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German Pages 330 Year 2016
Christopher Dell Epistemologie der Stadt
Urban Studies
Christopher Dell (Dr. habil.) lehrte Architekturtheorie u.a. an der Universität der Künste Berlin und der Architectural Association, London. Er lehrt als Professor für Urbane Wissensformen, Organisationstheorie und relationale Praxis am Lehr- und Forschungsbereich Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg. Dell ist Gründer und Leiter des ifit, Institut für Improvisationstechnologie, Berlin.
Christopher Dell
Epistemologie der Stadt Improvisatorische Praxis und gestalterische Diagrammatik im urbanen Kontext
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans Sauer Stiftung.
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Inhalt
Intro I | 9 Intro II. Epistemologie der Stadt | 13
1.1 1.2 1.3
Drei Filter | 31 Wissensformen der Ermöglichung und die epistemischen Handlungszusammenhänge der Stadt | 31 Gestalterische Diagrammatik | 45 Improvisation als Technologie. Wie Raumproduktion und offene Form zusammenzudenken sind | 58
2.
Epistemische Strukturen der Performanz | 73
2.1 2.2 2.3 2.4
Perspektiven auf Performanz | 73 Epistemische Performanz 1: Künstlerisches Forschen? | 121 Epistemische Performanz 2: Wissen als Gestaltung? | 134 Metaschaltung/Remix: Improvisierende Stadtforschung | 201
1.
3.
Diagrammatik, Redesign und Improvisation | 219
3.1 3.2 3.3 3.4
Diagrammatik | 219 Metaschaltung/Remix | 247 Performative Strategie | 251 Gestalterische Diagrammatik zwischen Improvisation und Redesign | 268
4.
Metaschaltung/Remix: Form-machen und Verschalten | 283
Literaturverzeichnis | 315 Abbildungsverzeichnis | 327
Weil wir begonnen haben, auf andere Weise Stadt zu machen, brauchen wir neue Weisen, uns in diesem Machen zu orientieren.
»more and more we are not looking at our clients as people we service, but also look at them as domains and experiences, from which we can learn and from where we can extract knowledge that we then can consolidate in different forms.«1 Rem Koolhaas
1 | Koolhaas, Rem: »OMA*AMO; What Architecture Can Do?« Vortrag, gehalten an der Lee Kuan Yew School of Public Policy, 2009 www.youtube.com/watch?v=UViIVN6pCJ0 (Zugriff: 12.04.2014).
Intro I
Dieses Buch entstand vor dem Hintergrund einer langjährigen disziplinübergreifenden Forschungsarbeit zum Thema Stadt. Sie vollzog sich zunächst vor allem in den Diskursen am von Bernd Kniess initiierten und geleiteten Masterstudiengang Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg. Ihre wissenstheoretische Vertiefung erfolgte später in den Gesprächen und Diskussionen am von Renate Girmes initiierten und geleiteten Masterstudiengang cultural engineering an der Universität Magdeburg. Wichtige Inspirationen kamen außerdem von der Mitarbeit an Fachbereichen des Städtebaus und der Architektur an der Universität der Künste Berlin (bei Susanne Hauser) und der Technischen Universität München (bei Sophie Wolfrum). Verfasst als kulturwissenschaftliche Arbeit im Studiengang cultural engineering an der Universität Magdeburg (bei Renate Girmes und unter gutachterlicher Begleitung durch Gudrun Goes und Thomas Düllo) stellt das Buch generell den Versuch dar, auf der Grundlage des Begriffs »Wissensformen der Ermöglichung« die Epistemologie einer diagrammatisch orientierten Forschung zur Stadt zu entwerfen. Die Thematik, dass eine solche Arbeit grundsätzliche Fragen zur Wissensgenese, zum Wissensgebrauch und zur Wissensdarstellung berührt, bildet die Leitlinie des Buches. Es rechnet dabei mit der Tatsache, dass die Frage nach der Stadt heute zumeist in Kategorien diskutiert wird, die die Stadt als das Produkt alltäglicher sozio-materialer Praktiken begreifen. Womit wir es bei der Stadt zu tun haben, ist ein Prozess permanenter heterogener Formierung, in dem Stadträumlichkeit aus »Austausch zwischem Gebauten, Geplantem, Gesehenen, Begangenem und in Eingriffen der Behörden, der Wirtschaft und der Städterinnen und Städter«1 besteht. Das gilt unabhängig von einem jeweiligen disziplinären Stadtforschungshintergrund wie etwa historische Stadtforschung, Stadtgeographie, Stadtsoziologie, Stadtethnographie
1 | Krasny/Nierhaus (Hg.) Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie. Berlin 2008, S. 7. vgl. auch Geschke, Sandra: Doing Urban Space. Bielefeld 2013
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oder Urban Design Forschung.2 Wo aber die Notations-, Lektüre- und Interventionsakte, die Stadtforschung zur Vergegenwärtigung dieses Prozesses in Gang setzt, unterschiedlichste Interventions- und Darstellungsweisen hervorbringen, so konstituieren sie die ihnen jeweils eigenen Formen des Wissens. Der elementare Punkt besteht nun darin, dass diese »urbanen« Wissensformen nach einer epistemologischen Wende verlangen. Einst hatte Henri Lefebvre an der Produktwerdung des Raums den Topos der Raumproduktion für die Stadtforschung gehoben. Jetzt kommt es darauf an, Praktiken und Repräsentationsräume des Stadtforschens so auszurichten, dass sie den Prozess und die Prozessualität der Raumproduktion nicht wieder hinter dem Produkt verschwinden lassen. Die gesamten Anstrengungen sind dieser Wendung des Stadtbezugs gewidmet. Im Ganzen betreten diese damit das Intervall zwischen Darstellungs- und Handlungstheorie. Beide werden auf eine Lücke verwiesen, der der Wechsel vom Produkt zum Prozess bereits immanent ist. Das bedeutet, jene Unbestimmtheit anzuerkennen, die das Urbane in seiner Relationalität allererst als Handlungs- und Verweiszusammenhang denken lässt. Die strukturelle Verbindung zwischen Handlung und Darstellung wird so zunächst vom Performativen her erschlossen, um sie anschließend in Aspekten der Improvisationstechnologie und der gestalterischen Diagrammatik gleichermaßen zu aktualisieren. Grundsätzlich präsentiert sich diese Schrift als Metastudie. Der Verfasser konzentriert sich auf das Verfahren und verzichtet weitestgehend auf empirische Fälle. Er geht davon aus, wesentliche Fälle der performativen Architektur der 1960er Jahre in dem Buch ReplayCity3, Beispiele der diagrammatischen Darstellung in Stadt als offene Partitur4, Thematiken der Geschichte des Städtebaus in Ware:Wohnen!5 und – als Herausgeber gemeinsam mit dem Architekten und Städtebauer Bernd Kniess – Forschungsmethoden am Beispiel des Masterstudiengangs Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg (insbesondere mit Schwerpunkt auf das fünfjährige Lehr- und Forschungsprojekt Universität der Nachbarschaften) in der Studie Tom paints the Fence6 ausreichend dargelegt zu haben. In Fragen der Deutung des Städtischen und deren Sprachkrise bezieht sich der Verfasser auf die grundlegende Studie Das Urba-
2 | Vgl. Flade, Antje (Hg.): Stadt und Gesellschaft im Fokus aktueller Stadtforschung. Wiesbaden 2015. 3 | Dell, Christopher: ReplayCity. Berlin 2011. 4 | Dell, Christopher: Stadt als offene Partitur. Zürich 2016. 5 | Dell, Christopher: Ware:Wohnen! Berlin 2013. 6 | Kniess/Dell (Hg.): Tom paints the Fence. Leipzig 2016 (Im Erscheinen).
Intro I
ne7, während das basale Konzept der Improvisationstechnologie dem Buch Die improvisierende Organisation8 entstammt. Zur Kapitel-Struktur des Buches: Der erste Abschnitt formuliert prinzipielle Begriffsklärungen zur Untersuchung. Er weist den Begriffen des Urbanen, der Gestaltung von Prozessen, der gestalterischen Diagrammatik, den Wissensformen der Ermöglichung und der technologischen Improvisation im aktuellen Diskurs der Stadtforschung einen Ort zu. LeserInnen mit wenig Zeit können hier einen Überblick über die Kernpunkte des gesamten Themenfelds gewinnen. Mit dem zweiten Kapitel heben dann das Einzoomen und die Detailarbeit an. Während es sein Augenmerk auf die epistemischen Strukturen der Performanz richtet, teilt sich das Kapitel in zwei Bereiche. Der erste Bereich behandelt grundlegende Fragen zum Begriff der Performanz. Der zweite fokussiert auf die Verschaltung von Performanz und Wissen, so wie sie in der künstlerischen Forschung, in der Diskussion um das implizite Wissen und besonders in der Auseinandersetzung um Wissen als Gestaltungsform etabliert wurde. Am Ende spinnt das Kapitel den Faden mit Überlegungen zur differentiellen Arbeit an Darstellungsspuren weiter. Die sich daraus ergebende Frage nach der Bestimmung der Diagrammatik ist das Thema des vierten Kapitels, um im Anschluss eine Erörterung einer Politik der performativen Strategie zu entwickeln. Dem folgt eine konzeptionelle Verortung gestalterischer Diagrammatik im Spannungsfeld zwischen Improvisation und Redesign. Wie diese Ausführungen Fragen des Form-Machens, des Verschaltens und der improvisationalen Perspektive umfassen, behandelt das fünfte Kapitel. Es schließt die Schrift mit einem Ausblick auf Wissensformen der Ermöglichung für die Stadtforschung ab.
7 | Dell, Christopher: Das Urbane. Berlin 2014. 8 | Dell, Christopher: Die improvisierende Organisation. Bielefeld 2012.
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Im Jahr 2004 kam ein diagrammatisches Maximum heraus; es entstammte einer von Rem Koolhaas gemeinsam mit seinem Büro OMA/ AMO kuratierten Ausstellung und verriet die Neigung, nicht nur den gewöhnlichen Rahmen eines Ausstellungskatalogs zu sprengen, mehr noch trieb es das ›kataloghafte‹ Arbeiten als spezifischen Modus der Stadtforschung voran. Zusammengesetzt aus einer virtuos gelayouteten Flut zerhexelter Motive, zeigte bereits das Cover des Buches content – von dem hier die Rede ist – die Richtung an. Innerhalb der trashigen Photomontage posieren zusammen-gepastete cut-outs von George Bush (der eine Mc-Donalds Mütze gefüllt mit Pommes Frites trägt), Joschka Fischer als Superman und Sadam Hussein als Drag-Conan vor dem ikonographischen Panorama des CCTV-Gebäudes, dem Hauptsitz des Chinesischen Zentral-Fernsehens (eines der berühmtesten Gebäude von Koolhaas). Und wenn content auf seiner Rückseite eine Anzeige für den VW Phoeton inszeniert, lässt sich der Katalog für einen Autokonzern instrumentalisieren, um im gleichen Augenblick die Anzeige selbst von ihrem Gebrauch als Verkaufsvehikel und damit von ihrer ursprünglichen Semantik freizustellen. Diesem forcierten Mehr des Shoppings entspricht ein reflexiv gewordenes Objekt der Stadtforschung, das dem widersprüchlichen Charakter des Changierens zwischen Buch und Magazin fremd und distanziert begegnet. Dessen Logik eines kruden Mix von wissenschaftlicher Arbeit, Werkvortrag und Billboard ist dort zu ihrer Konsequenz gebracht, wo die Innenseiten mit kommerziellen Anzeigen von Prada und Gucci anheben, im nächsten Moment zum happy viewing einladen, während im Anschluss eine Annonce des Taschen-Verlags die Leser1 für die OMA-eigenen Publikationen Project on the City 1-3 gewinnen will. Ganz im Design einer Modezeitschrift daherkommend feuert content einen overload an Material ab, der die Leser zum Browsen, Sampeln und Zusammenlesen geradezu zu zwingen scheint. Weit davon entfernt, methodologisch nachlässig zu sein, zieht das Buch in die Materialflutung sehr wohl strukturelle Linien ein, beispielsweise macht es Form dort strukturell, wo es die schritt1 | Wenn ich mich der männlichen Form bediene, ist die weibliche immer mitgemeint.
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Epistemologie der Stadt
weise Veränderung baulicher Typologien und deren strategischer Ausrichtung nachzeichnet. Variabel und experimentell formalisiert werden die so entstandenen typologischen Strukturen architektonischen Entwerfens für weitere Arbeiten anschlussfähig gemacht. Sie empfehlen sich auch heute noch zum Wiederverwenden als Kopieren, Zitieren oder Iterieren. Besonders der – nicht ohne ironisches Augenzwinkern – als »Patent Office« betitelte Beitrag sticht hier heraus. Inszeniert in Form einer Serie von Universal Modernization Patents demonstriert Koolhaas an ihnen sein best of an Entwurfsstrategien. Das wohl prägnanteste Beispiel liefert der 1982 am Park de la Villette entwickelte social condenser. Anders als das Gewinnerprojekt von Bernard Tschumi hatte Koolhaas für das Projekt auf gängige Architekturelemente verzichtet und stattdessen das zu beplanende Gebiet in Streifen unterschiedlicher Handlungsräume aufgeteilt. Man wagt nicht zu viel, wenn man behauptet, dass man es bei dem Entwurf weniger mit einer Architekturzeichnung denn mit einer diagrammatischen Partitur zu tun hat, die die dynamische Koexistenz von Handlungen in einer urbanen Situation und deren gegenseitige Stimulation, eine Kettenreaktion unerwarteter Ereignisse stimulierend, orchestriert. Der ominöse Begriff social condenser bezeichnet hierbei die berühmte für den Entwurf des Park de la Villette kreierte Methode des programmatischen Überlagerns von Aktivitäten auf einem Terrain, die die topologische Struktur eines Wolkenkratzers vom vertikalen Hochbau in die horizontale Fläche projiziert. Ein weiteres »Patent« bringt Koolhaas mit der strategy of the void in Umlauf. Sie stellt eine Methode zur Stadtplanung vor, die anhand der Manipulation des Ungebauten und Weggelassenen eine Umdrehung des Figur-Grund-Verhältnisses propagiert, wie sie 1987 in dem Projekt Ville Nouvelle in Melun Sénart zur Anwendung kam. Epistemologisch rückt der Titel Universal Modernization Patents das Ereignis des Neuen retroaktiv als eine universelle Singularität ein, eine Singularität, die die gegebenen Konturen der in Frage stehenden Allgemeinheit des Architektonischen mit einem großen A sprengt und für einen radikalen Inhalt öffnet. Den Prozess vergangener Projekte als Werden zu lesen bedeutet hier, das strategische Vorgehen herauszudestillieren – was nichts anderes heißt, als das in ihnen enthaltene virtuelle Potential zu registrieren. Universell meint dann den strukturellen Modus als Impuls oder Moment einer immer neu sich in neue Wirklichkeiten einschreiben könnende virtuelle Potentialität, die stets vorhanden ist und durch neues Verschalten ins Funktionieren gebracht und aktualisiert werden kann. Auch seine innere Gesamtstruktur gewinnt content aus einer seriellen Reihung. Projekte wie die Zentralbibliothek von Seattle, das Konzerthaus Casa da Música in Porto, Hollocore im Ruhrgebiet oder das CCTV in Peking stellt der Katalog geographisch, in der Reihenfolge ihrer Standorte, von Westen nach Osten vor. Dazwischen tauchen Interviews mit den Architekten Robert Venturi und Denise Scott-Brown ebenso auf wie Gespräche mit dem Gouverneur von
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Lagos Bola Ahmed Tinubu oder der amerikanischen Spezialistin für Schöner Wohnen, Martha Stewart. Kontrastierend zu dem theorielastigen Manifest junk space erstreckt sich die Collage an autopsy auf der Zeitleiste von 1989 bis 2003 über sechs Doppelseiten. Wo hier das monströse Hybrid von Montage und Historienbild mit den virtuos ausgeschnittenen und neu angeordneten Menschen und Dingen des Vordergrunds die traditionelle Gattungshierarchie verkehrt, so nicht, ohne dabei zugleich vom Hintergrund der Historia aus die sinnliche Evidenz des Vordergrunds diagrammatisch mit Zahlen und Hüllkurven zu dekonstruieren. Im Ganzen wirkt content wie ein improvisationales Konvolut, auf das die Methode des Verschaltens von adminstrativem Katalogisieren und überbordendem Prozess passt und die in ihrer Nicht-Repräsentationalität zum eigenen Weiterschreiben animiert. Seine Ontologie ist eine flache: content verteilt und präsentiert disparate und unvereinbare Ereignisse oder Aussagen so, als fänden sie auf derselben ontologischen Ebene statt. Das Buch erinnert dabei an die Foucault’schen Tableaus, die ihre Wirkung daraus ziehen, dass in ihnen Wirtschaftsdebatten, Rechtstheorien, pädagogische Anweisungen, sexuelle Ratschläge und so weiter auf derselben Ebene des Seins versammelt und zueinander kontrastiert werden. Koolhaas erweist sich hier als Propagandist der Affirmation: Gegenüber den von ihm dargestellten und analysierten Phänomenen der Stadtentwicklung lässt er exzessives Anerkennen walten, ohne auf Anführungszeichen Rücksicht zu nehmen spricht Koolhaas gleichsam durch die ›diagrammatisierte‹ Stadt hindurch. Angesichts dessen bleibt content selbst eine materiale Version des Virtuellen: als ›Diagramm‹, das es von seinen Nutzern auf seine strukturellen Spuren hin auseinander zu nehmen und stets neu zu verschalten gilt. Dass dabei auch, wie eine flirrende Doppelseite repetierender Bilderbatterien zeigt, Techniken der 1960er Jahre Kunst wie der Serialismus Peter Roehrs auf eine ›Diagrammatik‹ hin weitergedreht werden, gehört jenem weitgefächerten, kunsthistorisch informierten Aktualisierungsrepertoire von Koolhaas an, das bereits mit den Surrealismusbezügen und dem Wiederaufrufen von Dalis »paranoid-kritische Methode« im Buch Delirious New York aufschien und seither, in unterschiedlichsten Aneignungsfacetten, seinen Widerhall im Werk des Architekten fand und findet. Szenenwechsel: Wir sehen ein Foto von einem gewöhnlichen Platz in einer gewöhnlichen Kleinstadt. Der Platz ist an seinen drei Seiten von Strassen eingefasst, seine Ränder durch Baumreihen konturiert, deren Blätter sich gelichtet haben. Zwischen den Bäumen sind Bänke platziert. Auf einer Bank sitzt ein älterer Herr und sonnt sich. Autos parken am Strassenrand. Nichts geschieht. Dieses lakonische Foto ist die Dokumentation eines Sadtgestaltungs- und forschungsprojekts gleichermaßen. 1996 ludt die Stadtverwaltung mehrere Architekturbüros ein, Plätze in Bordeaux zu sanieren. Das Architekturbüro Lacaton
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und Vassal erhielt den Auftrag für den Place Leon Aucoc, einen Platz im Arbeiterbezirk der Stadt. Die Architekten verfolgten ihren spezifischen Ansatz, indem sie Zeit auf dem Platz verbrachten. Mehr nicht. Während sie dies taten, sich also in die Situation selbst hineinbegaben, merkten sie, dass der Platz baulich bereits alles hatte, was man brauchte. Physische Veränderungen erschienen ihnen deshalb nicht angebracht. Stattdessen veranlassten sie ein Regelwerk simpler Instandhaltungsarbeiten, die vernachlässigt worden waren, gerade weil der Platz vorher baulich nicht als »schön« interpretiert wurde. So drehten sie die Situation um: In ihrem Verweis auf die performative Umgangsweise mit dem Platz verbesserten sie dessen Nutzbarkeit, dasjenige, was mit dem Platz gemacht wird, wie er gebraucht wird: »Instead we drew up a catalogue of maintenance measures which were strikingly obvious and yet, completely neglected, including regularly cleaning the place of dog excrements in order to make it possible to play the game of pétanque on it once again.«2 Anstatt Neues zu postulieren, liegt Lacaton&Vasall daran, aus der einzelnen Intervention heraus eine Textur zu entwickeln und die Wirkkraft der in dem jeweiligen urbanen Handlungszusammenhang angelegten Kräfte so zur Entfaltung zu bringen, dass dessen inhärenten Potentialitäten sichtbar und aktualisiert werden können. »For me an intervention is contextual if it succeeds in engaging in a physical exchange with its environment«, sagt Jean-Philippe Vassal. Gegenläufig zu Koolhaas’ Strategie, die eine maximale Verschiedenheit von Darstellungsmittel aufeinanderprallen lässt3, finden wir also bei Lacaton&Vasall einen poetologischen Ansatz, der sich dem Zeichen vornehmlich verweigert.
