt, die Stadt zu verlassen und dennoch Teil am Geschehen zu haben, finanziell, aber auch technisch, da in vielen Teilen der Erde Internetanschlüsse nicht im gewohnten high speed Format angeboten werden. Damit komme ich auch wieder zurück zu meiner zu Beginn vorgeschlagenen Arbeitsdefinition von Stadt; Stadt als Ort der Dichte, von Kritik und Konfrontation, als Ort der Übersetzung. Diese Definition funktioniert nur dann, wenn es mir zwar vielleicht möglich ist, ins Internet einzusteigen oder den Fernseher zu benutzen, ich jedoch meinen Lebensunterhalt zwischen eben jenen nicht vorhersehbaren Begegnungen mit Menschen organisieren muss. Demzufolge ist die Stadt, die ich im Folgenden weiter beschreiben möchte, eben Wallersteins Arbeiterstadt, nicht jene der KapitalistInnen und Regierenden, die es vermochten, zumeist am Land zu leben, wie es auch schon Max Weber beschrieben hat. Die Stadt ist somit ein Ort der finanziell nicht unabhängigen ProduzentInnen. Wallerstein benennt Bosten als „radikalste Stadt“74 in der Zeit nach 1763, weil eben an diesem Ort, den ein zwischen 1765 und 1775 stattfindender Aufschwung nicht erfasst hatte, die Schere zwischen arm und reich sich am weitesten öffnete. Dieses Wort radikal lässt in diesem Zusammenhang zumindest zwei Deutungen zu: Erstens könnte Bosten radikal genannt werden, wegen eines hohen Maßes an Gewalt und Kriminalität, zweitens jedoch könnte man Bosten als radikal bezeichnen, weil es in kompromissloser Weise den Antagonismus, der den Städten des 18. Jahrhunderts zu Grunde lag, widerspiegelte. Um diese Rede von der Radikalität auf die Gegenwart anzuwenden, könnte man behaupten, dass heutzutage nur die Arbeiterstadt erhalten geblieben ist, weil das Geld sichere Wege gefunden hat, sich Enklaven der Schönheit? und des Glücks? zu errichten und dabei zwar den Einfluss über die Organisation der Städte behalten hat, die man Schritt für

74 Wallerstein, Die große Expansion: Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert, 286.

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Schritt von Unsicherheit und Dreck zu befreien versucht, um sie eines Tages wieder als adäquaten Lebensraum freizugeben, die Vermögenden selbst jedoch auf ihren Heterotopien dahin fristen.75 Kurz gesagt, die Stadt ist ein fremdbestimmter Lebensraum, den es zurück zu erobern gilt. Damit sei noch einmal klar ausgesprochen: Meine Verwendung der Begriffe Stadt und beispielsweise Land löst sich im Laufe dieses Texts immer stärker von unserer alltäglichen Verwendung, die es wert wäre, geändert zu werden. Man könnte in diesem Sinne, um die begriffliche Verwirrung perfekt zu machen, vom Land (im Sinne des Wortsinns dieser Arbeit, also als reguliertes Territorium mit klar strukturierten Umgangsformen) als Stadt (im traditionellen Wortsinn, als Ort der Finanz, des Einkaufens, des Mittagessens im Gastgarten) sprechen. Damit sollte klar sein, dass es eine spezielle Art des Existierens ist, der dieser Text unter dem Titel Stadt nachzugehen versucht. Zu drei: Wie könnte eine Weltsystemanalyse als Kritik des städtischen Treibens funktionieren? Weltsystemanalyse als Kritik passiert in der Reflexion des eigenen Vorverständnisses von Wissenschaftlichkeit, im Versuch, Wirtschaftliches, Soziales und Politisches gemeinsam zu betrachten. Kurz gesagt, die Weltsystemanalyse ist durch das Auflösen fester Muster der Betrachtung charakterisiert. Sie ist eine Art des Denkens, die Forschungsergebnisse beständig neu kontextualisiert und, wie ich unterstellt habe, in Hinblick auf eine bestimmte politische Situation ihre Geschichten immer wieder neu erzählt. Die Weltsystemanalyse ist somit ein nicht endender Prozess, kurz: sie ist die Kritik, deren Hilfswissenschaft die Geschichte ist, sowie deren Taktik durch die Ausweitung des Blickfelds charakterisiert ist. Stadt-Analyse kann demzufolge als Kritik der Namen verstanden werden. Stadtgeschichte sähe sich diesem Vorschlag zufolge dem Problem gegenüber, ihres Gegenstandes verlustig gegangen zu sein. Denn Städte, das wären genau jene Punkte in Raum und Zeit, wo die Geschichten aufeinander treffen, wo sie aufhören als getrennte zu existieren und sich in einem diffus gewickelten Knäuel verlieren, wären demnach dort zu beschreiben, wo und wann sich die stringenten Erzählungen im Chaos verlaufen. Die Stadt ist Wallersteins ZeitRaum des Übergangs, womit noch einmal zu Wallersteins Denken des Übergangs zurückgekommen sei.

75 Vgl.: Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe mit CD.

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Wallerstein behauptet unsere Gegenwart als ÜbergangsZeitRaum, doch scheint mir, dass er seiner Theorie entsprechend, sich darin auch nicht völlig sicher sein darf, sich aber dennoch festlegt, da sein Denken auf den Moment der Krise ausgerichtet ist, den er nicht suchen, sondern heraufbeschwören möchte, indem er ihm eine Geschichte schenkt. Ich bin mit dieser Art von Intention und Denken auch völlig einverstanden, sowie ich es zu ergänzen versuchen möchte, denn die Frage nach der Stadt, wie sie oben beschrieben wurde, beschäftigt sich nicht nur mit revolutionären Momenten in der Zeit, sondern auch mit der Frage nach konkreten Möglichkeiten. Während Wallerstein die Frage stellt: Wann werden unsere Handlungen wichtig und wirksam?, möchte ich zusätzlich wissen: Wie soll ich aktiv werden?

Michel Foucault. Die Stadt: Eine kritische Lebenshaltung?

V ON

GEWUSSTEN ZU IHRER M ORAL

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DES

L EBENS

„Falls die Täter sich für diese Strecke entschieden hatten bei ihrer Entfernung vom Ort des Geschehens, wären sie jetzt wieder in der Deckung des gewöhnlichen Lebens gewesen, städtischer Bebauung und Gleichgültigkeit – keine gesteigerte Witterung mehr für einsame Fahrzeuge auf Schleichwegen durch die Nacht.“1

Ins Kaufhaus verschwinden, sich mit der S-Bahn aus dem Staub machen; die Stadt ist ein wirres Geflecht von Fluchtwegen, von Verstecken des brodelnden Aktivismus. Dort liegt sie, eine Stadt, innerhalb der zum Kaufen animierenden Regale, eine von Landschaften des Angebots verschleierte Stadt inmitten des Urwalds einer Konsumgesellschaft, umschrieben von Stadtmauern aus Entertainment. Sie lauern im Unterholz, die DissidentInnen2. Die Gleichgültigkeit städtischer Natur spendet dem Abfall, dem „Substanzdreck“3 Schutz. Wovor? Vor wis-

1

Ulrich Peltzer, Teil der Lösung (Zürich: Ammann Verlag & Co., 2007),

2

Vgl.: Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gou-

334. vernementalität I, 291. 3

Kurt Drawert nach: Uwe C. Steiner, „,Abseits vom Abseits.‘ Randgänge der

neueren

deutschsprachigen

Stadt-Literatur,“

manuskripte.

ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR 139, no. Inter-City-Text LiteraturSymposion (1998): 94.

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senschaftlicher Einteilung, vor dem systematisch Abgelegtwerden, vor Definition und Wegsperrung. „Hier zum Beispiel, dachte er, als sie an der Kreuzung nach der Tankstelle darauf warteten, dass es grün wurde (Baumarkt, Gartencenter, ALDI), hier links die S-Bahn unterqueren und die Abzweigung Richtung Nordwesten nehmen, ein kurzer Blickkontakt, ein Nicken bestätigten ihm, dass der Kollege auf dem Beifahrersitz (sozusagen) denselben Gedanken hatte, nachvollziehend, was im Kopf (in den Herzen) der Flüchtenden um drei Uhr zwanzig vor sich gegangen sein mochte.“4

Doch wie diese systemfeindlichen, den Raum zur Sabotage adaptierenden „Anormalen“5 aufspüren? Wo trifft sich eine Stadt, deren Territorium die Verstecke sind. Diese unstete Stadt erlaubt nur die psychische Wegbeschreibung ihrer KonstrukteurInnen aufzusuchen. Um diese (irgendeine?) Stadt zu finden, wird es unerlässlich, die ,Wahrheit‘ der in ihr versammelten Individuen zu kennen. Um eine Stadt besuchen, erkennen und erforschen zu können, ist es zwingend, ihre Ord-

4

Peltzer, Teil der Lösung, 333.

5

„[…] die Disziplin analysiert, dekomponiert, zergliedert die Individuen, die Orte, die Zeiten, die Gesten, die Akte, die Vorgänge. […] Zweitens, die Disziplin klassifiziert die so gekennzeichneten Elemente nach Maßgabe bestimmter Ziele. […] Drittens, die Disziplin etabliert die Sequenzen oder die Koordinationen, die optimal sind […] die Disziplin legt die Verfahren fortschreitenden Drills und unablässiger Kontrolle fest und etabliert schließlich von da ausgehend die Spaltung zwischen denen, die als untauglich, als unfähig angesehen werden, und den anderen. Das heißt, von da ausgehend nimmt sie die Spaltung des Normalen und des Anormalen vor.“ (Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, 89.) „Daraus ergeben sich zwei Linien der Objektivierung von Verbrechen und Verbrecher. Einerseits wird der Verbrecher als Feind aller bezeichnet, den zu verfolgen alle ein Interesse haben, er fällt aus dem Vertrag heraus, disqualifiziert sich als Bürger und wird zu einem, der ein wildes Stück Natur in sich trägt. Er erscheint als Ruchloser, Monster, vielleicht als Wahnsinniger, als Kranker und bald als ,Anormaler‘.“ (Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, suhrkamp taschenbuch (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1994), 129.)

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nungen zu kennen, sich mit der besonderen Sicherheit einer BewohnerIn zu bewegen. Eine Stadt zu kennen bedeutet folglich, zu verstehen wie es sich anfühlt, sie zu leben. Doch wie ins Innerste dieser im Geheimen agierenden Stadtmenschen vordringen? Die Körper der städtischen UntergrundkämpferInnen sind nicht gewinnbringend im durch Noten oder Prozente messbaren Raum verteilt. Die DissidentInnen streben nicht diszipliniert6 in Richtung Vorzüglichkeit, sie gehen nicht daran, den Hang zur Bestnote zu erklimmen. Die Frage des Sicherheitspersonals muss lauten: Wie unterscheiden sich subversive Individualitäten? Welchen Normen entsprechen sie dennoch? Gibt es Vergleichsfälle? „Für die gegenwärtige Situation ist die Namenlosigkeit der Gruppe bezeichnend, die Weigerung, sich irgendwie eine Identität zu geben.“7 So analysiert der Berufsüberwacher in Ulrich Peltzers Roman „Teil der Lösung“. Die Namenlosigkeit wird damit zur einzigen Sicherheit beim Besuch der TäterInnen Stadt. Die Namenlosen bleiben der etablierten Norm entzogen, da sie in Verkleidung arbeiten. Die Namenlosen unterliegen immer nur als Andere den Regeln des Lebens.8 Die Norm arbeitet zwischen den Gesetzen, ihre richtenden Instrumente sind die Pädagogik, die Medizin, die Wissenschaften vom Menschen, deren Macht es erlaubt, demokratische Prozesse auszusetzen,

6

„Zusammenfassend kann man sagen, daß die Disziplin mit ihrer Körperkontrolle vier Typen von Individualität oder vielmehr eine Individualität mit vier Merkmalen produziert: diese Individualität ist zellenförmig (aufgrund der räumlichen Parzellierung); sie ist organisch (dank der Codierung der Tätigkeiten); sie ist evolutiv (aufgrund der Zeithäufung); sie ist kombinatorisch (durch die Zusammensetzung der Kräfte). Und um das zu erreichen, setzt die Disziplin vier große Techniken ein: sie konstruiert Tableaus; sie schreibt Manöver vor; sie setzt Übungen an; und um das Zusammenspiel der Kräfte zu gewährleisten, ordnet sie ,Taktiken‘ an. Die Taktik als die Kunst, mit Hilfe lokalisierter Körper, codierter Tätigkeiten und formierter Fähigkeiten Apparate zu bauen, die das Produkt verschiedener Kräfte durch ihre kalkulierte Kombination vermehren, stellt zweifellos die höchste Stufe der Disziplinarpraktik dar.“ (Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 216.)

7

Peltzer, Teil der Lösung, 106.

8

Vgl.: Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 230.

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weil sie scheinbar nicht der Wahrheitsfindung dienlich sind. Diesem Instrument des außergesetzlichen staatlichen Machterhalts widersetzten sich undefinierte Identitäten. Die namenlosen KämpferInnen verweigern sich, ihrer Produktion als „Fall“9, als Wirkliches. Denn „[i]n Wirklichkeit [so Foucault (F.H.)] ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“10 Es ist das nicht Prominentsein sowie die Unmöglichkeit sich auf Gesetze berufen zu können, das/die die Namenlosigkeit mit sich bringt, oder anders formuliert: Die Nichtidentität ist keine politische, sondern, wenn dies nun auch doch zu einer Bezeichnung wird, eine subversive. Diese anormalen KriegerInnen entziehen sich, zusammenfassend gesprochen, den Kausalitäten des alltäglichen Lebens, dem Streben nach Ruhm und Erfolg. Sie verweigern ihre Gruppe einer Politik der Anerkennung, der Disziplinarpolitik, der Aufteilung in Individualitäten. Die AktivistInnen stehen dem Ziel, Unordnung zu verhindern, entgegen, sie bekämpfen Interventionen, die darauf abzielen, Städte als Lager und damit beständig neu, als geschichtslosen Raum am Reißbrett, zu konstruieren. Der von Ulrich Peltzer beschriebene Aktivismus kämpft nicht für ein politisches Programm, seine AnhängerInnen fürchten nicht um die eigene Existenz, auch der Hunger treibt das namenlose Kollektiv nicht an: Peltzers Revoltierende klagen ein Recht auf Intimität in der Stadt ein. Man will nicht die Macht im Staat übernehmen, aber jedoch frei werden, sich individuell und ungesehen bewegen zu können. „Das Lager ist die flüchtige und künstliche Stadt, die man fast ganz nach Willen aufbaut und umbaut.“11 Die Namenlosen sind die Erinnerung daran, dass sich die ,Architektur‘ von ihrer Mutter früh zu trennen beginnt. Jedoch: Leben wir überhaupt in einem von der Disziplin beherrschten Zeitalter? Nein, so Foucault. Zur Zeit der eigenen Schreibtätigkeit empfand Foucault sich als vom Zeitalter der Sicherheit umfangen, als ein Elementarteilchen einer Gesellschaft, die sich nach dem Prinzip der Begierdenkontrolle organisiert. ,Die Kontrolle des Wün-

9

Ibid., 247.

10 Ibid., 250. 11 Ibid., 221.

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schens‘, das ist dann auch die Form von Machtausübung, die endlich den Sicherheitsbeamten aus Ulrich Peltzers Erzählung förderlich erscheint. Für zuerst-einmal-nicht-eingreifen wird entschieden. Unterstützend gilt es fortan auf einen scheinbar notwendigen Ablauf einzuwirken. „Ich sehe hier ein Projekt mit Wachstumschancen [spricht Klosters, ein Ermittler im Milieu des unkontrollierten Widerstands (F.H.)], eine Gruppe, die schon sehr bald die Zone der Sekundenkleber verlässt. Echte Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Weil sie sich blind vertrauen, nehmen sie Ziele in Angriff, die unerreichbar schienen, komplizierte Operationen. […] ,Gelegenheiten kreieren‘, sagte Witzke und zog sein Portemonnaie heraus. ,Gelegenheiten, bei denen man seine Aufrichtigkeit unter Beweis stellt.‘“12

Eine Anmerkung dazu: Selbst wenn Foucault mehrere Zeitalter entlang der ihnen entsprechenden Regierungspraktiken unterscheidet, müssen diese Darstellungen nicht ausschließlich als sich jeweils einander ablösende betrachtet werden, und es sollte natürlich ebenso wenig von einem linearen Anwachsen der Effektivität von Überwachung gesprochen werden. Die verschiedenen Formen von ,Staatsmacht‘ könnten ebenso als parallel aktive Instrumente zur Erhaltung eines besonderen Herrschaftsverhältnisses untersucht werden. Beispielsweise klammert sich noch gegenwärtig das System der Wissensvermittlung verzweifelt an Komplexe aus Noten und bewertenden Zeichen, wofür die große Angst vor der Noteninflation Ausdruck ist, sowie das fragwürdige Fortbestehen der Prozedur des Prüfens13 – dem Beenden jedes als fremd erscheinenden Gedankengangs – auf eine fortbestehende Wahlverwandtschaft von Disziplin und Erziehung aufmerksam werden läßt.

12 Peltzer, Teil der Lösung, 142. 13 „Als rituelle und zugleich ,wissenschaftliche‘ Fixierung der individuellen Unterschiede, als Festnagelung eines jeden auf seine eigene Einzelheit (im Gegensatz zur Zeremonie, in der Standeszugehörigkeiten, Abstammungen, Privilegien, Ämter zu unübersehbarem Ausdruck kamen), zeigt die Prüfung das Heraufkommen einer neuen Spielart der Macht an, in der jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen erhält, in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ,Noten‘ festgelegt wird, die aus ihm einen ,Fall‘ machen.“ (Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 247.)

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Es scheint mir zudem, dass auch nicht alle Elemente der Marter mit Ende des 17. Jahrhunderts verschwunden sind. Die Marter ist eine Mischung aus Strafe, Wahrheitsfindung und Abschreckungsverfahren. Eine Charaktermaske, wie sie Prügelexzessen der Polizei, beispielsweise zum Anlass von Demonstrationen, dem Einfordern von Mitsprache, besonders schön steht. Angegriffen wird, im Zuge solcher Veranstaltungen, die Gewalt des Staates – artikuliert sich dieser Angriff als mehr gehende, denn schießende Demonstration – nur in der Gestalt von Kritik an mangelnder gesetzlicher Regelung, in Form der Kritik von Fehlfunktionen eines Staatsapparates durch dessen Legitimationsmittel, das Volk, welches folglich nur recht handelt, wenn es seine RepräsentatInnen an den Ursprung ihrer Macht erinnert, an ihr Versprechen, im Sinne einer Gruppe von Menschen zu arbeiten. Die Provokation von DemonstrantInnen wird damit zu einer, der ein Staat nur als Souverän begegnen kann, nicht als Träger von Gesetzen.14 Fraglich wird, wer gegenwärtig zur Bestrafung der die imaginäre staatliche Einheit, der das Gleichgewicht störenden AufrührerInnnen einschreitet. Wer vermag das Gesetz zu suspendieren? Mir scheint, dass in der diffusen Situation der Jetztzeit auf das freie Engagement von Einzelnen gesetzt wird. Jene sollen prügelnd und mutig, mögliche Konsequenzen eines Gesetzes leichtfertig auf sich nehmend, der nach Mitbestimmung schreienden Menge, Einhalt bieten. Der Erfolg dieser Praxis – die Anzahl an zufälligen Toten und Verletzten – gibt der Politik recht. Wobei, um wieder zu Foucault zurück zu kommen, eben dies durchaus auch in einem Zeitalter der Sicherheit als projektkonform gelten kann. Womit die vorangegangenen Zeilen endlich konkretisiert seien: Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Machtechniken mit der Zeit vermehren und immer perfekter werden und glaube dennoch, dass wir es immer mit mehreren Formen des Herrschaftserhalts, der Sicherung ,versteinerter Machtverhältnisse‘, parallel zu tun haben. Die diffusen Umrisse des zu regierenden Gegenstandes, der urbanisierten

14 „Der Souverän ist derjenige, der fähig ist, nein zur Begierde eines jeden Individuums zu sagen, wobei das Problem darin liegt, zu wissen, wie dieses der Begierde der Individuen entgegengesetzte ,Nein‘ legitim und auf den Willen dieser Individuen selbst gegründet werden kann.“ (Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, 112.)

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Welt, erlauben und benötigen die Parallelexistenz verschiedener Regierungsformen. Einschneidend sollte im Leben der Städte Foucault zufolge das Fallen der Stadtmauern als Antwort auf einen permanenten Handel mit Umland und Welt werden. Gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts änderten sich damit die Vorstellungen von der guten Stadt. Nicht mehr die Disziplin war bestimmend, das perfekte Funktionieren makelloser Individuen in restlos durchdachten Räumen, nicht mehr Ideales war erstrebenswert. Mit dem 18. Jahrhundert galt es die Wissenschaften der Zirkulation von Menschen und Dingen zu kultivieren. Es brauchte nicht mehr die Idealstadt, sondern das Wissen vom besten Kompromiss, das zu entscheiden erlaubt, welches Maß an Leid welcher Menge von Menschen, der Ökonomie, dem allgemeinen Gleichgewicht entspricht. Mit der Sicherheit zieht die Ausgeglichenheit in das Leben ein, eine Phase des „Etwas-mehr-als-nur-leben“15, die wir noch heute nicht überwunden haben, wie Foucault 1978 meint. Diese neue Art des Regierens zeichnet sich dadurch aus, die Dinge nicht dramatisch zu sehen. Wichtig wird das Verhüten von Panik, was nur bedeuten kann, dass die Angst vor möglichen Krisen am Leben erhalten werden muss, so dass ein Problem nicht Wut und Verwunderung produziert, sondern die rationale Erklärung sogleich allgemein einsichtig ist. Tatsachen sollen nun als solche, als bloß tatsächlich und nicht mit Emotion aufgeladen, betrachtet werden. Was es im Zeitalter der Sicherheit, der Kontrolle zu verstehen gilt, ist, dass es kein Gut und kein Schlecht gibt, dass „[…] es keinen allgemeinen Nahrungsmangel mehr geben wird unter der Bedingung, daß es für eine ganze Reihe von Leuten, in einer ganzen Reihe von Märkten eine gewisse Knappheit, eine gewisse Teuerung, eine gewisse Schwierigkeit beim Getreidekauf, folglich einen gewissen Hunger gibt, und schließlich kann es gut sein, daß Leute an Hunger sterben.“16

Mit der Untersuchung dreier Argumente möchte ich im Folgenden tiefer in Foucaultsche Worterfindungen und Gedanken eintauchen: Erstens; Foucault spricht davon, dass es für jeden Staat notwendig ist seine eigene Gouvernementalität auszuarbeiten. Er spricht davon, dass es

15 Ibid., 470. 16 Ibid., 69.

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dem Staat an Innerem mangelt, man könnte zusammenfassen: Der Staat bedarf der Stadt, um überhaupt etwas zu regieren. Damit sei zweitens angesprochen, dass der Staat, wenn seine Legitimität nicht gottgegeben sein soll, sie selbst gebären muss, demnach muss die Stadt des Staates Rechtfertigung hervorbringen. Drittens: Warum die Stadt, warum nicht das Land? Foucault argumentiert, dass mit der Disziplin der Traum der Verstädterung der Gesellschaft entsteht. Zu eins: Der Staat braucht die Stadt, um regieren zu können. Anders formuliert: Der materielle Staat ist die Stadt. Sie ist Ort der Auffindung von Gesetzen und dennoch jenseits des Gesetzes, sie ist der permanente Staatsstreich, die ungesetzliche Aktion um der Erhaltung des Ganzen willen. Die Stadt wird damit zu dem das Recht Überscheitende, zur Rettung des Gesetzes, sie ist der Ort, an dem sich die Staatsräson, wenn notwendig mit Gewalt, äußert. Die Stadt dient der Regierung als andauernder Ausnahmezustand. Aus diesem Grund ist es auch nicht Aufgabe von souverän Herrschenden der Gesetzgebung kundig zu sein, liegt doch die Stabilität der Verhältnisse im Wissen um die Dinge. Souveränität? Sie gab es Foucault zufolge nur bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die Staatsräson der Souveränität ist künstlich und erst durch die Polizei, einer Polizei, die der städtischen Strukturen bedarf, um funktionieren zu können, lebendig. „Das sind die Institutionen, die der Polizei vorangehen. Die Stadt und die Straße, der Markt und das Straßennetz, das den Markt versorgt. Daher kommt es, daß die Polizei im 17. Und 18. Jahrhundert wesentlich, glaube ich, unter der Perspektive dessen vorgestellt wurde, was man die Urbanisierung des Territoriums nennen könnte. Es handelt sich im Grunde darum, aus dem Königreich, aus dem ganzen Territorium eine Art von Großstadt zu machen, so daß das Territorium wie eine Stadt, nach dem Vorbild einer Stadt und genauso vollkommen wie eine Stadt geordnet sein würde. […] verkaufen und kaufen, daß die Städte nur existieren konnten, weil es eine Polizei gab, die dieses Zusammenleben, diesen Verkehr und diesen Austausch regelte. Die Polizei als Existenzbedingung der Urbanität.“17

17 Ibid., 483.

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Diese fixierende Gouvernementalität stellt Foucault jener der ÖkonomInnen gegenüber, die lediglich unterstützend ist, deren Polizei nicht strafend, sondern ausgleichend und organisierend auftritt. Man könnte in diesem Sinne argumentieren, dass mit der Gouvernementalität der ÖkonomInnen, mit dem Willen zur Erschaffung eines neuen Gleichgewichts die Zeit der Großstadt als territorial ausgebreitetes Gebilde an ihr Ende gekommen ist. ,Mit der Ökonomie stirbt die Stadt.‘ Wäre eine gewagte These, die ich dennoch kurz so stehen lassen möchte. Was sagt sie aus? Nicht viel mehr, als dass es keine Städte mehr gibt, wenn man unwillig ist, Grenzen, Risse oder Brüche in der Darstellung eines Territoriums, der Organisation des Lebens, mitzudenken. Wenn das Ziel Gleichgewicht und Ausgeglichenheit ist, so bleiben keine Gründe zwischen Stadt und Land zu unterscheiden, es wird sinnvoll von Besiedelung zu sprechen und jene so homogen als möglich zu denken. Im Zeitalter der Ökonomie wird entweder alles Stadt genannt oder nichts. Was nicht mehr von Interesse ist, sind Eruptionen des Zusammenlebens, Konflikte architektonischer, materieller oder menschlicher Art; kurz: Merkmale des Städtischen als kritischer Raum. Während die Disziplin am Bau, an der Stadtplanung, am Mitdenken der Zukunft in einer Skizze interessiert war, liegt der zeitgenössischen Gouvernementalität wenig an den architektonischen Strukturen des Zusammenlebens, ihr Gegenstand ist ein anderer. Die Stadt der Regierungstechnik des Liberalismus, welche Foucault mit Beginn des 18. Jahrhunderts datiert, wird durch eine Serie von fünf staatlichen Interventionsgegenständen konstruiert, durch die Gesellschaft, die Ökonomie, die Bevölkerung, die Sicherheit und die Freiheit.18 Herrschaft soll nicht mehr gebaut werden, sondern wird, wenn es die richtige ist, von der Gesamtheit der natürlichen Phänomene19, der Bevölkerung selbst gewünscht und erschaffen. Jedoch wäre es falsch zu glauben, dass damit gemeint ist, dass jede Einzelne am besten ihre Wünsche formulieren könne. Den wahrhaft ausgeglichenen Menschen vermögen nur die Wissenschaften vom Menschen zu bestimmen. Die Stadt der ÖkonomInnen kennt den Ausnahmezustand vermeintlich nicht mehr, sie ist ein natürliches Kontinuum, ein Fließen verschiedenster Ströme, welcher Koordinierung dem Staat zufällt, der als Garant der Synthese folglich nicht mehr zu kritisieren ist, bleibt er selbst

18 Ibid., 508. 19 Vgl.: Ibid., 505.

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doch scheinbar ein Niemand, der unvoreingenommene Betrachter, eine Ermöglichungsmaschine. Zu zwei: Legitimation? Wo kann sie herkommen, wenn lediglich Immanenz herrscht, wenn nur noch Gleichgewicht besteht? Foucaults Antwort ist einfach: Mit der Biopolitik, dem Liberalismus und dem Erstehen der Bevölkerung übernimmt der Markt die Rechtfertigung staatlicher Strukturen. Erfolg ersetzt Legitimität.20 „[Damit (F.H.)] [k]ann man als ,Bio-Geschichte‘ jene Pressionen bezeichnen, unter denen sich die Bewegungen des Lebens und die Prozesse der Geschichte überlagern, so müßte man von ,Bio-Politik‘ sprechen, um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen.“21

Wie kann der Markt Handlungsanleitungen produzieren? Mit Foucault gesprochen wird der Markt im 18. Jahrhundert zum Ort der Rechtssprechung, weil seine Mechanismen es erlauben, eine wissenschaftlich lesbare Natur zu erschaffen, die Garant von Wahrheiten zu werden vermag. Der Markt kann seine Aufgabe als Wahrheitsproduktionsmaschine jedoch nur erfüllen, wenn auch sicher gestellt ist, dass er ,gerecht‘ und damit ,richtig‘ funktioniert, womit die Abwesenheit von Betrug im Spiel der ökonomischen Kräfte sicher zu stellen wäre, wozu wiederum ein Milieu notwendig wird, das Wirtschaft artgerecht passieren läßt. Ein Milieu? „Das Milieu beginnt dort, wo die Natur im Menschen zu sterben beginnt. […] Das Milieu ist nicht die Positivität der Natur, wie sie dem Lebenden geboten wird; es ist dagegen jene Negativität, durch die die Natur in ihrer Fülle dem Lebenden entzogen ist. In dieser Zurückgezogenheit, in dieser Nicht-Natur

20 Vgl.: Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006), 34. 21 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1983), 138.

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setzt sich etwas an die Stelle der Natur, das künstliche Fülle, Welt der Illusion ist, worin sich die Antiphysis ankündigt.“22

Zudem muss nicht ein Staat alleine sein System rechtfertigen, nicht ein nationaler Markt braucht anerkannt zu werden, sondern ein Verbund, die Globalisierung, die kollektive Bereicherung, nach der es nur NutznießerInnen gibt. „Anders ausgedrückt, man findet sich zu einer Globalisierung des Marktes veranlaßt, sobald man als Prinzip und auch als Ziel festlegt, daß die Bereicherung Europas sich nicht durch die Verarmung der einen und die Bereicherung der anderen vollziehen soll, sondern als [eine] kollektive und unbegrenzte Bereicherung.“23

Doch womit geht diese Globalisierung, das Erschaffen und Garantieren eines gewaltfreien Gleichgewichts einher? Kaum verwunderlich: Mit den Projekten vom Frieden und der internationalen Organisation im 18. Jahrhundert, welche die „[…] Übernahme eines Gebots der Natur durch den Menschen in Form von Verpflichtungen“24 sind. Der als natürlich akzeptierte Markt erlangte in seiner Position die Macht, Forderungen an die Bevölkerung zu stellen. Es entsteht der Sicherheitsals Sozialstaat. „Die Garantie des ewigen Friedens ist also tatsächlich die Globalisierung des Handels.“25 Oder noch einmal anders formuliert: „Die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat, der ihr Garant ist.“26 Womit spätestens klar ist, worauf Foucault abzielt: Der marktwirtschaftliche Wettbewerb ist keine natürliche Gegebenheit, sondern „[…] geschichtliches Ziel der Regierungskunst […].“27 Diesem Regierungsziel adäquat ist es nicht, Gesetze zu erlassen, es muss eine spe-

22 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973), 380-81. 23 Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, 86. 24 Ibid., 90. 25 Ibid. 26 Ibid., 124. 27 Ibid., 173.

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zielle Art von Gegenstand definiert werden, auf den die Regierungspraxis einwirken kann, es besteht Bedarf nach der sozialen Umwelt.28 Um diesen Punkt zum Abschluss zu bringen sei noch auf eine sehr anschauliche Textstelle in Foucaults Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik verwiesen, die leicht verstehen lässt, was die Konstruktion einer sozialen Umwelt, im Sinne des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs genau bedeuten kann, die zeigt, was der Staat und seine Institutionen für die SpielerInnen des marktwirtschaftlichen Spiels tun können: „Ich werde dein Feld bearbeiten, sagt der Mann zur Frau, aber nur unter der Bedingung, daß ich mit dir schlafen kann. Und die Frau sagt: Du wirst nicht mit mir schlafen, solange du meinen Hühnern kein Futter gegeben hast usw. In einem solchen Prozeß erscheint eine Art ständiger Transaktion, gegenüber der der Ehevertrag eine Form von globaler Ökonomie darstellen sollte, die es ermöglichte, nicht jeden Augenblick etwas neu aushandeln zu müssen.“29

Ich bleibe im Bild: Weil ich verheiratet bin, muss ich am Feld arbeiten, mit meinem Mann schlafen, die Hühner füttern, kurz: produktiv arbeiten. Andererseits muss ich Mehrwert schaffen, um nicht alleine zu sein, um einen Hof zu haben, um im marktwirtschaftlichen System überleben zu können. Kurz gesagt, ich ergebe mich den Institutionen des Staats und produziere im Sinne einer allgemeinen Bereicherung, wenn die Befriedigung meiner Bedürfnisse gesichert ist. Womit die Hauptaufgabe des Staats in Zeiten der Biopolitik formuliert wäre: Die Bedürfnisse der Individuen sichtbar und im Sinne des Marktes ausbeutbar zu machen. Kurz: Der Staat wird zu dem Ort der Konstruktion des ,ganz normalen Lebens‘. Das Wohlbefinden der Einzelnen stärkt die Kraft der Regierung, der Wirtschaft. Zu drei: Die Disziplin als Traum von der Urbanisierung. Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts bezeichneten Foucault zufolge drei Charakteristika die Stadt. Erstens genossen ihre BewohnerInnen (wenn auch nicht alle, wie wir von Weber wissen) juridische und administrative Besonderheit, zweitens war die Stadt ein befestigter und ummauerter Raum, sowie drittens durch ökonomische und soziale Heterogenität, im Ver-

28 Vgl.: Ibid., 207. 29 Ibid., 340.

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gleich zu ländlichen Gebieten, geprägt.30 Eine weitere Funktion der Hauptstadt war es, Vorbild zu sein, sie sollte die besten Redner(Innen) besitzen, die schönsten Bauwerke ihr Eigen nennen und sie war der Sitz der Akademie. Die Hauptstadt war der Ort der Wahrheitsproduktion. In ihrer Planung ging es demzufolge darum, den Raum einzuteilen. Mit der Öffnung für Handelsbewegungen jedoch galt es vier neue Funktionen sicher zu stellen: Durchlüftung und damit Hygiene, das florieren des Binnenhandels sowie beständige Verbindung mit den Hauptstraßen. Foucault beschreibt ein Projekt für Nantes von Vigné de Vigny, welches das Ziel, die gute von der schlechten Zirkulation zu trennen, durch das Schlagen von weitläufigen Achsen durch die ganze Stadt zu erreichen versucht.31 Zusammenfassend gesprochen: Die Disziplin ordnet die Orte des Lebens so an, dass Leben wünschenswert funktioniert, sie schafft Institutionen, um die Menschen auf ein Ideal hin zu trainieren. Worauf Foucault behauptet, dass die Disziplin der Traum von der Verstädterung ist. Das Städtische kann folglich mit Foucault und in einem Disziplinarregime als das Herausbilden von Institutionen beschrieben werden, die im Übrigen, was nicht vernachlässigt werden kann, Institutionen des Zwangs sind. „Was ist eine gute Straße? Das ist eine Straße, in der es selbstverständlich eine Zirkulation dessen gibt, was man Miasmen nennt, also Krankheiten, und man wird die Straße im Zusammenhang mit dieser notwendigen, obgleich für die Straße wenig wünschbaren Rolle verwalten müssen. Die Straße ist auch das, über das man die Waren leitet, und sie ist gleichermaßen das, an dem entlang es Läden gibt. Die Straße ist auch das, über das die Diebe gehen können, eventuell die Aufrührer usw. Es sind also diese ganzen verschiedenen Funktionen der Stadt, die einen positiv, die anderen negativ, doch es sind die ersteren, die in der Gestaltung ermöglicht werden müssen.“32

Bedeutet dies unspektakuläre Zirkulieren nun tatsächlich, dass es vorbei ist mit der Stadt in unserer undisziplinierten Zeit? Völlig widersprechen möchte ich dem nicht. Doch wäre eine weitere These denk-

30 Vgl.: Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, 28-29. 31 Vgl.: Ibid., 37. 32 Ibid., 38-39.

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bar: Leben wir möglicherweise in einer neuen Stadtform, in Zentren des Begehrens? Organisierte die Disziplin die Räume des Lebens, so setzt die Sicherheit, die Ausgeglichenheit auf eine Kultur des Wohlfühlens. Womit tatsächlich auch das Ende des städtischen Lebens angesagt ist, denn, möchte man die Stadt gemäß, meines Vorschlags, als Dichte, Kritik und Existenz, als materiellen Übersetzungsraum, als Übersetzung denken, wird dies möglicherweise einzig bedingend, sich nicht heimelig zu fühlen, nicht reibungslos mitten im Geschehenden zu gleiten. Womit jedoch meine Frage noch nicht ausreichend beantwortet ist, blieb es doch unpraktikabel, die perfekt inszenierte Innenstadt zu errichten. Widerständig ist das Wünschen der KonsumentInnen, innerhalb der Institutionen des Kapitalismus, geblieben, fühlt man sich doch kaum wohl in den angesagten Malls, empfindet man das Selbstsein doch zumeist als falsch. Folglich; es gibt sie noch die Stadt, noch ist das Leben unschön, noch sind Bereiche des Konflikts geblieben. Seltsamerweise scheint es unmöglich, die Begierden aller Menschen zu bündeln! Randbemerkung: Die Stadt ist immer dort, wo das gute Leben nicht ist. Sie ist die Heimat derer, die nicht haben, sondern hoffen. Zeit und Papierraum drängen mich zum letzten Punkt dieses Textteils überzugehen: Wie kann, nach all den angerissenen Denkmöglichkeiten, nach der Vermehrung von Unklarheiten anstelle der Erschaffung von Transparenz, dem Auffinden von Brüchen und nicht Begriffen, dennoch über Stadt als solche gesprochen werden? Gibt es die Stadt als Begriff? Ich bin verleitet zu schreiben: Natürlich gibt es die Stadt nicht als Begriff! Doch wäre eine solche Aussage, ich möchte sagen, seicht. Ein solcher Spruch wäre brauchbar für einen Wahlkampf der philosophischen Richtungen, der mir nie ein Anliegen sein wird. Womit gesetzt sei: Die Stadt kann auch begrifflich gefasst werden, da wir über sie sprechen und auch verstanden werden. Kurz gesagt, wir begreifen, was eine Stadt ist. Woraus die notwendige Änderung meiner Fragestellung folgen muss: Welche Art von Begriff kann Stadt erfassen?

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Ich möchte vorschlagen die Aussage Stadt mit Hilfe Foucaults Archiv zu beschreiben.33 „All diese Aussagensysteme (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, Archiv zu nennen. […] Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht.“34

Die Stadt wäre damit eine Ansammlung von Aussagesystemen. Von Aussagen? Die Aussage geht über den Satz hinaus, sie ist materiell existent, so Foucault.35 Zeichen beherrschen zwar ihre Form, bleiben aber selbst von den Aussagen abhängig, denn erst als Aussage, in ihrer Realisierung, erhält eine Sprache Existenz. Die Aussage ist demnach „[…] eine Existenzfunktion, die den Zeichen eigen ist […]“36 Aussagen sind selbst keine Einheiten, sondern das aktivierende Moment eines Zeichensystems. Sie sind eine Funktion, „[…] die ein Gebiet von Strukturen und möglichen Einheiten durchkreuzt und sie mit konkreten Inhalten in der Zeit und im Raum erscheinen läßt.“37 Die Aussage hat es damit weniger mit Inhalten zu tun, als mit Positionen, die es erlauben zum Subjekt, aktiv zu werden, die es erlauben, Sprache zu aktualisieren. „Eine Formulierung als Aussage zu beschreiben besteht nicht darin, die Beziehungen zwischen dem Autor und dem, was er gesagt hat (oder hat sagen wollen oder, ohne es zu wollen, gesagt hat) zu analysieren; sondern darin, zu be-

33 „In einem Archiv sollte eigentlich unerbittliche Ordnung herrschen. Das Archiv ist ganz einfach der auskristallisierte Wunsch nach einer geordneten Vergangenheit. Damit dynamische und gehetzte junge Leute hereinflitzen, sich eine bestimmte Akte, einen bestimmten Bohrkern aussuchen und mit genau diesem Ausschnitt der Vergangenheit wieder hinausflitzen können.“ (Peter Høeg, Fräulein Smillas Gespür für Schnee (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2008), 94.) 34 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1981), 186-87. 35 Vgl.: Ibid., 145. 36 Ibid., 126. 37 Ibid., 126-27.

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stimmen, welche Position jedes Individuum einnehmen kann und muß, um ihr Subjekt zu sein.“38

Kaum verwunderlich; es muss gemäß dieses foucaultschen Textstücks ein „Aussagefeld“39 geben, das ein begrenztes Maß an Sprechpositionen bereitstellt. Der Aussagemöglichkeiten Eingeschränktheit vermag sicher zu stellen, dass Aussagen als Bündel, als einem Diskurs40 zugehörig erscheinen können. Das Umfeld einer Äußerung legt schlussendlich auch das fest, was der Aussage als geäußerter notwendig zukommt: ihre Materialität. „Nicht ein stoffliches Fragment sichert die Identität der Aussage, sondern deren Identität variiert mit einem komplexen System von materiellen Institutionen.“41 Die Aussage verleiht einer sprachlichen Einheit demnach nicht Sinn, sondern setzt sie mit einem „Objektfeld“42 in Verbindung. In der Analyse, die Foucault durchzuführen gedenkt gilt es damit „[…] den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren.“43 Das Archiv ist folglich ein System, das Aussagen ermöglicht, jedoch nicht indem es Zeichen zur Verfügung stellt, sondern indem es entscheidet, was tatsächlich formuliert werden kann und was nicht. Kurz, es legt die Relevanz von Aneinanderreihungen fest, spricht wildem Text den Status zu, etwas auszusagen. Des Weiteren erlaubt das Archiv Grenzen zu ziehen, es ist auch „[…] das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht.“44 Kurz gesagt, das Archiv sind alle Mechanismen, Formationsregeln und Über-

38 Ibid., 139. 39 Ibid., 144. 40 „Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. […] Schließlich kann jetzt das präzisiert werden, was man ,diskursive Praxis‘ nennt. […] Sie ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.“ (Ibid., 17071.) 41 Ibid., 150. 42 Ibid., 154. 43 Ibid., 182. 44 Ibid., 187.

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setzungsmöglichkeiten, die Existenz hervorbringen, es ist damit unschreibbare Geschichte, die als Totalität nicht erfasst werden kann, müssten doch alle Aussagen eines Zeitraums untersucht werden. Doch, so scheint es Foucault, je weiter Untersuchende von einem Bündel Aussagen getrennt sind, desto klarer treten dessen Realisierungsmechanismen hervor.45 Woran ich zweifeln möchte: Ist es nicht viel eher so, dass im Laufe der Zeit, zumindest in dem Zeitraum, den wir Vergangenheit nennen, also bisher, Aussagen einfach als geäußerte vergessen wurden, womit die Menge zur Untersuchung übersichtlicher wurde? Oder wäre es eben genau diese ,natürliche Selektion‘, eben jener Mechanismus des Vergessens, dem Foucault Arbeitszeit einräumen möchte; könnte nicht dieses Vergessen eine Möglichkeit dafür bieten, nur mehr das präsent zu haben, was weiterhin für die eigenen Umstände von Bedeutung ist? Könnte das Vergessen nicht der Eingrenzung eines aktuellen Interesses dienstbar gemacht werden? Wichtig ist auch darauf hinzuweisen, dass Foucaults Interesse nicht ausschließlich wissenschaftlichen Aussagen gilt, er nicht nur das analysiert, was im Bereich der „Episteme“46 passiert. Damit komme ich wieder zur Stadt, die ich als Archiv begreifen möchte, wohl wissend, den foucaultschen Gedanken damit Gewalt anzutun. Die Stadt als Archiv könnte wie ein Mechanismus, ein Umstand, ein Phänomen, das es erlaubt, etwas auszusagen, gedacht werden. Die Stadt ermöglicht Aussagen in Form von Wänden, Zeitungen, Treffen oder Ritualen und Umgangsformen, die Stadt stellt PartnerInnen zur Verfügung, die mir als Grundvoraussetzung für den Drang zur Aussage erscheinen. Sie verdichtet unterschiedlichste Formen und Inhalte, deren Konfrontation selbst nach einem neuen Modus des Aussagens, des Wirklichwerdens verlangt. Und in all diesen Eigenschaften entspricht die Stadt dem, was man ein „historisches Apriori“47, wie Foucault das Archiv bezeichnet, nennen könnte. Womit die Formationsregeln eines städtischen Diskurses, in seinem Wunsch Konfusion

45 Ibid., 189. 46 „Die Analyse der diskursiven Formationen, der Positivitäten und des Wissens in ihren Verhältnissen zu den epistemologischen Figuren und den Wissenschaften haben wir, um sie von den anderen möglichen Formen von Wissenschaftsgeschichte zu unterscheiden, die Analyse der Episteme genannt.“ (Ibid., 272.) 47 Ibid., 184.

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aktuell werden zu lassen, solche im Entstehen wären, die Stadt würde – und man halte sich immer meine Vorannahme vor Augen, die knapp gesprochen lautet: Die Stadt ist Dichte, Kritik und Existenz – so auch Garant für den Machtverlust von Diskursen werden. In der Stadt verliert jeder Diskurs aufgrund von beständig an sich arbeitenden Institutionen, deren Macht es ist, Aussagen zu ermöglichen, an Funktionalität. Ein anzustrebender Stadtdiskurs wäre demnach einer, der über die Auflösung von Diskursen spricht. Über die Stadt zu sprechen bedeutet, einen Diskurs zu praktizieren, der immer das erscheinen läßt, was übrig bleibt, der sich mit dem Abfall, dem unkontrolliert Verwendbaren des Zusammenlebens beschäftigt.48 „,Wir bestehen aus Geschichten.‘ Das ist ein Gedanke, der in seiner Einfachheit selbst einem Kind verständlich wäre. Wenn es sich denn dabei bewenden ließe. Denn wir sind Geschichten innerhalb anderer Geschichten. Geschichten in Geschichten in Geschichten. Endlos werden wir weiter in den Hintergrund

48 Und jetzt werde ich verrückt! Mit einem Denker wie Foucault zu arbeiten bedeutet, was ja auch der Stadt als Eigenschaft zukommt, immer irgendwie falsch zu liegen. Spricht man von der Stadt als Archiv, so ist klar, dass man dies auch immer in einem speziellen Diskurs tut (in welchem?). Wenn ich dann dazu übergehe zu sagen, was das Praktizieren eines Stadtdiskurses bedeutet, so widerspreche ich meiner Aussage, dass die Stadt ein Archiv ist, da das Archiv vielmehr die Heimat unterschiedlichster diskursiver Praktiken ist, denn selbst ein Diskurs. Es sei mir jedoch ausnahmsweise erlaubt, beides zu behaupten, dass die Stadt ein Archiv ist, weil sie das Erstehen von Diskursen ermöglicht, sowie darüber zu sprechen wie ein Stadtdiskurs passieren kann, vielleicht ist es ja eben so, dass ich im Reden über den Stadtdiskurs das festzulegen versuche, was mich aussagen läßt, dass die Stadt ein Archiv ist, oder auch nicht. Treffe ich überhaupt Aussagen? Foucault meint, dass eigentlich sehr wenige Aussagen passieren und das meiste, was geredet wird, ein Kommentar ist, um den Sinn einer dieser wenigen Aussagen besser zu verstehen. Ich zweifle damit am Aussagestatus meines Texts, bezieht er sich doch zu stark auf anderes und breche damit diese Seitenstraßenreflexion ab, um alle Entscheidungen der hier angesprochenen Fragen den LeserInnen zu überlassen, von denen ich hoffe, dass es sie geben wird, dass sie existente, kritische Wesen sind und in hoher Dichte heranströmen!

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gedrängt, immer wieder in neue Rahmen gesetzt, bis wir für uns selbst nicht mehr lesbar sind.“49

S EX . D AS F UNDAMENT

EINER

S TADT ?

Michel Foucault möchte in seiner Geschichte der Sexualität darauf hinweisen, wie das Wissen über einen Gegenstand das Existieren der Menschen einer Epoche als Ganzes beeinflussen kann. Im Folgenden werden Verstrickungen zwischen dem Wissen von der Stadt und dem von der Sexualität herausgearbeitet. Es wird erneut die Frage gestellt, welchen Einfluss die Wissenschaften vom Leben und Zusammenleben, sowie jene von der Anordnung des städtischen Materials, auf die Grenzen der Freiheit der Bevölkerung – die an sich schon Produkt und Ermöglichungsbedingung von bestimmtem Wissen ist – einer bestimmten Zeit nehmen. Zentral wird in diesem Abschnitt die Frage sein, wie die Stadt zu verorten ist, zwischen Freiheit und Wissen. Das Aussprechen und Analysieren des eigenen Verhaltens, die Orientierung einer Regierungsform an den scheinbaren Wünschen ihrer dennoch unterworfenen Bevölkerung führt nicht unbedingt zum freien Leben, sondern vielleicht eher zu freiwilliger Angepasstheit, wie man Foucaults These zusammenfassen könnten. In diesem Kontext wird die Frage nach der Askese als widerständige Form interessant. Stadtmenschen, wenn sie KritikerInnen sein sollen, sind im besten Fall AsketInnen im Foucaultschen Sinn, erfinden eine bestimmte Art des Handlens und Sprechens, führen fremde Wissensformen ein. Das Reden über Sexualität erlaubt es, versteckte Welten sowie scheinbare Freiheitsangebote sichtbar zu machen. Im Studieren des Redens vom Sex50, im Erforschen der mit ihm verknüpften Verbote

49 Vladislavić, Johannesburg. Insel aus Zufall, 134. 50 Sex, des Sexes, der Sexus, Sexualität – Ein Feuerwerk von Worten dieser Art bestürmt einen im Lesen von der Wille zum Wissen. Ein Umstand, der weiter nicht verwunderlich erscheint, ist der Sex doch Thema des Autors. Dennoch könnte man einen Hintergedanken in dieser repetetiven Verwendung eines Ausdrucks vermuten, der dem alltäglichen philosophischen Sprechen doch eher fremd ist. Man könnte unterstellen, dass solcher Art Verwendung zur totalen Sinnentleerung eines Wortes führt, dass Foucault im beständigen Wiederholen des Wortes Sex eben das, was man einen Be-

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wie Gebote – denn auch gut muss er sein, möchte man einer gegenwärtigen Gesellschaft entsprechen – hofft Michel Foucault, einen nicht alltäglichen Weg der Charakterisierung von Lebensarten einzuschlagen. Der Diskurs über den Sex erlaubt es, so Foucault, eine Lebensform als Ganze zu beschreiben, eine Lebensform, deren Merkmal es ist, besonders viel vom Ausleben im Dunkel ans Helle zu bringen. Der europäische Diskurs über Sex möchte, zu Lebzeiten Foucaults, ein in die Freiheit führender sein. Der Sprechenden Anliegen ist das Abschütteln fremd auferlegter Regeln. Das Reden vom Sex im 20. Jahrhundert soll der Emanzipation dienen. Das Studieren des verbalen Kampfes um sexuelle Befreiung, oder besser gesagt, das Untersuchen einer Vergangenheit, gegen die man sich absetzen möchte, unter deren Macht die Gegenwart zu leiden scheint, soll Foucault es erlauben, beispielhaft über die Schwierigkeiten von Befreiungsdiskursen nachzudenken. Foucault interessieren die allgemeinen Regeln des Lebens einer Gesellschaft, die einflussreich von den Wissenschaften vom Körper, von der Hygiene und damit nicht zuletzt von der Organisation des ,natürlichen Paarungsverhaltens‘ bestimmt ist. Es handelt sich folglich bei Foucaults Studie, die zuerst als eine Geschichte der Sexualität daher kommt, um eine Reflexion zum Thema: Wer kann wie sprechen und hat all dies Gerede überhaupt einen Sinn? Mit der Hilfe von Foucaults Forschungen wird es möglich, sich drei Fragen anzunähern, die es, im Streben nach Autonomie, dringend zu beantworten gilt. Drei Fragen können mit Foucault formuliert werden, deren Beantwortung es erleichtern könnte, sich selbst oder andere als Sprechende sowie Gehörte im alltäglichen Kontext zu etablieren. Wozu sollen wir überhaupt sprechen? Wie können wir sprechen? und schlussendlich: Wer spricht? Ein gewöhnungsbedürftiger Interpretationsvorschlag? Ich meine nicht so sehr. Was ist eine Wissenschaft vom Sex? Wovon spricht sie und inwiefern hat sie mit dem Zusammenleben, mit Städten zu tun? Die Wissenschaften, deren Thema die Sexualität ist, haben vor allem das Ziel, Wissen über die Menschen einer Stadt anzusammeln, sie tragen den Inhalt von (un)freiwilligen Geständnissen – medizinische Berichte; das Notensystem, das vorgibt zu enthüllen, was die Menschen

griff davon nennen möchte, suspendiert. Somit auch formal passiert, was Foucault inhaltlich verfolgt, die Entleerung eines Begriffs zum Zwecke der Aufladung mit Praxis, sehr grob gesprochen.

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selbst nicht wissen; Talkshows usw. – zusammen, um die Menge betrachteter Individuen aufspalten zu können, um neue, kleinere, damit besser zu verwaltende Gruppen, gebildet nach einander verwandten Elementen, herzustellen. Die Wissenschaften vom Menschen schaffen in ihrem Wirken Arten von Status, sie erlauben es, sich als Frau oder Mann zu betrachten, die/der unter bestimmten Umständen etwas tun kann und unter guten Voraussetzungen erfolgreich ist. Die Wissenschaft erlaubt mir, mehr über mich und mein Tun zu wissen als ich es vor ihrer Existenz vermochte, erlaubt mir an Lebenswünschen zu basteln, die, im durch die anerkannte Form von wissenschaftlichen Denken erstellten Milieu oder institutionellen Geflecht, Erfüllung erfahren. In einem durch die Wissenschaften erschaffenen Raum vermag nur das wissenschaftlich benannte Individuum einen Platz zu finden. Ein Befreiungsdiskurs hat demnach die Aufgabe, neue Sprechpositionen zu erschaffen, neue Wissenschaften zu erfinden. Inwieweit dies dem Diskurs vom Sex gelingt, sei einstweilen dahin gestellt. Foucaults Versuch ist es, im Gewand des Reizthemas Sexualität mehr über die Macht zum Sprechen zu erfahren. Fraglich wird uns51 „[…] daß man davon spricht, wer davon spricht, [es (F.H.)] interessieren uns die Orte und Gesichtspunkte, von denen aus man spricht, die Institutionen, die zum Sprechen anreizen und das Gesagte speichern und verbreiten, kurz die globale ,diskursive Tatsache‘, die ,Diskursivierung‘ des Sexes.“52

Der Sex ist damit ein geschichtliches Dispositiv.53 Er erlaubt bestimmte Machtbewegungen, Ordnungen und Wissensformen. Worüber im Folgenden zuerst nachgedacht werden soll. Chronologisch möchte ich darauf Foucaults Band II und III seiner Geschichte der Sexualität durchgehen, welcher Material nun weniger der genannten Frage zu entsprechen vermag: Wozu sprechen? – Um

51 Es sei mir erlaubt, mich an dieser Stelle etwas kumpelhaft an Foucault anzulehnen, meint dieses uns doch ihn und mich, als Spießgesellen in einem Arbeiten für mehr Lebensfreiheit. Vielleicht würde er sich ja freuen, dass er auch im 21. Jahrhundert einer Studentin noch Mut und Hoffnung schenkt. 52 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, 19. 53 Vgl.: Ibid., 105.

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sich nicht völlig einer Herrschaftsordnung auszuliefern. – als vielmehr helfen kann nach Orten, Praktiken und Subjekten zu greifen, zu fragen: Wie sprechen? Wer spricht?. Es sind demnach Fragen nach dem Sprechen der Wahrheit, nach der Produktion der wahren Rede, nach der Erfindung von Wissenschaften, die Foucaults Interesse auf sich ziehen. Denn die Wahrheit, die vom Sex gesprochen werden kann, ist keine gegebene, sie ist das Produkt einer speziellen Art von Askese, einer besonderen Art von Wissenschaft, heute, oder Lebenskunst, damals, in der griechischen und römischen Antike. Die Wahrheit vom Sex ist demnach eine gemachte Wahrheit, die sexuelle Befreiung nicht bloßer Widerstand entgegen ein Herrschaftsverhältnis, sondern der Versuch, ein Spiel mit der Macht zu erlernen, deren Ort ein beständig bewegter ist. Befreiung bedeutet neue Legitimationen des Sprechens zu erreichen. Wie Foucault zu Beginn des zweiten Buches zum Gebrauch der Lüste anmerkt, bedeuten Selbstbestimmtheit und Einsicht sowie Befreiung damit nicht bloße Opposition, sondern Sorge um sich selbst zu tragen. „Der Bereich, den ich analysiere, wird von Texten konstituiert, die Regeln, Hinweise, Ratschläge für richtiges Verhalten geben wollen: ,praktische‘ Texte, die selbst Objekte von ,Praktik‘ sind, sofern sie geschrieben wurden, um gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt zu werden, und sofern sie letzten Endes das Rüstzeug des täglichen Verhaltens bilden sollten.“54

Eine Geschichte der Sexualität nennt damit das Thema gemachte Wirklichkeit ihr eigen, eine solche Erzählung kann nur als Studie über das Rüstzeug des täglichen Verhaltens funktionieren, muss kurzum über Arten des Zusammenlebens, die Städte sprechen. Jede moralische Handlung wird so zum Teil einer speziellen, die Erkenntnis begünstigende, Art des Lebens. Die mir zu stellenden Fragen müssen lauten: Wie kann das städtische Leben moralisch werden? oder: Wie sieht eine städtische Moral aus? oder: Warum soll die von Foucault beschriebene asketische Lebenshaltung gerade eine städtische sein? Festzuhalten ist: Die fou-

54 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989), 20.

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caultsche Erkenntnis und damit Moral ist nicht jedem zugänglich, es braucht Konditionierung. Diese Moral ist demnach keinem Naturmenschen, sondern immer nur dem bereits kulturell geformten Menschen möglich, sie ist eine gebaute und keine gefundene Moral. Womit erneut auf eine Stoßrichtung meiner Arbeit hingewiesen ist: Von der Stadt zu sprechen bedeutet für mich nicht nur, über Interventionsfelder zu reden, sich um Orte des Lebens zu kümmern, sondern auch eine Veränderung der Strukturen manches philosophischen Denkens vorzuschlagen. Endlich in dieser allgemeinen Darlegung erster Gedanken sei der Sex noch einmal erwähnt. Das Reden vom Sex wird in einer solchen, der kulturell geformten Welt zentral, da das WIE der städtischen Fortexistenz zur Garantie wird, DASS die Stadt überlebt. Denn erst Konventionen erlauben es, Sicherheit gebende Institutionen, wie die der Ehe, zu rechtfertigen, erst sie offerieren ,Männern und Frauen‘ bevorzugte Orte des Lebens. Wozu sprechen? Der Sex als Dispositiv „Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.“55

Was will ein Diskurs der sexuellen Befreiung? Er versucht vorherzusagen, er gibt ein Versprechen: „Der gute Sex ist nahe.“56 Dieser Diskurs der Emanzipation beansprucht langsam „[…] die Wahrheit über den Sex zu sagen und seine Ökonomie im Wirklichen zu modifizieren […]“.57 Dieser Diskurs versucht, Zukunft zu schenken, scheinbar falsche Regeln und Gesetze wegzuargumentieren. Foucault formuliert drei Einwände zum emotional aufgeladenen Kampf entgegen sexuelle Unterdrückung, drei Fragen, die das Problem: „[…] weshalb sagen wir

55 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, 96. 56 Ibid., 14. 57 Ibid., 16.

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mit solcher Leidenschaft, mit solchem Groll gegen unsere jüngste Vergangenheit, gegen unsere Gegenwart und gegen uns selbst, daß wir unterdrückt werden?“58 umkreisen. „Erster Einwand: ist die Repression des Sexes tatsächlich historisch evident? […] Zweiter Einwand: gehört die Mechanik der Macht und zumal diejenige, die eine Gesellschaft wie die unsrige ins Spiel bringt, tatsächlich im wesentlichen zur Ordnung der Unterdrückung? […] der dritte Einwand: unterbricht der gegen die Unterdrückung gerichtete kritische Diskurs den Lauf eines bis dahin unangefochten funktionierenden Machtmechanismus, oder gehört er nicht vielmehr zu demselben historischen Netz wie das, was er anklagt (und zweifellos entstellt), indem er es als ,Unterdrückung‘ bezeichnet?“59

Wurde der Sex historisch unterdrückt? Natürlich. Es wäre falsch, Foucault an dieser Stelle als Traditionalisten zu lesen. Anders formuliert jedoch könnte eben diese foucaultsche Frage auch lauten: Sind wir jetzt freier als früher? Oder werden wir ebenso effektiv, wenn auch andersartig beherrscht? Oder, noch einmal: Warum sprechen wir vom Sex? Weil wir frei sind? Oder weil wir dies eben gerade nicht sind? Die „Polizei des Sexes“60, sie arbeitet nicht mithilfe strikter Verbote, sie versucht den Sex zu zähmen, ihn politisch zu instrumentalisieren, sie formuliert Identitätsangebote.61 Wie die christliche Pastoral den Sex zum Geheimnis machte, so wurde es zum Merkmal moderner Gesellschaften „[…] ihn als das Geheimnis geltend [zu (F.H.)] machen.“62, ausführlich und wissenschaftlich von ihm zu sprechen. Diese „scientia sexualis“63, sei damit angenommen, ist bloß eine neue Form von jetzt lustvoller Konditionierung. Mit der Wissenschaft vom Sex wird „[…] die Lust an der Wahrheit der Lust […]“64 erfunden. Diese Wissenschaft erst erlaubt Universalismus im Reden von der Sexualität. Die scientia sexualis unterscheidet sich von der „ars erotica“,65 der

58 Ibid. 59 Ibid., 17-18. 60 Ibid., 31. 61 Ibid. 62 Ibid., 40. 63 Ibid., 61. 64 Ibid., 74. 65 Ibid., 61.

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Kunst vom Lieben, einem harten und endlosen Training, im Suchen der einen Wahrheit vom Sex, wogegen die ars erotica als beständiges Erlernen des Kontext sensiblen Agierens steht. Kurz gesagt, in Europa – der Heimat der Wissenschaft vom Sex – kann jede und immer Sex praktizieren, kennt sie die Wahrheit ihres Tuns. Die Wissenschaft, die Garant des guten Sexes wird, ersetzt das Beziehungen eigene Spiel der Mächte, sie entwirft Lebenspläne für jede einzelne Person, die Lust bereiten. „,Sexualität‘ ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann.“66 Das historische Dispositiv Sex ist demnach ein Komplex von Regeln, die einander wechselseitig bestätigen und ermöglichen. Es setzt sich aus Machttechniken zusammen, „[…] die nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der Kontrolle, und die sich auf Ebenen und in Formen vollziehen, die über den Staat und seine Apparate hinausgehen.“67

Lustvoll konnte dieses Dispositiv jedoch nur werden, weil seine Methoden verschleiert sind.68 Es sind ganze Leben, die erfunden werden. Nicht die Verbote einzelner Tätigkeiten organisieren das Zusammenleben. Wir glauben damit eben deswegen besonders authentisch ,sexuell zu verkehren‘, weil eine „Gesellschaft als imaginäre Institution“69 uns umfängt, damit ganze Existenzen gleich ausgerichtet sind, wir in sämtliche Rituale so Einsicht erhalten, uns als Teil ihrer erkennen und keiner Verbote mehr bedürfen. Kurz: Ein Dispositiv erlaubt es, an Kohärenz im eigenen Leben zu glauben. Subversion kann damit bedeuten, die Einheit, Selbst aufzulösen. Subversion bedeutet, schizoid zu werden? „Man kann sagen, daß der Schizophrene entsprechend den ihm gestellten Fragen und im Zuge raschen Gleitens von einem Code zum anderen übergeht, alle Codes durcheinanderbringt, daß er von einem Tag auf den anderen seine Er-

66 Ibid., 105. 67 Ibid., 90. 68 Ibid., 86-87. 69 Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie.

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klärungen ändert, Genealogien fallen läßt, die Art und Weise, gleiche Ereignisse aufzunehmen, wechselt, ja daß er sogar, wenn er nicht irritiert ist, dem ihm aufgedrängten banalen Code des Ödipus zustimmt, stets aber bereit, ihn mit den Disjunktionen, die fernzuhalten diesem Code aufgegeben ist, erneut zu füllen.“70

Der Macht des Stadtdiskurses, der ein Teil des Dispositivs Sex ist (der Macht des Diskurses vom Sex, der Teil des Dispositivs Stadt ist?), kann nur durch unauffällige Transformation des eigenen Lebens begegnet werden. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“71 Es wird damit notwendig, „[d]en Sex ohne das Gesetz und die Macht ohne den König zu denken“,72 das politische Denken mit der Trägheit des Materials, mit all den nicht zum Thema passenden und störend intervenierenden Elementen aufzuladen, nicht über die Verwirklichung von Theorien zu sprechen, sondern sofort in der Stadt – die als Ort von Beziehungen zu verstehen ist, als System – zu denken zu beginnen. „Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“73 Wozu soll gesprochen werden? Möchte man dem Ziele der Schaffung größerer Autonomie dienlich sein, so gilt es zu sprechen, um verschiedenartige Beziehungen herzustellen, um neue Momente ins Spiel der Mächte einzubringen. „Kommunikationsbeziehungen setzen zweckrationales Handeln voraus (und sei es nur die ,korrekte‘ Anwendung bedeutungstragender Elemente), und schon weil sie den Informationsstand der Partner verändert, induzieren sie Machteffekte.“74

70 Gilles Deleuze and Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 224 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1974), 22-23. 71 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, 96. 72 Ibid., 92. 73 Ibid., 94. 74 Michel Foucault, „Subjekt und Macht“, in Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2007), 93-94.

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Was bedeutet das Vorangegangene schließlich für die von Foucault gestellten Fragen? Deren erste gelautet hat, sinngemäß: Ist eine mit Machtmechanismen durchzogene Gesellschaft eine unterdrückende? Nicht unbedingt, erlauben doch Machtspiele Widerstand. Im Kämpfen um Macht wird Widerstand in seiner Vermischtheit mit unterschiedlichsten Arten von Beziehungen zum Versuch, keine Versteinerung einer Situation zu zulassen, Widerstand wird zu einem Unternehmen, dessen Bemühung es ist, ein Wechseln von Mächten zwischen verschiedenen Polen sicherzustellen. Machtverhältnisse können so als Motor von Kreativität verstanden werden, als Ausdruck von Respekt, von Interesse am Gegenüber. Nur aus Anerkennung wird es notwendig, die eigene Macht, das eigene Wissen in eine Beziehung mit einzubringen, da in einem Gespräch es Wertschätzung bedeutet, der anderen als Widerstand zu dienen. Machtverhältnisse provozieren folglich immer neue Arten, sich aufeinander und zur Welt zu beziehen, sie verbieten die Lethargie im Denken. „Statt von einem wesenhaften ,Antagonismus‘ sollten wir hier besser von einem ,Agonismus‘ sprechen – einem Verhältnis, das durch gegenseitiges Antreiben und Kampf geprägt ist und weniger durch einen Gegensatz, in dem beide Seiten einander blockieren, als durch ein permanentes Provozieren.“75

Zweitens: Gehört der Diskurs über den Sex zu dem selben historischen Gebilde, welches er anklagt? Diese Frage sei positiv zu beantworten. Positiv sowohl im Sinne von ja, als auch optimistisch. Denn es ist nicht wenig, was der Diskurs über den Sex geleistet hat, er hat grundlegende Transformationen eben dieses historischen Konstrukts vorgenommen. Was heißen soll, dass „[…] diese ,Revolution‘ des Sexes, dieser ganze ,antirepressive‘ Kampf nicht mehr – aber auch nicht weniger, und es ist nicht wenig – als eine taktische Verschiebung und Wendung im großen Sexualitätsdispositiv bedeutete.“76 Die Macht der Wahrheit vom Sex nun findet ihren Ausgang in den Städten des 19. Jahrhunderts, in der Cholera Epidemie von 1832, in Prostitution und Geschlechtskrankheiten, in Nähe und Wohnungsnot, sowie im ökonomischen Druck – Foucaults historische Forschungen bleiben auf Frankreich beschränkt. Die Reproduktion der Arbeiter-

75 Ibid., 98. 76 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, 128.

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schaft ist im 19. Jahrhundert zentral, um die Löhne niedrig und die Maschinen am Laufen zu erhalten, weshalb das funktionierende Familienleben, welches eng an eine besondere Sexualmoral gebunden ist, sicher gestellt sein musste. Wie schon Wallerstein, so legt im Zuge dieser Gedanken auch Foucault eine neue Art, das Ereignis der französischen Revolution zu interpretieren, vor. Foucault meint, dass die Revolution mehr die Geburtsstunde von Normalisierungsmechanismen war, denn das Ereignis des Hochhaltens einer schriftlichen Verfassung, wie es Foucault zufolge bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen kann.77 Askese – das subversive Sprechen Askese, wie zu Beginn angesprochen, soll eine neue Form von Wissen erlauben, das die herkömmlichen Institutionen der Wissensproduktion möglicherweise zu unterwandern erlaubt. Die AsketIn vermag es, sich auf alternativen Wegen Zugang zum Sprechen in der Stadt – Ort und Raum, nach Michel de Certeau78 – zu verschaffen. Sie bricht mit falschen LehrmeisterInnen, um der Vergleichbarkeit zu entgehen, um neue Wahrheiten auszusprechen. Sie entzieht ihr Selbst den bekannten Sicherheiten, macht sich auf in die Stadt – Raum –, beziehungweise an einen Ort, der kaum beständig ist, immer wieder neu gegründet werden muss, um von dort ihre Stimme zu erheben, Aktionen zu setzen. Wenn wir in einem Zeitalter der Regierung unserer Lüste leben, wenn die Humanwissenschaften nicht bewusst gemachte Wünsche, dem Leben der Bevölkerung ablesen, so scheint nur eine letzte Weise des ,sich frei Machens‘ zu bleiben: Die Askese. Die Askese ist Foucault zufolge damit nicht der Preis der Vernunft, folglich ein notwendiges Übel, sondern zentral und dem Philosophieren wesenhaft verbunden, sie ist der einzige Weg zur Erkenntnis, zur Moral.79 „Der ,Versuch‘ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selbst und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu Zwecken der Kommu-

77 Vgl.: Ibid., 139. 78 Siehe Seiten 42-43 dieses Texts. 79 Vgl.: Michel Foucault, „Vorrede zur Überschreitung“, in Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2007), 8.

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nikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken.“80

Die AsketIn erprobt sich selbst, sie setzt ihr Wissen endlos aufs Spiel, um die Verhältnisse ihres Daseins unentwegt neu festzulegen. Geschriebene Texte werden zum Werkzeug dieser philosophischen, kritischen Lebensform. Der Text erhält innerhalb eines philosophischen Lebens seine Funktion als Erkenntnismittel. Das Lesen und Schreiben kann der PhilosophIn so gesehen nur in der Weise dienen, als diese Tätigkeiten ihr helfen, Gedanken zu bündeln, sich klarer zu werden im Tun. Die Texte einer asketischen Philosophie sind demnach solche, die es erlauben, am Ende des Tages zusammenzufassen. Material gebend ist für das Aufgezeichnete folglich nicht unbedingt ein Text aus dem Korpus des Wissens – die Schreibenden gehen nicht nur kommentierend vor – sondern möglicherweise auch das an jenem speziellen Tag Erlebte oder eine bewegende Tagträumerei. Die Philosophie wird so zu einer Methode kräftig, weil überlegt im Leben zu stehen.81 Kräftig und überlegt sein, des Begehrvermögens mächtig, das war schon das Talent von Sokrates, welches ihn zur Wahrheit begabte. Nur weil Sokrates es als Einziger vermochte, schreibt Foucault, „[…] seine Hand nicht an die herausfordernde Schönheit des Alkibiades zu legen.“82 galt er als Wissender. Foucault schließt aus dem Beispiel Sokrates, dass nicht die einzelne Handlung moralisch messbar gewesen ist, dass im antiken Athen nicht das Überschreiten von Verboten verachtet war, sondern vielmehr eine nicht Kohärenz im Leben der Glaubwürdigkeit abträglich werden konnte. Sokrates wurde aus dem Grunde glaubwürdig, weil er scheinbar seiner selbst zu befehlen vermochte, weil seine Lebensführung eine moralische war, damit alle seine Handlungen legitim, weil innerhalb des richtigen Ordnungssystems überlegt. „Es gibt keine einzelne moralische Handlung, die sich nicht auf die Einheit einer moralischen Lebensführung bezieht; keine moralische Lebensführung, die nicht die Konstitution als Moralsubjekt erfordert; und keine Konstitution

80 Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, 16. 81 Vgl.: Ibid., 269. 82 Ibid., 31.