2 | »Ilka & Andreas Ruby in conversation with Jean-Philippe Vassal.« In: Ruby, Ilka & Andreas (Hg.): Urban Transformations. Berlin 2008, S. 252. 3 | Zu der spezifischen Bildpolitik von und Mediengebrauch durch Rem Koolhaas vgl.: Toft, Anne Elisabeth: »Signs in circulation. On OMA’s Image Politics«. In: Capetillo/ Toft: Questions of Reprensentations in Architecture. Aarhus 2015.
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Abbildung 1: Rem Koolhaas content, Buchumschlag (2004)
Abbildung 2: Rem Koolhaas content, »Hollocore« (2004)
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Abbildung 3: Rem Koolhaas content, »Serialitätsstudie« (2004)
Abbildung 4: Rem Koolhaas content, »Patent Office: Social Condenser« (2004)
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Abbildung 5: Lacaton&Vasall Place Leon Aucoc (1996) So unterschiedlich die obigen Beispiele sind, so wirkmächtig sind und waren die Darstellungsräume, die sie schufen. Gemeinsam ist ihnen, über das Verfahren einer gestalterischen Diagrammatik Stadträume zu erforschen. Vereinfacht gesagt: OMA/AMO wie auch Lacaton& Vasall identifizieren zunächst Elemente urbaner Situationen. Im Fortgang machen sie die gewonnen Elemente auf eine bestimmte Weise sichtbar, nämlich so, dass das den Situationen inhärente, implizite Wissen formal offen und strukturell anschließbar für neue Handlungsmöglichkeiten wird. Im städtebautheoretischen Sinne bedeutet das, von den auf ein Territorium projizierten, vorbestimmten Funktionen zu dem Analysieren aktuell oder vergangen gegebener und dem Erschließen neuer, noch unbestimmter Gebrauchsweisen zu wechseln. Davon, welche wissenstheoretische Konzeption mit einem solchen Verfahren und dessen operativer Modi – Fragmentarisieren, Freistellen, Inventarisieren, Serialisieren, Katalogisieren, Notieren, Iterieren, Neu-Versammeln – verbunden ist, handelt dieses Buch. In der Fluchtlinie obigen Beispielexkurses – der nicht nur als Ouvertüre, sondern auch als Konkretionsfolie für das ganze Buch herhält – stellt sich ein Bündel von Fragen, das den hier abgeschrittenen thematischen Horizont instruieren soll: Wie wirkt sich eine Diagrammatisierung der Darstellungsproduktion durch Stadtforschung, bei der die Darstellung unmittelbar neue Anschlussstellen und Verweiszusammenhänge evoziert, statt in Eins-zu-Eins-Repräsentationen aufzugehen, auf den Begriff der Stadtforschung selbst aus? Welches
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Wissen über die Stadt wird hier produziert und wie? Und welches Verständnis von der Stadt kommt hier zum Tragen? Mit welcher Logik und mit welchem Prinzip wird hier Darstellung eingesetzt, aus welchen Gründen, und was für einen Umgang mit ihr setzt sie voraus? Wie wird Handlung in diesem Kontext verstanden? Ist dergleichen Forcieren des Nicht-Repräsentationalen noch Repräsentation? Und nicht zuletzt: Wie konturiert sich angesichts solcher Darstellungsweise die Wissensform der Stadtforschung? Wer die moderne Disziplin Städtebau an ihrem historischen Ursprung aufsucht4, stellt fest, dass diese, gerade auch insofern sie sich als Wissenschaft verstand, immer auch Stadtforschungsprogramme hervorgebracht hat. Deren Produkte waren meist Bücher, die sowohl als Forschungsdokumente wie auch als Gestaltungsstrategien firmierten. Zu den wichtigsten Beispielen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehören zweifelsohne Reinhard Baumeisters Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, Camillo Sittes Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen oder Joseph Stübbens Der Städtebau. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts positionieren Raymond Unwins Grundlagen des Städtebaues sowie Le Corbusiers Le Urbanisme den Städtebau neu. Ab den 1960er Jahren kommen Arbeiten wie Peter und Alison Smithsons Urban Structures oder Candilis und Pfeiffers Stadtplanung geht uns alle an, in den 1970ern Venturi, Scott-Browns und Izenours Learning from Las Vegas oder in den 1990ern Rem Koolhaas S,M,L,XL hinzu. In jüngerer Zeit lassen sich neue Formen beobachten, wie Atelier Bow Wows Made in Tokyo, die städtebaulich orientierte Wohnraumuntersuchung Plus von Druet, Lacaton & Vasall, der Schweiz-Atlas von Studio Basel5, der Platzatlas von Sophie Wolfrum6, Christophe Hutins L’enseignement de Soweto7 oder das einem curriculum-research entspringende, Tom paints the fence von Bernd Kniess und dem Verfasser. Wie diese Bücher mit dem Drang geschaffen wurden, eine Sichtweise von und Perspektive auf die Stadt zu formulieren, so haben sie in ihrer spezifischen Komposition von Konzepten und Darstellungen selbst als Entwürfe oder Gestaltungen zu gelten. »Ob die Autoren ihr Buch auf Grund einer singulären Vision der Stadt schufen oder mit einer Vielzahl davon, ob sie ihre persönlichen Vorlieben zum Ausdruck brachten oder ein spielerisches Experiment der Untersuchung in Gang setzten, ob sie ein Studienprojekt ins Werk hoben oder den von ihnen entworfenen Objekten einen anderen Maßstabsrahmen gaben – in der Perspektive dieser Studie sind ihre Bücher als 4 | Vgl. Dell: Ware: Wohnen! 5 | Diener/ Herzog/ Meili/ de Meuron/ Schmid (Hg.): Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait. Basel 2006. 6 | Wolfrum, Sophie (Hg.): Platzatlas. Stadträume in Europa. Basel 2014. 7 | Hutin/ Goulet: L’enseignement de Soweto. Paris und Arles 2009.
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eigenständiges Werk und als Maßstab des Stadtforschens und seiner Darstellungsweisen selbst zu verstehen.«8 Egal, ob sich, um an ihnen Struktur und Begründung ihrer Repräsentation oder auch deren Scheitern zu exemplifizieren, die Befragung an klassische Werke wie die von Le Corbusier oder an aktuellere wie die von Koolhaas richtet – fortwährend verfügen diese Werke nicht selbst a priori über eine epistemische Kraft, sondern sie leihen sie sich erst durch die medialen Praktiken jenes Diskurses, der sie im Register eines Weiterschreibens, Umschreibens oder Verschiebens aufschließt.
Abbildung 6: Atelier Bow Wow Made in Tokyo (2001) In Anbetracht dessen ist dieses Buch von einer Struktur drei sich überlagernder Filter informiert und verfolgt drei Vorhaben. Erstens sucht es, die Dynamik der Stadtforschung als einen gestalterischen und forschenden Prozess zugleich zu verstehen. Dafür wird es nötig sein, die grundlegende Frage nach den Wissensformen auszuloten, die die Entstehung und Ausformung von ForschungsArrangements in der Stadtforschung begleiten. Wie eingangs konstatiert, basieren diese Formen auf einer Verschiebung der Forschungsperspektive von dem Objekt Stadt zum Prozess Stadt, von der fixierten gebauten Umwelt zu den sozio-materialen Konstellationen von mit Unbestimmtheit durchsetzten 8 | Kniess/ Dell: »Intro.« In Dieselb. (Hg.): Tom paints the Fence.
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performativen Aktivitäten – mithin den epistemischen Handlungszusammenhängen der Stadt – und von den Plänen und Absichten der Forschenden hin zu ihren Interaktionen mit der Stadt. So gibt es auch Learning from Las Vegas vor, dort wo es Stadt als »Geflecht ineinander verwobener Aktivitäten«9 fasst. Angesichts der Situation, dass Protagonisten der Architektur, der Stadtplanung, des Städtebaus, aber auch der Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit der diagrammatischen Sicht auf die Stadt größere Aufmerksamkeit widmen, ist die zweite Absicht des Buchs, eine Konzeption über die epistemischen Fragen jener darstellerischen Arrangements zu entwickeln, die die Stadtforschung Diagramme nennt. Drittens wird die Untersuchung mit der epistemologischen Fragestellung der ›improvisationalen Perspektive‹ verknüpft. Die hier dargelegten Vorhaben und Filter präsentieren eine Konstellation von Parametern, auf die zurückzukommen ist, um die Kontur einer Diversität von Stadtforschungspraktiken nachzuzeichnen. Die Funktion der drei Filter besteht sowohl darin, die konzeptionelle Rahmung zu solchen Praktiken zu liefern, wie auch, die Folie selbst als Praktik befragbar zu machen. An solcher Suche nach neuen Lektüreformen der Stadt lässt sich der Begriff der Metaform10 verankern – der gesetzte Rahmen, durch den man blicken will, die Kadrierung, durch die die Stadt erfasst, begrenzt und entgrenzt wird, die konzeptionelle Folie, die man der Lektüre unterlegt. Metaformen sind immer auch Grenznahmen, sie schließen aus und bündeln zugleich. Das Sammeln, Anordnen und Akkumulieren von Darstellungsmaterial geschieht dabei kataloghaft, im Medium der Serialisierung und Sequenzierung. Dies schlägt sich in der Begebenheit nieder, dass die stadtforschenden Anordnungen von Untersuchungsreihen, Fallserien oder –batterien, Atlanten, Alben, Kataloge oder Displays als Organisationsinstrumentarium eng verwoben sind mit dem Begriff des Archivs, das als Territorium der Wiederholbarkeit, den Darstellungsraum aufspannt und mit der Praxis des Iterierens verbindet.
9 | Venturi/Scott Brown/Izenour: Learning from Las Vegas: The forgotten symbolism of architectural form. Cambridge, Massachusetts und London 2001 (1978), S. 93. 10 | Zum Begriff Metaform s.a.: Dell: Replaycity.
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Abbildung 7: Venturi/ Scott-Brown/ Izenour Learning from Las Vegas, »Comparative Activity Patterns« (1972) Das argumentative Gerüst der Arbeit fasse ich so zusammen: Während das Urbane den Horizont der Stadtforschung bildet, so sind Studien von Fallsituationen, von Tiefenbohrungen im urbanen Gewebe, von spezifischen, durch die Forschung gerahmten sozio-materialen Konstellationen ihr eigentlicher Forschungsgegenstand. In diesen urbanen Situationen sind Dinge und Handlungen des Wissens miteinander verknotet. Ihr Erscheinen ist ein performatives. Wobei dies nun gerade nicht heißt, dass das Urbane dadurch performativ sei, dass es durch Sprechakte oder soziale Konstruktionen bzw. Konventionen oder theatrale Akte hergestellt würde. Das Adjektiv performativ meint hier nur, dass »soziale Aggregate durch die Tätigkeit des Versammelns immer wieder neu hergestellt, erhandelt werden«11 müssen. Das verschiebt die Sicht auf die Stadt: Die Stadt kann programmiert werden und sich in der performativen Nutzung selbst programmieren. Die Stadt wiederum steigt zum exemplarischen kollektiven »Laboratorium […] künstlicher Erfahrung«12 auf, in dem auch die Stadtforschenden selbst sich einem transformatorischen Prozess zu unterziehen haben. Statt Vorsicht vor Subjektivierung kommt hier eine kritische Affirmation in Gang, die aus der Stadtanalyse Möglichkeiten der Emergenz herauszuarbeiten sucht. Eine solche Form gestalterischer Diagrammatik der Stadtforschung
11 | Dell: Das Urbane. Berlin 2014, S. 217. 12 | Koolhaas, Rem: Delirious New York. Berlin 1999/1978: S. 10.
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hat Rem Koolhaas beispielhaft nicht nur in content, sondern auch in Büchern wie S,M,L,XL oder Delirious New York demonstriert. Gewiss, in der Stadtforschung gehört es längst zum gängigen Repertoire, im Rahmen der Wissensgenerierung und -formulierung von einer ›Logik des raumproduzierenden Handelns‹ zu sprechen und urbane Praktiken und deren Darstellungen als eine Weise konzeptioneller Verständigung zu betrachten, in der ein Formulierungsangebot in der Erwartung geschieht, beantwortet und produktiv weitergedacht zu werden. Allerdings: Dem auf die Spur zu kommen, worin die spezifische Form der Wissensproduktion solcher Praktiken und deren Repräsentation besteht, stellt eine Herausforderung dar, die theoretisch bisher unzulänglich im Blick war: Dem abzuhelfen gilt das Interesse dieser Schrift. Sie will Einsicht in die Untersuchung der Frage gewähren, wie die signifikante Form der Organisation des Formens und das daraus hervorgehende Wissen und dessen epistemische Struktur zu beschreiben ist, welche Konsequenzen die gefundene Struktur für ein Denken von Gestaltung hat und endlich, wie Gestaltung selbst in die Wissensorganisation stiftend hineinspielt. Die zu führende Auseinandersetzung knüpft daran an, dass das Verhältnis von Gestaltung und Wissen in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit und zwar von unterschiedlicher Seite erfahren hat.13 Ein Unabgegoltenes gestalterisch orientierter Wissenstheorie stellt dabei bleibend, so meine These, die Fragestellung dar, ob und inwieweit Wissensformen an eine bestimmte, noch wenig thematisierte Form von Handeln gebunden sind, ein Handeln, das ich als ›Improvisation‹ zu bezeichnen vorschlage. Das birgt allerdings die Konsequenz, den Begriff der Improvisation neu zu denken, nicht als Notlösung, sondern als Prinzip des Schaffens von und Orientierens in transformatorischen Seinsformen urbaner Nutzer. Solches erhält besondere Relevanz unter der rezenten Prämisse, dass, wie der Wissenschaftsphilosoph Georg Toepfer bemerkt, in den Archiven der Kulturgeschichte diejenigen Dokumente die interessantesten sind, die eine starke Nicht-Intentionalität aufweisen, die also »nicht mit Blick auf ihre spätere Rezeption erstellt wurden, wie Tagebücher oder Laborbücher«14. Derlei Nicht-Intentionalität ist an die Qualität gebunden, »dynami13 | Vgl. exemplarisch das Forschungsprojekt Wissen im Entwurf – Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Forschung. Eine Kooperation des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin und des Kunsthistorischen Instituts in Florenz. www.khi.fi.it/en/ forschung/projekte/projekte/projekt67/index.html; Mareis, Claudia: Design als Wissenskultur. Bielefeld 2011; Mareis/Joost/Kimpel: Entwerfen – Wissen – Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext. Bielefeld 2010. 14 | Toepfer, Georg: »Archive der Natur«. In: Trajekte Nr. 27, 14. Jahrgang, Oktober 2013, S. 7.
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sche Geschehen […] in reinen Strukturen zu repräsentieren.«15 Wie zu zeigen sein wird, erschließt sich die hiermit thematisierte ermöglichende Dimension nicht-intentionaler Wissensorganisation erst aus der improvisationalen Perspektive.16 In diesem Zusammenhang versteht und erläutert der Verfasser Improvisation als ein Handlungsmodell, das verlangt und erlaubt, in Betracht zu ziehen, dass und wie epistemische Strukturen aus Praktiken selbst hervorgebracht werden können. Vorgreifend lässt sich sagen, dass diese Schrift mit der technologischen Improvisation einen Handlungsbegriff in Umlauf bringt, der den Sinn einer Bewegung erklärt, die weder rationalistisch, rein intentional, finalistisch oder teleologisch ist, aber nichtsdestoweniger alles andere als informell oder chaotisch. Handlung lässt sich nicht auf einen Vorgang reduzieren, von dem behauptet wird, ihm seien rational denkende Subjekte vorgeschaltet.17 Die theoretischen Implikationen dessen galt es im Fortgang vorliegender Arbeit zu klären. Damit eröffnet sich der Blick auf ein Verfahren der Wissensordnung, das ich ›gestalterische Diagrammatik‹ nenne. Das Verfahren betont zweierlei: erstens die Wichtigkeit, konzeptuelles Denken mit einer Weise des Organisierens von Wissen zusammenzubringen, die, und darin besteht der zweite Aspekt, dazu befähigt, Darstellungsformen zu entwickeln, welche Prozesse offen und gleichzeitig stabil halten können. Wenn der Verfasser hier von einem diagrammatischen Denken spricht, so geht es ihm zuvorderst um eine bestimmte Form der Gestaltungs- oder Erkenntnispraxis. Er abstrahiert dabei von der ontologischen Existenzform des Diagramms und unterscheidet an dieser Stelle nicht zwischen extern-materiellen Realisierungen von Diagrammen und intern-mentalen Realisierungen. Ontologische Annahmen fielen in jenen Subjekt/Objekt-Dualismus zurück, der doch nachgerade in der Diskussion zur Prozesshaftigkeit und Improvisation der Stadt überwunden werden soll. 15 | Ebd. 16 | Darauf deutet auch die Rede vom »Diagrammspielen« bei Sybille Krämer hin. Krämer, Sybille: »Diagrammatisch«. In: Rheinsprung. Zeitschrift für Bildkritik 11/2013 (Glossar. Grundbegriffe des Bildes, 162-174), URL: http://rheinsprung11.unibas.ch/ archiv/ausgabe-05/glossar/diagrammatisch.htm 17 | Zum traditionellen Handlungsverständnis siehe exemplarisch: Bonß, Wolfgang et al. (Hg.): Handlungstheorie. Eine Einführung. Bielefeld 2013: »Handlung wird vielfach als intentional im Sinne eines absichtvollen Handelns verstanden, was sowohl ein bewusst rationales als auch ein gewohnheitsmäßiges oder an Vorstellungen orientiertes Handeln sein kann.«, S. 7; Lenk, Hans (Hg.): Handlungstheorien interdisziplinär. Band 2. München 1978: »Der Mensch […] erlebt sein Handeln als von ihm gesetzte, gewollte und zumeist bewusst initiierte zielorientierte Tätigkeit.«, S. 7. Zur Kritik derselben: Rohbeck, Johannes: Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns. Frankfurt a.M. 1993.