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des Moralsubjekts ohne ,Subjektivierungsweisen‘ und ohne ,Asketik‘ oder ,Selbstpraktiken‘, die sie stützen.“83

Es sind Unmäßigkeit und Künstlichkeit als schlechte Eigenschaften, die dem Natürlichen, dem öffentlich Machbaren gegenüber stehen, denn die „[…] Unmäßigkeit der ,Künstlichkeit‘ […] besteht darin, die Wollust in der Befriedigung außernatürlicher Begierden zu suchen […]“.84 Konsequent nur ist damit, alles Natürliche im öffentlichen Raum zu praktizieren. Als Teil des guten Lebens ist das ,natürliche Tun‘ Element einer funktionierenden Polis, argumentiert Foucault mit Diogenes Laertios. Was geboten ist, so wie Essen und Lieben, die Befriedung von Bedürfnissen, soll gezeigt werden. Darüber, Bedürfnisbefriedigung zu sein, vermag und darf nun jedoch auch keine der einmal öffentlich gemachten Tätigkeiten mehr hinausgehen.85 Wie der Zugang zur Öffentlichkeit der Polis, ist damit auch das Partizipieren an der Moral mit Rang und Stand verbunden. Nicht kann nur nicht jede moralisch sein, sondern es darf dies ,reine‘ Leben auch gar nicht allgemein erhältlich geben. Nur die Verantwortlichen brauchen Einsicht zu nehmen, nicht bloße ReproduktionsarbeiterInnen. Die Kritik der SklavInnen, als ArbeiterInnen der griechischen Polis war nicht erwünscht, ihre Lebensverhältnisse konnten durchaus unreflektiert bleiben. Rein ausführende Arbeit scheint demzufolge der moralischen, der von Aufklärung erfassten Lebenspraxis gegenüber zu stehen. Was bedeutet es nun, sich selbst als ein Wesen von Verhältnissen zu konstruieren, innerhalb von reflektierten Beziehungen zu sich selbst, zu anderen, zu den Dingen? Das Individuum, das durch Abstände zu einer Umwelt bestimmt ist, kann in Analogie zur Stadt durchdacht, erforscht werden. Verfolgt man diesen Gedanken, so müssen Ethik und Politik einander strukturell entsprechen. „Im Unterschied zur Unmäßigkeit ist akrasía keine überlegte Entscheidung für schlechte Prinzipien; sie ist eher mit den Städten zu vergleichen, die gute Gesetze haben, aber nicht fähig sind, sie anzuwenden; der Unenthaltsame läßt sich wider Willen und trotz seinen vernünftigen Grundsätzen hinreißen, sei es, weil

83 Ibid., 40. 84 Ibid., 76. 85 Vgl.: Ibid., 73.

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er nicht die Kraft hat, sie anzuwenden, sei es, weil er nicht genügend reflektiert hat.“86

Platon schreibt über die perfekte Polis, dass jene zwar nicht verwirklicht ist und im Himmel liegt, Philosophierende sich jedoch selbst als Stadt, als moralisches Individuum zu gründen vermögen, indem sie sich an eben jenem Beispiel des idealen Zusammenlebens abarbeiten.87 Im Sinne Platons ist es sowohl Pflicht der StädterInnen schön und gesund zu sein, als auch der Polis schöne Kinder zu schenken.88 Lebensziele, die jede BürgerIn, jedes Mitglied einer Gemeinschaft im Befolgen einer je individuellen Diät zu verfolgen hat. Wie die Frau sich gekonnt unterordnen lernen soll, so bedarf der Mann einer Diät, die ihm das Herrschen erleichtert. „Die Praxis der Diät erfordert eine ,umständliche‘ Wachsamkeit, eine sowohl scharfe wie auch umfassende Aufmerksamkeit auf die Außenwelt, ihre Elemente, ihre Empfindungen […]“89 Es gilt Klima, Jahreszeiten sowie die Lage der Heimatstadt in die Erstellung des eigenen Lebensplans mit einzubeziehen. Das Ziel der Diät ist nicht die Behandlung eines passiven Körpers, sondern das aktive sich Pflegen, das Erlernen von Flexibilität, nicht des Gehorsams. „In dieser Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, daß es die Regel seiner Handlungen verallgemeinert; sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlungen individualisieren und modulieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, indem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen.“90

Moral ist damit das Produkt einer Wechselwirkung zwischen Orten und Denken, einer gegenseitigen Beeinflussung von Leben und Reflektion. Woraus folgt, dass ,schlechte Rituale‘ das Denken vergiften, dass es Lebensorte und Praktiken geben kann, die jede Moral und Reflektion verunmöglichen, sowie bevorzugte, das Denken befruchtende

86 Ibid., 86-87. 87 Vgl.: Ibid., 95-96., Vgl.: Platon, Der Staat (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007), 592 a-b. 88 Vgl.: Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, 159. 89 Ibid., 138. 90 Ibid., 82-83.

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Umgebungen. Die Heterotopien, die Foucault beschreibt, sind die anderen Orte, sie dienen dem Rückzug, der Meditation, der Entspannung. „Jeder hat Zutritt, doch wenn man eingetreten ist, stellt man fest, dass man einer Illusion aufgesessen und in Wirklichkeit nirgendwo eingetreten ist. Die Heterotopie ist ein offener Ort, der uns jedoch immer nur draußen lässt.“91

Die Heterotopien „[…] stellen alle anderen Räume in Frage […]“, sie schaffen eine Illusion, „[…] welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt […]“92. Ein solcher Ort ist das Bordell. Das Bordell ist, wo die Illusion gelebt wird, es ist ein Ort der Wunscherfüllung und zum Träumen, es ist der andere Ort, sowie der Ort für alle, der Gemeinplatz, in welcher letzten Beschreibung ich das Bordell im Gedächtnis behalten möchte, als private Agora.93 Zu Beginn des III. Teils seiner Geschichte der Lebensregeln, dem Buch zur Sorge um sich, spricht Foucault über die Traumdeutung des Artemidor. Artemidor möchte nicht entscheiden, ob ein Leben oder Handlungen moralisch sind, sondern analysiert, ob es von Vorteil ist, dieses oder jenes zu träumen. Seine Traumdeutung ist ein Wissen, das aus Traumbildern auf Ereignisse im Wirklichen zu schließen erlaubt. Das Bordell nun vermag es in beinahe keiner Traumkonstellation Gutes vorherzusagen, man könnte behaupten, dass es als Gemeinplatz, als Ort aller für die Abschaffung jeglicher Hierarchien einsteht. Das Bordell, könnte man argumentieren, gilt als ungünstig für Träumende, weil es ein Ort der allgemeinen Angleichung für seine KundInnen ist. Fraglich wird, wie es kommen konnte, dass plötzlich jene Natürlichkeit des Triebes, das öffentliche Lieben des Diogenes, nun ein Unglück zu weissagen vermag? Wie konnte die Agora zum Bordell werden? Oder noch einmal anders formuliert: Wie konnte die zuvor anzustrebende öffentliche Gleichheit aller – Männer aus reichem Hause – zu einer bedrohlichen Vorstellung werden?

91 Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe mit CD, 18. 92 Ibid., 19. 93 Vgl.: Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989), 30.

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Foucault beschreibt die Philosophien der hellenistischen Zeit als Philosophien der Flucht, damit als Denk- und Lebensformen der Rückkehr ins Private.94 Man lebte nicht mehr in einer Polis, die immer mit den Stadtstaaten einherzugehen scheint, vielleicht sogar eher Staat denn Stadt ist, sondern findet sich in einer Welt wieder, die städtisch ist, deren Regeln verloren gegangen sind. Die Stadt ist demnach von einem Ort der scheinbar natürlichen Organisation zu einem bewusster Kultivierung geworden. Nicht mehr sind die Unterschiede im Status unmittelbar zugänglich, sondern sie müssen nun zur Schau getragen, äußerlich abgebildet werden. Die Beschäftigung mit dem Selbst tritt an die Stelle von stadtbürgerlichem Engagement.95 Angemerkt sei, dass nicht nur der Verlust von äußerer Anerkennung eines Standes jenes Macht verschwinden ließ, sondern ebenso ein Mangel an Identifikationswillen und -können der damit Begabten. Mit dem Verlust von festen Identitäten beginnt ein Kampf um sich selbst, eine neue Kunst des Lebens muss erlernt werden. Foucault zitiert Seneca: „Seinen Charakter gibt sich jeder selbst, über seine Dienste entscheidet der Zufall“96. Es gilt demnach zu lernen, sich selbst in einer zufälligen Umwelt treu zu bleiben. „In dem dichten Netz der Macht steht man nie allein seinen Feinden gegenüber; von allen Seiten ist man Einflüssen, Intrigen, Komplotten, Widrigkeiten ausgesetzt. Um in Sicherheit zu sein, müßte man dafür sorgen, ,jeden Anstoß zu vermeiden. Bald ist es das Volk, welches wir zu fürchten haben, bald die in ihm einflußreichen Männer … bald einzelne, denen die Macht über das Volk und gegen das Volk übertragen worden ist.“97

Die Selbstsorge antwortet einer Situation, in der die Stadt zur Tatsache geworden ist, wie Rom zu Senecas Zeiten, ihre GründerInnen nicht mehr benötigt um fortzubestehen. Sie antwortet einer Lebensgemeinschaft, die zu dicht für ihre Institutionen geworden ist, welchen Einzelne nun nicht mehr aufgrund ihres bloßen Menschseins – das zwar auch nie jede meint –angehören, sondern erst nach Beweis ihrer Würdigkeit, erst aufgrund von allgemeiner Anerkennung.

94 Vgl.: Ibid., 110. 95 Vgl.: Ibid., 117. 96 Seneca nach Foucault: Ibid., 127. 97 Ibid., 125.

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Doch: Wie kann man sich selbst als und in der Stadt beständig neu gründen? Erstens dürfen keine falschen LehrmeisterInnen bestimmend sein. Die Techniken der Selbstpraxis dienen dem Ziel, die ungeprüften Lernwahrheiten zu vergessen, zu verlernen. Ein neuer Mensch, ein neues Individuum muss sich autodidaktisch erschaffen. Es muss Einsicht ins Selbst genommenen werden. Die AsketIn ist eine Kämpfende für das reflektierte Leben, doch nicht fähig bei letzten Wahrheiten anzukommen. Die AsketIn darf folglich beanspruchen, wenn auch nicht ganz Recht, so immerhin etwas mehr Recht zu haben. Die Sprechenden und damit Mächtigen sind in diesem Sinne Selbstsuchende. Wie wird gesprochen? Zuerst muss in jedem Fall gesprochen werden, soll der Lebensstil ein moralischer sein, da die Selbstpraxis wesentlich mit dem eigenen Verhältnis zu anderen Menschen und Dingen zu tun hat. Gesprochen wird nun zögerlich, würde ich sagen. Das Stottern wäre, um es etwas überspitzt auszudrücken, die vorzuziehende moralische Sprache, das Stottern, das als Ausdrucksform Gestalt ist für immer nur halbfertige Beschreibungen des richtigen Handelns, für das Problem, keine klaren Worte mehr finden zu können. Das Stottern ist das beständig sich wiederholende Sprechen. Die Aussagen der StotterIn werden in ihrem Zusammenhang nicht fassbar. Die Stadt scheint mir der prädestinierte Ort des Stotterns zu sein, weil man zumeist die gesprochene Sprache leidlich versteht, weil Dinge, Mächte und Materialen die Klarheit des Blickes trüben und weil schlussendlich die Stadt ein Ausgeliefertsein an die anderen Sinne, an das Gehör, an das Schmecken, das Fühlen bedeutet, damit zu jenen Phänomenen des Lebens gehört, die nicht nur von Begriff sind, die nicht als Ganzes, sondern nur im ständig neu Anlaufnehmen gesagt werden können. In der Stadt leben bedeutet demnach, immer wieder ein eigenes Haus dazuzubauen, einen neuen Versuch zur Verwirklichung einer Vorstellung vom guten Leben anzugehen, nur um im Tun abgebrochen zu werden. Sowie den Stotternden der Grund ihres Scheiterns nie völlig einsichtig zu werden vermag, so intervenieren in der Stadt auch zumeist unfassbare Kräfte. Die Stadt ist eine Baustelle, die es erlaubt, Aufklärung aus der je eigenen Perspektive zu bringen, sie ist der Ort von Kritik, die immer abbricht, bevor sie zur Theorie zu werden vermag.

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S TÄDTISCHE AUFKLÄRUNG , EINE P RAXIS OHNE B EGRIFF ? „Die Kuppeln, die Kirchen, die Türme, die strenge Geometrie der neuen Wohnviertel, die sich von San Giovanni in Laterano ins grüne Tal der Nymphe Egeria, nach den Grabstätten der Barberini hin erstrecken, schienen aus einer harten weißen, mit blauen Schatten durchäderten Materie zu bestehen. Schwarze Raben erhoben sich von den roten Gräbern der Via Appia. Ich dachte an die Adler der Cäsaren und errötete. Ich bemühte mich, nicht an die Göttin Roma auf dem Kapitol zu denken, nicht an die Säulen des Forums, nicht an den Purpur der Cäsaren. ,The glory that was Rome‘, sagte ich zu mir selbst, errötend. An diesem Tage, in diesem Augenblick, an diesem Ort wollte ich nicht an das Ewige Rom denken. Es gefiel mir, an Rom zu denken als an eine sterbliche Stadt, die von sterblichen Menschen bewohnt wird.“98

Es sind nicht die ehrwürdigen Ruinen, nicht akkurat verwirklichte Strukturen des Lebens, nicht beeindruckend gealterte Straßen, die Cuizo Malaparte aufwühlen, die ihn erröten lassen und ihm die Fassung rauben beim Einzug nach Rom, der Hauptstadt seiner Heimat, seines Lebens. Nicht das Alte, das Geplante und für die Ewigkeit konstruierte schenkt ihm Erinnerungen an das, was Rom ist, was eine Stadt ist. Malaparte, der selbst zwar Italiener ist, in die Wirren des zweiten Weltkriegs jedoch in merkwürdiger Weise eingewoben scheint, der als Opportunist und prinzipienloser Mensch beschrieben werden kann, führt die Soldaten der alliierten Mächte nicht nur in ein Rom der Steine, sondern ebenso sehr zu den Menschen, ins Zentrum seiner Selbst, seines Landes. Die ganze Szenerie mutet grotesk an. Der in Malapartes Roman „Die Haut“ geschilderte Militärzug wird eher als Sightseeingtour für alles haptisch erfassen wollende US-amerikanische Soldaten vorstellig, denn als kriegerische Aktion. In „Die Haut“ beschreibt Malaparte das Leben im Krieg, die Macht der Gewalt über die Menschen, sowie die morbiden Auswirkungen einer militärischen Befreiung auf das Stadtleben. Doch wovon bleibt Malaparte zu sprechen, wenn es nicht die Bauten, die Plätze, die Strukturen des Lebens sind, die erzählt werden? Welche Stadt im Krieg bleibt ihm zu beschreiben? Wovon Malaparte spricht sind Gier, Lust

98 Curzio Malaparte, Die Haut (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008), 332.

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und Ausschweifung. Befreit zu werden bedeutet für Malaparte, seine Kinder für ein Päckchen Zigaretten zu verleihen, sich selbst zum Kaufe anzubieten, sich in Gebieten fremder Herrschaft bewegen zu lernen. Wovon spricht Malaparte, wenn er Neapel beschreibt, wie es sich in Ekel, im Alkohol oder der Prostitution verliert? Erzählt er vom Krieg. Oder doch nur von einer Stadt? Ist es lediglich die Eigenschaft einer Nachkriegszeit, dass die Sesshaften einer Stadt ihre Persönlichkeit, ihren Körper an die Kommenden, an die KonsumentInnen, die zumeist nur kurz verweilen, für Geld abgeben? Nicht unbedingt, scheint mir, spricht doch auch René Pollesch, wenn Sie sich an den Anfang meines Texts erinnern möchten, der Zeitgenosse und Theatermacher ist, in seinen Stücken von der Immobilität jener, die noch gerne Arbeiter wären, sowie vom Gleiten der Angehörigen des Managements durch globale Netze, über das Sony Gebäude in Berlin, das hier doch eigentlich gar nicht beheimatet ist, sondern in Dubai oder anderen Orts. Spricht damit nicht auch Pollesch von einer neuen Art eines merkwürdigen PartisanInnen-Daseins, eines nicht an der scheinbar allgemeinen Moral orientierten Durchkommens, das einer die Handlungsmacht verlierenden, örtlich gebundenen Stadtmenschenschaft bleibt?99 Malaparte und Pollesch stehen in meinem Text für eine besondere Behauptung ein, die lauten könnte: Es gibt nicht die eine Stadt, sondern Netze, Tätigkeiten, Kriege und Hoffnung, einen Haufen von Menschen und Materialen, die ineinander verschlungen oder lose nebeneinander Gebiete erzeugen, die wir Stadt nennen, oder auch nicht, die Räume definieren, wo kontrovers gelebt wird. Diesen informellen Räumen stehen feste Strukturen gegenüber, die Institutionen der Besatzungsmacht, jene des Kapitals, sozusagen Städte zweiter Ordnung, Städte, die am Stück überblickt werden können, Orte, an denen nicht gestorben wird, um im Bild Malapartes zu bleiben, dessen Weg nach Rom die Gräber der ehrwürdigen und unsterblichen Wesen dieser Stadt belagern. Es ist somit wieder ,die Theorie der zwei Städte‘, wie ich sie auch schon mit Wallerstein auszuformulieren versucht habe, die mir auch dieser Orts wieder vertretbar erscheint. Wie gewöhnlich schlage ich mich auch dieses Mal wieder auf die Seite jener, die lernen müssen, im durch das Globale besetzen Raum der Stadt fortzuleben, da es ihnen finanziell nicht gegeben ist, das Stadtleben zu verlassen. Neue Chancen für die sesshaft Gemachten, für mich, die ich

99 Vgl.: Pollesch, „Stadt als Beute. nach spaceLab“, 9.

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mich aus dieser Gruppe nicht auszuschließen wage, sollen überlegt werden. Anschließend an Foucault, an das Reden vom asketischen Leben, dessen Hauptmerkmal die beständige Auseinandersetzung mit dem Selbst, den Anderen und den Dingen ist, gewinnt das nächste Thema an Gewicht, die Frage nach der Form städtischer Aufklärung. Warum stellt sich diese Frage? Ich meine, dass das Leben von Stadtmenschen, die sich nicht mehr auf feste Strukturen verlassen können, die so beständig über ihre Taten nachzudenken haben, im besten Fall dem einer AsketIn entspricht, womit eine spezielle Art von Moral verbunden ist, wofür nach entsprechenden Formen des Denkens und Tuns von Aufklärung gefragt werden muss. Beginnen wird mein Weiterdenken mit Michel de Certeau, der einer allgemeinen, alltäglichen RednerIn ihr Recht auf Wissen zuspricht. Zweitens soll Foucaults Vorschlag zur Aufklärung besprochen werden, um zuletzt mit Bruno Latour nach dem Ort der Wissenschaften sowie dem der Philosophie innerhalb jenes von mir eröffneten Durcheinanders eines städtischen Denkens fragen zu können. Ziel dieses Textabschnitts ist nicht nur eine Diskussion der foucaultschen Gedanken, sondern auch der Abschluss dieses ersten Teils Stadt?. Schlussendlich möchte ich noch einmal Malaparte aufrufen. Die Beschreibung seiner selbst, die er abliefert, zeigt vorrangig die eigene Unehrenhaftigkeit. Malapartes Text präsentiert sich als Versuch, eine unlineare, oft scheinbar prinzipienlose Handlungsweise unter dem Blick der LeserIn zu rechtfertigen. Es gelingt Malaparte, in der Schilderung seiner Traurigkeit auch tatsächlich die LeserIn einzuweihen, in seinen Weg der Anpassung, der Verlogenheit, des sich zum eigenen Vorteil Verbiegens, ja sogar in die offen ausgesprochene Verachtung großer Ideen von Gleichheit und Freiheit. Doch nicht nur ein einnehmender Stil erscheint mir als Grund für Malapartes Erfolg, sondern auch eben dies eine Prinzip, das doch alle Handlungen des RomanIchs anleitet. Das Prinzip nicht töten zu wollen. Zumindest in seinem Roman „Die Haut“ bleibt Malaparte ein am Krieg Leidender, dessen Ziel zu sein scheint, nicht für Frieden oder Gerechtigkeit zu kämpfen, sondern im Moment die aktuell von Unheil betroffenen Personen wichtig zu nehmen. In dieser Haltung scheint er mir einen Typ abzugeben, den Typ Stadtmensch, dem es nicht mehr erlaubt ist, weitreichende Pläne des Zusammenlebens zu schmieden. Malaparte zeichnet in seinem Roman eine Figur, die sich beständig am Konkreten abarbeiten muss.

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Mit der Infrastruktur gegen die Herrschaft: Michel de Certeaus parasitäre Taktiken Ähnlich wie Immanuel Wallerstein behauptet auch Michel de Certeau eine Abhängigkeit zwischen einer flüchtigen Stadt der multiplen Handlungen und den stabilen Rahmen des Lebens. De Certeau verweist auf die Möglichkeiten der Stadtmenschen, auf ihre Chancen, von fremden Orten zu profitieren. Er behauptet, dass die bewegte Stadt sich als parasitärer und flexibler Raum darstellt, damit aber auch nicht ohne Massenmedien, Wirtschaft und Politik, nicht ohne von Herrschaft geprägten Strukturen auskommt, an welchen Chancen zur Mitsprache verwirklicht werden, sich eröffnen können. Kurz: Die ,Stadt der Sterblichen‘ benötigt feste Strukturen, die ich nun jedoch auch nicht unbedingt als städtisch bezeichnen muss, sondern vielleicht sogar als staatlich. Staatlich, ein Wort, das wiederum im Sinne des Vorangegangenen gelesen werden möchte, und damit als Ausdruck für feste Strukturen des Zusammenlebens, für Orte des Geldes und für Herrschaftszentren einsteht. Die Stadt wäre demnach der staatlichen Strukturen Anhängsel, ein Zwischenwesen, das sich in den Lücken der Gesetzgebung herumtreibt, wo es Aufgabe des Städtischen ist, alle die, deren Wünsche im Staatsapparat seit geraumer Zeit nicht mehr repräsentiert sind, zu Wort kommen zu lassen. Der gute Staat wäre in diesem Sinne einer, der sich seines unperfekten Funktionierens bewusst ist, der das Zwischenwesen Stadt, angesichts der Erkenntnis seiner eigenen Hilfsbedürftigkeit, zu unterstützen versucht. Was bedeuten soll, dass ein bestimmtes Augenmerk bei der Verteilung staatlicher Gelder vonnöten ist; dass, um es etwas zu praktisch auszudrücken, nicht in polizeiliche Plakate und Durchsagen in den U-Bahnen investiert werden soll, sondern all die KünstlerInnen finanziell unterstützt werden könnten, die mit ihren Schaunummern und Malereien den oft traurigen Arbeitsalltag der ,acht-fünf Uhr GeldverdienerInnen‘ verschönern, die vor der Angst einflößenden Einsamkeit in öffentlicher Infrastruktur beschützen. Die Aufgabe eines ,funktionierenden‘ Staats wäre damit die Selbstreflexion, das Erkennen der eigenen Ohnmacht und die finanzielle Anerkennung sämtlicher öffentlicher Initiativen der StadtbewohnerInnen. „[…] die STADT ist nur ein Name. Und die Identität, die dieser Ort verschafft, ist um so symbolischer (auf den Namen bezogen), als es, trotz der Ungleichheit

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der Positionen und Einkünfte der Einwohner, nur ein einziges Gewimmel von Passanten gibt, ein Netz von flüchtigen, der Zirkulation entzogenen Unterkünften, eine Durchquerung von scheinbar eigenen Orten und ein Universum von gemieteten Orten, die von einem Nicht-Ort oder von geträumten Orten bedrängt werden.“100

In Michel de Certeaus Text „Kunst des Handelns“ kulminiert die Spannung zwischen fester Struktur und gespenstisch, ja beinahe unsichtbar arbeitender Stadt in der Unterscheidung zweier ,Gebiete‘ des Lebens; dem Ort und dem Raum. Diesen beiden ,Wohnungen‘ entsprechen zwei Arten der menschlichen Praxis; die Strategie und die Taktik. Ich möchte mit de Certeaus Unterscheidung zwischen Ort und Raum beginnen, zweitens mich den Begriffen Strategie und Taktik annähern, um schlussendlich über die KonsumentIn als Handelnde im städtischen Kontext zu sprechen. „In diesem Sinne erzeugt die Motorik der Fußgänger eines jener ,realen Systeme, deren Existenz eigentlich den Stadtkern ausmacht‘, die aber ,keinen Materialisierungspunkt haben‘. Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum.“101

Die Bezeichnung Ort steht für kartographisch erfasste Gebiete, für Eigentum und Gartenzaun, für klar benannte Einheiten, die sich zu einer Struktur fügen lassen. Der Ort ist eine Flächenprojektion des Gedankens, von Handlungen, er ist die versuchte Verwirklichung einer Utopie, was eine paradoxe Eigenschaft des Orts erscheinen lässt; der Ort ist als Materialisierung der Utopie ein Ort des ,Ort-los‘ Gedachten, er gibt dem Platz, was es doch als materiell Existentes nicht geben kann. Der Ort ist demnach immer gewünschte Struktur, damit in seiner Verwirklichung immer nur anzustreben, jedoch niemals umgesetzt. „Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. […] Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten.“102

100 Certeau, Kunst des Handelns, 198. 101 Ibid., 188. 102 Ibid., 217-18.

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Dieser örtlichen und ordentlichen Art über die Dinge, über Plätze des Lebens zu sprechen, stellt de Certeau die Erfassung von Welt als Raum gegenüber. Der Nachteil jedoch für analytische Beschreibungen entlang der Untersuchungseinheit Raum ist dessen Eigenschaft, nicht von einem Beobachtungspunkt aus beschreibbar zu sein. Kurz gesagt, es ist der WissenschaftlerIn im traditionellen Sinne nicht möglich, über Räume zu sprechen, da sie sich an einem Punkt der Zeitachse eröffnen, erlebbar werden, um daraufhin wieder zu verschwinden. „Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“103

Mit dieser Annahme tritt scheinbar eine Unmöglichkeit klar zutage, die Unmöglichkeit, Räume auf einer Karte einzuzeichnen, sie im Sinne einer Wegbeschreibung auffindbar zu machen. Doch stimmt das? Kaum! Denn was tun wir, wenn wir jemandem den Weg erklären, wenn wir einem Touristen die Erscheinungsform einer Wegkreuzung beschreiben? Wir malen keine Karten, so de Certeau, wir erzählen Geschichten. Mit diesen Geschichten erschaffen wir Michel de Certeau zufolge ein „Handlungs-Theater“104, mit diesen Geschichten erlauben wir die Gründung eines neuen, eines aktuellen Raums zwischen uns selbst und der GesprächspartnerIn. Stimmlos wurde es jedoch bereits angesprochen, kann dieses Abweichen von standardisierten Fußwegen, das Ausweichen in Zwischenräume abseits der Geschäftsstraßen, das Nehmen von Umwegen, die totale Selbstbestimmung der Auslegung von Welt, ihre möglicherweise sogar prosaische Erzählung, erlaubt sein? Am Verbotensein dieser von ihm vorgeschlagenen Art zu denken, zu leben, läßt de Certeau keinen Zweifel: „Wenn der Verbrecher nur überleben kann, indem er sich von Ort zu Ort begibt, wenn es seine Eigenart ist, nicht am Rande, sondern in den Zwischenräumen der Codes zu leben, die er außer Kraft setzt und verändert, und wenn er

103 Ibid., 218. 104 Ibid., 228.

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durch den Vorrang des Weges gegenüber dem Zustand charakterisiert wird, dann ist die Erzählung verbrecherisch.“105

Zum Bankräuber, Mörder oder Taschendieb werden? Kann dies der einzige Weg sein, neue Räume zu eröffnen? Nicht ganz so weit führt uns Michel de Certeau, er empfindet es als ausreichend, zwei unterschiedliche Arten des Handelns, des sich auf seine Umwelt Beziehens, zu unterscheiden; die Strategie und die Taktik. Die Strategie verfolgt die Etablierung einer eigenen Ordnung, sie verwendet eigenes Material und kümmert sich nicht um bereits Vorhandenes. Die Strategie folgt einer Logik, die jeden Hindergrund als weißes Blatt wahrnimmt106, sie ist die Art und Weise der politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Rationalität. Sie besteht auf eigenem Material und Konzept, mit dem sie den „[…] Sieg des Ortes über die Zeit […]“107 zu erringen versucht. „Als ,Strategie‘ bezeichne ich eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution) von einer ,Umgebung‘ abgelöst werden kann.“108

Im Gegensatz dazu nimmt de Certeaus Taktik lediglich den Ort der anderen ein, sie schmarotzt am Material der strategischen DenkerInnen. Sie ist die List der Schwachen109, wie de Certeau den Gedanken von Clausewitz übernimmt. Die Strategien setzen somit „[…] auf den Widerstand, den die Etablierung eines Ortes dem Verschleiß durch die Zeit entgegenhalten kann; die Taktiken setzen auf einen geschickten Gebrauch der Zeit, der Gelegenheiten, die sie bietet, und auch der Spiele, die sie in die Grundlagen einer Macht einbringt.“110

105 Ibid., 237. 106 Vgl.: Ibid., 246. 107 Ibid., 23. 108 Ibid. 109 Vgl.: Ibid., 89. 110 Ibid., 92.

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Verquere Praktiken des Konsumierens sind beispielhaft für taktisches Handeln à la de Certeau, denn sind wir zwar genötigt, uns selbst und unsere Umgebung zu konsumieren, so ist doch nicht gegeben, wie mit den Gütern umgegangen wird. Sich bewusst zu machen, dass Konsum erst die Erschaffung eines Produkts bedeutet, dass er ein industriell gefertigtes Stück Plastik oder Film zu individualisieren vermag, dass er erlaubt, die eigenen Verhältnisse zur Umwelt politisch aufzuladen, möchte uns de Certeau mitteilen.111 Eine spezielle Form des Konsumierens, des sich auf die Dinge Beziehens, lässt eigenen Stil ausbilden, ermöglicht es, sich als mächtiges Individuum zu erschaffen.112 De Certeau lehnt sich demnach argumentierend gegen einen Theoriestrang, der bedauert, dass es kaum Möglichkeiten gibt, sich ins öffentliche Leben einzumischen, der einen Mangel an Repräsentation, an Teilhabe an den Orten der Macht als das Vorzeichen eines Desasters von morgen beschreibt, gegen eine Lehre, der er vorwirft, gescheiterte Theorien des Fortschritts aufrecht zu erhalten. De Certeau kritisiert am herrschenden Diskurs, dass man nicht anging, das wissenschaftliche Modell zu überdenken, als das Streben nach Fortschritt wenig Erfolg versprechend wurde, sondern die Macht dieses Diskurses erneut zu stärken versuchte, indem man von einer anderen Art des Weiterschreitens zu sprechen begann: Dem Fortschritt ins Verderben. Diesem traditionellen, strategischen, wissenschaftlichen Denken möchte de Certeau eine neue Art der Forschung, eine urbanistische Art des Nachdenkens entgegen setzen, einen Weg, der ihm als hoffnungsvoller erscheint. „Anstatt sich an einen Diskurs zu klammern, der sein Privileg aufrechterhält, indem er seinen Inhalt ins Gegenteil verkehrt (also von der Katastrophe spricht und nicht mehr von Fortschritt), könnte man einen anderen Weg einschlagen: man könnte die einzigartigen und vielfältigen, mikrobenhaften Praktiken untersuchen, die ein urbanistisches System hervorbringen oder unterdrücken muß und die seinen Untergang überleben […]“113

Anders formuliert bedeutet dieser Einwand de Certeaus, dass die Macht des Wissens im Beherrschen der Orte durch das Sehen mithilfe

111 Vgl.: Ibid., 21. 112 Vgl.: Ibid., 193. 113 Ibid., 186.

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der panoptischen Praktik114 erzeugt wird, diese Art des Forschens aber den neuen Gegebenheiten eines städtischen Raums nicht mehr entspricht. De Certeau wirft den Wissenschaften vor, die Genealogien, die vergangenen Positionierungen innerhalb von Netzen, die Zerrissenheit der Dinge zu verleugnen. „Diese verleugnete Genealogie wird somit durch ein Schauspiel ersetzt, das das Simulakrum des Gegenstandes mit dem Simulakrum des Autors kombiniert.“115 Das Vergessen der Genealogie, der vielen und unterschiedlichen, der intervenierenden Praktiken einer Vergangenheit, erlaubt es demnach Gründe, Ursprünge, Fehlentscheidungen aufzuzeigen, Wurzeln, auf die ein bestimmtes Szenario von nun an und immer zurückgeführt werden kann. Es können im methodischen Vergessen, in der Erschaffung des wissenschaftlichen Gegenstandes, notwendige Beziehungen hergestellt werden. Doch wie anders Wissenschaft betreiben? Michel de Certeau hängt nicht besonders an seinem Status als Wissenschaftler, eher kokettiert er sogar mit der Vorstellung, dass die Art von Analyse, die seinem Denken eher entsprechen könnte, weniger eine Wissenschaft als eine Kunst sei. „Eingekapselt in die Besonderheit und ohne Verallgemeinerungen, die allein dem Diskurs zukommen, bildet die Kunst dennoch ein ,System‘ und organisiert sich nach ,Zwecken‘.“116 Es ist demnach ein nach individuellen Zwecken fragendes, weniger denkendes als handelndes Arbeiten, welches de Certeau vorschlägt. Um sein Kunstverständnis zu spezifizieren, zitiert de Certeau Diderot: „Wir haben es mit einer ,Kunst‘ zu tun, schreibt er, ,wenn der Gegenstand hergestellt wird‘, und mit einer ,Wissenschaft‘, ,wenn über den Gegenstand nachgedacht wird‘.“117 Womit mein ganzes Reden vom Nachdenken-überetwas Lügen gestraft wird, denn eben genau dies scheint uns de Certeau mitgeben zu wollen: Über Städte reden bedeutet, Städte bauen; und eben dies tut jede in ihren alltäglichen Interventionen am Ort, im Hervorbringen von Räumen. „Die Weg-Figuren ersetzen das technologische System eines kohärenten und zusammenfassenden, eines ,gebundenen‘ und simultanen Raumes durch Wege, die eine mythische Struktur haben, zumindest dann, wenn man unter Mythos

114 Vgl.: Ibid., 88. 115 Ibid., 102. 116 Ibid., 142. 117 Ibid., 139.

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einen Diskurs versteht, der sich auf den Ort/Nicht-Ort (oder Ursprung) der konkreten Existenz bezieht, also eine zusammengestoppelte Erzählung […] Die Figuren dieser stilistischen Metamorphose des Raumes sind die Gebärden. Beziehungsweise, wie Rilke sagt, ,Bäume von Gebärden‘ in Bewegung. […] [E]s handelt sich um ein ,Abirren des Semantischen‘, das von Massen erzeugt wird, die die Stadt an bestimmten Punkten verschwinden lassen und an anderen Stellen wieder wuchern lassen, sie verzerren, zerlegen und von ihrer dennoch unbeweglichen Ordnung abbringen.“118

Dennoch und dies abschließend, in aller Euphorie für Michel de Certeaus inspirierendes und nicht gewöhnliches Denken/Tun von Städten, frage ich mich doch: Warum hat er ein Buch geschrieben? Bin ich an eben jenem Punkt des Stadtdenkens angekommen, wo sich die Stadt der sinnvollen Verschriftlichung eigentlich widersetzt? Vielleicht ist die Frage so falsch gestellt. Denn, will man PhilosophIn sein, muss man ,über Städte nachdenken‘, da sie ein dominantes Phänomen, Problem, Ding, Konstrukt… unserer Gegenwart sind, ob und wie man kann, muss bei jedem Anlauf neu erprobt werden. Aufklärung im Zeitalter der unreinen Erkenntnis Was ist Aufklärung? Was könnte eine städtische Aufklärung sein und welche Vorteile könnte eine solche Denkart bringen? Ich möchte mit Foucault behaupten, dass an Aufklärung interessierte Projekte sich mit drei Verhältnissen beschäftigen sollten; dem einer jeden zu sich selbst, dem zu anderen und jenem zu den Dingen. Ich möchte diese Art von Aufklärung eine städtische nennen, weil sie ihre Widerstände in der Realität, in aktuellen Konfrontationen zu suchen beginnt, im Reiben an der äußeren und inneren Umwelt, weil sie sich mit Konkretem beschäftigen möchte, nicht mit einem allgemeinen Verhältnis zwischen Handeln und Verstand oder Schreiben und Vernunft. Demgemäß kann die städtische Aufklärung immer nur an zeitlich begrenzten Orten passieren und nur, um sich durch neue Gedanken im nächsten Moment anderen Orts wieder korrigieren zu lassen, während Kants Aufklärung von dem zu seinen Lebzeiten scheinbar stattfindenden Zeitalter der Aufklärung übergehen möchte zum aufgeklärten Zeitalter, in dem endlich der Mensch sein maschinelles Dasein zu verlassen vermag, um

118 Ibid., 195-97.

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seine eigentliche Gestalt anzunehmen. Ich möchte zu Beginn kurz Kants Anliegen in seinem Text „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ darlegen, um danach auf Foucaults Text ähnlicher Art „Was ist Aufklärung?“ einzugehen. Ich erhoffe mir von dieser Lektüre Werkzeuge, die es erlauben, Texte mit dem Anspruch der Aufklärung auf das Leben in den Städten hin zu lesen, auf ihre Kraft hin, den konkreten Lebensalltag zu verändern. Der Verstand „[…] ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken […]“119 Der Verstand ist demnach „[…] das Vermögen der Regeln […]“120, während die Vernunft „[…] das V e rmö ge n d e r P r i n z i p i e n [… ]“121 genannt wird, spricht Kant. Ich möchte im Folgenden eine etwas undifferenzierte Kantinterpretation vorführen, die mir im Zusammenhang jedoch hilfreich erscheint: Der Verstand ist das Vermögen, sich entlang notwendiger Regeln eine Welt zu erschaffen, während die Vernunft es erlaubt, sich Maximen zu erstellen, denen zu folgen man in dieser Welt für sinnvoll hält. Aufklärung passiert Kant zufolge nur, wenn die Menschen beginnen, sich ihres Verstandes ohne fremder Anleitung zu bedienen, wenn jede ihr Vermögen zur Erschaffung einer Welt an ihren, durch das Vermögen zur Vernunft erstellten, Maximen orientiert. Wir haben es demnach mit zwei Formen von Talent zu tun, wie ich sagen möchte, die den Menschen von der Maschine122 oder den aufgeklärten Menschen vom Feigling unterscheiden. Fraglich wird nun zunächst, in welcher Art von Medium die Gedanken oder Taten eines jeden zum Ausdruck kommen sollen und ob jede Form der freien Artikulation der Aufklärung zuträglich ist. Kaum verwunderlich lautet die Antwort auf meine Frage, dass es Grenzen geben muss. Natürlich gibt es bei Kant nichts umsonst, natürlich kann Aufklärung immer nur unter gewissen Bedingungen, Ausschlüssen spezieller Handlungsweisen passieren. Um eine Begrenzung des Erlaubten argumentieren zu können, teilt Kant die

119 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1, Immanuel Kant Werkausgabe (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1974), B 76,77 A52. 120 Ibid., B356 A299, 300. 121 Ibid., B 356 A 299, 300. Sperrungen im Original 122 Vgl.: Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Immanuel Kant Werkausgabe (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1977), A 494.

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Formen des Ausdrucks in zwei Arten ein, den privaten und den öffentlichen. Öffentlichen Gebrauch von seinen Gedanken macht nur der Gelehrte – ich verwende hier nur die männliche Form, da Kant „das schöne Geschlecht“ mitunter als „Hausvieh“123 bezeichnet, wenn auch als Kritik am Hausherrn, dem seines Anhangs Weiterentwicklung nur in negativer Weise am Herzen gelegen ist – der sich schriftlich an die Leser wendet, an die „Welt“124, während jeder Lehrer seinen SchülerInnen die staatlich anerkannte Meinung weiterzugeben hat. „[…] der ö f f e n t l i c h e Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu | Stande bringen; der P r i va t g e b r a u c h derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand a l s G e l e h r t e r von ihr vor dem ganzen Publikum der L e s e r w e l t macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten b ü r g e r l i c h e n P o s t e n , oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.“125

Ist diese Vernunft nun, wenn sie als Instrument zur Erfüllung der Maximen anderer antritt, wie es sich für ihren Privatgebrauch schickt, überhaupt vernünftig, wird sie nicht eher zu einem Vermögen, Regeln zu befolgen, so wie der Verstand? Man könnte dies so behaupten. Die weit reichenden Folgen Kants Vorschlag sind nun, dass nur der Gelehrte vernünftig sein darf und dies nur im geschriebenen Wort. Praktische Vorschläge können zwar auch vor den Thron gebracht werden, wirft Kant ein, doch sollen sie nur in Isolation vom gewohnten Lauf der Dinge erprobt werden, nicht mit der Tradition in Konflikt geraten und niemals innerhalb der Dauer eines Menschenlebens Verwirklichung erlangen.126 Aufklärung ist demnach die Sache der gelehrt Schreibenden, die gleichzeitig dem ,Mob‘ das Lesen nach Regeln beibringen, damit Texte gelesen und in den Gehirnen manifest werden, um zu garantieren, sollte es so weit kommen, dass die Menschen ihre Vernunft in schriftlicher Art eines

123 Ibid., A481, 82. 124 Ibid., A488. 125 Ibid., A485. Sperrungen im Original 126 Vgl.: Ibid., A 489, 90.

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Tages ,richtig‘ zu gebrauchen wissen. Kurz: Aufklärung ist der bessere Mechanismus zur Unterdrückung der Werktätigen- oder ArbeiterInnenschicht seit Religion und körperlicher Disziplinierung. Der Wahlspruch der Aufklärung lautet demnach nicht, denke vernünftig über dein Handeln nach, sondern: „Habe Mut, dich deines e i g e n e n Verstandes zu bedienen!“127 Oder anders formuliert: Folge den anerkannten Regeln in bestmöglicher Weise und werde erst so von der Maschine zum Menschen.128 Absurd scheint mir die Grundaussage des Beschriebenen, die ja meint: Mache dich selbst glauben, dass du frei wärst und so soll es sein. Die Aufklärung wäre damit die Denkströmung des kollektiven Selbstbetrugs. Eine paradoxe Denkweise, die mir unserer Lebenssituation in und nach der Moderne jedoch angemessen erscheint. Was hat dies alles nun mit der Stadt zu schaffen? Warum sollte man im städtischen Umfeld nicht in Kantischer Manier verfahren, warum sollten gerade an Orten der Verdichtung die Menschen nicht anstandslos den allgemeinen Regeln folgen wollen? Weil, ganz allgemein gesprochen, zuerst überall niemand Lust hat, die allgemeinen Regeln der Gelehrten zu befolgen, und wenn es auch nur zu unser aller Besten sei, und weil zweitens die Stadt als eine neue Form von Wildnis, als nicht mehr in seiner Ganzheit zu überblickendes Knäuel begegnet, sie eben so neue Chancen eröffnet, neue Medien, wie Wände, Plätze des Treffens, oder verschiedene Arten von Bewegung, um Aufklärung aus eben der eigenen Perspektive zu bringen. Mit dem Leben in der gegenwärtigen Stadt, könnte man sagen, hat es keinen Sinn mehr, sich nur am Denken der Gelehrten festzuhalten, es wird wieder notwendig das Leben zu kennen, die gated communities mit dem Namen Universität zu verlassen und vom Bewegen im Fluss der Städte zu lernen, da jede andere, nicht auch praktisch am Geschehen interessierte Form von politischer Philosophie zwangsläufig der Unwichtigkeit, der Banalität anheim fällt. Womit nicht bestritten sei, dass es nicht immer schon politisch-praktisches Philosophieren gegeben hätte, jedoch ein starkes Signal zur Änderung im gegenwärtigen Denken gesetzt sein möchte, das meiner Meinung nach an der Eitelkeit seiner AkteurInnen, im sinnlosen Streit vermeintlich philosophischer Richtungen zu verdampfen beginnt. Es sei in diesem Sinne ein weiterer

127 Ibid., A481, 82. Sperrungen im Original 128 Vgl.: Ibid., A494.

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Vorschlag zur Beschreibung des städtischen Lebens unterbreitet: Das städtische Leben ist ein pragmatisch geführtes, worin es einer Prinzipienreiterei gegenüber steht, die gerne die Welt einmal aufgibt, anstelle ein vermeintlich unmoralisches Verhalten zuzulassen. Was kann Michel Foucault nun bieten, um mich in der Beantwortung meiner Frage nach der Aufklärung weiter zu bringen? Völlig neu an Kant und spannend ist für Foucault am Text zur Aufklärung, dass Kant sich mit aktuellen Problemen auseinandersetzen möchte, dass er einen Unterschied zwischen zwei Zeitaltern herauszuarbeiten versucht. Doch wie beschreibt Kant seine Unterscheidung von Moderne und Vorzeit? Foucault zufolge sind es keine zeitlichen Abgrenzungen, keine geschichtlichen Daten, die Kant fest macht, sondern eine spezielle neue Haltung soll eingeführt werden, eine besondere Weise sich auf die eigene Umwelt zu beziehen.129 Es ist dieser Versuch Kants, eine Lebensform zu denken, die eine kritische sein möchte; es ist der Wunsch Kants, ein neues Zeitalter, das der Moderne, anzukündigen, was Foucault am Aufsatz zur Aufklärung bemerkenswert findet. „Die Modernität unterscheidet sich von der Mode, die nichts anderes tut als dem Lauf der Zeit zu folgen; sie ist die Haltung, die es ermöglicht, das zu erfassen, was es im gegenwärtigen Moment an ,Heroischem‘ gibt. Die Modernität hat nichts mit einer Empfänglichkeit für die flüchtige Gegenwart zu tun; sie ist der Wille, die Gegenwart zu ,heroisieren‘.“130

Doch meint Foucault, und ich möchte mich ihm darin anschließen, dass es gegenwärtig keiner allgemeinen Kritik der Erkenntnis bedarf, eines Aufzeigens ihrer Grenzen, sondern „[…] dass die kritische Frage heute in eine positive Frage verkehrt werden muss: Welcher Anteil an dem als universal, notwendig und obligatorisch Gegebenen ist singulär, kontingent und willkürlichen Zwängen geschuldet? Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte

129 Vgl.: Michel Foucault, „Was ist Aufklärung?“ in Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2007), 178. 130 Ibid., 179.

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Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.“131

Eine neue Kritik soll demnach Entstehungsgeschichten verfolgen und nicht im Sinne einer Allgemeinheit sprechen, die immer davon lebt, sich gegen das Nichtallgemeine abzugrenzen. „Ich werde folglich das der kritischen Ontologie unserer selbst eigene philosophische ethos als eine historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind, charakterisieren.“132

In dieser geschichtlich orientierten Forschung soll nun nicht betrachtet werden, was die Menschen denken oder was von ihnen gedacht wird, sondern das, was sie tun. Foucaults Anliegen ist Lebenshaltungen in ihrer Geschichte, in ihrer Weise sich mit der Umgebung ins Verhältnis zu setzen, darzulegen. Eine kritische Lebenshaltung wäre dann eben jene, die die beständige Reflexion über die eigenen Geschichten als ihren eigentlichen Sinn erhält, wäre eine Haltung, die sich im immer weiter schreitenden Nachdenken über das Verhältnis zu sich selbst, das zu den anderen und jenes zu den Dingen konstituiert. „Diese philosophische Haltung muss in einer Arbeit verschiedenartiger Untersuchungen zum Ausdruck kommen; diese haben ihre methodoligische Kohärenz in der sowohl archäologischen als auch genealogischen Untersuchung von Praktiken, die gleichzeitig als technologischer Rationalitätstypus und als strategische Spiele der Freiheiten in den Blick genommen werden; sie haben ihre theoretische Kohärenz in der Definition der historisch einzigartigen Formen, in welchen die Allgemeinheiten unserer Beziehung zu den Dingen, zu den anderen und zu uns selbst problematisiert wurden.“133

Zusammenfassend: Eine städtische Aufklärung beschäftigt sich mit dem Ausarbeiten einer neuen kritischen Lebenshaltung. Ich möchte diese Art des Lebens als städtisch beschreiben, weil das von mir vorgeschlagene Städtische auf Dichte verweist, für das gegenseitige Anstoßen von Menschen und Dingen steht. Ich nenne diese von Foucault 131 Ibid., 185. 132 Ibid., 187. 133 Ibid., 190.

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vorgeschlagene Aufklärung, deren Ziel im konkreten Überschreiten von allgemeinen Grenzen liegt, städtisch, weil ich glaube, dass unsere Umwelt erst in der unerwarteten Konfrontation zu unserem Thema wird. Erst wenn wir es als nötig empfinden Kritik zu üben, wird die Lebenshaltung der Aufklärung sinnvoll. Ärger am Gegebenen passiert jedoch erst im Aufprallen, passiert erst, wenn man sich nicht in ein Refugium zurückziehen kann. Aufklärung und Kritik können demnach erst im städtischen Raum ein Anliegen, sinnvoll werden. Womit eine weitere Eigenschaft der Stadt angesprochen wäre: Die Stadt bewohnen bedeutet immer, der Umwelt ausgeliefert leben. Schlussendlich möchte ich den Unterschied zwischen einer städtischen Aufklärung und jener Kants zusammenfassen: Die städtische Aufklärung hat es immer mit konkreten Problemen, Hürden, zu überwindenden Widerständen zu tun, während das kantische Verständnis von Aufklärung auf der Suche nach allgemeinen Möglichkeiten des richtigen Gebrauchs von Vernunft und Verstand innerhalb von Grenzen bleiben muss. Die städtische Aufklärung versucht demnach im Konkreten allgemeine Grenzen zu überschreiten. Anders formuliert: Die Adaption des städtischen Materials, die Nähe zwischen den Menschen, erlaubt es den Sprechenden ohne Ort, deren Rede nicht in hörbarer, weil nicht innerhalb anerkannter Grenzen formulierter Sprache öffentlich wird, alternative Wege der Medialisierung des eigenen Wortes zu gehen. Die Stadt offeriert Möglichkeiten, akzeptierte Identitäten des öffentlichen Verlautbarens zu untergraben. Die Forschung – das Gewicht der Dinge im wissenschaftlichen Diskurs „Wissenschaft besaß Gewißheit, Kühlheit, Reserviertheit, Objektivität, Distanz und Notwendigkeit, Forschung dagegen scheint all die entgegengesetzten Merkmale zu tragen: Sie ist ungewiß, mit offenem Ausgang […].“134

Die Forschung ist Latour zufolge ein „kollektives Experimentieren“135. Beim Forschen handelt es sich um ein Sammeln aller Beiträge, die ein

134 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2002), 31. 135 Ibid.

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Kollektiv von Menschen und Dingen hervorzubringen vermag, sowie um das Knüpfen von Knoten zwischen verschiedenen Sphären, die Einfluss auf die Entwicklung einer Untersuchung nehmen. Als Beispiel nennt Latour Frédéric Joliot, dessen Ziel es war „[…] die Durchführbarkeit der Kernspaltung als Kettenreaktion beweisen […]“, doch bedeutete dies für ihn gleichzeitig „[…] vor Nazi-Agenten auf der Hut sein […]“136 und Geld für seine Experimente aufzustellen oder anders formuliert, den Minister bei Laune zu halten.137 Kurz: Joliot hat es in seinem Streben mit unterschiedlichsten Interessen zu tun, die jedoch so nahe mit der ersten und eigentlichen Aufgabe verknüpft sind, dass sie ein Teil dieser werden. Der Tagesablauf einer WissenschaftlerIn beschäftigt sich demnach vorrangig mit Übersetzungen, mit einem sich anderen Verständlichmachen, mit dem sich jenen Erklären, die Forschungsergebnisse bestätigen sollen, sowie mit dem Sprechen zu einer nicht fachlich vertrauten Öffentlichkeit mit der Aufgabe solchen, die Gelder verteilen, die Notwendigkeit eines Projekts zu vermitteln. Latour zufolge sind es immer erst die anderen, die ein Ergebnis zur wissenschaftlichen Wahrheit erheben können. Kurz: WissenschaftlerInnen arbeiten niemals abgeschlossen gegen ihr Umfeld sowie das Umfeld nie von den Tätigkeiten in den Laboren unbeeinflusst bleibt. Moment! Diese Opposition würde Latour so nicht unterschreiben, denn wichtig erscheint ihm gerade, dass das Tun einer WissenschaftlerIn als Ganzes zu ihrer Forschung zählt, dass es eben diese beständige Arbeit der Übersetzung ist, die das Leben einer WissenschaftlerIn ausmacht. Übersetzung? Man könnte die Tätigkeit des Übersetzens mit Latour als das Überschreiten einer Grenze bezeichnen, demnach vielleicht auch als Kritik, behält man Foucaults Argumentation im Kopf. Grenzen sind jedoch nicht bloße, neutrale Striche, Fäden oder genormte Türchen, sondern immer vom Eingezäunten und Ausgegrenzten beeinflusst. Die Grenze ist in diesem Verständnis der Übergang, den sich eine Handelnde wählt, um mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Womit die Grenze immer durch die Vermischtheit von Form und Inhalt gezeichnet ist, nur als Individuelle ,lebt‘. Das Übersetzen ist die Form, in der Grenzziehungen passieren, Übersetzung kann jedoch niemals ohne konkretes zu Bearbeitendes stattfinden. Latour zufolge

136 Ibid., 105. 137 Vgl.: Ibid., 108.

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formen des Weitern nicht nur Menschen in Worten Übersetzungen aus, sondern Übersetzung ist ebenfalls eine Art und Weise, Dinge der Welt zum Zweck der Untersuchung in Übersichten zu bringen, sie den Sätzen gefügig zu machen. Latour bringt als Beispiel den Komparator138. Der Komparator ist ein Instrument, das Latour beim Begleiten eines Forschungsteams in den Urwald kennen gelernt hat. Jener wissenschaftliche Gebrauchsgegenstand ist ein Ding mit Handgriff und vielen kleinen gegeneinander abgeschlossenen Abteilungen im Inneren, die es erlauben, Gesammeltes nach einer bestimmten Ordnung aufzuräumen, ein Tableau des dem Urwald Entwendeten zu erstellen. Dieses Werkzeug gibt ein starkes Beispiel für das Übersetzen von Dingen in Worte ab, da in seiner Verwendung das Gefundene dem Wort angenähert wird. Der Komparator erlaubt Dinge entlang besonderer Eigenschaften zu ordnen, dies Instrument ermöglicht es ein Portal zu erschaffen, durch welches später die Verbindung zum Urwald wiederhergestellt werden kann. „Die Diskussion, das erworbene Know-how und die physische Manipulation erlaubt es, eine kalibrierte Beurteilung der Textur vorzunehmen, die im Notizbuch sogleich die Erde ersetzt, die man dann wegwerfen kann. Ein Wort ersetzt ein Ding, indem es ein Merkmal bewahrt, durch das dieses definiert wird. […] Ein Zeichen erscheint an der Stelle eines Dings. Es handelt sich also nicht um eine Reduktion, eher um eine Transsubstantiation.“139

Demnach passiert durch verschiedene Arten der Übersetzung eine Verschriftlichung, entsteht durch eine festgelegte Reihe von Transsubstantiationen das, was man das Ergebnis einer empirischen Forschung nennt, wobei zu beachten ist, dass diese Reihenfolge strickt eingehalten werden muss, um ihre allseitige Anerkennung zu genießen. Als wissenschaftliche Wahrheit wird nur das akzeptiert, was auf einem standardisierten Weg gefunden wurde und auf eben diesem gleichen Weg zurückverfolgt werden kann. Kurz gesagt, die Wissenschaften malen kein Abbild der Wirklichkeit, sondern erfinden Wegbeschreibungen, die es uns erlauben die Welt aufzusuchen. Ist nun zu einem Ding einmal eine Beziehung hergestellt, so kann es in Diskus-

138 Vgl.: Ibid., 62. 139 Ibid., 78.

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sionen als Überzeugungsmittel funktionieren, es kann sich gegen Vorbehalte von KollegInnen stellen und sie zum Überdenken ihrer eigenen Position veranlassen. Welche Vorteile bringt es für das Denken der Stadt Latour zu lesen? Zuerst finde ich es interessant, dass wir es im Sprechen von der Stadt nicht mit einem Ding zu tun haben, das sich in einen Komparator einfügen läßt, sondern eher mit einem dem Urwald ähnlichen, aus dessen ,Chaos‘ die Wissenschaften erst beginnen können, Verbindungen zu knüpfen. Demnach fällt es schwer, an eine Wissenschaft von der Stadt zu denken. Es scheint sinnvoller, von Wissenschaften über Dinge der Stadt zu sprechen. Demzufolge kann auch das Problem einer Philosophie, die sich mit dem Thema Stadt auseinanderzusetzen versucht, nicht sein, die Stadt als solche zu bestimmen, sondern sich beispielsweise zu fragen, wie Stadtmenschen sich Kontexte erschaffen können, um ihre Ideen zu verbreiten. Womit ich die erste Entfremdung der latourschen Gedanken vorgenommen habe, denn individuell erzählte Geschichten zu verfolgen ist nicht zwanghaft Teil wissenschaftlicher Praxis. Doch, wie ich meine, können auch alltägliche Meinungen in ihrer Entstehung zurückverfolgt werden, durch Transsubstantiationsketten näher bestimmt werden. Ich möchte behaupten, dass auch ,Wissen‘, als andersmethodisches Äquivalent zur Wissenschaft, erklärt werden kann, neue Umfelder für Anerkennung zu erschaffen vermag. Dinge des Lebens können wie jene der Wissenschaft in einen Diskurs eintreten. Noch einmal muss ich inne halten und mich korrigieren! Vielleicht ist es eine Fehlannahme zu glauben, dass die Dinge, sobald sie in ihrer Geschichte und Entstehung erforscht sind, immer noch alltäglicher Art sind und nicht schon vom Tun einer Form von Wissenschaft erfasst. Demnach klingt es einleuchtender so zu formulieren: Eine Wissenschaft der Stadt beginnt sich für die Dinge zu interessieren, die nicht ihrerseits an eine Öffentlichkeit herangetragen werden, sondern solche sind, die jene bestimmte Öffentlichkeit als dringlich empfindet. Man könnte noch weiter Latours Text verunstalten und überlegen, ob dies bedeuten könnte, dass sich die Kette der Übersetzung umzukehren hätte und vom Diskurs zu den Dingen verfolgt werden müsste, da ich doch meine – und das ist erneut eine andere Formulierung des Grundes warum ich über Stadt und nicht politische Theorie schreibe –, dass man einer Kritik erst dann gerecht wird, wenn man die Welt, aus der

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sie erstand, zu verändern beginnt – sollte man die Macht dazu genießen – jedoch nicht im bloßen textlichen Vernünfteln.

Teil II: Welche Dichte?

Teil II: Welche Dichte? Resümee und Programm – Teil II

In der Einleitung zu diesem Text wurde festgehalten, dass Stadt immer etwas ist, das an einem bestimmten Zeitpunkt, an konkreten Orten passiert. Der Begriff Stadt sowie einzelne Städte können nicht in ihrer Totalität beschrieben werden. Für diesen Text wurde ein Begriff von Stadt festgelegt, der lautet: Stadt passiert in dichten Räumen, sie bedeutet Kritik und kann immer nur als Bestimmte, als Existierende stattfinden. Dieser Begriff kann nur festgesetzt werden, wenn sich das Philosophieren einem bestimmten politischen Projekt verplichtet fühlt. Die Stadt als Gegenstand tritt nur als Sichtbare hervor, wenn eine bewusste Einschränkung des Blicks passiert, wenn die Pluralität dessen, was Stadt alles ist, aufgegeben wird, um einen Vorschlag auszuformulieren, was Stadt im Konkreten sein könnte, sein sollte. Dies wurde anhand von Max Weber dargelegt, dessen Stadttext bestimmte Aspekte des Lebens fokussiert, sie als Stadt benennt. Max Weber liegt daran, die Form der Bürgerverbände in ihrem Handeln als typisch städtisch und damit die Stadt als eine europäische Lebensform zu beschreiben. Immanuel Wallerstein kann als ein Kritiker der Weberschen Vorstellung gelesen werden. Mit Wallerstein wurde argumentiert, dass Städte nicht als einzelne betrachtet werden können, sondern immer nur als Teile innerhalb eines Netzes von wichtigen Punkten, die das moderne Weltsystem, den historischen Kapitalismus aufspannen/ten. Wallerstein ist jedoch nicht nur ein Kritiker der These von der Stadt als zentralem Ort, sondern auch ein Wissenschaftstheoretiker, mit dessen Hilfe darauf hingewiesen werden kann, dass Beschreibungen vom Wirklichen immer entweder auf unreflektierten theoretischen Annahmen über Zeit und Raum passieren oder ganz be-

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wusst in ein größeres Projekt der Veränderung eingebaut sind. Wallerstein entwickelt seine Theorie am Moment der Krise ausgerichtet, einem Moment der Freiheit und Gefahr, in dem Wallersteins Geschichtsschreibung zur Handlungsanleitung werden kann. Mit Wallerstein und Michel de Certeau wurde eine Aufspaltung in zwei Stadtformen getroffen, in einerseits die Stadt der Vielen, der Multitude und andererseits in die Stadt des Kapitals und seiner Prunkbauten. Diese beiden Städte sind voneinander abhängig, zentral für diesen Text ist jedoch die Stadt der Multitude, der nach Autonomie strebenden Menge, womit auch das politische Projekt angesprochen ist, dem sich das Vorangegangene sowie das Folgende verschrieben hat; dieser Text wurde in dem Wunsch geschrieben, demokratischere Strukturen in unser Leben zu bringen, die Stadt in Freiheit zu denken. Es geht mir folglich um Autonomie im Sinne von Cornelius Castoriadis, wie auch schon in der Einleitung festgehalten wurde, die es immer nur für alle geben kann. Um eine Autonomie, die sich in der Verflochtenheit mit anderen und anderem herausbilden kann und die es ihrer Definition gemäß damit immer auch nur für alle gleichzeitig geben kann. Mit Michel Foucault wurden im dritten Teil des ersten Abschnitts die Verflechtungen von Freiheit und Wissen offensichtlich. Foucault stellt sich die Frage, welchen Sinn es eigentlich hatte, über Städte nachzudenken. Die Stadtheorie ist für Foucault Teil eigentlich jeder Form von Regierung, die in ihrer Mächtigkeit nur erhalten bleiben kann, wenn sie um das Leben der Menschen Bescheid weiß, wenn sie es vermag, die Menge zu organisieren. Foucaults Interesse gilt beispielsweise dem Moment, an dem die Stadtmauern fielen, sich die Städte für das Fließen des Handels öffneten und alle festen Strukturen in dieses Abenteuer mitgerissen wurden. Nach Ende der Zeit, in der es möglich war, die Menschen in bestimmten Räumen mit Hilfe von strenger Disziplin zu organiseren, übernehmen die Humanwissenschaften diese Aufgabe, die das Wünschen der Menschen erfassen sollen, um eine Regierungsform, die ihre Macht in der Meisterschaft begründet, das Begehren der Menschen zu organisieren, zu erhalten. Am Ende dieser Auseinandersetzung mit Foucault habe ich eine besondere Form von Aufklärung beschrieben, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen möchte, die nicht nur am Papier passiert, sondern sich durch eine kritische Lebenshaltung auszeichnet, die aufruft, sich beständig mit sich selbst, mit den anderen und den Dingen auseinander-

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zusetzen. Dies ist eine neue Form von städtischer Askese im Sinne Foucaults, ein konkretes Überschreiten von allgemeinen Grenzen. Dieser Form von vielstimmiger Aufklärung kommt der dichte Lebensraum entgegen, der sich durch, wenn auch zumeist erzwungenen, Kontakt auszeichnet, weil die engen Orte des Lebens unsere Kritik motivieren. Es ist demnach die Dichte, die im Folgenden zum Thema werden muss. Einerseits als Tatsache des zeitgenössischen Lebens und Erlebens, andererseits als Potential zur Befreiung. Teil II: In diesem Abschnitt wird die Frage nach der Dichte gestellt. Ich nähere mich beispielhaft an das Thema an, da, was Dichte auszumachen scheint, eben dies konkrete Überschreiten von Grenzen ist, das mit Foucault angesprochen wurde. Wir kommen im Besonderen Menschen und Dingen (zu) nahe, während alle/s andere/n heran tritt/treten. Wie dieses aneinander Geraten passieren kann, organisiert sein kann, ist Thema des zweiten Teils. Unter der Überschrift ,Ein urbanes Zeitalter‘ wird des Weiteren dargelegt, dass die Dichte die bestimmende Komponente der kommenden Lebensformen sein wird. Es ist ein urbanes und dichtes Zeitalter, das ein Sammelband, zusammengestellt aus den Texten namhafter ForscherInnen, verspricht. Fürchterlicher Prolog Ist die Stadt ein Ort, an dem Menschenmassen aufs Sterben warten? Kann sie als enger Bau beschrieben werden, der lediglich Leben reproduziert, als Stoffwechsel, ohne Rücksicht auf die einzelnen Elemente, die auch wir Menschen sind? Ein urbanes Zeitalter In diesem Abschnitt soll mit Hilfe der zeitgenössischen Stadtforschung nach der Dichte und ihrer Bedeutung in den gegenwärtigen Großstädten gefragt werden. Es wird das aktuelle Ausrufen eines urbanen Zeitalters befragt und darüber nachgedacht, welche Veränderungen das Wachsen der Städte mit sich bringen muss.

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Drei Beispiele für Verdichtung: Autobomben, der Boxclub und eine Kreuzung Anhand von drei Beispielen – Autobomben, Boxclub, Kreuzung – wird in diesem längsten und Hauptabschnitt des zweiten Teils eine Studie am Konkreten durchgeführt. Mit Hilfe von beispielsweise Hannah Arendt, Judith Butler, Gilles Deleuze und Félix Guattari sowie Loïc Wacquant wird versucht werden, ein Verständnis für die beschriebenen Situationen aufzubringen. Dichte, so wird dieser Abschnitt zeigen, kann in sehr unterschiedlicher Form erscheinen. Es ist damit für einen Stadtdiskurs nicht ausreichend, bei der Feststellung einer Verdichtung des Lebens stehenzubleiben, sondern die Untersuchenden müssen sich ganz konkreten Situationen widmen, die ihrerseits jedoch Rückschlüsse zu generellen Fragen erlauben. In diesem Text wird argumentiert, dass Dichte dann produktiv für das Zusammenleben genützt werden kann, wenn jede Einzelne neues Vertrauen in ihre Alltagswelt fassen kann. Bedingung für einen selbstbewussten Umgang im städtischen Raum ist der Glaube daran, nicht hilflos vom Geschehen erfasst zu sein, ist eine utilitaristische Religion, wie ich mit Kwasi Wiredu argumentiere. Sicherheit können Erinnerungsorte, Gemeinschaften, kurz, fixierbare Punkte im Unbestimmten schenken.

Fürchterlicher Prolog

„Wenn umgekehrt die Entdeckung habituell wird, zur Gewohnheit an die unterschiedlichen Viertel, wenn wir beginnen, uns zurechtzufinden, dann schwindet die klare Sicht des ersten Blicks und macht der Blindheit Platz, dem Automatismus eines Erkennens, das überall dasselbe sieht. […] An diesem Punkt wird der Pariser zum Behälter, zum Container der Hauptstadt … Mein Grundfassungsvermögen sprengt jede Vorstellungskraft: die Ausrichtung der Plätze und Straßen ist meiner Vitalität unterworfen. Die Stadt ist gegenwärtig in der Lebhaftigkeit meiner Orts-Erinnerung. […] In der Wüste wie in China: meine Stadt ist immer schon da, mein Wohnort ist zum Ort schlechthin geworden. Paris ist mehr als Reisegepäck: Paris ist mobil.“1

Schreibt Paul Virilio in „Panische Stadt“. Er behauptet, dass selbst die Zerstörung seiner Stadt im Krieg ihn nicht zu verwirren vermochte, sondern erst der Wiederaufbau den in seinem Inneren lebenden Stadtplan ins Wanken brachte. Erst der Wiederaufbau seiner Stadt ließ Virilio an Souveränität verlieren, entzog ihm die Sicherheit der Besitzenden beim Bewandern ihrer Güter. Es ist jedoch diese Sicherheit des Schritts, die dem Stadtmenschen erlaubt, formend, im Ausüben des Lebens, auf eben jenes Bedingungen zurückzuwirken. Es ist die Sicherheit, die ein sich als StadtplanerIn Mitbetätigen provoziert. Jede StädterIn kann PlanerIn sein, schreibt Virilio, da jede Einzelne die Gedanken zur Verfügung stellt, die dem Bauen vorausgehen. Die StädterInnen produzieren als Beiprodukt ihres Wandelns Stadtplanung, sie treten im Verfolgen ihrer Bedürfnisse in einen Tanz ein, der dem Haus

1

Paul Virilio, Panische Stadt (Wien: Passagen Verlag, 2007), 14-15.

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als Gebrauchsgegenstand, als Nutzungsraum vorausgehen muss, der erst Fundamente voll von Legitimationen für das Gebaute schenkt. „Besser über das Wesen des Staus in Paris unterrichtet als Dutzende von Experten, erklärte mir ein Taxifahrer einmal: ,Wissen Sie, wenn der Verkehr stockt, liegt das daran, dass die Straßen länger sind als breit‘. Er gab damit nicht nur Haussmann gegen Jules Ferry Recht, sondern auch zu verstehen, dass der Baron mit seinen Durchbrüchen nicht weit genug gegangen sei … Als läge die Zukunft der Metropolen nicht bloß in den Autorennbahnen oder Flugfeldern, sondern in der Rückkehr zur Wüste, zum Imperativ des TABULA RASA.“2

Die TaxifahrerIn möchte breite Straßen, eine LehrerIn breite Gehwege zum sicheren Ausflug mit den Kindern, der innere Stadtplan eines Straßenhändlers verlangt nach großen Plätzen zur freien Nutzung, gelangweilte Ausgehaltene dürstet es nach Cafés mit Außenbereich und der möglichst autofreien Stadt, ich hätte dies alles gerne gleichzeitig und noch viel mehr… Kurz gesagt, jene inneren Stadtpläne der Einzelnen können einander ausschließen, können Legitimationen für unterschiedlichste Arten von Bauten, oder eben gerade gegen Bauten, zur Verfügung stellen. Man könnte sich auch wünschen, alles wegwischen, eine neue Stadt aus jungfräulichem Material erschaffen zu können. Eine solche leere Stadt ist die Wüste, die zur Projektionsfläche aller Stadtvorstellungen werden kann. Ist die Stadt damit am Ende? Muss es nicht zumindest etwas geben, das an ein gemeinsames Leben erinnert? „Mit der konvexen Wüste eines expandierenden Universums haben wir gelernt zu leben. Mit der konkaven Wüste implodierender Blickpunkt schließen wir die Augen. Heißt das, wir sind am Ende? Nein, denn jetzt – blind und haltlos unterwegs – ist auch ein Ende nicht mehr abzusehen.“3

Die neutrale Projektionsfläche ist gegen endlos der Fata Morgana preisgegeben. Es übernimmt eine Informationsstadt die Herrschaft, ein gesteuertes Gedächtnis stellt die Funktionen bereit, die einmal der Erinnerung eigen waren. Die Informationsstadt erlaubt es, die Häuser

2

Ibid., 22.

3

Ibid., 141.

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nicht mehr zu verlassen, ja sie entzieht jeder, dem Heim externen, Stadt sogar die Legitimation, meint Vilém Flusser.4 Die Informationsstadt beginnt nun das Leben nach EINER Vorstellung zu strukturieren, beginnt die Gefühle der Menschen zu lenken. Diese Eroberung der ,realen‘ Welt findet im Krieg gegen das Wirkliche ihren Ausdruck, so Virilio. Mehrere einander gegenüber stehende Begriffe können zur Erläuterung dieses Krieges herangezogen werden. So stehen Bewegung, das Element, in dem die Feinde des Wirklichen auftreten, und Stillstand einander gegenüber, Global und Lokal, sowie die Techniker irgendeiner Art von Ursprünglichkeit. Virilio stellt eine anmaßende, ja eine Göttliches erreichen wollende Stadt dem verlorenen Leben gegenüber. „Hat in der Tat der Wohnturm den Hügel, die befestigte Siedlung und ihren Kirchturm ersetzt, so aus einem einfachen Grund: nur über dieses Mittel konnte man den Himmel erreichen und sich vertikal ausdehnen. Jetzt, mit den Überschall-Jets und Raketen, ist der Turm motorisiert.“5

Der motorisierte Turm hebt ab, um die Wahrheit einer gemeinsamen Welt auszulöschen. Der Jet ist Virilio zufolge das städtischste Element unseres Zusammenlebens, er ist ein Beispiel für einen Nicht-Ort, er ist Abbild des Globalisierten. Globalisierung und Stadt bedeuten für Virilio Gleiches, bedeuten die gleiche Weise von Anmaßung. Die Stadt als das Globale erlaubt sich zu beurteilen, was außerhalb ihrer Welt liegt, sie bestimmt das Lokale als Peripherie, weil es nicht abheben kann, weil die materiell fixierten Orte Gott weniger nahe zu sein vermögen. Womit die Phantomstadt der Gegenwart sauber von der antiken griechischen Polis unterschieden wäre, deren wesenhaftes Merkmal es war, erdgebunden zu sein, irgendwo zu existieren. Die zeitgenössische Stadt ist damit eine, die permanent Krieg führt, ist eine, die sich für den Nabel einer nicht wirklich bedeutungsvollen, ihr lediglich anhängenden Welt hält. Die zeitgenössische Stadt beansprucht eine exklusive Stellung, weil sie die Reisezeit überwunden hat, weil sie frei ist von allen Horizonten des Lebens. Diese Stadt ist eine, die jede Einzelne beständig darauf verweist: Das ist nicht dein Körper, den du hast, das

4

Vgl.: Vilém Flusser, Ende der Geschichte, Ende der Stadt?, Wiener Vorlesungen (Wien: Picus, 1992), 45.

5

Virilio, Panische Stadt, 27.

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ist nicht dein Ort des Sprechens, denn „DAS ANDERSWO BEGINNT HIER.“6 Das Leben in der Fata Morgana bedeutet damit das Leben spielen, nicht zu existieren, sondern sich eine Identität zu erschaffen, die es vermag, Teil der allgemeinen Informationwelt zu werden. Gut, wieso sollte diese Fata Morgana Erschütterung erfahren? Die Informationsstadt befindet sich im Krieg, sie ist ein übermächtiger Gegner und Ziel extremer Ereignisse. Einzig der Terror kann die Phantomstadt erreichen, so Virilio. Nur der Terror kann die Fata Morgana erreichen, da nur Ereignisse, deren Anliegen die Zerstörung der herrschenden Ordnung ist, die Informationsstadt berühren. Das Ereignis ist ein Angriff auf die begriffliche Ordnung. „,Ein Ereignis schaffen‘ bedeutet heute vor allem mit der Anpassung zu brechen, mit der Modellierung durch die Werbung […] Ob man es will oder nicht: Ein Ereignis schaffen bedeutet jetzt, einen Unfall herbeizuführen. […] Ein Ereignis schaffen bedeutet heute, eine Denkart neu zu beleben, die unempfänglich ist für die Steuerungsmentalität eines auf die GLEICHSCHALTUNG der Gefühle des Informationszeitalters konditionierten Reflexes, mit der sich nun die STANDARDISIERUNG des Verhaltens des Industriezeitalters vollendet hat.“7

Wenn die Stadt nun nicht mehr irgendwo manifest ist, wird sie zu einer fließenden, zu einem schleimigen Ding, das erst im aktiven Eingriff oder Angriff Form erhält, kurz: lokalisiert wird. Erst das Ereignis läßt demnach die Stadt zu einer konkreten werden. In diesem Sinne muss auch die Kunst Teil der terroristischen Szene sein, meint Virilio. Sie muss danach streben, die Ordnung aus ihren Grundfesten zu katapultieren. Die Krise der zeitgenössischen Kunst, ihre Verkapitalisierung, kann nur im Ereignis der Destruktivität überwunden werden. Erst in ihrer Manifestation, im Angriff, kann sich die Kunst wieder Arbeitskriterien erschaffen, die nicht die der Werbung sind. Erst aus der Zerstörung kann die neue Ästhetik geboren werden. Erst durch das Zerschlagen kann die Ästhetik des Verschwindens gebrochen werden.8 Eine Ästhetik des Verschwindens hebt ab, in eine Welt der Namen,

6

Ibid., 111.

7

Ibid., 38-39.

8

Vgl.: Ibid., 62.

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hinter denen die Materialität unsichtbar wird. Die Welt verschwindet genau dann, wenn sie als Begriff zu existieren beginnt, so Baudrillard. Das klare Umreißen, welches erst ein Sprechen von der Welt erlaubt, gibt die Welt als Existierende dem Verlust preis.9 Ein Subjekt, ein Benennendes, ein sich die Welt Aneignendes bringt die Dinge zum schrägen Schillern. „Die Dinge selbst beginnen im Lichte des Sinns zu posieren, sobald sie den Blick eines Subjekts auf sich spüren.“10 Womit ich zum Kern dieser apokalyptischen Überlegungen komme: Was macht die panische Stadt aus? Die panische Stadt ist der kritische Raum,11 die Stadt als Lager, sowie die Stadt als „Folterkammer“12. Ein Lager wird immer wieder frisch aufgebaut, es ist nicht für die Dauer installiert, es findet seinen Ausdruck in Gated Communities, im Abschirmen gegen die, die nicht konform gehen, oder eher, gegen die, die nicht wohlständig genug sind. Die Folterkammer ist durch das Regime von Straßenbanden organisiert. Das Leben in der Folterkammer schließt niemanden aus, macht jedoch lediglich den ökonomischen Nutzen in den ZeitgenossInnen beachtenswert. „Die Stadt wird wieder zur Festung, mit anderen Worten zur Zielscheibe für jede Art von Terror, gleich ob heimisch oder strategisch. […] Es sind die gesamten Städte, ihre Zentren genauso wie die Ränder, die durch das gesamte vergangene Jahrhundert zum Märtyrer gemacht wurden.“13

Demnach gibt es bei Virilio zwei Städte zu beobachten; die rasende Stadt der Technik, sowie die überschüssige Stadt, die verbleibt, nachdem die Informationsstadt abgehoben hat. Diese, das Fliegen ermöglichende Stadt, bleibt eine lokale, sie lebt im beständigen Ereignis, das ihr Konturen verleiht. Warum ist die Stadt eine panische? Oder genauer gesprochen, warum ist die überschüssige Stadt eine panische? Weil die Stadt zum Ort des Krieges geworden ist, weil sie zum Testplatz für Waffen gegen das Wirkliche, gegen die Körper, gegen die ZivilistInnen geworden ist.