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Stadt. Welt. Form. In geschichtlicher Hinsicht führt die Epoche der Verstädterung die Stadt einer Generalisierung zu. Stadt wandelt sich zu Welt, oder umgekehrt, Welt zu Stadt. Gleichwohl verbietet es die mit der Verstädterung emergierenden und sie fundierende Generalisierung, die Stadt als partikulare Struktur des Sozialen zu entwerfen. Im Gegenteil tritt die Frage nach dem Ensemble der generativen Prinzipien des Städtischen bzw. der prozesshaften Beziehungen, die Menschen untereinander und zur Welt – als Stadt – unterhalten, ans Licht. Somit konturiert sich das Städtische sowohl als Ort wie auch als Prinzip, an und mit dem sich Fragestellungen menschlicher Lebensweisen abzeichnen, verdichten und konflikthaft-differentiell aufeinander treffen. Mit dem Verweis auf die Prozesshaftigkeit verbindet sich also die zentrale Erklärung, warum das traditionelle Konzept von städtischem Raum als Objekt als überholt zu gelten hat – Raum ist weder mehr als natürlich Gegebenes noch als neutraler Behälter zu verstehen, sondern erweist sich als gesellschaftlich produziert. Diese Rekonturierung von der Stadt lässt darüber hinaus deutlich werden, dass weder die formalistische Reduktion von Design auf Oberfläche noch die reformistisch orientierte planerische Strategie, urbane Lebenswelt gegen Ökonomie und Instrumentalität auszuspielen, mehr verfangen. Wenn aber Gestaltung als Politisches und als Forschung zu reformulieren ist, verlangt diese nicht eine Rückbindung gestalterischer Praxis an Konzeptionalisierung? Während sich hinsichtlich wissenstheoretischer Aspekte Welterschließung vermehrt an urbane Fragestellungen knüpft, steigt das Urbane selbst zu epistemologischem Gebiet auf. Die Terminologie Gaston Bachelards aufgreifend lässt sich sogar sagen: Die Stadt avanciert zur Episteme der Zeit. Wobei Henri Lefebvre einschränkend erinnert: »Zur Wissenschaft kann das Wissen um das Phänomen der Verstädterung nur in der und durch die bewusste Bildung einer urbanen Praxis werden, die an die Stelle der inzwischen vollendeten (vollkommen verwirklichten) Industriepraxis und ihrer Rationalität tritt.«18 Das lehrt die Stadtforschung, dass externalisierende Forschungssstrategien und Raumkonzeptionen, die einst Praxis durch Abbildungen vom Raum, vom sozialen Leben, von den Gruppen und deren Beziehungen untereinander ersetzten, wenig Aussicht auf Erfolg versprechen, wenn es darum geht, die aktuellen urbanen Prozesse wahrzunehmen und noch weniger, deren Logiken zu begreifen.19 Dort, wo Wissen über die Stadt nicht mehr als Erkennen und Abbilden eines fertig Zuhandenen zu interpretieren ist, ergibt sich somit die Herausforderung der Entwicklung ›urbaner‹ Wissensformen, mit denen sich für die urbanen Akteure Ermöglichung und Ermächtigung zu einer Teilhabe an dem Machen 18 | Lefebvre: Die Revolution der Städte. Dresden 2003 (1972), S. 180. 19 | Ebd. S. 198.
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von Wissen und dem Stellen neuer Fragen verknüpft. Inwieweit eine solche Wissensform an eine bestimmte Form der Wissensorganisation einerseits und eines relationalen Handelns andererseits gebunden ist, kommt Unbestimmtheit der Status einer grundlegenden Ressource von Wissen zu. Das bringt uns zur Frage der Repräsentation. Als Produziertes ist die Stadt nicht-absolut. Es gibt für die Stadtforschenden keine Stadt ohne vorausgesetzte Kontextualisierung derselben. Die Stadt ist per definitionem nicht universell; sie muss auf Wahrheiten gegründet werden, über die man nicht forschend entscheiden kann. Man kann sich in der Stadtforschung für eine Wahrheit der Stadt einsetzen, aber man kann nicht forschend entscheiden, was Wahrheit ist. Das zu sagen heißt auch, dass Stadtforschung niemals einfach in dem Sinn repräsentativ ist, dass sie eine bereits bestehende Vielheit von Interessen, Elementen usw. der Stadt adäquat repräsentiert (zum Ausdruck kommen lässt), da diese Interessen und Elemente erst durch ein bestimmtes Machen von und Umgehen mit Repräsentation konstituiert werden. Mit anderen Worten, die stadtforschende Artikulation von Interessen oder Elementen der Stadt ist immer auf minimale Weise performativ: Die Stadtforschenden stellen und setzen durch ihre Repräsentationen fest, welche Interessen oder Elemente auf welche Weise in ihrer Forschung von Relevanz sind. Wo die Bedingung der Möglichkeit von Repräsentation aber ihre Performanz ist, kann sich die Repräsentation nur in Gestalt ihrer gegensätzlichen Bestimmung, als nicht-repräsentational verwirklichen. Stadtforschung muss sich also entscheiden: Will sie sich mit der strukturellen, nicht nur akzidentellen Unbestimmtheit der Stadt abfinden, oder akzeptiert sie auch ihre performative Dimension, um diese aktiv zur Geltung zu bringen? Umso mehr sollte man dieses Buch vor dem Hintergrund des Derrida’schen Verständnisses von Schrift als Spur – d.h. als Notation eines Forschungsprozesses – lesen, die am besten in jener empirischen Voraussetzung der Metastudie gefasst ist, die die gleichzeitig forschende wie gestaltende Organisations- bzw. Arrangementsweise epistemischer Handlungszusammenhänge und deren Aufzeichnungen beschreibt. Das gibt Anlass, zum Verfahren der Schrift Folgendes zu erläutern: Ich wende die Thematik der Untersuchung auf die Form der Untersuchung selbst an. Somit verstehe ich jene als Verfahren der Neu-Versammlung, der relationalen Neu-Verschaltung von Bestehendem. Damit versuche ich, die spezifische Wissensorganisation der »gestalterischen Diagrammatik« auf eine für aktuelle Debatten brauchbare, nämlich strukturelle und zugleich offene Form zu bringen und die darin enthaltenen Funktionstransformationen zu thematisieren. Dass dabei Iterationen (als das Wiederholen, Vor- und Zurückspulen von Motiven) geschehen, ist beabsichtigt und Teil des Vorgehens. Wo die Literatur und das mit ihrer Hilfe hier ausgearbeitete Theorieangebot den Lesenden dazu dient, eine Disposition zu ihren eigenen Handlungen als Wissensproduzenten zu gewinnen und damit erlauben will, die Verhand-
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lungen über das Thema Wissen zu orientieren, kann man das Ergebnis auch die Unterstützung einer Wissensethik nennen. Gleichwohl handelt es sich bei dieser Schrift nicht um eine Gebrauchsanweisung, sondern um die Aufklärung eines praktischen Gefüges. Dieses macht für Stadtforschende nicht nur beobachtbar, was sie tun und warum sie etwas tun, wenn sie Wissen diagrammatisch ordnen, sondern zeigt auch: wie tun Stadtforschende das und was stellen sie dabei her. In diesem Zusammenhang ist – so die zu tätigende Schlussfolgerung – demnach mitzudenken, dass diese Untersuchung selbst eine Praxis darstellt, die mit unterschiedlichen Strategien den Kontext von Wissen, Gestaltung und Handeln zu erforschen sucht, und zwar im Sinne einer relationalen Untersuchung als temporäres Zusammenschauen zuvor getrennter Diskurse. Das gibt eine Zielrichtung an, die – und das will die Arbeit zeigen – anhand der Verschränkung von Wissens- bzw. Praxisbereichen die Rekonturierung der Begriffe selbst vorantreiben kann und soll. So bedarf es einiger ›Anstrengung des Begriffs‹. um jenen weiteren Horizont von Wissen zu gewinnen, in dem die sonst üblichen Engführungen aufgehoben sind. Das Methodische dieser Arbeit orientiert sich somit an zwei Grundachsen: Erstens ist es einem relationalen Denken, wie es Pierre Bourdieu beschrieben hat, verpflichtet, einem Denken in Ähnlichkeiten, Transpositionen und Querverweisen als »Serie von Annäherungsversuchen«, anhand derer man Thematiken erschließen kann, »die sich eigentlich nur in Gestalt von ganz abstrakten objektiven Relationen zu erkennen geben, die man nicht anfassen […] kann und die doch die ganze Realität des untersuchenden Gegenstands ausmachen.«20 Ein solches relationales Denken bildet hier, wo durch das behutsame, langsame und manchmal beharrliche Wiederholen der Motive immer neue Kontexte entstehen, kein äußerliches Merkmal des Verfahrens, sondern liefert den methodischen Schlüssel, ohne den die Mehrschichtigkeit des Untersuchungsgegenstands nur unterkomplex beschrieben werden kann. Wissensformen der Ermöglichung setzen das Mehrgleisigfahren gewissermaßen voraus. Im Ergebnis übernehmen sogenannte »Schaltungen« die diagrammatische Funktion, das Zusammenspiel der Theorieblöcke untereinander sicherzustellen. Das Wie bildet für das Was keine externe, beliebige Form, sondern ist ein signifikanter Modus seiner Artikulation. Daher besteht – so ein wichtiges Resultat – das Gestalterische an der Diagrammatik in dem Charakteristikum, dass die Darstellungen, welche die Wissensformen der Ermöglichung hervorbringen, Modelle abgeben für etwas, das auch und gleichermaßen die performative Praxis der Wissensproduktion kennzeichnet. Wie man 20 | Bourdieu, Pierre: »Relationales Denken«. In: Bourdieu/Waquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt 2006, S. 263f.
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die Stadt erforscht und sichtbar macht, entscheidet mit darüber, als was sie sichtbar wird. Es kommt darauf an, mit welcher Haltung man die Formen des Machens von Stadtwissen in den Blick nimmt. D.h. umgekehrt, dass sich der perspektivierende Zuschnitt des Sichtbarmachens konfigurierend auf das Verstehen auswirkt. Die Darstellung der Wissenspraxis von der Stadt ist einer Möglichkeitsdimension des Wissens geschuldet, sie ist nicht unabhängig von der Praxis des Zeigens.21 Die Wissensform wirkt – das ist die sich erschließende Konsequenz – als ein Dispositiv, d.h. sie äußert sich als mehr denn die Ermöglichungsstruktur des Wissenkönnens; innerhalb dessen markiert die Form die objektive Referenz eines Wissens. Zweitens ist hier ein Verfahren der Begriffsklärung intendiert, das, anstatt ein Definitionsverfahren in »positivistischer Wald- und Wiesenmanier«22 zu vollziehen, danach sucht, einen Vektor aufzuzeigen, der sich selbst noch in einem Werden befindet. Als ein solcher jedoch verweigert sich der Vektor der Eins-zu-eins-Definition, »so wie Nietzsche einmal sagte, alles Historische entziehe sich eigentlich dem semiotisch-definitorischen Verfahren.«23 Begriffe gelten hier also nicht als anzuwendende Werkzeuge, sondern, im Sinne von Jaques Rancière, als »Arten und Weisen, ein Gebiet zu vermessen, Linien zwischen diesem und jenem Punkt zu ziehen, ein Territorium zu zeichnen. Sie materialisieren also zunächst die Weisen selbst, auf ein Terrain ›zu gehen‹, die Arten, die Arbeit der Worte an den Worten mit dem Entwurf dieses ›Außen‹, dessen, was anders als sie selbst ist und was die Worte selbst aufrufen zu verbinden.«24 Eine solche Perspektive schließt an an die durch die Historische Epistemologie vorgenommene Kritik am epistemologischen Raum experimenteller Praxis. Diese Kritik kann, so unsere Annahme, helfen, das Verhältnis von Forschung und Gestaltung neu zu bestimmen, und zwar als das Verfahren einer Verschaltung von Praktiken und Begriffen, wie sie der Wissenschaftshistoriker Timothy Lenoir vorschlägt: »Die Konstruktion der Begriffe selbst ist verwoben in die Praktiken, die sie operationalisieren, ihnen empirischen Bezug verleihen, und sie als Werkzeuge der Erkenntnisproduktion zum Funktionieren bringen.«25
21 | Vgl. Wiesing, Lambert: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Frankfurt a.M. 2013; Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Frankfurt a.M. 2010. 22 | Adorno, Theodor W.: »Vers une musique informelle«. In: Ders., Musikalische Schriften I-III. Frankfurt a.M. 2003 (1978), S. 493-540, S. 496. 23 | Ebd. 24 | Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig? Berlin 2008, S. 80. 25 | Lenoir, Timothy: »Practice, reason, context: the dialogue between theory and experiment.« In: Science in Context, 2 Nr.1, 1988, S. 13.
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Zunächst möchte der Verfasser Bemerkungen zu jenen Begriffen, die er als Basis-Filter der gesamten Untersuchung verwendet, vorausschicken. Das soll zum einen verständlich machen, welche Bedeutung den programmatischen Begriffen ›Wissensformen der Ermöglichung‹, ›Gestalterische Diagrammatik‹ und ›Improvisationstechnologie‹ zukommt. Dabei soll auch geklärt werden, wie eine spezifische Lesart des Urbanen als konkreter Anlass des Ganzen fungiert, und – als Schnittstelle – die Anbindung an Stadtforschung sichert. Weiterhin soll gezeigt werden, welche Rolle die Frage des ›epistemischen Handlungszusammenhangs‹ für die Stadtforschung spielt und welche Form der Gestaltung für sie relevant ist.