9

Vgl.: Jean Baudrillard, Warum ist nicht alles schon verschwunden? (Berlin: Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2008), 8.

10 Ibid., 38. 11 Vgl.: Virilio, Panische Stadt, 74. 12 Marc Oran nach: Ibid., 95. 13 Ibid., 97.

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Fraglich bleibt jedoch: Wie kommen wir zu dem Glauben an eine allgemeine Bedrohung, wie kommen wir zu der Idee, dass nicht nur aktuelle Übergriffe gegen die eigene Person passieren, sondern es sich die große Bedrohung am Horizont bequem gemacht hat? Die die „TELE-REALITÄT“14 organisierenden Institutionen informieren über derlei Einflüsse auf den Alltag, sie ermöglichen Gefahren ,richtig‘ zu erkennen, sich zu schützen und an die Möglichkeit eines totalen Blicks zu glauben. Welch böser Gott treibt die Menschheit in diese Richtung des unendlichen, toten Dahinrasens? Der Exterminator, so Virilio.15 Er ist kein Mörder, sondern ein naives Wesen, beseelt durch den Glauben an eine bessere Welt, an den Fortschritt des Wissens, der Menschenliebe und des Reichtums. In diesem Glauben setzt er alle Mittel ein, um die Menschheit zu beenden, um sie auf einen Weg der totalen Sicherheit, der Entortung, der Unangreifbarkeit zu führen. Kurz: wir sind verschwunden, wenn wir nicht mehr auf-, nicht mehr heimgesucht werden können, wenn es keine Adresse mehr gibt, an der sowohl FeindIn als auch FreundIn ihr Begehr vortragen können. Doch, wozu soll es dies auch alles brauchen; Konfrontation, Erschütterungen des Begreifens, Gehirnenergie verwendet auf das Thema Stadt? Die Stadt der Gegenwart ist nur ein „Ameisenhaufen“16, so Flusser, ein Ballungsraum fleißiger Viecher, die fressen um zu leben und arbeiten um zu sterben. Womit Flussers Definition der Stadt auf den Punkt gebracht wäre, für ihn ist sie lediglich der Ort, wo auf das Sterben gewartet wird.17 „In der Werbeprosa einschlägiger Veranstalter klingt das so: „Die Brasilianer machen einen großen Bogen um die Elendsviertel. Doch die Ausländer sind neugierig und aufgeregt, ja angespannt, denn sie fürchten, dass ihnen etwas zustoßen könnte.“18

14 Ibid., 47. 15 Vgl.: Ibid., 82. 16 Flusser, Ende der Geschichte, Ende der Stadt? , 54. 17 Vgl.: Ibid., 42. 18 Virilio, Panische Stadt, 100.

Ein urbanes Zeitalter

„1998 wurden in Südafrika 107.676 Autos gestohlen (295 Autos am Tag). 14.965 Autos wurden überfallen und entführt (41 am Tag). Die Anzahl der Fahrzeugentführungen stand in direktem Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Fahrzeugsicherungssysteme. Der zunehmende Einbau von Alarmanlagen, elektronischen Wegfahrsperren sowie von Lenkrad- und Getriebeschlössern, vor allem in Luxuswagen, macht es fast aussichtslos, ein parkendes, leeres Auto zu stehlen.“1

Die Stadt ist endlos. Sie weitet sich aus, sie besteht eigentlich schon immer, sie bietet unerschöpfliche Mengen an Problemen und Lösungsmöglichkeiten. Die Stadt ist endlos, weil ihr Ende nicht in Sicht ist, weil sie ein dankbares Vehikel politischer Mythenbildung bleibt. Wenn die Stadt also endlos ist, wie es die Überschrift des Buchs „The Endless City“ aus der Schmiede des Urban Age Projects der London School of Economics, dessen Anliegen eine Bestandsaufnahme der ,Urbanen Problematik‘ zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist, verspricht, dann nur weil diese Vorstellung Nutzen bringt. Wenn die Wissenschaften von der Notwendigkeit sprechen, nicht länger vom Globalen, sondern nun vom Urbanen zu reden, so erhofft man sich von diesem Bruch im Seh- und Untersuchungsverhalten eine neue Chance zum Absatz, erhofft man sich eine Neuauflage bereits ausformulierter Theorien zu ermöglichen, etwas bösartig gesprochen. Was jedoch neu erscheint, was die Erforschung des Urbanen vom Untersuchen der Globalisierung unterscheidet, ist der Wunsch, konkreter zu sprechen, sich nicht nur der Theorie zu bedienen, um zu verstehen, sondern im

1

Vladislavić, Johannesburg. Insel aus Zufall, 93.

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Erleben zu forschen, aus Geschichten und Beobachtungen erst Wissen zu generieren. Verknappt gesprochen, könnte man die Methode der Stadtforschung damit als phänomenologisch bezeichnen. Das Urban Age Project machte es sich zum Ziel, sowohl genaue Betrachtungen einzelner Städte – New York, Shanghai, London, Mexiko Stadt, Johannesburg, Berlin – abzuliefern als auch problemorientierten Fragestellungen Plattformen, in der Art von internationalen Konferenzen, zu geben. Resultat dieser gesprochenen Form von Auseinandersetzung, die im Jahr 2004 einsetzte, ist das Buch „The Endless City“ (2007), welches die Konferenzbeiträge in anschaulicher Form, in Tabellen eingetragen, als Symbole zusammengefasst – so stehen große Pistolen für viel Gewalt, kleinere für weniger –, auf Fotographien sowie als schriftliche Dokumente versammelt. Das Urban Age Project arbeitete unter dem Motto, dass die Städte zwar die Problemkinder unseres Zeitalters sind, jedoch ebenso sehr Orte darstellen, an denen potentielle Lösungsmöglichkeiten für die ganze Welt gefunden werden können.2 Man wünscht sich städtische Lösungen jedoch nicht, weil ihre Verwirklichung als besonders einfach erscheint, sondern vor allem auch aus dem Grund, weil man Antworten, die im städtischen Kontext gefunden werden, für demokratischer hält3, wofür das unkontrollierte sich Bewegen in den Städten Garant sein soll, ein Bewegen, das den öffentlichen Raum am Leben zu erhalten vermag sowie die aktuellen Diskussionen vielstimmig organisiert. Dass beständig jemand Neues ,eintritt‘, um sich am Reden zu beteiligen, soll der Demokratie zuträglich sein. Es ist eine sich immer fortbewegende und sich damit immer neu zusammensetzende Gruppe

2

„One of the overriding realizations of the Urban Age is that cities are not just concentrations of problems – which they are – but that they are also where problems can be solved.“ (Ricky Burdett and Philipp Rode, „The Urban Age Project“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 23.)

3

„Then there is movement in and around the city. Public space without the possibility of movement in it is like a dead butterfly in a specimen case: movement means access, which is the real issue connected with space. And space is as much about the symbolic and the theatrical as it is about the technical. It embodies not just capacity, but the mechanisms of democracy too.“ (Deyan Sudjic, „Theory, Policy and Practice“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 43.)

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von Menschen, die nicht alles einschließend überwacht werden kann, sowie als Lebensform es vermag, der Ort innovativer Produktionen zu werden, die die Stadt alleinig zu erhalten schafft, wie man im Urban Age Project meint. Nur der Einkauf und die Verwertung von Talenten erlaubt es Städten, nach dem Verlust ihres nationalen Kontexts zu überleben, Entitäten zu bleiben, deren Teil die BürgerInnen gerne sind und damit Einheiten zu sein, die es vermögen, das Leben der BürgerInnen zu verbessern, was man im Urban Age Project als die einzig mögliche Legitimation für Städte anerkennt.4 Zusammenfassend gesprochen, Forderung ist, dass Städte neu zu erfinden sind, dass neue Formen der Anschauung ihrer eingeführt werden müssen, um nicht überrascht zu werden von den 75% der Menschheit, die mit 2050 in den ,Städten‘5 leben werden, deren Großteil als nicht registrierte BewohnerInnen inmitten der urbanen Ansammlungen dahinleben wird müssen. Bereits gegenwärtig (also eigentlich 2007)

4

Vgl.: Ibid., 48 und 51.

5

Vgl.: Wolfgang Nowak, „Foreword“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 6. Es seien mir an dieser Stelle Anführungszeichen erlaubt, sie sollen auf eine Paradoxie in meinem Denken der Stadt hinweisen, sowie in dem Denken des Urban Age Projects, sprechen doch wir beide beständig von einer Stadt und meinen doch, dass dieser Begriff eigentlich neu verwendet werden sollte, dass man beispielsweise in 50 Jahren etwas anderes als Stadt bezeichnen sollte als heute, was sämtliche Tabellen über die Zukunft der Stadt albern wirken lässt, da noch nicht klar ist, was die Stadt in 50 Jahren sein soll. Fraglich bleibt, warum das Urban Age Project dennoch seine Legitimation aus eben solchen Tabellen bezieht. Möglicherweise liegt dieser Forschungsgruppe doch weniger an der tatsächlichen Veränderung der Wahrnehmung von Stadt, des wissenschaftlichen Diskurses über die Stadt und mehr am Propagieren einer besonderen Art von Politik, einer ökologischen und pluralistischen Politik, deren Bildfläche allein die Stadt sein kann. Damit wird die Stadt erneut zum Mittel der Verfolgung einer speziellen Art von Politik. Mit der Behauptung, die Fakten auf der eigenen Seite zu haben, wird das Gespräch über die Notwendigkeit dieser Politik ausgeschlossen.

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leben beispielsweise 20% der Bevölkerung in Shanghai informell, ohne Sicherheit und Anmeldung.6 Kernproblem des gegenwärtigen Stadtdenkens und ,Stadtseins‘ soll nun jenes der Vernetzung sein. Es soll demzufolge in Zukunft darum gehen, Verbindungen nicht nur zwischen den Fächern der wissenschaftlichen Erforschung herzustellen, sondern auch zur Praxis, deren zentrale Fragestellungen wiederum sein sollten, wie das Nachdenken über Umweltprobleme in Abhängigkeit vom Wohnungsproblem gedacht werden kann, wie die gute Infrastruktur optimal in den öffentlichen Raum einzufügen wäre und wie schlussendlich politische und ökonomische Prozesse aufeinander wirken. Es ist damit das Dazwischen der Fragen des Zusammenlebens, welches zum Thema eines Stadtdenkens wird.7 Drei Fragestellungen können als Konkretisierung des Vorangegangenen dienen und einen Weg beschreiben, der eine Hilfestellung sein kann im Finden neuer Stadtformen. Erstens ist die WER-Frage von Bedeutung. Es gilt herauszufinden, wer die Städte erforscht, wer in ihnen regiert, wer in ihnen handelt und wie die gegenseitige Beeinflussung all dieser Arten des ,Städtebauens‘ bewerkstelligt werden könnte. Man geht in diesem Sinne davon aus, dass die Stadt ebenso stark durch die täglichen und individuellen Entscheidungen ihrer BewohnerInnen entsteht, als durch parlamentarische. Diese Frage wird den MitarbeiterInnen des Urban Age Projects wichtig, weil man ein Machtvakuum festgestellt hat, seit der Nationalstaat die Zügel aus der Hand geben musste, welcher Umstand anhand der miteinbezogenen Arbeitsberichte angenommen wird. Die WER-Frage wird demnach auch zur Frage nach Grenzen und Identitäten. Als neue Möglichkeit zur Identifikation wird nun anstelle des Staats die Region vorgeschlagen, deren AkteurInnen noch zu definieren wären.8 Zweitens erhält die Frage nach dem Unterschied zwischen Städten ihre Bedeutung. Beispielsweise wird angenommen, dass Städte sich

6

Vgl.: Edward Soja and Miguel Kanai, „The Urbanization of the World“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 61.

7

Vgl.: Sudjic, „Theory, Policy and Practice“, 35-36.

8

Vgl.: Soja and Kanai, „The Urbanization of the World“, 68.

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gegenwärtig weniger durch ihre Lage auf der Oberfläche des Planeten unterscheiden als vielmehr durch ihre thematische Ausrichtung.9 Womit die dritte, dem Urban Age Project wichtige Frage angerissen wäre: Gibt es so etwas wie die Essenz des Städtischen? Gibt es die Stadtheit, „cityness“10, wie Saskia Sassen benennt? Besser gesagt: Kann in universalistischer Weise über Städte gesprochen werden? Sowie: Können erfolgreiche Interventionen aus speziellen Metropolregionen direkt auf andere übertragen werden? Deyan Sudjic unterbreitet zu diesem Problem den Vorschlag, die in den Städten gemachten Fehler zu universalisieren, denn Fehler sind seiner Meinung nach überall gleich falsch.11 Eine Behauptung, der ich mich nicht unbedingt auf ganzer Linie anschließen möchte, die ich aber dennoch für wichtig und innovativ halte, verlangt sie doch jeder ForscherIn zuerst einmal ab, nach den im eigenen Gebiet gemachten Fehlern zu suchen, bevor das Wagnis einer Kritik fremder Fehler unternommen wird. Doch bleibt selbst dieser Universalismus ein gefährlicher, wenn das eigene Fehlerbewusstsein dem der am anderen Ende der Welt Lebenden vorgezogen wird, wenn die Vorstellung entsteht, dass man selbst das eigene Gewissen genauer geprüft hätte als jene. Dennoch, der Versuch, allge-

9

Vgl.: Sudjic, „Theory, Policy and Practice“, 48.

10 „The elusive quality we in the West have come to call urbanity might well be present with its own specific features, even when unrecognizable to our limited gaze. The notion of ,cityness‘ is one way of unpacking that category and allowing for far greater variations in what constitutes urbanity. Seen this way, cityness is a critical feature, even though some of the forms such cityness assumes are almost illegible to the foreigner. This opens up a whole field for research and interpretation, and invites us to reposition western notions of urbanity.“ (Saskia Sassen, „Seeing Like a City“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 276.) 11 „Is there in fact any reason to believe that there are universal solutions to the questions that the city poses? Is it not simply naive to suggest that there is just one kind of urbanism or urbanity? How can the aspirations and strategies appropriate to Berlin, say, be relevant to Johannesburg? The well-meaning response to this question is that there is a case to be made for learning from previous mistakes, and that it outweighs the possibility of such exchanges acting as some form of hotspot for cross-contamination.“ (Sudjic, „Theory, Policy and Practice“, 47.)

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mein über Städte zu sprechen, sei nicht aufgegeben, bleibe ich doch Philosophierende und wünsche mir folglich mehr über dieses Wort, Tun, Leben Stadt genannt zu erfahren, um welches wohl, wenn der Stadt Gestalt auch kaum sichtbar ist, doch enorm viele Worte gemacht werden. Die individuelle Stadt ist damit eine spezielle Form des Auslebens, des Belebens von Infrastrukturen, ein besonderer Lebensstil. So beschreibt beispielsweise Deyan Sudjic, dass die urbanen Strukturen Japans jenen von Slums entsprechen, ihre Einbindung ins Leben jedoch anders funktioniert und so pulsierende Städte entstanden.12 Dennoch und zu Japan sei angemerkt, sowie der Lebensstil eines Individuums stark vom jeweiligen Reichtum abhängt, so ist es auch für eine Stadt bei weitem leichter, Feinheiten im Ausdruck, Geschmack in Kleidung und Kultur zu erhalten, wenn die Fragen nicht des Lebens sondern des Überlebens von selbst beantwortet sind, wenn die Haushaltsfinanzen stimmen. Womit nicht nur der Kultur Anerkennung für das Erbauen der funktionierenden japanischen Städte geschenkt sei. Das urbane Zeitalter zeichnet sich nun, Bruce Katz, Andy Altman und Julie Wagner zufolge, durch fünf Eigenschaften aus.13 Zuerst wird das urbane Zeitalter durch die Höhe der Anzahl an Menschen auf der Erde charakterisiert, durch den Umstand, dass die Bevölkerungsanzahl in den Städten gegenwärtig die drei Milliarden überschritten hat, was der totalen Anzahl an Menschen in den 1960iger Jahren entspricht, sowie es das urbane Zeitalter ausmacht, in 400 Städten mit einer höheren Einwohnerzahl als einer Million verlebt zu werden. Zweitens ist das schnelle Wachstum von Städten ausschlaggebend, um eine Zeit urban nennen zu können. In den 1950iger Jahren lebten 29% der Bevölkerung in Städten, 1990 43% und 2007 50%. Drittens ist man im urbanen Zeitalter mit veränderten Formen von Mobilität konfrontiert, einer Bewegung Richtung Stadt, deren Ziele die vermeintlich gegebenen Versprechen auf Arbeit und Wohlstand zumeist nicht halten können. Viertens spiegeln die Städte des 21. Jahrhunderts das Treiben der Globalisierung wieder, sie sind Ort einer schwierigen Koexistenz zwischen Globalem und Lokalem, was bedeutet, dass Menschen unter-

12 Vgl.: Ibid., 42. 13 Vgl.: Bruce Katz, Andy Altman, and Julie Wagner, „An Agenda for the Urban Age“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 476-77.

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schiedlichster Herkunft und Biographie in engen Räumen zusammenleben müssen. Fünftens und endlich zeichnet sich das urbane Zeitalter durch einen hohen Grad von Vernetzung aus. Drei Beobachtungen meinen diese drei AutorInnen – sie sind nur ein Bruchteil der am Buch Beschäftigten, haben aber jedoch einen abschließenden und zusammenfassenden Artikel geschrieben – nun im Zuge des Urban Age Project gemacht zu haben.14 Zuerst sehen sie, dass die Schere zwischen den aktuellen Lösungen für städtische Probleme und den Wegen, die ein urbanes Zeitalter abverlangen würde, weit auseinander klafft. Zweitens widersprechen sich die beiden Wünsche, einerseits das ökonomische Wachstum voranzutreiben und andererseits die Armut einzudämmen. Es gilt, sich für eines der beiden Ziele zu entscheiden. Schlussendlich sehen es die AutorInnen als Problem, dass die Einteilung der Welt, zum Zwecke der Regierung, nicht den realen Gegebenheiten von Umwelt und Ökonomie entspricht. Zwei Lösungsvorschläge werden gegeben.15 Erstens sollen neue StädtebauerInnen und -wissenschaftlerInnen ausgebildet werden, die es vermögen, sich auf sämtlichen Gebieten des mit den Städten in Zusammenhang stehenden Wissens zu bewegen. Diese Menschen müssen sowohl beispielsweise Architekten sein, als auch Soziologen, sie sollen in der Theorie als auch in der Praxis bewandert sein. Ein ziemlich merkwürdiger Vorschlag, da er die totale Überforderung eines einzelnen Menschen bedeutet, Tun und Denken zwanghaft der Beliebigkeit preisgibt. Als zweiten Verbesserungsvorschlag nennen Katz, Altman und Wagner das in Verbindungtreten von öffentlichem und privaten Sektor. Die AutorInnen meinen, dass es für die Regierungen alleine unmöglich geworden ist, im urbanen Zeitalter das Leben zu regulieren, sie verweisen darauf, dass die Städte nicht nur die Nationen reich machen, sondern auch die Unternehmen, damit ebenso die Wirtschaft ihre Verantwortung in den Städten zu tragen hätte. Zusammenfassend gesprochen könnte man behaupten, dass das Ergebnis der Erforschung des urbanen Zeitalters lautet: Wir alle sind mit unserer Lebenssituation völlig überfordert, die Politik ist antiquiert und der Markt ausgeschlossen, obwohl er mehr Macht innerhalb der Städteplanung erhalten sollte, und dennoch, Ziel muss es sein, die Ar-

14 Vgl.: Ibid., 478. 15 Vgl.: Ibid., 479 und 81.

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mut zu bekämpfen. Zwar leicht enttäuscht, jedoch auch erleuchtet, läßt mich dieses Ergebnis zurück. Belehrt hat mich diese Zusammenfassung der Erkenntnisse jedoch nur insoweit, als sie mir verrät, dass auch innerhalb dieses Forschungsprojekts über die Stadt als ganze zu reden in Paradoxien und leeren Worthülsen endet. Das urbane Zeitalter ist meines Erachtens kein Rahmen, der es erlaubt, besonders viel über unser Leben zu erzählen, viel eher scheint es erneut notwendig genauer hinzuschauen, um Themen einkreisen zu lernen, die es erlauben, für das je spezielle Stadtprojekt, in meinem Fall die Schaffung von mehr Autonomie, Erträge abzuwerfen. Mein Thema soll damit im Folgenden die Dichte sein. Wo passiert Dichte? Saskia Sassen argumentiert, dass ein globales Wirtschaftsleben weniger Orte aufzulösen vermag als sogar vielmehr ein Katalysator ihrer Entstehung ist, denn gewartet müssen die Gebäude der Firmen werden.16 Richard Sennett meint, dass erst die städtische Evolution, das sich langsam an eine Umgebung gewöhnen, Verbundenheit mit einem Viertel schafft, damit erst die Interaktion zwischen Menschen und Dingen Geborgenheit im Zentrum zu schaffen vermag, es erlaubt, sich wohl zu fühlen in der Menge.17 Enrique Penalosa meint, dass die durchmischte Dichte des Zusammenlebens Luxus ist.18 Rem Koolhaas wünscht sich eine Verengung der Städte durch altes Gebautes, wie die Berliner Mauer, das als Zeugnis vergangener Ereignisse zu dienen vermag, die Authentizität des Lebens sichern kann.19 Susan Fainstein behauptet ganz in diesem Sinne, dass TouristInnen in New York die Produktion von Kultur zu finden hoffen, nicht eine bloße Wiederauflage, den Konsum.20 Man glaubt, dass Dichte erst wieder

16 Vgl.: Sassen, „Seeing Like a City“, 277-80. 17 Vgl.: Richard Sennett, „The Open City“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 293. 18 Vgl.: Enrique Penalosa, „Politics, Power, Cities“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 313. 19 Vgl.: Rem Koolhaas, „In Search of Authenticity“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 323. 20 Vgl.: Susan Fainstein, „Behind the Boom“, in The Endless City, ed. Ricky und Sudjic Deyan Burdett (Berlin: Phaidon, 2007), 88.

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durch den Städtebau attraktiv gemacht werden muss, so Frank Duffy.21 Das improvisierte Aneinandergeraten kann als Bild für eine neue Form von Arbeitsgemeinschaft dienen, ein neues Büro. Eng aneinander zu leben birgt Gefahren, wie die des Autoverkehrs – Hermann Knoflacher, Philipp Rode, Geetam Tiwari22 – und schenkt Sicherheit, so sind Städte mit einer höheren Anzahl an StraßenverkäuferInnen sicherer, meint Geetam Tiwari.23 Schlussendlich hilft die gemeinsame Nutzung von Infrastruktur Geld und Ressourcen zu sparen, worauf Guy Battle verweist.24 Welcher Art ist diese Dichte, von der ich spreche? Wie unterscheidet sich die Dichte eines Gefängnisses von jener des städtischen Raums? Kaum scheint es mir möglich, diese beiden Arten von engem Leben scharf gegeneinander abzugrenzen, doch sei diese Version einer Unterscheidung versucht: Zuerst ist die Dichte einer Stadt teilweise freiwillig, diese Dichte kann kurzfristig, innerhalb eines bestimmten Radius verlassen werden, wenn auch nie ganz, habe ich doch oben argumentiert, dass die Stadt auch der Ort ist, den die EinwohnerInnen nicht verlassen können, weil sie ihr Leben erwirtschaften und ihre Kontakte pflegen müssen, wonach die Stadt nie nur Ort der Wunscherfüllung ist, sondern vielmehr oft einer des Zwangs. Des Weiteren ist die Dichte der Stadt auch mit politischer Einflusskraft für Einzelne verbunden, wie Sassen argumentiert. Im Erhalten der Bodenstationen des Globalen vermögen die ArbeiterInnen politische Handlungen zu setzen. Man könnte überlegen, ob das Problematisieren der Dichte nicht ein Gespräch über das falsche Thema ist. Könnte nicht argumentiert werden, dass Dichte weniger das Problem, als vielmehr die Lösung ist? Wäre es nicht denkbar, dass die Stadt Hilfe zur Lösung an-

21 Vgl.: Frank Duffy, „The Death and Life of the Urban Office“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 334. 22 Vgl.: Hermann Knoflacher, Philipp Rode, and Geetam Tiwari, „How Roads Kill Cities“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 342. 23 Vgl.: Geetam Tiwari, „Informality and its Discontents“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 350. 24 Vgl.: Guy Battle, „Sustainable Cities“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 391.

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dersartiger Probleme bringt und in diesem Sinne niemals selbst das Problem ist? Demzufolge gilt es weniger von einer Krise des Urbanen zu sprechen, als vielmehr von der Hilfe durch das Urbane. Die geschürte Angst vor der Dichte25 wäre in diesem Sinn stellvertretend entfacht, um andere zu fürchtende Dinge nicht bewusst werden zu lassen. Als Beispiel dafür kann Mexiko Stadt nach dem großen Erdbeben am 19. September 1985 genannt werden.26 Um 7.19 vormittags erschütterte ein Erdbeben von 8.1 auf der Richterskala Mexiko Stadt, eine unbekannte Anzahl an Menschen fand bei diesem Ereignis den Tod. Miguel de la Madrid, Präsident dieser Zeit, nahm keine internationale Hilfe an, er sah Mexiko als fähig und stolz genug an, alleine mit der Situation fertig zu werden. Es erfolgte die Machtübernahme der Menschen in der nun völlig unkontrollierten Stadt. Interessant an diesem Beispiel ist, dass der über das Erdbeben und Mexiko Stadt berichtende Autor (José Castillo) von einer urbanen Katastrophe spricht, nicht beispielsweise von einer Naturkatastrophe oder einer ,Präsidentenkatastrophe‘, dass er eine Formulierung verwendet, die nahe legt, dass das Geschehen in irgendeiner Verbindung zur Stadt stünde. Natürlich kann mir an dieser Stelle sofort unnötiger Sarkasmus vorgeworfen werden, da die Koexistenz von Stadt und Erdbeben natürlich einer größeren Zahl an Menschen den Tod bringt, denn ein Erdbeben in unbesiedelten Gebieten. Dennoch scheint mir, dass es sich hier um eine Katastrophe und eine Stadt handelt, zwei

25 „By acting on the banlieues, the French state tries to regain the authority it has lost in numerous areas, including the global/European economic sphere. […] Consequently, in numerous European countries, presidents, prime ministers, political candidates and high-ranking civil servants make opportunistic uses of ,urban fear‘ in their campaigns and discourses. At the Urban Age summit in Berlin, Chancellor Angela Merkel advocated a zerotolerance approach, which she described as ,elementary‘. In a similar vain, in autumn 2006 the presidential candidate for the left in France, Ségolène Royal, supported the idea of calling for the army to take care of juvenile repeat offenders.“ (Sophie Body-Gendrot, „Confronting Fear“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 355.) 26 Vgl.: José Castillo, „After the Explosion“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 177.

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Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Wo nun die Stadt begonnen hat sich einzumischen, war zu dem Zeitpunkt, da alle formellen Formen der Hilfe versagt hatten. Die Stadt wird mobil, sobald es darum geht, die Menschen zu retten, sobald die staatlichen Fangnetze entzogen sind. Was in Mexiko zu beobachten war, ist die Gründung von Basisgruppen, die nicht nur am Überwinden des durch das Erdbeben verursachten Leids arbeiteten, sondern auch die Machtverhältnisse im Land in Frage stellten. Diese Vereinigungen wurden aktiv, als die Regierenden sich nicht für die Geschädigten der Katastrophe interessierten, die StädterInnen zur Selbsthilfe verdammten.27 Man kann damit davon sprechen, dass die Stadt aktiv wird, weil sie keine feste Einheit ist, sondern ein beständiges Entstehen, das, zu gegebenem Anlass, passiert. Die Menschen in Mexiko Stadt haben ihre eigenen Zusammenschlüsse gegründet, als sie lernen mussten, dass ihr Staat nicht angemessen funktioniert. Ist es dies nun, was Sassen meint, wenn sie die Analyseeinheit Stadtheit vorschlägt? Soll dieser Ausdruck eine besondere Art des Muts zur Improvisation bezeichnen? Welcher Mut zum schlecht Funktionierenden beispielsweise in Shanghai wünschenswert gewesen wäre, als die Stadtregierung von NGOs eröffnete Schulen schloss, weil sie nicht den öffentlichen Standards entsprechen konnten und damit Kinder von Ausbildung befreite?28 Der Begriff Stadtheit soll die Grenzen des Begriffs Urban aufbrechen. Insoweit als er sich nicht politisch instrumentalisieren läßt? Insoweit als er nicht für Panik sorgt? In jedem Fall meint Sassen, dass Städte innerhalb der sie erhaltenden Netze zu betrachten seien, innerhalb von Netzen, die thematisch ausgerichtet sind. Jede Stadt zählt damit zu einer bestimmten ökonomischen Gemeinschaft, zu einer speziellen Form von Kapitalismus, die ihr Gestalt gibt.29 Stadtheit kann

27 Vgl.: Ibid., 177 und 80. 28 Vgl.: Xiangming Chen, „China's New Revolution“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 132. 29 „Perhaps one of the great ironies of our global digital age is that it has produced not only massive dispersal but also extreme concentrations of toplevel resources in a limited number of places. […] To understand the nature of the relationship between cities and the global economy, it helps to specify the multiple global circuits through which cities are connecting across borders. […] Johannesburg is at the heart of long-standing intercity

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damit nur meinen, was trotz Unterschiedlichkeit Standard zu sein scheint. Allgemein gültig ist nun Sassen zufolge die Notwendigkeit, auch für internationale Unternehmen, Stützpunkte in Städten zu haben, die bewacht, geputzt und bearbeitet werden müssen. Womit die Stadt immer dort wäre, wo es etwas zu tun gibt. Was an einem Ort genau gearbeitet wird und wie gearbeitet wird, als Familie, in einer Firma oder als StraßenhändlerIn, muss speziell erforscht werden, so Sassen. Womit dem Begriff Dichte erneut eine Bedeutungserweiterung zuteil wird; sie findet sich nicht nur dort, wo man trotz oder wegen Enge bleiben muss oder möchte, sondern sie bedarf auch eines bestimmten Grundes, eines Auftrags. ,Etwas zu tun haben‘ darf jedoch nicht nur als ,einen Arbeitsplatz besitzen‘ verstanden werden. So argumentiert Sennett, dass auch die Arbeit am eigenen Viertel, das sich mit der Infrastruktur, den Häusern und Menschen in Beziehung setzen, Arbeit ist. Er sieht drei wichtige Voraussetzungen, die eines kommunalen Arbeitens Grundlage und Arbeitsplatz sind: Gehwege, unfertige Formen sowie Entwicklungsgeschichten. Kurz gesagt, für Sennett bedeutet an einer Stadt arbeiten, bereit zu sein zum Austragen von Konflikten. Wobei schon das nächste Thema angesprochen wäre, die Frage nach der Ideologie einer Stadt, die Frage nach dem guten Leben. Enrique Penalosa meint, dass öffentliche Räume Luxus geworden sind und in einer anderen als der existenten Weise auch sein müssen. Das gute Leben kann ihm zufolge draußen in den öffentlichen Parks herangezogen werden. Penalosa sieht die Zukunft als eine, die Elektrogeräte im Überfluss bietet, jedoch wenig Freiraum für schlecht Verdienende. Ein Umstand, für welchen erneut Mexiko Stadt als Beispiel einzustehen vermag. Sechs der beliebtesten Freizeitvergnügen der StadtbewohnerInnen finden dort zu Hause statt, man geht nur selten und dann nur zum Spazierengehen oder Joggen vor die Türe. An einem öffentlichen Stadtleben möchten die Menschen scheinbar nicht

networks centred not only on the trade in gold and diamonds, but also on new types of tourism, such as the so-called cosmetic-surgery safaris, the mix of novel circuits connected to the upcoming Football World Cup it is hosting, and the informal cross-border sub-Saharan trading and manufacturing networks.“ (Sassen, „Seeing Like a City“, 280-81.)

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teilnehmen.30 Gibt es ein solches öffentliches Stadtleben in Mexiko Stadt? Penalosa sieht es als eine Notwendigkeit an, den öffentlichen Raum überdurchschnittlich angenehm zu gestalten, so dass es dort zu einer echten Vermischung zwischen Angehörigen verschiedener Einkommensklassen kommen kann. Nach Enrique Penalosa müssen öffentliche Parks in so hohem Maße ansprechend sein, dass auch die best gestellten Mitglieder einer Gesellschaft sich ihrer Anziehungskraft nicht entziehen können. Doch nicht nur Menschenliebe liegt diesem Vorschlag zugrunde. Enrique Penalosa meint, dass es für das Kapital von Vorteil ist in die Städte zu investieren, da Menschen, die schön wohnen, sich gerne mit weniger Gehalt zufrieden geben, an hässlichen Orten das Bedürfnis nach Geld höher ist. Wofür Berlin ein gutes Beispiel abgibt, steht es doch im Vergleich zu anderen deutschen Städten wie Frankfurt und München wirtschaftlich schlecht da, bietet aber inspirierendes Klima, hohe Lebensqualität und billigen Wohnraum, was es zu einer dennoch attraktiven Stadt werden läßt.31

30 „The low-income person and his or her children live in a very small dwelling and the only alternative to television for spending their leisure time is public space accessible for pedestrians. Pavements, bicycle lanes, plazas, parks, promenades, waterfronts and public sports facilities show respect for human dignity and begin at least to compensate for inequality in other realms. […] Over the next few decades, lower-income citizens will all have access to computers and a wide array of electronic equipment. What they will not have is access to green spaces and sports facilities – unless government act today.“ (Penalosa, „Politics, Power, Cities“, 311.) „Polls show that six of the most common leisure activities enjoyed by residents of Mexico City occur within the house: watching television, reading the newspaper, resting, listening to music, spending time with family and working out. With the exception of exercise, which may entail jogging around the streets or going to the gym, and family life, which could include going for walks or other outings, people in the Mexican capital seem to avoid public life in the city.“ (Néstor Canclini, „Makeshift Globalization“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 189.) 31 Vgl.: Deyan Sudjic, „Looking for a New Future“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 227.

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Dichte ist damit dort, wo es Menschen schaffen, sich und die Umwelt beständig neu zu erfinden. Die dichtesten Gebiete sind solche, wo jede hin muss oder will, wo man einen Auftrag zu erledigen hat. Das impliziert, dass es auch im Zwischenraum der Gesetze Regelung geben muss. Dichte ist weniger an sich bedenklich als eher symptomatisch oder aushelfend. Womit auch einem rein an nordamerikanischen und europäischen Städten orientierten Urbanismus eine Absage erteilt sei, der es möglich macht, beispielsweise afrikanische Städte als Überreste aus einer vormodernen Zeit zu sehen, der nicht anerkennen kann, dass das Leben in beispielsweise Johannesburg auch modern ist, eine andere Form von Lebenshilfe darstellt, ein Ausdruck der Moderne anderer Art ist. Diese Moderne hat Strategien des Überlebens in einer modernen Welt hervorgebracht, die nicht an sich gefährlicher oder unkultivierter sind, sondern nicht mit Hilfe nordamerikanischer und europäischer Kategorien zu begreifen.32 Johannesburg ist nicht der Horror, sondern vollkommen anders und ausgebeutet, welches letzte Attribut alleinig für die größeren Probleme im Stadtleben verantwortlich gemacht werden kann. Wir sollten von afrikanischen Städten lernen (Anne Power), deren Leben mit weniger Material auszukommen hat, wo es eine grundlegende Fähigkeit ist, die eigene Umwelt in immer neuer Weise adaptieren zu können. Ein ,afrikanischer Lebensstil‘ – Um etwas zu benennen, das es doch als Ganzes nicht gibt. – organisiert sich demnach eher

32 „The words of Zakah, a hip-hop artist born in a slum in Nairobi, not only assert an urban identity, but also portray agency even amid squalor and poverty: ,[T]hey [tourists] think there are only zebras and lions. But when they come here I think they‘ll see we‘re doing something international. People everywhere are going to feel us because our skills are real‘. Planners and analysts need to stop considering African cities as spaces that are not yet fully evolved, but as important sites for theorizing and understanding Africa as part of the world. This involves reversing their marginalization in urban discourses and asserting them at the centre of analysis and theoretization. The challenge for African urbanists is to find new languages, methodologies and conceptual tools for understanding African cities as an analytical category in their own right, not just as a deviant form of existence.“ (Caroline Kihato, „African Urbanism“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 217.)

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über den Gebrauch als über den Verbrauch, man ist, natürlich aus einem Mangel an Alternativen, interessierter an der Erhaltung des Gegebenen, eine Idee, die dem nordamerikanisch- europäischen Verständnis noch völlig zu fehlen scheint, wie Anne Power meint. Sie argumentiert, dass es eine der wichtigsten Fertigkeiten im Stadtleben ist, bei zu schnellem Wachstum und hohem Verbrauch das städtische Material immer neu anwenden zu lernen.33 Zwei Überlegungen seien an das Ende dieses Themenaufrisses gestellt. Zuerst eine Behauptung von Jacques Herzog und Pierre de Meuron, die schreiben, dass es keine Theorien über Städte mehr geben sollte und kann, sondern dass es nur mehr Städte gibt.34 Es sei so, dann gehört auch was ich hier schreibe zur Stadt, zu welcher? Dann muss dies nicht im Gespräch sich auseinandersetzen, ist es doch ,bloß da‘. Kurz, wenn es keine Theorie von der Stadt mehr gibt, bleibt nur eines; die Stadt irgendwelchen Notwendigkeiten des Lebens zu überlassen, über die von diesem Zeitpunkt an jene entscheiden, die entweder Theorie im Geheimen machen, wie die PredigerInnen des Kapitalismus, oder solche, die sich als KünstlerInnen bezeichnen, sich mit besonderen Talenten begabt fühlen, glauben, einen besseren Zugang zu den Dingen der Welt zu haben, einen genuinen, der dem der entfremdeten TheoretikerInnen vorzuziehen sei, der ebenfalls keiner Diskussion mehr bedarf. Wenn wir vom Ende der Theorie sprechen, meinen wir das Ende jeglicher Demokratie, meinen wir die Machtübernahme diffuser Gefühle, sprechen wir über die Entwertung von Anstrengung und Argumentation. Theoriefrei zu leben bedeutet, sich der Verantwortung zu entziehen. Die Dinge zu nehmen wie sie kommen, bedeu-

33 Vgl.: Anne Power, „At Home in the City“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 371. 34 „All these attempts to describe the city, to comprehend and reinvent it, were not only necessary – they made sense. But today they leave us cold as they do not relate to us, because they refer to a world that is no longer ours. The time has come to relinquish our longing for labels, to abandon manifestos and theories. They do not hit the mark; they simply brand the author for life. There are no theories of cities; there are only cities.“ (Jacques Herzog and Pierre de Meuron, „The Particular and the Generic“, in The Endless City, ed. Ricky Burdett and Sudjic Deyan (Berlin: Phaidon, 2007), 327.)

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tet, all das Leid der anderen in Kauf zu nehmen, deren ,Dinge nicht kommen‘. Zweitens behauptet Frank Duffy, dass Gebäude zu designen wären, die der persönlichen Interaktion wieder Wert zusprechen können, die es erlauben, aus ihr Mehrwert im Arbeiten zu schöpfen.35 Diese Ansage setzt implizit voraus, dass es die Menschen sind, die nicht zueinander kommen können, dass man nicht interessiert ist an anderen, sondern auf der Suche nach Ruhe und Abgeschlossenheit. Duffy kann jedoch keinen anderen Beleg für seine Behauptung bringen, als seinen Unwillen zu vermuten, dass das Planen seit langer Zeit völlig unreflektiert, ohne Interesse an Demokratie und Versammlungsorten passiert ist. Er zieht nicht in Betracht, dass man sich vermutlich wohl treffen möchte, doch die ArchitektInnen nicht bereit waren, mit schrägen Szenarien dieser Art zu rechnen, sich lieber in Diskussionen über das Kunstsein oder nicht von Bauten, im Plaudern über Moderne und Postmoderne, verloren haben. Es muss damit nicht das Leben der Menschen durch die Architektur pädagogisch behandelt werden, sondern es müssen Wege gefunden werden, die die Architektur zur unsichtbaren Unterstützung werden lassen. Was die Architektur in diesem Sinne zu leisten hätte, ist eine Reduktion aufs Wesentliche, auf ein Wesentliches, welches mit den jeweiligen Situationen wechselt. Die Architektur bedarf einer Neudefinition als Infrastruktur. Dichte ist schlussendlich ein immer thematisch orientierter Umstand, sie hilft in bestimmten Notlagen aus, sie erlaubt in Kontakt zu treten und nicht zuletzt wird sie potentielle Angriffsfläche, ein städtisches Herz, tödlich verletzbar.

35 Siehe oben.

Drei Beispiele für Verdichtung: Autobomben, der Boxclub und eine Kreuzung

D REI ARTEN DER O RGANISATION Im Folgenden werden drei Beispiele für städtische Dichte herangezogen, die helfen sollen, der Frage nachzugehen, von welcher Dichte nun eigentlich die Rede ist. Eine definitive Antwort darauf, wie städtische Dichte immer und überall aussieht, kann nicht am Ende dieses Abschnitts stehen, was schon an der beispielhaften Art des Schreibens zu erkennen ist. Die Leistung, die meine Auseinandersetzung mit dem Begriff Dichte bringen wird, ist es, die Verflechtung der von mir festgelegten Basisdimensionen einer Stadt darzulegen; diese Dimensionen wurden so benannt: das Existieren, das Manifestsein, das Material-, Gebaut-, und damit Unscharfsein, das nicht mit Worten vollständig Erfassbarsein; die Dichte, als Erscheinungsform und Grundlage des Städtischen; die Kritik, als beständige Reflexion der eigenen Situation, als Auseinandersetzung mit den Dingen, den Menschen und einem selbst, wie ich mit Foucault argumentiert habe. Drei Beispiele sollen untersucht werden, drei Organisationsstrukturen, wie man vielleicht schreiben könnte, soll nachgegangen werden. Erstes Thema ist, im Nachdenken über Autobomben, die Gewalt als völlige Unsicherheit oder Nichtorganisation, zweitens wird von einer Gemeinschaft anhand des Beispiels eines Boxclubs berichtet, von einem reglementierten Konstrukt, drittens soll dem scheinbar grundlosen Funktionieren einer Kreuzung in Lagos nachgegangen werden, der Organisation als dem Alltäglichen implizite.

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AUTOBOMBEN Auffahrt: Das Auto, eine multifunktionelle Maschine „[…] [E]ine Männerrunde in einer der Sitzecken, die man auf dem Weg zur Türe passiert, bricht in schallendes Gelächter aus, in jener Feierabendstimmung gelöster Krawattenknoten, die durch Bourbon Soda und Wodka on the rocks befeuert wird, alles andere, was zu hören wäre, einen Moment lang übertönend, den dann wieder an die Oberfläche der Bar tauchenden Streichersound einer vergangenen, von Perry Como oder Petula Clark populär gemachten Schlagermelodie, die man noch zwei, drei Schritte nach sich zieht auf die Straße, wo sie im Rauschen der Stadt versinkt.“1 Das Rauschen der Stadt ist ein Abenteuerlauf auf geraden Straßen zwischen hohen Häusern. Waren wenden sich mit niedrigen Preisen oder fantastischen Identitätsangeboten, flirtend an die vorbei fließende Menschheit.2 Entweder Vergnügungspark, Coney Island, oder kaltes Bier am heißen Nachmittag, so verschläft New York die Sommerzeit.3 Sie machen Feierabend, sie haben den ganzen Tag für Geld geprobt, bedient, gesessen, erfüllt. „Paragrafen und Unterschriften, Stempel und Codewörter.“4 Drehkreuze, Taxameter, Streit, Küsse, ein Sandwich oder der ungemütliche Kaffee gefangen im Baustellenlärm.5 „Zusammenräumen und einpacken, der Bibliothekarin sagen, dass man das Lesegerät noch ein oder zwei Wochen länger braucht.“6 Das Abendprogramm kann erst dann festgelegt werden, wenn auch jemand im Adressbuch noch frei ist, nicht schon am Privatleben anderer Personen für diese Nacht mitbaut. Die Familie ist nicht vor Ort, der Traum von Geborgenheit nur als sich beständig verändernder real. „In der Menge treibend wie ein Teilchen in einem Strom von Photonen, lässt man sich mitziehn die fünfte Avenue hoch bis zur vierzigsten Straße (in der Tasche die überteuerte Dose Mineralwasser), wo alle abbiegen auf den Rasen hinter

1

Peltzer, Bryant Park, 59-60.

2

Vgl.: Ibid., 60-61.

3

Vgl.: Ibid., 77.

4

Ibid., 79.

5

Vgl.: Ibid., 79-80.

6

Ibid., 81.

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der Public Library, für sich und die Gruppe ein Plätzchen suchend, Freunde begrüßend, Decken ausbreitend: sofern möglich.“7 Es ist Krieg? Zuerst muss man sich einklinken in die Gemeinschaft der Fernsehenden oder Radiohörer. Der Sprecher meldet wirres Zeug, er spricht von Washington und New York, „[…] dem Terror bisher nicht bekannten Ausmaßes, der die Vereinigten Staaten ins Herz getroffen habe […]“8 NoHo ist telefonisch nicht zu erreichen. Man kommt derzeit nicht durch nach Manhattan. Ein Tornado ist verantwortlich, meldet die künstliche Stimme am anderen Ende der Leitung.9 Im Fernsehen kann man Bilder sehen „[…] die man nicht glaubt, gigantische Staubwolken, einstürzende Wolkenkratzer, BoeingFlugzeuge, die in Hochhäuser rasen, in Panik wegrennende Menschen […]“10 Wie groß ist die Möglichkeit, dass ich Tote kenne? „[…] wer hat das getan? Terroristen? Eine beispiellose Terrorattacke, sagt ein Sprecher, gegen acht Uhr fünfundvierzig Ortszeit steuerte eine zuvor in Bosten entführte Boeing der American Airlines direkt auf das Wahrzeichen Manhattans zu […].“11 Momente der Angst. Die Ankunft des scheinbar niemals Denkbaren kommt in Ulrich Peltzers – ein Deutscher, der das Trauma New York(s) zu verschriftlichen versucht – „Bryant Park“ zum Ausdruck. Er beschreibt den Angriff auf eine Menge von IndividualistInnen, die wie Einzelteilchen eines Schwarms durch die Straßen gepresst werden, beziehungsweise sich pressen. Peltzer beschreibt eine Situation, in der Kommunikation als technische scheitert, er vergegenwärtigt mithin Einsamkeit, einen Umstand, der keine mediale Absicherung der eigenen Wahrnehmungen erlaubt. Wohinein Peltzer seine LeserInnen stürzt ist der totale Realitätsverlust.

7

Ibid., 82.

8

Ibid., 134.

9

Vgl.: Ibid., 135.

10 Ibid. 11 Ibid., 136.

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„Das Unvorstellbare, das sich hier ereignete, war ein Gegenstand der Phantasie, so daß Amerika gewissermaßen genau das widerfuhr, wovon es phantasiert hatte, und genau das war das eigentlich Überraschende.“12

Meint Slavoj Žižek. Der Sache nach gebe ich ihm Recht, weswegen ich seiner These mit Mike Davis folgen werde. Amerika erscheint mir jedoch im nämlichen Zusammenhang ein etwas fadenscheiniger Begriff zu sein. Fraglich muss viel konkreter werden: Wer hat phantasiert, wer oder was wurde angegriffen? und schlussendlich ist fraglich: Wer schickt die Bomben, sowohl echte als auch herbeiphantasierte? Diese Fragen bilden das Rückgrat des folgenden Kapitels, sie stehen ein für meinen Zweifel daran, ob die Verantwortlichen terroristischer Aktionen, nicht als Einzelpersonen, sondern als RepräsentantInnen einer Kategorie (z.B.: IslamistInnen, MarxistInnen …), eindeutig benannt werden können oder dürfen. Diese Fragen stehen im Zentrum des Ausforschens einer Form von Dichte mit der Eigenschaft Bedrängnis, des Untersuchens einer Art Umfangenheit durch Feindliches. „Fear Studies“13, die Wissenschaften von der Angst waren die akademische Mode der 1990er Jahre, der Weltenbrand alltägliches Begleitthema. Das tatsächliche Erfolgen der gigantischen Terroranschläge vermochte jedoch schlussendlich die Grenze zwischen Fiktion und Realität zu treffen, zum Verschwinden zu bringen. Die Action aus dem Hauptabendprogramm war Wirklichkeit geworden, so Mike Davis. Diese Erfahrung vermag nun jedes Bild zu begleiten. Wir sind in ein unheimliches Zeitalter eingetreten, niemand kann mehr zwischen dem Erscheinen der ,echten‘ Dinge und einer bloßen Oberfläche unterscheiden, befürchtet Davis.14 Diese bisher unbekannte Unheimlichkeit des Lebens zieht neue Formen von Sicherheitsbedürfnis nach sich. Davis spricht sich in diesem Sinne dafür aus, die Sicherheit als neuen Faktor ins Denken des Urbanen aufzunehmen, sie gleichgewichtig mit Leistungen wie Wasserversorgung, Stromversorgung und Kommuni-

12 Slavoj Žižek, Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, edition suhrkamp (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2002), 149. 13 Mike Davis, Dead Cities. And Other Tales (New York: New Press, 2002), 4. 14 Vgl.: Ibid., 6.

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kation zu werten.15 Ob die Anschläge vom 11. September nun theoretisch gefasst werden können und welche Chancen es auf Zukunftsprognosen gibt, ist zusammenfassend gesprochen das Forschungsinteresse von Davis in seiner Geschichte der Autobombe. Die Flugzeugattentate wurden mit fliegenden Autobomben durchgeführt und müssen durch eben diese Tradition beschrieben werden, um fassbarer Gegenstand des Denkens sein zu können, ist Mike Davis‘ These. Michael Hardt und Antonio Negri behaupten in „Empire“, dass das globale Kommando drei Instrumente besitzt: die Autobombe, den Äther und schlussendlich auch noch das Geld.16 Das Geld, wie ist seine Beziehung zum Autobomben-Attentat? Oswald Spengler spricht davon, dass, im Gegensatz zur Natur, Geschichte nicht in Form von Kausalzusammenhängen begriffen werden kann. Im historischen Nachdenken geht es seiner Meinung nach vielmehr darum, die Erscheinungen richtig deuten zu lernen, die richtigen Analogieschlüsse über die Zeiten hinweg ziehen zu können, zu wissen, welche Vergangenheit der Jetztzeit entspricht und was genau aus den Ereignissen für gegenwärtige Handlungen gezogen werden soll. Es geht folglich darum, ein nicht klar definiertes Ganzes in seinem Wesentlichen zu erkennen, es auf seinen Kern zu reduzieren, es auf eine Aussage herunter zu brechen. Oswald Spengler möchte die Geschichte als „formgewordenes Seelentum“17 verstehen … „Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigene Form aufprägt, von denen jede ihre eigene Idee, ihre eigenen Leidenschaften, ihr eigenes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eigenen Tod hat.“18

15 Vgl.: Ibid., 13. 16 Vgl.: Hardt and Negri, Empire. Die neue Weltordnung, 353. 17 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (München: Verlag C.H. Beck, 1990), 8. 18 Ibid., 29.

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Egal, wie obskur dieser Spenglersche Begriff erscheint, was wird fraglich? Spengler interessiert, worüber wir eigentlich sprechen, wenn wir Geschichte(n) erzählen, wenn im Erzählen eine Einheit konstruiert wird. Welche Seele könnte sich zurückmelden in der Geschichte einer ,Kultur‘ der zum Flugzeug gewordenen Autobombe? Wo liegen ihre Landschaften? Es ist die Seele des Profitdenkens. Die Autobombe ist die Bombe der ZweckoptimiererInnen, ihre Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, denn billig und effizient ist diese Form des Angriffs immer. Doch trägt jene Geschichte noch einen weiteren Erzählstrang in sich, der auch örtlich bindend ist, sie beginnt bei denen, die ihre Maschinen verlassen haben, um in Streik zu treten, bei solchen, die nicht willentlich ihr Geld im Kampfe sparen wollten, sondern sich von der Wohltat des Kapitalbesitzes befreit erlebten. Womit ich Mike Davis noch einmal kurz verlassen möchte, um ihn erst weiter unten und im Jahre 1920 in New York wieder zu treffen. „Das Proletariat, die unterste Schichte der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.“19

Schreiben Engels und Marx im „Manifest der kommunistischen Partei“. Weiter argumentiert wird, dass die Bourgeoisie selbst die Waffen ihrer Zerstörung erfunden hat, Werkzeuge ihres kapitalistischen Überlebenskampfes, die KriegerInnen erzeugen, das Proletariat hervorbringen konnten. Wie das? Friedrich Engels und Karl Marx propagieren eine neue Art, Geschichte zu lesen. Nicht von Konsens gezeichnet, sondern vom Konflikt strukturiert, wird der Weg durch die Jahrhunderte zur bürgerlichen Gesellschaft beschrieben. Kämpfe sollen unterschiedliche Klassen hervorgebracht und andere verschwinden haben lassen, sowie jeder Umschwung mit der vollkommenen Reorganisation der betroffenen Gesellschaft einhergegangen sein soll. Diese geschichtliche Sichtweise wird eingefordert, weil sie es ermöglicht, auch die im Kapitalismus herrschende Klasse, die Bourgeoisie, als ein Produkt von geschichtlicher Entwicklung zu beschreiben. Sie läßt das Verhältnis der beiden Klassen, die im Kapitalismus des 19. Jahrhun-

19 Karl Marx and Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, in Karl Marx Friedrich Engels. Werke. (Berlin: Dietz Verlag, 1969), 47273.

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derts nach Engels und Marx die einzig verbliebenen sind, die Arbeiterklasse und die Bourgeoisie, als Gemachtes und Veränderbares sichtbar werden. Und so wie die Bourgeoisie aus der feudalen Gesellschaft entstand, so hat sich auch die Bourgeoisie in ihrem Zwang zur Expansion eine Infrastruktur geschaffen, die ihrer Art des Lebens ein Ende setzen muss, eine Struktur der zentralen Organisation von Menschen, die immer in Bezug auf ihr Arbeiten innerhalb des Produktionsprozesses festgelegt sind. „Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“20

Kurz gesagt, die Bourgeoisie arbeitet Engels und Marx zufolge im Vorantreiben des technologischen Fortschritts und der einhergehenden Objektivierung des Arbeitsverhältnisses – die ArbeiterInnen leben nicht mehr in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis, sondern sind der Notwendigkeit eines maschinellen Produktionsprozesses verpflichtet – an der Vernichtung ihrer eigenen Privilegien. „Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht. Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit ver-

20 Ibid., 467.

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schiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.“21

In der Zeit ihrer Machtübernahme, wenn man so formulieren möchte, hat die Bourgeoisie demnach eine neuartige und umfassende Form von Produktion und Konsumtion vorangetrieben, um sich Marktvorteile zu verschaffen. Das geltende Prinzip wurde: „[…] das Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung.“22 Welches Prinzip einer als, zumindest von Georg Lukács, traditionell bezeichneten Produktion widerspricht, die es mit der ganzheitlichen Herstellung von Produkten zu tun hat, die klar unterscheiden läßt, wer produziert, nämlich beispielsweise die HandwerkerIn und was die Mittel des Produktionsprozesses sind, beispielsweise Nadel und Faden. Die Rationalisierung des Arbeitsprozesses und die einhergehende Messung von Arbeitszeit zerstören, um es kurz zu fassen, das Verhältnis zum produzierten Ding, lassen die ArbeiterIn selbst zum Ding unter anderen werden. Die ArbeiterIn ist so nicht mehr AkteurIn sondern lediglich eingebettet in einen Arbeitsprozess mit anderen Maschinen. Die mit dieser Entwicklung einhergehend notwendig werdende Arbeitsteilung über einzelne Fabriken hinaus macht nun neue Kommunikationssysteme nötig, durch eben welche es auch den ArbeiterInnen ermöglicht wird, miteinander in Kontakt zu kommen. Die Arbeitsteilung erzwingt neue Verbindungen, die den ArbeiterInnen zu erkennen erlauben, dass die Zahl an Gleichen groß ist und Machtpotential in sich trägt. Und in eben diesem Sinne bringt nach Engels und Marx die Bourgeoisie die Arbeiterklasse hervor, sie bietet den ArbeiterInnen Infrastruktur, die Versammlung erlaubt. Noch mehr, durch die Objektivierung des Arbeitsprozesses im Kapitalismus produziert die Bourgeoisie auch direkt die KämpferInnen, die sie stürzen werden, objektivierte ArbeiterInnen, die überall auf der Welt die gleichen sind, das gleiche Ziel aufgrund von gleichem gesellschaftlichem Status haben. ArbeiterInnen, die aus der Situation der Abstraktion ihrer auf Arbeits-

21 Ibid., 466-67. 22 Georg Lukács, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, in Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (Darmstadt, Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag, 1968), 177.

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zeit zu entfliehen versuchen. Der Kapitalismus bringt die ArbeiterInnen als Anhängsel der Maschine hervor, sowie den Widerstand des Teils jeder ArbeiterIn, der über ihre Existenz als Teil eines Produktionsprozesses hinaus lebt. „D. h. die Verwandlung des Arbeiters in ein bloßes Objekt des Produktionsprozesses wird durch die Art der kapitalistischen Produktion (im Gegensatz zu Sklaverei und Hörigkeit), dadurch, daß der Arbeiter seine Arbeitskraft seiner Gesamtpersönlichkeit gegenüber zu objektivieren und sie als ihm gehörige Ware zu verkaufen gezwungen ist, zwar objektiv zustande gebracht. Durch die Spaltung jedoch, die gerade hier zwischen Objektivität und Subjektivität in dem sich als Ware objektivierenden Menschen entsteht, wird diese Lage zugleich des Bewußtwerdens fähig gemacht.“23

Am kommunistischen Manifest orientiert, könnte nun behauptet werden, dass eben jene Waffen, die die gebräuchlichsten sind, für eine bestehende Ordnung am bedrohlichsten werden, dass die Maschinen in den Fabriken, die von den an ihnen Arbeitenden und so ihrer Mächtigen abhängen, die von der Ganzheit des Arbeitsprozesses bestimmt sind, durch ihre Funktionalität sowohl im Wettstreit der KapitalistInnen als auch als Werkzeug des Klassenkampfs zu bestechen vermögen. Wie nun die Maschine, im Außerkraftsetzen des Produktionsprozesses, in einem Kampf um die Verkürzung des Arbeitstags oder um einer Veränderung der Gesetzgebung willen funktionieren kann, so kann das Auto als multifunktionaler und unparteiischer Gebrauchsgegenstand zum Einsatz kommen. Das Auto funktioniert in einem Zeitalter, das die Fabrik gegen den städtischen Ballungsraum ausgetauscht hat. Der Träger der Bombe, das Auto, produziert jedoch im Unterschied zur industriellen Maschine nichts Spezielles, es ist sozusagen eher Dienstleister und damit kontextfreier, wenn auch nicht befreit. Wenn das Auto zur Bombe wird, verlässt die FahrerIn damit nicht ihre Position, sondern verwendet ihr Fahrzeug immer noch in einem möglichen Sinn – sarkastisch formuliert –, als Spaßmobil, als Instrument zur Beförderung positiver oder negativer Gefühle. Das Auto erlaubt in diesem Verständnis folglich zweierlei Arten von (im)materiellen Endprodukten hervorzubringen, erstens das Glück der Reisenden auf einer erhebenden Sonntagnachmittagsausfahrt, zweitens die Zerstörung und

23 Ibid., 294.

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den Tod als zufälliges Nebenprodukt einerseits, als Verkehrsmittel, das in Autounfälle verwickelt werden kann, oder als Träger einer Bombe, Zerstörung und Tod als gewolltes Resultat, andererseits.24 Fraglich wird, in Bezug auf das kommunistische Manifest, das zum Widerstand aufruft, das dazu ermahnt, die neuen Kommunikationsmittel sich anzueignen, um ein klares politisches Programm zu verfolgen, warum es der AutobomberIn scheinbar um bloße Sphärenzersetzung geht, warum sie nur eines ist, und zwar anti- … Das Explodieren der Autobombe kann, so möchte ich argumentieren, als ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit gedeutet werden. Möchte man die Fabrik in diesem Zusammenhang als Ort der Revolte, ja als Ort des kämpferischen Weggehens sehen, so wird diese Hoffnungslosigkeit einsichtig, da es gegenwärtig schwierig ist einen Ort zu finden, den man noch verlassen könnte, an dem es noch irgendjemanden kümmern würde, nähme man den Hut. Kurz gesagt, die Autobombe ist auch Ausdruck eines Befreiungskampfes, der angreifen muss, weil die bestehende Ordnung nicht durch den Verlust von sowieso zumeist als überflüssig wahrgenommenen Menschen zu beunruhigen ist. Die Autobombe erinnert die Stadtmenschen schließlich an die Möglichkeit des Zusammenbruchs der von ihnen erbauten Welt, sie präsentiert sich im Kleid des städtischen Alltags, als nur-ein-Teil-desTreibens auf den dicht bespielten Bühnen des Lebens. Das Automobil erfährt in diesem Sinne einen Prozess der Vernatürlichung, nicht mehr passt es sich ins städtische Leben ein, sondern wird, umso mehr als gestohlenes, als natürliche Ressource betrachtet, es wird zum Hügel, der den Kämpfenden Deckung zu verschaffen vermag. Das Auto könnte damit schlussendlich als nicht mehr industriell geprägte Maschine bezeichnet werden, als städtische Maschine, die demzufolge auch in keinen Automatismus der Produktion integriert ist, ja sogar dafür erschaffen wurde, den unterschiedlichsten Zwecken zu dienen. Die Stadt kann im Gegenzug als Fabrik gedacht werden, deren Tücke darin liegt, ihre ArbeiterInnen völlig einzuschließen, Lebens- und Arbeitsprozess zusammenfallen zu lassen.

24 … sowie als ,Abfall‘, als Luftverschmutzung. Oder versuchen wir unseren Planeten mit Absicht hinzurichten? Manchmal erscheint mir dies so!

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Ort der Erfindung Der Prototyp, Wall Street 1920, September, Mittagszeit. Als Reaktion auf die Inhaftierung seiner Freunde parkte Mario Buda unbemerkt seinen Pferdewagen Ecke Wall – Broad Street. Noch vor Ende des Mittagsläutens ließ Buda die städtisch-alltägliche Idylle hochgehen. Er tötete Passierende, verbrannte Autos. Die Gewalt der Bombe funktioniert unkritisch. Nur wenig weiter weg entdeckte ein Briefträger Flugblätter, die deutlich werden ließen, dass man die politischen Gefangenen zu befreien hätte, wolle man nicht im allgemeinen Sterben untergehen, gezeichnet: American Anarchist Fighters.25 Die Pforten zum Tempel des Kapitalismus, der Börse, blieben zum ersten Mal geschlossen, niemand wagte es sich dem alltäglichen Wahnsinn hinzugeben. Die Angelegenheit wurde zum nationalen Katastrophenfall, zur Legitimation des Ausnahmezustands, da niemand vorherzusagen wagte, ob noch weitere Explosionen folgen würden. Hundert Soldaten aus Washington waren mit ihren geladenen Gewehren abkommandiert. Die New Yorker Polizei sowie die New York Times – „Red Plot Seen in Blast.“ – verdächtigten sie alle, die prominenten Vertreter der Arbeiterbewegung. Buda war auf dem Weg nach Italien. 40 Menschen wurden getötet und trotzdem hatte Buda keinen Erfolg, seine Zielpersonen J.P. Morgan, der in Urlaub gewesen war, sowie Thomas Lamont und Dwight Morrow, die ihre Geschäfte in einem dem Spektakel nahe anliegenden Konferenzraum getrieben hatten, waren aus der Explosion unverletzt erstanden. Kurz gesagt, schon die erste Autobombe war ein Misserfolg gewesen, eine mutwillige Tötung zufälliger PassantInnen. Dennoch, die Einfachheit dieser brutalen Form von Meinungsäußerung entflammte Interesse. Es war ein finanziell armer Einzelner – über mögliche Mitarbeiter Budas sind Mike Davis keine Informationen bekannt –, ein italienischer Immigrant, der es geschafft hatte, die USA für einige Zeit aus allen ihren noch so geläufigen Verrichtungen zu katapultieren. Das schreit geradezu nach Wiederholung. Ein neues Kriegsmittel war geboren, die Waffe für jederfrau und -mann.26 Mit Buda wurde die gefahrene Bombe zum Werkzeug, zur multifunktionellen Waffe, die es erlaubt, kritische Punkte zu attackieren. Sie

25 Vgl.: Davis, Buda's Wagon. A Brief History of the Car Bomb, 1-2. 26 Vgl.: Ibid., 1-3.

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wurde, wenn auch entstanden als Waffe für den Kampf von schwachen Gruppen, aufgrund ihrer hohen Wirksamkeit durch Regierungen übernommen und fand so als Kriegstechnologie ihre Ausbreitung über die ganze Welt.27 Man könnte damit, wie bereits oben vorgeschlagen, von einer Globalisierung aus Erfolg, oder aber auch wegen eines beeindruckenden Preis-Leitungsverhältnisses, sprechen. Konkret formuliert Mike Davis einen Katalog von sechs Punkten, sechs sich anbiedernden Eigenschaften von Autobomben, welchen er ihre umfassende Verbreitung zuschreibt, ja auch ihre Anwendung aus Lust an Effizienz und Gewalt. Eigenschaften, aus welchen der scheinbar universelle und damit Kultur und politische Lager überschreitende Glaube entspringen soll, dass die Autobombe fast immer zum Ziel zu führen vermag. Zum Ziel zu führen vermag? Ich möchte mit dieser Formulierung nicht nahe legen, dass man die Autobombe einsetzt in dem frommen Glauben, einen Krieg mit ihrer Hilfe schneller zu beenden, oder gar anhand des mit Dynamit beladenen Autos erst Krieg zu führen beginnt, weil man eigentlich nach Frieden strebt – eine an sich schon sehr befremdliche Vorstellung zu deren ausführlicher Diskussion, und nur ausführlich darf eine solche Besprechung sein, hier nicht der Ort ist –, nach einer glücklichen Gesellschaft, die erst kommen muss. Nein, so wie mir die Dinge zu liegen scheinen, ist die Autobombe die Maschine schlechthin, um einen Krieg zu führen, der endlos sein möchte. Womit ich zu den aufreizenden Eigenschaften komme, es sind ihrer sechs: Zuerst ist es die überraschende Kraft, die Autobomben freizusetzen vermögen. Zweitens sind Autobomben laut, sie töten Feinde, sie stören den Alltag, sie sind die unüberseh- und hörbare Werbung für eine Sache, oder für religiöse und alle anderen PredigerInnen. Drittens bildet die Autobombe einen sehr billigen Anteil an der kriegerischen Infrastruktur. 40-50 Menschen können mit Hilfe eines gestohlenen Autos und $ 500 an Materialkosten getötet werden. Viertens ist die Autobombe einfach und durch jeden zu bedienen. Ihr spezielles Anwendungsgebiet sind fünftens Angriffe, die eine komplette Gesellschaft demoralisieren sollen. Die Autobombe schafft es durch vergleichsweise kleine Aktionen große Reaktionen hervorzurufen. Weil die Autobombe in ihrem Image, gerade von ihrem nicht Erfolgreichsein, ihrem immer auch völlig Unbeteiligte in den Tod reißen, lebt, erlaubt nur eine kleine Explosion die Panik aller, möglicherweise

27 Vgl.: Ibid., 6.

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sogar der ganzen Welt, auszulösen. Sechstens ist die Autobombe sehr anonym, was bleibt sind zumeist Beweise nicht.28 Kurz gesagt, für Mike Davis ist die Autobombe eine neue Art von Waffe, ihre Anwendung beruht auf öffentlichem Wissen, sie ist „open source“29 Kriegsführung. Die Autobombe erlaubt es demnach, Furcht und Interesse aller Menschen, die sich als potentielle Opfer eines Angriffs zu erkennen beginnen, auszurichten. Die Explosion erlaubt es einer neuen Weltenerzählung sich abzustoßen. Die Detonation bringt die Konjunktur des Religiösen – allgemeiner – totalitärer Erklärungsmuster. Wie bereits mit Virilio angemerkt, die Autobombe ist ein Instrument im Krieg gegen die Realität, sie gehört jener Stadt an, die bereits abgehoben hat, um uns zurückzulassen, in totalitären und substanziell gewordenen Erzählungen. Zentrum: der Terror ist die dem totalitären Regime eigentümliche Funktionsweise Das verlorene Zentrum, Orientierungslosigkeit oder grenzenlose Expansion. In solchen Beschreibungen findet sich der zeitgenössische Mensch wieder, möchte man dem Anschein glauben. Peter Sloterdijk argumentiert, dass zwar die Kugel als Bild und Gefühl der Vorstellung unseres Heimatplanetens zerplatzt ist, jedoch glücklicherweise die „Schäume“30 weiterleben, die flüchtigen Formen, die Launen oder das Zuviel. Die Schäume, die als das zerbrechlichste Gebilde unseres Zusammenlebens zum Herzstück einer neuen Wirklichkeit, einer neuen Welt werden können. Sloterdijk warnt jedoch auch alle ErforscherInnen von Umwelten vor den Auswirkungen ihres Tuns. Er spricht vom Grauen, welches eine Epoche, die der europäischen Moderne, mit sich brachte, deren Hauptanliegen es gewesen zu sein scheint, den Hintergrund sichtbar, das Selbstverständliche explizit werden zu lassen.31 Einer Epoche, die um besserer Kriegsführung willen die Umwelt zum Forschungsgegenstand erkor. Beispielhaft in diesem Zusammenhang ist die Erprobung des Gasangriffs. Das Gas ist eine Waffe, die nicht

28 Vgl.: Ibid., 8-10. 29 Ibid., 11. 30 Peter Sloterdijk, Sphären III. Schäume, 3 vols., vol. 3, Sphären (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004), 26. 31 Vgl.: Ibid., 168.

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primär auf Menschen abzielt, sondern ihre notwendigste Umwelt, die Luft moduliert, sie nicht mehr eine Bedingung des Lebens sein lässt, sondern eine des Todes. Sloterdijk möchte mich, seine Leserin, beruhigen und verspricht, dass nun zwar beständig organisierte Formen des Lebens verloren sind, es aber neue geben wird. Neue Formen, die auch neu beschrieben werden müssen, die, dem Pazifismus und der Liebe dienlich, explizit gemacht werden können. Dennoch, welche Gefahren birgt das Flüchtige, das Instabile? Hannah Arendts Forschung zum Totalitarismus im 20. Jahrhundert erlaubt mir kein Verweilen in Beruhigtheiten, da die Fluidität des Lebens es auch war, mit ihrer einhergehenden Unsicherheit bezüglich jeder Weltwahrnehmung, die es den Vertretern der totalitären Regime erlaubte, mit brutalen Sprüchen – „,Wo gehobelt wird, da fallen Späne‘“32 – zu gefallen. Vom Flüchtigen enttäuschte Menschen wurden für unflexible Muster gewonnen, die ziellose Bewegung in sozialer Unsicherheit wurde eingetauscht gegen Zukunft und fragwürdigen Halt, gegen Ausrichtung und Fortschritt. Es spricht Bände, dass Arendt exklusiv an kohärentem Privatleben orientierte Menschen als die besten Nazis, als gut funktionierende BürgerInnen des nationalsozialistischen Staats, beschreibt, denn ihnen kann Flüssigkeit nur schaden, sie in ihren Berechnungen behindern. „Der Massenmensch, den Himmlers Organisationskünste unschwer zum Funktionär und willigen Komplizen der größten Verbrechen, welche die Geschichte kennt, machten, trug deutlich die Züge des Spießers, nicht die Züge des Mobs; hier waren keine Leidenschaften, verbrecherische oder normale, im Spiel, sondern lediglich eine Gesinnung, die es selbstverständlich fand, bei der geringsten Gefährdung der Sekurität alles – Ehre, Würde, Glauben – preiszugeben. Nichts erwies sich leichter zerstörbar als die Privatmoral von Leuten, die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres Lebens dachten, nichts konnte leichter gleichgeschaltet, öffentlich uniformiert werden als dieses Privatleben.“33

Den einem zwanghaften bewegt Sein inne wohnenden Terror beschreibt Arendt als die Form des politischen Ausdrucks totalitärer Re-

32 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft (München: Piper Verlag GmbH, 2001), 968. 33 Ibid., 723.

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gime, innerhalb welcher der Terror, so könnte man zusammenfassen, drei Eigenschaften erhält: (1) Der Terror dient zur Erzeugung von Sinnlosigkeit, (2) er befördert die Zerstörung einer gemeinsamen Welt, löst emotionale Bindungen, und (3) schlussendlich ist er ein endloser Prozess. Im Voranschreiten muss eine zielgerichtete Bewegung immer gegen Widerstände stoßen, muss immer etwas den Fortgang aufhalten, soll nicht ein Zustand die Bewegung ablösen. Es braucht terroristische Maßnahmen, wie die wahllose Tötung einer Gruppe „objektiver Gegner“34, um das Funktionieren der totalitären Herrschaft zu gewährleisten. Sloterdijks Flüchtigkeit ist nun natürlich das Gegenprogramm zur Bewegung, sie ist eher was man vielleicht ein vielschichtiges Bewegtsein nennen könnte. Kurz gesagt, fraglich muss werden, wie viel Freiheit in einem bestimmten ZeitRaum, in einer Stadt erträglich ist, ab wann die Bewohner einer Stadt lieber auf alle Freiheit verzichten, um zu glauben. Totalitäre Herrschaft? Ich möchte eine Minimalbeschreibung dieses Begriffs dem Kommenden voranstellen, jedoch kann dieser ganze Textabschnitt als Versuch gelesen werden, die Eigenschaften des Totalitarismus als Totalitarismus am Gebiet gegenwärtiger Städte auszuforschen. Drei Texte stehen im Zentrum dieser Auseinandersetzung: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Hannah Arendt), „Homo sacer“ (Giorgio Agamben) und „Eine Geschichte der Autobombe“ (Mike Davis). Totale Herrschaft ist mit Arendt gesprochen erstens vom Terrorismus getragen, ihre Grundbedingung ist zweitens die Ausbildung einer Massengesellschaft, die die Klassengesellschaft abzulösen vermag, sowie drittens innerhalb totalitärer Gesellschaften am Verschwinden einer existierenden Welt gearbeitet wird. Der Versuch einer totalen HerrscherIn ist es, das überlieferte Material, eine bisher als gültig angesehene Geschichte, durch pure Fiktion zu ersetzen. Wenn der Terror nun Ausdruck totalitärer Regierungsformen ist und die gegenwärtigen Städte von Autobomben bedroht sind, welche Form der politischen Organisation durchdringt dann das Leben? Ich möchte den zu Arendts Denken umgekehrten Weg einschlagen, ihr

34 „Der ,objektive Gegner‘ unterscheidet sich von dem ,Verdächtigen‘ früherer Geheimpolizeien dadurch, daß er nicht durch irgendeine Aktion oder einen Plan, dessen Urheber er selber ist, sondern nur durch die von ihm unbeeinflußbare Politik des Regimes selbst zum ,Gegner‘ wird.“ (Ibid., 877.)

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entgegenkommen und mich fragen, welche Art von Herrschaft mein Leben organisiert, da mein Zeitalter dies der Autobombe zu sein scheint. Ich werde damit beim Stattfinden terroristischer Gewalt zu denken beginnen, um etwas über eine Regierungsform zu erfahren. Während Arendt dem Terror seinen Platz im Gefüge totalitärer Herrschaft zu verbalisieren versucht, möchte ich wissen, ob wir, als Weltbevölkerung, in einer Gesellschaft mit zumindest totalitären Zügen leben, weil es terroristische Angriffe gibt. Eine Forschungsfrage, die nach dem Vorangegangenen vielleicht einleuchtend und schnell positiv beantwortet werden könnte. Jene Meinung jedoch, dass eben genau diese bestimmte und spezielle jeweils vom Terror betroffene Kultur, Lebensform, Gesellschaft… – ich bin verleitet von einer konkreten Verdichtung von Menschen, Tieren (die lernen, sich an urbane Lebensräume anzupassen), Pflanzen (die anarchistisch aus Ritzen hervorbrechen) und Material (das angeordnet ist oder liegengelassen) zu sprechen, von Schäumen – den Terror durch ihre totalitäre Strukturiertheit hervorzubringen vermag, ist zumindest der alltäglichen Berichterstattung eher fremd. Zumeist wird angenommen, dass der Terrorismus des 21. Jahrhunderts, in jedem Fall der am Territorium des wirtschaftlichen Zentrums, von der Freiheit, ja vom Demokratischsein, der betroffenen Orte provoziert wird. Fraglich wird damit, was mit Arendts Studie anzufangen ist, möchte man über Städte sprechen, deren Zustand unklar ist, die von Furcht durchsetzt und dennoch auch frei sind. Szenario I – Wahlloses Töten 1985 startete der damalige Direktor der CIA, William Casey, die Arbeit an ,härteren‘ Autobomben, als denen der Hisbollah. Er war durstig, wie Davis schreibt, Rache an der Hisbollah zu nehmen, die der US Regierung unter Reagan mit Hilfe von Autobomben Niederlagen zugefügt hatte. Casey beschloss, brutaler zu werden als seine Feinde. Weil die CIA jedoch wenig Geschick zeigte, engagierte Casey zur Ausführung Söldner aus dem Libanon, die unter der Leitung eines ehemaligen britischen Offiziers drei Millionen Dollar erhielten, um die ultimative Bombe zu bauen.35 Ziel: Die Tötung des Hisbollah Chefs Sheikh Mohammed Hussein Fadallah. Im März 1985 wurde das kons-

35 Vgl.: Davis, Buda's Wagon. A Brief History of the Car Bomb, 90-91.

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truierte Gefährt schließlich nahe dem Haus des Feindes im belebten Viertel Bir al-Abed in Beirut zur Mission abgestellt. 250 Mädchen und Frauen waren in der nahe gelegenen Moschee zum Gebet versammelt, 40 von ihnen wurden getötet. Insgesamt erlagen 80 Ortsansässige dem Anschlag, 256 wurden verwundet. Dennoch, und dies scheint kaum noch notwendig zu erwähnen, auch dieser Anschlag war eigentlich ein Misserfolg, da Mohammed Hussein Fadallah unversehrt weiterlebte. Diese Geschichte ist jedoch damit nicht zu Ende, da die Hisbollah, trotz Vertuschungsversuchen, keinerlei Zweifel daran hegte, woher die Bombe gekommen war, folgten Anschläge der anderen Seite. Casey ließ sich nicht entmutigen. Und nach dem Prinzip, besser irgendwo kämpferisch zu sein, wenn man die Orte der eigentlichen FeindInnen nicht kennt, als passiv, setzte er seine Hoffnung in den Plan, mit Hilfe der Religion, mit Hilfe des Islams nun die sowjetischen Soldaten in Afghanistan zu besiegen. Platt formuliert: Die eine Ideologie sollte durch eine bessere wegsprengt werden. Im Zuge dieser Bestrebungen wurde von Reagan das Papier NSDD 166 unterzeichnet. Eine Unterschrift, die beschloss, islamistische Guerilla im Sabotieren der sowjetischen Militärstellungen zu trainieren. So kam es, dass zukünftige AktivistInnen, die später unter dem Namen Al Qaida berühmt werden sollten, im Auftrag des CIA, finanziert aus Saudi Arabien und den Golf Emiraten, ihre Ausbildung erhielten.36 „Das Leiden der vielen Nichtkombattanten ist kein ,Kollateralschaden‘, denn in Wirklichkeit sind sie die direkten Ziele […]“37 Wer kämpft gegen wen, aus welchem Grund? Davis Darstellung legt mir nahe zu glauben, dass es nicht um Macht geht, dass nicht Geld zum Mord motiviert, sondern, dass die alleinige Möglichkeit, irgendwo irgendwen unverhofft in den Tod zu reißen, Grund genug ist, sich der Autobombe zu bedienen. Mir scheint, wovon Davis zu berichten versucht, ist ein perverser Spaß. Drei Punkte möchte ich aus diesem Szenario zu Arendt mitnehmen, erstens beschreibt Davis eine Situation der völligen Achtungslosigkeit gegenüber sowohl Menschen als auch Material. Wie im kommunistischen Manifest argumentiert wird, dass die ArbeiterIn aufgrund ihrer Objektivierung durch die Reduktion ihrer Verausgabung auf Arbeitszeit der Maschine gleich gemacht wird, so kann anschließend an Davis behauptet werden, dass die Autobombe

36 Vgl.: Ibid., 93-96. 37 Hardt and Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, 76.

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als Mittel der Intervention im städtischen Raum alle Anwohner ihrer nicht belebten Umgebung angleicht und ohne zu unterscheiden alles Anwesende zerstört. Es erscheint beinahe gewollt, dass die Autobombe oft ihr eigentliches Ziel verfehlt. Erstens ist damit festzuhalten, dass die Autobombe einer Massengesellschaft antwortet, wie sie Arendt beschreibt, in der die eine immer für die andere genommen werden kann, in der es manchem Gehirn sinnvoll erscheinen kann zu morden, die Frage jedoch, wer ermordet wird, in den Hintergrund tritt. Zweitens lässt einen Davis Beschreibung unwissend zurück, hatte man sich erhofft, die DrahtzieherInnen hinter einzelnen Ereignissen kennen zu lernen. Davis legt nahe, dass kaum eindeutig werden kann, wer genau wen töten wollte und aus welchem Grund, zumeist erscheinen verschiedenste Interessen ineinander verstrickt, wie er anhand der Beschreibung der Schulung von heutigen Al Qaida Aktivisten zeigt. Drittens sind damit die Verbindungen zwischen verschiedenen Ereignissen und Instanzen im über die Welt ausgedehnten Netz an Attentaten unklar. Diese Welt ist eine von Stellvertreterinnen und ihren Kämpfen. Klare Zusammenhänge zwischen Täter, Tat und Opfer bleiben aus. Ein näherer Blick in „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“: Hannah Arendt argumentiert, dass die erste notwendige Voraussetzung zur Etablierung eines totalitären Regimes die Einführung einer Massengesellschaft ist, die die Klassengesellschaft ablösen muss.38 Unter Massen versteht Arendt Gruppen, „[…] die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsamen erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen.“39

Arendt zufolge existieren Massen zumindest potentiell immer und überall, ihre charakteristischste Eigenschaft ist, dass sie in ,normaler‘ Zeit politisch neutral bleiben, in Zeiten der Krise jedoch zum tragenden Element totalitärer Regime werden können. Das diese Gruppe be-

38 Vgl.: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 643. 39 Ibid., 668.

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herrschende Gefühl ist die Selbstlosigkeit, so Arendt. Selbstlosigkeit im hier angesprochenen Sinne meint nicht, sich anderen gegenüber gütig oder freundlich zu zeigen, wenn auch diese Eigenschaften der angesprochenen Lebensform nicht fremd sind, denn wählt man eine noch andere Formulierung für das Aufgehen im selbstlosen Tun zur Unterstützung anderer, so könnte man formulieren: Selbstlosigkeit bedeutet die totale Hingabe an die Erfüllung der Wünsche anderer. Womit nur noch eine Einschränkung zu machen wäre, nämlich jene, dass es eben nicht um die Erfüllung von Wünschen aller anderen geht, sondern lediglich darum, im Begehren einer totalitären FührerIn heimatlich zu werden. Selbstlosigkeit ist das Bewusstsein, dass es auf das eigene kümmerliche Dasein nicht ankommen kann. Hand in Hand mit dieser ,Kultur‘ des Zusammenlebens erscheint eine neue Geisteshaltung, so Arendt, die der verlassenen Generation40, die „[…] in ,Erdteilen dachte‘ und in Jahrhunderten fühlte.“41 Diese Generation ist gezeichnet durch Entwurzelung, durch den Verlust des liebevollen Umfelds. „Nur jemandem, der seine Freunde und wen er liebt bereits verlassen hat und darum verlassen ist, wird es mit dem ,Wo gehobelt wird, da fallen Späne‘ wirklich ernst sein […].“42 Wie kann jedoch die Ablösung der Klassengesellschaft durch die Massengesellschaft erzwungen werden? Für Hannah Arendt scheint das Rezept von Hitler und Stalin zur Durchsetzung dieses Plans ein sehr einfaches gewesen zu sein: „[…] [E]s gibt keine Klasse, die man nicht ausrotten kann, wenn man nur genügend Individuen, die ihr angehören, ermordet.“43 Zwei Illusionen der demokratischen Politik sieht Arendt im Erfolg der totalitären Bewegungen als entlarvt an. Erstens die Vorstellung, dass jede BürgerIn zumindest mit einer politischen Richtung sympathisiert. Das Zerplatzen dieses Traums einer demokratischen Gesellschaft, in der eine Jede eine Meinung hat und sie bestenfalls auch noch artikuliert, macht den Blick frei auf den Umstand, dass selbst demokratisch organisierte Staaten immer nur von einer Minderheit ihrer BürgerInnen regiert werden. Zweitens sind die scheinbar Indifferenten jedoch auch nicht ohne politisches Gewicht, wie ihr aktiv werden unter

40 Vgl.: Ibid., 975. 41 Ibid., 680. 42 Ibid., 976. 43 Ibid., 690.

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Stalin und Hitler zeigt. Womit Arendt feststellt, dass Gleichheit vor dem Gesetz nur so lange funktionieren kann, als die BürgerInnen in Gruppen zusammengeschlossen sind, einen Status innerhalb des sozialen oder politischen Lebens einnehmen, über Gemeinschaften oder Klassen auf staatlicher Ebene repräsentiert sind.44 Mit dem Entdecken dieser Schwächen demokratisch organisierter Staaten werden ihre Qualitäten für eine Übernahme durch totalitäre HerrscherInnen sichtbar. So benutzte Hitler das demokratische System nur um seine Lächerlichkeit zu beweisen, nur um zu zeigen, dass die BürgerInnen es eigentlich gar nicht wünschten. Demokratische Staaten in ihrer bisher gelebten Form bringen kurz gesagt ein hohes Maß an potentiell frustrierter Bevölkerung mit sich, die, weil sie aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugang zu einer passenden Gemeinschaft finden konnte, vereinsamt, sowie folglich eine Ohnmacht erfährt bezüglich der eigenen Beteiligung am politischen Geschehen im Staat. Die Bewegungen geben in ihrer brutalen Aktivität eben jenen Hoffnung, die das Gefühl haben, ihr ganzes Leben lang betrogen worden zu sein und endlich Hilfe in einer politischen Bewegung zu erkennen glauben, die Verbrechen ankündigt und sie auch begeht, also Folgerichtigkeit im Handeln beweist. Arendt verweist darauf, dass Hitlers beste Propaganda in den Zeiten seines Aufstiegs das Bekennen von Gewalttaten war, welches Eingestehen ihm ermöglichte, sich die Identität des tapferen Rebellen zu geben, der es wagt, gesellschaftliche Konventionen hinter sich zu lassen.45 So beschreibt Hannah Arendt auch, dass es gerade die persönlichen Verfehlungen von Mitgliedern der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts waren, sie waren Gescheiterte in konventionellen Berufen, Süchtige oder eines Privatlebens nicht fähig, die jene einerseits frei machten, aktiv zu werden und die andererseits die stärksten Sympathiemagneten wurden. All das schreit nach Skepsis gegenüber einer Rhetorik des wilden Windes, der alles Unterdrückende wegzufegen vermag. Bewegungen sind, wie der Name schon sagt, nicht zu einem Abschluss zu bringen, ihr Ziel liegt im Voranschreiten. Hannah Arendt zeigt auf, dass sich die totalitären Regierungen durch ihre Strukturlosigkeit auszeichneten, die es Hitler und Stalin erlaubte, immer unerwartet zu entscheiden und damit auch vom Rest der Bewegung völ-

44 Vgl.: Ibid., 671. 45 Vgl.: Ibid., 710.

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lig unabhängig bleiben zu können. Was von diesen Herren bekannt ist, deutet darauf hin, dass sie die Atomisierung der Gesellschaft bis in ihr nächstes Umfeld wünschten, dass sie niemals als einer unter vielen auftreten wollten, so Arendt.46 Die Bewegungen waren folglich auf den Zweck ausgerichtet, möglichst schnell zur Ausführung von Aufgaben zu kommen. Sie waren nicht in Unterbereiche strukturiert, die jeweils für ein gewisses Gebiet verantwortlich zeichneten, um die Herausbildung von Verantwortlichkeiten und Hierarchien zu verhindern. Mit diesem Anliegen wurde es zwingend, die Beziehungen zwischen den Instanzen formlos zu halten, niemand durfte um das Zusammenspiel der Elemente einer Bewegung zuverlässig Bescheid wissen.47 So schreibt Hannah Arendt, „ […] daß nur ein Gebäude eine Struktur haben kann, daß aber eine Bewegung, nimmt man dies Wort so buchstäblich ernst, wie die Nazis es genommen haben, nur eine Richtung haben kann und daß jegliche gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte Richtung sich bewegende Bewegung nur ein Hindernis ist.“48

Hannah Arendt meint auch im Leitgedanken der SS, der lautete „,[k]eine Aufgabe existiert um ihrer selbst willen‘“49, einen passenden Ausdruck für das Funktionieren von Bewegungen zu finden, da diese Idee es einerseits erlaubt, sinnlos zu morden und andererseits sich niemals als irgendwo angekommen zu empfinden, da jede neue Aufgabe wiederum nur als ein weiteres Mittel zu verstehen ist. Diesem Denken korrespondiert der „objektive Gegner“50. Der objektive Gegner51 ist der jeweils neue Widerstand. Es handelt sich um einen leeren Begriff, der immer neue Menschengruppen meinen kann. Hannah Arendt nennt als Beispiel die Schauprozesse in der Sowjetunion, bei welchen Veranstaltungen die subjektive Einsicht in die objektive

46 Vgl.: Ibid., 846. 47 Vgl.: Ibid., 828. 48 Ibid., 832. 49 Ibid., 850. 50 Ibid., 879. 51 Ich verbleibe in der männlichen Form, weil ich diesen Begriff streng nach Hannah Arendt verwenden möchte und in diesem Sinne auch ihre genaue Wortwahl beibehalten muss.

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Schuldigkeit – wofür das Ablegen eines Geständnisses, das der totalitären Bewegung in ihrem Fortgang behilflich war, Ausdruck wurde – ein grausiges Spektakel hervorbrachte.52 Arendt zitiert in diesem Zusammenhang einen ehemaligen NKWD-Agenten, dessen Worte ich wiedergeben möchte. „,Meine Vorgesetzten kennen mich und meine Arbeit; wenn die Partei und die NKWD von mir jetzt verlangen, diese Dinge einzugestehen, müssen sie ihre guten Gründe haben. Meine Pflicht als treuer Bürger der Sowjetunion ist es jedenfalls, das Geständnis, das sie von mir verlangen, nicht zu verweigern‘.“53

Womit das Beispiel des ,freiwilligen‘ objektiven Gegners beschrieben wäre. Alle, die sich nicht für die Bewegung opferten, oder dieses Angebot nicht erhielten, wurden im Konzentrationslager zu Tode gebracht. Von ihnen hat man keinen Text! „Würde das Bewegungsgesetz in positives Recht übersetzt, so könnte sein Gebot nur heißen: Du sollst töten!“54 Es sei angenommen, dass eine Stadt per Autobombe angegriffen wird, weil Verbände und Gruppen, Formen der Repräsentation eher zerstört werden sollen als es konkrete Ziele gibt. Durch Misstrauen und Unsicherheit soll ein praktizierter Lebensstil, eine Stadtkultur, zersetzt werden, um Platz zu machen für Orientierungslosigkeit, für den Glauben an große Projekte, die das Konkrete vergessen lassen. Die Autobombe ist demnach ein Instrument zur Beherrschung und Unterdrückung demokratischer Strukturen, die sich nicht im Gang zur Wahl erschöpfen, sondern im gemeinsamen Leben heraus gebildet werden. Die Autobombe erlaubt es, Misstrauen zu sähen gegen objektive Gegner, deren Namen inhaltlich ungenau und pauschalisierend sind, wie beispielsweise der der IslamistIn. In ihrer Brutalität, wie genauso in der Brutalität der Maßnahmen, die man der Autobombe entgegen setzt, findet sich die Werbestrategie Hitlers wiederbelebt. Die einen Ereignisse – Angriffe unbekannter AktivistInnen – sprechen dafür, dass es doch möglich ist, dieses System zu stören, dass nur getan werden muss wovon gesprochen wird. Die Schutzmaßnahmen sprechen für die Gegenpartei – die

52 Vgl.: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 880. 53 Ein ehemaliger NKWD-Agent nach: Ibid. 54 Ibid., 951.

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offiziellen Vertreter –, sie zeigen, dass das System sich zu wehren vermag und es sich lohnt Sanktionen hinzunehmen, da auch den Worten der PolitikerInnen zu trauen ist. Kurz, die Bedrohung durch Terrorismus läßt misstrauische, ängstliche und verführbare Menschen zurück, die keine Meinung zu haben brauchen, um sich für die gewalttätigste aller Bewegungen zu entscheiden. Wer schickt die Bombe? Szenario II – Unvorstellbares „Selbst wenn Landguerillas in rauen Gegenden wie dem Himalaja, dem KyberPass und den Anden überleben, hat sich der Schwerpunkt der weltweiten Rebellion wieder in die Städte und die sie umgebenden Slums verlagert. Für diesen städtischen Kontext nach dem Kalten Krieg begründete der HisbollahAngiff auf die Kaserne der Marines sozusagen den Goldstandard des Terrorismus. Die Angriffe vom 11. September 2001 waren nur die zwangsläufige maßstabsgerechte Vergrößerung der Taktik: De facto wurden geflügelte Autobomben eingesetzt.“55

LTTE, meint Liberation Tigers of Tamil Eelam, meint Befreiungskämpfer für einen Staat der Tamilen in Sri Lanka gruppiert um die Führergestalt Vellupillai Pirabhakaran, der es für sinnvoll und dem Stand des Kampfes angemessen entschied, nun auch Selbstmordattentate in Autos zu fahren. Es war die Effektivität der Selbstmordattentate 1983 auf US-amerikanische und französische Kasernen in Beirut, die diese Erneuerung für eine Autoritätsperson wie ihn scheinbar unumgänglich werden ließ.56 Die Durchführung der Anschläge wurde im Zuge dieser Adaption optimiert, größere Gruppen konnten nun aktiv werden. Man organisierte Attentate von Einzelpersonen, und andere, in die hunderte von AktivistInnen eingebunden waren. Das bevorzugte Ziel der Angriffe war zu jeder Zeit Colombo, die Hauptstadt Sri Lankas. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums berichtete im Zusammenhang mit diesen Attentaten, dass eine Explosion in Colombo

55 Mike Davis, Eine Geschichte der Autobombe (Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2007), 116. 56 Vgl.: Davis, Buda's Wagon. A Brief History of the Car Bomb, 99.

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größere Breitenwirkung erlaubt als umfassende Angriffe außerhalb.57 21. April 1987, Auftakt. Diese erste Explosion in Colombo zerstörte eine Busstation zur Stoßzeit. Wozu? Um dem Frieden den Krieg zu erklären. Mit den Anschlägen galt es keine speziellen Personen zu töten, es galt das Gesprächsklima zu zerstören, ethnische Konflikte am Brennen zu erhalten und sich sanften Reformen in den Weg zu stellen, wie Davis aus den Ereignissen schlussfolgert. Die Tigers, mit Verbindungen zu Indira Gandhi, hatten Kampftrainings in den Bergen durchlaufen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Gruppe Geld für ihre Arbeit angeboten wurde, dass sie auch als Söldnerheer agierte. Jedes Mitglied der Gruppe trägt eine Zyankalikapsel um den Hals, um für den Fall einer Gefangennahme vorbereitet zu sein. Anita Pratap ist die erste Journalistin, der es erlaubt wurde, die Tiger bei ihren Vorbereitungen zu beobachten. Sie beschreibt in ihrem Buch „Island of Blood“ strengste Disziplin, ein Leben mit nur einem Ziel: Sich, bevor man zur Mission aufbricht, mit dem Anführer photographieren zu lassen.58 Dienstag, 19. Mai 2009 – Wie ich noch an diesen Zeilen arbeite plant Sri Lankas Präsident, Mahinda Rajapakse, seine Rede zum scheinbaren Sieg über die tamilischen Rebellen. „Der Tod von Velupillai Prabhakaran, des Rebellenführers, wird darin prominent vorkommen. Er gilt als Siegestrophäe.“59 Schreibt Oliver Meiler in seinem Bericht für die Süddeutsche Zeitung. Zu Hilfe kam dem selbst gewaltund sieggierigen Präsidenten, dass die Tiger seit 2006 auf der EUListe terroristischer Organisationen stehen, welcher Status es erlaubte, ihre Auslandskontakte zu kontrollieren. Wie groß die Hoffnungen auch sind, dass sich nun alles zum Guten wenden wird, dass den Tamilen etwas mehr Autonomie von Seite der Regierung angeboten wird, über die sie sich freuen werden, so tragisch erscheinen doch die Aussichten, betrachtet man sie nüchtern. Auf die Frage nach einer Stellungnahme zu den Themen Föderalismus und Dezentralisierung, antwortete Mahinda Rajapakse: „Eine Dosis Machtverschiebung unter einer starken Unionsregierung ist möglich, aber Förderalismus kommt

57 Vgl.: Ibid., 100. 58 Vgl.: Ibid., 100-02. 59 Oliver Meiler, „Wenig Hoffnung für die Träneninsel. Den Krieg gegen die Rebellen hat die Regierung gewonnen – der Konflikt kann aber nur politisch gelöst werden“, Süddeutsche Zeitung 114 (2009): 9.

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nicht in Frage: Das klingt zu sehr nach Separatismus.“60 Natürlich! Ein klar einsichtiges Argument, wenn etwas nach etwas anderem klingt, muss es wesenhaft mit ihm verbunden sein – man möge die Ironie in meinem Sprechen bitte nicht übersehen. Dieses klingen-nach-etwas Argument erscheint mir auch in allgemeinem Zusammenhang interessant, diese Formulierung vermag nämlich darauf zu verweisen, wie wenig Interesse man im Reden über Politisches, über Kriege, den eigentlichen, und ich meine damit den von den Betroffenen erlebten, Ereignissen schenkt. Wäre es nicht viel eher angebracht, nicht viel mehr von Interesse, einen Präsidenten in Zeiten des Krieges zu fragen, ob er in Zukunft vor hätte, noch mehr Menschen umzubringen oder am Rande von Kampfhandlungen sterben zu lassen denn nach seiner Meinung zu einem Begriff, zu einem politischen Konzept? Würde diese Frage nicht auch genau den Punkt treffen? Beginnt Autonomie nicht dort, wo man nicht in einem ins Unheimliche erhöhten Maß um das eigene Leben sowie um jene fürchten muss, die man liebt? In Deutschland legten DemonstrantInnen den Frankfurter Bahnhof als Protest gegen das vom Staat veranstaltete Blutbad in ihrer Heimat lahm. In Chören brachten sie drei Forderungen vor: „,Krieg ohne Zeugen auf Sri Lanka – Stoppt das Massaker an den Tamilen‘[…] ,Deutschland, Deutschland, hilf uns, hilf uns‘[…] ,Wir wollen Frieden. Wir wollen einen eigenen Staat‘.“61 … Die Zerstörung des Gesprächsklimas. Ein Foto mit einem Führer. Sind die Menschen wahnsinnig geworden? „Die Todesstrafe wird absurd, wenn man es nicht mit Mördern zu tun hat, die wissen, was Mord ist, sondern mit Bevölkerungspolitikern, die den Millionenmord so organisieren, daß alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind: die Ermordeten, weil sie sich nicht gegen das Regime vergangen haben, und die Mörder, weil sie keineswegs aus ,mörderischen‘ Motiven handelten.“62

60 Mahinda Rajapakse nach: Ibid. 61 Jonathan Stock, „,Deutschland hilf uns‘ Exil-Tamilen protestieren gegen Militäroffensive“, Süddeutsche Zeitung 114 (2009): 9. 62 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 945.

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Der unvorstellbare Terror, die nicht erklärbar handelnde AufseherIn im Konzentrationslager; Herrschaft ist wahrhaft total, wenn ihr Terror ein vollkommen sinnloser ist. Wenn die Beherrschten vollkommen im System aufgehen, wenn sie nicht mehr wünschen oder wagen sich zu rühren, dann erst entfaltet der totalitäre Terror seine ganze Kraft. Der Terror muss nach Ende des Widerstands bleiben, um das Gerüst flüssig und damit die Bewegung zu erhalten, um den Menschen zu verunmöglichen, sich in irgendwelche Kausalitäten einzufinden. Menschen mussten damit in Kategorien vernichtet werden, als objektive Gegner. War zufällig eine BefreiungskämpferIn unter den zu Ermordenden, eine die sich am Regime vergangen hatte, war ihre Position völlig absurd; was hatte sie riskiert? Nur das, was geradezu jeder hätte passieren können.63 Risiken auf sich zu nehmen wird sinnlos, wenn das am Leben sein unter keinerlei Sicherung mehr vonstatten zu gehen vermag. Das vollkommen Neue und Unfassbare an den totalen Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts ist nach Hannah Arendt, dass man aufhörte, Menschen zu töten und es anging, wie man formulieren könnte, sie durchzustreichen. So schreibt Arendt, „[…] weder Leichnam noch Grab geben Kunde davon, daß ein Mord geschah oder daß jemand starb.“64 Es ist unvorstellbar und beängstigend, dass in der von Arendt beschriebenen Situation viele Menschen ihre Art zu leben und zu denken grundlegend veränderten. Von der Erfahrung wahlloser Bestrafung gezeichnet oder beeindruckt, wurde es für Menschen akzeptabel, nur in größeren Zusammenhängen zu denken, sich selbst im Organisieren einer neuen Welt zu verbrauchen. „Es handelt sich dabei darum, das herzustellen, was es nicht gibt, nämlich so etwas wie eine Spezies Mensch, deren einzige ,Freiheit‘ darin bestehen würde, die ,eigene Art zu erhalten‘.“65 Wie kommt man zu diesem nur-mehr-Menschen? Es ist „[…] die Tötung der juristischen Person […]“66, die den ersten Schritt zur totalen Herrschaft erlaubt. Was bleibt ist ungeschütztes Leben, ein Leben, das nach Verlust seiner Staatsbürgerschaft keine Rechte mehr besitzt. Diesen Verlust kann jemand, der sich für unschuldig hält, kaum verkraften, da die Entrechtung von keiner Vorgeschichte

63 Vgl.: Ibid., 897. 64 Ibid., 900. 65 Ibid., 907. 66 Ibid., 922.

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erklärt wird. In diesem Sinn meint Arendt, dass es nicht verwunderlich ist, dass gerade jene, die Verbrechen begangen hatten, in den Lagern Wege fanden, sich selbst zu beschützen, dass sie zur Lageraristokratie wurden.67 „Die Gesellschaft der Konzentrationäre, in der täglich und stündlich gelehrt wird, daß Strafe keinen Sinnzusammenhang mit einem Vergehen zu haben, daß Ausbeutung niemandem Profit zu bringen und daß Arbeit kein Ergebnis zu zeitigen braucht, ist ein Ort, wo jede Handlung und jede menschliche Regung prinzipell sinnlos sind, wo mit anderen Worten Sinnlosigkeit direkt erzeugt wird.“68

Außerhalb der Konzentrationslager zeigte sich das Unvorstellbare in dem Umstand, dass man nicht anders konnte als zur KomplizIn des Systems zu werden. Eine Herrschaft ist erst total, wenn jeder an ihr beteiligt ist.69 Arendt wählt zur Veranschaulichung ein Beispiel Albert Camus’, der von einer Frau in Griechenland erzählt. Sie wurde von den Nazis vor die Wahl gestellt und musste entscheiden, welches ihrer drei Kinder zuerst getötet werden soll. Man erzwang damit, dass die Mutter an der Ermordung ihrer Kinder teilnehme, sich eingliedere in die Reihen der Verteidiger einer absurden Herrschaft. Doch so fürchterlich müssen die Beispiele gar nicht gewählt werden, möchte man nicht ausschließlich von realen Situationen sprechen, sondern auch von Gedankenspielen. Manchmal erscheint selbst an den Universitäten ein Zwang zur grausamen Mitmacherei. In Seminaren der Philosophie kommt es vor, dass StudentInnen dazu ermuntert werden, im Sinne eines utilitaristischen Denkens – das, wenn dies seine richtig verstandene Form ist, mir sehr fragwürdig erscheint – darüber zu entscheiden, ob es besser wäre für alle (?!), mehr ,Feinde‘ zu töten und weniger ,eigene Leute‘, wenn so dennoch die Zahl an Toten höher liegt. Und es bleibt nicht bei dieser Komplizenschaft, die man den Studierenden aufzwingt. So kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass dies grausame Spiel bis zu dem Punkt getrieben wird, an welchem tatsächlich Menschenleben in Tafeltabellen hochgerechnet und ausgestrichen werden, kurz, beste totalitäre Praxis vorgeführt wird. Verkauft wird

67 Vgl.: Ibid., 923. 68 Ibid., 938. 69 Vgl.: Ibid., 930.

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dieser Wahnsinn als strenge Wissenschaftlichkeit. Zusammenfassung: Terror zeichnet sich dadurch aus, einer Entscheidenden unakzeptable Möglichkeiten anzubieten und darauf zu bestehen, dass gewählt wird. Terror verbietet es, sich kreativ mit Situationen und Problemlösungen auseinander zu setzen. „In der Schaffung von Lebensbedingungen, in denen Gewissen schlechthin nicht mehr ausreicht und das Gute unter keinen Umständen mehr getan werden kann, wird die bewußt organisierte Komplizität aller Menschen an den Verbrechen totalitärer Regime auch auf die Opfer ausgedehnt und damit wirklich ,total‘ gemacht.“70

Es zählt zu den besonderen Fähigkeiten des Terrors, Individualität zu zerstören, die Fähigkeit der Einzelnen, etwas Neues zu beginnen, das sich nicht nur aus ihrer Umwelt erklären lässt, so Arendt.71 Schluss: Von der Zerstörung diverser Stadtverbände, über die ,wertfreie‘ Berichterstattung, bis hin zu einer Moral, die immer klare Antworten zu geben vermag; Ausdruck eines totalitären Regimes ist es, keine dritte oder vierte Interpretationsmöglichkeit von Ereignissen zuzulassen, den Glauben zu verbieten, dass vielleicht auch bisher unbekannte und kreative Wege zur Verarbeitung von Situationen gefunden werden können. Ich möchte damit behaupten, dass es das sichZeit-lassen, der Weg ins Büro der Entscheidungen, der mit unregelmäßig gelegten Steinen gepflastert sein kann, ist, was Demokratie befördert und Zwang verhindert. Demokratie kann damit auch in Form von Bewegung gedacht werden, jedoch als Bewegung, die immer wieder vergessen muss, was ihre Ziele sind. Man könnte diese Bewegung vielleicht etwas verniedlichend als Spaziergang bezeichnen, als ein Wandern, das wenig Interesse daran hat, vorwärts zu kommen. Und schließlich, wo wird man besser abgelenkt als in großen Metropolen oder ihrem Gegenüber, der noch nicht kultivierten Wildnis? Schlussendlich bleibt fraglich: Wer schickt die Bombe?

70 Ibid. 71 Vgl.: Ibid., 935.

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Szenario III – Realitätsverlust „Wenn die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet ist, kann sie dann jemals wieder geschlossen werden?“72 Joint Improvised Explosive Device Defeat Task Force heißt ein seit 2003 existierendes und breit angelegtes, sowie finanziell gut ausgestattetes Antiterrorismus Programm des Pentagons. Wogegen möchte man sich schützen, wo wird abgesichert?, möchte Davis herausfinden. Ihm erscheint es leicht, Flughäfen und Koffer zu kontrollieren, doch wer überwacht unüberschaubare Städte voller sich unorganisiert bewegender Fahrzeuge? Im August 2004 wurden in Washington D.C. und New York City Straßen und Brücken gesperrt, sowie Banken geschlossen, weil Gerüchte über einen Lastwagenbombenanschlag auf ein wichtiges Zentrum der Finanzwelt laut wurden. Zum nämlichen Zeitpunkt kreuzten 2,6 Millionen Lastwagen und 90 Millionen kleinere Transporter im Straßennetz, während gleichzeitig 5 Millionen Tonnen Ammoniumnitratdünger jährlich verkauft wurden. Mike Davis These ist, dass, obwohl Washington über eine Million Dollar in Sicherheitsvorkehrungen investiert hat, die Regierung es mit solchen Maßnahmen nur dazu bringen kann, die Gewalt auf die vergessenen oder verlassenen Flecken im Sicherheitsraum auszurichten.73 Sollten die technischen Vorkehrungen sehr große Fortschritte machen und könnte es gelingen, größere Gebiete nach Bedrohungen zu ,scannen‘, so meint Davis dennoch, dass diese Verfahren wohl aufgrund von finanziellem Aufwand auf privilegierte Zonen beschränkt blieben. Schutz, so meint Davis, wird es auch in Zukunft nur für reichere Gebiete und Zentren der Entscheidungsfindung geben.74 Vertrauen auf einen bekannten Alltag scheint es damit im Zeitalter der totalen und folglich der völlig kontingenten Bedrohung nicht mehr zu geben. „In Wahrheit werden sich Städte von der Größe Bagdads, Londons oder Los Angeles mit ihren Auto-, Lastwagen- und Omnibusströmen und Tausenden verwundbaren Einrichtungen und Knotenpunkten nie einer universellen Si-

72 Davis, Eine Geschichte der Autobombe, 219. 73 Vgl.: Davis, Buda's Wagon. A Brief History of the Car Bomb, 190. 74 Vgl.: Ibid., 191.

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cherheit erfreuen können. Wie Drogendealer werden auch Autobomber immer einen Platz für ihr Geschäft finden.“75

Hat eine Lebensform nach Ende des Alltags totalitäre Züge? Wie kann ein Regime sicher sein, dass es wirklich total regiert? Nur nach der Auflösung sämtlicher Bande, die einen Menschen noch an etwas anderes binden könnten als an die Bewegung, kann eine totale HerrscherIn sich sicher fühlen. Dem Totalitarismus größte Gefahr wird so die Freundschaft. Im Zuge von Vermassung und Vereinheitlichung, der Erschaffung einer Bevölkerung, wird es damit notwendig, zuerst die Bande zu trennen und die Furcht vor Bestrafungen in Höhen zu heben, die der guten FreundIn nur eine Praxis nahe legen können: die Denunziation, das Bekunden, man wäre nur zum Zwecke der Spionage Teil der Umwelt einer speziellen Person gewesen.76 Dies bedeutet, dass es nur aus Spionagegründen rechtfertigbar wurde, nicht nur direkt mit dem Führer und folglich mit speziellen Wort-VerteilungsProgrammen, die ihren Weg durch technische Geräte fanden, die den Führer Gott ähnlich als livestream in die Häuser der Menschen zu tragen vermochten, zu kommunizieren. Arendt untermauert die These, dass nicht die Spionage das neue an den Herrschaften im 20. Jahrhundert war, sondern ihre totale Organisation. Es war nicht mehr notwendig, Profis für diese Aufgabe auszubilden,77 nein, jeder konnte sich betätigen und, dies sollte nicht unterschätzt werden, das eigentümliche Pathos des Spitzeltums erleben. Anders könnte man auch so formulieren: Jeder Kommunikationsversuch unter totaler Herrschaft oder jedes Bestreben, die Nähe einer anderen zu erleben, darf nur erlaubt sein, wenn man selbst als bloße InformationsfresserIn aufzutreten bereit ist, und damit nicht zur selbstbestimmten Artikulation kommen möchte. Nur wenn die Einzelne lediglich darauf trainiert ist, die passenden Stichworte aus dem großen Sack an abgenutzten Sprech- sowie Lebenshülsen hervorzuzaubern, um die Botschaften des Gesetzes der Bewegung wiederzukäuen, ist totale Herrschaft gesichert.

75 Davis, Eine Geschichte der Autobombe, 225. 76 Vgl.: Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 696-97. 77 Vgl.: Ibid., 893.

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„In Himmlers schlagender Formulierung des Spruches für die SS ,Meine Ehre heißt Treue‘ kommt eine Mentalität zum Ausdruck, die für den Nazismus wie für den Bolschewismus gleich charakteristisch ist; während die Ehre eines Menschen sonst in dem begründet ist, dem er die Treue hält, ist hier die Treue selbst, in abstraktester Gehaltlosigkeit und gerade darum in einem nicht überbietbaren Fanatismus, zu dem gemacht, was jeden einzelnen überhaupt zusammen- und in der Welt hält.“78

Es gilt damit, als produktives Mitglied eines totalitär organisierten Staates, die Einsicht ins Bewegungsgesetz und damit in den Grundsatz Du sollst töten zu gewinnen. Ein Wort, das bedient werden will. Und so setzt der alles einschließende Terror erst nach der Beseitigung aller ideologischen GegnerInnen und Unentschiedener ein, erst wenn ein Regime die Macht übernommen hat, wird es wirklich notwendig zu terrorisieren, um eine virtuelle Welt, die auf dem Gesetz der Bewegung aufbaut, nicht als Illusion zu entlarven. Arendt beschreibt ein Beispiel aus dem bolschewistischen Russland, wo man beschlossen hatte, dass es in einem sozialistischen Land keine Arbeitslosigkeit gibt. Die Arbeitslosen wurden damit jedoch nicht als unterstützungswürdig erkannt, sondern zum objektiven Gegner. Im Abschaffen sämtlicher Sozialleistungen, im Abschaffen des Status der Arbeitslosen verwandelte man die Betroffenen in BettlerInnen und Kriminelle, in „asoziale Elemente“79. Womit eine neue Form der Behandlung möglich wurde, die den Slogan hervorbrachte: „,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘“80. Es zeichnet die Vorgehensweise einer totalen Regierung demnach aus, Feststellungen über die eigene Gesellschaft zu machen, um daraufhin eben diese behauptete Welt zu erzeugen. Nicht versucht wird, sich die Probleme im Leben der Menschen, ihre unterschiedlichen Welterlebnisse, zum Bringen von Verbesserungsvorschlägen kenntlich zu machen. Kurz gesagt, einer totalen Regierung geht es darum, bewusst eine Fake-Welt aufrecht zu erhalten. Bewusst? Vermutlich setzen PolitikerInnen aller Parteien und Staaten unbewusst eigene Weltbilder ein, jedoch wird keine kohärente Lüge verteidigt. Weswegen? Aus Moral, Ungeschick oder vielleicht Gefühlen des Kontrollverlusts

78 Ibid., 700. 79 Ibid., 727. 80 Ibid.

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aufgrund der Verdichtung des gegenwärtigen Lebens (?). Dies sei derweil dahingestellt. Zentrales Element zur Aufrechterhaltung einer Illusion sind Arendt zufolge die Wissenschaften. Im Gegensatz zu älteren Formen der Propaganda sieht Arendt die Besonderheit der totalitären Propaganda darin, dass sie sich weniger auf Vergangenes beruft, um Gegenwärtiges zu rechtfertigen, als sie durch die Wissenschaften die Zukunft prophezeit.81 Womit ein weiteres grundlegendes Element totalitärer Herrschaft einsichtig wird, sie kann immer nur global funktionieren, da Prophezeiungen und Lügen sich keine Lücken erlauben können. „Das einzige, was sich dem Verständnis der Massen, die mit jedem neuen Unglücksschlag leichtgläubiger werden, von der wirklichen Welt noch darbietet, sind gleichsam ihre Lücken, das heißt die Fragen, die die Welt nicht öffentlich diskutieren will, oder die Gerüchte, denen sie nicht öffentlich zu widersprechen wagt, weil sie, wenn auch in entstellter Weise, irgendeinen wunden Punkt berühren. Aus diesen wunden Punkten ziehen die Lügen der totalitären Propaganda jenes Minimum an Wahrheit und realer Erfahrung, dessen sie bedürfen, um die Brücke schlagen zu können von der Realität in die totale Fiktion.“82

Das ausschlaggebende Talent einer totalitären FührerIn ist es demnach zu wissen, in welche Reihenfolge die Elemente einer Ideologie gebracht werden müssen, um eine völlig fiktive Welt erstehen lassen zu können. Erfundene Welten bedürfen spezieller Organisation. Der Kern der Partei muss erstens durch beständige Bestätigung von Sympathisierenden abgesichert werden. Diese als alltäglich und durchschnittlich Angesehenen stehen als RepräsentantInnen für die Meinungsbreite der beherrschten Gesellschaft ein. Die Sympathisierenden unterscheiden sich für beispielsweise die Parteinazis von ihrer exklusiven Gruppe durch laschere Konsequenzziehung und einen Wirklichkeitssinn, der keine extreme Ausformung ideologischer Meinungen erlaubt.83 In einem totalitär regierten Staat erscheint der Führung damit jede, die nicht sympathisiert, als Feind, oder umgekehrt, die Sympathisierende gilt aufgrund von gewisser alltäglicher Pragmatik als eine Repräsenta-

81 Vgl.: Ibid., 734. 82 Ibid., 749. 83 Vgl.: Ibid., 770.

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tion der BürgerIn schlechthin. „[…] Es ist der Ersatz der Wirklichkeit, der am wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt.“84 Die Nazis erschufen zweitens eine Gegenwelt. Man gründete zusätzlich zu den staatlichen Institutionen solche der Partei, eine kohärente Scheinwelt, ein Duplikat der nichttotalitären Welt. Diese Welt stützten eine funktionierende Institutionenlandschaft, sowie ihre klare Abgrenzung gegen jene, die eindeutig nicht Teil dieses Gartens für nur spezielle Gattungen werden durften. Womit man es schließlich zu tun hatte „[…] war eben eine Geheimgesellschaft ohne Geheimnis.“85 Ausgeschlossen war damit, wer nicht richtig eingeschlossen war, was weiter bedeutete, wer es nicht verstand, des Führers Aussagen richtig zu deuten. „Im Unterschied zu den gewöhnlichen Parteimitgliedern, die man etwa zum Mord an Juden am besten dadurch bringt, daß man die Minderwertigkeit von Juden ,beweist‘, versteht die Elite unmittelbar, daß die Erklärung ,Juden sind minderwertig‘ bedeutet ,Juden werden ausgerottet‘. Die bolschewistischen Eliteverbände verstehen, daß die Feststellung ,Nur Moskau besitzt eine Untergrundbahn‘ in Wahrheit bedeutet, alle Untergrundbahnen müssen zerstört werden […].“86

Der totalitäre Terror ist damit niemals nur negativ, sondern möchte etwas hervorbringen, eine Vision verwirklichen. Er zeichnet sich durch „[…] die völlige Nichtachtung aller berechenbaren äußeren Konsequenzen […]“87 aus. Totalitäre Elemente sind in allen Ideologien enthalten, schreibt Arendt. Sie „[…] sind samt und sonders jenes verrückte Ding, das es nirgends gibt, nämlich ,wissenschaftliche Weltanschauungen‘.“88 Drei Elemente nennt Arendt, die allen Ideologien inne wohnen und diese mit totalitärem Potential aufladen: „Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es erstens an sich, nicht das, was ist, sondern das, was wird, was entsteht und vergeht, zu erklären.“89 Mit der

84 Ibid. 85 Ibid., 790. 86 Ibid., 807. 87 Ibid., 865. 88 Ibid., 962. 89 Ibid., 964.

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Chance, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vollkommen zu verstehen, was der Anspruch einer Bewegung sein muss, deren Gegenstand nichts geringeres sein kann als d i e Geschichte, „[…] wird ideologisches Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung, die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann […]“90. Das ideologische Denken besteht damit auf eine eigentliche Wirklichkeit hinter der Wahrnehmung, auf eine Beherrschung aus dem Verborgenen. Die Ideologie hat „[…] jedem offenbar Geschehenden einen geheimen Sinn und jedem offenbaren politischen Handeln eine verschwörerische Absicht unterzulegen.“91 Ein Beispiel aus der Gegenwart ist das Misstrauen fair gehandelten Produkten gegenüber, die oft mit Skepsis beäugt werden, da sie ja schlechthin nur ein böser Verkaufstrick sein können, sowie die Brutalität, mit der einem manchmal begegnet wird, wagt man sich zu dieser Art Überflusskonsums zu bekennen. Die Toleranz der meisten Menschen endet da, wo jemand sein, wo ich mein Geld einfach ausgebe, dem Versprechen des fairen Produkts einfach glaube. Eine unerklärliche Wut scheint solches Handeln zu provozieren in denen, die meinen, es selbst schon schlecht genug zu haben, in jenen, die Angst haben vor dem Betrug, der überall lauert und gewiss in den Dingen versteckt ist, die am unmittelbarsten als etwas erscheinen, wie diese Ware, die durch Beschriftung ihre Identität preisgibt. „Die Ideologien, die ja selbst nicht die Macht hatten, die Wirklichkeit zu verändern, verließen sich drittens in ihrer Emanzipation des Denkens von Erfahrung und erfahrener Wirklichkeit auf das Verfahren ihrer Beweisführung selbst.“92

Konsistenz, sich selbst nicht zu widersprechen, das ist die Form der Beweisführung unter dem Schutzmantel der Ideologie. „Hitler wie Stalin hatten immer eine besondere Vorliebe dafür, ihre Argumentation mit dem ,Wer A gesagt hat, muß auch B sagen‘ zu unterbauen, und es ist kein Zweifel, daß dieses Argument moderne Menschen auf ganz ähnliche Weise überzeugt wie das ,Wo gehobelt wird, da fallen Späne‘.“93

90 Ibid. 91 Ibid., 965. 92 Ibid. 93 Ibid., 968.

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Schlussendlich war es ein Leichtes, Menschen, denen es nicht mehr erlaubt war, Bestätigung für irgendeine ihrer Wahrnehmungen in ihrem Umfeld, in den sie umgebenden Dingen – die ja alle betrügen –, so wie in den Meinungen der Mitmenschen – die ja alle lügen, wenn sie nicht konsequent argumentieren – zu finden, für die Verwirklichung einer konsistent erlogenen Welt zu gewinnen. „In dieser an sich selbst und der Realität irre werdenden Unsicherheit gibt sich nur kund, was die Nazis schon immer gewußt haben; daß es nämlich, ist man zum Verbrechen entschlossen, zweckmäßig ist, Verbrechen in allergrößtem, allerunwahrscheinlichstem Maßstabe zu inszenieren.“94

Und immer noch ist fraglich: Wer schickt die Bombe? Autobomben dienen dem unorganisierten Kampf. Sie werden damit zu einer Waffe, die ungeplant gewachsenen urbanen Landschaften entspricht. Autobomben werden weltweit eingesetzt. Ihre mediale Selbstwerbung sowie ihr Wirken als beobacht- und erlebbares Ereignis vermögen es, dichte Orte ebenso weltweit zu erschüttern. Autobomben sähen Misstrauen und können Isolation bewirken. Die Autobombe antwortet damit einer tendenziell immer totalitären städtischen Gesellschaft, da Manipulation, ausschließende Bewegung und ein Mangel an Demokratie, sobald diese Themen nicht formal und rechtlich abgehandelt werden, immer gegeben sind. Je überforderter die Organisationsstrukturen werden, desto totaler kann eine Gesellschaft sein. Womit StadtbewohnerInnen vor eine unglückliche, jedoch eine Wahl gestellt sind. Es kann nicht geklärt werden, wann und wo sowie von wem vorangetrieben die nächste Terrorattacke stattfinden wird, es gibt jedoch zwei Wege, mit einer solchen Bedrohung umzugehen. Erstens, sich aus Angst zurückzuziehen, dem eigenen Erleben von Welt nicht mehr zu vertrauen und auch keine neue Kontaktaufnahme mit Fremdem mehr zu wagen, die totalitären Aspekte des städtischen Lebens zu befördern. Zweitens, Freiheit nicht zugunsten von Gefängnis und zweifelhafter Sicherheit aufzugeben. Womit nur über einen privilegierten Teil der Menschheit gesprochen sei, dem diese Wahl gegeben ist, nicht über jene, vor denen man Schutz sucht, den gegenwärtigen objektiven Gegnern!

94 Ibid., 909.

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Wer schickt die Bombe? Glücklicherweise kann diese Frage nicht beantwortet werden. Denn soviel scheint sicher – möchte man nicht ebenso in verschwörungstheoretisches Gefasel verfallen, wie es Arendt als den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts charakteristisch beschreibt –, vor wem es nötig wäre Angst zu haben, bleibt unklar. Lange müsste man ebenso nach der FührerIn suchen, ihrer gibt es zu viele. Es ist schlussendlich das Potential der Stadt im 21. Jahrhundert, ein Sich-verstecken-können zu erlauben, ein sich außerhalb ihrer überwachten Life-Style Zentren ungesehen Bewegenkönnen. Oder anders, wenn auch grausam formuliert, die Existenz der Autobombe, sowie die des Drogendealers, mit welchem Davis die BombenzünderIn vergleicht, ist auch Garant dafür, dass friedliche und subversive Praxis eine Chance hat, sich in städtischen Ritzen einzunisten, dass eine spezielle Form städtischer Demokratie und Meinungsäußerung möglich ist, die ihre Wirksamkeit durch die Kommunikation mit konkretem städtischem Umfeld und Alltag erlangt. Parkhaus: Ist die Stadt als Ort der Dichte zum Lager geworden? „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“95 Schlussendlich möchte ich das bereits mit Foucault begonnene Themenfeld Lager noch einmal aufnehmen und damit den Idealtypus eines totalitär organisierten Raumes ansprechen, das Lager mit der Stadt kontrastieren sowie die Lager im städtischen Bereich sichtbar werden lassen. Giorgio Agamben und Mike Davis liefern Theorie und Reportage. These ist: Die scheinbar allseits gewünschte Sicherheit erlaubt die systematische Abschiebung von objektiven Gegnern in ummauerte Zonen, in verfallene Park- Wohn- oder Geschäftshäuser, in Vierteln, die man langsam verrotten zu lassen gedenkt. Mit Agamben kann argumentiert werden, dass die Konzentrationslager des Nationalsozialismus latent fortbestehen. In der griechischen Antike trennten das Haus und den Marktplatz nicht nur Mauern. Das Haus war Ort des reproduzierenden Arbeitens,

95 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, ed. Gary Smith and Rüdiger Zill, Erbschaft unserer Zeit. Vorträge über den Wissensstand der Epoche/edition suhrkamp (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2002), 177.

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während der Marktplatz eine Sphäre des Lebens bediente, die frei von Notwendigkeit sein sollte.96 Der Marktplatz war der Ort des Politischen. Vor dem Hintergrund dieser Trennung kann Agamben argumentieren, dass es erst der Ausschluss des Körpers, des biologischen Lebens ermöglichte, sich im politischen Wettstreit zu verausgaben.97 Die Auswahl der Politisierenden ging mit der Trennung zwischen Arbeiten und Handeln98, um in Arendtscher Terminologie zu sprechen, einher. Nur die, deren kreatürliches Leben beinahe ohne eigenes Zutun gesichert war, ergingen sich im politischen Spiel auf der Agora. „Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes“99 schreibt Agamben. Das „nackte Leben“ gewährleistet das Gemeinwesen. „Politik gibt es deshalb, weil der Mensch das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält.“100

Ein Phänomen – die Auflösung der Grenze zwischen Biologie und Politik –, das sich nicht nur am aktuellen Thema, der gegenwärtigen Stadt, beobachten läßt. Für diese Entgrenzung steht auch das Sichberufen auf Menschenrechte, auf Rechte, deren Wirksamkeit eintritt, sobald das am Leben Bleiben zum einzigen und letzten Recht wird. Für Agamben ist in diesem Zusammenhang die Flüchtende beispielhaft.

96 Vgl.: Hannah Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben (München: Piper Verlag GmbH, 2007), 40. 97 Vgl.: Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 12. 98 Vgl.: Ibid., 190. „Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern. […] Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung […]“ (Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, 17-18.) 99 Eine Kritik dieser These wird weiter unten mit Loïc Wacquant vorgenommen. 100 Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 18.

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Die Rechte, die ihr von Geburt an zukämen, haben an ihrem Aufenthaltsort keine Gültigkeit, sie erlebt sich im Zustand des nackten Lebens. Um vielleicht zum besseren Verständnis dieses Ausdrucks nacktes Leben beizutragen, könnte man ihn in Analogie zum Leben an der Grenze einer Sphäre101 setzen, das Peter Sloterdijk erahnen lässt, wenn er auch vorrangig vom Leben innerhalb von Sphären spricht. Die Sphäre bietet Schutz, sie ist die Reproduktion des Mutterleibs im Außen, wie Sloterdijk argumentiert. In seiner Begabung, sich Häuser – in sämtlichen Sinnen gemeint, die man diesem Wort nur geben kann – zu konstruieren, ist der Mensch sozusagen und mit Sloterdijk, wenn diese Ansage im Kontext auch vielleicht etwas geschmacklos erscheint, zum Luxuswesen geworden. Damit ist gemeint, dass der Mensch nicht ohne bergende Umwelt zu überleben vermag, dass es eine umfangende Sphäre braucht, um geschützt zu leben. Nacktes Leben wäre demnach ein solches, das all seiner Schutzmechanismen verlustig gegangen ist. Es wäre ein Leben hinter der Welt der Übertragung der ursprünglichen Situation des Mutterleibs. Es wäre ein Leben, dem nur mehr die Luft zum Atmen als sphärische Sicherheit verbleibt. So schreibt Sloterdijk: „Wir übertragen nicht so sehr unbelehrbare Affekte auf fremde Personen als frühe Raumerfahrungen auf neue Orte und primäre Bewegungen auf ferne Schauplätze. Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt.“102

Wir übertragen Räume. Mit Michel de Certeau habe ich versucht darzulegen, dass Räume Orte sind, mit denen wir etwas machen. Wir übertragen demnach auch das Gefühl, uns in Situationen einmischen zu können, und eben dies Gefühl wird als müder Traum entlarvt, wenn wir in den Zustand des nackten Lebens verfallen. Kurz gesagt: Der Mensch ist als aktiver im Zustand des nackten Lebens bereits getötet, alleinig als passiver, empfangender und ertragender bleibt er im Leben. Nur noch ein Wort zu Sloterdijk: Das Heranziehen seiner Theorie neben Agamben bedeutet natürlich auch, dass die Sphäre nichts ist, was wir alleine erschaffen können. Sloterdijk versucht auf die Abhän-

101 Vgl.: Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen, 3 vols., vol. 1, Sphären (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1998), 45, 549-50. 102 Ibid., 14.

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gigkeit des Menschen von konkreten Situationen hinzuweisen und nicht nur auf ein Vermögen, das Übertragung und damit Welterweiterung erlaubt. Agamben spricht davon, dass Recht immer nur Situationsrecht ist. Rechte genieße ich demnach als BürgerIn beispielsweise eines Staates nur dann, wenn dieser sich unter normalen Umständen befindet, wenn es Festlegungen gibt, die über richtig und falsch entscheiden, wenn sich ein Zustand klar von der Willkür des Ausnahmezustands unterscheidet. Agamben zufolge ist es der Souverän, der über Norm und Ausnahme entscheidet und die Legitimität des Gesetzes aus dem Jenseits des Normalen beziehen kann. „Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht.“103 Es wäre dennoch falsch, in einer Zweiheit von Situationen zu denken. Der Ausnahmezustand ist nicht das Chaos, das der Ordnung gegenüber steht, sondern die Schwelle dazu. Er ist die Grenze am Rand des geordneten Raums der Normalität.104 Das Lager „[…] ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach Außenraum ist.“105 Agamben nimmt an, dass der Ausnahmezustand in der Gegenwart andauert, zur prägenden Struktur unseres Zeitalters geworden ist. Die dem Ausnahmezustand korrespondierende Art des Zusammenlebens ist das Lager. „Das Lager ist der Ort dieser absoluten Unmöglichkeit, zwischen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung, zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird.“106

Die Ausnahme ist damit verbindendes und trennendes Glied der Sphären Natur und Recht107, das Lager der Ort, an dem ein Souverän, dessen Macht darin begründet liegt, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können, direkt auf das Leben der Gefangenen zugreifen kann.

103 Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 27. 104 Vgl.: Ibid., 29. 105 Ibid., 179. 106 Ibid., 182-83. 107 Vgl.: Ibid., 30-31.

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„Naturzustand und Ausnahmezustand sind lediglich die zwei Seiten des einen topologischen Prozesses, wo das, was als Außen vorausgesetzt worden ist (der Naturzustand), nun im Inneren (als Ausnahmezustand) wiedererscheint […]. Der Ausnahmezustand ist demnach nicht so sehr eine raumzeitliche Aufhebung als vielmehr eine komplexe topologische Figur, in der nicht nur Ausnahme und Regel, sondern auch Naturzustand und Recht, das Draußen und das Drinnen ineinander übergehen.“108

Im ganz sprichwörtlichen Sinn kann der Ausnahmezustand in Südkalifornien erlebt werden. Mike Davis bezeichnet die südkalifornische Landschaft als eine revolutionäre, in der Durchschnittswerte die unwahrscheinlichsten Messergebnisse sind.109 Unverantwortliche Urbanisierung, wie die Verstädterung von Erdbebengebiet, führte zur Vermischung von Ökonomie, Politik und Natur. Man gab sich falschen Vorstellungen darüber hin, wie man die Natur verändern würde, um sie zum wünschenswerten Ort des Lebens werden zu lassen. Man ließ sich auf Projekte ein, die aufgrund von Fehlwahrnehmungen des Umstands Natur zum Scheitern verurteilt waren und dennoch eigensinnig fortgeführt wurden. Mike Davis nennt diese radikale Falscheinschätzung der Gegebenheiten eine Identitätskrise; und Südkalifornien leidet an ihr.110 Ergebnis ist, dass sich die durch Erdbeben betroffenen Villenbesitzer der großzügigen Unterstützung, da die Summen ihres Verlustes dementsprechend hoch liegen, des Staates sicher sein können, während zur Akkumulation dieses Kapitals beispielsweise im Sommer 1996 „unnötige Ausgaben“111 wie die Beihilfe zu Gesundheitsprogrammen für die Landbevölkerung sowie Gelder für städtische Parkanlagen und Beschäftigungsmaßnahmen für Jugendliche gestrichen wurden. Die multiplen Bedrohungen Südkaliforniens erlaubten es, die Natur in den Klassenkampf einzuführen, mit gutem Grund Sozialleistungen zu kürzen.112 Womit der Normalzustand von L.A. wie folgt beschrieben werden kann:

108 Ibid., 48. 109 Vgl.: Mike Davis, Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe (München: Verlag Antje Kunstmann GmbH, 1999), 25. 110 Vgl.: Ibid., 18. 111 Ibid., 65. 112 Vgl.: Ibid.

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„Das Charakteristischste an dieser Stadt ist nämlich nicht das bloße Zusammenspiel von Erdbeben, Buschbränden und Überschwemmungen, sondern die einzigartige explosive Mischung aus natürlichem Gefahren- und sozialem Konfliktpotential.“113

Die Tornados sind ein anderes Phänomen, das es erlaubt, auf das Verdrängte L.A.s zu verweisen, auf „[…] die Verdrängung der Naturgeschichte durch ein ideologisiertes Bild der Umwelt.“114 „[…] ,[W]ie eine Autobombe‘ […]“115 beschrieben die Anwohner selbst ihr Erleben. Und es sei als sehr fraglich dahin gestellt, ob sie nämliche Erfahrung schon gemacht haben. Jedoch verweist die Gleichsetzung von Naturgewalt und Kriminalität auf einen gängigen Topos im Sprechen über die eigene Situation in L.A. So werden die Tiere, die mittlerweile bis in die Vorstädte vorgerückt sind – oder besser und umgekehrt formuliert: Es sind die Vorstädte, die bis in die Zonen der Raubtiere gebaut wurden. – als Serienmörder und Vergewaltiger benannt, während man von Raubtieren und verwilderten Jugendlichen innerhalb der Stadtzentren spricht.116 Davis schreibt: „In einer Siedlung an der Schwelle zur Prärie sind die Geschöpfe der Wildnis nicht lieber gesehen als die ,wilden‘ Geschöpfe der Stadt.“117 Doch nicht einmal die Analogisierung von Innenstadtmensch und Tier ist notwendig, um auf die Vermischung der Sphären hinzuweisen. Mit einem Wort aus der Ökologie spricht Davis von einem „Ökoton“118. So benennt er die Zone, in der die Interaktion zwischen Wildnis und Stadt passiert, eine „[…] Übergangszone zwischen verschiedenen biologischen Gemeinschaften […]“.119 Beispielhaft für ein optimal begabtes Tier des 21. Jahrhunderts ist das opportunistische Opossum. Seine Hirnkapazität beträgt lediglich zehn Prozent der eines Fuchses, es lebt jedoch am besten in unruhigen und kleinen Räumen, es ist damit für unbebaute Grundstücke im Slum, sowie für Gebirgsausläufer ausgestattet, wie Davis beschreibt. Die Stadt soll demnach Davis zufolge nicht von der

113 Ibid., 70. 114 Ibid., 180. 115 Ibid., 216. 116 Vgl.: Ibid., 238-39. 117 Ibid., 238. 118 Ibid., 237. 119 Ibid.

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Wildnis getrennt werden, da diese Bereiche ineinander verwachsen sind, jedoch kann die Stadt von der Natur getrennt werden, die lediglich ein Gebiet ist, um das herum Menschen Grenzen ziehen, wie Davis in Anlehnung an David Rothenburg argumentiert. 120 In diesem Sinne wählt Agamben den Werwolf als Beispiel. Der Werwolf entspricht dem Ausnahmezustand. Womit gleichzeitig darauf hingewiesen sei, dass Ausnahmezustand nicht nur ein Ort des Lebens, sondern des Weiteren eine spezielle Form des Existierens bezeichnet. Der Werwolf verwandelt sich nur für begrenzte Zeit in ein tierisches Wesen, in diesem Wechsel erzeugt und erlebt der Werwolf eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier.121 Im permanent gewordenen Ausnahmezustand, der, wie Agamben argumentiert, auch auf die Gefangenschaft der gegenwärtig Lebenden in sinnentleerten Traditionen zurückzuführen ist, erleben wir die Beziehung zwischen Souverän und Körper direkt, sie ist nicht mehr überlagert von gesellschaftlichem Inhalt.122 Mit der totalitären Politik, der Biopolitik (siehe Foucault) des 20. Jahrhunderts, wurde das Leben in nacktes Leben verwandelt, der Mensch zum rechtlosen Wesen, auf die Körper direkt Zugriff genommen. Agamben möchte jedoch nicht nur wie Arendt behaupten, dass die Konzentrationslager Laboratorien zur Erprobung totaler Herrschaft waren, sondern umgekehrt feststellen, dass eine Politik, die auf das nackte Leben zugreift, die ihre Untertanen damit in Lagern und nicht in Städten leben läßt, die totalitäre Herrschaftsform erst nötig macht, „[…] daß es gerade die radikale Transformation der Politik in einen Raum des nackten Lebens (das heißt in ein Lager) ist, welche die totale Herrschaft legitimiert und notwendig gemacht hat.“123 Erst als Biopolitik kann eine Herrschaft total werden. Doch: Wer ist die totalitäre HerrscherIn unserer Tage? Wenn bisher der Souverän über den Ausnahmezustand entschieden hat, wer entscheidet dann heute? Könnte vielleicht Agamben die Frage beantworten, wer uns die Bombe schickt? Nein, zweitere Frage kann glücklicherweise auch Agamben nicht beantworten, jedoch findet er zumindest eine Antwort auf die erste, eine Antwort, die keine allge-

120 Vgl.: Ibid., 235-37. 121 Vgl.Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 117. 122 Vgl.: Ibid., 62. 123 Ibid., 128.

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meine TäterIn aufzeigt – wiederum glücklicherweise, da es auch beklemmend anmuten würde, einen neuen objektiven Gegner zu erschaffen –, Agamben vermag jedoch im speziellen Fall zu antworten. Ihm zufolge entscheiden über den Ausnahmezustand in der Gegenwart beispielsweise ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen. Agamben bespricht das Beispiel von Versuchspersonen im Todestrakt. Sie leben als zum Tode verurteilte Insassen in einem Lager, das den endgültigen Ausschluss aus der Gesellschaft verspricht. Den Verurteilten – im speziellen beschreibt Agamben das Beispiel eines Mannes Namens Keanu, den man mit Lepra infizierte, woran er auch gestorben ist – wurde das Angebot gemacht, ihre Körper für medizinische Experimente herzugeben, wofür sie sich sozusagen freiwillig per Unterschrift und mit der Aussicht auf Begnadigung entscheiden sollten. Zu Recht verweist Agamben auf die Grausamkeit dieses Spektakels, auf die Perversion, die es in sich trägt, zum Tode Verurteilte um freiwillige Zustimmung zu bitten. Neben ihrer Schockwirkung zeigen solche Beispiele auch, dass es in der Situation Keanus nicht möglich ist, demokratische Entscheidungen zu treffen, dass um Mitbestimmung bemühte Verfahren absurd und grausam werden, sobald eine Person nicht in ihrer bloßen Existenz rechtlich abgesichert ist. Kurz gesagt, eine Person, die jederzeit getötet werden kann, kann sich nicht entscheiden. „[…] und sicher ist, daß man, wären derartige von Häftlingen unterzeichnete Erklärungen in den [Konzentrations- (F.H.)]Lagern gefunden worden, die Experimente deswegen nicht als ethisch annehmbar hätte betrachten müssen.“124 „Das Lager ist ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem die beiden Glieder ununterscheidbar geworden sind.“125 Das Lager kann harmlos erscheinen und grenzt dennoch einen Raum ab, in dem die Ordnung aufgehoben ist.126 Beispielhaft hierfür sind die zones d’attente in den internationalen Flughäfen Frankreichs, wo Ausländer, die auf die Anerkennung des Flüchtlingsstatus’ hoffen, vier Tage lang aufgehalten werden, bevor gerichtliche Verhandlungen folgen. In dieser Zeit sind sie Rechtlose und der Flughafen wird zum Lager.

124 Ibid., 166. 125 Ibid., 179. 126 Vgl.: Ibid., 184.

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„Von den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik; im Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden, und die Möglichkeit, zwischen unserem biologischen Körper und unserem politischen Körper, zwischen dem, was nicht mitteilbar und stumm, und dem, was mitteilbar und sagbar ist, zu unterscheiden, ist uns ein für allemal genommen.“127

Fraglich wird damit, wie ein Staat von sich behaupten kann, demokratisch zu sein, wenn er beispielsweise seine MietshausbewohnerInnen in ihre Wohnblöcke einsperrt. Und eben dies ist beispielsweise USamerikanische Praxis. Mike Davis berichtet vom Imperial Courts Housing Project in L.A. Zur Zeit seiner Arbeit an „City of Quartz“ – also Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts – hatte das LAPD die Wohnanlage mit einem Zaun umfangen und damit begonnen, BesucherInnen zu durchsuchen, sowie BewohnerInnen zu zwingen, ihre Wohnungen nachts nicht zu verlassen, natürlich immer nur zur eigenen Sicherheit. Eine nicht wenig paternalistische Geste.128 Ein anderer Versuch, reichere Viertel ,rein‘ zu halten, ist eine Parkregelung, die es nur auf eigenem Grundbesitz das Auto abzustellen erlaubt und so die Kontaminierung von Parks mit Mitleid erregenden SonntagausflüglerInnen verhindert. Womit vielen schlechter Verdienenden der Zugang zum grünen Erholungsgebiet, das als notwendiges Element zentral in jeder Stadtplanung mitgedacht werden sollte, verunmöglicht ist.129 Einige Stadtbewohner werden so um eine Dimension ihres Lebens gebracht und auf für sie, von der Politik und dem Kapital, vorbestimmte Aktivitäten festgelegt. Jedoch sollte an dieser Stelle nicht der Anschein entstehen, dass die Ausgebeuteten die einzig totalitär regierten Stadtbewohner wären. Besser Gestellte entscheiden sich freiwillig für eine Art Luxuslagerleben. So berichtet Davis über eine neue architektonische Mode: „Einer der Renner ist der im Grundriß verborgene ,terroristensichere Sicherheitsraum‘ hinter beweglichen Täfelungen und Geheimtüren.“130 Man beachte: Dieser Text entstand vor dem 11. September 2001. Davis beschreibt die gefährliche Dynamik der Argumentation, die mit einem solchen Planen einhergeht, wie folgt:

127 Ibid., 197. 128 Vgl.: Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles (Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2006), 236. 129 Vgl.: Ibid., 238. 130 Ibid., 240.

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„Die guten Bürger sind nicht auf der Straße, sondern in Hochsicherheitsspähren für den privaten Konsum eingeschlossen; die bösen Bürger sind auf der Straße (und gehen daher keiner legalen Beschäftigung nach) und dem allwissenden, unbarmherzigen Blick des Weltraumprogramms des LAPD ausgesetzt.“131

Mehrere Sorten von Dichte wurden in diesem Kapitel erläutert. Man könnte am Ende zwei Übergruppen unterscheiden. Erstens, schützende Dichte und zweitens, panische Dichte. Es scheint, als ob Gegenwartsmenschen sich zu entscheiden hätten zwischen Schutz, Homogenität und Privilegien sowie Unfreiheit – mit all den dunklen Seiten, die diese Art des Lebens für die verbleibenden Reste der Menschheit mit sich bringt – und Panik, einem Zustand des beständig aufgewühlt Seins, einem Zustand, der es verlangt wachsam zu sein, situationssensibel zu werden, sowie den Glauben an die Funktion von einmal erarbeiteten Verhaltensregeln aufzugeben. Ein Zustand der Panik ist demnach einer, der beständig auszurechnen zwingt, wie die Verhältnisse sich begegnender Massen konfiguriert sind. Ich entscheide mich hiermit kurzerhand für ein Leben in Panik, die mich anzuspornen vermag, kreative Problemlösungen zu finden. Ich entscheide mich für die Nervosität und entgegen Routine. Denn nur das beständige Einfordern von einem Mehr an Erleben zeigt erst die gesetzten Grenzen. Erst wenn ich mehr erwarte als das am Naheliegendste, kann mir bewusst werden, wie eingeschränkt mein Möglichkeitsraum ist. Sich wehrhaft gegen totale Herrschaft zu stellen bedeutet demnach, es mit den Unsicherheiten des Lebens aufzunehmen an Stelle auf Fertigteilangebote zum Seelenfrieden zu verfallen. Nicht Lager, sondern Städte bewohnen all jene, deren biologisches Weiterleben gesichert ist, die des Weitern aber, auch wenn sie nicht zum elitären Zirkel einer Diskussionsgemeinschaft im Stadtzentrum gehören, bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen, die Konflikt und Irrtum nicht fürchten, da nur diese Elemente des Zusammenlebens gewährleisten, dass DIE Lüge nicht kohärent wird. Stadtluft macht dann frei, wenn nicht abgewartet wird, wenn RednerInnen keine Legitimation für ihr Tun benötigen, sondern sich mitteilen. Die StädterIn ist die Irrende, die trotzdem beständig Karten zeichnet. Und in diesem Sinne kann Hannah Arendt nun argumentieren, dass KünstlerInnen und DenkerInnen sowie Taugenichtse,

131 Ibid., 244.

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egal ob sie politisch konform gehen oder nicht, jedem totalitären System abträglich sind, da die Grenzüberschreitung, die Nichtachtung von Konventionen um des Wichtignehmens einer Sache willen, ein klares Interesse ihrer täglichen Praxis ist. Sein sollte. „Vom Standpunkt totaler Herrschaft gesehen, ist eine Gesellschaft verspielter Taugenichtse, die sich etwa nur für das Schachspielen um des Schachspielens willen interessiert, nur um einen Grad, aber nicht prinzipiell ungefährlicher und hinderlicher als eine Klasse von Bauern, die an nichts interessiert ist als an der Bestellung des Bodens. Den Boden um seiner selbst willen zu bestellen – gerade dies kann die totalitäre Diktatur nicht dulden.“132

D ER B OXCLUB Busy Louie Ein Abenteuer, der Weg zum Ruhm, eine Heterotopie und Struktur im verunsichernden Außenraum, das alles kann Boxen sein. Der Boxclub als Örtlichkeit kontrollierter Dichte ist ein Spektakel, schenkt seinen Mitgliedern Namen innerhalb ihres vertrauten Kreises, verbirgt das, was einem heilig geworden ist und erlaubt das Dahinleben auszurichten. Der Boxclub ist die Universität für die Vermittlung von Kollektiv und Individuum durch körperliche Praxis. Loïc Wacquant wagte sich als mutiger Doktorand der Soziologie in den Ring, den er Jahre nicht mehr verlassen sollte und wollte. 1988 wurde Wacquant Mitglied im Woodlawn Boys Club133, er war völlig unbedarft in dieser Sportart, als er drei- bis sechsmal pro Woche zu den hiesigen Boxern ins Training einstieg. Als Überraschung bezeichnet Wacquant diese Entwicklung

132 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 695-96. 133 Wie der Name schon sagt, handelte es sich bei diesem Club um eine exklusive Männergemeinschaft. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden auch die männliche Schreibform verwenden, da es ein zentrales Element Wacquants Studie ist, dass das Boxen, wie man es in Woodlawn verstanden hat, nichts mit Frauen zu tun hat.