1.1 W issensformen der E rmöglichung und die epistemischen H andlungszusammenhänge der S tadt Das Buch behandelt die Form urbanistischer episteme, die Organisation eines ›Wissens‹ der Stadt, wenn es es gibt. Insofern im Folgenden von ›Epistemologie der Stadt‹ die Rede ist, so stehen grundsätzlich weniger Postulate einer Erkenntnistheorie im engeren Sinne im Mittelpunkt, denn vielmehr epistemische Strukturfragen jenes stadtforscherischen Wissens, das sich an offene Formen bindet, und die Begründung von solcher Stadtforschung als Wissensform. Anstatt es hingegen einer Erkenntnistheorie zu unterstellen, bezieht diese Schrift das Wissen auf die offenen Prozesse einer Stadtforschungspraxis. Der Begriff Epistemologie soll dabei das Nachdenken über die konzeptionellen Bedingungen fassen und die Form der medialen Praxen, mit denen die Stadt zur Angelegenheit des Wissens gemacht wird und an denen der Prozess der Wissensproduktion sowohl in Gang gesetzt als auch gehalten wird. Damit orientiert sich vorliegende Schrift an der Historischen Epistemologie, die von einer grundsätzlichen Problemumkehr spricht. In Paraphrase ihrer lässt sich sagen, dass die Reflexion des Verhältnisses von Konzeption und Stadt, die vom
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erkennenden Planer-Subjekt ihren Ausgang nahm, ersetzt wird durch die Reflexion des Verhältnisses von Konzeption und Stadt, die an den zu erkennenden Handlungszusammenhängen der Stadt ansetzt. Die anvisierte Vertiefung, die das Buch vornimmt, betrifft so das Durchleuchten der jeweiligen ›prozessualen Stadtforschung‹ – wie immer sie sich ausformen mag – auf die sie begleitende Frage nach einem konzeptionellen Rahmen, der den Stadtraum neu, und zwar als performativ hergestellt, deutet. Wird in diesem Sinne von Raum gesprochen, gilt es demnach nicht allein, diesen von den klassischen städtebaulichen Positionen der Annahme eines statischen, passiven Behälterraums abzugrenzen, sondern auch von der Gleichsetzung von der Stadt und der gebauten Umwelt bzw. von der gewöhnlichen Vereinnahmung des Raums durch die Planung Abstand zu nehmen. Das provoziert eine weitere Verschiebung: Die Fokussierung auf allgemein verbindliche und universelle Methoden erweitert sich um die Reflexion auf das, was Stadtforschende tun, wenn sie forschen und wie dieses Tun begrifflich zu fassen ist. Wo die Struktur dieses Tuns nicht mehr außerhalb der Zeit steht, sondern einer Logik folgt, die die Struktur innerhalb der Zeit eines Wissensprozesses verortet, fällt die Achtsamkeit auf die Bedingungen und Beschaffenheit eben jener Struktur. Das kontingente Zusammentreffen relationaler Handlungszusammenhänge schafft Strukturen, die ihnen erst nach ihrem Eintreten Bedeutung verleiht und ein Einstieg ins Register des Epistemischen ermöglicht. Zeit und Struktur gehören darin zusammen! Wie die Geschichte der Stadtforschung als eine Geschichte der menschlichen Wahrnehmung von der Stadt verstanden werden kann, so sind Darstellungen der Stadt immer auch Träger gesellschaftlicher, kultureller, politischer oder ökonomischer Prozesse, die sich geschichtlich vollziehen. Stets lassen sich in der Rückschau Bezüge zu diesen Prozessen herstellen. Die diagnostische Funktion von Stadtdarstellungen hält nicht nur bereits Wahrgenommenes in Schrift/Bildern fest, sondern berichtet darüber hinaus von den Bedingungen ihrer Entstehung. Die Reflexion über Wahrgenommenes von der Stadt beinhaltet immer ein Nachdenken über das Stadtwahrnehmen, in welcher sich die Konstruktionen der Stadt ablesen lassen. Hinsichtlich historischer Prozesse scheint besonders die diagrammatisch orientierte Stadtdarstellung durch ihre Relationalität als Medium jenes Forschungsgebiet zu beliefern, das herkömmliche repräsentational ausgerichtete Darstellungen durch ihre unterstellte Linearität nicht zu erschließen vermögen. Konsequenterweise stellt sich jegliche pejorative Fixierung und Einengung auf Methoden für den konkreten Stadtforschungsprozess gerade da als hinderlich heraus, wo diese Klarheit schaffen sollen. Gelungen heißt daher der immanenten Kritik an Stadtforschung nicht Gestaltung, die die objektiven Widersprüche zum Trug einer als prästabilsiert angenommenen Harmonie versöhnt, wie vielmehr jene, die die Idee von Harmonie negativ ausdrückt, indem sie die Widersprüche und Dissonanzen un-
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nachgiebig in ihrer innersten Struktur prägt und enthüllt. Vor ihr verliert das Verdikt ›bloße Gestaltung‹ seinen Sinn. Ist aber nicht dort, wo das retroaktive, praktische Lesen der Struktur epistemischer Handlungszusammenhänge auf Kontingenz und Unbestimmtheit angewiesen ist, eine besondere Handlungsform einzuführen, nämlich eine, die nicht-teleologisch konstituiert ist? Der Verfasser geht davon aus, dass die Stadt sich als lernende Vergemeinschaftung beschreiben lässt, welche Raum ebenso handelnd hervorbringt wie verändert und dabei spezifische Wissensformen und Darstellungen dessen produziert. Wie oben angezeigt ist wissenschaftliche Darstellung von der Stadt immer von den Wahrnehmungsparadigmen und ästhetischen Kontexten jeweiliger geschichtlicher Epochen beeinflusst. Fungierte sie indessen einst als Instrument, mit dem die Subjektivität zurückgedrängt werden sollte, gerät nun, da die reine Anhäufung von objektiven Daten über einen – vordem als neutral angenommenen – Raum nicht mehr ausreicht, die Subjektivität der Stadtforschenden und deren Urteilskraft zum Movens des Visualisierens. Das transformiert objektive Stadtvisualisierung in eine interpretierte. Weit davon entfernt, Abbild visuell erschlossener Stadtwirklichkeit oder finales Resultat der Wissensgewinnung über die Stadt zu sein, erweist sie sich als ein Produziertes, das selbst als konstitutiver, prozessualer Teil der Stadt zu gelten hat. Wo das wissenschaftliche Vorwissen entscheidendes und grundlegendes Qualitätskriterium beim Herstellen, Anordnen, Zeigen und Interpretieren des Aufgezeichneten bleibt, so müssen sich Wissensformen stets auch der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen und ihrer Beziehung zur Darstellung selbst widmen. Was mit der Rede von der Wissens-Form hier in Gang kommt ist eine weitere Deutung des Begriffs Epistemologie, die sich in die Bestandteile episteme und logos gliedert: Zum Ersten haben wir es bei der Episteme des Urbanen mit einem Erfahrungswissen zu tun, ein Wissen, »dass sich in der Praxis alltäglich, implizit und individuell umsetzt.«1 Wissen gehört hier zum Handeln, und umgekehrt Handeln zum Wissen. Anstatt Wissen als Substanz oder als Objekt zu interpretieren, das sich von einem Container oder Teil-System zu einem anderen Container oder Teil-System transferieren ließe, schlägt etwa Etienne Wenger vor, Wissen als dynamischen Partizipationsprozess zu verstehen.2 »Communi1 | Färber, Alexa, Ausstellungen als Instrument der Wissensvermittlung
Exhibitions as a tool for transmitting knowledge, Workshop am 26. und 27. April 2002, Helmholtz-Zentrum, Berlin. 2 | Wenger, Etienne: Communities of practice. Learning, meaning, and identity. Cambridge 1998, S. 40; »Knowledge creation, knowlegde development and knowledge
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ties of practice (are) groups of people who share a concern or a passion for something they do and learn how to do it better as they interact regularly.«3 Wenn Wenger voraussetzt, dass Wissen als Situiertes nur innerhalb einer community of practise über Wert verfügt, so bedeutet dies, dass Wissensentwicklung und Wissensproduktion im Kontext performativer Praxen jener Akteure und Dinge ihren Ort haben, die Wissen in ihren Aktivitäten und Interaktionen ›enacten‹. Die Wissensform ist es, die dabei ein Set von epistemischen Verfahrensweisen liefert, auf die sich eine Gruppe community of practise einigt, die sie übt und weitergibt. Womit wir es hier zu tun haben ist eine Wissensform, die einen Wissenserwerb produziert, aus dem seinerseits Theorien oder Methodenmixes resultieren. Sofern davon gesprochen werden kann, dass bestimmte Konstellationen von Akteuren und Dingen bestimmte Wissensformen erzeugen, ist Wissen stets relational zu denken: »A relational concept of knowledge draws the attention to the relational implications of specific genres.«4 Man sollte zweitens den Logos als jene Form begreifen, die wohl am besten in Heraklits These gefasst ist, dass Form aus der Tätigkeit des Lesens und Versammelns besteht. Was hier mit Logos bezeichnet wird, spielt gleichwohl nicht im Register einer metaphysischen Formkategorie. Stattdessen unterlegt der Verfasser die von ihm avisierte Bedeutung des Logos mit dem Heraklit’schen Verweis auf das griechische legein, das ebenso lesen wie auflesen und versammeln bedeutet.5 Der Tatbestand, dass ein solches Verständnis des Epistemologischen eine Praxis in Anspruch nimmt, die Form nicht vorfindet, sondern gibt, rückt den Gestaltungsbegriff ins Zentrum der Überlegungen. Dieser Gestaltungsbegriff hat gleichwohl nicht nur ästhetische, sondern auch politische Konnotation. In politischer Hinsicht interessiert an Formgebung das Schema der Beziehungen, die Menschen untereinander und zur Welt – als Stadt – unterhalten. Erstens entfaltet sich die Form des Städtischen aus den Weisen der mise-en-forme des Sozialen und seines Wissens und mahnt an die in ihr eingelagerten konflikthaften Momente. Zweitens gründet die Art und Weise, wie Form gestaltet wird, nie auf rein individuelle Entscheidungen, sondern immer auf konzeptionellen und durch und durch gesellschaftspolitischen Positionierungen. In ästhetischer Hinsicht ist dagegen vor allem die Rede sharing are considered in this perspective as essentially relational processes. People create knowledge being engaged in joint action as forms of participation in community of practise.« 3 | Wenger, Etienne: »Communities of practice
a brief introduction«, www.ewenger.com/ theory/ 4 | Bowen, René: Relational Knowledge Discourses and Power Asemmetries, in: Cunha/ Muduate (Hg.), Power Dynamics and Organiszational Change, Lissabon 2004, S. 41. 5 | Vgl. auch Heidegger, Martin: »Logos«. in: ders.: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 207-231.
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von Artikulationsweisen mit Spurencharakter relevant, deren Materialität zwar klar ist, deren Medialität jedoch ungeklärt. Wo hier die Frage der Gestaltung auf dem Spiel steht, hat das Buch also die Frage nach der Performanz erneut ernstzunehmen. Dabei orientiert es sich unter anderem an Überlegungen von Dieter Mersch, der im Zusammenhang ästhetischer Epistemologien von einem Forschen als Praxis, als Performanz spricht. Forschen vermittelt sich durch mediale Praktiken, »die im Prozess selbst als seinem ›Werden‹ ›am Werk sind‹«.6 Daraus folgt zum einen die Konsequenz, dass wissenstheoretisch zu akzeptieren ist, dass medialen Praktiken eine genuine Unbestimmtheit anhaftet. Zum anderen lassen sich mediale Praktiken, als Handlungen, nicht auf rationale Akteure zurückführen. »Vielmehr haben wir es« so Mersch, »mit Ereignissen zu tun, und es genügt, diese anhand der unterschiedlichen ›Konstellationen‹ oder Montagen, der jeweiligen Arrangements und der Art ihrer ›ZusammenStellung‹ (compositio) aufzuweisen, durch die allererst etwas hervortritt, das anders sich nicht zeigen lässt.« 7 Sicher, wo es darum geht, einem Wissen so Gestalt zu geben, dass dessen Form offen bleibt, ist Ästhetik nicht ohne die Dimension des Politischen denkbar. In Anbetracht dessen sollte man aber Wissensformen der Ermöglichung als derartige politischen Verständigungsbezüge über Wissen und Praxis, Möglichkeiten, Grenzen und Verfahrensweisen forschender Stadtzugänge fassen, die den offenen Rahmen für epistemische Handlungszusammenhänge bilden.
Epistemischer Handlungszusammenhang. Vom differentiellen Verschieben Insofern also in Erfahrung zu bringen ist, wie das wissenschaftliche Er-Forschen von Stadt aktuell funktionieren kann, schlägt der Verfasser vor, Anleihen bei der science in the making zu machen und diese mit der Stadtforschung zu verbinden. Grundlegend ist dabei der Vorschlag, die Stadt als relationales Feld von Handlungszusammenhängen zu sehen, die sich epistemisch erschließen lassen.8 Das zu sagen verlangt auch, die Bedingungen zu klären, unter denen sich Medien der Stadtforschung herausbilden. Vorliegende Studie behandelt einen theoretischen Bereich, in den die von der stadtforscherischen Praxis und ihre aktuelle Entwicklung aufgeworfenen Fragen hineingehören. Da allerdings die Medien der Stadtforschung ihrerseits Produkte der Raumproduktion sind, die sie untersuchen, können sie auch nicht auf einen homogenen epistemologischen Raum rekurrieren. Dies führt nicht nur zur Frage nach 6 | Mersch, Dieter: Epistemologien des Ästhetischen. Berlin, Zürich 2015, S. 11. 7 | Ebd., S. 12. 8 | Man wagt sicher nicht zu viel, wenn man annimmt, dass dieser Gedanke etwa bei der Namensgebung des Büros Raumlabor Pate stand.
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der epistemischen Struktur der Performanz, sondern auch zu jener nach der strukturellen Form, die ich ›epistemischer Handlungszusammenhang‹ nenne. Mit den epistemischen Handlungszusammenhängen sind die epistemischen Einheiten beschrieben, die die Stadtforschung aus der Forschungsarbeit an und forschenden Intervention in ›performative‹ Situationszusammenhänge der Stadt gewinnt. Manifest wird daran, dass diese Situationszusammenhänge jene Formen bilden, innerhalb derer die Repräsentationen der Stadtforschung auftritt. Das konkreteste Beispiel des Handlungszusammenhangs der Stadt und dessen Analyse hat wohl Lucius Burckhardt geliefert, und zwar dort wo er die Mustersprache von Chistopher Alexander erklärt. Am Exempel der Straßenecke unterscheidet Burckhardt den empiristischen Ansatz eines analytischen Zerlegens von gebauter Umwelt in isolierte Elemente von der strukturell-diagrammatischen Analyse der Relationalität der Elemente: »So kann man die Welt als eine Welt von Gegenständen auffassen und sie einteilen in – z.B. – Häuser, Straßen, Verkehrsampeln, Kioske; in Kaffeemaschinen, Spültröge, Geschirr, Tischwäsche. Diese Einteilung hat Konsequenzen: Sie führt eben zu der Auffassung von Design, welche ein bestimmtes Gerät ausgrenzt, seine Außenbedingungen anerkennt und sich das Ziel setzt, eine bessere Kaffeemaschine zu bauen oder eine schönere, also das zu tun, was in den fünfziger Jahren mit der Auszeichnung Die Gute Form bedacht worden ist. Wir können uns aber die Welt auch anders einteilen – und wenn ich die Pattern Language recht verstanden habe, so hat das Christopher Alexander dort versucht. Sein Schnitt liegt nicht zwischen Haus, Straße und Kiosk, um bessere Häuser, Straßen und Kioske zu bauen, sondern er scheidet den integrierten Komplex Straßenecke gegen andere städtische Komplexe ab; denn der Kiosk lebt davon, daß mein Bus noch nicht kommt und ich eine Zeitung kaufe, und der Bus hält hier, weil mehrere Wege zusammenlaufen und die Umsteiger gleich Anschluß haben. Straßenecke ist nur die sichtbare Umschreibung des Phänomens, darüber hinaus enthält es Teile organisatorischer Systeme: Buslinien, Fahrpläne, Zeitschriftenverkauf, Ampelphasen usw.«9 Vor dem Hintergrund des epistemischen Handlungszusammenhangs der Stadt sind vier Aspekte geltend zu machen. Erstens binden sich mediale Praktiken der Stadtforschung an Verfahren und an spezifische epistemische Handlungszusammenhänge, Gebräuche von Medien und Materialien, deren prozessuale Offenheit Finalität ausschließt. Ihre Wissensform hat also irgendwie die einer Ermöglichung zu sein; nicht feststellend, nicht vorgebend, was aus ihr kommen wird, sondern Möglichkeitsräume aufschließend. Die Rede von epistemischen Handlungszusammenhängen erklärt dabei Vorgänge wie 9 | Burckhardt, Lucius: »Design ist unsichtbar.« (1981) In: Fezer/ Schmitz: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch. Berlin 2004, S. 188.
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Aktion und Handlung von Menschen und Dingen der Stadt zu Praktiken, die implizites Wissen enthalten, das gehoben werden kann. Während sie in ihrer Ereignishaftigkeit ephemer bleiben, bilden ihre Spuren einen materialen Repräsentationsraum, der zwar nicht homogen, aber dennoch – und auf die diagrammatische Linse kommt es hier an – lesbar ist. Sofern damit die konzeptionelle Folie, die die spezifische Weise des Lesens der Spuren offener Prozesse begleitet, wichtig wird, ist eine Auszeichnung der medialen Praktiken gefordert, mit denen die Stadtforschung ebenso experimentiert wie operiert. Zugleich individuell, lokal, sozial, material und normativ bestimmt sind die epistemischen Handlungszusammenhänge zweitens gänzlich hybride Arrangements, die nicht ohne poiesis auskommen; in dem Rahmen der forschenden Intervention in und Darstellung von dieser dynamischen Anordnung geben die Stadtforschenden der zu analysierenden Situation – als epistemischem Handlungszusammenhang – ebenso Gestalt wie den analysierenden, diagrammatischen Darstellungen dessen. Wie in anderen Wissenschaften auch entfaltet der epistemische Handlungszusammenhang als Forschungsgegenstand seine Bedeutung in Repräsentationsräumen, in denen »Grapheme«10 – materielle Spuren wie eine Handzeichnung, ein Diagramm, eine Fotographie, eine Interviewaudiodatei, eine isometrische Zeichnung – hergestellt, zueinander in Relation oder Differenz gesetzt werden, in denen sie Setzung, Ersetzung oder Verschiebung erfahren. D.h.: Wenn ein solcher Repräsentationsraum aufgespannt wird, wird er auch gestaltet. Stadtforschende bauen so jene Linse – die Metaform –, mit der sie, begrenzt durch den gesetzten Rahmen des für das Forschungsvorhaben gewählten hybriden Kontexts, Grapheme der Forschungshandlungen zu epistemischen Strukturen verketten. Stets sind dabei die Prozesse, durch die Forschungsspuren in die Welt kommen, offenzulegen. Und in diesem Sinne zeichnet sich die Stadtforschung als ›gestalterische Diagrammatik‹ aus. Das Postulat von den epistemischen Handlungszusammenhängen will drittens prozesshafte Vorgänge der Stadtforschung wie Aktionen oder Handlungen und ihre Zusammenhänge zu Wissenspraktiken erklären. Wo es sich hier um ephemere Ereignisse handelt , so kommt ins Spiel, was Edmund Husserl »Rückfrage«11 genannt hat. Sie ist es, die dort, wo sie nach jenem Sinn fragt, in dem ein Ereignis »erstmalig in der Geschichte [auftritt]«12, dem Ereignis Sinn verleiht und ihm Zugang zum Diskurs verschafft. Zur Rolle, die die Schrift als »virtuell gewordene Mitteilung« in diesem Zusammenhang spielt, 10 | Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt a.M. 2006, S. 9. 11 | Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag 1954, S. 366. 12 | Ebd.
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erwähnt Husserl: Es »vollzieht sich also durch das Niederschreiben eine Verwandlung des ursprünglichen Seinsmodus des Sinngebildes in der geometrischen Sphäre der Evidenz des zur Aussprache kommenden geometrischen Gebildes. Es sedimentiert sich sozusagen. Aber der Lesende kann es wieder evident werden lassen, die Evidenz reaktivieren.«13 Hans-Jörg Rheinberger führt Husserls Bemerkungen – in Bezugnahme auf Jacques Derrida – zu einer »iterativen Differenz« weiter, die eine nachträgliche Aktivierung von Sinngebilden ermöglicht, aber auch weit darüber hinausgeht: Notationen werden »vielleicht nicht einmal hauptsächlich […] ins Licht ihrer primären Evidenzen zurückgestellt, sondern sie werden zugleich auch fortgeschrieben«14. So schreibt sich auch in die Notationen der Stadtforschung der Zeitfaktor ein, die Zeit des Ereignis-Prozesses, in dem »alle neuen Erwerbe sich wieder sedimentieren[,] […] wieder zu Arbeitsmaterialien werden«15 und Wissen sich transformiert. Einer Wissensform der Ermöglichung kann das Darstellen daher nur als Praxis der Stadterschließung oder –lektüre gelten, und näherhin als eine spät in der Städtebaugeschichte auftretende Form derselben. Sie folgt darin Ian Hacking, der darauf insistiert, einen vorgängigen Begriff von Realität (der anhand von Abbildern identifiziert werden soll) loszulassen und stattdessen Repräsentation als Handlungsweise zu begreifen, die hilft, »das Reale als Eigenschaft von Darstellungen«16 auf den Begriff zu bringen. Darstellung bedeutet dabei nicht nur Schrift im engeren Sinne, sondern es sind weiter gefasst unterschiedliche Formen der graphischen Aufzeichnung zu berücksichtigen. Besonders Graphismen erweisen sich in der Geschichte wissenschaftlicher Forschung als immer wieder von entscheidender Bedeutung. Als Notationen sedimentierter Erwerbe avancieren sie zu Arbeitsmaterialien, zum Ausgangspunkt von Fortschriften, die dann ihrerseits wieder als Sedimente abgelagert werden können. Wo aber ein Modus der Diagrammatik iterativer Typologien zu entwickeln ist, gerät auch und vor allem das Wissen über die Verfahrensweisen der Wissensgewinnung in den Fokus. Viertens wirken epistemische Handlungszusammenhänge der Stadtforschung nicht isoliert, sie erschließen sich durch den stadträumlichen Kontext ebenso wie durch die konzeptionelle Einbettung, mit der sie angefertigt werden. Umgekehrt halten sie als Ermöglichungsbedingungen her, die in Darstellungsspuren unterschiedliche materiale Gestalt gewinnen, aber selbst nur in Form von in typologischer Variation strukturierter Improvisation erschlos13 | Ebd, S. 371f. 14 | Rheinberger, Hans-Jörg: »Acht Miszellen zur Notation in den Wissenschaften«. In: Appelt/von Amelunxen/Weibel: Notation. Berlin 2008, S. 279. 15 | Ebd. 16 | Hacking, Ian: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1996, S. 229.