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seines Forschens zum Ghetto134 in Chicago, zu den sozialen Strategien Jugendlicher, wie er es geplant hatte. Der Boxclub, der nur als Pforte zum Leben im schwarzen135 Ghetto gedacht gewesen war, wurde zur täglichen Beschäftigung. Eine Beschäftigung, die in der Teilnahme an den Chicago Golden Gloves sowie in dem vorliegenden Text „Leben für den Ring“, der Soziologie, Ethnographie und Novelle verbinden möchte, gipfelte. Nicht unwichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Herzlichkeit, mit der man den jungen, weißen, französischen Boxfrischling im gym aufnahm. Wacquant schreibt diese günstige Entwicklung dem egalitären Ethos der Boxkultur zu, denn akzeptiert wird jeder, der „[…] im Ring ,seinen Beitrag zahlt‘.“136 ,Busy Louie‘ ist nur ein Spitzname, der Wacquant als Teil der Mannschaft erkennbar machte. „Meine Eindrücke waren so überwältigend, dass ich zeitweilig sogar daran dachte, meine Universitätslaufbahn zu unterbrechen und in das Lager der Berufsboxer zu wechseln, um mit meinen Freunden und DeeDee Armour zusammenbleiben zu können, dem Trainer des ,gym‘, der mir ein zweiter Vater geworden ist.“137

Wacquants Text, der mich durch dieses Kapitel führen wird, „Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto“ besteht hauptsächlich aus Mitschriften, die am Ende eines Tages im gym verfasst wurden. Diese Eindrücke sind durch Tonbandaufnahmen und Beobachtungen von verschiedenen Boxveranstaltungen ergänzt. Sinn des Ganzen ist

134 Dieser Begriff wird in dem ihm zugeteilten Abschnitt des Kapitels klare Grenzen und seine Definition bekommen. 135 Ich verwende in diesem Abschnitt die Begriffe ,schwarz‘ oder ,Schwarze‘ beziehungsweise ,Schwarzer‘ als dem Englischen Begriff ,black‘ entsprechend, den Wacquant verwendet. Ich bediene damit eine pauschalisierende Sprechweise, um jedoch mit Wacquant darauf hinzuweisen, dass die Probleme, die er aufzeigen möchte, eben auch wirklich stark an die Hautfarbe der Betroffenen geknüpft sind. Damit soll keine rassistische Gleichmacherei betrieben werden, sondern eben diese Gleichmacherei durch Wirtschaft und Politik sichtbar gemacht werden. 136 Loïc Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto (Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2003), 16. 137 Ibid., 9-10.

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„[…] gleichermaßen die soziale und sinnliche Logik aufzuzeigen und zu belegen, die das Boxen als körperbezogenes Handeln im amerikanischen Ghetto formt.“138 Oder, in den Worten meines Texts: Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, wie körperliche und emotionale Sensibilisierung, als auch Disziplin, ein egalitäres Ethos erschaffen können, einen Boxclub zur Agora werden lassen, wie ein positiver Umgang mit der Dichte menschlicher Gerüche, Körper und Emotionen nicht Aggression erzeugt, sondern Vertrauen, – für den Fall des Boxclubs könnte man nun vielleicht auch schon einmal vorwegnehmen – wie ein väterlicher Lehrer es vermag, ein Spektakel zu kontrollieren. Des Weiteren ist Wacquants Buch von Interesse, weil es uns, oder mir, vor Augen führt, wie weit man abrutschen kann im Nachdenken über die Stadt, ohne die Stadt zu verfehlen. Und schlussendlich lehren einen die Boxer, wie wenig fit der akademische Stab ist, sich dem Leben auszusetzen, über die Stadt zu lernen, an ihr teilzunehmen, während die Boxer aufgrund ihrer geschärften Sinne ihrem alten Trainer DeeDee Armour als Beschützer am Heimweg beistehen können. Sie verstehen im Tun, sind Taktiker. „Dieses Ineinander-Übergreifen der physischen und mentalen Ebenen versetzt erfahrene Boxer in die Lage, sich auch dann noch zu verteidigen und sich eventuell wieder zu fangen, wenn sie knapp am K.o. vorbeigegangen sind: in diesen Augenblicken einer quasi-Bewusstlosigkeit boxt ihr Körper allein weiter, bis sie wieder bei Sinnen sind, was bisweilen mehrere Minuten dauern kann.“139

Abenteuer. Eine Boxveranstaltung im Studio 104 „Die Zugehörigkeit zu einem gym ist offenkundiges Zeichen der Akzeptanz in einem Männerverbund und bietet die Möglichkeit, aus der Anonymität der Masse herauszutreten und die Bewunderung und den Beifall der lokalen Gesellschaft auf sich zu ziehen.“140

Ich möchte meine Besprechung mit der Dokumentation eines Boxkampftages beginnen. Im Folgenden werde ich aus Wacquants Be-

138 Ibid., 12-13. 139 Ibid., 99. 140 Ibid., 20.

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schreibung einige Elemente hervorheben, die mir wichtig erscheinen, die zu zeigen vermögen, warum trainiert wird, was genau die Bedeutung eines Kampfes ist. Theoretische Schlussfolgerungen werden demnach kurz auf sich warten lassen, um sowohl Schreiberin als auch LeserIn freizumachen für den Kopfsprung ins Boxerleben. „Montag, 30. Juli 1990. Banges Erwachen um acht Uhr dreißig, das Wetter ist bedeckt. Hoffentlich regnet es nicht. Ein Monat intensiver Vorbereitung für nichts, das hätte noch gefehlt.“141 In dieser Stimmung erwacht Wacquant. Um elf Uhr möchte er Curtis, einen begabten jungen Boxer aus dem Boysclub, bei seinem Gang zur Waage begleiten. Wacquant holt DeeDee, den Trainer, mit seinem Auto ab und sie starten in einen Tag, an dessen Ende ein Boxkampf im Studio 104 stehen wird. Curtis ist bereits im gym und zählt das Geld für die Karten, die er verkauft hat, um einen Prozentsatz Erlös dafür zu bekommen. Seine Bezahlung als Boxer ist bescheiden: $150 für vier Runden, $400-1000 für acht bis zehn. Die Waage zeigt 132 und ein halbes Pfund, das perfekte Gewicht für Curtis, der nur 133 auf die Waage bringen darf, um am Kampf teilnehmen zu können. Ausnahmsweise braucht er diesmal nicht noch am gleichen Tag Gewicht zu verlieren. Während der Fahrt zum Wiegen spuckt Curtis die ganze Zeit aus142, um nicht durch Flüssigkeit schwer zu werden. DeeDee trägt sein weißes Baumwollhemd, dazu die weiße Schirmmütze, diese Kleidungsstücke sind besonderen Tagen vorbehalten.143 Es sticht hervor, wie oft Wacquant von Kleidung spricht, und doch ist es kaum verwunderlich, drücken wir doch durch das, was wir tragen, einerseits Respekt gegenüber einem Ereignis aus, sowie andererseits auch Stolz auf körperliches Potential, auf die Modulierung, die durch beispielsweise hartes Training einem Boxerköper zu Teil wurde, zeigen durch das Aufmachen unserer Körper mit Stolz, dem Rhythmus einer Gemeinschaft angepasst zu sein. Im Auto wird geplaudert, darüber dass DeeDee sich ständig anhören muss, nicht reich genug zu sein, obwohl er es doch verdient hätte. Frauen werden angemacht und Fahrer mit heißen Autos aufgehalten, um sie nach dem Kaufpreis zu fragen. Curtis betont mit Nachdruck, wie wenig er sich momentan für Frauen interessieren würde, sei ihm

141 Ibid., 157. 142 Vgl.: Ibid., 163. 143 Vgl.: Ibid., 158.

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doch der Kampf viel zu wichtig. Womit eine der strengsten Regeln im Boxgeschäft angesprochen wäre: Teile niemals das Bett mit d/einer Frau vor einem Kampf. Bis: „CURTIS [heiter, ich lache mit ihm]: Der will unser Gespräch abhören, auf dem Weg zur Waage … DEEDEE: Ich weiß, ich weiß. Wenn der eines Tages geschnappt und ordentlich verprügelt wird [when they get a whuppin’ on his ass one day], dann werd’ ich das Schauspiel genießen. [Wir lachen alle drei.].“144

Im gläsernen Aufzug geht es zum Wiegen in die neunte Etage, Curtis wirkt ruhig im Vergleich zu früheren Kämpfen, bemerkt Wacquant. Laury der cutman – „[e]in cutman hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sein Boxer während des Kampfes nicht von einer eventuellen Gesichtsverletzung behindert wird. Von der einminütigen Rundenpause stehen ihm jeweils ca. 40 Sekunden zur Verfügung, um einen Schnitt zu verarzten […]“145 – bietet beim Wiegen seine Dienste an, ein paar kleine Geschäfte erledigt er nebenbei. Laury zeigt Curtis ein mit falschen Diamanten besetztes Panzercollier, das die goldenen Buchstaben CUTMAN schmücken. Schrecklich! Kommentiert Wacquant. Ein gleiches mit dem Titel MACHO möchte Laury Curtis zu einem Freundschaftspreis verkaufen, der zwar nicht abgeneigt ist, jedoch über zu wenig Kleingeld klagt. „Seit dreißig langen Jahren schuftet Laury als Verkäufer für das gleiche Möbelgeschäft in einem Arbeiterviertel und bezieht dafür ein Gehalt, das es ihm eben erlaubt, seine kümmerlichen Bedürfnisse zu decken. Er ist 56 Jahre alt, geschieden und lebt allein, ohne Kontakt zu seinen drei Töchtern und dreizehn Söhnen, die er von fünf verschiedenen Frauen hat.“146

Als Sohn eines Boxers wurde Laury mit 17 Jahren auch Profiboxer, um seinen Vater stolz zu machen, blieb aber leider erfolglos. Heute ist er traurig, dass sein Vater den Erfolg als Cutman nicht mehr miterleben kann. Laury behandelt, seiner Geschichte entsprechend, Boxer mit großer Hochachtung. Oft arbeitet Laury nur für einen Preis von sym-

144 Ibid., 161. 145 Ibid., 168. 146 Ibid., 166.

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bolischem Wert, um wenigstens teilhaben zu können. Er berichtet aus Erfahrung, dass es bei einem guten Drittel aller Kämpfe zu Gesichtsverletzungen kommt. Laury: „,Was mir am meisten gefällt? Es hört sich vielleicht albern an: Ich mache am liebsten meine Arbeit. Für mich ist jeder Kampf aufregend […].“147 Als es 11 Uhr ist und die offizielle Wiegemannschaft eintrifft, erkundigt Wacquant sich nach dem schnellen Erfolg eines Boxers Namens James Flowers, der nach vier Siegen und zwei Niederlagen Champion des Staates im Halbschwergewicht geworden ist. Es entwickelt sich eine Diskussion über die Ehre, die es früher mit sich brachte, Boxer zu sein, darüber, dass man namentlich und bildlich in der Zeitung erschien, wenn man bei den Golden Gloves boxte. Heute, so wird berichtet, finden sich keine Gegner mehr, die Eltern wollen ihre Kinder nicht mehr boxen sehen und auch das Interesse der Zeitungen bleibt aus. Es scheint so, als könnte nun fast jeder, der ins Profilager wechselt, Champion werden.148 „Curtis geht zu Cowen und gesteht ihm kleinlaut, dass Lorenzo noch die sieben Eintrittskarten hat, die er für ihn verkaufen sollte, und er deshalb nicht alles Geld dabeihabe, dass [Fehler im Original (F.H.)] er ihm heute morgen übergeben müsste. Jack antwortet mit einem düsteren Grinsen: ,Call the police‘. Halb erleichtert kehrt Curtis wieder zu seinem Platz im hinteren Teil des Raumes zurück, während DeeDee den Erlös aus dem Verkauf der seinem Schützling zugestandenen Tickets an Cowen übergibt.“149

Zwei Boxer, die aus Milwaukee anreisen, können nicht abgeholt werden, da der zum Fahren Beauftragte eine Panne hat. Jack Cowen lässt Kitchen den Auftrag ausführen, einen Trinker und Amateurfotographen, der auf den Boxveranstaltungen seine Dienste anbietet. Wieder ein anderer Boxer ist mit der Hoffnung, boxen zu können, über sechzig Kilometer gefahren und findet keinen Platz, egal wie sehr er bettelt. Jack Cowen bietet dem Trainer einen Ersatzkampf in Cleveland an. Der Gegner? Leicht zu schlagen. Immer wieder betont Ishmaël, nämlicher Boxer, wie gerne er sich gemessen hätte. Wacquant vermutet, dass auch Geldmangel eine wichtige Rolle in seinem Wünschen ge-

147 Ibid., 169. 148 Vgl.: Ibid., 170. 149 Ibid., 170-71.

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spielt haben wird. Cowen organisiert Veranstaltungen im ganzen Mittleren Westen und verschiebt durch Aktionen wie diese seine Ware, wie Wacquant formuliert.150 „Ein zierlicher Junge mit cremefarbener Haut, das kantige Gesicht von Locken umrahmt, bittet Jack ebenfalls, ihn für einen Kampf aufzustellen. Der matchmaker weist ihn schonungslos mit einer sarkastischen Bemerkung zurück: ,Du weißt doch nicht mal mehr, wo der Trainingsraum ist, lass es sein, vergiss es.‘ Das hartnäckige Gejammere des Bittstellers (,Ich flehe Sie an, geben sie mir doch eine kleine Chance, nur eine, und ich werde Ihnen zeigen, dass ich kämpfen kann‘) führt schließlich dazu, dass Jack ihn für Hilfstätigkeiten, etwa das Austeilen der Handschuhe, einteilt. Ich frage mich, für welchen Elendslohn …“151

Curtis wird aufgerufen und geht zur Waage. Er wiegt 133 Pfund, sein Gegner 129,7, erst jetzt können die Verträge unterzeichnet werden. Curtis unterzeichnet für $500, Little Keith, ein anderer Boxer aus den gym, erhält einen Vertrag über $200. Jeff Hannah, der Gegner von Curtis, erhält $600, er ist gekommen, um sich verprügeln zu lassen. Hannah ist Wacquant zufolge ein routinierter Kämpfer, der jedoch vom Abstieg ergriffen ist (18 Siege, 21 Niederlagen, ein Unentschieden)152, er soll an diesem Abend als Mittel zu Curtis’ Aufstieg dienen. Im Kampf über zehn Runden, im Hauptkampf, den Curtis bestreitet, wird es schwierig, Gegner zu finden. Boxer dieser Kategorie setzen sich nicht gerne dem Risiko eines Kampfes mit einem ernstzunehmenden Gegner aus, um ihre Siegesbilanz nicht zu trüben. „Ich bringe Eddie [den anderen Trainer aus den Boys Club (F.H.)] zu ihm nach Hause in die 55. Straße zurück. Während wir die Cottage Grove Avenue entlangfahren, bemerkt er: ,Die Jugendlichen hier im Viertel haben nicht viel [Fehler im Original (F.H.)] Möglichkeiten: denen bleiben nur die Drogen oder der Knast. […] Hast du den ›blackout‹ in der West Side mitbekommen?‘ Seit drei Tagen gibt es in einem Sektor des westlichen Ghettos aufgrund einer Panne in einer Umspannstation keine Elektrizität mehr.“153

150 Vgl.: Ibid., 174. 151 Ibid. 152 Vgl.: Ibid., 193. 153 Ibid., 179.

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Nachmittag. Was machen die alten Freunde? Sie sind im Knast oder tot. Sie haben geheiratet, machen gute Geschäfte mit Drogen oder haben einen Job und dealen nebenher, „[…] stellen sich nicht dumm an […]“154. Sie wollen nicht das schnelle Geld, sondern in einem Film leben, sich ihren eigenen Film drehen.155 „Willkommen im Studio 104“156 Das Studio 104, Ort der Boxveranstaltung, ist sozusagen eine Mehrzweckhalle. Dort wird gehandelt und ausgespannt, die Stimmung ist freundschaftlich familiär. Es geht nicht ums Konsumieren, sondern um die Begegnung und das Plaudern mit Freunden. Dort verbringt man die wichtigen Momente im Leben, wie Geburtstage, wählt die most sexy legs oder macht Werbung für die KommunalpolitikerInnen. „Ein Zuschauer und seine Begleiterin in der einem großen Boxabend angemessenen Garderobe: Ringe und Anhänger aus Golddublee für ihn, Imitat einer Fendi-Handtasche für sie.“157 Kesse Card Girls füllen die Pausen zwischen den Runden. „Die Tage vor dem Kampf sind immer die schwersten; wenn dann der Kampf unmittelbar bevorsteht, gewinnt Curtis sein Selbstvertrauen wieder. Er weiß, dass er in den Ring steigen wird, wo er sein Talent als ,Entertainer‘ einsetzen kann: wenn er zwischen den Seilen steht, ist er in seinem Element, ,am Schreibtisch‘ oder ,at home‘, wie die Boxer zu sagen pflegen.“158

Der Schlag auf die Faust, ein ritueller Gruß, in fünf Minuten geht es los für Curtis. DeeDee schickt alle aus dem Raum, „[…] damit Curtis in Ruhe mit seinen Brüdern beten kann.“159 „Aus den Lautsprechern dröhnt Let’s get busy!, Curtis’ Kampflied.“160 Curtis wird sofort getroffen und geht in die Knie, doch er kommt unter einer Attacke seines

154 Ibid., 183. 155 Vgl.: Ibid., 184. 156 Ibid., 188. 157 Ibid., 190. 158 Ibid., 194. 159 Ibid., 217. 160 Ibid., 218.

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Gegners zurück in Position. Curtis bleibt in der Verteidigung. Ist er verletzt? Noch vor Rundenende bringt Curtis Hannah zu Fall. „Der Boxer aus Woodlawn wirbelt um Hannah herum und lockt ihn näher, indem er vorgibt, seine Deckung zum besseren Ausweichen zu öffnen und lässt dann trockene Gerade los, die alle ihr Ziel erreichen. Er löst sich ohne Probleme aus dem Nahkampf, indem er sich von einer Seite zur anderen dreht und platziert beidhändig schöne Uppercuts. Langsam bestätigt er sich als der ,Chef‘ im Ring.“161

Am Ende reicht es Hannah, Curtis geht als Sieger aus einem Kampf hervor, der nun abgelöst wird vom Auftritt der „exotischen Tänzerinnen“162. Ein Rahmen für sensible Helden „Schließlich dient die Trainingshalle als Vektor einer Entbanalisierung des Alltags, indem sie, mittels Trainingsroutine und Körpermodellierung, Zugang zu einer distinktiv anderen Welt bietet, in der sich Abenteuer, männliche Ehre und Prestige mischen.“163

Das Boxen ist Ausdruck eines Spiels der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft. Ein Boxer zeichnet sich dadurch aus, dass er sich vollständig der Gemeinschaft, seinem Trainingszyklus, der Stoppuhr des Trainers sowie einer speziellen Form der Körperhygiene unterwirft. Damit wird einsichtig, dass es automatischen Ausschluss aus dieser Gemeinschaft geben muss, da eine der Voraussetzungen des Boxerlebens der geregelte Alltag ist, sowie die Disziplin, die die physische und mentale Askese erfordert. Beständigkeit kann jedoch nicht innerhalb von andauernden prekären, ökonomischen und sozialen, Verhältnissen heraus gebildet werden. Womit die Boxhalle im Ghetto zu einem Ort wird, aus dem die benachteiligsten Familien ausgeschlossen bleiben. Die Mitglieder des Clubs sind keine durchschnittlichen Bewohner des schwarzen Ghettos in Chicago.164

161 Ibid., 221. 162 Ibid., 227. 163 Ibid., 20. 164 Vgl.: Ibid., 47.

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Die Grenze zwischen Ausgeschlossenen und potentiellen Boxern verläuft jedoch nicht unbedingt entlang finanzieller Unterschiede oder zwischen durch die unterschiedliche Dauer einer schulischen Ausbildung gezeichneten Persönlichkeiten. Es sind häufig Kinder aus intakten Familien, mit verheirateten Vätern, die es schaffen, später einen geregelten Alltag zu führen. Die Familie ist jedoch auch ein gemischter Segen, sie kann einen Boxer in zweierlei Art beeinflussen. Die Familie kann ihm Kraft geben oder ihn hemmen, sie muss ausreichend Stabilität besitzen, um den Boxern Motivation zu spenden, darf jedoch nicht zu stark auf ihre Rechte pochen und einen Boxer so von seinem Engagement in der Halle abhalten.165 Die Boxhalle selbst ist demnach auch ein Ort, den man der Familie verwandt beschreiben könnte. Die Boxhalle kann als eine Gegenspielerin zum Familienleben beschrieben werden, die die häusliche Eifersucht aufgrund von zu großer Ähnlichkeit provozieren kann. Familie wie auch Boxhalle schenken Lebenssituationen, die Glück zum Preis von Verboten erschaffen. Für einen Trainer ist es damit essenziell, dass in seinem Reich nicht an Gesetzüberschreitung gedacht wird, dass die Boxer sich anständig benehmen, möchte er die zur Funktionsweise des Clubs notwendige hierarchische Struktur aufrechterhalten. Eddie erklärt Wacquant die Regeln in DeeDees und seiner Boxhalle in folgender Weise: „,Fluchen. Rauchen. Laut reden. Mangelnder Respekt vor Frauen, mangelnder Respekt vor Trainern, mangelnder Respekt untereinander. Keine Animositäten, kein [Fehler im Original (F.H.)] Prahlereien. Dazu kommt eine Unzahl zweitrangiger, oft impliziter Regeln, die darauf abzielen, das Verhalten der Clubmitglieder zu pazifizieren.‘“166

Ein zentraler Punkt in diesem Regelsystem ist der Gebrauch von Sprache. So lässt DeeDee es nicht zu, dass seine Schützlinge das Wort fight, kämpfen, verwenden, anstellen von to box oder to spar, also anstatt von boxen und sparren zu sprechen. Aufgrund dieser völligen Kontrolle, der Unterwerfung durch eine Zeitstruktur, dem Einordnen der Boxer in verfügbare Räume, dem Disziplinieren des Körpers, von Geisteszuständen und Wünschen, spricht Wacquant nun vom Boxclub

165 Vgl.: Ibid., 49. 166 Ibid., 58-59.

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als quasi-totale Institution.167 Und dennoch unterscheidet sich der Boxclub meiner Meinung nach klar vom Lager, das durch Angst und Terror geprägt ist, seinen Mitgliedern nicht Kraft vermitteln möchte, sondern an ihrem Verschwinden arbeitet. Der Boxclub ist sogar in dem Sinne total, dass er für ein totalitäres Regime als Gegenmacht nur gefährlich sein kann. Der Boxclub ist ein Ort, der seinen Mitgliedern einen klaren Fokus verleiht, ein Ort, an dem die Praktizierenden Wege aus den Zwängen ihrer Bedürfnisse erlernen. Im Boxclub passiert ein Training im Erbringen von Höchstleistungen. Das Boxen steht damit einem totalitären Regime gegenüber, weil es Menschen hervorbringt, die ganz in einer Sache aufgehen und damit nicht lediglich an der Erhaltung einer kleinbürgerlichen Alltäglichkeit interessiert sind, was die perfekte Unterdrückte ausmacht, wie ich oben mit Arendt dargelegt habe. Was den Boxclub, wie jede andere hierarchisch organisierte Institution, aber ebenso auszeichnet, ist das Regime eines Anführers. Auch in der Kultur des Boxens kommt man nicht ohne einen sanften Monarchen aus. Wie ein König trägt DeeDee die Stoppuhr, die nur nach ausdrücklicher Genehmigung von anderen verwendet werden darf, berichtet Wacquant. Selbstverständlich gibt es auch keine elektronische Zeitmessung im Club, da nur so gesichert ist, dass DeeDee das integrierende Moment der Gemeinschaft bleibt.168 Einen Trainingsnachmittag kann man sich wie das aus Schulzeiten bekannte Zirkeltraining vorstellen. Die Boxer wissen um die Reihenfolge der Übungen und wechseln auf das Zeichen DeeDees, mit Ende einer Trainingsphase, zur nächsten Übung. Die straffe Einteilung von Zeit und Energie in der Trainingshalle soll nun Kräfte vermitteln, die nur das Kollektiv erlaubt herauszubilden. So berichtet Wacquant, dass der Boxer durch Nachahmung lernt. Ein fleißiger Schüler kopiert die Aktionen und Bewegungen seiner fortgeschrittenen Kollegen und nimmt sie in sein Repertoire auf, womit er fortfährt, solange der Trainer nicht regelnd eingreift. Eines tapferen Neulings nimmt sich die Gruppe dann auch gerne an.169 Kollektivität, sie läßt den Boxclub zum Zentrum einer widerständigen Kultur werden. Es scheint in diesem Zusammenhang auch nicht

167 Vgl.: Ibid., 59. 168 Vgl.: Ibid., 118. 169 Vgl.: Ibid., 120.

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besonders verwunderlich, dass staatliche Sozialleistungen im Kulturund Sportbereich schnell von der Liste förderungswürdiger Unternehmungen gestrichen wurden – auch der Woodlawn Boys Club musste seine Pforten schließen –, sind sie doch, in ihrem Potential zu versammeln und kollektives Bewusstsein zu erschaffen, eine Bedrohung für die scharf gezogenen Grenzen zur schwarzen Armut in den USA. Wacquant bezieht sich auf Pierre Bourdieus These, die aussagt, dass die Praxis einer Logik gehorcht, die außerhalb von Kontemplation und Überzeitlichkeit passiert.170 Wacquant behauptet, dass das Boxen direktester Ausdruck von so verstandener Praxis ist. Das Boxen passiert durch die beständige Reproduktion von Abläufen, es ist Produkt einer körperlichen Erziehung. Ziel der Arbeit im gym ist es, einen „habitualisierten Körper“171 herzustellen, der in seinem Feld perfekt funktioniert. Diese Boxerkörper können jedoch nicht vereinzelt auftreten, sie sind auf einen Partner, den Sparringpartner ausgerichtet. Einen solchen Partner behandelt man ehrenhaft, war er bereit, einem als Trainingspartner gegenüberzutreten, so wird man sich selbst auch gerne für diese Aufgabe hergeben. Man bildet mit ihm ein Team. Der Partner vermag es auch, Ansehen in der Boxhalle zu verschaffen. Und in eben diesem Sinne kann Wacquant behaupten: „Der Sparringspartner ist also letztlich Teil des spezifischen symbolischen Kapitals des Boxers.“172 Während einer Sparringeinheit wird ein Tanz mit dem Zweck, das Kräftegleichgewicht zwischen den Boxern herzustellen, aufgeführt. Dieses Kräftegleichgewicht ist bei einer Trainingsbegegnung im Ring die Grundlage der Kommunikation zwischen den beiden Boxern. Ihre Art der Gemeinschaft beruht auf beständigem Aushandeln.173 Ziel des Trainings ist es, kontrollierte Gewalt zu erzeugen, zu interagieren, eine bestehen bleibende Konfliktsituation aufzubauen. Das Sparring ist antagonistische Kooperation174 und unterscheidet sich vom Wettkampf, weil der Konfliktsituation nur ein bestimmter Rahmen eingeräumt

170 Vgl.: Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993), 157. 171 Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, 63. 172 Ibid., 84. 173 Vgl.: Ibid., 86. 174 Vgl.: Ibid., 89.

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wird. Das Sparring dient demnach einerseits der Erprobung einer Praxis, anderseits aber auch dem Bekanntmachen mit einer Situation, es soll den einander Begegnenden lehren, ihre Ängste zu beherrschen. Die Fluchtreflexe müssen kontrolliert werden, sowie die Aufmerksamkeit geschärft werden muss. Aus Männern sollen Helden werden. Denn, so eine Boxerweisheit, sowohl der Held als auch der Furchtsame empfinden die gleiche Angst, ihre Reaktionen sind jedoch unterschiedlich.175 Das Sparring ist ein gemeinschaftliches Erlebnis, das zwei Boxer betrifft, aber auch die Gruppe der Trainierenden einer Halle als Kommentatoren und Publikum mit einbezieht. Die beiden Boxer führen, indem sie ihr Training verrichten, ein Schauspiel für ihre Kollegen auf. Mit Erving Goffman könnte man behaupten, dass die Boxer ihr gemeinsames Training als Ensemble erleben, als Gruppe, die ein Rollenspiel erfindet, sowie sich innerhalb dieses Spiels vollstes Vertrauen schenkt.176 Mitarbeitende in und an einem Ensemble müssen sich als Eingeweihte verstehen. Goffman spricht von „Intimität ohne Wärme“177 als dem Kleber, der ein Ensemble zusammenhält. Zentral ist dabei der Ernst, wie es Goffman an dem Beispiel BaseballSchiedsrichter, der nur im Einverständnis mit Spielenden und Zuschauern agieren kann, veranschaulicht. „Eine Parodie oder Travestie des Spiels kann dieses nur lächerlich machen und zugleich den Schiedsrichter der Verachtung preisgeben, weil er solch ein Schauspiel zugelassen hat. Deshalb werden Komiker und Besserwisser verjagt, wenn sie ihre Show abziehen wollen.“178

Goffman verweist schlussendlich auch darauf, dass die, die als Regisseur zu sprechen wissen, nicht zusätzlicher Macht bedürfen zur Erschaffung einer Inszenierung, einer Gruppe in Interaktion.179 Der Boxer, als Teil eines bestimmten Größeren, kann seine Kunst im vollen Sinne damit nur in dafür etablierten Situationen erproben. Doch wel-

175 Vgl.: Ibid., 95. 176 Erving Goffman, Wir spielen alle Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (München: R. Piper & Co. Verlag, 1983), 77. 177 Ibid., 78. 178 Ibid., 91. 179 Vgl.: Ibid., 94-96.

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cher Art ist dieses Spiel, gleicht es dem Baseball? Das Boxen wird als Denkspiel bezeichnet und mit dem Schachspielen verglichen. Womit sich jedoch ein scheinbarer Widerspruch eröffnet, denn: Wie kann das Boxen gleichzeitig ein Weg des Nachdenkens und eine Sportart sein, die auf der Basis von Reflexen funktioniert? Das Boxen ist Wacquant zufolge in dem Sinn ein Denksport, als dass dabei der ganze Körper in einen Prozess des Reflektierens eintritt, zum Subjekt wird.180 Wie die Musik, so ist auch das Boxen eine Kunst, die für eine gewisse Zeit den ganzen Menschen erfasst. Boxen produziert keine Resultate, im Sinn eines Herstellungsprozesses, die als Ziel des Kampfes angesehen werden könnten. Des Boxers Werk verschwindet mit der abgelaufenen Zeit. Als ein Ausdruck dieser Eigentümlichkeit des Boxens kann die Abneigung DeeDees gegenüber Lehrbüchern des Sports verstanden werden. Ihn stört der totalisierende Effekt der Schrift, so Wacquant. Das Boxen findet in der Zeit der Handlung statt, während die Schrift der Betrachtung entspricht, sich aus dem Geschehen wegstielt. Das Boxen ist keine beobachtende und beurteilende, sondern eine konkrete Wissenschaft.181 „Wie auch bei der Musik handelt es sich beim Boxen um eine Praxis, die ,vollständig in die Dauer eingebunden‘ ist, ,nicht bloß, weil sie sich in der Zeit abspielt, sondern auch, weil sie strategisch mit der Zeit und vor allem mit dem Tempo spielt‘.“182

Das Boxen ist demnach Bewegung und Reflexion im Passieren. Doch wie viele Teilnehmer kann es geben, damit auch in der monotonsten Trainingsroutine eine Verbindung zwischen den Aktiven besteht? Wacquant gibt eine die schriftlich Denkende nicht befriedigende Antwort, möchte man jedoch seine konkrete Wissenschaft ernst nehmen, so ist die Antwort gar nicht so vage. Wacquant schreibt: „[…] nach meiner Erfahrung dürfen es weder zu wenige noch zu viele sein.“183 In seinem Buch findet man keine Berichte über die Ablehnung eines Boxwilligen wegen Überbelegung der Halle, eher wird viel über das

180 Vgl.: Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, 102. 181 Vgl.: Ibid., 132. 182 Ibid., 105. 183 Ibid., 127.

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Fernbleiben von Boxern berichtet, die wieder dem Leben da draußen verfallen waren oder wegen unpassendem Verhalten des Clubs verwiesen wurden. Die Boxhalle ist demnach eine schwer erreichbare Gemeinschaft, die Frage nach objektiven Kriterien des Ausschlusses wegen Massenansturms scheint sich nicht zu stellen. Nur wenige Männer erfüllen die verlangten hohen moralischen Anspruche, nur wenige haben die Kraft, ihren Körper in solcher Effizienz zu trainieren, dass er gleichzeitig Werkzeug seiner Kunst und Ziel des Gegners sein kann.184 Wacquant berichtet von dem Skandal um den rauchenden Boxer, ein Bericht, der veranschaulichen kann, wie streng die Gemeinschaft über auch nur gelegentliche Laster urteilt. Ray, ein Boxer, hatte es sich erlaubt, direkt nach einem Kampf eine Zigarette zu rauchen. Davor tuschelte man schon über eine gewisse Inkonsequenz im Training, jedoch „[…] wie er direkt nach dem Kampf eine Zigarette geraucht hat, man, da war mir klar, dass er nie mehr gut sein würde‘.“185 Ashante, ein Kollege aus Wacquants Trainingsgruppe. Wacquants Anliegen ist es nicht, sollte es zu diesem Zeitpunkt vielleicht auch so erscheinen, nur einen Bericht seiner Boxerkarriere zu liefern, er möchte eine neue Art von Wissenschaft oder vielleicht sogar eher Wissenschaftlichkeit, einen neuen Stil des wissenschaftlichen Arbeitens vorlegen. Wacquant versucht eine Anthropologie, eine Soziologie zu erfinden, die nicht den Körper studiert, sondern ihn als Werkzeug der Erkenntnis einsetzen möchte. Eine Herausforderung! Denn: Wie kann Körperwissen in Sprache übertragen werden?186 „Indem wir uns mit der Entstehung des Boxers beschäftigen und ,die drei Elemente Körper, individuelles Bewusstsein und Kollektiv‘ näher betrachten, die ihn formen und Tag für Tag erbeben lassen, entdecken wir ,das eigentliche Leben, den ganzen Menschen‘. Und wir entdecken uns in ihm.“187

Disziplin und Subversion Judith Butler schreibt zu Beginn ihres Buches „Das Unbehagen der Geschlechter“, dass es die Drohung des herrschenden Gesetzes ist, den

184 Vgl.: Ibid., 131. 185 Ibid., 154. 186 Vgl.: Ibid., 270-73. 187 Ibid., 274.

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UnruhestifterInnen Ärger zu machen. Butler zieht aus dieser Drohung einerseits die Lehre, dass Schwierigkeiten unumgänglich sind, andererseits formuliert sie davon angespornt eine Aufgabe. Butlers Interesse wurde es, den besten Weg zu finden, um in Schwierigkeiten zu sein.188 Ihr Denken ist damit ein intelligent subversives, sie möchte Konflikte provozieren, das Gesetz befragen, sich jedoch nicht für eine Sache opfern, wenn man so sprechen möchte. Anders formuliert kann ihr Denken auch als ein lustvolles bezeichnet werden, als ein Reflektieren, das Freude daran findet, starre Strukturen aufzubrechen, um alternative Entwürfe lebendig werden zu lassen. In diesem Wunsch, könnte man sagen, steht Butler Wacquants Boxern direkt gegenüber, denn diese streben nicht nach Schwierigkeiten, im Gegenteil, sie sind auf der Suche nach dem besseren Leben, nach Stabilität, nach Harmonie, danach, in ihrem Viertel ein angesehener Mann zu werden. Man könnte diesen Unterschied zwischen Butlers Wünschen und denen der Boxer auch so ausdrücken: Butler wünscht die Auflösung anerkannter Identitäten, während die Boxer nach der Ausbildung von Identität streben. Wendet man diese Argumentation jedoch noch einmal, so erscheint sie wieder anders, denn wonach die Boxer streben ist nicht direkt, wie ich etwas fälschlich ausgedrückt habe, ein angesehener Mann zu sein, sondern der beste Boxer zu sein, Weltmeister zu werden. Ihre Wünsche sind demnach direkt mit ihrem Tun verbunden, das sie anderen gängigen Identitäten entreißt. Sie sind damit weniger Mann als Boxer. Man mag gegen diese Interpretation einwenden, dass ich selbst von Gerede über Frauen berichtet habe, von einem Männerbund gesprochen habe, und muss dennoch dafürhalten, dass es erstens ein Leichtes für die Boxer wird, auf die Ausübung ihrer Männlichkeit vor dem Kampf zu verzichten, und dass sie zweitens bestenfalls mit einer Frau verheiratet sind, um mit ihr einen gut organisierten Alltag zu leben, der dem Boxen dienlich ist. Kurz gesagt, der Boxer braucht seine PartnerIn im Ring sowie seine PartnerIn im Leben. Und so wie Wacquant als weißer Franzose herzlich aufgenommen wurde, weil er im Ring seinen Beitrag zu bezahlen wusste, so darf man wohl auch guter Hoffnung sein, dass für ehrgeizige Frauen das Gleiche gilt. Der Männerbund ist demnach eher ein Boxerbund und das Boxen Identität stiftend, in einem Raum jenseits von Mann und Frau, sowie in

188 Vgl.: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Gender Studies. Neue Folge (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1991), 7.

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seinen eigenen Gesetzlichkeiten. Womit wir Butler einen Schritt näher gekommen sind. Butler möchte das Recht beanspruchen, nicht auf das Geschlecht Frau reduziert zu werden, sondern neue Identitäten erfinden zu können. Was Butler dennoch weiterhin von den Boxern trennt, ist, dass sie nicht verharren möchte und eigentlich am liebsten zwischen den Benennungen zuhause ist, während der Boxer mit Sicherheit weiß, was er bestenfalls sein wird und was zu tun ist, während der Boxer sich seiner konkreten Ziele klar ist und nicht nur einer Art und Weise, wie er diese Ziele in Zukunft immer wieder neu definieren wollen würde. Ich möchte aber weiter behaupten, dass Boxer zu sein wegen den eigentümlichen Eigenschaften des Sparrings jedoch auch immer bedeutet, sich aufzulösen, eben doch nicht festgeschrieben zu sein. Ein Boxer kann eigentlich nur im Kampf einer sein, zum Zeitpunkt seiner völligen Auflösung als Umgrenzter, im Moment seiner Wiedergeburt als pure Aktion. Ich werde im Folgenden knapp die Wege Butlers nachzeichnen, um sie mit denen eines Boxers zu vergleichen. Ich möchte herausarbeiten, wie ähnlich Praktiken sein können, die doch scheinbar unterschiedliche Ziele verfolgen, um mich schlussendlich zu fragen, ob der Unterschied zwischen den beiden ,Lebensentwürfen‘ vielleicht gar nicht so groß ist. Die vordergründig unterschiedlichen Ziele Butlers und der Boxer in Woodlawn möchte ich auf die verschiedenen Problemstellungen zurückführen, die die stark auseinanderklaffenden Lebenssituationen an einer US-amerikanischen Universität und im schwarzen Ghetto Chicagos mit sich bringen. Butler wendet sich explizit gegen die Reproduktion des Dualismus Geist-Männlichkeit und Körper-Weiblichkeit.189 Diese Gegenüberstellung läßt nicht zwei Geschlechter hervortreten, sondern nur eines, das Weibliche. Das männliche Geschlecht beschreibt Butler in Anlehnung an Monique Witting nicht als nur e i n e Identität, sondern als das universelle, als das „grammatische Geschlecht“190. Was zu einer paradoxen Formulierung führt und bedeuten soll, dass es lediglich bereits innerhalb des männlichen Rahmens möglich ist, Begriffe wie weiblich und männlich zu verwenden,191 dass dieser Einteilung bereits eine Struktur zugrunde liegt, die die Weiblichkeit als Zeichen einer margi-

189 Vgl.: Ibid., 31. 190 Ibid., 42. 191 Vgl.: Ibid., 165.

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nalisierten Gruppe erkennbar macht. Ziel eines Befreiungskampfes muss demnach die Dekonstruktion des Geschlechts sein – damit ist nicht nur die Auflösung der Geschlechtsidentität (gender) gemeint, sondern auch die Dekonstruktion des biologischen Geschlechts (sex) –, Ziel muss die Aneignung der allgemeinen Sprechposition werden.192 Die Chance auf diese Art der Rebellion liegt in dem Gerüst, das geschlechtliche Identitäten trägt. Butler verweist darauf, dass es keine zugrunde liegende Identität, die bedient werden möchte, gibt, nein, ihr zufolge entstehen Zuschreibungen, sowie die Veränderung des Körpers, erst im Äußern der vermeintlichen Identität.193 Identität wird demnach performativ und permanent durch Äußerungen hervorgebracht. Ein bereits etablierter Rahmen des Zusammenlebens kann jedoch nicht per plötzlicher Entscheidung aufgelöst werden, es ist nicht möglich, die eigene Identität, die eigene Form des Erscheinens, einfach neu zu starten, das beschriebene Blatt zu wechseln. Aus diesem Grund beginnt Butler sich nach Möglichkeiten umzusehen, Zuschreibungen in Weisen zu wiederholen, die nicht zur Bestätigung der Macht des etablierten Gesetzes beitragen, beginnt Butler sich auf die Suche nach Formen des Darstellens oder Zitierens zu machen, die es möglich werden lassen, sich an die Ränder der Rahmen zu pflanzen, um dort als wilde Gewächse auszutreiben. Das soll heißen, dass Butler nach Wiederholungen forscht, die eine Öffnung der Bedeutung mit sich bringen.194 Butler wendet sich damit gegen die überzeitliche Erstarrung von Wissen und folglich auch explizit gegen die Befreiung durch den Unterdrücker, oder anders formuliert, gegen die Aufhebung des Gesetzes durch ein neues.195 Es soll in einer pluralistischen Befreiungspraxis um einen Kampf gegen die Substanz gehen. „Wenn die Geschlechtsidentität etwas ist, was man wird – aber nie sein kann –, ist die Geschlechtsidentität selbst eine Art Werden oder Tätigkeit, die nicht als Substanz oder als substantielles Ding oder als statische kulturelle Markierung

192 Vgl.: Ibid., 42. 193 Vgl.: Ibid., 49. 194 Vgl.: Ibid., 57. 195 Vgl.: Ibid., 142.

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aufgefaßt werden darf, sondern eher als eine Art unablässig wiederholte Handlung.“196

Ziel dieses Kampfes ist nicht die utopistische Aussetzung aller Macht, sondern ihre parodistische Wieder-Einsetzung.197 Das Frauwerden ist kein starrer Prozess, es passiert nicht unter einer ganz bestimmten Herrschaft. Aus diesem Grund sieht Butler die Möglichkeit eröffnet, sich zu einem besonderen Wesen zu entwickeln, das weder als Mann noch als Frau beschrieben werden kann. Im Parodieren kann unvorhergesehene Vielfältigkeit entstehen, eine Öffnung hin auf nur eine dritte Geschlechtsidentität wäre für Butler viel zu restriktiv. Diese Art des sich Freimachens bezeichnet Butler als interne Subversion, da die bestehende Binarität zwar vorausgesetzt ist – der Befreiungskampf damit gleich beginnen kann und keine besseren Umstände oder Ähnliches abgewartet werden müssen –, aber jedoch so kleinteilig aufgesplittert wird, dass das Verhältnis zwischen den zwei Einheiten nicht bestehen bleiben kann.198 Butler würde sich wünschen, dass der Begriff Identität überhaupt zu einer Örtlichkeit des Konflikts wird, dass dieser Begriff seine oftmals unhinterfragte und damit als natürlich genommene Legitimation und damit Machtposition verliert.199 „Der hier verteidigte Begriff der Geschlechter-Parodie (gender parody) setzt nicht voraus, daß es ein Original gibt, das diese parodistischen Identitäten imitiert. Vielmehr geht es gerade um die Parodie des Begriffs des Originals als solchem.“200

Das Spielen mit Identitäten soll völlig frei der uneingeschränkten Erfindungskraft der Einzelnen, einer Gruppe, überlassen sein. Wenn jedoch die Parodie politisch werden möchte, kann Butler sich dennoch Einschränkungen vorstellen, sie schreibt in diesem Zusammenhang: „Die Aufgabe ist nicht, alle und jede neue Möglichkeit qua Möglichkeit zu feiern, sondern jene Möglichkeiten zu reformulieren, die bereits existieren, wenn

196 Ibid., 167. 197 Vgl.: Ibid., 184. 198 Vgl.: Ibid., 188. 199 Vgl.: Ibid., 189. 200 Ibid., 203.

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auch in kulturellen Bereichen, die als kulturell unintelligibel und unmöglich gelten.“201

Damit ist einerseits nicht jede Übertreibung oder Entfremdung sowie Möglichkeit ein brauchbares Werkzeug des Engagements für eine pluralistischere Gesellschaft und andererseits soll an der Entwicklung von bereits vorhandener Vielschichtigkeit gearbeitet werden, egal an welchen Orten unterschiedlichster Gesellschaften funktionierende Entwürfe des Lebens zu finden sind. Ich schreibe an dieser Stelle ,pluralistischere Gesellschaft‘, weil ich meine, so Butlers Gedanken besser fassen zu können, ist es doch unvorstellbar im Rahmen ihres Denkens, dass eine pluralistische Gesellschaft einmal erreicht sein wird, um zu bestehen. Es ist damit auch vermutlich in Butlers Sinn, von Gesellschaft weiterhin besser im Plural, von Gesellschaften, zu sprechen, da die pluralistische Gesellschaft, die alles in sich aufzunehmen vermag, nicht das Ziel ihres Denkens ist, sondern eher die Motivation von Initiativen, deren Anliegen es sein muss, immer wieder neue Möglichkeiten des Lebens oder Seins zu einem im Ganzen nicht definierten Zusammenleben hinzuzufügen. Butler kann damit als Denkerin oder Denker_In – welche Schreibweise auch die von ihr bevorzugte sein mag – einer Tradition verstanden werden, die ich im vorangegangenen Kapitel als Demokratie des Spaziergangs, als Demokratie der Ablenkung, herauszuarbeiten versucht habe. Zusammenfassend möchte ich formulieren, und mir so vielleicht den Ärger Butlers zuziehen, dass es in ihrem Denken um Gruppen von Menschen geht, die an sich arbeiten möchten, um im Zuge der eigenen Transformation auch die Gesellschaft zu verändern, um sozusagen eine reflektierte Gruppenidentität. Oder, auf noch allgemeinerer Ebene gesprochen, um Menschen, die bereit sind, Kulturleistungen zu erbringen; um Menschen, die sich von der Trägheit verabschieden. Vielleicht muss ich mir nun jedoch selbst widersprechen, möglicherweise habe ich Butler gar nicht so gegen den Strich gelesen und ihr nicht nur unzulässig unterstellt, zur Gruppenbildung aufzurufen, schreibt sie doch selbst in ihrem Buch „Körper von Gewicht“, dass es ihr um kollektive Desidentifizierungen202 geht, die dem bisher Unbemerkten, den

201 Ibid., 218. 202 Vgl.: Judith Butler, Körper von Gewicht. Gender Studies, edition suhrkamp. Neue Folge (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997), 24.

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utopischen Körpern,203 Gewicht schenken sollen. Beide, sowohl Judith Butler als auch Loïc Wacquant, sprechen damit von einem unnatürlichen Kollektiv, von einer Gemeinschaft, die an der Auflösung ihrer Mitglieder zu bestimmten Anlässen – denn auch die BesucherInnen eines queeren Balls müssen irgendwann in eine Alltäglichkeit zurückkehren, in der sie Kleidung auch öfters tragen, nicht ununterbrochen an ihrer Selbstveränderung arbeiten können – auf drei Ebenen arbeitet. Auf der Ebene des individuellen Bewusstseins, auf der Ebene des Körpers und schlussendlich auf der Ebene des Kollektivs, den drei Elementen, aus denen sich das Boxen zusammensetzt. Boxen, eine kleine Bestandsaufnahme Erstens, Boxen ist Entbanalisierung des Alltags, es bringt erfüllende Trainingsroutine. Ein Boxer geht vollständig in seiner Gemeinschaft auf, in einer Gemeinschaft, die es nicht erlaubt, interne Gesetze zu überschreiten. Ihm geht es um das Erringen von Höchstleistungen. Die starke Ausrichtung auf den Lehrer ist ein zentrales Element des Boxens. In der Halle werden Konflikte innerhalb eines speziellen Rahmens inszeniert. Zweitens, das Sparring ist der eigentliche Ausdruck des Ethos einer Boxergemeinschaft, da das Erlebnis des Kampfes zutiefst durch finanzielle Faktoren strukturiert ist. Der Kampf müsste als das Aufeinandertreffen zweier Gemeinschaften besprochen werden, was in diesem Kapitel mein Anliegen nicht ist, obwohl eine solche Studie interessant wäre, sind Boxerbegegnungen doch ein Musterbeispiel für nicht konsensuale Konfliktlösung, da weder Hass die Boxer zueinander bringt, noch, wenn es mit rechten Dingen zugeht, so gekämpft

203 „Eines ist jedenfalls sicher: Der menschliche Körper ist der Hauptakteur aller Utopien. Schließlich ist eine der ältesten Utopien, welche die Menschen einander erzählen, der Traum von einem riesigen, überdimensionalen Körper, der den Raum verschlingt und die Welt beherrscht. […] Der Körper ist auch ein großer utopischer Akteur, wenn es um Maskieren, Schminken und Tätowieren geht. […] Tätowieren, Schminken und Maskieren sind zweifellos etwas ganz anderes. Dadurch tritt der Körper in Kommunikation mit geheimen Mächten und unsichtbaren Kräften.“ (Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe mit CD, 31.)

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wird, dass das Leben eines der Boxer in Gefahr ist. Das Sparring ist ein ernsthaftes Spiel mit hohem Einsatz von Vertrauen und Körper. Drittens, der Prozess des Begegnens kann nicht begrifflich festgehalten werden, es gibt das Sparring nur im Fluss. Dieser Praxis entsprechend, könnte man nun sagen, reden Boxer nicht, ihr Ziel ist es, Taten zu setzen. So wünscht sich beispielsweise Curtis als wohlhabender Boxer, in sein altes Viertel zurückzukehren, um es vor der vollkommenen Verwahrlosung zu retten. Viertens, Butler beschreibt einen anderen Weg, ihre AkteurInnen versuchen, in der Sprache restriktive Benennungen des außerhalb der Sprache Liegenden aufzuweichen, sie versuchen, die Subversion von Konventionen, die über das Sprechen hinausgehen, in der Artikulation zu erreichen. Womit ihre Ausgangsposition eine bessere ist als die der Boxer, denn für Pluralismus Sprechende haben bereits eines erreicht, sie sind an die Orte gelangt, wo ihr Wort Gewicht erhält. Denn, selbst wenn ich unter den Vorzeichen einer falschen Identitätszuschreibung spreche, so werden doch Worte den Raum füllen, obwohl ich vermutlich falsch verstanden werde. Butler erlaubt es nicht, sich auf eine Richtung der Rebellion zu verlegen, sie arbeitet an ständiger Verflüssigung, nicht an einem Ziel, während für Curtis klar ist, wo sein Weg enden soll; im Reichtum, der ihm Großzügigkeit erlaubt. Butler strebt nach der Aneignung von Sprechpositionen, während Curtis Ressourcen generieren möchte. Butler setzt ihre Hoffnung in die Parodie von Normen, während Curtis als verlässlich, als anständig, als ernsthaft wahrgenommen werden möchte. Auf den Punkt gebracht: Butler möchte ständig neu sein, während Curtis seine Hoffnung in eine noch zu erreichende Beständigkeit setzt. Mein Anliegen nun wäre falsch verstanden, würde man dies hier als eine wertende Gegenüberstellung zweier Praktiken auffassen. Es geht mir viel mehr darum, zwei Wege des Umgangs mit Dichte und mit der einhergehenden Notwendigkeit von Anerkennung vorzustellen. Was die beiden Wege gleich macht, ist, dass sie trainierende sind, dass innerhalb einer Gruppe Anerkennung für gute Leistungen im Ring einerseits und öffentlichen Individualismus andererseits geschenkt wird. Menschen beanspruchen einen Platz innerhalb der Stadt – beide genannten Beispiele entstammen dem städtischen Kontext – und fügen diesem dichten Gefüge so eine Strukturierung, eine Ausrichtung hinzu. Der Weg der Boxer ist einer, der noch außerhalb von Institutionen mit potentieller politischer Wirksamkeit stattfindet. Der Weg der Boxer

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führt durch die Landschaft der freien Marktwirtschaft. Butlers Praxis funktioniert innerhalb von Institutionen, diese Praxis ist politisch, da Butler einfordert, gehört zu werden, einen Platz am Tische des Diskutierens zu erhalten. Die Arbeit des Boxers kann damit als die notwendige Errichtung von Substanz beschrieben werden, die erst auf einer nächsten Ebene dekonstruiert werden kann. Knapp gesprochen: die Garantie eines respektvollen Alltags geht der Chance auf Entwicklung von Individualität voraus. Was schlussendlich beide Praktiken gleich und beispielhaft macht, ist ihre Orientierung an einer Tätigkeit, ihr Ziel der Konstruktion nicht essentialistischer Gruppen, die Konstruktion von organisierter Dichte, der Wille zur Arbeit am funktionierenden Zusammenleben. Was für ein Ort muss die Boxhalle sein, um der Organisation Raum geben zu können? Ich möchte mich dem über Foucaults Heterotopien und Simmels Geselligkeit anzunähern versuchen. Die Boxhalle „Räumliche Aufteilung und Dekoration machen die Halle zu einem Tempel des Boxkults, an dessen Wänden die großen Kämpfer der Vergangenheit und Gegenwart zu sehen sind, denen die Boxer des Ghettos selektiv, aber mit Inbrunst huldigen.“204

Die Trainingshalle ist ein Ort des Beschütztseins vor einer gefährlichen Außenwelt, sie erlaubt Geselligkeit, die Interaktion auf der Basis keines oder von nur unbedeutendem Inhalt, um Georg Simmel mit Wacquant zu folgen.205 In der Halle ist das Besprechen von Themen, die das Funktionieren der „spezifisch männlichen Subkultur“206 gefährden könnten, ausgespart. „Es scheint tatsächlich so etwas wie einen Nichtangriffspakt bei den zwischenmenschlichen Beziehungen zu geben […]“207 Man huldigt nur e i n e m Kult in dieser Kirche. Die

204 Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, 39. 205 Vgl.: Ibid., 42. 206 Ibid. 207 Ibid.

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Boxhalle hebt sich als Heterotopie208 von der Sorgenlandschaft Ghetto ab. Geselligkeit, nach Simmel, ist nun das Spiel, das von allen TeilnehmerInnen verlangt so zu tun, als ob alle gleich wären. Verlogen muss ein solches Zusammenhalten nicht unbedingt sein, erst wenn ein anderer als der Zweck, der die Gruppe selbst ist, wichtig wird, ist diese gewollte Harmonie zum Betrug verdammt.209 Die einzelne Person muss, Simmel zufolge, um des perfekten Erlebens von Geselligkeit willen, ganz zurück treten, lediglich die Form des Begegnens darf wichtig sein.210 Simmel möchte Gesellschaft damit immer mithilfe zweier Eckdaten beschreiben. Erstens über die Unterscheidung zwischen ihrem Inhalt und ihrer Form und zweitens durch die Wechselwirkungen zwischen den zugehörigen Individuen. Es ist die Form, die mich an dieser Stelle interessiert. Unter Form ist hierbei die Art zu verstehen, wie Menschen zusammenwachsen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen,211 die Formung der individuellen Inhalte zu einer bestimmten Gesellschaft. Die Geselligkeit ist nach Simmel der Formtrieb des Menschen. Kann Geselligkeit in ihrer beschriebenen idealen Form im realen Leben, im Alltag funktionieren? Geselligkeit ist ein Spieltrieb, so Simmel. Geselligkeit ist und schafft ein Kunstwerk, eine künstliche und ideale Welt.212 Geselligkeit erzeugt keine Reibungen wie das wirkliche Leben, sie muss in jedem Fall vom Treiben der Großstadt unterschieden werden. Ein Konstrukt, die Großstadt, das Simmels Analysen zufolge zwar einerseits nur funktioniert, weil es die Menschen auf eine Art gleich macht, sie in ein straffes Korsette der Zeiteinteilung zwängt, andererseits aber Individualismus provoziert, ja sich gerade durch die Ungleichheit der Menschen auszeichnet, durch ihre Nichtintegrierbar-

208 Im Kapitel zu Michel Foucault wurden die Heterotopien bereits angesprochen. Dort werden sie vor allem als Räume beschrieben, die ihre BesucherInnen gleich machen, die Hierarchien auflösen. 209 Vgl.: Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft (Schutterwald, Baden: Wissenschaftlicher Verlag, 1997), 71. 210 Vgl.: Ibid., 81. 211 Vgl.: Ibid., 60. 212 Vgl.: Ibid., 65.

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keit in nur eine Form.213 Die Erprobung der Geselligkeit braucht folglich freie Räume, Inseln im Meer der städtischen Aktivität. Heterotopien sind solche Gegenräume, ganz andere Räume, die jede Gesellschaft in ihrer jeweils spezifischen Weise herauszubilden vermag. Foucault nennt ihre Entwicklung eine Konstante jedes menschlichen Zusammenlebens. Eine Konstante, deren Form jedoch wechseln kann, da jede Gesellschaft ihre Heterotopien in immer neue zu verwandeln vermag. Beispiele sind „[…] Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die Dörfer des Club Méditeranée.“214 Wozu braucht es Heterotopien? Sie schenken Menschen in Krisenzeiten Schutz. Heterotopien sind Orte, die raumzeitliche Orientierung erlauben, sie können Zeit konservieren, wie das Museum, oder auslöschen, wie das Fest. In jedem Fall, die Heterotopie erlaubt es einer Geschichte sich zu entfalten, als einerseits stimmige Erzählung, oder andererseits im Auflösen des Zwangs zur Kohärenz, im Ausbruch durch das Spektakel. Foucault meint jedoch, dass jene Heterotopien, die Schutz bieten sollen, zu verschwinden scheinen. Wohingegen er dem 19. Jahrhundert unzählige Institutionen zuschreibt, die die von der Norm Abweichenden, die diejenigen, die Zeiten des Umbruchs erlebten, aufzunehmen wussten. Er nennt beispielsweise den Militärdienst und die Hochzeitsreise als Vehikel, die den Weg über Schwellen erleichterten. Beim Eintritt in die geschützten, die anderen Räume müssen Rituale absolviert werden. Heterotopien stellen alles andere in Frage, weil sie entweder Illusionen schenken, die den Rest der Welt als Illusion entlarven, wie Foucault formuliert, oder weil sie dem wirren Außenraum eine vollkommene Ordnung gegenüberstellen. Drei Elemente gilt es nun für unsere Zwecke festzuhalten: Erstens, dass es sich bei den Heterotopien um ganz andere Räume, um Räume der Möglichkeit, der Veränderung und Freiheit handelt. Zweitens, dass es die Aufgabe einer Heterotopie sein kann, Schutz zu schenken, sowie drittens eine ihrer Eigenschaften das Angebot zur Verortung in Raum und Zeit ist.215

213 Vgl.: Georg Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1995), 129. 214 Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe mit CD, 11. 215 Vgl.: Ibid., 11-22.

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Der Boxclub kann damit als Heterotopie, als ganz anderer Raum beschrieben werden. Ein Anzeichen dafür ist, dass die Ausführung des Trainings zuhause oder an einem anderen Ort als der Halle undenkbar ist. Das Training muss im Kollektiv, am passenden Ort der eigenen Stellung im sozialen Gefüge entsprechend passieren und darf durchaus mit einer Art Gottesdienst verglichen werden. Der Boxer ist folglich ein künstliches Wesen, erschaffen vor dem Hintergrund eines Ausnahme-Raumes. Wie Wacquant behauptet, „[…] ist es das ,kleine Milieu‘ des gesamten gym, das ,als Bündel der physischen und moralischen Kräfte‘ den Boxer hervorbringt.“216 Der Boxclub ist außerdem ein Möglichkeitsraum, er schenkt den Trainierenden neue Perspektiven, läßt sie von einem anderen Leben träumen und, dem noch vorrangig, einen anderen Alltag leben, als er im Draußen, beim Jagen nach ein bisschen Sicherheit, wartet. Der Club wird so zur schützenden Burg, zur absichernden Organisationsstruktur. Diese letzte Eigenschaft des Lebens in der Boxhalle scheint in der Person des Trainers ihren Ursprung zu finden. In streng durch Rituale festgelegten Gesprächen, wie Wacquant berichtet, wird in einer bestimmten Reihenfolge über die besonderen und aktuellen Ereignisse gesprochen.217 Die Aufgabe DeeDees ist es, in solchen Situationen durch Wissen zu beeindrucken, er kennt alle Namen, Schauplätze und Ereignisse der Boxgeschichte und wird so zum Museum, könnte man sagen, zur Garantie, dass man sich als Teilnehmer bei solchen Gesprächen innerhalb eines geschichtlichen Rahmens befindet, einer Tradition angehören darf. „Die Boxhalle definiert sich somit in einer symbiotischen Oppositionsbeziehung zum Ghetto, von dem sie umgeben und eingeschnürt ist: sie bezieht ihre Mitglieder aus der Jugend des Ghettos und stützt sich auf seine maskuline Kultur des physischen Muts, des individuellen Ehrbegriffs und der körperlichen Leistungsfähigkeit, bildet jedoch gleichzeitig einen Gegensatz zur Straße: hier Ordnung, dort Unordnung; hier individuelle und kollektive Regulierung der Leidenschaften, dort private und öffentliche Anarchie; hier die kontrollierte und konstruktive Gewalt – zumindest hinsichtlich des sozialen Lebens und der Identität des Boxers – eines streng geregelten und klar begrenzten Austauschs, dort die sinn- und hirnlose Gewalt der unkalkulierbaren, ausufernden Konfron-

216 Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, 131. 217 Vgl.: Ibid., 42-43.

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tationen, die charakteristisch für die Bandenkriminalität und den Drogenhandel im Viertel sind.“218

Außenraum – Ghetto Themenaufriss Zu Beginn sei noch einmal auf die Diskussion des Begriffs Lager aus dem vorangegangenen Kapitel zur Autobombe zurückgekommen. Giorgio Agamben hat dem Lager seinen festen Platz in der Gegenwart eingeräumt. Er verortet das Lager dort, wo der Ausnahmezustand zur Regel wird. Das Lager ist der Ort, wo BürgerIn ihr rechtlich geschütztes Leben gegen nacktes Leben eintauschen muss. Agamben argumentiert, dass Recht immer nur Situationsrecht ist und damit die Zerstörung einer als normal etablierten Situation die betroffenen Menschen um ihre Sicherheit bringt, sie von juridischen Subjekten auf biologische Einheiten reduziert. Loïc Wacquant könnte man nun einerseits als Verfechter dieser These lesen, argumentiert er doch, dass das Abgleiten in die Kriminalität vieler Bewohner des schwarzen Ghettos in Chicago, sowie anderer Gebiete über dieses Fallbeispiel hinaus, Resultat von staatlicher Negativförderung kommunaler Institutionen wie Schulen, Sportclubs oder Krankenhäusern, Resultat einer bewussten Destruktion der Normalsituation ist. Andererseits sieht Wacquant den gegenwärtigen Hang zur Generalisierung als zentrales Problem im Erforschen der Städte. Ein Beispiel für die vorschnelle und missverständliche Übertragung eines Begriffs findet Wacquant in der Benennung europäischer Wohnsiedlungen an den Rändern von Großstädten als Ghetto. Wacquant wendet sich vehement gegen die seiner Meinung nach wissenschaftlich schlampig geprüfte These von der Amerikanisierung der europäischen Stadt. Es darf nicht vorausgesetzt werden, so Wacquant, dass Begriffe von einem Kontinent einfach auf einen anderen übertragen werden können, Terminologie muss in ihrer nationalen und lokalen Verankerung verwendet werden. Womit Wacquant einerseits als einer jener TheoretikerInnen entlarvt ist, die nicht das Ende des Staats behaupten wollen, sondern dem Staat noch große Wirkmächtigkeit zugestehen, sowohl als soziale und unterstützende Institution als auch als Ausbeuter, und andererseits sollte eine These vom

218 Ibid., 60.

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Lager, das sich auf der ganzen Welt in gleicher Weise öffnen kann, nicht mithilfe Wacquants Thesen vertreten werden. Womit bereits eine provokante Behauptung im Raum steht. Wacquant wirft manchem Stadtdenken vor, ungenau im Studieren der jeweils besonderen Umstände zu sein – die Beschuldigung: Unwissenschaftlichkeit. Mit dieser Feststellung obliegt es mir nun, erstens darzulegen, was genau mit Wacquant als Ghetto benannt werden darf, sowie ich zweitens auf die Frage nach der Wirkung von sich auflösenden Situationen zurückkommen muss, um mit Wacquant einen genaueren und konkretern Eindruck zu erlangen. Wacquants Grund dafür, sich gegen vorschnelle Allgemeinbegriffe zu wehren, ist, dass es im städtischen Kontext keine Chancen bringt, wenn Strategien zur Verbesserung von Lebensbedingungen unkritisch auf jede geschichtliche Situation angewandt werden. Ich möchte diesen Gedankengang noch einmal verschärft darstellen und behaupten, dass dieser Vorwurf noch aggressiver formuliert werden kann. Ich möchte behaupten, dass es möglicherweise im Erforschen der Stadt gar nicht so oft um die Verbesserung von Lebensbedingungen geht, sondern oft lediglich um den heißesten Aufmacher gestritten wird, worin mir nun aber auch Wacquant wohl kaum widersprechen würde. Der beste Titel ist nun aber auch immer der, der vorgibt, am klarsten zu sprechen, einer, der ein lückenloses Bild von einer Entität, genannt beispielsweise Ghetto, konstruiert und damit einhergehend die AnwohnerInnen auf einen Typus festschreibt. Den BewohnerInnen werden Identitäten aufgedrängt, die es vermögen, dem bereits medial stark gemachten Bild von einer Wohneinheit zu entsprechen. Im Benennen eines Viertels durch begriffliche (Ein-) Erfassung werden Kategorien entworfen, die AnwohnerInnen werden zum beschreibbaren Humanmaterial, sie werden in an ihre Gegend angepasste Identitätsangebote eingeordnet. Die undifferenziert geführte Diskussion über Ghettos, Slums oder Banlieues raubt damit den betroffenen Menschen ihre Herkunft und Sicherheit, ihren Alltag, da dieses Reden nur mehr e i n e Version von Heimat für die Besprochenen zulässt und sie damit ihrer Heimat eigentliche beraubt, wie ich mit Judith Butler argumentieren möchte. „Eine Herkunft haben könnte in Wirklichkeit genau das hei-

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ßen: über mehrere mögliche Versionen dieser Herkunft zu verfügen.“219 Dieser Gefahr eines Orientalismus220 – der wissenschaftlichen Festschreibung von Menschen auf überzeitlich festgelegte Verhaltensund Lebensweisen, in klarer Abtrennung vom Eigenen, zum Zweck der Selbstdefinition, zur Etablierung eines Herrschaftsanspruchs – versucht Wacquant, wie oben beschrieben, durch das Training im gym zu entkommen. Wacquant sieht es als unerlässlich an, Ethnographie mit methodischem Wissen zu verbinden. „Das gym hat es mir auch ermöglicht, durch die Verbindung von Theoriearbeit und fortgesetzter empirischer Beobachtung die ,orientalisierende‘ Sicht des Ghettos und seiner Bewohner wirksam zu hinterfragen und die Machtbeziehungen ins Zentrum der Untersuchung zu rücken, die es zu dem machen, was es ist: ein Instrument zur wirtschaftlichen Ausbeutung und sozialen Ächtung einer der ethnischen Ehre entblössten Gruppe, eine Art ,ethnisch-rassisches Gefängnis‘ zur Zwangsverwahrung von Amerikas urbanen Parias.“221

Schlussendlich sei angemerkt, dass Wacquant es nicht als Mangel im Arbeiten empfindet, mit Daten aus den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts umzugehen. Er sieht es nicht als die Aufgabe der Sozialwissenschaften an, genauso wie der Journalismus, jedem neuen Ereignis hinterher zu jagen. Ein Dürsten nach dem immer Neuesten würde Wacquant zufolge dazu führen, die städtischen Umstände als sich beständig wandelnde wahrzunehmen, und verdecken, dass die Grundstrukturen einer Gesellschaft nur sehr langsam Veränderung erfahren. Wacquant meint im Gegensatz zu den VerfechterInnen von Thesen der Flüssigkeit des Urbanen, dass das wirklich schockierende am städtischen Leben seine Beständigkeit in manchen Dingen, die andauernde und permanente Ausgrenzung der urbanen Armut, ist.222

219 Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2007), 54. 220 Siehe unten: „

Orientalismus: Die Verherrlichung unbekannter

,Strukturen‘. – Die Verachtung des allzu bedingten Menschen.“ 221 Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, 273. 222 „For the reader who would regret not being provided with a more ,newsy‘ picture (responding directly to the November 2005 riots in particular), I will recall that the place of research is not that of media com-

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Zusammenfassung: Wacquants Anliegen ist es, die vergleichende Soziologie der Stadt zu repolitisieren, die Diskussion um die Bedeutung des Staats wieder ins Zentrum des Denkens zu stellen, um so eine Gegenthese zu jener von den „neighbourhood effects“223, die spezielle Gebiete für ihre Probleme im Sozialgefüge selbstverantwortlich ausweisen möchte, verfügbar zu machen. Ghetto Wie bereits angesprochen, möchte Loïc Wacquant belegen, dass städtische Marginalität ein Phänomen mit unterschiedlichen Gründen ist. Zudem möchte ich zeigen, dass es zum korrekten Verständnis einer urbanen Situation den speziellen politischen, geschichtlichen und – wie man sagen könnte – geschriebenen oder journalistischen Kontext einzubeziehen gilt. Als konkrete Aufgabe stellt Wacquant sich die Erforschung des Übergangs vom kommunalen Ghetto, Mitte des 20. Jahrhunderts, bis hin zu dem, was er Hyperghetto nennt, der am Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Formation.

mentary or public action, and also that the task of social science is not to surf the wave of current events, but to bring to light the durable and invisible mechanisms that produce them. The endlessly rising discursive velocity of journalism and politics, rooted in their ever-closer mutual interconnection and facilitated by their correlative disconnection from social reality, tends to create the illusion that urban practices and representations fluctuate and renew themselves continuously. In truth, the social and mental structures characteristic of a society, city or type of neighbourhood in a given period are not fleeting effusions that appear, mutate and disappear over a few month or years following the irruption of suchand-such ,event‘, however spectacular it may be and even as it gets instantly converted into a ,fait de société‘ or official ,social problem‘ by the presentist and doxosophic lens of journalism. In point of fact, if there is one striking feature of public debate about the urban poor of our time, it is the permanence of the gaze that exoticizes them […]“ (Loïc Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality (Polity Press: Cambridge, Malden, 2008), 282.) 223 Ibid., 284.

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„Es zeigt sich, daß mit den fundamentalen Veränderungen innerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomie der USA unwiderstehliche zentrifugale Kräfte freigesetzt wurden, welche die vormaligen Strukturen des Ghettos zerstört und einen Prozeß der Hyperghettoisierung vorangetrieben haben. Damit ist gemeint, daß das Ghetto im Zuge seiner wachsenden ökonomischen Marginalisierung viel von seiner ursprünglichen organisatorischen Stärke eingebüßt hat […].“224

Verlorene ursprüngliche Kraft. Was ist damit gemeint? Zuerst einmal der Verlust von Gelegenheiten, einander auch nur außerinstitutionell auszuhelfen. Die Kommunalität im Ghetto ist am Ende, so Wacquant, weil die zu Mitte des 20. Jahrhunderts funktionierenden Gemeinschaften in Abhängigkeitsverhältnisse zu Staat, Drogenhandel oder anderen AusbeuterInnen abgeglitten sind. In Abhängigkeitsverhältnisse, die es nicht mehr erlauben, ökonomisch nutzlose Freundschaften zu pflegen. Polizei und Bestrafungsmechanismen, der Staat und die freie Marktwirtschaft bewirkten gemeinsam eine, vor allem durch die radikale Kürzung von Geldern zur Erhaltung öffentlicher Institutionen wie beispielsweise Schulen oder Zughaltestellen, Verelendung der traditionell institutionell gut organisierten schwarzen Ghettos. Diese Kürzungen wurden zum Katalysator des Kollaps aller öffentlichen Institutionen. Städtische Gegebenheiten, Segregation oder no go areas sind damit als Auswirkungen von politischen Entscheidungen auf die Stadt zu betrachten.225 Der Kollaps aller gemeinschaftlichen Räume bringt Veränderungen bis tief ins Privatleben der Einzelnen. Das Wort Raum steht hier dem Wort Platz gegenüber, denn Platz gibt es genug im Hyperghetto und eine Besitzurkunde braucht man dafür auch nicht, höchstens die Macht oder Kraft, das beschlagnahmte Land zu verteidigen, ist von Nöten, um Nutzungsrecht zu beanspruchen. Wenn ich von Räumen spreche, meine ich spezielle Orte, die ein gewisses Möglichkeitspotential in sich tragen, verwendbar sind (siehe oben und bei Michel de Certeau). Wacquant selbst zieht zur Ausformulierung dieser Differenz eine Unterscheidung des Soziologen Dennis Smith heran. Smith spricht von Place und meint damit den fixierten Raum, ein Gebiet mit

224 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 42. 225 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 6.

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nachhaltigen Strukturen, auf die man sich verlassen kann, und von Space, um Räume mit auch bedrohlichen Lücken zu beschreiben. Smith sieht einen Wechsel von einer Politik der festen Räume hin zu einer der Strukturlosigkeit und gewollten Verrottung, die er aufgrund der zerstörten kommunalen Bande im Ghetto auch als erfolgreich beschreibt.226 Es ist folglich ziemlich unwahrscheinlich, als BewohnerIn des Hyperghettos eine beste FreundIn zu haben oder eine stabile Beziehung, selbst die Zugehörigkeit zu einem Verein bleibt die Ausnahme. Im Hyperghetto zu wohnen bedeutet, sozial isoliert zu leben. Fast die Hälfte der AnwohnerInnen haben keine feste PartnerIn – womit EheparterInnen gemeint sind, aber auch LebensgefährtInnen und beständige dates – sowie eine aus fünf GhettobewohnerInnen angab, ohne beste FreundIn zu sein. Arbeitslosen Männern bleiben wesentlich geringere Chancen auf eine dauernde Beziehung, Frauen haben zumindest in dieser Hinsicht generell etwas bessere Aussichten.227 Das ehemals bestehende schwarze Ghetto228 – und man denke bitte immer an das Beispiel in Chicago – ist damit nicht nur ein Fleck Land gewesen, sondern eine besondere institutionelle Form. Es diente dem ethnischen Ausschluss, war damit ethnisch homogen bewohnt und bot einer Volksgruppe, die der Verfolgung und schlechten Nachrede ausgesetzt war, eine Chance auf eigene Institutionen, sowie auf Schutz vor ihren Feinden. Womit das Ghetto einerseits für Fremde ein völlig unbekannter Ort war, anderseits jedoch keiner Heimat gar so fremd, denn auch im Ghetto, wie an jedem anderen Ort der Vertrautheit mit

226 „The distinction between these two conceptions or modes of appropriation of extant environment may be formulated thus:,,Places‘ are ,full‘ and ,fixed,‘ stable arenas‘, whereas ,,spaces‘ are ,potential voids,‘ ,possible threats,‘ areas that have to be feared, secured or fled‘ […] The shift from a politics of place to a politics of space, adds sociologist Dennis Smith, is encouraged by the weakening of bonds founded upon a territorial community inside the city.“ (Ibid., 241-42.) 227 Vgl.: Ibid., 114-15. 228 Es darf natürlich nicht vergessen werden, dass das US-amerikanische schwarze Ghetto nicht das einzige bekannte ist. Ich möchte mich jedoch an dieses Beispiel halten, da es ein sehr aktuelles Beispiel ist und aus diesem Grund möglicherweise erhellende Einblicke in die Problematiken des gegenwärtigen Lebens erlaubt.