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sen werden können. Eine diagrammatisch ausgerichtete Typologie schließt die Positivität epistemischer Handlungszusammenhänge nicht formal ein, sondern führt sie einer Strukturanalyse zu. Keineswegs wird dabei die historische Analyse unterlaufen, im Gegenteil. Wo die Praxis der Improvisation am Werk ist, rückt dagegen Struktur in die Zeit ein. D.h. die Schwelle der Formgebung kann nur dann überschritten werden, wenn die entsprechende Wissensform dazu im Stande ist, sich selbst unter strukturellen Gesichtspunkten und in improvisationaler Perspektive zu denken.
Wissensform im Kontext Die Rede von der Wissensform und den epistemischen Handlungszusammenhängen erklärt, warum es, um in den Prozess des forschenden Umschreibens und Verschiebens sowohl hinein zu kommen als auch ihn in seiner Offenheit konstruktiv zu halten, der medialen oder der Meta-Form bedarf. Genauer formuliert ist mit Meta-Form die Weise der Rahmung benannt, die die epistemischen Handlungszusammenhänge bezüglich organisationaler Aspekte strukturiert und einfasst und sie in konzeptioneller Hinsicht an Darstellungsräume, epistemische Praktiken übergreifender disziplinäre Felder ankoppelt. Zu solcher Rahmung gehören unterschiedlichste Aufzeichnungs- und Notationsinstrumente. Ihre materialen Spuren, hervorgebracht durch die Instrumente des hier beschriebenen Stadtforschens, habe ich an anderer Stelle auch als offene Partituren bezeichnet.17 Das soll zeigen, wie in Meta-Formen das Zusammenspiel von Handlungsanweisung und Notation fundierend wirkt. Die Metaform determiniert nicht nur Horizont, Maßstab und Grenzen des jeweilig gewählten Bereich des Stadtforschens (beispielsweise eine Straßenecke, ein Quadrant im Stadtplan, ein Stadtquartier, eine Parkbank usw.). Als Produkt eines Sedimentierungsprozesses beinhaltet sie auch Sets von Arbeitsroutinen, deren spezifische Faibles, Ticks für Verfahrens-, Darstellungsweisen und Instrumentarien sich jeweils in lokalen oder disziplinären Bereichen entwickeln und über die Zeit weitergegeben und tradiert werden. Während z.B. das Lehr-Atelier von Venturi, Scott-Brown und Izenour, wie die Studie Learning from Las Vegas offensichtlich macht, auf einer binären Struktur von Autofahrt mit montierter Kamera als Beobachtungsinstrument auf der einen und graphischer Aufarbeitung von urbaner Ikonographie und Schwarzplänen auf der anderen Seite rekurriert, weisen etwa die Forschungsresultate des Masterstudiengang Urban Design (UD) an der HafenCity Universität Hamburg einen radikalen Methodenpluralismus auf. Jede Masterthesis hat dort das ihr eigene Forschungsdesign. Ein solcher Pluralismus ist jedoch nicht darauf aus, auf tradierte Eigenheiten zu verzichten. So finden beispielsweise – durch Atelier 17 | Dell: Stadt als offene Partitur.
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Bow Wow inspiriert – isometrischer Zeichnungen, die gewöhnlich zur Gestaltung neuer Bauten dienen, bei der Analyse des Bestands Verwendung. Insgesamt spannt sich so mit den Notationen ein Darstellungsraum auf, der sowohl strukturierendes Element wie auch Rahmung des Forschungsfeldes ist und seine Methodologien konstituiert. Davon, dass in der obigen angezeigten Bewegung die Architektur-, Planungsoder Städtebaulehre selbst zum Werk der Stadtforschung erhoben werden, berichten nicht nur Learning form Las Vegas, das UD oder Rem Koolhaas‹ Project on the City, sondern auch jüngere Arbeiten wie Studierendenprojekte von Oda Pälmke18, das Studio Constructing an archive an der Aarhus School of Architecture von Anne Elisabeth Toft und Claudia Capetillo, das Programm Agency an der Sheffield University oder die Universität der Nachbarschaften (UdN) des UD19. Sie alle zeigen, dass das Thema der Wissensformen der Ermöglichung auch an die Lehre und die Vermischung von Lehre und Stadtforschung rührt. Auf der anderen Seite exemplifiziert das Projekt Stadtgestalten im Dialog des Studiengangs cultural enginieering an der Universität Magdeburg, wie anhand einer Lehre Angewandter Kulturwissenschaft auf wissensbasierte Weise in einen Stadtteil interveniert werden kann, um einerseits dessen Anspruchgruppen ins Gespräch und andererseits mit der Inszeniereung von Objekten einen Dialog über die Gestaltung und Wahrnehmung des Stadtraums in Bewegung zu bringen.20 Meine eigene Erfahrung dessen entspringt der Arbeit an der gemeinsam mit Bernd Kniess entwickelten Konzeption und des Auf baus des oben genannten Masterstudiengangs UD und der UdN. Die Arbeit ging einher mit der Implementierung der entwickelten curricularen Formate, die sich innerhalb des UD Teams als Gruppenarbeit an der didaktischen Ausrichtung entwickelten. Am UD lernte ich, wie Stadtforschung in Lehre übergeht, Lehre zum Werk wird und wie sich anhand des musikalischen Raumdenkens eine didaktische Form entwickeln lässt, die dort take heißt. Der offene und iterative take konstituiert bis heute das methodische Herzstück des Studiengangs. Er rückt die (bei Derrida entwickelte, von ihm aber auf die Schrift reduzierte) Differenzarbeit in die praktische Stadtforschungs-Lehre. Der take gründet auf und rechnet mit einer Haltung zur Stadt, die man nicht lehren, sondern nur durch Einübung, durch Wiederholung lernen kann. Motiv-basiertes Lernen löst hier das prob18 | Pälmke, Oda (Hg.): Haus Ideal. The making of. Berlin 2015. 19 | http://udn.hcu-hamburg.de/de/ 20 | Ostermeyer, Serjoscha: »Einen Stadtteil dialogisieren: Eine Intervention Angewandter Kulturwissenschaft«. In: Ostermeyer/Krüger (Hg.): Aufgabenorientierte Wissenschaft. Münster 2015.
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lem-orientierte ab und ersetzt die von einem Außen her operierende Problemorientierung durch eine Immanenz des motiv-basierten Fragens.21 Wie es Stadtforschung als Wissensform darauf ankommen muss, unterschiedliche Rahmungen zu erwirken, steht sie vor der Herausforderung, Formen und settings zu entwickeln und zu implementieren, die es den Forschenden ermöglichen, in iterativer Weise Fragen von einem subjektiv artikulierten Interesse her zu erarbeiten. Es geht um ein Verfahren, das auf zwei Aspekten gründet: Erstens auf der Tatsache, dass Handlungen Effekte, Wirkungen und Strukturen produzieren, und zweitens auf der diagrammatischen Kapazität, notationale Konstruktionen hervorzubringen, mit deren Hilfe sich ideelle Strukturen der Erfahrung heben lassen. Performativ orientierte und der forschenden Performanz entstammende Notationen unterliegen keinem aufs Empirische reduzierten Sinnkriterium, sondern erhalten einen Wert, der sich an den Fragestellungen bemisst, die durch sie evoziert werden können. Angesichts dieser Situation bildet die Stadt erforschende Arbeit stets Folie für die Lehre, umgekehrt konstituiert Lehre stets einen Teil der Forschung selbst. Es liegt im Interesse der Stadtforschung, interagierende Settings lehrbasierten Forschens zu kreieren, in denen Lehre ein gleichrangiger Teil gestaltendes Arbeiten ist. Der springende Punkt liegt darin, dass der Gestaltung von Aufgaben dabei ihrerseits der Rang einer gewichtigen Aufgabe zukommt. Bildungstheoretisch schließt dies an die Aufgabentheorie22, besonders, wie sie im Anschluss an Renate Girmes am Studiengang cultural engineering in Magdeburg entwickelt wurde, an. Diese Theorie denkt »nicht in engen Fachbegriffen und Modellen von Spezialisten« sondern in Kategorien mit Beiträgen […] zu Kultur, Wissen, Prozessen und Innovationen sowie zu Methode und Methodologie«23. Ihr gilt die Aufgabe als zielführend statt als zielbestimmend. Im Bereich der Stadtforschung bedeutet ein solcher Umgang mit Wissen das Erscheinen der Meta-Aufgabe, so etwas wie civic design als politische Kategorie zukünftigen Handelns zu etablieren.24 Das Konzept der disziplinübergreifenden wis21 | Vgl. Kniess/Dell (Hg.): Tom paints the Fence.; Kniess/Bührig: »Methods, Tools and Theory.« In: wohnbund e. V. / HafenCity Universität Hamburg (Hg.): wohnen ist tat–sache. Annäherungen an eine urbane Praxis. Berlin 2016, S. 78. 22 | Vgl. Ostermeyer/Krüger (Hg.): Aufgabenorientierte Wissenschaft.; Girmes, Renate: (Sich) Aufgaben stellen. Seelze 2004. 23 | Girmes/Düllo/Riemann/Shimada: »Cultural Engineering – Wissenschaft, die sich einmischt«. In: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 122, III/2008, S. 69. 24 | Als Beispiel wäre neben dem Studiengang cultural engineering an der Universität Magdeburg auch das Department of Civic Design an der Universität Liverpool (www.liv. ac.uk/aesop2009/CivicDesign.htm) zu nennen, ebenso wie den Masterstudiengang Urban Desing an der HafenCity Universität Hamburg, insbesondere deren Projekt »Universität der Nachbarschaften«.
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senschaftlichen Analyse und des (Re-)Designs von Systemen in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern hat dabei – so die Konsequenz der vorgelegten Arbeit – leitend zu sein. Hieran schließt an, dass die Fragestellung der Gestaltungsform ›Re-Design‹ selbst zur entscheidenden Denkfigur aufrückt, deren theoretisches Fundament die vorgelegte Arbeit zu erweitern erlaubt: als Theoretisierung von Umnutzen, Umfunktionieren, Umdeuten usw. Die anderweitig vorgetragene Kritik am Zwang zur Kreativität25 bescheidet sich hier nicht bei der Negation von Neuem, sondern sie sucht und findet die mögliche Alternative: im konstruktiven, diagrammatisch orientierten Umgang mit Bestehendem, dem es gelingen kann, in die Kraft der Betrachtung der Sache selbst die Suche nach der alternativen, neuen Möglichkeit umzusetzen. Ein solches Tun methodologisch zu fundieren und zu stützen enthält – auch und vor allem im Hinblick auf Wissensformen der Ermöglichung – den Vorschlag einer Erweiterung des cultural engineering um ein (re-).
Wissensformen der Ermöglichung Zusammenfassend lässt sich sagen: In den hier vorgeschlagenen Wissensformen der Ermöglichung geht es prinzipiell darum, unter der konzeptionellen Folie nicht mehr cartesisch zu bestimmender Verweiszusammenhänge von Wissenszuwächsen die Rolle der Akteure und Dinge der Stadt zu begreifen, die sie produzieren und die sie fasst, und als deren Produzenten sie doch Improvisierende bleiben. Als Wissensformen der Ermöglichung bezeichne ich dabei die die Forschung aufspannende Analyse epistemischer Handlungszusammenhänge der Stadt, die mit gestalterischer Diagrammatik im Modus technologischer Improvisation operieren. Wissensformen der Ermöglichung beinhalten Rahmungen, Metaformen, Setzungen, Matrizes, Folien, die die konstruktive Bewegung ohne fixierten Plan erlauben. Im Zentrum steht damit die Frage, wie Wissen in einer Weise in Form gebracht werden kann, dass sich damit für jene Akteure, die das Wissen nutzen, Ermöglichung und Ermächtigung zu eigener und neuer Formproduktion verbindet. Das nenne ich Wissensformen der Ermöglichung. Sie stellen Formen vor, die keine Antworten auf gegebene oder identifizierte Probleme suchen, sondern darauf gerichtet sind, Arrangements zu gestalten, die es ermöglichen, die Fragen entstehen zu lassen, die man stellen will. Konsequenterweise handelt es sich bei Wissensformen der Ermöglichung nicht um geschlossene, sondern offene Formen. Derlei Thematik eröffnet sich im Prinzip in allen Wissenschaften, wenn sie sich selbst bei ihrem Formen etablierenden Tun beobachten und reflektieren. Es ist anzuerkennen, dass sich Wissen an Wissensformen bindet, d.h. an »Bestätigungsverhältnisse, […] die Rahmen bilden für Selbstverständigungen 25 | Vgl. Dell: Die improvisierende Organisation.
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über Erkenntnis und Praxis, Realität/Wirklichkeit und Möglichkeiten und Grenzen«26 von Weltzugängen. Schon früh thematisierte Ludwick Fleck jene »Denkgemeinschaften« und »Denkkollektive«, die mit ihren »Denkstilen« die Form für Wahrheitsansprüche liefern. Davon, dass Wissen eine Sache der Interaktion und relational ist, berichtet auch Karin Knorr-Ketinas Arbeit Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen.27 Im Zentrum dessen stehen epistemische Prozesse, bei denen »die Erzeuger von Erkenntnis selbst als Komponenten und Produkte« entsprechender Forschungsprogramme angesehen werden. Knorr-Ketinas Konzeption reichert die Definition der Wissensform um den Begriff der Kultur an, der dem »Praxisbegriff Sensibilität für Symbole und Bedeutungen hinzu«28 fügt. Ergänzend Exemplarisches bringt hier Hans Jörg Rheinbergers »Experimentalsystem« ein. Ein Experimentalsystem ist eine Wissensform, die man als »produktiv bezeichnet und das damit epistemisch, kulturell und sozial organisierend wirkt.«29 Diese Wissensform besteht und resultiert gleichermaßen aus einem Feld, in das sich »Forschungsprobleme, Theorien (die ihrerseits wieder ganz unterschiedlicher Natur sein können, wie Ad-hoc-Gruppen, mathematische Modelle, Globalstrategien), Messinstrumente, Versuchsanordnungen etc.«30 einschreiben. Wie Wissensformen einerseits die Bedingungen der Möglichkeit epistemischer Prozesse markieren, so stellen sie andererseits jene epistemischen Einheiten oder Strukturen dar, die sich auf das Direkteste mit dem Sozialen berühren. Denn Wirklichkeit und die Auseinandersetzung um das sie betreffende Wissen werfen zugleich ästhetische und politische Fragen auf, wie Hannah Arendt in Rückgriff auf Kant dargelegt hat: »Kultur und Politik […] gehören zusammen, weil es hier nicht um Erkenntnis oder Wahrheit geht, sondern um Urteil und Entscheidung, den vernünftigen Meinungsaustausch über die Sphäre des öffentlichen Lebens und die gemeinsame Welt, ferner um die Entscheidung darüber, welche Handlungsweise in der Welt zu wählen ist, und auch darüber, wie diese Welt künftig auszusehen hat, welche Arten von Dingen in ihr erscheinen sollen.«31 Damit gerät erneut in den Blick, wie Wissensordnungen als epistemische Wissenskulturen und -konstellationen produziert werden. Bereits seit Kant wird mit der Frage »Was kann ich wissen?« nach den Möglichkeitsbedingungen von Wissen gefragt und Wissen mit der Urteilskraft 26 | Sandkühler, Hans Jörg: Kritik der Repräsentation. Frankfurt a.M. 2009, S. 73. 27 | Knorr-Ketina, Karin: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt a.M. 2002, S. 23. 28 | Ebd. S. 22. 29 | Rheinberger, Hans Jörg: Experiment–Differenz–Schrift. Marburg 1992, S. 9. 30 | Ebd. 31 | Arendt, Hannah: »The Crisis in Culture: Ist Social and Political Significance«. In: Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought, New York 1968, S. 223.
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verknüpft, die, wie Kant sagt, nicht gelehrt, sondern nur geübt werden kann. Kants Rede von der Urteilskraft weiß davon, dass Wissen keine Kopie des zu Erkennenden darstellt, sondern Formen konstituiert, die wir der Welt beilegen. Daran schließt Kants Wörtlich-Nehmen des Begriffs Tat-Sache an. Tatsachen sind Hergestelltes, res facti, produzierte Gegenstände für Begriffe. Dem ist nun die Frage: »Wie kann ich wissen?« hinzuzufügen und die Produktionsbedingungen von Wissen zu berücksichtigen, d.h., epistemisch wissenschaftliche Voraussetzungen, epistemische und praktische Interessen ebenso wie die das Wissen rahmenden Ideologien und das das Wissen grundierende Nichtwissen.32 Solche Bedingungen sichtbar zu machen verstand Michel Foucault als Aufgabe der Archäologie des Wissens. Ihr geht Ludwik Flecks These voraus, dass das, was in den Wissenschaften Beobachtung von Tatsachen heißt, eine Fakultät und Praxis beansprucht: ein Sehen-Können, das von den Denkstilen und Denkkollektiven abhängt, in denen sich Wissensformen, Selbstverständnisse, Einstellungen und Werteformationen artikulieren. Jede Form des Wissens hängt dann von politischen Verhandlungen ab: Wissen braucht sowohl die Rechtfertigung der Interessen wie auch die Weise des Machens von Wissen als Verfahren. Das thematisiert nicht nur, welche Form des Wissens, sondern auch, welche Form des Herangehens und Herstellens von Wissen und welche daran geknüpfte Weltanschauung gewählt wird. Daraus erwächst erstens die Metafähigkeit, mit einer Pluralität von Wissensformen konstruktiv umgehen und leben und deren kulturelle Hintergründe verstehen zu können – besonders dann, wenn man hier neue Verknüpfungen herstellen und einführen will. Zweitens tritt damit die Herausforderung an ein prozedurales Verfahren experimenteller und offener Formproduktion im Rahmen einer Überzeugungsrechtfertigung auf. Stets sind damit die Karten eines jeweiligen epistemischen Profils offenzulegen, mit denen man spielt. Zudem gilt es, ein Anheimgeben an den offenen Prozess zu üben, ein Engagement für die Formung einer Überzeugung und eines Handelns, das diese trägt. Womit wir es dann zu tun haben ist ein Erkenntnishandeln, das keine Gegenstände an sich schafft, aber epistemische Handlungszusammenhänge in Abhängigkeit von Denkstilen, Repräsentationsformaten und Wissenskulturen. Es gehört zur ontologischen Grundbedingung dieser materialen Objekte, dass ihnen Unbestimmtheit anhaftet: Die Möglichkeit der Wissenszuschreibung fällt nicht vom Himmel, sondern ist – als das Erlernen der Fähigkeit, mit dieser Unbestimmtheit konstruktiv umzugehen – selbst Teil einer Bildungsaufgabe. Davon berichtet unter anderem Rheinbergers Rede von den Experimentalsystemen.
32 | Vgl. Girmes/ Dell: »Gemeinsame Aufgaben als Bezugspunkte für Wissen und Wissenschaft.« In: Ostermeyer/ Krüger: Aufgabenorientierte Wissenschaft. Münster 2015.
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1.2 G estalterische D iagr ammatik Tatsächlich bringt das permanent changierende Gewebe des Urbanen geradlinige Kategorien des Beschreibens und des Wissens zum Explodieren. Nichts scheint weiter weg zu führen vom Stadtwissen als die Frage »Was bedeutet Stadt?« Der stadttheoretische Diskurs rückt damit zweifelsohne in den Horizont einer Frage nach der Performativität: »Was macht Stadt?« Dies jedoch weder mehr in sprachphilosophischem, poststrukturalistischem noch theaterwissenschaftlichem Sinne, sondern als stadtpolitische Fragestellung des Umgangs mit einem Handeln, das mit Unbestimmtheit durchsetzt ist: Wie können wir angesichts der Unplanbarkeit von der Stadt in Theorie und Praxis vom Reagieren zum Inter-Agieren kommen? Wie lassen sich urbane Lebenswelten nicht mehr de-, sondern performierend fassen? Die Besonderheit, mit der wir es hier zu tun haben, ist jene Verschränkung darstellungs- wie handlungstheoretischer Bereiche, die das Augenmerk auf die Theoriebestände zum Diagramm und zur Diagrammatik richtet. Wo diese Verschränkung zeigen will, wie Stadt sich ordnet, ohne im gleichen Zug auf Vorstellungen einer raum- und zeitlosen Form und/oder prästabilisierter Harmonie zurückzugreifen, ist die Kontur des Diagrammbegriffs eine spezifisch gestalterische: Das Diagramm soll der Beschreibung eines Formwerdens offener Prozesse dienen, soll als Maschine auftreten, die die Kräfteverhältnisse sichtbar macht, die zu der Produktion des Prozesses führen und ihn in seiner Bewegung von Innen heraus ordnen. Das Diagramm ist somit nichts, was über die Prozesse hinweggeht, hinter ihnen agiert oder ihnen, als gegebene Form, äußerlich bleibt. Vielmehr mündet es in eine Neupositionierung des Formbegriffs: Kontrastierend zur herkömmlichen Auffassung steht die Form nicht mehr am Anfang einer Bewegung, sondern entsteht aus jener. Man muss hier Gilles Deleuze widersprechen. Dem Philosophen des Kartographierens, dem das Diagramm eine informelle Maschine ist, die als strukturierendes Moment im Offenen, in der Formierung von Prozessen eine wesentliche Funktion inne hat, musste freilich entgehen, dass es sich hier sehr wohl um eine Frage der Form handelt. Dass das Diagramm Prozesse durchwirkt und sie zu spezifischen werden lässt, ohne dass sie ihre Beweglichkeit verlieren, bedeutet, dass wir hier nicht mit Informalität, sondern mit einer anderen Form der Form konfrontiert sind. Was Deleuze aber richtig gesehen hat, ist, dass dem gestalterischen Diagramm ein prototypischer Charakter eignet. Anders als die gewöhnliche Repräsentation, die an die geschlossene Form gebunden bleibt, kündet das Diagramm vom Prozess der Produktion neuer Wirklichkeiten und dessen Unbestimmtheit. Unser Vorschlag besteht im Anschluss darin, einen diagrammatikbasierten Ansatz zu gewinnen, der, auf Stadtforschung projiziert, die konkrete Einlösung der stets bemühten Rede von der Performativität der Stadt verspricht. Mehr noch: Auch steigt an ihm Stadtforschung selbst zum
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Performativen auf, welches sich stets aus der Materialität diagrammatischer Schriftbildlichkeit speist. D.h., auf die Beziehung Stadt und Darstellung als »direkte Beziehung zwischen Kräften und Material«33 abzuheben. Hier weiterdenkend gilt es gleichwohl, Abgrenzungen und Präzisierungen vorzunehmen. Generell leitet das Stichwort Diagrammatik eine Diskussion an, die nicht-diskursive Modi der Reflexion voranstellt. Wie gesagt zielt die hier avisierte Inblicknahme der Diagrammatik – in der Konsequenz des in der Arbeit bis hierher erreichten Konzeptionsstands – weder auf ontologisch eingegliederte Bild- oder Medien-, sondern auf eine Hybridisierung von Darstellungs- und Handlungstheorie. In der Untersuchung stehen daher weniger die epistemischen Potentiale bildgebender (künstlerischer oder wissenschaftlicher) Verfahren »für sich« zur Debatte als vielmehr umgekehrt die Haltung zu und die Bedingungen von einer darin eingelagerten Wissensproduktion. Wenn somit im Weiteren von Diagrammatik die Rede ist, spielen Thematiken wie der bildwissenschaftlich orientierte iconic turn34, das medientheoretische Interesse am Zeigen-machen der Bilder35 wie auch die Befragung einer Erkenntnisfunktion des Visuellen36 eine eher nachgeordnete Rolle. Wenig überraschend liefert eher die Untersuchung einer Operativität von Schriftbildlichkeit, wie sie von Sybille Krämer vorgenommen wurde, ein Resonanzfeld dieser Arbeit, wie die pragmatisch orientierte Theorie der Diagrammatik unter besonderer Berücksichtigung ihrer epistemischen Struktur.37 Die dabei aufgerufene Konzeption des Darstellens gestalterischer Diagrammatik reagiert sicherlich auf etwas, was es schon gibt: vor allem die aktuelle 33 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 467. 34 | Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild? München 1994; Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. 35 | Wiesing: Sehen lassen; Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Frankfurt a.M. 2010. 36 | Vgl. u.a.: Heßler/Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld 2009. 37 | Bender/Marrinan: The Culture of Diagram. Palo Alto 2010; Bauer/Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010; Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke (Hg.): Schriftbildlichkeit. Über Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012; Pombo/Gerner (Hg.): Studies in Diagrammatology and Diagram Praxis. London 2010; Schmidt-Burkhardt, Astrit: Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas. Bielefeld 2012; Stjernfelt, Frederik: Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics. Dordrecht 2007; Bredekamp, Horst: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte. Berlin 2005.
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Tendenz in der Stadtforschung, Darstellungen von der Stadt extrem zu hybridisieren und so den gewöhnlich unterstellten Abbildcharakter architektonischer oder städtebaulicher Repräsentation zu unterlaufen. Man denke, um nur einige zu nennen, an die diagrammatischen Darstellungen des Ruhrgebiets durch Rem Koolhaas oder Eutopia, die Stadtkarte Europas, erstellt durch Theo Deutinger, die Stadtweltkarte von Raumlabor, die Studie Made in Tokyo von Atelier Bow-Wow, Stadtkartierungen sowohl von Lacaton & Vasall als auch von Bernd Kniess, oder an die Arbeiten zur Rekonturierung der Metro-Karte von Paris durch Ruedi Baur. An deren Darstellungen lässt sich beispielhaft zeigen, dass Funktion, Form und Struktur des Darstellens von der Stadt zumindest problematisch geworden ist. Gewiss, dass dies zum Problem wird ist nicht neu. Bereits die Karten von Constant zum Ruhrgebiet, Cedric Prices Projekt Potteries Thinkbelt oder die der Psychogeographie des Situationismus wie Naked City oder Memoires entstammenden Darstellungen enthalten Hinweise auf eine Repräsentationsform von der Stadt, die auf stark nichtrepräsentationale Anteile rekurriert und somit gewissermaßen eine Subjektivierung des Kartierens vorantreibt. In diese Subjektivierung ist ein Paradox eingelassen: Auf zunächst unbestimmte Weise vermuten Stadtforschende, dass das Bild, das wir von Stadt haben, nicht mehr der Realität von der Stadt entspricht oder dass die herkömmliche Weise, per Darstellung auf den Referenten Stadt zu verweisen, nicht obsolet, aber doch problematisch geworden ist. Herauszufinden, wie die Stadt sich zusammensetzt und wie man das als Wissen heben, und d.h. auch zeigen, kann, setzt hier eine neue Praxis des Darstellens in Gang. Die neuen Formen des Darstellens verwenden zwar Elemente tradierter Repräsentationen, verzerren diese aber, unter verstärktem Einbezug von und Spiel mit subjektiven Anteilen, setzen sie neu zusammen, collagieren sie usw. – in der Hoffnung, aus der Öffnung der Darstellungsweise könne, ohne diese vorzugeben, eine anderes Bild von Stadt erwachsen. Sie suchen das Performative am Wissen zu heben um das implizite Wissen der in das Forschen an der Stadt eingelassenen Performanz nutzbar zu machen. Wer aber nachvollziehen will, welche praktischen Implikationen darin enthalten sind, Darstellungen der Struktur subjektiver Stadterfahrung zu produzieren, und wie diese Praxis des Darstellens zu verstehen ist, tut gut daran, auf den Begriff der Diagrammatik und insbesondere auf den der gestalterischen Diagrammatik zurückzugehen. Dieses Buch richtet sein Augenmerk also darauf, in welcher Weise die gestalterische Diagrammatik strukturell zum epistemischen Material und Medium der Stadtforschung aufsteigt und welche Voraussetzungen damit verbunden sind. Ins Zentrum einer Epistemologie der Stadt rückt damit die Frage: Inwieweit kann anhand von Diagrammen ein spezifisch diagrammatisches visuelles Wissens generiert werden, das sich wiederum als Erkenntniswerkzeug einsetzen lässt?38 38 | Vgl. Dell: Stadt als offene Partitur.
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In der von mir vorgeschlagenen Theoretisierung schließe ich an meine Erfahrung in den Raumwissenschaften an: Da nämlich zeigt sich, dass der Aspekt eines spezifischen Raumverständnisses als zentral zu gelten hat. Weshalb? Seit Charles Sanders Peirce wissen wir, dass Diagramme Wissen anordnen. Sie erhalten ihre logische Wirksamkeit aus der Funktion ihrer Räumlichkeit und hängen somit irgendwie mit einem räumlichen Verfahren zusammen. Gemeinhin wird nun angenommen, es handele sich bei Diagrammen um einen graphischen Raum, ›in‹ dem Wissen räumlich angeordnet und in ein relatives Gefüge gebracht wird.39 Ein solches Containerverständnis von Raum verhüllt aber dessen seinerseitig bestehende Produziertheit. Aus eben jenem Charakter des Produziertseins von Raum kann indes die Relationalität diagrammatischen Verschaltens als Pragmatik sich – so die hier eingebrachte Theoretisierung – erst begründen. Das gilt ebenso für die Anteile nicht-intentionaler – und somit ermöglichender – Anschluss- und Verschaltüberschüsse des Diagramms. Die differentia specifica, welche die Praxis gestalterischer Diagrammatik, wie ich sie in der Arbeit beschreibe, von anderen theoretisch bedeutsamen Praktiken unterscheidet, sie eingegrenzt und spezifischer erfasst, gründet demnach einerseits in dem Verständnis von Raum als relational Produziertem und andererseits in der Berücksichtigung der improvisationalen Einstellung im Umgang mit Wissen. Freilich, mit Diagrammen ist prinzipiell ein besonderer Darstellungsmodus thematisiert: Diagramme stellen dar, aber sie bilden nicht ab. Während sie zum einen sichtbar machen, was unter einer traditionellen Form der Repräsentation nicht sichtbar werden würde, geht zum anderen dort, wo mit Diagrammen Prozesse geöffnet und vervielfältigt werden, Gestalten in ein Forschen über und umgekehrt. Exemplarisch dafür steht die Rechercheform von Cedric Prices berühmtem Fun Palace. Sie konturiert sich an dem epistemologischen Verfahren, nicht etwa, um bereits intern-mental vorformuliertes Wissen als Diagramm darzustellen und logisch zu entfalten, sondern um neues Wissen praktisch-performativ zu erzeugen. Diese Transformation von Wissen ist an die mediale Praxis der Produktion und Interpretation offener Formen gebunden, funktioniert allerdings auch nur als gedanklich-mentales Bild, d.h. ohne ein Diagramm materiell zu zeichnen. Als offene Partituren erlauben Diagramme und Diagrammatik des Fun Palace einen beweglichen, d.h. prozeduralen, performativen und in diesem Sinne praktischen, Umgang mit ›Wissen‹, der sich nicht (vorrangig) auf verbale Sprache stützt. Daraus lassen sich spezifische Anforderungen an eine gestalterische Diagrammatik ableiten. Sie muss zu Produktion differentieller Anschlussstellen befähigt sein, wenn und insofern sie ebenso Teil eines Redesign der Stadt wie 39 | Vgl. Lammert/Meister/Frühsorge/Schalhorn (Hg.): Räume der Zeichnung. Nürnberg 2007, S. 6.
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auch Teil einer Produktion von Erweiterungen des Wissensbestands über die Stadt fungieren soll. Gestaltung und Differenz prononcieren sich als zwei Seiten einer Medaille, ihr Zusammen- und Wechselspiel bedingt die Transformationen und Übergänge im Prozess des improvisatorisch agierenden Forschens. Improvisatorisch bedeutet hier: Der ganze Forschungsaufsatz muss so arrangiert sein, dass er sich so organisieren kann, dass die Erzeugung von Differenzen nicht zum Halt des Verfahrens führt, sondern umgekehrt zu einem konstruktiven Umgang mit Unbestimmtheit. Denn erst dort, wo Improvisation in den Rang eines konstitutiven Antriebs des Verfahrens erhoben wird, kann die Unbestimmtheit urbaner Performativität als Wissensressource gehoben werden. Das setzt voraus, »das Primat der im Werden begriffenen, wissenschaftlichen Erfahrung, bei der […] Unbestimmtheit nicht defizitär, sondern handlungsbestimmend ist, gegenüber ihrem […] verfestigten Resultat zur Geltung zu bringen.«40 Das Bedeutsame gestalterischer Diagrammatik liegt darin, dass sie der Stadtwahrnehmung etwas hinzufügt, sie verändert, erweitert und sogar sprengt, anstatt sich aus ihr ontologisch und mimetisch zu definieren. Dabei ist es notwendig, die Materialität der Visualisierung nicht nur als Verkörperung einer Darstellung, Abbildung einer visuellen Konzeption zu verstehen sondern als einen Terminus zu etablieren, der es erlaubt, die Bedingungen des Stadtlesens und -darstellens zu thematisieren. Das beinhaltet indes eine Umorientierung des Blicks auf die inneren Abläufe des Forschungsprozesses und damit auch auf das Lesen der von ihm hervorgebrachten Darstellungsräume. Die Offenheit des Forschungsprozesses ist grundlegend und daher epistemologisch ernst zu nehmen. Weil sich der Forschungsprozess als ein Vorgang prononciert, der nicht finalistisch oder teleologisch auf ein Ziel fixiert ist, sondern Impuls und Motiv aus der ihm eigenen Vergangenheit bezieht, muss er in bestimmter Weise rückwarts geschrieben werden. Einsicht in ein mögliches Umschalten liefert hier das kleine Wort »retroaktiv«, das Koolhaas in den Stadtdiskurs eingebracht hat. »Koolhaas’ Retroaktive Form und seine These von der Stadt als soziologischem Happening verschiebt die Perspektive grundlegend: weg von der reinen Konzeption, Überplanung und Konzentration auf das gebaute Objekt hin zur performativen Aktion der Nutzer.«41 Die Abwesenheit des Telos erlangt den Status positiver Kausalität, indem sie, in einem spezifischen Modus, Struktur in die Zeit einrückt. So gehört das retroaktive Arbeiten zum differentiellen Verschieben und Verschalten. Man kann sogar sagen, dass Differenz immer nur retroaktiv, also nachträglich bestimmbar ist. Ihre symbolische Wirksamkeit (als diskursiver Effekt oder Bedeutungsproduktion) erhält Differenz in einem Kausalitätsmodus, der nicht linear voranschreitet, sondern 40 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 27. 41 | Kniess, Bernd: »Learning from Wilhelmsburg.« In: Michaelis, Tabea: showtime Wilhelmsburg. Leipzig 2015, S. 414.
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die Folge Ursache-Wirkung umdreht. Ihr Modus besteht in der »kontinuierlichen Neuschreibung der Vergangenheit« die vergangene, signifikante Spuren in neue Kontexte einschreibt, die »retroaktiv deren Bedeutung verändern.«42 Das erklärt, weshalb sich die gestalterische Diagrammatik an ein Redesign knüpft. Die Kohärenz des Stadtforschungsfeldes wird weniger über Planung oder Kreation von Neuem als durch neuverschaltenden, diagrammatischen Rückgriff auf Bestehendes und differierende Wiederholung hergestellt. Die Pointe besteht darin, dass eine solche gestalterische Diagrammatik, weit davon entfernt, im informellen anything goes aufzugehen, sich an eine differentielle, relationale, man kann sogar sagen diagrammatische Praxis bindet, die, soviel lässt sich vorgreifend sagen, Improvisationstechnologie heißt. Der Ausdruck Redesign soll dabei nicht die Stetigkeit eines Stadtforschungsprogramms gegenüber Unordnungen, gescheiterten Versuchen oder misslungenen Verschiebungen betonen. Er bedeutet auch nicht, dass gar nichts Neues geschieht. Der für die Argumentation vorliegender Schrift bestimmende Sinn des Ausdrucks äußert sich eher in dem Verweis auf die Verschränkung von Analyse, Raumproduktion und diagrammatischem Neuarrangieren. Der hier avisierte um-gestaltende Charakter des Forschungsprozesses begründet sich aus dem Umstand, dass wir es mit einer Serie von Fällen zu tun haben, durch welche die materiellen Bedingungen zur Fortsetzung eben dieses Forschungsprozesses kaum Veränderung erfahren. Das dem Lehr- und Forschungsbetrieb entspringende Selbstbauprojekt Universität der Nachbarschaften (UdN) gibt hier Einblick ins Konkrete: Statt zur Forschung einen Neubau zu etablieren, konzentrierte sich das Projekt, das von 2008 bis 2013 als Restnutzung-Experiment innerhalb der IBA HamburgWilhemsburg stattfand, auf den Umgang mit dem Bestehenden, um daraus Rückschlüsse auf den urbanen Handlungszusammenhang zu gewinnen. Einen Stadtforschungsprozess einem Redesign zuzuführen heißt hier, die in einer urbanen Situation vorhandenen gebauten und performativen Strukturen als epistemische Handlungszusammenhänge lesbar zu machen, so dass sich der Prozess auf dieser Basis weiter verschalten kann. Anstatt lediglich Randbedingungen für ein Forschungsprogramm zuverlässig anzubieten, charakterisiert das Redesign der UdN die stadtforschende Tätigkeit als einen eminent gestalterischen Vorgang. Jedes Ereignis neuen Wissens ist dabei auch immer und notwendigerweise gebunden an die öffnende Umgestaltung bereits existierenden Wissens. Während solche Forschungsprogramme Wissen schaffen, bleiben sie der lokalen und situitierten Performanz ihrer epistemischen Handlungszusammenhänge und ihrer eigenen Redesignbedingungen verpflichtet. Ihre Zeitstruktur hängt weniger von einer wie auch immer gearteten Logizität denn 42 | Zizek, Slavoj: »Kant und das fehlende Glied der Ideologie«. In: Gondek/Widmer (Hg.): Ethik und Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1994, S. 52-77, S. 57.