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anderen und der Welt, lebte man zusammen und versuchte, dies möglichst erfolgreich zu organisieren. Es gibt damit keinen Grund, das Ghetto als exotischen Raum zu erforschen, wovor Wacquant warnt, da die Normen des Lebens dort nicht so weit entfernt von allen anderen Richtlinien des Umgangs waren.229 Womit von der Vergangenheit gesprochen wäre. Es bleibt jedoch auch heute noch eine von falschen Vorannahmen geleitete Meinung, wenn das gegenwärtige Hyperghetto als völlig anders beurteilt wird. Die Strukturen des Lebens im Hyperghetto sind lediglich die allgemeingültige Antwort auf Feindschaft, politische Anschwärzung und Gleichgültigkeit, auf die allgemeine Unsicherheit, wie Wacquant sichtbar machen möchte. Die ungewöhnliche Gefährlichkeit eines Hyperghettolebens ist demzufolge keiner geographischen Verortung oder barbarischen Organisationsstrukturen zu verdanken, sondern staatlichen Eingriffen sowie der Kürzung von Geldern. Die scheinbar sinnlose Gewalttätigkeit und Kriminalität ist eine Reaktion der von Nichtachtung Betroffenen. Diese Reaktion vermag sich unabhängig von einer gegenseitigen nachbarschaftlichen Beeinflussung abzuspielen, die gerne als die Wurzel allen Übels genannt wird.230 Wacquant behauptet damit, dass auch die größte Bedrohung der Menschen im Ghetto, die Bedrohung durch körperliche Gewalt,231 als Auswirkung staatlicher Interventionen gelesen werden muss. Die übermäßige Gewalt ist eine Entwicklung, die mit der Ablösung des Semi-Wohlfahrtsstaates durch den repressiven Staat einhergeht. Wacquant argumentiert, dass die so produzierte sozioökonomische Instabilität zwangsläufig zu interpersoneller Gewalt führen muss.232 „Die von einem republikanischen Kongreß konzipierte und von Präsident Clinton im Sommer 1996 zum Gesetz gemachte „Wohlfahrtsreform“ steht sinnbildlich für diese Logik […]. Sie ersetzt das Recht auf öffentliche Unterstützung durch die Pflicht zu arbeiten (gegebenenfalls auch in unsicheren Jobs und für

229 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 49. 230 Vgl.: Ibid., 50. 231 „[T]he typical 1990 murder victim was a black male, under 30, and killed by gunfire in the poorest neighbourhoods.“ (Chicago Tribune 1991 nach: Ibid., 210.) 232 Vgl.: Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 94.

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Dumpinglöhne), die allen körperlich leistungsfähigen Menschen auferlegt ist, auch Müttern mit kleinen Kindern.“233

Diese Politik der Abschaffung von Sozialleistungen antwortet einer Situation, die schon 1987 dadurch ausgezeichnet war, dass 70 Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 48 mit dem Black Belt Chicagos als Wohnort auf Essenausgaben wohltätiger Institutionen zurückkommen mussten, um sich und ihre Familien ernähren zu können.234 Vor diesem Hintergrund wird es, wie Wacquant berichtet, im Hyperghetto ernsthaft als eine besondere Leistung angesehen, wenn ein Mensch das Erwachsenenalter erreicht.235 Was hat eine Politik der finanziellen Kürzungen mit bewusster Ausrottung zu tun? Möchte man argumentieren, dass die Politik des Sparens keine rassistische und auch keine ausgrenzende ist, sondern lediglich der Marktentwicklung Folge leistet, so wäre man in Wacquants Augen doch nur eine LügnerIn, da eben gerade auffällig ist, dass in den vom Staat verlassenen Zonen völlig unabhängig von jeglicher Marktentwicklung dahin gelebt wird.236 Das Hyperghetto ist ein eigenes Wirtschaftssystem, das unabhängig von Konjunkturschwankungen existiert. Dem Hyperghetto werden in finanziellen Krisenzeiten des anerkannten Wirtschaftssystems, der reichen Welten, Gelder, um des Erhalts des allgemeinen Gleichgewichts willen, gestrichen, die nach Ende einer Wirtschaftskrise von den Betroffenen nie wieder am Markt zurück erkämpft werden können, da die HyperghettobewohnerIn nur über den Staat mit der Weltwirtschaft in Verbindung steht, nicht als aktive MitspielerIn am Finanzmarkt. Ein Anzeichen dafür mag sein, dass selbst die einfachsten Formen der Teilnahme am Finanzwesen im Hyperghetto keine Selbstverständlichkeit sind, so Wacquant: „Knapp ein Drittel der Bewohner von Gebieten mit niedriger Armutsquote verfügt über ein persönliches Girokonto, im Ghetto ist es ein Neuntel der Bevölkerung.“237

233 Ibid., 27. 234 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 63. 235 Vgl.: Ibid., 212. 236 Vgl.: Ibid., 165. 237 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 52.

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Es ist Sundhir Venkatesh, ein Soziologe, der Jahre seines Lebens mit den Mitgliedern einer Gang in den Taylor Homes, einem berüchtigten von Schwarzen bewohnten Wohnprojekt in Chicago, zubrachte und der berichtet, dass arbeiten im Hyperghetto eine völlig andere Bedeutung hat, als einen ordentlichen Beruf ausüben. In den Taylor Homes bedeutet arbeiten, irgendwie durchzukommen. Arbeiten bedeutet zumindest in diesem Fall, im Drogengeschäft tätig zu sein. Das Drogengeschäft ist das einzige gut funktionierende Unternehmen im Hyperghetto, es bietet Arbeitsplätze für Männer, den Frauen bleibt die Prostitution. Venkatesh berichtet von einem Charakter namens Lenny Duster, einem ehemaligen Gangster, der in einer in einem ehemaligen Geschäft untergebrachten Baptistenkirche die Jugend über die Wichtigkeit ihrer Stimmabgabe als WählerInnen aufzuklären versucht. Er ist Leiter einer Organisation, die da heißt Pride (Stolz) und den Jugendlichen die Bedeutung von Bildung verdeutlichen möchte, auch indem er darauf verweißt, dass J.T., der in Venkateshs Buch beschriebene Aufsteiger im Gangwesen, am College gewesen ist, eine schulische Ausbildung damit auch für diese Art der Karriere unerlässlich bleibt. Duster versucht den Leuten zu erklären, dass es notwendig ist zu verstehen, was Macht bedeutet und wie sie funktioniert und ebenso, dass es in der Arbeit notwendig ist, respektvoll mit seiner Umgebung umzugehen, die Frauen im Park in Ruhe zu lassen. „Er erklärte den jungen Männern, wie man verantwortungsbewusst ,arbeitet‘. Alle Anwesenden verstanden, dass mit ,arbeiten‘ der Verkauf von Drogen gemeint war – ironischerweise hieß das Arbeiten in der legalen Wirtschaft bei ihnen ,einen Job haben‘.“238

Wo liegen die Unterschiede zum europäischen, prekären Vorort? Loïc Wacquant wählt la banlieue französischer Städte als Beispiel. Zuerst beschreibt Wacquant eine auffällige Gemeinsamkeit, die das Ghetto und die Banlieue verbindet, er spricht von einer besonderen Art der Wortverwendung, die beiden Begriffen anhängt. Seit Mitte der 1980er Jahre, so Wacquant, gibt es die Banlieue sowie das Ghetto im ,mainstream‘-Stadtdiskurs nur mehr im Singular, als Allgemeinbe-

238 Sudhir Venkatesh, Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben (Berlin: Econ Verlag, 2008), 95.

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zeichnungen für ärmliche Wohngebiete. Mit dieser vereinheitlichenden Sprechart, mit der Behauptung einer Kategorie, wurde es möglich, die unterschiedlichen Banlieues als Orte einer besonderen Lebensform zu beschreiben. Sobald Lebensformen im Allgemeinen beschrieben werden, ob bedacht oder einfach in Form eines vorschnellen Universalismus, sobald sie kategorisch fassbar sind, kann leicht davon ausgegangen werden, behauptet Wacquant, dass es sie auch außerhalb von Frankreich geben müsse. Das begrifflich Erfasste muss überall gefunden werden, möchte man nicht Gefahr laufen, einen ,schönen‘ Begriff aufgeben zu müssen, weil sich grobe Unzulänglichkeiten zu zeigen beginnen. War die Banlieue nun einmal verallgemeinert, auf ihre grammatikalische Einzahl reduziert, lag der Vergleich mit dem USamerikanischen Ghetto scheinbar zwingend nahe. Dass die Festsetzung der Kategorie LA banlieue nach Wacquant eine Leistung des Journalismus gewesen ist, der in warnenden Artikeln von einer speziell zusammengesetzten, fremden und gefährlichen Zone am Stadtrand berichtete, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Es war die immer interessante Angst vor der Kriegserklärung der urbanen Guerillas, die beschworen wurde und in ihrer Besprechung so lustvoll war, dass mögliche schädliche Folgen zur Seite treten mussten.239 Auch war es aber eben diese Medienkampagne, wie Wacquant argumentiert, die es vermochte, zumindest einen Teil des Phänomens Ghetto auch in Frankreich zu verwirklichen. Es ist die Angst vor den Mitmenschen, die in Frankreich seit der Einführung des Ghettos ihren Raum findet. Man spricht nun auch in Europa von no-go areas, von tödlich gefährlichen Gebieten, sowie die öffentliche Meinung über die BewohnerInnen der Vororte eine eindeutig negative und ablehnende geworden ist.

239 „Proof is the epidemic of articles with alarming and alarmist titles, such as ,Ghetto Stories‘, ,Long Live the Ghetto‘, ,These Banlieues where the Worst is Possible‘, triggered at the beginning of the 1980s by the infamous ,rodeos‘ in the Minguettes neighbourhood of Vénissieux (a waning industrial suburb of Lyons) and the firearm death of little Toufik Ouanès in the cité of the Quatre mille in La Courneuve in July 1983, which was suddenly accelerated and greatly amplified following the incidents in Vaulx-en-Velin in October 1990, variously described by the press as ,a riot‘, a ,revolt‘, an ,uprising‘ (as one says of a subject people), and even a ,veritable urban guerrilla [war]‘.“ (Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 140.)

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Wacquant berichtet von Desmond Avery, der sowohl in Chicagos Cabrini Green, einem berüchtigten Wohnprojekt, als auch in Quatre mille in la Courneuve zuhause gewesen ist. Desmond Avery litt an beiden Wohnorten an einer durch die Adresse bedingten Diskriminierung, er war in beiden Situationen mit der Meinung konfrontiert, ein ,verrückter Wilder‘ zu sein, weil er durch seine Anschrift einem speziellen Ort zugehörig erklärt wurde. Seine Geschichte ist besonders mitreißend, da sie von einem Mädchen, seiner späteren Frau, berichtet, das zu große Angst hatte, die Projects zu betreten und eigentlich lieber wieder nachhause gefahren wäre als Averys Mutter kennenzulernen. Glücklicherweise konnte sie umgestimmt werden. Diese Geschichte sollte nun in keinem Fall als eine über ein ängstliches, mit Vorurteilen beladenes junges Mädchen gelesen werden, sondern als die Geschichte eines Lebens, in dem Panikmache so perfekt funktioniert, dass selbst die Liebe es nur unter größter Anstrengung vermag, städtische Grenzen zu überschreiten.240 Wacquant zählt vier Institutionen und Umstände auf, die erfolgreiche Negativpropaganda erlauben. Erstens nennt Wacquant die Schule, die in der Lage ist, Vorstellungen effektiv zu verbreiten, da sie die Macht der sozialen Reproduktion in Händen hält, zweitens verweist er, wie bereits angesprochen, auf die Berichterstattung. Für die Medien ist der städtische Krieg guter Stoff. Drittens kritisiert Wacquant die Entwertung der Stadtplanung, sowie die damit einhergehende Dezentralisierung der Verwaltung, die Schaffung von Leerstellen anstelle von politischen Institutionen, und führt diese Faktoren, dieses Unterlassen von substantieller Auseinandersetzung als Grund für die erfolgreiche Verbreitung von ,Wissen‘ über die Stadt durch nur wenig seriöse Medien an. Wacquant beobachtet viertens die generelle Autonomisierung und Exklusion der urbanen Themen aus dem täglichen Staatsgeschäft.241 Womit ich mit den Gemeinsamkeiten zwischen Chicago und Paris, nach Wacquant, aber auch schon am Ende bin. Als Unterschied führt Wacquant erstens an, dass keine der Cités in Frankreich auch nur ein Zehntel der Größe eines der Ghettos erreicht, mit denen sie verglichen werden. Die Cité Bewohner können zweitens ihren Wohnort jederzeit verlassen, Urlaub von ihrem Leben in der Innenstadt nehmen, sie sind

240 Vgl.: Ibid., 176. 241 Vgl.: Ibid., 142-43.

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keine Gefangenen und benötigen keine eigenen Institutionen. Die Bewohner des ethnisch homogenen Ghettos leiden drittens nicht nur an der allgemeinen Angst vor ihrem Wohnort, sondern dazu am Rassismus ihrer Umwelt.242 Womit nicht behauptet sei, dass es in Frankreich keinen Rassismus gäbe, sondern, dass der US-amerikanische Rassismus gegen Schwarze ein besonderer ist. In den USA hat man mit den Hyperghettos Gefängnis ähnliche Wohnräume für Schwarze geschaffen, nur um in diesen Zonen jede Art von Vergesellschaftung kontrolliert zu zerstören. Das Ghetto ist damit schlussendlich im Gegensatz zu den französischen Banlieus, bleibt man bei Wacquants Studien, nicht lediglich der Wohnort für eine sich auflösende Arbeiterklasse, sondern der bewusste Einschluss einer nach Rasse bezeichneten Menschengruppe. Wacquant bringt das Beschriebene wie folgt auf den Punkt. „Die europäischen Quartiere der Ausgesonderten sind hinsichtlich ihrer Bevölkerung und ihrer Funktion gemischte Gebiete. Sie bleiben weiterhin vom Staat durchsetzt und immerhin schwach organisiert. Ethnorassische Spannungen in ihnen und um sie herum werden nicht durch eine wachsenden [Fehler im Original (F.H.)] Kluft zwischen postkolonialen Immigranten und der einheimischen Arbeiterklasse geschürt, sondern durch deren zunehmende Nähe im sozialen und physischen Raum. Kurz, sie sind keine Ghettos, sondern AntiGhettos.“243

Um mit greifbaren Thesen abschließen zu können, möchte ich Wacquants Denken zum Ghetto, sowohl als Produkt von Diskursen als auch Ort des Zusammenlebens, auf drei Punkte einengen. Erstens argumentiert Wacquant dafür, dass bestimmte Gebiete nie als Einzelne betrachtet werden dürfen, das Hyperghetto demnach in seiner Stellung im Stadtgefüge untersucht werden muss. Genauso wenig Sinn würde es demnach auch machen, lediglich über Marktplätze oder Freiräume für Kunst im öffentlichen Raum und Ähnliches zu sprechen, ohne diese Kunst beispielsweise nicht sofort in ihren Ermöglichungsbedingungen zu erforschen, um sie daran zu messen, inwiefern sie sich mit anderen städtischen Problemen auseinandersetzt, deren Denkmal sie sein könnte, deren Ganzes sie versuchen könnte darzustellen, da die Lö-

242 Vgl.: Ibid., 150-51. 243 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 8.

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sung dieser Aufgabe den Wissenschaften und wahrscheinlich auch der Philosophie versagt bleibt. Zweitens beschreibt Wacquant die BewohnerInnen des Hyperghettos gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht nur als individuell ärmer, sondern auch als kollektiv ärmer. Er zeichnet das traditionelle Ghetto als einen Ort, der es vermochte, den Menschen Sinn zu schenken, während er das Hyperghetto als zum Fürchten, als einen Grund zur Flucht beschreibt. Niemand möchte Teil dieser Gemeinschaft der Verlassenen sein.244 Dieser Umstand des Verlassenseins sei vielleicht noch einmal an einem besonders einleuchtenden Beispiel erläutert. Wacquant berichtet, dass sechs Zughaltestellen der Jackson Park Line geschlossen wurden, um die Kriminalität zu verringern. Diese Maßnahme ging mit dem grausamen Erfolg einher, dass die Menschen aus dieser Gegend ihre Arbeitsplätze nicht mehr erreichen konnten.245 Und um endlich noch die zur völligen Verzweiflung treibenden Ergebnisse der Wacquantschen Forschung anzusprechen, muss hierzu auch angemerkt werden, dass drei von vier Schulen im Hyperghetto der Chicagoer West und East Side Ende des 20. Jahrhunderts nicht die Kapazität hatten, ihre SchülerInnen auf das College vorzubereiten, sowie ein Exzess in der Säuglingssterblichkeit direkt auf ungenügende Infrastruktur zurückgeführt werden kann.246 „Kein einziger Chicagoer Stadtrat schickt seine Kinder auf eine staatliche Schule, und nur sehr wenige Lehrer setzten die ihren diesem Risiko aus. Aus gutem Grund: Chicago gibt im Durchschnitt jährlich [1991 (F.H.)] 5.000 Dollar für diese Schüler aus, während für die Schüler der reichen Vororte im Norden immerhin pro Jahr 9.000 Dollar zur Verfügung stehen.“ 247

Es kann damit argumentiert werden, dass das Ghetto, seit es seine ökonomische Funktion als Viertel für FabriksarbeiterInnen verloren hat, seit die Arbeitsplätze im erreichbaren Industriegebiet Geschichte sind, auch nicht mehr Garant für die Sicherheit seiner BewohnerInnen sein kann. Seit der Deindustrialisierung ist es für die ehemaligen Ar-

244 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 60-62. 245 Vgl.: Ibid., 55-56, 73. 246 Vgl.: Ibid., 86-88. 247 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 69.

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beiterInnen in Chicago nicht mehr möglich, vor Ort zu arbeiten. Es bräuchte heutzutage eine bessere Infrastruktur und Anbindung an das Umland mit seinen neuen Chancen. Es bräuchte die Möglichkeit zur Überschreitung der Ghettogrenzen, eine Möglichkeit, die jedoch systematisch unter staatlicher Planung sabotiert wird.248 Drittens spricht Wacquant damit von einer Zweiklassengesellschaft. Ein Teil der Menschen ist völlig vom Aufstieg in ein Leben in relativer Sicherheit abgeschnitten, es ist der Teil der StadtbewohnerInnen, denen bereits Krankenversorgung und Schulbildung versagt bleiben. Im Hyperghetto wird damit der Drogenhandel mit all seinen Risiken zur einzigen Perspektive, zur einzigen Möglichkeit, irgendwann in der Zukunft ein halbwegs normales Leben zu führen. Es ist folglich kaum verwunderlich, dass auch fast jede AnwohnerIn in irgendeiner Weise in dieses Geschäft verwickelt ist. Schlussendlich bleibt mir die Frage zu beantworten, warum dem Staat so viel daran gelegen haben soll, das Ghetto in den beschriebenen höllischen Raum zu verwandeln. Wacquant argumentiert, dass der Einschluss ins schwarze Ghetto in den 1960iger Jahren eine politische Entscheidung war, genauso wie er anmerkt, dass die bewusste Verelendung der vergangenen Jahrzehnte ihren Grund in der Angst vor einem Zusammenschluss der (armen) schwarzen Bevölkerung findet. Sehr klar gesprochen: Wacquant wirft der Politik vor, in einer für die Hautfarbe blinden Sprache zu argumentieren, in einer Sprache der Wissenschaften vom Geld und seinen Auswirkungen, in einer Sprache, die es erlaubt, über Kürzungen und sinnvolle Investitionen zu verhandeln, über Armutsviertel und die Unterklasse zu sprechen und trotzdem nur Menschen mit schwarzer Hautfarbe von einem halbwegs anständigen Leben auszuschließen, um so die traditionellen Eliten immer weiter zu erhalten. „Neu an der Terminologie der ,Unterklasse‘ ist nur, daß sie rassenblind zu sein beansprucht: Das hat den großen Vorzug, von Afroamerikanern in einer oberflächlichen ,entrassifizierten‘ Sprache sprechen zu können.“249

248 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 100-01. 249 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 78.

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Die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß wurden in den 70er Jahren, zu dem Zeitpunkt als die Schrumpfung des öffentlichen Dienstes einsetzte, in den USA erneut gezogen. Ebenfalls zu diesem Zeitpunkt passierte ihre Überdeterminierung. Seit den 70er Jahren ist die Grenze zwischen Schwarz und Weiß durch die Klassengrenze überlagert, fällt mit dieser zusammen.250 Das Ghetto in den USA bleibt demnach von außen auferlegt. Die Veränderung ist, dass man das Kollektiv gegenwärtig von den Mitteln abgeschnitten hat, sich selbst zu erhalten. Was Wacquant uns mit seiner Untersuchung und diesem Ergebnis zeigen möchte, ist, dass das Ghetto eine spezielle Form des städtischen Zusammenlebens ist, die an bestimmten Orten mit eigener Geschichte entstanden ist. Aus welchem Grund das Wort Ghetto nicht als analytische, ihrem Kontext enthobene Kategorie verwendet werden kann. Dieses Wort ist nun damit zwar einerseits besonders brauchbar für einen Stadtdiskurs, dem es immer auch um die konkreten Phänomene gehen muss, fordert andererseits die Philosophie aber heraus und zwingt sie dazu, im Reden über Städte ihre Begriffe immer wieder, im Sinne Wacquants, mit dem geschichtlichen und aktuellen Geschehen abzustimmen. Die Freiheit der Philosophie bleibt es, die an sie herangetragene Faktizität nicht hinzunehmen. Nur in dieser Weichheit können die Philosophie und die Wissenschaften von der Stadt in ein respektvolles Gespräch eintreten und sich fruchtbar im Sinne der Erforschung der Stadt verbinden. Wacquant nennt seinen Begriff des Ghettos schlussendlich einen relationalen. Er beschreibt diesen Begriff, der auch im Zentrum seines Artikels „Das Janusgesicht des Ghettos“ steht, wie folgt: „Er [der Artikel ,Das Janusgesicht des Ghettos‘ (F.H.)] konstruiert einen relationalen Begriff des Ghettos als eines janusgesichtigen Instruments ethnorassischer Schließung und Kontrolle, der im Einklang steht mit den Lehren der Soziologie über die Erfahrung der us-amerikanischen Schwarzen in der fordistischen Stadt, der Geschichtsschreibung über die europäischen Juden der Renaissance und der Anthropologie der ausgestoßenen Minderheiten in Asien und Afrika. Die Synthese dieser drei Forschungstraditionen zeigt, daß ein Ghetto eine aus vier Elementen – Stigma, Zwang, räumliche Einschließung und organisatorisches Gehäuse – zusammengesetzte Einrichtung ist, die den Raum ins-

250 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 59.

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trumentalisiert, um die kollidierenden Ziele – ökonomische Ausbeutung und soziale Ausgrenzung – zu versöhnen.“251

Womit ich allmählich beim Übergang zum nächsten Teil und dem Mythos von der Unterklasse angekommen bin. Der Mythos Unterklasse soll vertuschen, dass die Rassentrennung auf einer 50 Jahre alten Wohnpolitik Washingtons beruht, die anstrebte, die Vororte frei von Rassenkonflikten zu halten. Womit noch einmal auf die geplante Ausschließung der Schwarzen aus dem Alltagsbild zurückgekommen sei, diesmal bleibt es nur noch, die konkreten Strategien der Politik nachzuzeichnen. Schuldig an der gegebenen Situation ist, wie oben angeführt, Washington. Jedoch nicht nur, denn auch die lokalen Eliten tragen Verantwortung, sie haben Wacquant zufolge in zweierlei Weise Beihilfe zur Ausführung dieses Projekts, zur Sammlung in Ghettos, geleistet. Die Politik förderte die Rassentrennung am Wohnungsmarkt, indem sie Wohnblocks sehr nahe an die schwarzen Viertel heran bauen ließ, um darauf die Mietspreise in eben diesen Vierteln künstlich zu erhöhen. Die Versorgung mit Sozialwohnungen blieb derweil unzureichend. Diese Maßnahmen erlaubten es, die schwarze Bevölkerung zu einem Leben in Wohnanlagen zu zwingen. Womit die berühmt berüchtigten Projects erschaffen waren.252

251 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 12. 252 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 80. „To complete this picture, Woodlawn has no high school, no museum, no cinema or other cultural facility of any sort, and the sole surviving public library in the neighbourhood is both grossly under-equipped and underutilized, limping along with a miserly budget that does not allow it to reach out to residents. It is as if public policies were designed to devalorize public institutions so as to encourage exit into the private sector by all those who can still leave the sinking ship of the hyperghetto and its separate and unequal facilities.“ (Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 222.)

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Die Unterklasse „Wie wir sehen werden, führt diese halb journalistische, halb akademische Metapher, die einer fiktiven Gruppe zur ,Geburt‘ verhalf, indem sie jahrhundertealte Vorurteile über angebliche kulturelle Eigenheiten der schwarzen Gemeinschaft für den zeitgenössischen Geschmack aufpolierte, zu einer regelrechten ,symbolischen Versklavung‘ der Ghettobewohner. Diese symbolische Gefangenschaft dient ihrerseits zur Rechtfertigung einer staatlichen Politik, die dieses Segment der Gesellschaft aufgibt – einer Politik, der die Theorie der ,Unterklasse‘ ihre große und weiterhin steigende soziale Plausibilität verdankt.“253

Der Begriff Unterklasse erlaubt rassistischen Vorurteilen, zum Zweck der Argumentation einer Politik des legitimen Ausschlusses von Ruhm und Reichtum, ein Wiederaufleben in neuem Gewand. Dieser Begriff befördert die Versklavung durch Benennung, eine symbolische Versklavung, so Loïc Wacquant. Begriffe können ihr Bezeichnetes auch hervorbringen oder, anders formuliert, sie vermögen, bestimmte Geschichten eines Umstandes zu verschleiern. Kurz gesagt, das effektvolle und begrifflich akkurate Reden von einer Sache bietet den geeigneten Schutz vor öffentlichen Debatten, davor, politische und wirtschaftliche Interventionen öffentlich diskutieren zu müssen. Vermeintlich unpolitische Analysen machen glauben, dass keinerlei Aktion gegeben ist, da nur die scharfe Benennung eines Umstandes, die Erforschung einer Gegebenheit als Thema ersichtlich wird. Womit noch einmal auf Wacquants Hauptanliegen zurückgekommen sei: Wohnviertel müssen immer vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Entwicklung untersucht werden. Ein Viertel hat selbst gar keine Auswirkungen, sondern ist ein Ergebnis der Politik oder eben einer Nichtpolitik, die die Entscheidungen an-wen-auch-immer überlässt. Situationen sind Ausdruck von politischen, sozialen und ökonomischen Mechanismen.254 Warum wurde es notwendig, von einer Unterklasse zu sprechen? Weswegen ist es nicht mehr zulässig, Menschen mit schwarzer Haut-

253 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 61-63. 254 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 9.

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farbe ganz selbstverständlich aus einem mittelständischen Leben auszuschließen? KritikerInnen werden an dieser Stelle sofort anmerken, dass es viele Menschen mit schwarzer Hautfarbe gibt, die ein gutes bis sehr reiches Leben führen können, und denen, die solches einwenden, sei recht gegeben. Ihnen möchte ich jedoch auch eine Gegenfrage stellen, die auf die Wurzel der Wacquantschen Wut über das System verweist: Wie konnte es kommen, dass dennoch die ganz Armen, aus der Gesellschaft völlig ausgeschlossenen, in Chicago und weiten Teilen der USA255 fast ausschließlich Menschen mit schwarzer Hautfarbe sind? Wäre es nicht viel interessanter, auch diese Frage zu beantworten? Damit zurück zum Angestoßenen: Warum wurde die Verschleierung durch den Begriff Unterklasse notwendig? Wacquant macht das Scheitern einer Nachkriegsideologie der ersten Welt einerseits dafür verantwortlich, schreibt dieser Ideologie aber andererseits auch die Errungenschaft zu, dass Schwarze eben nicht mehr ganz selbstverständlich aus weiten Teilen des Lebens verbannt sind. Ich spreche von der Ideologie der Abschaffung allen Übels durch Modernisierung. Im Glauben an das nur Vorübergehendsein des Leids, das ein Fortschritt in Wissenschaft, Technologie und Wirtschaftlichkeit aufheben würde, war es möglich – und gute Wahlwerbung – die gerechte Verteilung der Aufstiegschancen, unabhängig von Klasse oder Ethnizität, zu einem moralischen Imperativ zu machen, argumentiert Wacquant.256 Ich möchte daran zweifeln, ob die EntscheidungsträgerInnen und SprecherInnen einst tatsächlich davon ausgingen, dass irgendwann wirklich alle Menschen gut leben werden können. Ich möchte VerfechterInnen einer Ideologie des Wettbewerbs und der Aufstiegschancen immer und überall unterstellen, dass sie mit dem Verlieren einer großen Menge gut und auf Dauer zu leben vermögen, ihr Begriff von Freiheit damit von dem der Unterklasse gar nicht so weit entfernt ist. Dies jedoch ist eine These, die nicht zu belegen ist – und damit eine

255 Mit dem Blick auf L.A. gerichtet wäre es auch notwendig, die Problematik der Flüchtlinge aus Zentralamerika miteinzueinzubeziehen. Dazu beispielsweise Mike Davis: Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, 305-46, 60-403. 256 Vgl.: Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 15-16.

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wenig brauchbare These, die hier nur am Rande erwähnt sei –, stellt sie doch die Frage danach, ob spezielle Personen lügen, ehrenhaft zu wenig wissen oder gar vergessen haben zu lügen. Wie auch immer, das ist nicht Thema dieses Texts. Thema ist, dass es zur Wiederbelebung einer Klassengesellschaft kommen musste, als klar wurde, dass doch nicht jede alle Chancen haben darf, möchten die gleichen Eliten an der Macht bleiben. Diese neue Klassengesellschaft ist nun nicht im Bild eines Gegensatzes zwischen BürgerIn und ProletarierIn dargestellt, sondern eher in dem Gegensatz einer deproletarisierten Gruppe von Menschen und ihren Antipoden, allen anderen. Vielen Menschen ist der Zugang zu Lohnarbeit versperrt, ein Problem, das in den USA seinen Ausdruck auch in Zahlen nicht findet; dort genügt/e es, zum Zeitpunkt der Wacquantschen Forschung, einen Tag im Monat zu arbeiten, um als Teil der Gemeinschaft von LohnarbeiterInnen gezählt zu werden.257 Um diese neue Gesellschaftsform nun zu argumentieren, griff man auf durch den Rassismus geprägte Stereotype des kollektiven Gedächtnisses zurück, machte diese wieder lebbar. Als Nahrung für die Behauptung einer Unterklasse, deren Kennzeichen die Ausschweifung und Unzivilisiertheit sind, genügt der durch strukturelle Gewalt – Massenarbeitslosigkeit, Verbannung in heruntergekommene Wohnviertel, Stigmatisierung im täglichen Leben sowie die routinisierte Gewalt der Polizei gegen Afroamerikaner258 – produzierte Hass der schwarzen Armen, der seinen Ausdruck ganz logisch in einer nihilistischen Lebenshaltung findet. „Die ,Unterklasse‘ ist eine neue, nicht mit der traditionellen ,Unterschicht‘ gleichzusetzende Entität, die vom Rest der Gesellschaft abgesondert ist. Sie soll sich durch eine eigene Kultur, ein eigenes Beziehungsgefüge auszeichnen, das sie auf pathologisch zerstörerische und selbstzerstörerische Verhaltensweisen festlegt.“259

Der Fokus der Untersuchung verschiebt sich mit der Analyseeinheit Unterklasse weg vom Problem des Rassismus, hin zum Studieren

257 Vgl.: Ibid., 27. 258 Wie ein Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 1992 belegt, (vgl.: Ibid., 32.) 259 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 74.

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scheinbar individueller Fehler armer Afroamerikaner. Womit eine Untersuchung rassistischer Unterdrückungsstrategien sinnlos wird, da ja lediglich eine ökonomische Grenze als Trennlinie zwischen Unterklasse und ,gemeinem Volk‘ angenommen wird. Segregation nach Hautfarbe wird damit zum scheinbar notwendigen Bild der USamerikanischen Großstadt, weil eine Grenze behauptet wird, die von der einen Seite nicht übertreten werden kann, da es den Eingeschlossenen scheinbar an der Disziplin zu seriöser Arbeit und verdienter Entspannung fehlt, und von der anderen Seite nicht, durch beispielsweise Sozialleistungen, aufgelöst werden darf, da die behaupteten Kriminellen so auch noch Zugang zu Ressourcen hätten. Konsequenterweise erlaubt das Sprechen von der Unterklasse damit nur einen Weg zur Auflösung der gegebenen Situation: das langsame Aushungern der den ,Wilden‘ anheim gefallenen Gebiete. Schließt man sich dem Diskurs im Zeichen der Unterklasse an, egal ob als RetterIn oder als VerfechterIn harter Polizeigewalt, vertritt man die bewusste Tötung einer großen Zahl von Menschen, die nicht nur zufällig schwarz sind. Mit Unterklasse wurde ein völlig negativer Begriff erschaffen, der frei von Identifikationspotential für Einzelne und Gruppen ist. Die GhettobewohnerInnen sind Mitglieder einer „impossible community“260, einer unmöglichen Gemeinschaft, innerhalb derer sich jede nur auf der Durchreise und als Sonderling gegenüber allen anderen empfindet. Aus eben dieser Perspektive heraus wird auch von innerhalb der vernachlässigten Gebiete die Geldverschwendung, die der Staat scheinbar an den NachbarInnen betreibt, kritisiert. Klassenbewusstsein ist damit unmöglich. Wacquant hält es für illusionär, dass eine Rückführung der aus dem Arbeitsleben ausgeschlossenen Menschen ins Arbeitsleben genügen könnte, um die Lebensumstände der Betroffenen zu verbessern, er verweist auf die vielen arbeitenden Armen in den USA und Europa und plädiert in Folge dieses Umstands für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dem Einwand, dass es sich bei einem solchen Grundeinkommen um eine utopische Lösung handelt, begegnet Wacquant sehr kühl und wie ich meine sehr nachvollziehbar, denn so wie er argumentiert, kann es für die gegenwärtige Politik kein Kriterium mehr sein, ob eine Lösung utopisch ist, da die Umstände bereits

260 Wacquant, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, 184.

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so weit ins Arge fortgeschritten sind, dass es angesichts ihrer kein anderes Vorgehen mehr geben kann.261 Womit auf den Begriff Unterklasse zurückgekommen sei, einen rein negativen Begriff. Unterklasse ist ein Wort, das immer nur von anderen oder für andere verwendet werden kann, es taugt nicht zur Selbstbezeichnung, da es lediglich aussagt: Du bist all das was ich bin, bloß n i c h t . Die Angesprochene wird damit auch nicht als eine andere, eine Fremde wahrgenommen, sondern eigentlich als Nichtmensch. Um eben diese Behauptung zu untermauern, möchte ich noch einmal auf Judith Butler zurückkommen. „Die Gewalt der Sprache liegt in ihrem Bemühen, das Unsagbare einzufangen und damit zu zerstören bzw. das zu fassen, was der Sprache gerade entzogen bleiben muß, wenn sie als lebendige Sache wirksam sein soll.“262

Was kann das nun bedeuten, das Unsagbare festzumachen? Zum Beispiel kann dies meinen, dass man Menschen benennt, ihnen Namen gibt, die nicht individuell gewählt sind, diese Namen niederschreibt und sie um eine Definition hinter dem = ergänzt. Falsch verstandene Wissenschaftlichkeit, die an dieser Stelle anhält, eine Definition erarbeitet und sich zufrieden gibt, ist damit ziemlich gewalttätig, würde ich sagen. Die Form des Forschens, die ich vertreten möchte, ist eine, die Definitionen als immer neue Aufgaben annimmt, die sprachliche Festlegungen als motivierende Fragen anzusehen erlaubt. Und in eben diesem Denken gehen Judith Butler und Loïc Wacquant mit mir einher, die eine in ihrem Streben nach Freiheit, der andere in seinem Zweifel aufgrund seiner Vermutung, hinter jedem Begriff noch eine Entstehungsgeschichte ausfindig machen zu können, die es erlaubt, einen Begriff in seiner jeweils spezifischen Funktion anders zu durchschauen. Mit Judith Butler ist es nun interessant zu fragen, wie es möglich wird, einen Begriff zu verfremden, ihm wieder Leben einzuhauchen. Gleichzeitig wird aus dieser Untersuchung hervor gehen, dass Arbeit am Begriff Unterklasse nur verschwendete Liebesmühe ist, ist dieser Begriff doch ein völlig leerer und damit nicht modulierbar. Kurz, zur

261 Vgl.: Ibid., 252-55. 262 Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, edition suhrkamp (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006), 21.

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nochmaligen Wiederholung: Eine mit dem Hauptwort Unterklasse belegte Person wird ewig von Fremdbezeichnung abhängig sein, da eben dieses Wort eigentlich nur dies eine in sich birgt: dass die Bezeichnete es nicht vermag, selbst einen Namen auszuformulieren. Sprache wird erst im Sprechen aktuell, könnte man als Einstiegsthese zu Butler formulieren.263 Ein Satz, den ich an dieser Stelle einfach einmal, so naiv wie er in seiner Isolation auch klingt, stehen lassen möchte, scheint er mir doch einen zentralen Punkt in Butlers Denken zusammenzufassen. Zweitens gibt es Sprechen, welches vermag, geltende Regeln zu stützen, weil es ein Prozedere ins Laufen bringt, ein Ritual konstruiert, eine Person durch Benennung „[…] sozusagen an einen sozialen Ort und in eine soziale Zeit versetzt.“264 Dieser Mechanismus sollte nun keines Falls als nur diskriminierend angesehen werden, erlaubt der bekannte Name doch auch zur SprecherIn zu werden, es sei denn, eben dieser Name beinhaltet die Behauptung der Unbegabtheit zum Sprechen. Der Name, so Butler, „[…] trägt in sich die Bewegung einer Geschichte, die er zum Stillstand bringt.“265 Erst dieses Einhalten erlaubt Aussagen, die sich zusammenfassend auf eine Situation beziehen. Drittens können sprachliche Bezeichnungen selbst performativ sein, wie Butler anschließend an Austin behauptet.266 Es kann im Sprechen eine Tat gesetzt werden. Zusammenfassung: (1) Sprechen erzeugt begrifflich erfasste Gegenwart. (2) Die dadurch gefundenen Namen legen Orte für Menschen und Dinge, Situationen oder Phänomene fest. (3) Diese Namen wirken im Materiellen. „Der Sprechakt ist nicht einfach nur in eine Praktik eingebettet, sondern er ist selbst eine ritualisierte Praktik. Das heißt, daß eine performative Äußerung nur soweit funktioniert, wie sie aus ermöglichenden Konventionen, durch die sie mobilisiert wird, schöpft und diese zugleich verdeckt.“267

Wenn Sprechen nun außerhalb seines Mediums Wirkungen zeigen kann, so nicht nur aus (böswilliger) Absicht. Die Wirkungen einer

263 Vgl.: Ibid., 29-30. 264 Ibid., 52. 265 Vgl.: Ibid., 63. 266 Vgl.: Ibid., 73. 267 Ibid., 84.

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Aussage sind nicht nur geplant, Rede vermag es, selbstständig zu formen, wie Butler argumentiert. Butler wirft in diesem Zusammenhang dem Staat vor, der per Gesetzt festlegt, welche Wörter oder Arten des Formulierens verboten sein sollen, unter der Vorgabe rassistisches Sprechen kontrollieren zu wollen, Terrain für das Aussprechen rassistischer Rede zu schaffen. Butler verweist damit auf das Problem, dass rassistisches Sprechen nicht nur Teil rassistischer Praxis ist, sondern die Entscheidung darüber, was gesagt werden darf und was nicht, auch die Reproduktion von Rassismus und Sexismus erlaubt, eine Sprachproduktion ermöglicht, gegen die mit Hilfe des Gesetzes kein Widerstand mehr geleistet werden kann, die aus Konventionen der Sprachproduktion schöpft, um jene dennoch zu suspendieren. „Daß Sprechen eine Form von Handlung ist, bedeutet nicht notwendigerweise, daß es tut, was es sagt; es kann bedeuten, daß es ausstellt oder inszeniert, was es im gleichen Moment sagt oder sogar statt es überhaupt zu sagen. Das öffentliche Ausstellen von Verletzungen ist auch eine Wiederholung, aber sie ist nicht nur das, denn das, was ausgestellt wird, ist niemals wirklich das gleiche wie das, was gemeint ist, und in dieser glücklichen Inkommensurabilität liegt die sprachliche Möglichkeit für eine Veränderung.“268

Butler möchte den Sprechakt als institutionellen Ritus verstehen269 und damit auch als einen potentiellen Akt des Widerstandes. Butler argumentiert, dass die Körper an das glauben, was sie spielen. Konsequenterweise muss die daran anschließende Aufgabe für jede Einzelne lauten, sich als Autorität zumindest über das eigene Tun aufzuspielen, den herrschenden Diskurs im Einfordern der eigenen Individualität zu enteignen, Fremdbeschreibungen umzuwerten.270 Ziel und Weg eines subversiven Sprechens ist damit, an der beständigen Auflösung von gängigen Begriffen zu arbeiten, nicht jedoch das Verhärten in Gegenbegriffen. Es sollen die alten Begriffe immer wieder mit neuen Geschichten gefüllt werden. „Haben wir nicht eine lähmende Furcht vor der unbekannten Zukunft der Worte, die uns davon abhält, die Begriffe zu befragen, die wir zum Leben brau-

268 Ibid., 162. 269 Vgl.: Ibid., 227. 270 Vgl.: Ibid., 240.

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chen; und die uns daran hindert, das Risiko einzugehen, Begriffe zu leben, die noch ungeklärt sind?“271

Schluss: Warum nicht eine subversive Verwendung des Begriffs Unterklasse einführen? Weil jede SprecherIn, die sich als Teil der Unterklasse bezeichnet, sich in ihrem Sprechen eben dadurch sofort unmöglich macht. Womit nicht Butlers Theorie widerlegt ist, sich jedoch ein Zusatz aufdrängt: Nur Begriffe, denen eine bestimmte Geschichte, bestimmte Rituale zugestanden sind, können verfremdet werden. Begriffe, die als Bezeichnungen für Pathologisches und damit eigentlich als Krankheitsnamen oder bloße isolierte Fehlerbeschreibungen funktionieren, sind frei vom Potential zur Verbiegung durch subversive Verwendung, da sie selbst nur bedeuten, weil sie etwas nicht sind, weil sie nicht Normales, nicht Gesundes oder nicht Menschliches bezeichnen, weil sie sich nicht einmal auf eine Hautfarbe beziehen, ob nun in abschätziger oder gemeinschaftsbildender Weise. „Der Diskurs über die ,Unterklasse‘ ist ein Disziplinierungsinstrument im Foucaultschen Sinne, weniger für die Armen selbst als für all diejenigen, die darum kämpfen, nicht in das städtische Fegefeuer abzustürzen […] Statt den neuen Nexus zwischen Rasse, Klasse und Staat in der amerikanischen Metropole zu erhellen, trägt das Märchen von der ,Unterklasse‘ vielmehr dazu bei, den wichtigsten Grund für die Entzivilisierung des Ghettos im Sinne Elias’ zu verschleiern: den politischen Willen, es verrotten zu lassen.“272

Das Boxen als Vita activa? Vita activa meint drei Tätigkeiten des Menschen: Das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln. Arendt nennt diese Tätigkeiten als die Grundlage des menschlichen Lebens, als den speziell menschlichen Weg zu anderen Menschen und Dingen. „Mit dem Wort Vita activa sollen im folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefaßt werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht,

271 Ibid., 254. 272 Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, 80.

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unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“273

Was einiger Erklärungen bedarf. Erklärungen, die es mir erlauben, in die Thematik aktives Leben mit Arendt einzusteigen. Ich verwende den Ausdruck aktives Leben an dieser Stelle als ein Angebot zur Erneuerung des Wortes Vita activa, das mir selbst schon auf eine gewisse Konservativität mancher, unter diesem Begriff summierter, Gedanken hinzuweisen scheint. Vom aktiven Leben zu sprechen hört sich jedoch wiederum ziemlich allgemein an, aus diesem Grund wird es eine Triebfeder meiner Auseinandersetzung mit den Boxern sein, einen vielleicht spannenderen Ausdruck für die zu bezeichnende Sache zu finden. Nach einem kurzen Themenaufriss seien zwei Elemente des Arendtschen Denkens aus ihrem Buch „Vita activa“ angesprochen: 1. Der Mensch arbeitet auf eine künstliche Welt hin. 2. Es gibt eine Notwendigkeit, die Trennung zwischen öffentlich und privat abzusichern. Am Schluss möchte ich auf den Boxclub zurückkommen. Hat dieser Club es verdient, mit dem antiken Marktplatz verglichen zu werden? Themenaufriss Arbeiten sichert das Überleben von Individuum und Gattung. Die Arbeitenden erledigen die Reproduktion des Menschengeschlechts als Spezies. „Das Arbeiten ist wie das Konsumieren primär ein verzehrender Prozeß, in dem Materie nicht verwandelt, sondern zerstört wird, und die Gestalt, die die Arbeit ihrem ,Material‘ aufprägt, ist nur die Präparierung für die bevorstehende Vernichtung.“274

Im Herstellen kann der Mensch sich Dauer geben. Die Herstellenden verewigen sich in den Dingen, die sie hervorbringen. Das Herstellen passiert unter der Anleitung eines Modells. „Vom Standpunkt des Natürlichen und des Haushalts der Natur betrachtet, ist umgekehrt gerade das Herstellen destruktiv und nicht das Arbeiten, da nur der

273 Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, 16. 274 Ibid., 118.

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Herstellungsprozeß die von ihm benötigte Materie der Natur für immer entwendet […].“275 „[…] als ein lebendes Wesen bleibt der Mensch dem Reich des Lebendigen verhaftet, von dem er sich doch dauernd auf eine künstliche, von ihm selbst errichtete Welt hin entfernt.“276

Das Handeln erhält die Gemeinschaft, es schenkt Erinnerung. Das Handeln ist die einzige Tätigkeit, die keiner Vermittlung bedarf. Im Handeln treffen die Menschen direkt aufeinander, sie begegnen einander als Gleiche und arbeiten sich an der dennoch gegebenen Pluralität ihrer ab. Es ist des Handelns zwingende Bedingung, dass jeder Mensch ein je besonderer ist und unterschiedliche Sichtweisen der Welt eingebracht werden. Das Handeln ist damit nach Arendt die politische Tätigkeit schlechthin.277 „Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“278

Im aktiven Einandergegenüberstellen, in der Freiheit, sich selbst zu bezeichnen, zu positionieren, erscheint ein Mensch als jemand. Im Erschaffen dieser besonderen Person setzt eine jede einen Neuanfang, bereichert die Welt mit einer neuen, nicht kalkulierbaren Chance, denn klar ist nie, wie sich ein neues sprechendes und handelndes Mitglied einer Gemeinschaft verhalten wird, wie es eben genau auch dieses, sein eigenes Gefüge, mitformen und verändern kann. Arendt spricht davon, dass jede aufgrund ihrer Geburt die Chance auf einen neuen Anfang hat, aufgrund ihrer Geburt als Person, als aus eigener Macht Benannte und Angesprochene. Was bedeutet dies? „Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche […].“279 Der

275 Ibid. 276 Ibid., 9. 277 Vgl.: Ibid., 17-18. 278 Ibid., 214. 279 Ibid., 216.

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Mensch trägt damit in Arendts Konzeption die Begabung in sich, alle Wissenschaft, oder beispielsweise auch Prognosen religiöser Art, Lügen zu strafen, kann doch eine jede sich gegen ihren scheinbar bereiteten Lebensweg auflehnen, kreative Problemlösungen finden und damit aus den Systemen sämtlicher Berechnungen einfach aussteigen. Dies jedoch passiert im Handeln, in der Begegnung mit anderen Menschen, und damit nach dem Abgesichertsein der eigenen Privatheit, unter der Bedingung eines geschützten Körpers. Oder? Noch eine andere Möglichkeit erscheint sinnvoll: Das Unvorhergesehene kann eintreten, wenn es die Sicherheit gibt, dass andere darüber berichten werden können, wenn Geschichten von HeldInnen niedergeschrieben werden. Der Mensch macht im Handeln Geschichten von Freiheit erzählbar. „Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangs begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und daß das, was ,rational‘, d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf.“280

Hannah Arendt nennt, überlegt, genau drei wesentliche Eigenschaften des Menschseins, nicht etwa eine, das Arbeiten, wie Karl Marx es in den Augen von Hannah Arendt vorschlägt. Mit der Reduktion des Menschen auf ein arbeitendes Tier sieht Arendt eine unglückliche Alternative eröffnet, denn in letzter Konsequenz gibt es im Anschluss an Marx für Arendt nur eine Entscheidung zu treffen: Wollen wir in produktiver Knechtschaft oder in unproduktiver Freiheit leben, als ausgebeutete ArbeiterInnen in irgendeiner Fabrik oder als gelangweilte Teilchen einer Gesellschaft nach Ende jeder Notwendigkeit, in einem Verein nicht freier, sondern überflüssiger Menschen?, wie Arendt vielleicht formulieren würde.281 „Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tä-

280 Ibid., 217. 281 Vgl.: Ibid., 123.

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tigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“282

In Passivität enden bedeutet, keine Kraft mehr aufzubringen im Erschaffen einer künstlichen, einer vom Menschen erzeugten Welt, im Dahinbrausen der Natur283 aufzugehen, sich lediglich als Materie zu reproduzieren. Die Passivität liegt damit hinter dem Bereich des Herstellens von Dingen, nach dem Planen, sowie sie in der Zeit nach jeder Geschichte herrscht. Im akzentlosen Fließen alles Natürlichen gibt es keine HeldInnen mehr, nur noch Kräfte- oder Spannungsverhältnisse. Die so bezeichnete Natur soll nicht als unangegriffenes Idyll göttlicher Schaffung verstanden werden, viel eher kann als Bezeichnung für die Tätigkeit der Arendtschen Natur das Wort Stoffwechsel funktionieren. „Erst wenn wir Naturdinge – einen Baum, einen Hund – als einzelne Wesen betrachten und sie damit bereits aus ihrem ,natürlichen‘ Umkreis gelöst und in unsere ,künstliche‘ Welt versetzt haben, beginnen sie zu wachsen und zu vergehen. Manifestiert sich das Natürliche im Menschen durch die kreisförmige Bewegung der Körperfunktionen, so manifestiert sich Natur in der von Menschen gemachten Welt als ständige Bedrohung, die Welt zu überwuchern und ihren Dingbestand in den Verfall zu reißen.“284

282 Ibid., 411. 283 „Daß hier mehr im Spiele ist und mehr auf dem Spiele steht als die Entwicklung rein technischen Könnens, sieht man schon daran, daß sich die geänderte Relation von Welt und Natur am augenfälligsten in dem modernen Städtebau nachweisen ließe, für den ja weder das Hochhaus noch das Stadtbild von New York auf der Halbinsel Manhattan charakteristisch ist, sondern die neuerdings angestrebte und in Amerika im Ansatz auch bereits verwirklichte Auflösung des städtischen Elements in menschlichen Siedlungen, also eine Nicht-Stadt von der Art Los Angeles‘, bei der ,Ausgleich zwischen Stadt und Land‘ nun in der Tat so weit gediehen ist, daß weder von Stadt noch von Land, wie wir es gemeinhin verstehen, auch nur das geringste übriggeblieben ist.“ (Ibid., 176.) 284 Ibid., 117.

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Der Mensch arbeitet auf eine künstliche Welt hin Mensch sein bedeutet, mit dem Außen in Berührung kommen, um in dieser Konfrontation das zuvor nur Äußerliche zur eigenen Lebensbedingung zu erheben.285 Menschen und Dinge verbindet demnach eine Zwangsbeziehung: „[…] weil menschliche Existenz bedingt ist, bedarf sie der Dinge, und die Dinge wären ein Haufen zusammenhangloser Gegenstände, eine Nicht-Welt, wenn nicht jedes Ding für sich und alle zusammen menschliche Existenz bedingen würden.“286

Die Erschaffung einer eigenen und künstlichen Welt bedeutet demnach das Bestreben, Erdachtes, einen Plan umzusetzen, bedeutet einen Teil seiner selbst beständig zu verdinglichen, um eben diesen Teil als Beweis der eigenen Existenz aufzuheben.287 Die Notwendigkeit der Absicherung der Trennung zwischen Öffentlich und Privat „Was wir heute Gesetz nennen, bedeutete zumindest bei den Griechen ursprünglich so etwas wie eine Grenze, die in frührer Zeit ein sichtbarer Grenzraum war, eine Art Niemandsland, das jeden, der überhaupt ein Jemand war, umschloß und einhegte.“288

Es ist nicht das Recht auf unbedingten Privatbesitz, das Hannah Arendt hochhält, es ist die Sorge, dass ein Mensch ohne Sicherheit, ohne ein Heim, sich nicht im öffentlichen Leben einbringen kann, die Arendt für die Notwendigkeit einer Absicherung des biologischen und – man könnte anschließend daran sicher auch sagen – des psychologischen Lebens eintreten läßt. Nur ein Individuum, das den Dingen vertrauen kann, vermag es zur HeldIn einer Geschichte, zur Handelnden zu werden.289 In diesem Sinne beschreibt Arendt die Massengesell-

285 Vgl.: Ibid., 18. 286 Ibid., 19. 287 Vgl.: Ibid., 114. 288 Ibid., 78. 289 Vgl.: Ibid., 40.

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schaft auch nicht aufgrund ihrer Massenhaftigkeit als unerträglich, sondern wegen des ihr eigenen Verlusts aller Grenzen. Eine Gesellschaft, in der die totale Austauschbarkeit aller Menschen herrscht, birgt die Kraft zur Versammlung nicht mehr in sich. Arendt wählt zur Beschreibung dieses Umstands ein interessantes Beispiel. „Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte verschwinden sieht, so daß nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind.“290

Interessant finde ich ihre Wahl, weil sie mir nicht so nahe liegend erscheint, hätte Arendt doch auch eine Situation des Kennenlernens, beispielsweise zwischen einem Mann und einer Frau, beschreiben können, in der der Tisch, über den hinweg das Gespräch geführt wird, verlustig gegangen ist. In einer solchen Situation würden den AkteurInnen nur zwei Möglichkeiten bleiben, entweder einander in die Arme zu fallen oder sich beschämt aus der Bar zurückzuziehen. Um eine solche Situation zu erschaffen, bräuchte man auch gar nicht erst den Tisch verschwinden zu lassen, es genügt, dieses klamme Gefühl zu erzeugen, wenn man die beiden einfach das Lokal verlassen läßt. Das Fallen der Grenzen bedeutet damit, dass das Fällen von Entscheidungen notwendig wird, dass ein Gespräch an sein Ende gekommen ist. Aus welchem Grund spricht Arendt aber nun von einer Séance und nicht von meinem banaleren Beispiel der romantischen Anziehungskraft? Ich meine, dass Arendt mit ihrem Hinweis auf das Übersinnliche auch zeigen möchte, dass selbst der Zeitpunkt, wann die Massengesellschaft ins Leben gekommen ist, nicht festgemacht werden kann, dass selbst ihr Eintreffen nichts mit einer Diskussion oder transparenten Entscheidung, beziehungsweise Grenzziehung zu tun hatte, sondern sich ganz heimlich neue Koordinaten des Lebens eingeschlichen haben, die eher durch die Macht eines Zauberers, einer Geheimgesellschaft, verwirklicht erscheinen als durch einen souveränen Akt. Doch noch einmal zurück: Was bedeutet es, wenn der Tisch verloren geht? Ich möchte nun auch gleich wieder das Beispiel meiner Boxer bemühen. Ihr Tisch ist der Ring, der sie zwar nicht um sich ver-

290 Ibid., 66.

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sammelt, sondern in sich, der jedoch die gleiche Rolle der architektonischen Grenzziehung übernimmt. Diese Austauschbarkeit von Ring und Tisch verweist auch darauf, dass das Wesentliche dieses Elements nicht unbedingt sein genauer Standort ist, sondern die dargestellte Etablierung eines speziellen Regelsystems, das es erlaubt, den Rest des Lebens zu transzendieren, das es erlaubt, ganz ohne Furcht den Menschen zu begegnen, das es erlaubt, sicher zu sein, dass man eben nicht wütende Schläger, sondern Boxer vorfindet. Das Aufstellen des Tisches versammelt damit „[…] eine Gruppe prinzipiell weltloser Menschen […]“291 und gibt ihnen Möglichkeiten zur Erfindung ihrer eigenen Geschichten. An diesem Tisch sollen dann auch die Kinder der vergangenen HeldInnen Platz finden, das Reden weiter treiben, um ein Regelsystem, das nicht unabhängig von seinem Inhalt bestehen kann, am Leben zu erhalten.292 Sicherheit bietet demnach nur die Konfrontation mit einer Gruppe, die die eigenen Sichtweisen in Frage stellt, sich auf ein Abwägen der unterschiedlichen Eindrücke von der Wirklichkeit einlässt. „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.“293 Die Möglichkeit zum Handeln wird damit erst durch das gleichberechtigte Zusammenarbeiten von ArchitektIn und GesetzgeberIn wirklich.294 Womit genug von der Öffentlichkeit gesprochen sei. Was muss die Privatheit leisten? Das Private dient als Versteck, es beschützt eben jene Dinge, die nicht zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion werden dürfen.295 Öffentlichkeit und Privatheit sind damit zwei eigentlich neutrale, aber jedoch getrennt etablierte Orte, die erst in ihrem Erwecken zum Raum, im Sinne von Michel de Certeau und wie oben beschrieben, in ihrer Benutzung für bestimmte Zwecke, Charakter entwickeln. Öffentliches und Privates sind damit Produkte zweier Verhaltensweisen, die eine stellt zur Diskussion, die andere ist vertraulich.

291 Ibid., 67. 292 Vgl.: Ibid., 69. 293 Ibid., 73. 294 Vgl.: Ibid., 245. 295 Vgl.: Ibid., 88.

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Von der Polis zum Boxclub „Die Polis unterschied sich von dem Haushaltsbereich dadurch, daß es in ihr nur Gleiche gab, während die Haushaltsordnung auf Ungleichheit geradezu beruhte. […] Freisein hieß weder Herrschen noch Beherrschtwerden. Innerhalb des Haushaltsbereichs konnte es also Freiheit überhaupt nicht geben, auch nicht für den Herrn des Hauses, der als frei nur darum galt, weil es ihm freistand, sein Haus zu verlassen und sich in den politischen Raum zu begeben, wo er unter seinesgleichen war.“296

Erst vor der Türe konnte in der Polis das so genannte gute Leben297, das Leben der Handelnden, das um Stolz und Unvergänglichkeit kreist, stattfinden. Nur um dieses Lebens am Marktplatz willen machte es erst Sinn, innerhalb eines Haushalts die Abende zu verbringen.298 Mit Arendt könnte man diese Grenze zwischen Haus und Polis auch als die zwischen dem Durchschnittlichen (dem Häuslichen) und dem Nicht-Durchschnittlichen (der beobachteten Leistung im öffentlichen Raum) beschreiben. Interessanterweise spricht Arendt darin jedoch nicht von einem Gegensatz zwischen der häuslichen Kontinuität, also einem geregelten Ablauf, und dem wilden Draußen, nein, ebenso die Polis erscheint nach strengen Regeln organisiert, auch die Polis ist in einem anderen Sinn ein Ort der Kontinuität, der Eliten, der Handlungsformen, bloß in ihrem Streben sind die beiden beschriebenen Orte des Lebens zu unterscheiden. Das Haus sichert den Fortbestand aller, die Polis zwingt zur Entscheidung für nur Spezielle, nicht jeder darf dort seine Geschichte bekommen, da dieser Ort sonst völlig sinnentleert wäre – interessant ist: Aus Ungleichheit entsteht Gleichheit im Haus

296 Ibid., 42. 297 „Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen. […] Da das bittere Muß, sich am Leben zu erhalten, zur Arbeit trieb, war Vortrefflichkeit das letzte, was man von ihr erwarten durfte.“ (Ibid., 59 und 61.) 298 Vgl.: Ibid., 47.

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und aus Gleichheit Ungleichheit auf der Agora. –, weil dann niemand mehr die Eitelkeit aufbringen würde, sich in quälenden Debatten zu ergehen. Das Erzeugen einer anerkannten Geschichte ist demnach bereits zu diesem Zeitpunkt ein Kräftemessen zwischen Angebern (es sei hier nur von Männern gesprochen, da die Spiele auf der Polis nicht zum Alltag der Frauen gehörten),299 denn sich ins rechte Licht stellen, scheint in jedem Argumentieren die wichtigste Übung zu sein, es schadet niemals, schön und bedeutungsschwanger zu wirken. Heute gefallen sich oft auch WissenschaftlerInnen aller Disziplinen in dieser Rolle, merkwürdig ist, dass dabei niemandem auffällt, wie wenig wir uns noch am antiken Marktplatz befinden, wie kaum eine noch Regeln des Umgangs beherrscht und wie dieses Unkultiviertsein dann auch noch als kritisches Denken angesehen wird. Selten erkennen die zeitgenössischen WissenschaftlerInnen, dass die Angeberei im Kampf um geschichtliche Bedeutung ein Ende haben muss, da dieser Weg heute nur tiefer in die Belanglosigkeit führt. Vermutlich bemerken nur solche DenkerInnen ihre Kritiklosigkeit, die manchmal mit offenen Augen nachhause kommen und die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, anstelle auch am Heimweg möglichst wenig ,Kontakt zu haben‘, um an der Unschärfe von den Begriffen ihrer KollegInnen ungestört weiter feilen zu können. Mir scheint damit in dieser Hinsicht nichts einleuchtender als Arendts Angst vor einem leichten Leben der Götter, vor der Abgeschlossenheit eines Raumes zur ,ernsthaften‘ Diskussion, eines leblosen Raumes, der sich einerseits, wie Arendt argumentiert, durch die Freiheit von Plagen auszeichnet, andererseits aber auch durch den Ekel vor dem Schmutz, den Abgründen der menschlichen Seele, der Privatheit, dem Alltag.

299 Nach Richard Sennett gab es für die Frauen der Polis ein anderes Ritual, das sie nicht im Gespräch befreien sollte, sondern sie der Erde zurückzugeben vermochte. „Im Verlauf der drei Tage der Thesmophoria erfuhren die Frauen den Gestank der Schweine und Weiden einatmend, auf dem Boden kauernd – rituelle Verwandlung durch die Kraft der Metonymie. ,Kalt‘ und ,passiv‘ bedeuteten vom zweiten Tag an Selbstdisziplin und Stärke, nicht wie draußen Schwäche und Unterlegenheit.“ (Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, 92.)

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„Mühe und Plage können aus dem menschlichen Leben nicht entfernt werden, ohne die menschliche Existenz mitzuverändern; sie sind nicht Symptome einer Störung, sondern eher die Art und Weise, in welcher das Leben selbst mitsamt der Notwendigkeit, an die es gebunden ist, sich kundgibt. Das ,leichte Leben der Götter‘ würde für die Sterblichen ein lebloses Leben sein.“300

Menschen können nach Arendt damit nur dann frei sein, wenn sie nicht die Notwendigkeit ihrer Lebenserhaltung vergessen, vergessen dürfen.301 Man könnte demnach sagen, sowie die männliche Antike in vollem Bewusstsein ihre Freiheit auf den Schultern von Frauen und SklavInnen erlebt hat, wir heutzutage ebensolche Mechanismen des Ausschlusses finden müssten, um nicht unser ganzes Leben der Notwendigkeit preiszugeben, wenn die Sklaverei natürlich auch nicht der Ausweg sein darf, selbst im Verfolgen dieses aufteilenden Gedankens von Arendt. Womit ich noch einmal zurück bin, bei Marx und Arendts Kritik an ihm. Der Mensch muss bewusst eine Grenze ziehen zwischen den Tätigkeiten seines Lebens, er darf nicht nur das, was als Arbeit gilt, mit Ernsthaftigkeit belegen, um alles Restliche Spiel zu nennen, sondern muss gleichwertige Sphären schaffen, sowohl dem einen als auch dem anderen Bedeutung zusprechen. Der Mensch muss demnach nach Arendt, möchte er frei sein, sich seiner Vielschichtigkeit aussetzen. Es ist wichtig zu erkennen, dass es Freiheit nur zum Preis der Befreiung von Notwendigkeiten gibt, Freiheit damit Befreiung von etwas bedeutet.302 Ist der Boxclub ein Ort der Befreiung und damit ein abgespeckter antiker Marktplatz, eine Möglichkeit zur Versammlung trotz Massengesellschaft? Was ist der Boxclub? Eine knappe Zusammenfassung erscheint mir an dieser Stelle von Nöten. Der Boxclub ist ein Ort der kontrollierten Dichte, er schafft eine Situation der Entbanalisierung des Alltags, wie ich es mit Wacquant benannt habe. Die Leistung, die die Halle erbringt, die in der Boxhalle erbracht wird, ist die Vermittlung von Individuum und Kollektiv durch körperliche Praxis, die Konstruktion einer Gruppe aufgrund von Anstrengung. Die Boxhalle ist ein öffentlicher Ort, der den Konflikt als beständigen Modus des einander Begegnens aufrechterhält. Das Dasein als Boxer steht dem All-

300 Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, 141. 301 Vgl.: Ibid., 143. 302 Vgl.: Ibid., 152.

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tag jedoch nicht gegenüber, eher setzt diese Aktivität sogar einen bereits geordneten Alltag voraus, verlangt das Wissen um die Notwendigkeit des pazifistischen Umgangs sowie die Kraft, sich selbst völlig in einer Sache aufgehen zu lassen, das Boxen als ernsthaftes Spiel zu betreiben. Das Boxen benötigt auch den aus einem Alltag der Nichtanerkennung mitgebrachten Wunsch, einen Weg zur Eigenbenennung – und man kann ruhig sagen – einen Weg zum Ruhm gehen zu wollen, die Bereitschaft zur Geburt im Arendtschen Sinn, die immer in Abhängigkeit vom Privaten passiert. Unterschiede und Ähnlichkeiten. Der Alltag oder das Private spielt demnach auch im Leben des Boxers eine Rolle, jedoch nicht nur die erhaltende, nicht wie die Debattierenden auf der Agora braucht der Boxer sein Außen rein um zu funktionieren, sondern es ist ihm auch der eigentliche Grund für das Eintreten in einen Kampf. Der Boxer kämpft, um eben die erlebbaren Umstände, nicht seines Lebens zuhause, sondern seines Viertels zu verändern. Man erinnere sich nur an den Willen, die Orte des Aufwachsens zu restaurieren und Ruhm zu erlangen, nicht nur innerhalb der Boxhalle aufgrund ausgezeichneter Umgangsformen und guter Technik, sowie Fleiß und Askese, sondern auch im Leben jener, die nicht im elitären Club der Boxer aufgenommen sind, anerkannt zu sein. Im Chicago der Gegenwart könnte man damit durchaus vom Boxclub als einer Art Marktplatz sprechen, da auch dieser Club es erlaubt, wieder HeldIn einer Geschichte zu werden. Diese Geschichten werden jedoch nun auch außerhalb erzählt, eine konsequente Abtrennung zwischen Außen und Innen wird damit unnötig. Man könnte an dieser Stelle auch von einer Grauzone, von einer undefinierten Zone, einem Grenzbereich sprechen, der sich zwischen Heim und Club breit macht. Nennen wir diesen Bereich einfach einmal die Straße. Dort gelingt es schwer, sich zu versammeln, jedoch ist es eben auch das einfache Vordringen in diese Grauzone, das die Grenzen zum Boxclub verschwimmen lässt. Jede kann hinausgehen, sich in einem Club wie dem von mir beschrieben anmelden, sofern dies mit eigentlich keinem finanziellen Aufwand verbunden ist, sofern der Staat diesen Club, wie unseren Boxclub, unterstützt, weil die PolitikerInnen um seine Wirkung wissen. Nach der Anmeldung beginnt nun jedoch die Arbeit. Ein Boxer vergisst niemals, was es bedeutet, mit der Notwendigkeit zu leben, er ist beständig auf seinen Körper zurückgeworfen und durchstreift jeden Tag die diffuse Zone der Straße, bis er im vielleicht auch nicht ganz trauten Heim ankommt. Und eben

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dieser Zwang zur Notwendigkeit, dem sich die Boxer ganz bewusst unterwerfen, hebt die Boxer hervor, erlaubt es ihnen, eine elitäre Gruppe zu bilden, die ganz ohne absolute Regeln des Ausschlusses auskommt, prinzipiell könnte jede Boxer werden. Und wie Wacquant berichtet, das Problem ist nicht ein Überlaufensein der Halle, sondern das Abfallen jener, die zu schwach sind, ihre Leistung nicht mehr erbringen wollen, lieber nicht allzu bewusst mit der Notwendigkeit ihres Körpers und dem Leben in einer Konfliktsituation konfrontiert sein möchten. Der Boxclub ist damit ein Ort der Hoffnung, man könnte vielleicht sogar sagen, ein heiliger Ort, der nur bestehen bleibt, wenn die Rituale befolgt werden. Ihm gegenüber steht die Straße als Ort, zwar auch von Ritualen, aber man könnte sagen, von unausgesprochenen Regeln, die es zu jeder Zeit möglichst geschickt im Eigeninteresse zu brechen gilt, um das eigene Auskommen zu gewährleisten. Die Straße als Ort, der der Notwendigkeit keine klare Struktur verleiht. Schlussendlich bleibt das Haus oder Heim als notwendige Sphäre des Lebens bestehen. Wie Arendt so möchte auch ich in Bezug auf die Privatheit argumentieren, dass sie notwendig geschützt sein muss, und es ist der Boxclub, der es vermag, Individuen zu erzeugen, die bereit sind, auch dafür einzutreten und nicht das Risiko, die schnelle Chance auf der Straße in ihr Leben lassen möchten. Womit der Umkehrschluss gezogen sei: Nicht nur das Haus ist notwendig, um das politische Leben zu erhalten, sondern auch der Marktplatz, Orte die Versammeln, von Geschichten, Dingen und Menschen, damit geborgene Strukturen sich nicht auflösen. Ich möchte damit von einem öffentlichen Raum sprechen, der nun vielleicht nicht mehr unbedingt durch eine Art des Tuns ausgezeichnet sein muss, sondern unterschiedliche Formen des sich Versammelns zulassen kann, nicht nur das Argumentieren, sondern auch das Boxen. Vielleicht ist die Zersplitterung der Agora eine Chance, auch in Zeiten der von Arendt so sehr verhassten Massengesellschaft ihren Gedanken der Vita activa dennoch hochzuhalten. Vita activa? Ich wollte einen neuen Ausdruck dafür finden. Angebracht wäre wohl eine viel populärere Sprechweise. Wie soll das aktive Leben heißen? Nennen wir es ein interessiertes Leben, ein Leben in Solidarität, ein kontaktfreudiges Leben: das Zusammenleben. Man könnte dem jetzt zwar vorwerfen, dass es die Thesen von Arendt um das eigentlich Politische bringt,

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doch vielleicht muss (und wird) eben auch gerade dieser Begriff des Politischen neu verhandelt werden.303 „Ashante erkundigt sich voll Begeisterung nach meinem nächsten Kampf, aber DeeDee unterbricht uns trocken: ,Es gibt kein nächstes Mal. Du hast deinen Kampf gehabt. Das reicht, um dein verdammtes Buch zu schreiben. Du brauchst nicht in den Ring zu steigen, du nicht.‘“304

Hustler „,OK, gut, Sie wollen den Heiligen markieren, viel Spaß dabei‘, sagte Ms Bailey und lachte. ,Natürlich lernen Sie! Aber Sie sind auch ein Hustler – Sie machen krumme Geschäfte. Wir alle hier sind Hustler. Und wenn wir jemanden sehen, der so ist wie wir, dann fühlen wir uns zu ihm hingezogen. Weil wir andere Hustler brauchen, um zu überleben.‘“305

So erklärt Ms Bailey, eine ,geschickte‘ Frau, die sich ihr Leben zu organisieren weiß, aus den Taylor Homes in Chicago Sundhir Venkatesh, dem bereits angesprochenen jungen Soziologen, der nicht zum Boxen ins Ghetto ging, sondern um den Chef einer Gang in seinem Alltag zu begleiten, seine Arbeit als Wissenschaftler und ihren Zweck. Sundhir möchte sich nicht als gleichwertig mit den einfachen Hustlern, oder wie man vielleicht auf Deutsch sagen würde, Schnorrern oder Schmarotzern, mit den Menschen, die jeder Gelegenheit zum Geldverdienen oder irgendeiner Bereicherung anderer Art nachjagen, verstehen. Er sieht seine Arbeit als Wissenschaftler eher als hilfreich für sein Studienobjekt, die Menschen in den Projects, an. Was von Ms Bailey auch nicht ausgeschlossen wird, weswegen sie Sundhir als einen Gleichen in ihre Reihen aufzunehmen bereit ist. Es sind diese zu erforschenden Menschen, die Venkatesh immer wieder darauf hinweisen, dass er anfangen muss zu lernen, zu lernen wie das Leben funktioniert. Schlussendlich, meine ich, hat er das auch verstanden. Ich möchte von seiner Erkenntnis mit profitieren und mich

303 Z.B.: Vgl.: Hardt and Negri, Empire. Die neue Weltordnung. 304 Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, 267. 305 Venkatesh, Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben, 217.

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aus diesem Grund abermals fragen, was tue ich, wenn ich wissenschaftlich oder philosophisch über Städte schreibe? Ich versuche irgendwie durchzukommen, ich benutze alle Erlebnisse und Menschen, um zu lernen. Womit die dunkle Seite der Wissenschaften noch einmal klar benannt werden kann. Sie sind zu jeder Zeit ein egoistisches Unternehmen und brauchen das entsprechende Selbstverständnis. Nur in der Wandlung des Selbstbildes können Urteile über Menschen, die nicht nach Prinzipen handeln, weniger absolut ausfallen, haben die Wissenschaften sowie die Philosophie eine Chance, mehr zu verstehen und können ihre immer gleichen Diskussionen vielleicht um ein paar Aspekte erweitern. Ich möchte diesen Arbeitsabschnitt mit einem Zitat zum Problem der Wissenschaftlichkeit von Hannah Arendt schließen, einer großen Denkerin, die sich nicht von schwierigen Umständen hat einschüchtern lassen. Und selbst wenn in diesem kurzen Textabschnitt von Apparaten die Rede ist, so kann sich auch die Philosophie nicht aus der Affäre ziehen, ist sie doch ebenfalls eine Königin im Erfinden von Brillen, von Apparaten für den ordentlichen Blick auf das Gegebene. „Anstatt mit objektiven Eigenschaften, mit anderen Worten, finden wir uns mit den von uns selbst erbauten Apparaten konfrontiert, und anstatt der Natur oder dem Universum begegnen ,wir gewissermaßen immer nur uns selbst‘.“306

Dem kann nur die respektvolle Konfrontation mit ,dem Anderen der Wissenschaft‘ vorbeugen.