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von der umgestaltenden Ortsbezogenheit ab, wie sich an der Zunahme der Learning from-Formate in der Stadtforschung belegen lässt. Ein epistemischer Handlungszusammenhang ist dann für andere Wissensformen anschlussfähig, wenn er, nachdem er mit dem Improvisieren aufgetaucht ist, als Notation oder offene Partitur in den Redesign-Prozess des Forschungsprogramms Einzug erhält.43 Wie sich eine Stadtrecherche von dem Vorgehen löst, vermittels abschließender Repräsentation über eine als gegeben angenommene Stadtwirklichkeit aufklären zu wollen, gibt Tabea Michaelis’ Stadtforschungsstudie showtime Wilhelmsburg44 aufs Genaueste wieder. Auffällig ist Michaelis reflexive Konfrontation mit den disziplinären und subjektiven Perspektiven, Linsen und Folien, mit denen Wissenschaft der Stadt als Forschungsgegenstand begegnet. Dass hier Text und Bild oder untersuchter Gegenstand und Erkenntnis nicht in einer Bedeutung zur Deckung gebracht werden, ist da nur konsequent. Stattdessen lädt Michaelis die Rezipienten ihres Buches dazu ein, an den Exemplifikationen und Tiefenbohrungen, die sie am Beispiel der spezifischen Situation des Hamburger Stadtteils Wilhelmsburg vorgenommen hat, die Verbindungen, die relationalen Verweiszusammenhänge des Städtischen selbst fragend und erforschend herzustellen. »Weniger geht es darum, Antworten auf gegebene oder identifizierte Probleme zu suchen, vielmehr sollen neue Arrangements entstehen, die es ermöglichen, Fragen entstehen zu lassen.«45 Es handelt sich um ein Konvergieren von Gestaltung und Forschung, das sich nicht nur aufs Performative beruft, sondern – so wie es die von Michaelis gewählte Form des randonnée anzeigt – selbst performativ, d.h. beweglich ist: Form entsteht aus Bewegung und nicht umgekehrt. Woraus die Kompetenz des Entwurfes dann besteht, ist das Re-Design vorhandener Ressourcen und Optionen, das durch diagrammatische Verfahren neue Verweis- und Verschaltzusammenhänge aufzeigt und aktualisierbar macht. Michaelis’ Buch ist aus dem Studiengang U D in Hamburg und dem Umkreis der UdN hervorgegangen. So wie für andere Resultate des Studiengangs gilt auch für dieses Buch, dass es für seine Repräsentationstechnik wohl Anhaltspunkte, aber keine determinierte Referenz gibt, die als externer Bezugspunkt für die Form hätte herhalten können. Gestalt gewannen und gewinnen Stadt-Darstellungen hier nicht durch den Abgleich eines Modells mit einer Stadtrealität; ihre Konturen rühren von der fortlaufenden, iterativ wiederholenden Arbeit des Verschiebens, Vergleichens, Arrangierens, Versammelns und Überlagerns von Darstellungen her, die wiederum auf unterschiedliche Darstellungstechniken zurückgehen, wie Fotographie, Handzeichnung oder Isometrie. Deren relationaler Darstellungsraum, der sich zwischen Analogien 43 | Vgl. Kniess/Dell (Hg.): Tom paints the Fence. 44 | Michaelis, Tabea: showtime Wilhelmsburg. 45 | Kniess: »Learning from Wilhelmsburg.«, S. 415.
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und Konkretionen aufspannt, verzichtet weitestgehend auf das Kriterium des Abbildhaftigkeit, seine Bewertung richtet sich nach dem, was Notationen ermöglichen, als Raum der Anschlussoptionen für unterschiedlichste Hybridformen des Wissens. Der Wert der im Stadtforschungsprozess verfertigten Spuren bemisst sich demnach daran, in wie weit sie sich in anderen Forschungskontexte einfügen lassen, um dort neue Spuren hervorzurufen. Innerhalb dessen ist es gerade die Materialität der Spuren, Notationen, Partituren, die als Garant für ihre Widerständigkeit gegen beliebig auf sie projizierte Deutungen herhält. Wo der eigentliche Prozess materialer Einschreibung und der Produktion neuer Wissenspuren von Unbestimmtheit gezeichnet ist, so ist seine hauptsächliche Handlungsform die Improvisation, sein Medium die gestalterische Diagrammatik. Man sollte hier erneut auf die epistemische Notwendigkeit der Unbestimmtheit aufmerksam machen, die ein dauerndes Probieren, Scheitern, Innehalten, Neu-Herangehen, Umwege machen, Zurückgehen impliziert. Was in anderer Perspektive wie vermeintliche Ziellosigkeit aussieht, reüssiert hier als Motor der Spurenproduktion. Konstruktiv gehalten wird eine solche Bewegung durch eine Handlungsform, die als epistemisches Verfahren zu einem Überschuss führt.
Abbildung 8: Tabea Michaelis showtime Wilhelmsburg (2015)
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Abbildung 9: Tabea Michaelis showtime Wilhelmsburg (2015)
Abbildung 10: Tabea Michaelis showtime Wilhelmsburg (2015)
Welches Gestalten? Zunächst ist also die Aufgabe, die dem Lesen der Stadt heute gestellt ist, in der Weise neu, dass es eine neue Methode des Lesens von der Stadt verlangt, und diese Methode kann nur in der unmittelbaren Verknüpfung von Wissen und Gestalten, von Interpretieren und Verändern geschehen. Nicht nur fordert diese eine lange Einübung, eine Übung des Sehens und Machens im Lesen der Stadt. Auch gilt es, wenn Stadt als Prozess verstanden wird, zu fragen, was
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der Begriff ›Gestaltung‹ im Konnex von Prozessen heute bedeuten und, daraus folgend, welche Relevanz er in der Stadtforschung entfalten kann und in welchem Modus der Erkenntnis Gestaltung (als Wissen) ihre Positivität einschreiben kann und durch welche geschichtlichen Bedingungen dies möglich wird. Zunächst ist eine auf Prozesse bezogene gestalterische Praxis (deren Definition bleibt vorerst offen) strukturell als relationales soziales Verfahren zu interpretieren, das sich innerhalb eines Netzwerkes aus Diskursen gesellschaftlicher Wirklichkeit entfaltet. Gewiss, mit Blick auf die zunehmenden Unvorhersehbarkeiten, Diskontunitäten und Brüchen urbaner Welt immer weniger von Repräsentation als eines dem Gestaltungsprozess vorausliegenden und von ihm unabhängigen Sinne gesprochen werden kann, sind neue Möglichkeiten, sich im Feld von Gestaltung zu bewegen, gefordert. Steht aber damit nicht der Gestaltungsbegriff selbst zur Disposition? Lässt sich Gestaltung noch unter dem Primat der Kreation von Neuem fassen? Und welche Haltung zu Prozessen und Transformationen von Bestehendem ist damit berührt? Vor der Folie dieses Fragens erweist es sich als relevant, zunächst das Spannungsverhältnis zwischen Gestaltung und Prozess zu untersuchen. In der vor allem in den Organisationswissenschaften begründeten Disziplin der Prozessgestaltung steht die Planung von Prozessen im Vordergrund. Prozessgestaltung definiert Prozesse als »systematische Folge von Schritten, die auf die Erreichung eines Zieles hin ausgerichtet sind«46. Nach der Qualitätsmanagement-Richtlinie DIN EN ISO 8402 gelten Prozesse als »Satz von in Wechselbeziehung stehenden Mitteln und Tätigkeiten, die Eingaben in Ergebnisse umgestalten«47 oder »die Erstellung einer Leistung oder die Veränderung eines Objektes durch eine Folge logisch zusammenhängender Aktivitäten«48. Prozessmanagement sieht Prozesse als »a set of logically related tasks performed to achieve a defined business outcome«.49 Dies kongruiert mit der Definition von Planung als »gedankliche Vorwegnahme zukünftigen Handelns«50, als »rationaler, sich an Zielen orientierender Prozess« und »bewusstes, rationales Denkhandeln«, das zukünftige Ereignisse antizipiert und ordnet, um »Maß-
46 | Breinlinger/O’Reilly: Das Krankenhaus Handbuch. Neuwied 1997, S. XXIII. 47 | Vgl. Bichlmaier, Christoph: Methoden zur flexiblen Gestaltung von integrierten Entwicklungsprozessen. München 2000. 48 | Schulte-Zurhausen, Manfred: Organisation. München 2002, S. 299. 49 | Davenport/Short: »The New Industrial Engineering: Information Technology and Business Process Redesign«. In: Sloan Management Review, Summer 1990, S. 11-27, S. 12. 50 | Wöhe, Günter: Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. München 1996, S. 140.
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nahmen, die erst später ausgeführt« werden sollen, schon zu einem früheren Zeitpunkt »möglichst zielgünstig festzulegen oder auszuwählen«51. Eine solche Perspektive auf Gestaltung, Prozess und Planung erkennt an, dass es sich bei Prozessen um Handlungsverläufe, Initiativen handelt. Als problematisch erweist sich aber folgender Punkt: Wer Prozesse planbar bzw. auf finalistisch definierte Weise gestaltbar machen will, muss der Prozessgestaltung eine Realität vorausstellen, die als eine externe, objektivierbare »Natur«52 gesetzt wird. Naturalisierung und Externalisierung aber verschließen den Zugang zur Situiertheit des Realen der Stadt. Dieser Einwand erhält umso mehr Gewicht, wenn gefragt wird: Interpretiert eine solche Sicht Gestaltung und Prozess nicht grundsätzlich als teleologische, finalistisch orientierte Vorgänge? Setzt sie in ihrer rationalen Anschauung von Handlung nicht eine Art homogenen Raum der Handlung voraus? Verharrt sie nicht überhaupt in einer alten Formenteleologie, die besagt, dass alle Entwicklung bereits in der Form angelegt sei und dass »ein oberstes bewegendes Prinzip […] alles Seiende zu sich hinauf [zieht] und die Reihe der Formen ist die Stufenfolge, die zu ihm hinaufführt«53? Und ist eine solche Teleologie noch haltbar? Die finalistische Definition von Prozess und Planung stößt sicher dann an ihre Grenzen, wenn Geschichtlichkeit und damit auch Politik (als kontextuelle, situative Relationalität) von urbanen Prozessen in Betracht gezogen werden. Geschichtlich meint hier: Prozesse »verlaufen nicht in Form natürlicher Entwicklungen«54, noch können sie, wie Arendt betont, deterministisch definiert werden als etwas, was im vornhinein und seinen eigenen Gesetzen folgend bestimmt und darum erkennbar ist.55 Vielmehr zeigen sich aus dieser Perspektive Prozesse als »Ketten von Ereignissen«56 relational durchdrungen von politischen, ökonomischen und kulturellen Konflikten. In Gegenwart dieser Situation sollte man erstens die Hypothese aufstellen, dass man urbane Prozesse (als zeitlich ausgedehnte Beziehungen und Verhältnisse) nur schwer mit solchen Repräsentationen erschließen kann, die auf als vorgängig gesetzte Wirklichkeiten rekurrieren. Zweitens gerät zum Dilemma, dass Prozessgestaltung im Mitführen des Telos das Misslingen als Risiko darstellt, welches sie verhindern will. Die teleologisch-finalistische Annahme einer idealen Regulierung des Prozesses hat also das Problem, dass sie Risiko 51 | Voigt, Kai-Ingo: Strategische Unternehmensplanung. Grundlagen – Konzepte – Anwendung. Wiesbaden 1993, S. 5. 52 | Vgl. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt 2007, S. 286; Latour, Bruno: Nous n’avons jamais été modernes. Paris 1997, S. 157. 53 | Hartmann, Nicolai: Teleologisches Denken. Berlin 1951, S. 43. 54 | Arendt, Hannah: Was ist Politik? München 2003, S. 33. 55 | Ebd., S. 50. 56 | Ebd., S. 33.
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als Zufälliges, Äußerliches ausklammert, als etwas, das uns nichts über das in diesem Risiko und den ziel-erweiternden Handlungen liegende Wissen lehren kann. Wie jedoch will man zu einer Ermöglichung – und das interessiert hier – vorstoßen, wenn Ergebnisse schon feststehen, Ziele unumstößlich fixiert sind, bevor man den Prozess eingegangen ist? Oder umgibt die Allgemeinheit des Risikos Prozessgestaltung wie eine Art äußerer Bedrohung, die sie nur umgehen kann, wenn sie am Telos festhält? Oder ist dieses Risiko nicht eher, wie Derrida (in Bezug auf die Sprache) gesagt hat, »ganz im Gegenteil ihre interne und positive Möglichkeitsbedingung? Dieses Außen ihr Innen? Die Kraft selbst und das Gesetz ihres Auftauchens?«57 In dieser Fragestellung ist eine Diskontinuität angelegt. Eine Kritik an Planung und Formenteleologie, die sagt, Pläne (für die Stadt) seien prinzipiell unnötig, das Informelle, das Taktische das allein Richtige, vergisst nur allzu leicht, dass alle Kritik noch auf dem Boden derjenigen Planung steht, die sie kritisiert. (Derrida hat sich eingehend mit diesem Thema befasst, s. Kapitel Derrida.) Es kann also weder darum gehen, Pläne abzulehnen, noch darum, Planung besser zu planen. Wäre es dann nicht an der Zeit, das Wissen aus der Praxis selbst zu gewinnen und somit den Plan vermittels der Vervielfältigung der Pläne zu überschreiten, Pläne situativ werden zu lassen, Taktiken strategisch zu machen und vice versa das Handeln reflexiv? Impliziert dies nicht, dass Gestaltung zukünftig vermehrt situativen Charakter tragen wird, versuchen muss, »in« Situationen hineinzukommen, um von dort aus ihr Wissen, ihre Ressourcen zu generieren? Um diesen Fragen nachzugehen, wird zu einem späteren Zeitpunkt der genaueren Untersuchung des Begriff des Diagramms oder der diagrammatischen Bewegung noch einmal ein Ort eingeräumt. Und es eröffnet sich hier eine zweite Diskontinuität: Der Einbezug situativer Verfahren kann nicht losgelöst von der Untersuchung materialer, also dinghafter Konstellationen statthaben. Die von der aktuellen Stadtforschung forcierte Verschiebung der Gestaltung vom Objekt zum Prozess ist also dahin zu korrigieren, dass vielmehr die Frage der Dinge und des Umgangs mit ihnen (und damit auch das Handeln selbst) neu zu klären ist. Dies ist eine der zentralen Denkfiguren von Bruno Latour. Wir werden sie zu einem späteren Zeitpunkt in dem Kapitel zum Thema Redesign und Improvisation näher diskutieren. Aus obiger Argumentation folgt: Wenn wir danach fragen, ob es möglich ist, Prozesse zu gestalten, eröffnet sich gleichlaufend die Frage nach dem Gestaltungsbegriff und dessen Erweiterung selbst. Zwischen die beiden Begriffe Prozess und Gestaltung schiebt sich dann der Begriff der Möglichkeit – in Bezug auf Prozesse kann Möglichkeit sowohl Prinzip und Ursprung als auch die Modifikation bereits bestehender Prozesse bewirken. Das verstärkt die 57 | Derrida, Jacques: »Signatur. Ereignis. Kontext«. In: Ders.: Die différance. Stuttgart 2004, S. 97.
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die Tendenz, eine Verschiebung von Problemlösung hin zur Ermöglichung zu vollziehen. Mit anderen Worten: Wer die Frage der Gestaltung neu in den Blick nimmt, hat sich auch und vor allem für die Befähigung zu situativem Vorgehen und die Sichtbarmachung der in einem solchen Vorgehen angelegten Wissensbestände zu interessieren. Wenn es weniger um Probleme sondern um Möglichkeiten, weniger um Objekte sondern um nicht vorwegnehmbare Prozesse der Transformation geht, um Handlungen und Handlungsweisen, die sich nicht homogenisieren lassen, gerät darüber hinaus die Wissenschaft selbst auf den Prüfstand, ist der wissenschaftliche Modus externalisierender Objektivierung ebenso zu hinterfragen (s. Kapitelblock 2) wie die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und alltäglicher Praxis. Die hier aufgeworfenen Fragen sind keineswegs neu. So rekurriert beispielsweise das in der Stadt- und Regionalplanung entwickelte action planning bereits auf die Schaffung »regelmäßig in bestimmter Weise gestalteter Anlässe für alle von der Klärung komplexer berührter Akteure, […] Anlässe, die es erlauben sollen, beim Lösen von Aufgaben zu Lernen.«58 Hier ist schon angedacht, dass in Prozessen gelernt, transformiert wird. Es bleibt jedoch zu fragen, ob im Umgang mit und Produktion von nichthomogenen Räumen lineare Lösungsstrategien noch zielführend sein können und ob statt vom Aufgaben- bzw. Problemlösen eher von einem Kreieren von Möglichkeiten zu sprechen ist. In welche Richtung dies gehen könnte, deuten einige Beiträge in der Architekturzeitschrift Archplus 183 aus dem Jahr 2007 an. Dort konstatieren u.a. Jesko Fezer und Mathias Heyden, dass sich Stadtentwicklungsprozesse kaum mehr auf ihre technischen Dimensionen wie z.B. den Paradigmen der Umsetzbarkeit und Produktivität reduzieren lassen. Eine allgemeinverbindliche normative und hierarchische Planung fände zunehmend Erweiterung in »nicht-dirigistische Formen der Beteiligung«. Fezer und Heyden fordern, einen »Situativen Urbanismus« als Produktivkraft gegenwärtiger »städtischer Wirklichkeit anzuerkennen, der auf der Vielfalt der Alltäglichkeiten städtischen Lebens« gründet. Ein solcher Situativer Urbanismus hätte die politischen, kulturellen, ethnischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte gesellschaftlich-räumlicher Gestaltungsprozesse ebenso wie die daraus »resultierenden pluralistischen Entscheidungsfindungen«59 zu untersuchen und sich »explizit auf die Gesamtheit individueller und kollektiver Alltagspraxen und unkoordinierten Raumproduktionen« zu beziehen, müsste Abweichendes gerade nicht ausschließen, sondern mitverhandeln.60 Als Beispiele können neben der Universität der Nachbarschaften auch Projekte wie The Great Unpacking of Associati58 | Scholl, Bernd: Aktionsplanung. Zürich 1995, S. 9. 59 | Fezer/Heyden: »Die Versprechen des Situativen«. In: archplus 183, Mai 2007, S. 95. 60 | Ebd.