E INE K REUZUNG Unkontrollierte Vermischungen? Diese Studie will einen Beitrag zum Konkretwerden, zum Materiellund Sichtbarwerden der Multitude leisten.307 Schreiben Bibi Bakare-

306 Arendt, Vita activa. oder Vom tätigen Leben, 333. 307 „On a wider scale, this study is an attempt at incorporating the ,multitude‘ – giving a body and a voice to the informal economy that city planners and corporate capitalism discards, in spite of its productive vigor.“ (Bibi Bakare-Yusuf and Jeremy Weate, „Ojuelegba: The Sacred Pro-

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Yusuf und Jeremy Weate zu Beginn ihres Texts über die Kreuzung Ojuelegba in Lagos. Der Vorschlag der AutorInnen ist es, das unternehmerische Potential der Einzelnen, die in Lagos, einem urbanen Dschungel, einem „urban jungle“308, wie es der nigerianische Präsident Obasanjo 2002 benannt hat, versuchen durchzukommen, zu unterstützen, um diese Energien aus dem informellen Bereich der Arbeit zum Besten für die Menschen in Lagos zu kanalisieren. Eine gute und neue Form von staatlicher Intervention sähen die AutorInnen im Schaffen eines Fundaments, auf dem kreative Arbeitsfindung möglich wird, auf dem die auf Bedürfnisse ausgerichtete Arbeit jener, die verkaufen, was benötigt wird und mithelfen, wo Bedarf besteht, gesicherter stattfinden kann.309 Ich möchte meinen Weg ins Herzen von Lagos, nach Ojuelegba, durch den angesprochenen Text von Bakare-Yusuf und Weate finden. Über einen Text, der eben gerade für solche geschrieben ist, denen die Lebenserfahrung fehlt. Über einen Text, der ein Monument dieser Stadt beschreibt und darlegt, inwiefern es sich beispielsweise vom Stephansdom in Wien unterscheidet. In diesem Sinne darf und kann das Folgende nicht als eine Erforschung und Beschreibung der Stadt Lagos verstanden werden, sondern als eine Reflektion, die sich an einem Text abstößt, der durch die Besonderheiten einer Kreuzung in Lagos inspiriert ist. Das Folgende ist damit nur eine weitere Ausbeutung des Lebens im Zeichen der Philosophie, des Nachdenkens über die Stadt, des Spielens mit Möglichkeiten von Ein- und Vermischung in einer scheinbar neuen Welt, die gerade im Entstehen ist. Die Themen werden im Folgenden sein: (1) Was ist Ojuelegba? (2) Bringt eine spezielle Form der Stadtbetrachtung eine Art des Orientalismus, wie Edward Said ihn beschreibt, hervor? (3) Welche Bedeutung haben die Eigenschaften fest und flüssig im Reden über die Stadt? (4) Die Geschichte einer Kreuzung. Was sollten Passierende erinnern? (5) Das Mannigfaltige, die Stadt als Straße. Kann es überhaupt ein Reden ü b e r die Stadt geben? Oder bräuchte es nicht viel eher ein Tun, sowie Sprechen i n der Stadt?

fanities of a West African Crossroad“, in Urbanization and African Cultures, ed. Toyin Falola and Steven J. Salm (Durham: Carolina Academic Press, 2005), 325.) 308 Ibid., 326. 309 Vgl.: Ibid., 327.

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Ojuelegba. Die Funktionalität heiliger Weltlichkeiten Bibi Bakare-Yusuf und Jeremy Weate beschreiben das Verständnis des Ortes in Nigeria stark an den jeweils speziellen Namen eines Ortes gebunden. Die Namensgebung liegt damit am Grunde des Verständnisses von Situationen. Namen sind Organisationsstrukturen. Der Bezirk Surulere in Lagos beispielsweise heißt Geduld hat Kraft. Ojuelegba, die von den AutorInnen erkorene Kreuzung, die es auch den BarbarInnen – wie ich eine bin –, den um die nigerianische Kultur und das nigerianische Leben Nichtwissenden erlauben soll, besseren Durchblick zu erlangen, bedeutet als bloßer Name übersetzt: das Auge oder der Schrein des Elegba. Womit die Kreuzung zur Stätte für Opfergaben an Esu Elegbara wird, einem Schwindler im Lebenssystem der Yoruba, dessen Aufgabe es ist, Nachrichten zwischen der irdischen und der himmlischen Welt zu vermitteln.310 Es steht mir nun an dieser Stelle zwar nicht zu, die Beschreibung der beiden AutorInnen, die vermutlich besser mit der nigerianischen Kultur vertraut sind, zu kritisieren, ich möchte jedoch trotzdem gerne eine Anmerkung anbringen, die ich auch nicht mir selbst zu verdanken habe, sondern einem herausragenden Philosophen mit dem Geburtsort Ghana. Einem Akan, der seine Philosophie auf eben der Zweiseitigkeit seiner Persönlichkeit – er wohnt jetzt in Florida und hat eine Ausbildung vor allem in der analytischen Philosophie erhalten – aufbaut. Ich meine Kwasi Wiredu. Ihm soll im Folgenden noch mehr Beachtung entgegengebracht werden, an dieser Stelle nur so viel: Wiredu argumentiert, dass afrikanische Lebenssysteme – und er trifft diese Verallgemeinerung auf ganz Afrika selbst, möchte seine Behauptung nicht nur auf die Akan einschränken – nicht als metaphysisch, wie beispielsweise das Christentum, bezeichnet werden sollten, damit auch nicht von einer himmlischen Sphäre gesprochen werden kann, da die ganze Welt, auch der nicht menschlichen Wesen, innerhalb eines Kosmos gedacht wird, damit alles irgendwie immer physisch ist, nichts nur ist sondern immer auch irgendwie ist, an einem bestimmten Ort ist. Ein weiterer Unterschied zum beispielsweise Christentum bildet der Umstand, dass bei den Akan, sowie in anderen Lebenssystemen in Afrika, es zwar ein höchstes Wesen geben kann, dieses jedoch nicht angebetet wird, man sich ihm nicht in völliger Hingabe unter-

310 Vgl.: Ibid., 329.

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wirft und damit ein zentrales Element des Religiösen im Sinne des Christentums nicht gegeben ist. Das erfordert nähere Besprechung, die ich weiter unten mit den passenden Textbelegen nachreichen möchte. Abseits von den Überlegungen zur Ausdrucksweise von Bibi BakareYusuf und Jeremy Weate sei auch noch darauf hingewiesen, wie sehr sich eine solche Art des Denkens für das Betreiben und Verstehen von Städten eignet, eine Denkweise, die immer auch schon von Räumen und Positionen spricht, ein System des Verstehens, das es möglich macht, das höchste Wesen nicht als Gott, sondern als kosmischen Architekten zu beschreiben. Ojuelegba ist einer der Hauptknotenpunkte in Lagos. Ankommende aus ganz Nigeria verirren sich dort, den richtigen Autobus suchend, um sich in eines der vielen Hotels einzuquartieren.311 Dennoch kommt Ojuelegba ohne Ampeln aus, die kleinste Fehlfunktion im kollektiven Langsamfahren führt jedoch zum totalen Stillstand.312 Die Straßen sind schwarz von den Abgasen, Aromen von Gekochtem vermengen sich mit Schuhcremeduft, kann man sich doch Mitten im Stau die Schuhe putzen lassen, kleine Mahlzeiten schmausen und Zubehör fürs Mobiltelefon besorgen. Die gelben Busse, die wandelnden Monumente von Lagos, wie sie die AutorInnen beschreiben, versuchen noch nebenbei ihr Geschäft zu erledigen. Am schnellsten kommen die Motorradtaxis voran, die auf scheinbar magischen Wegen durch diese Kreuzungswelt gelenkt werden. Yoruba Rhythmen treffen auf die Melodien islamischer Gebete, sowie R&B und Hip Hop ihr Recht auf Gehör beanspruchen. Alles übertönen die Autohupen. Ausdruck findet Lagos auch in der Kleidung seiner BewohnerInnen, die kaum einer Mode folgen, sondern von traditionellen Stücken bis zum letzten Schrei aus New York alles ausführen. Bakare-Yusuf und Weate zufolge trägt dieses Verkleiden, wie man sagen könnte, dazu bei, die Kreuzung als einen Ort erscheinen zu lassen, der Wirklichkeit und Aufmache im raschen Wechsel der einzelnen ,Kreuzungselemente‘ nicht mehr auseinander hält, Materie und Wünsche, Halluziniertes verschwimmen läßt. Die

311 Vgl.: Ibid., 326. 312 „If Lagos were a person, he would be a corpulent smoker, with a big heart and a healthy appetite, but with veins and arteries precipitously insulated with excessive layers of cholesterol.“ (Ibid.)

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AutorInnen behaupten, dass Ojuelegba einer überrumpelten BesucherIn als 360 Grad Chaos erscheint.313 Ben Okri beschreibt das Chaos in Lagos in den dunkelsten Farben. In „Stars of the new curfew“ erzählt er die Geschichte eines fliegenden Händlers, eines Medikamentenverkäufers, der mit immer fragwürdigeren Pillen und Säften seinen Lebensunterhalt bestreiten muss. Okri beschreibt die Alltäglichkeit von schwerer Krankheit und Profit, sowie den Zwang, entweder zu betrügen oder selbst zur Betrogenen zu werden. Nämlicher Verkäufer endet, bevor er in seine Heimatstadt aufbricht, aus Lagos flüchtet, um anderes nicht minder Befremdliches zu erleben, bei einer Ware mit dem Namen Power-Drug, dem Medikament schlechthin, der Droge, die verspricht, das Leben erträglich zu machen. Der Geschäftsführer, der es für eine gute Idee hält, alle seine Verkäufer – Okri spricht nicht von Verkäuferinnen, nur von einer Sekretärin, die scheinbar niemals isst314 – selbst auf ihr Produkt zu setzen, schickt seine Mannschaft gedopt mit Power-Drug und dem Auftrag, Geld zu machen, ins Getümmel. In einem Autobus erhält der Verkäufer schlussendlich seine große Chance. Power-Drug kommt gut an und wird auch sofort konsumiert. Ein wildes Rennen zwischen zwei Busfahrern entwickelt sich und schlussendlich stürzt ein Fahrzeug, in dem auch der ,Held‘ mitfährt, in die Lagune. Der Verkäufer rettet sich mit einem Sprung aus dem Fenster und bleibt von Schuldgefühlen geplagt zurück.315 Sicher jedoch kann sich die LeserIn auch nicht sein, ob nun tatsächlich bewusstseinsverändernde Substanzen die Fahrenden zum Leichtsinn getrieben haben, oder ob es die Paranoia des Verkäufers ist, der täglich unterschiedlichste Mengen und Mittel einwirft, um nicht einzuschlafen, um seine Albträume zu bekämpfen, die einen scheinbar alltäglichen Unfall in Lagos mit einer bestimmten Ursache verbindet. Was ganz klar hervortritt, ist, dass Lagos nicht einfach ein Ort auf der Landkarte ist, Lagos ist in den Träumen zuhause, es wohnt in den Kindern, die die Krankheit zerfrisst, es schafft und ist ein Kollektiv durch die vergiftenden Medikamente, die sich im Blut der Kranken und Traurigen, der Bedürftigen verteilen. Zu einer BewohnerIn von Lagos wird man nicht, indem man sich am Amt meldet, sondern

313 Vgl.: Ibid., 327-28. 314 Vgl.: Ben Okri, „Stars of the New Curfew“, in Stars of the New Curfew (New York: Penguin Books, 1990), 90. 315 Vgl.: Ibid., 100-08.

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im Inhalieren des Wahnsinns, eines Undefinierten, das sich in alle Lebensbereiche einschreibt, in der Ohnmacht, die jede niederstreckt, die beginnt, sich verantwortlich zu fühlen. Kurz gesagt, Lagos ist mit Okri gesprochen dort, wo Moral unmöglich wird. Orientalismus: Die Verherrlichung unbekannter ,Strukturen‘ – Die Verachtung des allzu bedingten Menschen Rem Koolhaas: Wurde für seine Studien zu Manhattan berühmt. Er ist ein Architekt und Stadtforscher aus den Niederlanden. Koolhaas lobt die Dichte der Stadt, möchte ihr inovatives Potential sichtbar machen. „Afrophilia“316. Afrikaphilie werfen Bibi Bakare-Yusuf und Jeremy Weate dem Architekten Rem Koolhaas vor, der Lagos als paradigmatisch für die Zukunft der europäischen Stadt betrachten möchte. Dem Rem Koolhaas, der Lagos besuchte, um als Erster zu erkennen, dass dort doch alles wünschenswert funktioniert, die BeobachterIn nur nicht von konservativen Vorstellungen von der Institution zerfressen sein darf, um Lagos endlich in seiner Gesamtheit, als ästhetisches Phänomen mit Potential erkennen zu können. Die AutorInnen sehen in diesem merkwürdigen Kompliment für eine Stadt, deren EinwohnerInnen eigentlich beständig auf der Suche nach Möglichkeiten zur Flucht sind, nichts als kolonialen Habitus, was für sie die abenteuerliche Inbesitznahme eines exotischen Objekts im Sinne eines Beweises des eigenen exzellenten Status, des eindeutig übergeordneten Status, bedeutet. Koolhaas befindet sich mit diesem Vorgehen, Bakare-Yusuf und Weate zufolge, in guter Gesellschaft, sie nennen beispielsweise Picasso und Freud als seine Vorgänger im Geiste. Man beachte, diese beiden Herren haben ihr Schaffen schon vor langer Zeit beendet! Kurz gesagt, die AutorInnen verweisen auf den Umstand, dass mögliche LeserInnen von Koolhaas’ Schriften, deren Wohnsitz Lagos ist, ziemlich verwundert wären, oder anders formuliert, dass Rem Koolhaas Studie einen nur begrenzten Markt zu versorgen vermag, eine am Kunstwerk Stadt interessierte Gruppe Menschen, denen Menschenleben einerlei sind,

316 Bakare-Yusuf and Weate, „Ojuelegba: The Sacred Profanities of a West African Crossroad“, 324.

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solange doch nur interessant diskutiert werden kann.317 Man entschuldige bitte diesen kleinen Seitenhieb. Koolhaas machte mit einer Studie über Manhattan von sich reden, in der er darzulegen versucht, warum eben genau dieser städtische Ballungsraum besonders (gut) funktioniert und es scheint kaum verwunderlich, vor allem im nämlichen Zusammenhang, dass es die Dichte ist, die er findet. Doch von welcher Dichte sprechen wir, wenn wir mit Koolhaas gehen? In seinem Buch „Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan“ behauptet Koolhaas: „Der Manhattanismus ist die einzige urbanistische Ideologie, die Glanz und Elend der metropolitanen Existenzweise – Hyper-Dichte – von vornherein einbezogen hat, ohne ein einziges Mal zu bezweifeln, daß diese die Basis einer erstrebenswerten, modernen Kultur ist. Manhattans Architektur ist ein Paradigma für die Ausbeutung des Staus.“318

Koolhaas möchte in seinem Buch eine „Kultur des Staus“319 beschreiben. Koolhaas ist damit ein Praktiker und Denker, der sich das scheinbar Störende, wie den Stau, zum Anlass nehmen möchte, um darauf eine positive, eine produktive Theorie zu entwickeln. Er ist einer jener, die das Gegebene nicht verneinen, sondern die speziellen Qualitäten der verstopften Großstadt hervorkehren. Ein Anliegen, dem ich gerne folge, habe doch auch ich weiter oben notiert, dass es gilt, sich in den Städten zurechtzufinden, weil sie die Orte unseres Lebens in der Zukunft sein werden, wie die Stadtforschung prognostiziert. Ein weiterer Ansatz in Koolhaas Denken ist, dass es sich bei seinem Manifest nicht um eine einfache Behauptung, ein willkürliches Schreien nach Urbanismus handeln darf, wie es Koolhaas’ Meinung zufolge mehr als nur einmal im 20. Jahrhundert passiert ist, sondern

317 „What is completely erased is any enquiry into what these objects and spaces might actually mean for those that use them. Koolhaas‘ conclusions would no doubt astonish residents of Lagos, who would much rather achieve Western levels of urban infrastructure rather than continuing to live alongside piles of rubbish, open drains, and insecurity, and promoted as apocalyptic spectacles in someone else‘s fantasy.“ (Ibid., 325.) 318 Rem Koolhaas, Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan (Aachen: ARCH+ Verlag GmbH, 2006), 11. 319 Ibid.

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um eine Studie, die sich auf einem Gebirge an Beweisen, wie er Manhattan bezeichnet, errichtet.320 Koolhaas möchte demnach im Konkreten seine Leitsätze finden, er möchte kein Utopist sein, sondern, man könnte sagen, ein Pragmatiker. Womit ein wichtiger Punkt im Denken des Architekten Koolhaas heraus gearbeitet wäre, es ist die Funktion, die seinen Anspruch bestimmt. Koolhaas findet ein Erkenntnisinteresse darin, nachzuschauen ob städtische Kreisläufe funktionieren. Eine gute Stadt, so könnte man seine Meinung vielleicht niederschreiben, sollte wie ein praktischer Mechanismus funktionieren. Womit ich bereits an einem Punkt angekommen bin, dem ich nicht mehr zweifelsfrei folge. Denn fraglich wird natürlich sofort, für wen eine Stadt funktionieren soll, da es das Funktionieren als solches, abgekoppelt von einem Zweck, einer Ausrichtung, ja niemals gibt, da jede Institution nur in einem größeren Zusammenhang als funktionierende bezeichnet werden kann. Koolhaas räumt nun der Phantasie als Rahmen in Manhattan viel Platz ein. Er sieht Manhattan als einen Ort an, an dem man im Inneren einer Phantasie leben kann321, als ein Laboratorium. Manhattan ist damit im Sinne Koolhaas’ eine totalitäre Insel für Freigeister, die nur in einer Sache übereinstimmen müssen, in ihrer Hingabe an das Wünschen des Neuen und Unmöglichen. „Manhattan ist eine Bühne des Fortschritts“322 oder „Manhattan ist eine utilitaristische Polemik.“323, da es scheinbar Überlegungen der Geldgebenden entsprach, alles gerade und rechtwinkelig zu bauen. Man könnte so auch sagen, dass Manhattan billig werden sollte, dem Traum entsprach, viele Menschen möglichst preisgünstig unterzubringen. Manhattan bedeutet damit die Erschaffung einer völlig neuen, einer zweiten Natur, die besser zu bewohnen ist als das freie Feld. Die Metropole wird, Koolhaas zufolge, omnipräsent und als etwas Selbstverständliches betrachtet. Sie ist unsichtbar und unbeschreiblich. „Die Metropole strebt jenen mythischen Punkt an, wo die Welt ganz und gar vom Menschen gemacht ist und restlos mit seinen Wünschen übereinstimmt.

320 Vgl.: Ibid., 10. 321 Vgl.: Ibid. 322 Ibid., 15. 323 Ibid., 19.

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Die Metropole ist eine süchtig machende Maschine, aus der es kein Entrinnen gibt, es sei denn, sie bietet auch dies an…“324

Mit dieser Beschreibung Manhattans fällt es leicht, den Bogen zu Lagos zurück zu schlagen. Wie Okri schreibt, kann auch Lagos nicht als eingegrenzt betrachtet werden, auch Lagos ist ein Ort, dem man hoffnungslos, ungewollt süchtig, verhaftet bleibt, ist man erst einmal angekommen. Was Koolhaas an New York lobt, ist der Mut zum Experiment, das gesellschaftliche und architektonische Fortschreiten, die Verwirklichung von Visionen. Wie oben bereits beschrieben, liegen die Dinge in Lagos auch für Koolhaas völlig anders. Lagos ist keine geplante Stadt, sondern eine, die sich aus den Aktivitäten der Überlebenwollenden entwickelt. Lagos ist eine Stadt, die Stück für Stück zusammengesetzt wird und zu keinem Zeitpunkt ein Ganzes bildet. Lagos ist damit kein Mechanismus, was Koolhaas jedoch auch dort findet, ist ein eigentümliches Funktionieren, das jedoch einer vereinheitlichenden Politik und Architektur widerständig gegenüber tritt. Seine Studien zu Lagos konnte Koolhaas mit einem Forscherteam anlässlich der documenta 11 vertiefen. In seinem Beitrag behauptet Koolhaas nun, dass er und seine StudentInnen auf der Harvard Design School die Entdeckung gemacht hätten, dass die Stadtform sich verändert hat, mutiert ist und zu etwas geworden ist, das nicht mehr westlich ist.325 – Die Stadtform war niemals westlich, hält man sich nicht an Theorien, deren erstes Kennzeichen ein Zentrismus bezüglich der fragwürdigen Bezeichnung der Westen ist, wie der erste Teil dieses Text zu zeigen versucht hat. Wie dem auch sei. Koolhaas schreibt weiter, dass seine Studie über Lagos durch zwei Anliegen gekennzeichnet ist. Erstens war für Koolhaas von Interesse, wie eine afrikanische Stadt funktioniert und zweitens, wie eine Stadt, die sehr schnell wächst und keine starke Infrastruktur aufweisen kann, mit ihrer Situation umgeht. Koolhaas endet damit, festzustellen, dass Lagos eigentlich ganz gut organisiert sei, wenn man einen genaueren Blick wagt, und fühlt sich darin noch mehr

324 Ibid., 316. 325 Vgl.: Rem Koolhaas, „Fragments of a Lecture on Lagos“, in Under Siege: Four African Cities. Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos, Documenta11–Plattform4 (Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Publishers, 2002), 175.

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durch die Tatsache bestätigt, dass der Blick aus dem Hubschrauber doch wiederum eine funktionierende Maschine erscheinen ließ. Wofür ihm einerseits die NigerianerInnen wohl dankbar sind, versucht er doch ein Bild ihrer größten Stadt zu zeichnen, das nicht nur von Chaos und schlechter Organisation spricht, sondern von Kreativität und Andersheit, einer Andersheit, die jedoch auch genauso wie jene Verfasstheit der dem Publikum von Koolhaas wohl besser bekannten Stadtmodelle aus Nordamerika und Europa Sinn macht. Andererseits muss Koolhaas sich trotzdem den Vorwurf gefallen lassen, dass er eine Situation verherrlicht, in der die Betroffenen möglichst nicht leben möchten, die jene scheinbar als alles andere denn als funktionell empfinden, wie Bakare-Yusuf und Weate behaupten. Drittens möchte ich auch noch einen allgemeineren Einwand einführen. Ich halte es für zu schöngeistig und undemokratisch, ein Bild von der Stadt als zusammenhängende, als Maschine zu beschreiben. Diese Vorstellung von Stadt zwingt alle BewohnerInnen in einen Mechanismus. Dieses Verständnis von Stadt vergisst über das Reden von der Architektur und den Plätzen, dass die Stadt für die Menschen da zu sein hat, dass die Stadt erst als modulierbare Infrastruktur Legitimation erwirbt. Die Stadt ist ein Ort, der für ihre BewohnerInnen gemacht sein sollte, nicht eine Maschine, die süchtig oder unfrei, willenlos macht, wie Koolhaas ja in etwa über Manhattan schreibt. Kurz gesagt, Anliegen meines Texts ist es natürlich nicht, die Stadt im Sinne von Koolhaas und damit als ästhetisches Phänomen zu beschreiben, sondern Stadt soll als Name stehen für mögliche Wege der Befreiung, des Widerstands, des Verbündens. Womit ich zurückkommen möchte auf den Orientalismus-Vorwurf von Bakare-Yusuf und Weate. Ich nehme diesen zum Anlass, um kurz auf das Phänomen Orientalismus eingehen zu können, das mir auch schon beim Nachdenken über das Ghetto begegnet ist. Anschließend möchte ich mich einerseits mit der Frage beschäftigen, inwieweit Bakare-Yusuf und Weate Koolhaas mit ihrer Kritik treffen können – eine Auseinandersetzung, die sich klar auch aus meiner vorangegangen Kritik an Koolhaas ergibt – und mich andererseits aber mit noch größerem Interesse danach fragen, wie ein Orientalismus, ein kolonialer Habitus, in der Stadtbetrachtung, im Erforschen vor allem der nicht eigenen Stadt aussehen könnte, um möglichst nicht selbst in die Unmengen an Fallen, die einem die eigene Kultur vermacht, das eigene Lernen und Aufwachsen mitgegeben hat, zu treten.

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Orientalismus ist nach Edward Said eine bestimmte Art, mit dem Orient zurechtzukommen. Es geht im Orientalismus darum, einen Ort vor dem Hintergrund eines europäischen Erlebens zu konstruieren, welche Konstruktion dann helfen soll, eben diese Erfahrung des Eigenen, sich selbst besser definieren zu können. Der orientalistische Diskurs bringt damit eher über die Beschreibenden Einsicht als über den Orient. Der Orientalismus ist ein Wissenschaftsstil, den europäische DenkerInnen im Erfassen des Orients praktizieren.326 Said argumentiert weiter, dass es eben diese spezielle Art der Betrachtung ist, die Orient sowie Okzident, welche Said beide als konstruiert und nicht als gegeben beschreibt, erst hervorbringt. Wörter wie Okzident und Orient entsprechen damit keiner gegebenen Einheit, sie befördern vielmehr erst in ihrer Verwendung das Erscheinen von Gesamtheit.327 Said möchte in seinem Buch „Orientalism“ einen herrschenden Konsens kritisieren, der erlaubt anzunehmen, dass so etwas wie ,echtes Wissen‘ produziert werden kann. Denn erst auf der Grundlage eines solchen Konsens, eines solchen Abkommens, wird es nach Said möglich zu behaupten, dass es gegebene und abgeschlossene Einheiten mit den Namen Orient und Okzident gibt. Kurz gesagt, Said ist ein Kritiker der objektiven Forschung, da sie zu jedem Zeitpunkt scheinbar unpolitisch bleiben muss – Was in einem Denken, wie dem von Said, dem die Annahme der transformierenden Macht von Diskursen zugrunde liegt, nur bedeuten kann, dass eine ForscherInnengruppe ihre politischen Ziele nicht klar offen legt, sondern hinter einer Sprache, die Objektivität vortäuscht, an ihren politischen Vorstellungen arbeitet, wenn auch nicht immer bewusst. –, um sich nicht dem Vorwurf der Perspektivität auszusetzen. Erst im Glauben an die Möglichkeit einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Erfassung eines Gebiets, von Menschen, die einfach einer Zone gleich gemacht werden, wurden Stereotype über den Orient und seine BewohnerInnen in den Wissenschaften zum Common Sense, so Said.328 Es ist die Übertragung von räumlichen Kategorien auf die Multitude lebender Menschen, die die besondere Art des Wissens, genannt Orientalismus, in seinem Streben, Lebendiges fest und abgeschlossen darzustellen, widerspiegelt. In der Anwen-

326 Vgl.: Edward W. Said, Orientalism (New York: Vintage Books, 1979), 1-3. 327 Vgl.: Ibid., 5. 328 Vgl.: Ibid., 10.

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dung von räumlichen Kategorien auf eigentlich Lebendiges und sich Veränderndes konnte der Orient überzeitlich und sozusagen wissenschaftlich beschrieben werden. So benannte ein prominenter Vertreter dieser Richtung, H. A. R. Gibb, den Orientalismus auch als eine Form der areas studies, des Sprechens von den Orten; beziehungsweise, jener zog es vor, sich selbst in dieser Tradition zu sehen.329 Die deflationäre Verwendung des Wortes wissenschaftlich, die ich hier einführe, möchte eher eine spezielle Form von Wissenschaftlichkeit benennen, eine Art Wissenschaftlichkeit, die sich über das Reflektieren erhebt, sich davon frei glaubt, ihre Grundsätze beständig verändern zu müssen, denn nahe legen, dass die Wissenschaften an sich am Ende sind. Ich schlage vor, das Denken beständig einer Generalüberholung zu unterziehen, damit es wissenschaftlich bleibt. Vielleicht könnte man sogar formulieren, dass es eben dieses immer wieder Aufrollen der eigenen Arbeitsweise ist, das erst das Prädikat wissenschaftlich verdient macht. Dieses feststehende Wissen zu produzieren hat für Said nun jedoch wenig mit einem naiven Glauben an allgemeine Gesetze zu tun, sondern entspringt einem Hintergrund, der Sichtweise der kolonisierenden Länder, der beherrschen möchte. Beherrschen bedeutet, die Autonomie eines Landes zu verneinen, indem man beansprucht, zu wissen wie es ist und vor allem objektiv zu wissen wie es ist, was nach sich zieht, dass die Belehrung durch Einheimische kaum von Bedeutung für den eigenen Wissenskorpus sein kann.330 Eine Korrektur von Falschinformationen wird damit unmöglich. So wurde die Wissensgattung Orientalismus ein sich selbst erhaltendes System, das sich immer wieder auf scheinbar schon Bewiesenes beziehen konnte, ohne jedoch dies alt hergebrachte Wissen jemals einer Kontrolle unterziehen zu brauchen. Schlussendlich blieb dieses Wissen, auf das man sich in den Wissenschaften und Literaturen bezog, so doch im christlichen Glauben letztbegründet, der die Schreibenden im Folgenden immer wieder auf Wege führte, die es nahe legten, ein verschobenes Bild des Islams der Kirchenväter Europas für den Orient neu zu erfinden.331 Said nennt zwei Formen, die es seit dem 19. Jahrhundert erlauben, eine Beziehung zwischen West und Ost herzustellen, einerseits das

329 Vgl.: Ibid., 53. 330 Vgl.: Ibid., 32. 331 Vgl.: Ibid., 62-66.

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systematische Wissen der Ethnologie, Philologie, Geschichte… und andererseits eine Literaturgattung. Schriftsteller und Reisende trugen mit ihren Erzählungen einen wichtigen Teil zur Erschaffung eines Bildes des Orients in Europa bei, eines Bildes, das sich dadurch auszeichnete, die Menschen des Orients so darzustellen, als ob sie nicht fähig wären, ohne Fremdherrschaft friedlich zu leben.332 Das Aufstehen gegen die Kolonialherrschaft wurde damit zu einer klaren Ansage von AnarchistInnen, die nicht um das Beste für ihr eigenes Land wussten, die sich ihrer selbst nicht gewahr sein konnten. Ebenso darf jedoch auch nicht übersehen werden, dass es natürlich auch die Bewunderung des Orients zu geben schien. Die Bewunderung welches Orients? Said beschreibt die wohlwollende Form des Aneignens als nicht minder besorgniserregend, da die Wertschätzung einem früher existierenden Orients galt und gilt, den so manche gerne hätte wiedererschaffen gesehen. Die aktuelle Art des Lebens wird nur als Verrat an eben dem Älteren und Richtigen empfunden.333 Vier Prinzipien liegen dieser Art des Wissens, dem Orientalismus zugrunde. Erstens wird von einer absoluten Differenz zwischen dem rationalen Westen und dem unterlegenen und irrationalen Osten ausgegangen. Zweitens gelten die klassischen Texte des östlichen Wissens immer mehr als das, was an aktuellem Leben dort passiert. Drittens wird davon ausgegangen, dass der Orient sich nicht selbst beschreiben kann, es dazu das Vokabular des Westens braucht und schlussendlich scheint es in den Beziehungen zum Orient nur eine Entscheidung zu treffen zu geben; entweder man fürchtet sich vor seinen Menschen oder man beherrscht sie.334 Rem Koolhaas fällt nun tatsächlich in die Kategorie ,zeitgenössische OrientalistIn‘. In seiner Annahme, dass klar zu unterscheiden ist, wie die europäische Stadt funktioniert und wie eine afrikanische, indem er sich eher für einen Text, eine Stadtmaschine interessiert als für das tatsächliche Erleben und damit einhergehend anscheinend auch eher darauf verzichtet, sich die Sorgen und Meinungen der gemeinen BürgerIn von Lagos anzuhören, entspricht Koolhaas dem Bild eines Orientalisten. In seiner Art Herrschaft zu konstruieren, indem er sich per Hubschrauber über die Stadt erhebt und so eine Beschreibung

332 Vgl.: Ibid., 34. 333 Vgl.: Ibid., 100. 334 Vgl.: Ibid., 300-01.

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von Außen vornimmt, von einem Außen, das durch Höhe als auch durch Finanzkraft ausgezeichnet ist, verhält Koolhaas sich den Strukturen des Orientalismus gemäß. In seiner anfänglichen Angst, das Auto inmitten von Lagos zu verlassen, wird Koolhaas zum Kolonialherren.335 Als einen Orientalismus der StadtforscherInnen könnte man nun eben genau das, was ich im ersten Teil auf der Suche nach einem Stadtbegriff als unpolitische oder nicht gerichtete Stadtforschung dargestellt habe, beschreiben. Die Stadtforschung muss, wie ich auch dort argumentiere, um eines anderen willen geschehen, muss in ein politisches Projekt eingebunden sein, das zu jeder Zeit seine Ziele klar darlegt. Stadtforschung kann dann zum Beispiel ein ganz bestimmtes Wissenwollen um die Lebensumstände von Menschen bedeuten, wenn sie in ein Projekt der politischen Befreiung aller eingebunden ist. Der Begriff Stadtforschung kann so aber auch Studien zu möglichen Unterdrückungsmechanismen bezeichnen, die im Dienste einer totalitären HerrscherIn ausgeführt werden. Beide Arten des Denkens können nicht beschreibend vorgehen, sondern sind einmischende Formen des Erforschens – ob explizit oder implizit –, selbst wenn ein unterdrückender Diskurs, wie der meiner herbei geschriebenen totalitären HerrscherIn, es sich möglicherweise leisten kann, in der objektiven Sprache der beschreibenden Wissenschaftlichkeit aufzutreten. Stadtforschung kann niemals rein beschreibend funktionieren, da sich ihr Gegenstand zu schnell verändert, die Stadt als Ganze nicht zu erfassen ist, weil sie ein auch zeitlich begrenztes Phänomen ist. Höchstens die Namen einiger Städte können von längerer Dauer sein, während das Bezeichnete sich jedoch enorm verändert. Das Nachdenken über Städte muss damit von einem Wünschen begleitet sein, auf welches ausgerichtet erst ein Projekt entworfen werden kann, das ich dann als sinnvolle Stadtforschung bezeichnen möchte, als sich einmischende Untersuchung, die zu keinem Zeitpunkt vorgibt, über die Stadtmenschen zu sprechen, sondern erreichen möchte, mit ihnen zu sprechen. Texte zur Stadt brauchen ein Schreiben, das zu jedem Moment nicht nur Text bleiben will. Said verweist auf ein allgemeines Problem des Erforschens. WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen, aber auch LiteratInnen neigen dazu, zu kolonisieren, und es bleibt ihnen zu einem bestimmten Zeit-

335 Vgl.: Koolhaas, „Fragments of a Lecture on Lagos“, 175.

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punkt ihres Arbeitens auch gar keine andere Möglichkeit. Manche jedoch wissen um die Unabgeschlossenheit ihres Tuns und nur solche, die am Ende ihrer Texte einen Punkt machen, einen nicht mehr zu diskutierenden Lehrsatz stehen haben wollen, bleiben ChauvinistInnen. Ich möchte damit festhalten, dass es nicht verboten sein sollte, Bilder von beispielsweise fremden Städten zu entwerfen, aber jedoch das Fehlen an Bereitschaft, sich selbst wieder an den Anfang seiner Untersuchungen zurück versetzen zu lassen, eine diskriminierende und falsch wissenschaftliche Weltsicht befördert. Womit am Ende noch eine Lanze für den Universalismus der Philosophie gebrochen sei, da nämlich die Suche nach eben allgemeinen Gesetzen immer auch dazu führt, sich nicht nur mit irgendeiner Stadt zu beschäftigen, sondern theoretisch auch dazu zwingt, das Gefundene immer mit seiner eigenen Stadt, mit seinem eigenen Leben abzugleichen. Ein richtig verstandener Universalismus kann damit vor verzerrenden Darstellungen schützen, da nur diese Haltung aus Gewusstem immer auch noch zu Wissendes macht, da die Wahrheit immer erst am Ende aller möglichen Prüfungen liegt und damit an einem Ort, der am Ende einer unendlichen Geraden zu finden ist. Einer Geraden? Einem Faden, der sich immer wieder verknotet und so auch zu Flächen wird. In jedem Fall liegt das Ziel einer wirklich an Universalismus interessierten Forschung weit hinter allem, was geleistet werden kann. In dieser Einsicht kann eine an Universalismus Interessierte nur selbstkritisch werden. Festes und Dynamisches. Fragen nach dem Sein Namen sind Organisationsstrukturen, erklärte ich im Zuge meines ersten Versuchs, die Kreuzung Ojuelegba zu verstehen. Ich möchte in die folgenden Überlegungen mit dem Erstellen einer Charaktermaske, eines Gesichts der Kreuzung und damit auch von Esu oder Elegba, wie er in der Alltagssprache genannt wird, einsteigen. Esu ist das Wesen, oder der Name, die Organisationsstruktur, die der Kreuzung zugeordnet ist. Sie, oder er, ist weder weiblich noch männlich, sie ist der Worte mächtig, sie ist eine ÜbersetzerIn, die es vermag, nicht menschliche Botschaften zu verstehen. Esu verbreitet jedoch Konfusion, wenn sie spricht, da ihre Rede nicht eindeutig ist. Optisch zeigt sich Esu manchmal in der Gestalt eines Wesens, das durch einen langen Stock Macht ausübt, ein anderes Mal sehr klein als Wesen, das auf Zehenspitzen heranschleicht, um die Suppe zu salzen.

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Esu ist der Ausdruck für den beständigen Wechsel, für das Unabgeschlossene.336 Aufgrund der Unsicherheit, die sie verbreitet, wird Esu auch als der Teufel bezeichnet. Sie zeigt Fremden den Weg zum Marktplatz, nur um sie dort ihre Orientierung verlieren zu lassen, wie Bakare-Yusuf und Weate beschreiben. Diese Unsicherheit, die Esu verbreitet, darf jedoch nicht als einem bösartigen Streben entsprungen verstanden werden. Esu führt die Menschen aufs Glatteis, um sie nicht stagnieren zu lassen, sie möchte die Menschen, indem sie ihnen permanent die vertraute Lebensgrundlage entzieht, zum Philosophieren zwingen. Der Mensch in einem von Esu verwirrten System soll sich aufgefordert fühlen, aktiv Entscheidungen zu treffen und nicht auf Hilfe von Außen zu warten, die Esu ja konsequent entzieht. Esu gibt damit das Bild einer guten Mutter ab, einer guten LehrerIn, die ihre SchülerInnen niemals bestraft, sondern Entscheidungen provoziert, das Ausbilden eigener Welten zur Existenzbedingung macht. Kaum verwunderlich: Esu ist dafür bekannt, eine ausgezeichnete TänzerIn zu sein!337 Fraglich ist nun: Was genau an Ojuelegba ist Esu? Esu ist nicht an ein spezielles Element gebunden, wie Bakare-Yusuf und Weate darlegen. Esu ist das Blut in den Venen derer, die auf der Straße ihr Glück versuchen, sie ist bei den Frauen, die ihr Haar unter der Brücke von Ojuelegba flechten und so weiter. Keine Frage, Esu hat keinen festen Platz, ihr Name benennt eine Form der Bewegung, aber keinen bedeutenden Ort.338 Und in eben diesem Sinne ist es auch für jedes Individuum notwendig, sich als stabiles aufzulösen, um nicht verrückt zu werden auf dieser Kreuzung. Es gilt sich auf Esus Rhythmus einzulassen, sich vom Sein, von der Beständigkeit zu verabschieden. Die BewohnerInnen von Lagos werden zu ErfinderInnen, wenn sie ihre Kreuzung betreten, sie erbauen unter der Anleitung von Esu eine anarchistische Architektur „anarchitecture“.339 Ojuelegba ist das andauernde Spekta-

336 Vgl.: Bakare-Yusuf and Weate, „Ojuelegba: The Sacred Profanities of a West African Crossroad“, 329. 337 Vgl.: Ibid., 330-31. 338 „[…] his movement defines space, rather than space defining his movement. Esu therefore lends his name to a sacred movement rather than sacred space.“ (Ibid., 332-33.) 339 Ibid., 333.

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kel schlechthin, wie Bakare-Yusuf und Weate die Kreuzung beschreiben.340 Eine Wissenschaft, die diese Form von Anhäufung, wie Ojuelegba sie darstellt, zu untersuchen vermag, ist die „rhytmanalysis“341, die Analyse der Rhythmen nach Henri Lefèbvre, wie Bakare-Yusuf und Weate behaupten. Diese Methode verweigert die Beschreibung fester Örtlichkeiten, man könnte sagen, sie spricht vom Raum und nicht vom Ort. Des Weiteren ist Lefèbvres Denken für die AutorInnen interessant, weil er von der Verwandlung des Gegebenen spricht, vom Übergang in unterschiedliche Zustände und nicht von Gegenständlichkeit. Lefèbvre wagt einen Blick aus seinem Fenster und beginnt zu beschreiben, was ihm von draußen entgegenschlägt, um in die Konstruktion dieser Wissenschaft namens Rhythmusanalyse einzusteigen. Geräusche überlagern einander und machen es der HörerIn unmöglich, sie voneinander zu trennen. Lefèbvre spricht aber jedoch nicht vom Chaos und verweist darauf, dass doch nach einiger Zeit Rhythmen für das geschulte Ohr auszumachen sind, für das geschulte Ohr, das zwar loslassen kann, aber auch nicht ganz ohnmächtig ist. Nicht unreflektiert ist die PhilosophIn, die sich der Stadt überlässt, sondern offen für die Eindrücke aller Sinnesorgane. Lefèbvre möchte sich verabschieden von einer auf geschlossene Objekte konzentrierten und an den Sehsinn gebundenen Perspektive, statt dessen eine sinnliche Mannigfaltigkeit in sein Denken aufnehmen.342 Er möchte die Frage nach der Verbin-

Anarchitecture ist eine Methode, die von dem amerikanischen Künstler Gorden Matta-Clark erdacht und angewandt wurde. Er beschäftigte sich mit der Verwandlung und dem virtuellen Abbau verlassener Häuser. Matta-Clark zerschnitt Gebäude mit Bauwerkzeugen, durchlöcherte ihre Wände. (Vgl.: Eyal Weizman, Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung (Hamburg: Verlag Lutz Schulenburg, 2008), 225.) 340 „Ojuelegba can be redescribed as a perpetual, intense twenty-four-hour event within Lagos.“ (Bakare-Yusuf and Weate, „Ojuelegba: The Sacred Profanities of a West African Crossroad“, 334.) 341 Vgl.: Ibid. 342 „The classical term in philosophy, the ,object‘, is not appropriate to rhythm. ,Objective‘? Yes, but spilling over the narrow framework of objectivity by bringing to it the multiplicity of the senses (sensorial and meaningful).“ (Henri Lefebvre, Writings on Cities (Malden, Oxford, Carlton: Blackwell Publishing, 2006), 223.)

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dung zwischen Subjekt und Objekt nicht, wie so oft in der Philosophie nur aus dem puren Nachdenken heraus beantworten, sondern sich diesem Problem auch praktisch annähern.343 Dennoch, es braucht eine allgemeine Theorie, um über die Rhythmen zu sprechen, die in Lefèbvres Denken die Objekte abgelöst haben, die Rhythmusanalyse. Sie soll transdisziplinär sein und sich nur kaum von einer wissenschaftlichen Poesie unterscheiden, es handelt sich um eine Analyse, die stark mit einer ,WirtIn‘ verbunden ist. Lefèbvre spricht davon, auf den Schultern einer StadtwanderIn zu reisen, um zu verstehen, welche Impressionen dieser Person widerfahren.344 Diese WirtIn, die RhythmusanalytikerIn, versteht es, der Stadt zu lauschen wie einem Musikstück.345 In diesem Sinne bedeutet das Studium der Stadt ein Studieren der Zeit, eine Untersuchung der Abstände zwischen den verschieden Wellen, oder Rhythmen, die sich nun anstelle von Objekten am Ort Stadt anhäufen und ihn so erst erscheinen lassen. Die RhythmusanalytikerIn interessiert sich für die Erschaffung sozialer Zeiten.346 Dies führt Lefèbvre zu der Behauptung, dass eine Studie über die Stadt immer vergleichend sein muss, sich mit den unterschiedlichen Lebensabläufen in verschiedenen Städten zu beschäftigen hat. Vom Bild der durch die Stadt Streifenden, mit ihrer Offenheit für die Musik des Ortes, kommt Lefèbvre schlussendlich zu der Aussage, dass die Stadt nicht über ihr Beständiges, sondern über das Vergängliche und das Wiederkehrende beschrieben werden soll. Konkrete Ergebnisse kann die RhythmusanalytikerIn erreichen, wenn sie lernt, zwischen ihrem eigenen Rhythmus und dem der anderen zu unterscheiden. So erhält sie Vergleichswerte für ihre Studie und noch mehr, so bleibt sie nicht länger unbewusst der Zeit einer hegemonialen Macht unterworfen.347

343 Vgl.: Ibid., 226. 344 Vgl.: Ibid., 229. 345 „He therefore adopts in relation to these different sciences a transdisciplinary approach. He ,keeps his ear open‘, but he does not only hear words, speeches, noises and sounds for he is able to listen to a house, a street, a city, as one listens to a symphony or an opera.“ (Ibid.) 346 Vgl.: Ibid., 234. 347 „We can say in terms of rhythmanalysis, that there is a struggle between a measured, imposed and exterior time, and a more endogenous time.“ (Ibid., 239.)

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Einen ähnlichen Ansatz wie Lefèbvre verfolgt Jacques Attali in seinem Buch „Noise“. Ihm geht es nicht explizit um das städtische Leben, aber auch sein Denken setzt eine gewisse Dichte, die Erreichbarkeit der Einzelnen voraus. Attali versucht in seinem Buch nicht weniger zu erwirken als eine totale Umkehrung der Betrachtung und Beschreibung von Welt. Die Welt ist nicht lesbar, sondern hörbar, meint er, da nichts passiert, ohne von Geräuschen begleitet zu werden. Demzufolge ist es zeitgemäß, eine Gesellschaft nach ihren Klängen, Festivals und Kunstwerken zu beurteilen, nicht nach ihren Statistiken. Mathematische Theorie und Theorien von der Sprache reichen nicht aus, um Gesellschaften zu verstehen, so Attali, weil sie immer nur Beschreibungen eines Gegebenen anfertigen können, jedoch niemals das Fließen des Gesellschaftlichen zu erfassen vermögen. Möchte man nun über Gesellschaft auch aus geschichtlicher Perspektive sprechen, benötigt man folglich Attalis Meinung nach die Musik, um das Instabile, das Geschichte erst erlaubt, zum Thema machen zu können. Attali geht sogar so weit, der Musik eine prophetische Dimension zuzuschreiben, er meint, dass die Geräusche, die eine Gesellschaft in ihrer Gegenwart produziert, über die sozialen Konflikte der Zukunft aufzuklären vermögen, vorausgesetzt natürlich, dass richtig hingehört wird. 348 Keine Gesellschaft kann ohne Widersprüche existieren, behauptet Attali. Die Aufgabe der Musik ist es, den Exzess, das Aufbrechen der Widersprüche zu verhindern, die dem Gesellschaftlichen zugrunde liegen. Die Musik gibt ein Versprechen, sie behauptet, dass Gesellschaft möglich ist.349 Verwirklicht bedeutet dies, dass Musik soziale Ordnungen darzustellen vermag, ein Medium bereitstellt, das ein Auftreten des (noch) nicht sprachlich auszudrückenden Dissenses ermöglicht. Musik erlaubt ein Hörbarwerden gesellschaftlicher Marginalität. Die Musik ist demnach der Ort, an dem Konflikte, noch bevor sie in alltäglicher und kriegerischer Weise ausbrechen, verarbeitet und symbolisiert werden können. Es ist Attalis erklärtes Ziel, nicht nur über Musik nachzudenken, sondern auch durch Musik oder anhand von Musik zu philosophieren. Sein Text möchte eine Aufforderung zur wissenschaftlichen Undiszipliniertheit sein,350 ein Bekenntnis zu einer neuen und

348 Vgl.: Jacques Attali, Noise. The Political Economy of Music (Minneapolis, London: University of Minnesota Press, 1985), 11. 349 Vgl.: Ibid., 29. 350 Vgl.: Ibid., 5.

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flexiblen Form der Erkenntnis. Zu verhindern gilt es Attali zufolge, dass die Musik durch ständige Wiederholung im Rauschen aufgeht, da das Rauschen Ausdruck für Undifferenziertheit und damit Gewalt ist.351 Womit die über die Stadt Schreibende erneut vor einem schier unlösbaren Problem steht. Sie ist an eben dem Punkt angekommen, wo die Philosophie nur mehr über sich hinausweisen kann. Wie Loïc Wacquants konkrete Wissenschaft, so wollen auch Lefèbvre und Attali – und nicht unbegründet wie ich meine – eine Auflösung des rein reflektierenden und schreibenden Tuns der Philosophie auf eine Lebenspraxis hin. Die Philosophie als Text kann im Zuge dieses Bestrebens nur mehr Anleitung sein. Es wird zur Aufgabe der Philosophie, Entwürfe für neuartige Praktiken vorzuschlagen. Haben Lefèbvre und Attali recht damit, zumindest implizit zu behaupten, dass eine Philosophie, die sich in ihrem Streben nach Begriffsbildung ihrer eigenen Abgekoppeltheit vom Flüssigen nicht bewusst wird, eine solche Aufgabe nicht zu leisten vermag? Ich denke ja. Dennoch braucht es sogar bei diesen beiden Denkern die beständige Theorie im Hintergrund – sie haben Texte verfasst –, die immer wieder Halt schenkt. Die sprachliche Theorie beschützt die PhilosophInnen, so wie Esu die Menschen in Lagos nicht verlässt. Die Passierenden in Ojuelegba wissen, dass sie in den Fängen von Esu über die Straße gehen und wenn sie aufmerksam genug sind, so auch sicher auf die andere Seite kommen. Sich im Unbestimmten bewegen, bedeutet damit auch, immer wieder zu glauben, oder anders formuliert, Vertrauen aufzubringen. Wonach eine Philosophie der Stadt damit suchen kann, ist eine Theorie, die einerseits das begriffliche Denken kritisiert, es andererseits aber nicht ganz aufgeben möchte. Womit ich zu Kwasi Wiredu komme, der argumentiert, dass es eine Entkolonialisierung der Begriffe braucht, da sich hinter dem Bezeichneten zu Unterschiedliches und durch scheinbar wörtliche Übersetzung Unterdrücktes versteckt. Ein Projekt, das seine Wichtigkeit weit über Afrika hinaus erhalten sollte. Wie oben schon angesprochen, habe ich es im Folgenden mit einer Theorie zu tun, die man durchaus als materialistisch bezeichnen kann, da Begriffe immer auch als existierende und damit gleichzeitig als Unscharfes besprochen werden. In Anlehnung an das traditionelle Denken der Akan wird es Wiredu mög-

351 Vgl.: Ibid., 26.

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lich, zu argumentieren, dass Begrifflichkeiten eben nicht nur Worte sind, dass sie nicht nur abstrakte Entitäten sind, sondern immer an Umstände gebunden bleiben. Als Beispiel zur Veranschaulichung verwendet Wiredu die Wörter chair und chairness, den Sessel und die Sesselheit, einen sichtbaren Gegenstand und sein Allgemeines. Für das dem Gegenstand zukommende Wort gibt es eine entsprechende wörtliche Übersetzung im Akan, chairness jedoch kann nur durch einen Satz übersetzt werden, der lautet: „the circumstance of something being a chair“352, ,[d]er Umstand von etwas, das ein Sessel ist‘. Mit diesem Beispiel sei nun nicht das alte Vorurteil der Kolonisierenden wiederholt, die den AfrikanerInnen nicht zutrauen, abstrakt zu denken, da der Satz in gleicher Weise abstrakt ist wie der allein stehende Begriff. Was Wiredu zeigen möchte, ist, dass die englische Sprache im Reden von und anhand von Begriffen die in ihr Beheimateten dazu anstiftet, vom Ding zu abstrahieren, während die Sprache der Akan das bekannte Ding in seiner Ausdrucksweise behält und ihm nur einen Zusatz beifügt, den Sessel als Allgemeinbegriff beschreibt und darüber nicht vergisst, dass er ein Gebrauchgegenstand ist. Mit dieser Anreicherung der Bedeutung wird natürlich ein Aufwand von mehr als nur einem Wort notwendig.353 Wie der Name Esu, so können auf diese Weise auch andere Begriffe als Namen für Situationen erkannt werden. Wiredus Theorie möchte ich nun in zwei Schritten vorstellen. Zuerst sei darüber berichtet, was Begriffe für unser Kommunizieren bedeuten und inwiefern es überhaupt möglich ist, einen Dialog zwischen einer afrikanischen Sprache und beispielsweise dem Englischen oder Deutschen zu etablieren. Zweitens möchte ich mich mit dem Beispiel eines Begriffs beschäftigen, mit dem Begriff Gott. Wiredu spricht in diesem Zusammenhang davon, dass es für die Akan zwar ein höchstes

352 Kwasi Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective (Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, 1996), 24. 353 „The point is not, as is sometimes absurdly suggested, that Africans don‘t or can‘t think in abstract terms, for the phrase ,the circumstance of someting being a chair‘ is as abstract in its significance as the word ,chairness‘. The point is rather that in English and languages like English in this respect the fact that, in addition to the periphrastic rendering, there is the unitary abstract noun is apt to incline some speakers to objectual deductions, whereas in languages like Akan there is a distinct disincentive to any such objectivization […]“ (Ibid.)

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Wesen gibt, die Bezeichnung Gott jedoch nicht passend erscheint, wie ich oben bereits angesprochen habe. Was uns Wiredu präsentieren möchte, ist der kosmische Architekt. Wiredu geht davon aus, dass es eine biologische Grundlage gibt, die es uns erlaubt zu kommunizieren, zusammenzuleben. Diese Grundlage ist ein Potential, mit dem jeder Mensch geboren ist. Diese angeborenen Fähigkeiten beinhalten reflektierte Auffassungskraft, die Möglichkeit zur Abstraktion, Deduktion und Induktion.354 Ein Universalismus, der sich auf dieser biologischen Grundlage zu erheben vermag, da ja die alleinige Existenz eines solchen Fundaments noch keine Allgemeinheit für das Denken bringt, passiert nicht im Streben nach einer allgemeingültigen Theorie, sondern von speziellen Interessen geleitet. Nur ein Beispiel dafür ist der Versuch von PhilosophInnen aus Afrika, die Philosophien ihres Kontinents mit den Diskursen in anderen Teilen der Welt in Kontakt zu bringen. Am Allgemeinen wird damit Wiredu zufolge im Streben nach Übersetzung, nicht einer wörtlichen sondern einer verständlichen, gearbeitet. Dienen soll ein solches Projekt nicht der Abschaffung des Besonderen, sondern seiner Koexistenz mit dem Universellen, mit einem Universellen, das notwendig wird, wenn die von den Globalisierungstheorien angenommene Enge an Intensität gewinnt.355 Warum sollte es Universelles geben? Stellen Sie sich vor, es gäbe nichts Universelles, dann wäre interkulturelle Kommunikation nicht möglich. Es gibt sie aber.356

354 „At the very minimum this status implies that we are organisms that go beyond instinct in the drive for equilibrium and self-preservation in specific ways, namely, by means of reflective perception, abstraction, deduction, and induction.“ (Ibid., 22.) 355 Vgl.: Ibid., 1-9. „To sum up the basic message of this book: Human beings cannot live by particulars or universals alone, but by some combination of both.“ (Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective, 9.) 356 „Suppose there were no cultural universals. Then intercultural communication would be impossible. But there is intercultural communication.“

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Aus welchem Grund Kwasi Wiredu behauptet, dass es etwas geben muss, das die Menschen unabhängig von ihrer Kultur, sowie unabhängig von ihrer Sprache verbindet. Dass es theoretisch jedem Menschen möglich ist, eine neue Sprache zu lernen, ist für Wiredu ein anderer Beleg für seine These.357 Daran anschließend muss nun klargestellt werden, welches Begriffssystem es geben könnte, in dem Menschen miteinander in Kontakt kommen, sich auseinandersetzen können. Wiredu befindet diese Frage mit einer anderen als gleichbedeutend, die lautet: Worüber können Menschen aller Kulturen dieser Welt diskutieren? Wiredus Antwort fällt eindeutig aus: Über alles.358 Klar soll durch dieses Folgern werden, dass es scheinbar ein Potential zum Kommunizieren, ein Potential zum Zusammenleben und Erschaffen von Kultur geben muss, da dies, wenn der Wille besteht, wenn ein Worüber vorhanden ist, immer wieder funktioniert. Dieses Funktionieren kann passieren, weil die direkte Wahrnehmung, die nicht völlig unkritisch ist, die bereits vom Begriff durchzogen ist, doch so wenig strukturiert ist, dass alle Menschen Gleiches erleben oder erkennen. Die unmittelbare Wahrnehmung, so Wiredu, setzt lediglich das menschliche Grundpotential voraus, das uns von Natur aus vermacht ist. Abermals sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es nicht der Weg sein kann, zurückzugehen zu einer Art Naturmensch, natürlich ist dieser nicht zu finden, nein, mit der immer neuen Versicherung dieses Potentials versucht Wiredu uns nicht anzuspornen, es als Gegenstand der Wissenschaften festzumachen, sondern wir sollen beginnen, es zu nutzen, sollen beginnen, Vertrauen zu haben. Kommunikation kann nach Wiredu eben genau dann funktionieren, wenn Menschen in Situationen kommen, die es notwendig machen, sich zu verständigen, sich auszutauschen um des Erhaltens des gesellschaftlichen Gleichgewichts willen. Wiredu behauptet damit aber noch lange nicht, dass es ausreicht, mit Unbekanntem konfrontiert zu werden, um es einem Prozess des Kennenlernens zu starten zu erlauben, eher sieht er in solchen Situationen nur die Möglichkeit zum Austausch gegeben, sowie er darauf verweist, dass solche Chancen manchmal ergriffen werden, da es

(Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective, 21.) 357 Vgl.: Ibid., 25. 358 Vgl.: Ibid., 21.

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auch funktionierendes Zusammenleben gibt und nicht nur Krieg und Gewalt. Möchte man Wiredus Theorie Gewicht schenken, so ist es meiner Meinung nach gleichzeitig notwendig, dem Kodex der Gewaltfreiheit zu folgen. Womit immer noch nicht gesetzt ist, dass nun alles ausdiskutiert werden muss, sondern, dass dies der zu gehende Weg ist, wenn es der Lösung eines Konflikts bedarf, wenn Meinungsverschiedenheiten nicht mehr bestehen bleiben können. Wiredu stellt ein bestimmtes Verständnis von Konsens bereit, nach dem nicht jede gezwungen sein soll, sich einer Meinung zuzuordnen, das aber jedoch auf die Kompromissbereitschaft der Einzelnen hofft. Der Konsens kann nach Wiredu auch als unerreichter positive Veränderungen für ein politisches System bringen, da der Wille ihn anzustreben, den Weg zu Entscheidungen eindeutig anders gestalten muss als nach dem Mehrheitsprinzip, das dauerhaft marginalisierte Gruppen akzeptiert.359 „Darüber hinaus kann dort, wo ein Wille zum Konsens ist, Dialog zu einem freiwilligen Aussetzen von Unstimmigkeiten führen und dadurch gemeinsames Handeln ohne notwendigerweise übereinstimmende Vorstellungen ermöglichen.“360

Die Sprache ist nach Wiredu das kulturelle Universelle schlechthin. Irgendeine Sprache zu beherrschen ist notwendig, möchte man an einem weltweiten Sprechen teilnehmen. Zentral ist für Wiredu, dass jeder Mensch das Konzept Sprache versteht und damit einhergehend über Regeln des Umgangs verfügt.361 Das Mitgefühl ist ein anderer Faktor, der das nicht gewalttätige Zusammenleben ermöglicht. Gemeinsam mit dem Potential zur Sprache, dem Potential zur Organisation des Zusammenlebens, erlaubt das Mitgefühl Gesellschaft. Wiredu spricht von einem objektiven Mitgefühl.362 Es geht ihm um ein Prinzip, das aus-

359 Vgl.: Kwasi Wiredu, „Demokratie und Konsens traditioneller afrikanischer Philosophie. Ein Plädoyer für parteilose Politik“, polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2 (Jg.1): 17. 360 Ibid.: 13. 361 Vgl.: Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective, 28. 362 „The need for morality arises from facts of the following kind. Human beings have common as well as conflicting interests. Coexistence in so-

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sagt, dass niemand so handeln sollte, dass ihr Handeln Auswirkungen auf andere hat, welche Auswirkungen sie selbst nicht erleben würde wollen, wenn sie in deren Situation wäre, bei der Gelegenheit einer identischen Wiederholung der Aktion.363 Dieses Minimum an Moral muss jeder Gesellschaft, so lange sie funktioniert, zugrunde liegen, argumentiert Wiredu. Die Verallgemeinerung von Begriffen ist damit keine Arbeit nur für wissenschaftliche Diskussionen, sondern vor allem auch der Versuch, Erdachtes eben über etablierte Spezialsprachen hinaus zu überprüfen, mit der Vorannahme, dass es in keinem Fall minderwertige Sprachen gibt, sondern höchstens schlechte Theorie. Ähnliches läßt sich nun auch über die Moral sagen, die nach Wiredu in jedem Brauchtum steckt, das das Funktionieren von einer Gesellschaft sicherstellt und damit auch im Umgang der Menschen auf unserer Kreuzung lebt. Womit ich erneut bei Esu, unserer ,GöttIn‘, angekommen bin, die eben die auf der Kreuzung sich Aufhaltenden nicht beherrscht oder in festen Bahnen lenkt, sondern auf die Eigeninitiative der Einzelnen baut. Dieses Bild einer GöttIn ist nach Wiredu den Akan nicht fremd. Es sind die voreiligen Unterstellungen der christlichen Missionare gewesen, die erst die Rede von den Göttern ins Lebenssystem der Akan eingeführt haben. Womit ich zum scheinbaren, von Wiredu beschriebenen Gottesbegriff kommen möchte. Wiredu versucht zu erklären, was Wesen wie Esu für die Menschen leisten; ich möchte mich an ihn anschließend fragen, was sie im Speziellen für die Stadt ermöglichen. So viel sei vorausgesagt, die Namen, die Götter, die Organisationsstrukturen erzählen Geschichten, die es eigentlich ungeregelten Orten zu funktionieren erlauben. Wiredu beginnt die Auseinandersetzung mit dem Problem einer Religion der Akan damit, festzuhalten, dass es in vielen afrikanischen Sprachen, das Akan eingeschlossen, keine Entsprechung für das Wort Religion gibt. Dennoch gibt es auch für die Akan ein höchstes Wesen,

ciety requires some adjustment or reconciliation of these interests. The possibility of such an adjustment rests on the fact that human beings do have a basic natural sympathy for their kind.“ (Ibid., 41.) 363 „The principle of this standpoint is always to act in such a way as to avoid doing things that have effects on others that one would not welcome if one were in the situation of those others in an otherwise identical reenactment of the action.“ (Ibid.)

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zu dem jedoch eine völlig andere Beziehung gepflegt wird als beispielsweise zum christlichen Gott. Die Akan verehren dieses höchste Dasein nicht, eher empfinden sie es beinahe als eine Art von Dienstleistungsunternehmen, dessen Angestellte, weil man sie mit Respekt behandelt, in positiver Weise ins Alltagleben einzugreifen vermögen. Scheitert dieser so genannte Gott, wird ihm auch das Vertrauen entzogen. Kraftvolle Wesen können damit den Akan zufolge auch streben, was eben soviel bedeutet, als dass sie ihre Macht verloren haben, nicht mehr behilflich sein können.364 Wovon ich spreche, ist eben nur ein höchstes Wesen, ein kosmischer Architekt, der in der gleichen Welt wie die Menschen und alle anderen Wesen lebt, dem keine eigene Sphäre zukommt. Er ist nicht im ,Himmel‘, er existiert auch materiell. An dieser Stelle seiner Argumentation führt Wiredu erneut einen sprachlichen Unterschied zwischen dem Akan und dem Englischen ein. Möchte man in Akan davon sprechen, dass etwas ist, so ist es notwendig zu sagen, wo es ist, to be meint damit eigentlich in diesem Denksystem to be at some place.365 Womit das Verhältnis zwischen Esu und ihrer Kreuzung erneut klarer erscheint, beide bedingen einander gegenseitig. Esu könnte nicht ohne das verrückte Treiben sein, während die herumwandelnden Menschen auf der Straße nicht mehr glauben dürften, doch noch zu passieren, gäbe es nicht das Gefühl, dass Esu all jenen den Weg frei macht, die nur kreativ genug agieren. In den Städten, deren Kennzeichen es ist, eben immer auch ohne explizite Struktur zu funktionieren, wie ich es schon mehrere Male angesprochen habe, wird demnach eine Art utilitaristischer Glaube366, wie Wiredu den der Akan beschreibt, notwendig. Nicht wie im Boxclub, wo es Zeit gibt, sich durch lange Gespräche und Rituale in eine Tradition einzufügen, kann ein Einüben auf der Kreuzung funktionieren, dort muss unmittelbar Zugang gefunden werden. Und wie ich

364 Vgl.: Ibid., 45-48. 365 Vgl.: Ibid., 49. „And the crucial consideration is that God‘s relationship with the rest of the universe, that is, the world, is also conceived to be inherently lawlike. This is the implication of the Akan saying that ,The Creator created Death and Death killed the Creator‘ […]“ (Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective, 50.) 366 Vgl.: Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective, 48.

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meine, ist in dieser Hinsicht die Studie von Bakare-Yusuf und Weate exemplarisch, da mir kaum ein brauchbarer Glaube dafür einfällt als einer, der die Menschen beständig dafür bereit macht, sich zu verändern, der sie in eine Art von auch lustvoller Anspannung zu versetzen vermag. Womit ich am Ende dieses Abschnitts – der mich von den Problemen der Begriffsbildung, über Fragen der Moral, von der Wissenschaftlichkeit zum Erleben, hin oder zurück zu Esu, zu einer materialistischen Religion geführt hat – festhalten möchte: Eine ungeregelte Kreuzung kann immer nur dann funktionieren, wenn es gewisse materielle Voraussetzungen gibt, wie zumindest eine gewisse Sicherheit vor dem Getötet- oder Beraubtwerden, die für die Menschen in Lagos nicht immer gegeben ist, und den Glauben daran, dass das Gemeinsame, ein Kollektiv möglich ist. Flüssig und fest? Eine Kreuzung ist beides. Sie vereinnahmt durch ihre Musik und gibt dennoch auch benennbare Richtlinien, die die Passierenden nicht zur völligen Passivität verdammen. Auf einer Kreuzung, wenn sie funktionieren soll, muss ich mich darauf verlassen können, dass sich die meisten Menschen von Wiredus Moral leiten lassen, sowie es mir Sicherheit schenken kann, ins Gespräch zu kommen, über ein Problem zu verhandeln, daran glauben zu können, dass Sprechen potentiell möglich ist und funktionieren kann. Als Festes einer Stadt muss damit die Möglichkeit des Verbündens bleiben, nicht nur im Sinne eines sich Einordnens ins Gemisch von Tönen, sondern als Zusammenschluss in der Tat, als ein Erschaffen neuer Verknüpfungen, das nicht einfach etwas beifügt wie das eigene Auftreten selbst schon, sondern vielleicht eben gerade durch ein Wort, das die Rhythmen unterbricht, die ganze Szenerie in neuer Weise erstehen lassen kann. Ojuelegba, ein lebendiges Monument? Aufgabe dieses Abschnitts wird es sein, die besondere Art des Erinnerns zu begreifen versuchen, die, wie oben beschrieben, implizite Regelung erlaubt, eine Stadt koordinieren kann, die niemals aus nur einer Gemeinschaft geformt ist und wird. Ich möchte mit Jan Assmann einsteigen, ihm zu Maurice Halbwachs folgen, um schlussendlich noch einmal mit Michel Foucault auf eine Frage zurückzukommen, die bereits Assmann stellt: Was bedeutet die Linearisierung von Geschichte(n) für eine Gesellschaft? „Unterdrückung ist ein Inzentiv für (linea-

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res) Geschichtsdenken, für die Ausbildung von Sinngebungsrahmen, in denen Bruch, Umschwung und Veränderung als bedeutungsvoll erscheinen […].“367 Assmann möchte herausfinden, „[…] wie sich Gesellschaften erinnern, und wie sich Gesellschaften imaginieren, indem sie sich erinnern.“368 Zu diesem Zweck unterscheidet er vier Bereiche. Erstens nennt Assmann das mimetische Gedächtnis, das es erlaubt, durch Nachahmung die angebrachten Arten des Handelns zu erlernen. Zweitens spricht Assmann von einem Gedächtnis der Dinge. Indem die Menschen sich einrichten, schaffen sie Dokumente ihres Lebens, eine Geschichte, die von der jeweiligen Umwelt dargestellt wird. Drittens nennt Assmann das kommunikative Gedächtnis, die informelle Überlieferung mit diffuser Partizipationsstruktur, frei von Experten (es entspricht dem Alltag, der Allgemeinheit der Gruppe), und viertens die Überlieferung von Sinn, das kulturelle Gedächtnis, das im Ritual erhalten wird (es entspricht dem Fest, den wissensoziologischen Eliten).369 „Wir können uns die polare Struktur des Kollektivgedächtnisses am besten mithilfe der Metaphorik des Flüssigen und des Festen vor Augen führen. Das kulturelle Gedächtnis haftet am Festen. Es ist nicht so sehr ein Strom, der von außen das Einzelwesen durchdringt, als vielmehr eine Dingwelt, die der Mensch aus sich heraus setzt.“370

Was bedeutet es demnach für Assmann, von einer Vergangenheit zu sprechen? Vergangenheit ist für ihn etwas, das nicht für sich alleine bestehen kann, sondern erst im sich Beziehen gegenwärtig Lebender auf ein Vergangenes Bedeutung erhält. Die Frage, die es zu stellen gilt, lautet damit: „Was dürfen wir nicht vergessen?“371 Erinnerungskulturen erzählen die Geschichten, die dem Geschehen entsprechen, nicht solche, die als wahr bewiesen worden sind. Die Frage ist damit nicht,

367 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München: Verlag C.H.Beck oHG, 2007), 72. 368 Ibid., 18. 369 Vgl.: Ibid., 20-21 und 54-55 und 57. 370 Ibid., 58-59. 371 Ibid., 30.

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ob eine Erinnerung zutrifft, sondern ob sie in einem speziellen Kontext zu funktionieren vermag. „Erinnerungsfiguren wollen durch einen bestimmten Raum substantiiert und in einer bestimmten Zeit aktualisiert sein, sind also immer raum- und zeit-konkret […].“372 Damit kann weiter argumentiert werden, dass es so etwas wie ein Gedächtnis der Einzelnen eigentlich nicht gibt. „Zwar ,haben‘ Kollektive kein Gedächtnis, aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder.“373 Worin Assmann bereits Halbwachs folgt, der sich nach Assmann dadurch auszeichnet, eine Theorie des Gedächtnisses entworfen zu haben, die sich nicht an biologischen Gegebenheiten orientiert, sondern das Erinnern aus einem sozialen Bezugsrahmen zu rekonstruieren versucht.374 „Was das Haus für die Familie ist, sind Dorf und Tal für die bäuerliche, Städte für bürgerliche, die Landschaft für landsmannschaftliche Gemeinschaften: räumliche Erinnerungsrahmen, die die Erinnerung auch noch und gerade in absentia als ,Heimat‘ festhält.“375

Die Erinnerung erstellt damit Geschichten, die eher daran interessiert sind, Ausgeglichenheit zu erschaffen, als sie sich, wie die Geschichtswissenschaft, an den Diskontinuitäten, den großen Ereignissen, die Veränderung gebracht haben, orientiert. Auch ist Erinnerung nicht gleichbedeutend mit Tradition, die Halbwachs als eine Verformung von Erinnerungen beschreibt.376 Zusammenfassend sind zwei Punkte aus Assmanns Analyse für den weiteren Verlauf dieses Texts wichtig. Erstens ist sein Hinweis interessant, dass nicht nur von einer Gesellschaft auf ihre Erinnerungen geschlossen werden kann, sondern dass auch umgekehrt berichtete Erinnerungen die Verhaltensweisen von Angehörigen einer bestimmten Gesellschaft zu erklären vermögen, dass das Erinnern eines kulturellen Gedächtnisses über Rituale funktioniert. Manifest wird das kulturelle Gedächtnis, nimmt man erneut das Beispiel unserer Kreuzung, im Einlernen der Menschen, die dort überleben wollen, sowie in den Dingen, den Gerüchen, Autos und Waren, die sie hinterlassen. Zweitens ist es

372 Ibid., 38. 373 Ibid., 36. 374 Vgl.: Ibid. 375 Ibid., 38-39. 376 Vgl.: Ibid., 43-45.

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damit wichtig anzumerken, dass Erinnerungen an bestimmte Orte gebunden sind, an auch wandernde Orte, die ihre Erinnernden begleiten, ihnen auch auf Reisen eine Heimat bleiben. Erinnerungen sind die Endpunkte des aktuellen Lebens, nach denen eine Gruppe ihre Institutionen ausrichtet, so dass diese innerhalb eines größeren Ganzen als am passenden Ort, als sinnvoll und funktional erscheinen. Was nun im Anschluss mit Maurice Halbwachs passieren soll, ist eine kleine Religionskritik, wie man es nennen könnte. Bakare-Yusuf und Weate sowie Wiredu erlauben darein den Einstieg, indem sie eine ,materialistische Religion‘ beschreiben, indem sie Esu auf ihr Ortsein, auf ihre Funktion im und als kulturelles Gedächtnis zurückführen. Und abermals wird an dieser Stelle klar ersichtlich, dass Ojuelegba als Beispiel natürlich überhaupt nicht beliebig gewählt ist, liefert uns doch diese Kreuzung einen vorbildlichen Erinnerungsort. Einerseits, um in einer sich globaliserenden Welt und ihren Überraschungen zu überleben oder andererseits, viel banaler, um mit der Situation eines traditionellen Marktplatzes, der als Freiraum ohne Zugangsbeschränkung verstanden sei, wenn auch als ein friedlicher Freiraum, da man das gemeinte Gebiet ansonsten als Schlachtfeld bezeichnen müsste, sowie mit dem in der Stadtplanung der letzten Zeit gefragten Konzept des shared space umzugehen. Esu ist ein sehr funktionaler Erinnerungsort und wird demnach, folgt man Halbwachs, nicht zufällig gerade jetzt interessant. Es sind die aktuellen Gegebenheiten, die uns auf eben diese Erinnerung, selbst wenn es nicht unsere eigene ist, zurückkommen lassen. Erinnerungen haben damit, auch Halbwachs zufolge, eine Funktion in der Gegenwart und werden eben nur aus diesem Grund erinnert. Es muss immer Monumente geben, die einen Gedächtnisort wieder auferstehen lassen. Erinnerungen sind für Halbwachs niemals persönlich oder individuell, auch wenn sie mit niemand anderem geteilt werden, da sie immer zu Begriffen, Personen und Orten, Wörtern und Sprachformen … in Verbindung stehen.377 Sie können sich nur innerhalb eines Rahmens entfalten, den die Einzelne nicht alleine aus sich selbst hervorbringen kann. Der Rahmen? Will uns Halbwachs damit erklären, dass es einen gesellschaftlichen Rahmen unseres Erinnerns gibt, der von außen an

377 Vgl.: Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1985), 71.

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uns herantritt, an dem sich das Individuelle erst orientiert? Meint Halbwachs, dass die Einzelne keinen Einfluss auf diesen Rahmen hat, weil er präexistent ist und erst Individuelles erlaubt? Würde man diese Fragen positiv beantworten, so hätte man die Intention von Halbwachs falsch beurteilt, wie ich meine. Halbwachs versucht viel eher zu erklären, dass die Erinnerung zwar eines Rahmens bedarf, dieser auch von Äußerem abhängt, aber jedoch ebenso stark durch die Modifikationen der Einzelnen bestimmt ist, die in ihrem Erinnern Einfluss auf die allgemeinen Gedächtnisorte nehmen können. „Jedesmal, wenn wir einen unserer Eindrücke in den Rahmen unserer gegenwärtigen Vorstellung einordnen, verändert der Rahmen den Eindruck, aber der Eindruck seinerseits modifiziert auch den Rahmen. […] Darum müssen wir uns unaufhörlich von neuem fast alle Elemente dieses Rahmens vorstellen, da ja jede Veränderung, so geringfügig sie auch sein mag, die Beziehungen des veränderten Elementes zu allen anderen Elementen modifiziert.“378

Diese angesprochenen Rahmen sind demnach eigentlich nicht beschreibbar, da sie sich erst in der Wechselwirkung mit Situationen entwickeln, sich bei Gelegenheit aktualisieren oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, an den Dingen hängen, die uns begegnen, in der Hoffnung, mit anderem verschmolzen zu werden, das bereits unser Gedächtnis beeinflusst hat. In diesem Sinne kann das Gedächtnis eines Individuums nur dann richtig verstanden werden, wenn es in Relation gesetzt wird.379 Und immerhin sind es nach Halbwachs Wörter, die die Verarbeitung von Empfindungen zu Erinnerungen erst erlauben. „Man muß also die Vorstellung aufgeben, die Vergangenheit erhielte sich als solche in den individuellen Gedächtnissen, als ob es davon ebenso viele verschiedene Abzüge gäbe, wie es Individuen gibt. Die gesellschaftlich lebenden Menschen gebrauchen Wörter, deren Bedeutung sie verstehen: das ist die Bedingung des kollektiven Denkens.“380

Halbwachs möchte damit auch sagen, dass es so etwas wie eine klare und lineare Verbindung zwischen Ereignissen eigentlich nicht gibt.

378 Ibid., 189. 379 Vgl.: Ibid., 200. 380 Ibid., 368.

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Das Fortbestehen von Kulten führt er weniger auf eine konstante Überlieferung zurück, als auf ein Wiedereintreten der Umstände, unter denen sie einstmals geboren wurden.381 Nur die Religion erlaubt es, uneffektiven Kulten zu frönen, weil sie ihre AnhängerInnen von der Gegenwart löst.382 Die Religion leistet dies mit Hilfe einer besonderen Methode, die mir nicht nur aus den Religionen bekannt erscheint: „Die beste Methode, dahin zu gelangen, besteht für die Kleriker, oder zumindest für die, die die Tradition am besten hüten, darin, sich zu versammeln und gemeinsam zu denken oder genauer, sich zu erinnern.“383

Halbwachs stellt sich jedoch nicht nur die Frage, wie es kommt, dass die Religion ihr Gerüst erhalten kann, sondern möchte auch wissen, wie quasi unumstößliche Normen des Lebens dennoch Veränderung erfahren konnten. Wie es beispielsweise möglich war, dass der Adel sich mit dem Einbrechen Unwürdiger in seine Sphäre abgefunden hat. Die Bereitschaft, die eigenen Erinnerungen zu verändern, stellte sich in eben jenem Moment ein, als es notwendig wurde, die Sphäre zu öffnen, als das Bild einer Adeligen sich bereits so gewandelt hatte, dass der Besitz von materiellen Gütern sowie der Zugang zum höheren Verwaltungsapparat feste Eigenschaften einer adeligen Familie zu sein hatten. Mit dem Wichtigwerden anderer Eigenschaften als einer Familiengeschichte wurde es unverständlich, warum so manche, die im Leben eben den geforderten Status innehatten, vom Tragen des Titels ausgeschlossen sein sollten. Es war zu dem Zeitpunkt, an dem es sich im Alltag zu spießen begann, als es für den Erbadel notwendig wurde, die eigenen Erinnerungen neu zu strukturieren, die alten Weltbilder ihre Aufgabe nicht mehr erfüllten.384 Halbwachs argumentiert, dass eine sich erst mit Veränderungen abfindet, wenn die Grundlagen des Gedächtnisses bereits umgestaltet sind. Es müssen dann neue Wege in die Gegenwart gefunden werden, damit Geschehendes anders beurteilt werden kann. Halbwachs schreibt, dass sogar die Einzelne, indem sie vergangene Erinnerungen über dem gegenwärtigen Zeitpunkt nähere

381 Vgl.: Ibid., 250. 382 Vgl.: Ibid., 271. 383 Ibid., 275. 384 Vgl.: Ibid., 312-17.

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zu erreichen versucht, den Erinnerungsrahmen völlig zu erneuern vermag. „Wir fragten uns, wie man die Erinnerungen lokalisiert? Und wir gaben zur Antwort: Mit Hilfe von Anhaltspunkten, die wir immer mit uns führen, da es uns ja genügt, uns umzuschauen, an die anderen zu denken und uns in den Rahmen der Gesellschaft hineinzustellen, um sie wiederzufinden.“385

Womit ich zurück bin bei dem kleinen Stück Religionskritik, das ich versprochen habe. Denn, es ist die Erklärung von Erinnerungen, das Offenlegen eines bestimmten Weges, der zu einer besonderen Situation geführt hat, die der Religion ihr Geheimnis raubt.386 Wir werden im Bestreben, eine materialistische Religion auszuformulieren, eben jene Erinnerungen suchen, die wir für funktional halten, die wir eine Zeit lang glauben können und wollen. Diese Erinnerungen können aus der Geschichte der eigenen Gesellschaft kommen oder bei anderen entlehnt werden. Wichtig bleibt für Halbwachs, dass eine Gesellschaft niemals aufgrund einer formulierten Kritik verändert werden kann, sondern immer erst dann, wenn neue Möglichkeiten auftauchen, andere Erinnerungen präsent werden. „Eine Gesellschaft kann nur leben, wenn ihre Institutionen auf starken Kollektivüberzeugnungen ruhen. Diese Überzeugungen können aber nicht aus einer einfachen Reflexion entstehen. Man hat gut die herrschenden Meinungen kritisieren, gut nachweisen, daß sie der gegenwärtigen Lage nicht mehr entsprechen, die Mißbräuche anprangern, gegen Unterdrückung und Ausbeutung protestieren. [Fehler im Original (F.H.)] Die Gesellschaft wird ihre alten Überzeugungen nur aufgeben, wenn sie überzeugt ist, neue zu finden.“387

Womit der Übergang zu Michel Foucault geschafft ist. Zu Foucault und seinen Vorlesungen „In Verteidigung der Gesellschaft“, deren Thema das unterworfene Wissen ist, ein Wissen, das in Verborgenheit schläft, bis die Kritik es zum Vorschein bringt. Foucault spricht auch

385 Ibid., 371. 386 Vgl.: Ibid., 333. 387 Ibid., 388.

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vom nicht begrifflichen oder unfertig ausgearbeiteten Wissen.388 Foucault möchte über dieses Wissen nachdenken, weil es ein Potential in sich trägt, die herrschenden Formen in Frage zu stellen. Sein Instrument der Betrachtung ist die Genealogie, die es beherrscht, Gelehrsamkeit und Erinnerung zu verbinden, die Wissen über historische Kämpfe erlaubt und dieses Wissen zu Taktiken der Gegenwart verarbeiten kann. „Die Genealogien sind gerade Anti-Wissenschaften. […] Nicht so sehr gegen die Inhalte, Methoden oder Begriffe einer Wissenschaft als vielmehr gegen die zentralisierenden Machtwirkungen, die mit der Institution und dem Funktionieren eines im Innern einer Gesellschaft wie der unsrigen organisierten wissenschaftlichen Diskurs verbunden sind.“389

In diesem Abschnitt sollen die Thesen von Michel Foucault nur unter einem bestimmten Blickwinkel erneut gestreift werden, es können sich jedoch einige Überscheidungen zum bereits oben ausformulierten und viel breiter angelegten Kapitel zu Foucault finden. Der Einstieg sei mit einer sehr orthodoxen Frage von und an Foucault geschafft, in deren Beantwortung ich mich jedoch an diesem Ort streng an die erwähnten Vorlesungen aus dem Jahre 1976 halten möchte. Wie funktioniert Macht? Zuerst ist Macht nichts Gegebenes, sie gibt es nur in ihrer Ausübung. Zweitens, strukturieren Machtverhältnisse unsere Gesellschaft, wie Foucault schreibt und in jedem Fall die französische damit meint, aber, so behaupte ich, würde Foucault zumindest diesen einen Punkt in seinem Denken zu universalisieren erlauben; damit: Gesellschaften unterliegen Machtverhältnissen. Diese Machtverhältnisse werden durch den Krieg festgelegt, der ihnen nicht nur Kraft, sondern auch ein Datum verleiht. Die Politik? „Politik wäre also Sanktionierung und Erhaltung des Ungleichgewichts der Kräfte, wie es sich im Krieg manifestiert.“390 Diese Politik erfolgt nicht durch Unterdrückung, sondern über die Produktion von Untertanen.391

388 Vgl.: Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2001), 21. 389 Ibid., 23-24. 390 Ibid., 32. 391 Vgl.: Ibid., 45.

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Mit dem 17. Jahrhundert beobachtet Foucault eine neue Art der Kontrolle von Kräfteverhältnissen, die Kontrolle durch Unterwerfung.392 Die neue Aufgabe lautet nicht mehr, sich gegen die Gesellschaft zu verteidigen, es sind die Feinde der Gesellschaft, die besiegt werden müssen. Was nach Foucault zu diesem Zeitpunkt auftaucht, ist der Rassenkrieg, der Kampf gegen die als biologisch nicht ausreichend Angesehenen.393 Diese Form der Politik ist nun weniger daran interessiert, in Städte oder Nationen zusammenzufassen, sie möchte unterwerfen, sortieren. Zwei Formen des Rassenkriegs nennt Foucault, die beide ihre besondere Geschichte haben, die der Argumentation ein Fundament verleihen soll. Einerseits bespricht Foucault den sowjetischen Staatsrassismus, der aus einem revolutionären Diskurs hervorzugehen vermochte, der sich aus der Kategorie ,des Klassenfeinds‘ entwickelte und andererseits die „[…] nationalsozialistische Wiedereinschreibung des Staatsrassimus in die alte Legende von den kriegerischen Rassen […].“394 In diesem Sinne kann Foucault schreiben: „Die Regierung ist der Krieg der einen gegen die anderen; die Revolte wird der Krieg der anderen gegen die einen sein.“395 Es ist demnach der Krieg, der den Ausgangspunkt für die Linearisierung der Geschichte, wie ich Assmann oben zitiert habe, bereitstellt. In der Annahme, dass es eine Schlacht aus der Vergangenheit zu Ende zu führen gilt, wird das Wissen um die Geschichte notwendig und mächtig. Die Produktion von geschichtlichem Wissen und das damit einhergehende Verbinden dieses Wissens mit der Gegenwart bedeutet, Macht zu vollziehen. Das Wissen um die Vergangenheit läßt behaupten, die eigentlichen Gegebenheiten auch der Gegenwart zu kennen. Dieses Wissen ermöglicht es, sich ein Stück Welt anzueignen und zwar scheinbar rechtmäßig, vorrechtsmäßig. „Worin besteht Freiheit also? Sie besteht darin, zuzulangen, sich Dinge anzueignen und von ihnen zu profitieren, zu kommandieren und Gehorsam zu erzwingen. Das erste Kriterium für Freiheit liegt in der Möglichkeit, andere der Freiheit zu berauben.“396

392 Vgl.: Ibid., 79. 393 Vgl.: Ibid., 81. 394 Ibid., 103. 395 Ibid., 134. 396 Ibid., 188.

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Kriege können nicht mehr als eindeutig zu entscheidende behandelt werden, so Foucault. Es eröffnet sich ein Kräfteverhältnis, das die Starken mit den Schwachen verbindet, die einen werden stärker, die anderen schwächer, mittelfristige Entscheidungen bringt der unterschiedliche Stand der aktuellen Ausrüstung.397 Foucault stellt in seinen Vorlesungen zwei einander gegenüberstehende Gruppen dar, die ihr Fundament auf unterschiedliches Wissen bauen. Die einen ziehen Legitimation aus dem Wissen, das die Institutionen der Nation produzieren, die anderen speisen sich aus nicht anerkanntem, unterdrücktem Wissen, sind die Kritik am Staatsapparat. Womit man von zwei Staaten der Sache nach sprechen könnte, jedoch bleibt es nur einer Form des Wissens vorbehalten, die öffentlich anerkannte Ordnung zu erschaffen. „Weder Vertrag noch Gesetz, noch Konsens können wirklich eine Nation hervorbringen. Aber umgekehrt ist es sehr wohl möglich, daß eine Gruppe von Individuen über die historische Fähigkeit verfügt, Arbeiten auszubilden, Funktionen auszuüben, und sich gleichwohl niemals ein gemeinsames Gesetz und eine Gesetzgebung verleiht. Jene Leute sind in gewisser Weise im Besitz der substantiellen und funktionalen Elemente der Nation, jedoch nicht im Besitz der formalen Elemente. Sie sind fähig zur Nation, werden aber niemals eine Nation sein.“398

Sprechen wir von Ojuelegba, so sprechen wir von Leuten, die fähig sind, Stadt auszuüben, die die Flexibilität zum Ritual gemacht haben. Dennoch können sie selbst nicht zur Stadt werden, sondern bedeuten für jene auf der scheinbar eigentlichen Seite der Stadt eine Bedrohung. Ich möchte an dieser Stelle nun argumentieren, dass die Angst vor den StraßenverkäuferInnen und Motorradtaxis vielleicht eher ihren Grund in der Etablierung einer Gegengeschichte findet, denn nur aufgrund der hohen Rate an Verbrechen besteht. Bakare-Yusuf und Weate berichten, dass staatliche Eingriffe, die dem Rhythmus der Kreuzung widersprechen, immer zum Scheitern verurteilt sind. Die Frage ist nun: Warum wird das bisher informelle Treiben nicht subventioniert, wie es Bakare-Yusuf und Weate vorschlagen? So wäre die Kriminalität einzudämmen und das Leben der Menschen in Lagos zu verbessern mög-

397 Vgl.: Ibid., 190. 398 Ibid., 261.

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lich. Es sind jedoch die offiziellen und nicht im Ritual, sondern im Gesetzestext aufgehenden Organisationsstrukturen der Stadt, die sich damit als obsolet erklären würden. Ich habe nun von Organisationsstrukturen der Stadt gesprochen, obwohl diese Strukturen dem in dieser Arbeit vertretenen Stadtbegriff nicht entsprechen, deswegen werde ich mich korrigieren und eben die durch die Polizei verteidigten Strukturen als staatliche bezeichnen. In diesem Text unterscheiden sich Staat und Stadt nicht durch ihre Größe, sondern durch ihre Art des Erscheinens, durch ihre Funktionsweise, wie in der Einleitung dargelegt wurde. Das schlechte Funktionieren von Lagos kann auf das Stattfinden eben dieses, von Foucault beschriebenen, Krieges – dem zwischen Staat und Stadt – zurückgeführt werden. In Lagos herrscht die Unterdrückung, was zusammenhält, ist der Kampf zweier Formen der Erinnerung. Die widerständigen im Ritual weitergegebenen Geschichten stehen einer staatlich institutionellen Einnerung gegenüber, die das Spektakel schlichten, es in einen zusammenfassenden Rahmen einordnen möchte, den Faktor individuelle Kreativität, der immer subversiv ist, auszuschalten versucht. Das Denken der staatlichen Instanzen ist an der totalen Veränderung interessiert. Dieses Denken fixiert die unterschiedlichen Formen der Stadt, legt sie als kriminelle oder ordentliche fest, dieses Denken lässt nur lineare Geschichten zu, nicht die sich beständig verändernden Erinnerungen auf Ojuelegba, dieses Denken macht die Stadt zum Kriegsschauplatz. Esu hingegen erfüllt eine bindende Funktion, sie führt die Menschen in einer bestimmten Weise zusammen, um einander auszuweichen, einander Wege zu weisen oder um schnelle Geschäfte zu erledigen. Ich komme zu Assmanns Frage zurück, um sie für meine Gegenwart zu beantworten: Was dürfen wir nicht vergessen? Vielleicht zuerst einmal, dass diese Einteilung in Kriegerisches und Bindendes nicht so zu halten ist und wir es immer mit Mischformen zu tun haben werden. Zweitens darf nicht vergessen werden, dass es immer bestimmte Eliten sind, die ein kulturelles Gedächtnis beherrschen, es damit notwendig ist, um die Rituale zu wissen, verlässt man den eigenen Ort auch nur in Gedanken. Und schlussendlich sollte die befreiende Wirkung des Gedächtnisses nicht unterschätzt werden, erlaubt uns Halbwachs doch so ziemlich alles in den eigenen Rahmen zu integrieren. Wir können uns das Gedächtnis schaffen, das eine Situation erfordert, wenn wir uns ,richtig‘ erinnern und nicht müde werden, nach den

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passenden Erinnerungen zu suchen. „So erklärt es sich, daß die Traditionen und die gegenwärtigen Ideen übereinstimmen können: nämlich weil die aktuellen Ideen in Wirklichkeit auch Traditionen sind […]“399 So wird es möglich, eine Alternative zu finden, die dann tatsächlich zu verändern vermag. Diese Alternative muss auch nicht gleich eine ausgesprochene sein, sondern kann gelebt werden, sie darf keine Kritik sein, sondern muss ein Prototyp, bereit zur Nachahmung, zur Einübung auf der Kreuzung, sein. Womit schlussendlich noch einmal Foucault zitiert sei, mit einer Textstelle, die mir doch sehr radikal erscheint, die aber durchaus auch Wahrheit in sich birgt. „Das sprechende Subjekt ist ein – ich würde nicht einmal sagen polemisch, sondern – kriegerisches Subjekt.“400 Die Stadt als Straße „Die Stadt ist das Korrelat der Straße. Die Stadt existiert nur im Hinblick auf Verkehr und Kreisläufe; sie ist ein bedeutender Punkt in den Kreisläufen, von denen sie geschaffen wird oder die sie schafft.“401

Lagos ist kein Ort auf der Landkarte. Es bedarf eines Materiell- und Sichtbarwerdens der Multitude. Die Stadt muss das Fundament zum Arbeiten und Leben sein. Esu die SchwindlerIn, die ZauberIn fordert uns heraus, Stadt nicht mehr an feste Strukturen gebunden zu untersuchen, sondern als eine Form der Muskelspannung, der Aufmerksamkeit. Lagos ist eine stark befahrene Straße und will mit Achtung betreten werden. Eine Sichtweise, die mit dem Problem der Grenzen des sprachlichen Ausdrucks konfrontiert. Kann die Philosophie im Sprechen über die Stadt immer nur über sich selbst hinausweisen? Welcher Gott kann in der zeitgenössischen Stadt als Dienstleistungsunternehmen funktionieren? Welche materialistische Religion erlaubt es, nicht beständig einzuschränken und abzutrennen, sondern auszuweiten? Wie kann die Philosophie über die Mannigfaltigkeit mannigfaltig sprechen?

399 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 390. 400 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), 71-72. 401 Gilles Deleuze and Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus (Berlin: Merve Verlag, 1997), 599.

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Wie kann Maurice Halbwachs Rat befolgt werden, der besagt, dass Kritik nichts verändert, nur der Neuanfang? Welche Vergangenheit muss erzählt werden? Ich werde im Folgenden auf die Beschreibung der Stadt in den Tausend Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari eingehen, um daraus Linien zu ziehen, um noch einmal bei der Frage nach der Vielheit sowie bei den Chancen der Philosophie anzukommen. Am Ende sei ein Vorschlag für die Soziologie von Bruno Latour vorgestellt, der sich in eben dieser Tradition versteht. Wie kann mannigfaltig gesprochen werden, im Sprechen Platz gelassen werden für die StädterInnen? Die sie machen, die Stadt, die sich einrichten in der Stadt, um sich von ihrer eigenen Einrichtung darauf berichtigen zu lassen. Die Stadt „Sie wird durch Ein- und Ausgänge bestimmt, es muß etwas in sie hineingehen und aus ihr herauskommen. Sie erzwingt eine Verkehrsdichte.“402 Sie, die Stadt, braucht Tore, die sich durch die Bewegung, die unter ihren Bögen passiert, auszeichnen. Die Stadt beginnt damit dort, wo es sich reibt, die Stadt kommt mit der Fortbewegung. Deleuze und Guattari beschreiben Städte damit wohl immer noch als Orte, oder als bedeutende Punkte in Kreisläufen,403 jedoch scheinen die verkehrenden Dinge und Menschen nicht mehr in den Ballungsraum zu strömen, sondern diesen, beziehungsweise dessen Tore, dessen Kulminationspunkte, mit sich wegzutragen. Die Stadt ist die Schwelle, das Nadelöhr, die Enge, die mit geschäftigen Versammlungen und ihrem Mehrwert einhergeht. Der Mehrwert ist im kapitalistischen System nicht mehr lokalisierbar. Das ist die wichtige Erkenntnis, die Marx den Autoren zufolge eingebracht hat.404 Womit die Frage nach der Stadt in einer radikalen Weise neu zu stellen ist. Wenn jedes Mal beim Passieren einer Transcodierung, wenn eine Verwandlung stattfindet, wenn etwas produziert wird, nicht einfach nur neue Einschreibungen hinzu kommen, entsteht eine völlig neue Sphäre, die den nicht mehr örtlich gebundenen Mehrwert in sich trägt. An Orten der Verwandlung – den zeitgenössischen

402 Ibid. 403 Vgl.: Ibid., 600. 404 Vgl.: Ibid., 681.

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Fabriken –, als welche Städte wie Lagos in jedem Fall beschrieben werden können, setzt sich demnach Energie frei, die keiner Intention entsprechend hervorgebracht wurde. Womit ein erneuter Rückblick auf Marx interessant ist, erscheint es doch in seinen Schriften so, als wäre der Mehrwert der einzige Grund für die kapitalistische Produktionsweise und damit ja eigentlich sehr stark angestrebt. Dennoch, es sind nicht die ArbeiterInnen, die die Schöpfung des Mehrwerts anstreben, sie aber leisten. Womit zurück geschaut werden kann auf die Stadt. Die Stadt kann im Sinne dieses Redens vom Mehrwert als etwas verstanden werden, das arbeitet, in dem es arbeitet, das Arbeit ist. Arbeit? Dem Modell der Arbeit stellen Deleuze und Guattari die undisziplinierte Tätigkeit gegenüber, die der Nutzung eben des angesprochenen städtischen Mehrwerts entspricht. Arbeit wäre nämlich lediglich das kontrollierte Tun der Standardmenschen, von Menschen, die sich durch die staatlichen Wissenschaften standardisiert beschreiben lassen müssen. Deleuze und Guattari wollen keine nicht konform gehenden Genies identifizieren, sondern aufzeigen, wie Beschreibung, wie Festsetzungen alle Menschen ihrer Kreativität, ihrer Energie, ja wohl auch ihres Lebens berauben. Die Arbeit nun birgt wenig befreiendes Potential, sie ist Teil der Staatsmaschinerie. Sie, die Staatsmaschinerie, trennt die Arbeit von der Freizeit, dem nur unernsten Tun, dem nur ein bestimmter Raum zur Entfaltung erlaubt sein darf. Die Arbeit und ihre Grenzen erlauben es, einen Bereich zu definieren, der nicht von Bedeutung ist. Produkte oder Meinungen, die aus dieser Sphäre kommen, sollen kein Recht haben, das staatliche Tun in Frage zu stellen.405 Die Stadt ist demnach eine Zone, die Energien freisetzt, einerseits kontrollierte und andererseits den Mehrwert, unkontrollierte Energie, die angestrebte Ziele verfremdet. Und noch einmal, eben diese Verfremdung könnte auch als der Stadt eigener Grund bezeichnet werden, wenn man sich an die Beschreibung des Mehrwerts als vom Kapitalismus angestrebtes Ziel halten möchte. Stadt ist demnach nicht die Polis, sondern auch der angrenzende diffuse Raum, sie ist nicht privat und nicht öffentlich, sondern weder noch. Sie dient dem Kapitalismus und behindert ihn.406

405 Vgl.: Ibid., 679. 406 Vgl.: Ibid., 602.

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„Der Nomos ist die Konsistenz einer unscharfen Menge; in diesem Sinn richtet er sich wie ein Hinterland, wie ein Berghang oder der nicht klar definierte Raum um eine Stadt gegen das Gesetz oder die Polis […].“407

Die Städte sind damit Orte der Konfrontation, sie bringen Kapitalismus und Staatstragendes hervor und dieser Mechanismen Mehrwert, der sich zurückwendet um anzugreifen. Sie sind gekerbter Raum, der als glatter Raum ausläuft, nicht fixierbar ist. Städte sind Reisen im Glatten. Solche Reisen sind nach Deleuze und Guattari ein schwieriges und ungewisses Werden. Der glatte Raum zeichnet sich dadurch aus, nur eine Dimension zu haben, die des ihn Durchquerenden.408 Der glatte Raum wird nur im Gebrauch. „Das Glatte scheint uns Gegenstand einer nahsichtigen Anschauung par excellence und zugleich Element eines haptischen Raumes zu sein (der gleichermaßen visuell, auditiv und taktil sein kann). Das Gekerbte verweist dagegen auf eine eher fernsichtige Anschauung und auf einen eher optischen Raum – auch wenn das Auge nicht das einzige Organ ist, das diese Fähigkeit hat.“409

Städte erscheinen demnach je nach Art und Ort des Betrachtens anders, sie verschwimmen aus der Nähe und zeigen sich aus der Ferne, wie Koolhaas es aus seinem Hubschrauber beschreibt, als funktionale Maschinen. Städte passieren zwischen ihrer Architektur, die ihnen ein Gesicht verschafft und aus der durch dieses Gesicht, das Politik ist, unterdrückten Polyvozität.410 „Ganz allgemein kann man sagen, daß keine Polyvozität und nichts Rhizomartiges zugelassen werden darf: ein Kind, das rennt, spielt, tanzt oder zeichnet, kann seine Aufmerksamkeit nicht auf Sprache und Schrift konzentrieren, und deshalb ist es auch nie ein brauchbares Subjekt. Kurz gesagt, die neue Semiotik muß systematisch die ganze Mannigfaltigkeit primitiver Semiotiken zerstören, auch wenn sie deren Trümmer in ganz bestimmten Nischen aufbewahrt.“411

407 Ibid., 523. 408 Vgl.: Ibid., 669, 76. 409 Ibid., 682. 410 Vgl.: Ibid., 237, 49. 411 Ibid., 247-48.

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In diesem Sinne kann die Stadt als einerseits bewohnt von StaatsbürgerInnen, von solchen, die man StaatsbürgerInnen sein läßt und denen eben auch dieser Status genügt, als bewohnt von Familien beschrieben werden, und andererseits als Heimat der Meuten. Es wäre meiner Meinung nach nun jedoch auch völlig falsch, würde man sich durch diese Aussage gezwungen fühlen, sich einzuordnen. Nicht ausschließlich NichtbürgerInnen können Teil der Meute werden, umgekehrt würde der Wechsel wohl schon viel komplizierter ausfallen. Die Meute ist mit der Störung zu verbinden, sie funktioniert anders als Familien und Staaten, sie fordert aus einem ,Unten‘, einem durch die Standardsysteme nicht anerkannten, ihnen nicht bekannten Bereich, sie fordert einen Bereich des Werdens, der Nichtfestlegung, um existieren zu können.412 Die Meute ist mannigfaltig, sie wird nicht durch ihre Elemente definiert, nicht durch Eigenschaften, „[…] sondern durch die Linien und Dimensionen, die sie in ,intensio‘ enthält.“413 Die Meute kann immer nur als alle jene Momente erfasst werden, die in einem bestimmten Moment die Meute bilden. Die Meute ist damit ein Szenario, das in der Stadt und damit unter den Bögen der Tore, wie oben beschrieben, erzwungen durch Verkehrsdichte stattfinden kann. Im Moment ihres Passierens kann die Meute dann erlebt werden, ihre Energie kann empfangen werden, sie ist Teil der Naherfahrung Stadt, jener Erfahrung, die auf der Straße und nicht im Helikopter durchlebt wird. Meuten können damit nicht beschrieben werden, sondern als Intensität, vielleicht könnte man auch sagen, als Atmosphäre erfasst werden. Sie können Gegenstand der Wacquantschen konkreten Wissenschaft sein, ihr Erleben entspricht der Erfahrung des Boxens. „Daher gibt es bei jeder Mannigfaltigkeit einen Rand, der keineswegs ein Zentrum ist, sondern eine umrandende Linie oder die äußerste Dimension, von der aus man die anderen ermessen kann, also all jene, die in einem bestimmten Moment die Meute bilden (außerhalb dessen würde die Mannigfaltigkeit ihr Wesen verändern).“414

412 Vgl.: Ibid., 330. 413 Ibid., 334. 414 Ibid.

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Im Werden „Ein Genie ist derjenige, der aus aller Welt ein Werden machen kann […]“415 Das Genie oder die dem Staat Gegenüberstehende ist im Werden, das Werden ist Krieg gegen den Staat, der selbst den Krieg, das Werden, um seines Friedens willen, um der Stabilität willen bekämpft. Der Krieg darf in diesem Zusammenhang nicht als Naturzustand, als vor den Zeiten der Organisation übliche ,Kommunikationsform‘ gedacht werden, sondern muss als „[…] der Modus eines Gesellschaftszustandes […]“416 gesehen werden, der sich gegen die herrschende Ordnung auflehnt. Die Kriegsmaschine ist eine Erfindung der Nomaden. Die Nomaden sind nach Deleuze und Guattari nicht jene, die sich beständig bewegen, sondern jene, die ihr Milieu nicht verlassen, die Nomaden gehen nicht fort, wollen nicht fort und wandern aus eben diesem Grund, um ihre Lebensumstände zu erhalten. Sie ziehen durch die Wüste, durch einen glatten Raum, wo sie ihren Lebensentwurf verwirklichen, wie Deleuze und Guattari schreiben. Der Staat bringt im Gegensatz zur Wüste den gekerbten Raum, er verhindert es, die eigenen Rhythmen zu leben.417 „In diesem Sinne ist der Staat unaufhörlich damit beschäftigt, die Bewegung aufzulösen, wieder zusammenzusetzen und zu transformieren oder die Geschwindigkeit zu regulieren. Der Staat als Straßenmeister, Konverter oder Autobahnkreuz […].“418

Der Staat entspricht der Geschichte, das Nomadentum der Geographie. Der Staat und damit die Geschichte haben ihr Gegenüber besiegt, so Deleuze und Guattari. Wovon sie sprechen in ihren Reflexionen zur Kriegsmaschine, zum Nomadentum, ist damit der Aufstand des unterworfenen Lebens. Wie kann diese Rebellion aussehen? Wie arbeitet die Kriegsmaschine der Nomaden. Diese Waffe will nicht zerstören, sondern generieren, sie schafft glatten Raum durch das Verwischen der Geschichten. Die Kriegsmaschine will nicht eigentlich Krieg führen, sondern als zielloses Werden klare Oppositionen auflösen. Zum Krieg

415 Ibid., 273. 416 Ibid., 490. 417 Vgl.: Ibid., 522-24. 418 Ibid., 532.

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führt die Kriegsmaschine nur, wenn Apparate, wie der Staat, sie sich aneignen, ihr ein klares Ziel verleihen, „[…] die postfaschistische Gestalt ist die einer Kriegsmaschine, die direkt den Frieden zum Ziel hat, und zwar den Frieden als Terror oder Überleben.“419 Mit dem Sieg der Geschichte ist auch eine bestimmte Art des Erlernens von Leben gesichert, die Formung von Individuen nach aus scheinbar Belegtem gewonnenen Richtlinien, ein Korrigieren zur Einzelnen. Dieses Zurichten basiert auf Unterscheidungen und Entscheidungen. Eine andere Form des Lernens, des sich Verwandelns ist die Nachahmung. „Nachahmung ist die Ausbreitung einer Strömung; der Gegensatz ist die Binarisierung von Strömungen; die Erfindung ist eine Vereinigung oder Verbindung von unterschiedlichen Strömungen.“420 Strömungen sind Überzeugungen und Begehren, sie vermischen sich im glatten Raum, formen im Aktuellen Neues, zerlegen die Geschichten. Das Werden gibt es nur als ein minoritäres Werden. Werden gibt es nur für Potentiale, die dem Konstanten auf den Pelz rücken, dieses in Frage stellen, um selbst werden zu können. Die rebellierenden Potentiale fordern Raum – sie gehen aus dem Gegebenen hervor, können ihm aber auch vorgängig sein, die im Werden begriffenen Potentiale stehen einer Macht gegenüber, deren Teil sie dennoch sind oder waren, die zur Herrschaft geworden ist –, um sich auf das Feste zurückzuwenden, um es selbst zum Minoritär-Werden zu bringen. Deleuze und Guattari nennen beispielsweise minoritäre Sprachen als ein solches Potential, diese reißen in ihrer Rede die Hochsprachen mit sich, rauben Stabilität, „[…] sie sind nicht nur einfach Unter-Sprachen, Idiolekte oder Dialekte, sondern Potentiale, die die Hochsprache mit all ihren Dimensionen und Elementen zu einem Minoritär-Werden bringen.“421 Minoritär sein bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, zu einer Gruppe zu gehören, deren Anzahl an Mitgliedern im Vergleich zu einer anderen Gruppe geringer ist, sondern in einem speziellen Verhältnis zum machthabenden Apparat zu leben. In diesem Sinne argumentieren Deleuze und Guattari auch, dass der Kampf der Frauen nicht nur darum gehen kann, mehr Rechte zu erlangen, den Status zu verbessern, sondern auch bedeuten muss, zu hinterfragen, worauf die-

419 Ibid., 582. 420 Ibid., 298-99. 421 Ibid., 148.

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ser Status erst beruht, ein minoritäres Werden einzuleiten.422 In den Wörtern der Wissenschaft oder des Universitätsbetriebs könnte man diesen Umstand vielleicht in Bezug auf die Philosophie und ihren Kanon noch einmal anders ausformulieren. Es kann, mit Deleuze und Guattari gedacht, nicht die Lösung sein, ausgeschlossene DenkerInnen zu reintegrieren zu versuchen, ihnen einen Platz in den heiligen Hallen sicher zu stellen, sondern die Idee des Kanons, selbst wenn er sich in jeder Nische des Denkens, im Schreiben von Texten beständig erneuert, selbst aufs Spiel zu setzen. Kurz gesagt, vielleicht ist es fast die einzige Möglichkeit, kanonische Literatur nicht nicht zu lesen, sondern sie minoritär werden zu lassen, sie ihres Status zu berauben, indem dieser in einem ersten Schritt einfach ignoriert wird, um die dann exkanonische Literatur in einem zweiten Schritt mit allem anderen gleichzeitig auf der beständigen Suche nach neuem zu diskutieren. „Das minoritäre Werden als universelle Gestalt des Bewußtseins heißt Autonomie. […] Man erfindet vielmehr ein unvorhersehbares spezifisches autonomes Werden, indem man viele minoritäre Elemente benutzt und verbindet.“423

Das Transportmittel, der gesellschaftliche Klebstoff „Der Plan ist kein Organisationsprinzip, sondern ein Transportmittel.“424 So Deleuze und Guattari. Eine Gruppe Menschen ist nicht auf einen Stoff, auf das Soziale zusammenzufassen, sondern entsteht in ihrer Verstrickung mit den Dingen, die sie zur Ausführung verschiedener Projekte benötigt, argumentiert Bruno Latour. Er möchte eine Soziologie wieder denken, die nicht das bereits Gegebene erfasst und damit festlegt, die nicht im Zuge dessen ausschließliche Formen hervorbringt, die nicht keinen Handlungsraum für die Beschriebenen läßt, die nicht durch eben diese Art des Forschens kreative Verknüpfungen mit der Welt verunmöglicht. Latour geht auf die Suche nach einer Soziologie, die an Bedeutung verloren hat, deren Kraft es war, zu versammeln.425 Latour geht es um die Befreiung der AkteurInnen – es

422 Vgl.: Ibid., 286. 423 Ibid., 148. 424 Ibid., 365. 425 Vgl.: Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2007), 23-28.

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handelt sich dabei um Menschen und Dinge, die Latour ebenfalls mit Veränderungskraft begabt beschreibt. Eine Pistole provoziert Schüsse. –, die beständig im Bilden neuer Kollektive verfangen sind. Das Kollektiv ist nun ein terminologischer Vorschlag von Latour, den er einführt, um das Wort Gesellschaft zu ersetzen. „,Kollektiv‘ wird dagegen das Projekt des Versammelns neuer Entitäten bezeichnen, die noch nicht zusammengebracht worden sind und von denen es daher offenkundig ist, daß sie nicht aus sozialem Stoff bestehen.“426 Das Wort Gesellschaft, wie das Wort Natur, möchte Latour aufgeben, da diese Benennungen seiner Meinung nach vorgeben zu enthüllen, was sich hinter sozialen Phänomenen verbirgt. Und es ist eben dieses Dahinter, das Latour anzweifeln möchte, da er bereits nicht an die Existenz e i n e s Phänomens des Sozialen, an einen sozialen Stoff glaubt, sondern nur an beständiges Zusammenschließen, an beständige Übersetzungen.427 „Um dieses Ding zu bezeichnen, das weder Akteur unter anderen noch eine Kraft hinter allen Akteuren ist, die von einigen von ihnen transportiert wird, sondern eine Verknüpfung, die sozusagen Transformationen transportiert, verwenden wir das Wort Übersetzung […] Damit nimmt das Wort ,Übersetzung‘ eine spezialisierte Bedeutung an: eine Relation, die nicht Kausalität transportiert, sondern zwei Mittler dazu veranlaßt zu koexistieren.“428

Die AkteurIn, oder besser der Akteur, da der Begriff an dieser Stelle streng nach Latour verstanden sein möchte, soll demnach nicht mehr als Ursprung einer Handlung verstanden werden, sondern als Ziel eines unglaublichen Angebots, das übersetzt werden muss. Der Akteur wird selbst zum Transportmittel und schleust eigene Pläne ein, wie man anschließend an das von mir an den Anfang der Überlegungen zu Latour gestellte Textstück von Deleuze und Guattari formulieren könnte. Zur Freiheit der Akteure wird es demnach, sich gut zu verbinden, Versammlungen, Städte, werdende Kollektive zu sein.429 Latour wendet sich damit gegen eine Wissenschaft, die bereits Versammeltes beschreibt und festlegt. Gute Wissenschaft sollte nach Latour motivierend wirken, ihr kommt in der gegenwärtigen Welt die gleiche Funk-

426 Ibid., 129. 427 Vgl.: Ibid., 161. 428 Ibid., 188. 429 Vgl.: Ibid., 376.

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tion wie Esu Elegbara zu. Es wird damit zur Aufgabe, mitzuverfolgen, wie Dinge im Entstehen sind. Jede Einzelne DenkerIn kann Übersetzungen anfertigen, sich und Kollektive im Aneignen verändern, eine neue Philosophie durch andere Formen des Transportes möglich machen, eine Philosophie, die jetzt noch nicht absehbar sein darf. Damit kann die PhilosophIn zum Mitglied eines entstehenden Kollektivs werden, dessen Lebensbedingungen sich eben gerade durch den Ansturm, durch heranrückende Welten auszeichnen. Womit schlussendlich noch einmal auf Deleuze und Guattari zurückgekommen sei, die schreiben, dass keine Stadt so dermaßen eingekerbt sein kann, dass sie keine glatten Räume mehr entstehen läßt. Schon langsame oder schnelle Bewegungen können den glatten Raum eröffnen. Grund zur restlosen Freude sollte diese Erkenntnis jedoch nicht sein. Der glatte Raum alleine verspricht nur eines, die Verschiebung der Ausgangsbedingungen eines Kampfes, neue Hindernisse, Haltungen und Gegner können dort gefunden werden.430 Der glatte Raum verspricht damit noch nicht den Eintritt in ein freies und glückliches Zeitalter, sondern viel eher die Lefèbvresche kritische Phase. Für die Stadt könnte man dies in etwa so formulieren: Das Potential, das die Stadt in sich birgt, ist nicht alleinig, dass sie auch den glatten Raum erlaubt, sondern dass sie dennoch ebenso gekerbter Raum ist. Die Stadt kann damit niemals zu einem Ort der Freiheit schlechthin werden – sollte es so etwas geben. In der Stadt kann Freiheit nicht ohne nähere Bestimmung erlebt werden, sie bietet Punkte zur Opposition, sie erlaubt es, gebaute und gesammelte Geschichte in der indirekten Rede verschwimmen und verschwinden zu lassen. Man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht so sprechen: Mannigfaltigkeit braucht etwas Konkretes, um sich zu manifestieren, oder vielleicht besser formuliert, um wirklich zu werden. „Gerade darin liegt der exemplarische Wert der indirekten Rede und vor allem der ,freien‘ indirekten Rede: es gibt keine fest umrissenen Konturen, und vor allem gibt es keine Einführung von unterschiedlich individuierten Aussagen, keinen Zusammenschluß von verschiedenen Subjekten der Äußerung, sondern ein kollektives Gefüge, das in seiner Konsequenz die jeweiligen Prozesse der

430 Vgl.: Deleuze and Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, 693.

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Subjektivierung, die Zuweisungen von Individualität und ihre wechselnde Verteilung in der Rede oder im Diskurs determiniert.“431

Die Stadt ist ein Ort der Verwandlung, nicht einer der Freiheit ohne Widerstand. Zu Beginn dieses Texts habe ich den Unterschied zwischen Staat und Stadt auch eben so ausformuliert, der Staat – oder ihm vergleichbare Instutionen, auch von größerer Dimension – setzt per Gesetz, er benötigt kein Werden, die Stadt ist durch eine Trägheit des Realen bestimmt und ist damit beständiges Werden. Erst im Verwandeln entsteht eine Stadt, nicht durch ihre Gründung per Dokument. „Muß man dasselbe nicht auch von der Stadt sagen? Im Gegensatz zum Meer ist sie der eingekerbte Raum par excellence. Aber ebenso wie beim Meer ist es der glatte Raum, der sich grundsätzlich einkerben läßt, wobei die Stadt die Einkerbungskraft ist, die überall, auf dem Boden und in den anderen Elementen, den glatten Raum zurückgibt, wieder einführt – und zwar außerhalb ihrer selbst, aber auch innerhalb. Es gehen also glatte Räume von der Stadt aus, die nicht mehr nur die weltweiter Organisationen sind, sondern die eines Gegenschlags, der das Glatte und das Durchlöcherte kombiniert und sich gegen die Stadt zurückwendet: gewaltige, kurzlebige Elendsviertel, Nomaden und Höhlenbewohner, Metall- und Stoffreste, Patchwork, die nicht einmal mehr für die Einkerbungen des Geldes, der Arbeit oder des Wohnungsbaus interessant sind. Ein explosives Elend, das die Stadt ausscheidet und das der mathematischen Formel von Thom entspricht: ,eine retroaktive Glättung‘. Eine geballte Kraft, das Potential für einen Gegenschlag?“432

431 Ibid., 112. 432 Ibid., 667.

Teil III: Stadt denken. Die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter

Stadt denken. Die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter

In Teil 1 wurde die Verflechtung von Freiheit und Wissen anhand von geschichtlich interessierten Texten aufgezeigt. Mit Max Weber wurde eine Definition der Stadt präsentiert, die die Stadt als Ort eines in Handel verstrickten und im Stadtverband zusammengeschlossenen Bürgertums festlegt. Weber beschreibt die Stadtverbände als Möglichkeit, eine Form von Demokratie zu leben. Mit Immanuel Wallerstein wurde eine Kritik dieser auch starren Definition von Stadt vorgenommen. Wallersteins Weltsystemtheorie erlaubt der Geschichte, in neuer Form zu erscheinen. Wallerstein richtet seine Theorie auf den Moment der Krise aus, einen Moment der Freiheit und Gefahr. Er bindet Wissen an einen bestimmten theoretischen Rahmen, der immer politische Implikationen enthält. Freiheit liegt für Wallerstein in der Möglichkeit, die Geschichte so zu erzählen, dass sie erlaubt, in der Gegenwart Handlungen zu setzen. Die Stadt kann mit Wallerstein als der Raum beschrieben werden, der sich öffnet zum Zeitpunkt der Krise, sowie als der Raum, der neben den Herrschaftsstrukturen einer Zeit besteht, eine Alternative bildet. In jedem Fall kann von Städten mit Wallerstein immer nur von in einem System – konkret im historischen Kapitalismus – verankerten gesprochen werden. Foucault beendet den Abschnitt mit der Forderung einer neuen Lebenshaltung, die sich beständig mit ihrer Umgebung und der Reflektierenden selbst auseinandersetzt. Diese kritische Lebenshaltung erlaubt es, ein anderes Wissen von der Stadt zu gewinnen, das sich ins Spiel der Mächte einzubringen vermag. Wie von Beginn an festgehalten wurde, kann die Stadt nicht als Ganze beschrieben werden, es gibt keinen privilegierten Blick der Er-

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kenntnis. In der Produktion von Wissen über die Stadt – was auch immer bedeutet, in der Produktion von Wissen in der Stadt, in Abhängigkeit von der Stadt – liegt damit befreiendes Potential. Es ist das Erfinden neuer Lebensformen und Wissenschaften, das erlaubt zu versammeln, nicht bedrohliche, sondern produktive Dichte zu erzeugen. Thema des zweiten Teils waren Untersuchungen von bestimmtem städtischen Material, von Momenten großer Dichte. Anhand des Beispiels Autobomben wurde aufgezeigt, wie unkontrollierte Bedrohung das Vertrauen in gewohnte Strukturen erschüttert, die Menschen weltlos zurücklässt, ihnen den Tisch entzieht, der sie verbindet, wie mit Arendt argumentiert wurde. In der Situation beständiger Bedrohung ist Dichte Angst machend, trägt sie zum Misstrauen in die einen umgebende Stadt bei, befördert sie den Wunsch nach totalitären Welterklärungsmustern. Anhand der Untersuchung eines Boxclubs in Chicago wurde gezeigt, dass es diese bestimmte, thematisch gebundene Gemeinschaft erlaubt, neue Rahmen, Welten, Alltagsstrukturen zu schaffen, die nicht vom generellen Ausschluss einer bestimmten Sorte Mensch leben wie beispielsweise die antike Polis. Potentiell ist jede berechtigt, die Praxis des Boxens aufzunehmen, sich in der Boxhalle zu beweisen, um Teil einer Erzählung zu werden, neue Sicherheiten zu erlangen. In der Untersuchung der Kreuzung Ojuelegba in Lagos tritt zutage, dass selbst scheinbar völlig ungeordnete Situationen gewisser Richtlinien bedürfen. Es ist erneut Foucaults kritische Lebenshaltung, die uns an dieser Stelle begegnet, ein beständiges Reflektieren, das es den die Kreuzung Besuchenden erlaubt, sich im unübersichtlichen Gedränge zu orientieren. Es ist eine bestimmte Form von Vertrauen, die es ermöglicht, Ojuelegba zu meistern, das an Esu, eine gewitzte Figur der Yoruba, gebunden ist. Diese Figur habe ich als mächtige LehrerIn interpretiert, die die Menschen dazu anzuhalten vermag, situationssensibel zu entscheiden, die sie in ständige Verwirrung stürzt, um ihr Denken zu nähren. Esu trägt Sorge um die Menschen, nimmt ihnen jedoch keinen ihrer Wege ab. Mit Kwasi Wiredu wurden im Anschluss die Möglichkeiten beschrieben, die ein solcher utilitaristischer Glaube erlaubt, ein Glaube, der sich immer an dem orientiert, das gerade als sinnvoll erscheint zu glauben. Ojuelegba, so wurde argumentiert, muss für unsere Gegenwart interessant werden, da es einen funktionierenden Erinnerungsort, im Sinne von Maurice Halbwachs, bietet, um mit den neuen Unsicherheiten, mit Wallersteins Moment der Krise, unserer Gegenwart umzugehen.

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Schlussendlich muss nun zum Ende gekommen werden. Am Schluss möchte ich mich den Konsequenzen des Erarbeiteten widmen, sowie festhalten, dass es die Stadt, wie sie beschrieben wurde, erst geben kann, wenn immer mehr Menschen den Mut dazu finden, ihrer Umgebung gewaltfrei zu begegnen. Foucaults Kritik, als das konkrete Überschreiten von allgemeinen Grenzen, darf nicht zur Zerstörung des jeweils begegnenden Widerstandes führen.

Schluss

„Aus dem Kampfgebiet waren sie heraus, und sofort waren die Straßen belebt von Fußgängern, die sich nach anderen Bedingungen bewegten. Laschen staunte oft über diese Grenze, die ihm unverständlich blieb. Es war ein Erstaunen, das ihn an früher erinnerte, als zwischen Stadt und Land ein allmählicher Verlauf war, aber auch ein Moment der Eindeutigkeit, wenn er rufen konnte, hier! Hier hört die Stadt auf, hier fängt sie an.“1

Nicolas Born läßt seine Hauptfigur Laschen, einen Reporter – in dem Roman „Die Fälschung“, der sich mit den Problemen der Berichterstattung aus einem Kriegsgebiet auseinandersetzt, der Beirut im Krieg beschreibt – diese Zeilen gedanklich aussprechen. Für Laschen werden die Übergänge in der Stadt an der Bewegung der Menschen ablesbar, er überschreitet Grenzen, die er als solche nicht verstehen, nicht bezeichnen kann, von denen er aber dennoch zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Sicherheit weiß, sie passiert zu haben. Der Krieg scheint der Stadt eine gewisse Art der Eindeutigkeit zurückgegeben zu haben, die sie in Laschens deutscher Heimat bereits verloren hat. Dennoch, wie die Stadt, so wird auch der Krieg von Born als umfassend beschrieben, scheint es Laschen, als hätte er den Kampfplatz verlassen, so doch nur zu dem Preis, die Ohren zu verschließen. „[…] Schüsse, die sie nicht wenigstens hörten, richteten nichts an, waren nicht einmal abgegeben worden. Das war wichtig, wenn man ruhig essen und zusammenbleiben wollte.“2 Und eben dies möchte Laschen, zusammen-

1

Nicolas Born, Die Fälschung (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 2002), 117.

2

Ibid., 78-79.

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bleiben mit dieser Frau aus dem Krieg, die er liebt und verliert. Born beschreibt in seinem Buch das Schwimmen eines Menschen im Chaos, nicht nur seiner Gefühle, sondern auch der eigenen Wahrnehmung. „Er rannte weg, schreiend, hörte sich aber nicht schreien, fühlte es nur als eine stumme, verkapselte Lust zu schreien, und es strengte auch nicht an. Er rannte, ohne Schwierigkeiten konnte er das Tempo halten. An dem Rennen schien er selbst nicht mehr beteiligt zu sein, aber er hörte in dem Rauschen doch die eigenen Schritte. Neben sich sah er immer neue Einschläge, die jetzt jedoch immer den gleichen Abstand zu ihm hielten.“3

Der Krieg zwingt Laschen, sich immer wieder zu entscheiden. Der Krieg bringt Laschen dazu, sich zu einer Frau zu bekennen, die von diesem Zeitpunkt an das Zentrum all seiner Entscheidungen wird. Laschen überwindet in Beirut die ihn auszeichnende Gleichgültigkeit. Wozu nun aber über den Krieg sprechen, wenn das Thema doch eigentlich die Stadt ist? Weil eine Theorie, wie die meine, die die Stadt als existierende und damit in ihrer materiellen Substanz angreifbare, als dichten Raum und Kritik beschreibt, die Stadt als Kriegsschauplatz fassbar macht. Mit meiner an Michel Foucault angelehnten Definition von Kritik, die aussagt, dass Kritik das beständige Überdenken und arbeiten der eigenen Beziehungen, der zu sich selbst, der zu den Dingen und jener zu den anderen Menschen ist, lege ich eine Form des Agierens nahe, das sich von allgemein gültigen Legitimationen verabschiedet, das sein Tun auf bestimmte Beziehungen, in die es eingeflochten ist, baut. Mit Foucault habe ich davon gesprochen, dass Kritik das konkrete Überschreiten von Grenzen bedeutet, dies kann nun vieles meinen, sowie auch Deleuze und Guattaris glatter Raum zur freien Verwendung nicht nur einlädt, sondern dazu anspornt. Es sei mir erlaubt, am Anfang vom Schluss eben dies zu formulieren: Die Stadtmenschen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts den PartisanInnen vergleichbar. Sie können als irreguläre ,KämpferInnen‘ für etwas Freiheit beschrieben werden; für etwas Freiheit, durch Geld, im Sprechen, mit Hilfe von Gewalt … Eine Behauptung, die der Darlegung bedarf. Zuerst werden ein paar Zeilen zu den Partisanen nach Carl Schmitt zu erledigen sein, dessen abstoßendes Agieren in politischen Fragen an dieser Stelle nicht besprochen werden kann. Er hat eine Theorie des

3

Ibid., 58-59.

S CHLUSS | 341

Partisanen verfasst. Danach möchte ich mich dem Problem der neuen Kriegsführung, die eine urbane Kriegsführung ist, mit Eyal Weizmann zuwenden. Eine Auseinandersetzung, die aufzeigen wird, wie eng Stadt, Theorie und Krieg gegenwärtig bereits ineinander verflochten sind. Weizmann wird auch einen Ausblick darauf geben, was die Stadt werden kann, nämlich eine wirksame Waffe im Krieg, wenn sie nur als Ort der Grenzüberschreitung, nicht aber als Ort der Gewaltfreiheit gelebt wird. Am Ende soll doch noch versöhnlich geschlossen werden, mit den Aktionen der Pflanzen-Guerrillas. Was ist die Stadt? Sie kann an den Orten des Krieges bestehen, an denen sich ein Übermaß der Menschen dafür entschieden hat, in absolutem Pazifismus zu leben. Die Stadt ist die Heimat der irregulären KämpferInnen und nur so kann sie dieser Arbeit entsprechend definiert werden; als Versteck, als Landschaft, die den um sie Wissenden ein Aktionsfeld bietet. Die Stadt wurde damit in diesem Text als eine spezielle Lebensform beschrieben, die nicht mehr an Regeln orientiert ist, die zwar noch von rechtlichen Strukturen durchzogen ist, aber immer weniger von deren Anwendung spürt. Die Stadt ist die Heimat der PartisanInnen, die mit unterschiedlichsten Mitteln für verschiedene Ziele kämpfen, die Dichte zum Versteck und als Voraussetzung für die Bewerbung ihres Tuns benötigen, da es kein allgemein verwendetes Verteilungszentrum mehr gibt, Botschaften sich damit auf Nebenwegen immer neuer Art schnell verbreiten müssen. Fraglich ist nun, was ging voran, die räumliche Explosion des städtischen Raumes, eine Urbanisierung des Planeten, oder die Überlegungen, sich als irreguläre KämpferIn zu betätigen? Ich möchte mich an dieser Stelle an Mike Davis und die Autobomben zurück erinnern. Die Geschichte der Autobombe ist aufgrund ihrer Funktionalität eine Erfolgsgeschichte, hat Davis behauptet, womit argumentiert werden kann, dass es gewissen Veränderungen in der Struktur des Zusammenlebens zu verdanken ist, nicht dass sich das Partisanentum herausgebildet hat – es ist keine neue Erscheinung –, sondern dass die irregulären KämpferInnen in die Städte, zu den Menschen gekommen sind und in eben dieser Einmischung jene zur Veränderung ihres Lebensstils zwingen, zu irregulärem Leben zwingen, da kein Verlass mehr ist auf die vergangenen Sicherheiten, die Städte einmal gewährten. Kurz: Die auch vom Urban Age Project beschrie-

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bene Verwischung sämtlicher Verantwortlichkeiten durch Verarmung und die Expansion von informell organisierten dichten Räumen zwingt dazu, Konflikte direkt mit und unter den Menschen auszutragen. Es gibt keine formalen Wege oder Orte des Streitens mehr. Die SoldatInnen haben ihre Uniformen abgelegt, die irregulären KämpferInnen den Wald verlassen. Wie kommt es, dass ich Stadt gerade so darstelle? Ich beschreibe die Stadt als friedlichen Kampfplatz, weil mir diese Definition dafür geeignet erscheint, eben auch jene zum Eintreten in eine kritische Lebensführung nach Foucault, in die Lebenshaltung einer friedlichen PartisanIn zu zwingen, die bisher noch scheinbar abgesichert auf ihren Inseln im städtischen Raum zu leben vermochten. Damit jene, die zum Dasein als irreguläre KämpferInnen um das eigene Leben gezwungen sind, nicht zum gewalttätigen Angriff genötigt werden, ist es notwendig, die eigenen Rechte und Sicherheiten zu überdenken. Die Stadt muss zu einem Raum der Konfrontation, nicht des Ausschlusses werden, wenn sie friedlich bleiben soll. Die Stadt darf nicht zur Siedlung rund um einen Flugplatz werden, möchten wir den Rest der Welt nicht, wie die Regierung der USA das Hyperghetto – wie es mit Loïc Wacquant beschrieben wurde – verrotten lassen, uns damit zufrieden geben, ihn nicht mehr zu betreten. Die geforderte Lebenshaltung ist die einer BoxerIn beim Training, die Leistungen erbringt, Leistungen, die nicht benotet werden können, sondern es einem Kollektiv erlauben zu wachsen, Leistungen im sichin-Beziehung-Setzen. Oder mit Foucault: Die StadtbewohnerIn muss zur AsketIn werden, lernen, sich darauf trainieren, nicht von einem speziellen Status abhängig zu sein, nicht davon abhängig sein zu wollen.

D IE P ARTISAN I N „Der Partisan kämpft irregulär“4 schreibt Carl Schmitt, er erwartet von seinen Feinden weder Recht noch Gnade. Die PartisanIn steht der SoldatIn schon deswegen erkennbar gegenüber, weil sie keine Uniform

4

Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen (Berlin: Duncker&Humblot GmbH, 2006), 11.

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trägt, nicht zeigt, dass ihr Tun mit Legitimation der Öffentlichkeit passiert.5 Sie nutzt die Zivilkleidung als Tarnung, ihre wirksamsten Waffen sind die Heimlichkeit und das Dunkel.6 Und dennoch ist die PartisanIn von der VerbrecherIn zu unterscheiden, da sie von politischen Überzeugungen angetrieben wird.7 Was die PartisanInnen nach Schmitt auszeichnet, ist ihre gesteigerte Mobilität.8 Die PartisanIn ersteht einem neuen Aktionsraum, sie kämpft nicht am offenen Schlachtfeld, sondern fügt dem Schlachtfeld die Dimension der Tiefe hinzu. Ihre Art und Weise zu kämpfen wird von Schmitt mit der Verwendung des Unterseeboots verglichen, das es zu Beginn erlaubte, die GegnerInnen aus einem Hinterhalt, aus ihrem blinden Fleck zu überraschen. Die PartisanIn ist von Verbündeten abhängig. Eine mächtige dritte Kraft, die Geld, Waffen und Weiteres liefert, ist notwendig, jedoch nicht nur um das Kämpfen zu ermöglichen, sondern auch, um eine besondere Art der politischen Anerkennung sicher zu stellen. Die mächtige Dritte soll eine alternative Öffentlichkeit etablieren, die die Handlungen der PartisanInnen mit Legitimation auszustatten vermag.9 Und schlussendlich ist die Bevölkerung eine wichtige Verbündete, sie kann den PartisanInnen helfen, sich zu verstecken, kann sie unterstützen oder einfach leben lassen und damit ein Bild konstruieren helfen, in das die PartisanInnen sich gut einzufügen vermögen, das als solches bereits harmlos aufzutreten möglich macht.

U RBANE K RIEGSFÜHRUNG „Bereits in seiner Zeit bei der Einheit 101 war Scharon zu der Auffassung gekommen, dass es sich bei dem Konflikt mit den Palästinensern um ein urbanes Problem handelte und bei der rasch wachsenden Ausdehnung der Flüchtlingslager um etwas, was die israelische Besatzungsmacht später den ,Dschihad des Bauens‘ nannte. Die IDF versuchte, dieses Problem anzugehen, indem sie die Flüchtlingslager, die ,Behausungen des Terrors‘, physisch umformte und neu gestaltete. In den Jahren, die folgten, sollte die Landschafts- und Städteplanung

5

Vgl.: Ibid., 21.

6

Vgl.: Ibid., 42.

7

Vgl.: Ibid., 21.

8

Vgl.: Ibid., 23.

9

Vgl.: Ibid., 78.

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mit einem militarisierten Feldzug gegen den in Gaza beheimateten Widerstand verschmelzen.“10

Schreibt Eyal Weizmann in seinem Buch „Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung“. Weizmann gibt Ariel Scharon die Verantwortung für „[…] das jüngste und brutalste Kapitel in der städtebaulichen Geschichte der gitterförmig angelegten Straßenzüge […]“11. Scharon ließ breite Schneisen in die drei größten Flüchtlingslager in Gaza – Djabalia, Rafah, Schati – schlagen. Er wollte mit dieser Aktion eine Enturbanisierung der Gebiete erreichen. Weizmann beschreibt das Zurückgebliebene als eine Ansammlung von kleinen Landschaften, die leicht gegeneinander zu isolieren waren. Alle Gebäude und Plantagen um die Lager herum wurden einer umfassenden ,Sicherheitszone‘ wegen zerstört, so dass kein unbemerkter Verkehr zwischen den Lagern und dem Umland mehr stattfinden konnte. 6000 Wohnungen wurden in sieben Monaten beschädigt. Glatte Räume „Der Kampf in der Stadt und um die Stadt wurde also mit der Fähigkeit gleichgesetzt, sie zu interpretieren und neu zu interpretieren. Die Stadt war nicht mehr nur der bloße Austragungsort des Kriegs, sondern wurde zu seinem Medium und schließlich seinem Gerät.“12

Das Ziel der militärischen Angriffe sind die Städte geworden, es gilt, sie neu zu begreifen. Kriegführen wird als die Neuinterpretation von Räumen verstanden.13 Weizmanns Thema ist Israels Architektur der Besatzung, jedoch sieht er die ganze Welt in das Unternehmen der urbanen Kriegsführung verflochten. Das Westjordanland ist zu einem Versuchfeld für innerstädtische Kriegsführung geworden, so Weizmann.14 Durch Wände gehen ist eine Methode dazu.

10 Weizman, Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung, 79. 11 Ibid., 79-80. 12 Ibid., 229. 13 Vgl.: Ibid., 216. 14 Vgl.: Ibid., 204.

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„Für diejenigen, die sich vorstellen mögen, dass ,durch die Wände gehen‘ eine relativ sanfte Manöverform ist, lohnt es sich, das taktische Vorgehen der IDF genauer zu beschreiben: Die Soldaten versammeln sich an einer Wand; unter Einsatz von Sprengstoff oder eines großen Hammers brechen sie ein Loch hinein, das groß genug ist, um hindurchzugehen. Bevor sie eindringen, schießen sie manchmal Blendgranaten oder ein paar ungezielte Schüsse ins Innere – meist ein Wohnzimmer, in dem sich die ahnungslosen Bewohner aufhalten. Wenn die Soldaten die Haus- oder Wohnungswand durchschritten haben, werden die Bewohner zusammengetrieben und, nachdem man überprüft hat, ob ,Verdächtige‘ unter ihnen sind, in einem einzigen Zimmer eingeschlossen. Sie werden gezwungen, dort zu verharren – manchmal für mehrere Tage –, bis die Militäroperation abgeschlossen ist. Oft haben sie keinen Zugang zu Wasser, einer Toilette, Essen oder Medikamenten. Laut Human Rights Watch und der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem sind bei den Angriffen mehrere Dutzend palästinensische Zivilisten zu Tode gekommen.“15

Doch auch die palästinensischen GuerillakämpferInnen können durch Wände gehen. Die Kämpfe werden in Privatwohnungen ausgetragen.16 So viel scheint jedenfalls festzustehen; urbane Kriegsführung bedeutet auch Kriegsführung im privaten Bereich. Der urbane Krieg reißt nicht unbedingt die Grenzen zwischen öffentlich und privat ein, sondern verschafft sich viel eher auf ungewöhnliche Weise zutritt zum Privatbereich, wo die Planenden des Krieges hoffen, ihre SoldatInnen versteckter agieren lassen zu können. Die urbane Kriegsführung ist dadurch ausgezeichnet, dass die SoldatInnen ihre Uniform abgelegt haben, als PartisanInnen auftreten. „Grenzüberschreitungen sind die Definition des Zustandes, den man als ,Glätte‘ bezeichnet.‘“17 Durch Wände gehen ist für die Militärs lediglich eine neue Art, den Raum zu interpretieren. Man beurteilt diese Methode als eine Praktik, die dem Denken von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch „Tausend Plateaus“ folgen kann. In einem Interview erfährt Weizmann, dass es die Konzepte vom glatten und gekerbten Raum sind,

15 Ibid., 210. 16 Vgl.: Ibid., 212. 17 Ibid., 218.

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wie ich sie oben besprochen habe, die dem Militär besondere Inspiration verschaffen. Den Titel „den Raum glätten“18 erhalten Aktionen, im Zuge derer der materiellen Außenwelt keinerlei Bedeutung mehr zukommen soll. Urbane Kriegsführung ist damit streng genommen die Kriegsführung der totalen Zerstörung. Die Stadt wird nicht zum Kampfe aufgesucht, weil sie sich dafür besonders eignet, sondern weil sie gerade keinen Raum für Aktionen bietet, aber jedoch Widerstände, die überwunden werden können. Die urbane Kriegsführung findet ihren Sinn darin, Städte in glatte Räume zu verwandeln. Das städtische Angebot, sich versteckt bewegen zu können, wird genutzt, um darauf die Sicherheit der Mauern zu entfernen, um die Bevölkerung auf einem freien Feld zurückzulassen, das nach dem Einsatz, nach architektonischer Neudefinition lückenloser beherrscht werden kann. Die urbane Kriegsführung hat damit die Umwandlung der Stadt durch die Zerstörung ihrer geschichtlichen und gewachsenen Strukturen in ein Lager, wie oben beschrieben, zum Ziel. Und es ist eben dieser Wunsch, die Stadt in ihrer Ordnung, auch in ihren Hierarchien zu erschüttern, der Deleuze und Guattari, sowie andere an gesellschaftlicher Transformation interessierte TheoretikerInnen, den Militärs nahe bringt. Die einen nehmen die Stadt jedoch als einen Ort wahr, der notwendig gewaltfrei verändert werden muss, während die anderen dieses Detail aussparen und veranschaulichen, dass die Stadt als Waffe ihren eigenen Krieg nicht zu überleben vermag. Die urbane Kriegsführung beendet das urbane Zeitalter. Checkpoints In die posturbanen glatten Räume wird eine neue Art der Organisation eingeführt, scheinbar um der Sicherheit aller willen. „Der Sicherheitslogik des Checkpointsystems liegt im Übrigen die Annahme zugrunde, dass der Raum um so sicherer wird, je weniger sich die Palästinenser darin bewegen dürfen.“19

Weizmann berichtet, dass AktivistInnen von Machsom Watch festgestellt haben, dass am 6. September 2004 am Huwwara-Checkpoint,

18 Ibid., 217. 19 Ibid., 160.

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südlich von Nablus, jedem neunten männlichen Erwachsenen das Passieren verweigert wurde, am 19. September 2004 traf es alle Männer mit dem Namen Mohammed.20 Machsom Watch ist eine Gruppe von israelischen Frauen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Checkpoints zu beobachten, um Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen.21 Hinter der Fassade, die Lage für die PalästinenserInnen zu verbessern, konnte das israelische Militär, das die Bedenken der Menschenrechtsorganisationen in seine Argumentationen mit aufnahm, in direkte Zusammenarbeit mit diesen eintrat, eine Normalisierung der Besatzungssituation erreichen, so Weizmann.22 Die Macht über die Mobilität der PalästinenserInnen erlaubte es, den Zugang zu den Arbeitsplätzen zu erschweren und die palästinensische Wirtschaft zum Zusammenbruch zu bringen.23 Die Macht über die Organisation der Bewegung ist ein zeitgemäßes Herrschaftsinstrument geworden. Nach Ende der urbanen Kriegsführung soll wieder in ordentlichen Räumen gelebt werden, die kein Agieren als PartisanIn mehr erzwingen, die keine Städte mehr sind, in Räumen einer versteckten Fremdherrschaft. Die israelischen Soldaten arbeiten hinter scheinbaren Spiegeln, die nur von ihrer Seite her zu durchblicken sind, den PalästinenserInnen treten beim Passieren eines Checkpoints palästinensische Beamte entgegen. An diesen Übergängen soll keine Machtdemonstration stattfinden, sondern die Meinung bestärkt werden, dass man unter der Beobachtungen der einen lebe, es in Wirklichkeit aber die anderen sind, die die Pässe kontrollieren.24 Zumindest eine Eigenschaft der PartisanIn hat damit ihren Weg auch in eine nachurbane Ära geschafft, und zwar die Täuschung, um für den Rest der Welt ein legitimes Bild abliefern zu können. Bei all dem Beschriebenen geht es um ein konkretes Überschreiten von allgemeinen Grenzen, um ein sich Festsetzen an den Grenzen, wo man vorgibt, Schritt für Schritt für etwas mehr ,Freiheit‘ zu arbeiten. „Das internationale Recht bestimmt die Grenzen dessen, was die internationale öffentliche Meinung wahrscheinlich für ,erträglich‘ hält, doch diese Dinge las-

20 Vgl.: Ibid., 161. 21 Vgl.: Ibid., 160. 22 Vgl.: Ibid., 166. 23 Vgl.: Ibid., 171. 24 Vgl.: Ibid., 153-54.

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sen sich durch militärische Praxis dehnen. Praktiken, die von mehreren Staaten lange genug angewandt und durch die nötigen juristischen Expertisen unterstützt werden, können schließlich Recht werden. Daher besteht eine der wirksamsten Methoden, das Recht zu dehnen, darin, an seinen Rändern zu operieren. Dieser ,postmodernen‘ rechtlichen Interpretation entsprechend schafft Gewalt Recht.“25

Grenzüberschreitung muss, wenn sie im städtischen Raum passieren möchte, wenn sie im Sinne dieser Arbeit als innovative Kritik, als das Verändern eines Beziehungsgeflechts gelten möchte, immer in absoluter Gewaltfreiheit passieren. Der Grund für formulierte Kritik muss die Stadt selbst sein und nicht ihre Verabschiedung. Sich die Finger schmutzig machen „Kriege und Gärten haben einiges gemeinsam. In beiden Fällen ringst du mit fremden Kräften. Du hinterlässt Spuren in der Landschaft und machst dir dabei die Finger schmutzig.“26

Die Guerilla Gardening Bewegung verfolgt das Ziel, den „[…] Landbau über alle Grenzen hinweg“27 zu betreiben. Die Gründe für die Aktionen der GärtnerInnen müssen dabei nicht die gleichen sein. Manche pflanzen Gemüse, um sich ernähren zu können – so berichtet Richard Reynolds, der Verfasser der Anleitung zum Guerilla Gardening, von Mini-Maisfeldern auf den Mittelstreifen von stark befahrenen Straßen in Kenia28 –, andere wollen ihr Viertel mit Blumen verschönern und wieder andere möchten durch den Eingriff in die sie umgebende Landschaft den Weg für eine alternative Form des Zusammenlebens ebnen, und – natürlich – manchmal vermischen sich all diese Gründe und werden durch unzählige andere ergänzt. So kann Gärtnern beispielsweise auch als eine gesunde Ausgleichsportart für BüroarbeiterInnen betrieben werden.

25 Ibid., 291. 26 Richard Reynolds, Guerilla Gardening. Ein botanisches Manifest (Freiburg: orange press, 2009), 19. 27 Ibid. 28 Vgl.: Ibid., 26.

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„Guerilla Gardening ist: DIE UNERLAUBTE KULTIVIERUNG VON LAND, DAS JEMAND ANDEREM GEHÖRT.“29 In diesem Sinne ist es ein Gebot des Guerilla Gardenings, sich nicht unbedingt über Gesetze hinwegzusetzen, sondern sie mehr oder weniger einfach zu ignorieren. Anstatt um Genehmigungen zu kämpfen, beginnt die Guerilla GärtnerIn einfach ihre Arbeit. Eine Strategie, die, wie Reynolds meint, oftmals hilft, Konflikte zu vermeiden, die eine Aktion beenden können, bevor sie überhaupt stattgefunden hat.30 „Eine ungeklärte Eigentumsfrage ist unsere Chance.“31 Aus diesem Grund sei jede Gartenarbeitswillige dazu aufgerufen, sich ihr Grundstück gut auszusuchen. Eine der wichtigsten Eigenschaften für ein zu bearbeitendes Grundstück ist, dass es der Vernachlässigung anheim gefallen ist. Je weniger eine Fläche interessiert, desto besser stehen die Chancen, sie in einen Garten verwandeln zu können. Doch auch die FeindInnen eines Blumenbeets ruhen nie und sie sind von sehr unterschiedlicher Natur, selbst unverdächtig in ihrem Auftreten. Den Pflanzen in der Wiener U-Bahn beispielsweise erging es schlecht, es waren jedoch nicht wild gewordene Jugendliche, die sie ausrupften, sondern die Großmüttergang, die sich über sie hermachte. Reynolds berichtet: „Christian 3128 führte eine Truppe von Guerilla-Gärtnern an bei der Mission, die heute nicht mehr benutzten Aschenbecher in den Wiener U-Bahn-Stationen zu bepflanzen. Aber obwohl er die Passanten sogar auf Schildern ermunterte, die kleinen ,Phönix-Gärten‘ zu gießen, hielten die Pflanzen nicht lange. Sie waren nicht vertrocknet, ihnen fehlte auch nicht das natürliche Licht, und ebenso wenig schritt die aufmerksame österreichische Polizei ein, nein – die Pflanzen verschwanden, weil ältere Damen sie einfach mitgehen ließen.“32

Eine Guerilla GärtnerIn sollte demnach nicht viel Geld für ihr Tun ausgeben, sondern Verbündete suchen, die Pflanzen – die Waffen die-

29 Ibid., 12. 30 Vgl.: Ibid., 45. 31 Ibid., 56. 32 Ibid., 126.

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ser Guerillas – beitragen können. Ein Prinzip des Gärtnerns ist, dass alles genommen werden muss, was zu bekommen ist. Passierende sollen des Weiteren nicht nur als HelferInnen miteinbezogen werden, sondern auch mit Keksen und Gesprächen umworben werden, sie sollen zum Weitertragen der Botschaft animiert werden. Bei ihren Aktionen sollten GärtnerInnen sich dennoch tarnen, um nicht den GesetzeshüterInnen – die nur dann gefährlich sein können, wenn sie keinen Sinn für die Tätigkeit der GärtnerInnen haben – aufzufallen. Reynolds rät zu einem sportlich freizeitlichen Auftreten oder der Verkleidung als offizielle StadtarbeiterIn.33 Das Gärtnern ist mit einem Werbeeffekt verbunden. Die Aktionen sind auch aus eben diesem Grund erfolgreich, weil sie wunderschöne Gärten zurücklassen, die für sich selbst sprechen. Wichtigstes Gebot ist für jede Guerilla-GärtnerIn, ihre Umwelt darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei der geleisteten Gartenarbeit nicht um eine private Aneignung von Fläche handelt, sondern um die Erschaffung eines duftenden Freiraums für alle, die sich daran beteiligen, daran weiterarbeiten möchten. „Wir wollen unseren Lebensraum selber gestalten und über die Blumen mit anderen Menschen kommunizieren.“34 Reynolds sieht auch sein Buch als Propaganda. Bücher über die Stadt haben folglich die Aufgabe, sichtbar zu machen, eben das sprachlich nach außen zu tragen, was ansonsten vielleicht übersehen werden würde. Thema dieses Buches war es zu überlegen, inwieweit Kritik, eine Aufklärung, wie die mit Michel Foucault beschriebene, das konkrete Überschreiten von allgemeinen Grenzen passieren könnte. Es ist dabei um ein Überschreiten von Grenzen gegangen, das oftmals sehr klein auftritt, nicht öffentlich diskutiert wird, weil es situationsgebunden ist, weil es immer nur an bestimmten Zeitpunkten funktionieren kann, weil es ein kriminelles Denken und Tun ist. Zumindest ein Grundsatz scheint mir schlussendlich nun leicht am Ende dieses langen Texts stehen zu können. Ein Grundsatz, der gekonnt ausdrückt, welche Chance uns gerade die expandierende Stadt im 21. Jahrhundert als alternativer, neben den formellen Formen der Mitbestimmung liegender Raum der Einmischung erlaubt zu ergreifen. Reynolds schreibt: „Spiel die langfristigen Folgen deiner Aktivitäten

33 Vgl.: Ibid., 106-14. 34 Ibid., 38.

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herunter, zumindest am Anfang. Wenn du eine Revolution anzetteln möchtest, müssen die Behörden das ja nicht gleich wissen.“35

35 Ibid., 160.

Literatur

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Urban Studies Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.) Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure – Strategien – Strukturen September 2011, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1752-8

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Stefan Kurath Stadtlandschaften Entwerfen Grenzen und Chancen der Stadtplanung im Spiegel der städtebaulichen Praxis

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