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ve Life von Jeanne van Heeswijk, die Große Potemkinsche Strasse von Ton Matton oder die Stadtspaziergänge von Boris Sieverts angeführt werden.
1.3 I mprovisation als Technologie . W ie R aumproduk tion und offene F orm zusammenzudenken sind Sofern also bei Wissensformen der Ermöglichung von Wissensformen gesprochen werden kann, die sich dadurch auszeichnen, dass sie in der Verfertigung von Wissen beständig Darstellungen, Notationen erzeugen, verschieben und überlagern, zeigt sich ihr Können darin, die Festlegung auf einen sauberen Schnitt zwischen Prozess und Ergebnis, Begriff und Ding so weit wie es nur eben geht aufzuschieben, um die Vieldeutigkeit des Darstellungsverfahrens maximal auszuschöpfen. Zum epistemologisch entscheidenden Kriterium avanciert die Bedingung, dass jede Fixierung im Forschungsprozess nur eine temporäre sein kann. Zeitgleich muss das temporäre Festhalten – Polyani hat dies, wie wir ausführen werden, am Wechselverhältnis des stummen und des expliziten Wissens aufgewiesen – von der Peripherie des Fokushorizonts ins Zentrum bewegen und von den Forschenden in eine Form der Schrift transformiert werden. Wo sich, um Prozesse offen und epistemisch ertragreich zu halten, die referentielle Bedeutung einer Repräsentation weder stabilisieren lässt noch stabilisiert werden soll, stellt sich die Form der Arbeit in der Differenz als zentral heraus: Mit der Herstellung epistemischer Handlungszusammenhänge hängt eine serielle Kette von hybrid sich überlagernden und verschiebenden Darstellungen zusammen, in welcher der Ursprung, das Original oder ein planerisches Telos nicht mehr auszumachen ist. Nie kommt es zu einem finalen Halt, stets werden sowohl der Platz des Signifikats wie auch der des Referenten von einer weiteren Darstellung eingenommen. Für das Verfahren des Verschiebens und Verschaltens, das der hier annoncierten Produktion epistemischer Strukturen zu Grunde liegt, kommen wir wieder auf das zurück, was Hans Jörg Rheinberger mit der Derrida’schen diffèrance – einem eigentlich längst aus der Mode gekommen Begriff – für die Forschungspraxis erneut fruchtbar gemacht hat. Diffèrance liefert der Stadtforschung jene »besondere Arbeit des Geschiebes«61, die es erlaubt, den Fallstricken eines naiven städtebaulichen Realismus und seiner Reduktion von Stadt auf ein gegebenes und abzubildendes Objekt vielleicht nicht ganz zu entrinnen, »aber sie zumindest an einigen Stellen zu durchlöchern«62 . Darin macht sich geltend, was Rheinberger vereinfachend als das Supplementaritätsprin61 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 11. 62 | Ebd.
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zip anführt, »eine Ökonomie epistemischer Verschiebung, in der alles, was zunächst lediglich als Substitution oder Hinzufügung innerhalb der Grenzen einer [bestehenden Forschungssituation] in Anschlag gebracht wird, [der Situation] insgesamt eine neue Gestalt und damit auch [ihre] Vergangenheit neu zu lesen gibt.«63 Eine solche diagrammatisches Verschaltung der materialen Spuren und Handlungen führt im Verschieben zur nicht-teleologischen Wissensproduktion von Bedeutung und grenzt sich von einer cartesianischen Epistemologie ab: »Im Gegensatz zur cartesianischen Illusion anfänglich klarer und distinkter Ideen, ist das Einfache in einer ›nicht-cartesianischen‹ Epistemologie von vornherein überhaupt nicht vorhanden.«64 Rheinberger hat seine grundsätzlichen Überlegungen nicht handlungstheoretisch konkretisiert. Es ist aber unschwer zu erkennen, dass das von ihm nicht unterschlagene, sondern geradezu herausgestellte »Tasten und Tappen« des wissenschaftlichen Forschungsprozesses – und das gilt auch für die Stadtforschung – vom Technologischwerden der Improvisation herkommt, in dem es letztlich darum geht, im Konnex soziomaterialer Handlungszusammenhänge konstruktiv mit Unbestimmtheit zu verfahren und damit Wissensgewinnung an die Verfahren des Zerlegens, iterativen Verschiebens, des Neuversammelns in Form einer gestalterischen Diagrammatik zu binden. Daraus leitet sich für mich Nutzen und Notwendigkeit ab, einen neuen Begriff der Improvisation zu konturieren und so die Praxis des Repräsentierens vor der Folie einer improvisationalen Perspektive zu lesen. Das, was hier improvisationale Perspektive heißt, erklärt sich aus der Verbindung von diagrammatischem Stadtzugang und relationalem Handeln und thematisiert und bindet sich an eine bestimmte Haltung zur Stadt. Die Schwierigkeit des Verfahrens besteht nicht in der Negation, sondern im Überschreiten der teleologischen Konzeption von Wissen. Meine Arbeit in der disziplinübergreifenden Lehre und Forschung im Feld der Städtebautheorie machte mir deutlich, dass die dreifache, nicht-lineare Verbindung von Perzeption, Konzeption und Projektion, wie sie in der diagrammatischen Untersuchung sich vollzieht, nicht nur besondere Formen der Darstellung evoziert, sondern auch spezifische Lesarten von und Weisen des Umgangs mit diesen Darstellungen erfordert. Damit das Diagramm zu jener epistemischen Struktur aufsteigen kann, die Rem Koolhaas mit der Aussage, das Diagramm sei eine spezifische Weise, die Welt zu sehen, in Aussicht stellt, ist erstens eine Weise der Strukturierung des Diagramms selbst erforderlich, die auf Unabgeschlossenheit und Optionen zur Rekonfiguration desselben hinleitet. Wie sich daran zweitens eine Weise des Umgangs mit dem Diagramm bindet, die ich Improvisationstechnologie nenne, so erfordert dies drittens eine bestimmte Haltung zum Diagramm, die mit ›improvisationaler 63 | Ebd. 64 | Ebd., S. 25.
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Perspektive‹ beschrieben ist. Die hier zu unternehmende systematische Entwicklung der epistemischen Problematik scheint indes mit ihrem Gegenstand, der improvisationalen Perspektive, in Konflikt zu geraten. Ich habe diese Frage so zu lösen versucht, indem ich die Kapitel des Buchs mit Metaschaltungen versehen habe, die das Oszillieren zwischen der rekursiven Sicht eines Theoretikers und der Sicht des gestaltenden Vortastens ermöglichen soll. Obschon Metastudie entkommt diese Schrift nicht dem Dilemma, dass sie sich selbst diagrammatisch und in improvisationaler Perspektive darstellen muss.
Politische Ökonomie der Form Mit obigen Überlegungen erhält Improvisation als Handlungsmodell neue Relevanz. Sich mit dem Begriff der Selbsttechnologie verschränkend soll dabei Improvisationstechnologie zunächst ex negativo bedeuten, dass mit ihr kein Nicht-Können oder Reparaturhandeln benannt ist (wie wir es der Improvisation gewöhnlich unterstellen), sondern ein Handlungsmodell, das in die Lage versetzt, das nicht-intentionale Moment und Unbestimmtheit in das »Handeln mit anderen« aufzunehmen. Positiv gewendet meint Improvisationstechnologie: konstruktiver Umgang mit Unordnung in sozio-materialen Konstellationen. Was an dieser Stelle ins Spiel kommt, ist die Rekonturierung des Verhältnisses von Form und Materie. Dem Einwand, dass sich mit dem Fokus auf das Stadthandeln ein Sozialkonstruktivismus, eine Epiphänomenologie oder ein Subjektivismus etablieren, kann über die Bedeutung von Materialität, die hier gesetzt ist, begegnet werden: Danach stellt Materie eine räumliche, relationale Anordnung von Dingen und Akteuren vor, die erstens nicht passiv ist, sondern affiziert, und zweitens nicht gegeben ist, sondern produziert wird. Letzteres weist darauf hin, dass Material »Tätigkeit, Gerinnung von Tätigkeit«65 vorstellt. Darauf lässt sich entgegenen, dass mit der Betonung des Improvisationalen eine praxeologische Sicht auf Materialität bevorzugt wird (im Zentrum steht immer die Frage: Was kann ich mit/in einer Situation machen und was macht die Situation mit mir?). Um diesem zweiten Einwand zu begegnen, ist eine Abgrenzung zu vollziehen. Wenn von Handlungstheorie die Rede ist, ist nicht jene Sicht gemeint, die zwar das Materiale dem von linguistischen Konstruktivisten und anderem evozierten Verschwinden befreit, aber gleichsam, indem sie Dinge als geronnene Handlung interpretiert, das Kind mit dem Bade ausschüttet.66 Solche Theorie des Handelns reproduziert, 65 | Barad, Karen: Agentieller Realismus. Frankfurt a.M. 2012, S. 40. 66 | Solch einen Konstruktivismus findet man bei u.a. Hirschhauer, Stefan: »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipande des Tuns«. In: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld 2004.
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indem sie noch stets das Handlungsmodell rationalen Handelns vorgefertigter Subjekte lanciert, jenen Gegensatz von Struktur und Handlung67, der in der Improvisation gerade keinen Sinn mehr macht. Worum es bei der Improvisation geht ist aber ein Zusammenspiel von Struktur und Handlung – sonst käme ja nichts ans Funktionieren. Während in den herkömmlichen praxeologischen Ansätzen Materialität meist ins Reservat der Passivität verwiesen wird, macht das Beispiel des musikalischen Improvisierens sehr gut das Gegenteil deutlich. Es gibt wider, wie aus materialer Notation, Materialität der Instrumente und zirkulierenden Tönen ein Kollektiv entsteht, das in seiner offenen prozessualen Bewegung weder lediglich vorgängige Strukturen aktualisiert, noch auf seine singulären Einheiten zurückgeschraubt werden kann. Das Beispiel erklärt aber auch, dass Materialität eng an Performanz gebunden bleibt. Nicht in dem Sinn, das Material durch Sprechakte oder soziale Konstruktionen bzw. Konventionen in die Welt kämen. Gemeint ist vielmehr, dass materiale Anordnungen durch die Tätigkeit des Versammelns immer wieder neu erhandelt und produziert werden müssen. Dies steht im Gegensatz zu einer Soziologie, für die »Ordnung die Regel« bildet, »Wandel und Verfall oder Schöpfung die Ausnahme«68. Es ist indes an der Figur-Grund-Relation zu drehen, Ordnung als Ausnahme und Performanz als Regel, so »als wären in beiden Denkrichtungen Hintergrund und Vordergrund vertauscht«69. Das schließt an Karen Barad an, für die die Hinwendung zu performativen Alternativen zum Repräsentationalismus Fragen der Ontologie und Materialität des Tätigseins ebenso umfasst wie eine Verlagerung von der abbildorientierten Reflexion hin zur material ausgerichteten Streuung.70 Materie manifestiert sich dann als eine »dynamische Artikulation/Konfiguration der Welt« 71. Was hier behauptet wird, ist die flache Ontologie des Gefüges, die Dinge ebenso als Akteure in Rechnung stellt wie Menschen. Allerdings bleibt zu fragen, ob derlei Ontologisierung zum einen nicht wieder von einer Vorgängigkeit des Materials kündet und zum anderen die Frage des »Was wie Tun?« zu verdecken droht. Gerade für Letzteres verspreche ich mir im Rückgang auf das strukturelle Moment des Diagrammatischen praxisrelevante Erkenntnisse für das Herstellen von und arbeiten mit offenen Formen. Angesichts dessen ist eine Veränderung im Begriff des Wissens impliziert, und zwar dergestalt, dass das, was das Wissen zum Wissen macht, als ein Pro67 | Vgl. Reckwitz, Andreas: »The Status of the »Material« in Theories of Culture: From Social Structure to Artefacts«. In: Journal for the Theory of Social Behaviour 32 (2). 2008, S. 195-217. 68 | Barad: Agentieller Realismus. S. 63. 69 | Ebd. 70 | Ebd., S. 12. 71 | Ebd. S. 41.
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zess verstanden werden muss, der zwischen den Gegenständen und den auf sie intentional bezogenen Subjekten verläuft. »Gleichwohl ist hier intentional im Meta-Sinne gemeint: Selbstverständlich richten wir unsere Sinne auf die Wahrnehmung von Dingen und Sachverhalten, aber die Erkenntnis, die dabei entsteht oder entstehen kann, ist nicht Resultat eines linear intentionalen Sender-Empfänger-Verhältnisses.« Das Intentionale steht dem Nicht-Intentionalen nicht mehr als objektivierbares Anderes gegenüber, sondern geht mit diesem ein reflexives Wechselspiel der Transformation ein. Das lässt sich besonders gut an Rheinbergers Arbeiten erläutern, in denen die alte wahrheitstheoretisch begründete Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen durch das Aufdecken nicht-repräsentationaler und nicht-intentionaler Verfahren in wissenschaftlichen Experimentalsystemen problematisch wird. Wirklichkeit bleibt darin stets eine ambivalente Größe. Wie uns Dinge der Welt jeweils erschienen, ist keine rein objektive Angelegenheit, sondern von dem imaginativen Anteil interpretierender Subjekte nicht zu trennen. Die Fähigkeit, von Dingen zu wissen, meint im ästhetischen Sinne, Formen zu entwickeln, die ein Mehr des Objekts erscheinen lassen und auf der anderen Seite ein sich bildendes Subjekt evozieren, das reflexive Urteilskraft anzuwenden lernt: D.h., weltlichen Kontext in dem Kontext von defragmentierenden Brechungen fremd sich begegnen lassen, um sie wieder neu zu versammeln. In der Kritik der Urteilskraft gemahnt Kant daran – und das kann man eigentlich erst heute, vor dem Hintergrund der Diskussion um das offene Werk und die offene Form in der bildenden Kunst richtig verstehen – dass das ästhetische Urteil an eine Metaform gekoppelt ist: Es bringt die Lage zum Ausdruck, dass der Akt des Bestimmens mit einem Urteilen zusammenfällt, der selbst reflexiv thematisch und problematisch wird. Daran koppelt sich die Paradoxie, dass jedes Urteil über Objekte aus der Provokation durch eben jene entsteht, während zugleich das Urteil damit auszeichnet, was sich ihm immer wieder entzieht. Genau dieser Paradoxie entspringt das Mehr solchen Wissens. Sie aber spielt sich keineswegs in einem Raum der Willkür, des Subjektivismus oder jenseits jeglicher Normativität ab. Vielmehr ist hier ein Begriff ästhetisch-politischer Rationalität impliziert. Das zu sagen heißt auch, dass solche Konzeption von Wissen die Reflexion auf die historisch-gesellschaftliche Situiertheit von Wissen in seine Formbildung eintreten lässt. Wissensformen der Ermöglichung zeichnet aus, dass sie uns mit den politischen und geschichtlichen Dimensionen unserer Urteilspraxis konfrontieren, indem sie in keiner Bestimmung je ganz aufgehen. Ihr Gewinn liegt in der Herstellung von Anschlussstellen zum diagrammatischen Weiterdenken und -schreiben. So steigt das Urteilen von der Kanzel transzendentaler Erfahrung von Erkenntnis überhaupt herab und begibt sich in die Niederungen sozialer, ästhethisch-politischer Prozesse. Hier kommt ein Formverständnis zum Tragen, das man diagrammatische Typologie nennen kann und das im Gegensatz zu einer homonymen Typenlehre steht, wie sie
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sich vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften ausgebildet hat. Sie ist vielmehr eine exegetische Methode, in der sich Typen nicht auf eine Ordnung im Raum, sondern auf die Gliederung der Zeit als Ereignis beziehen. Ein solches Formdenken bedeutet vor allem, dass es Ereignisse des Vergangenen unter dem Aspekt ihres prophetischen Gehalts zu deuten fordert – Typen sind Formen der Vorverkündigung des Kommenden, jedoch, hier der Anschluss an Kant, in factis, nicht in dictis (nach Taten und nicht nach Worten). Genau dafür ist der Begriff der Diagrammform einzuführen – als prozessuale, offene Form des relationalen Verschaltens: Im Diagrammatischen kommt eine Form in Gang, die Materialität des Zeichens und Materialität des Handelns so zusammenbringt, dass neue Wirklichkeit entstehen kann. Anhand der Kombination phänomenologischer Körperlichkeit (einer Pilotfunktion) und reiner Semiose (etwas zukünftig Realem) begründet das Diagramm einen verkörperten Utopismus. Solche Utopie verspricht kein Außen, sondern operiert mit einer performativen Strategie, die die Umrisslinien des Regimes in semiotische und physische Beweglichkeit versetzt und von Innen her zum Erodieren bringt. Das epistemische Objekt, als Ästhetisches im emphatischen Sinne, tritt nur im Wechselbezug zu wahrnehmenden Subjekten in Erscheinung, die sich über diesen Wechselbezug auseinandersetzen. Das impliziert zum einen, Wissensproduktion nicht auf ein Kommunikationsmittel oder Zulieferungssystem für ein Bewusstsein (als Behälter) herunterzuschrauben. Das Belieferungsverständnis nimmt an, wie Eva Schürmann herausgestellt hat, es gebe eine »basale Schicht sensueller Registrierung, von der eine höher zu bewertende Ebene deutenden Erkennens abgesondert wird. […] Dieses Belieferungsdenken, demzufolge die Sinne Zulieferer des Denkens sind, ist ein historisch vorherrschendes Motiv und der Grund für die vertrackte Problemlage.« 72 Zum anderen fokussiert das Problem vorderhand weniger die Frage nach dem Verhältnis von Universalität und Epistemologie als vor allem die nach dem Verhältnis, das das Wissen-Machen zu Ethik und Politik unterhält. Partizipation an Wissen heißt aus dieser Perspektive, dass die wissen-wollenden Subjekte im Verhältnis zur Welt keineswegs mehr ihre empirische Situiertheit überwinden sollen. Teilhabe am Wissen soll nicht mehr im entäußerten Verhältnis zur Sache, sondern im In-der-Welt-Sein nicht nur möglich sein, sondern auch dieses zur (beweglichen) Grundlage habe. Wie das Verhältnis der ästhetischen Erfahrung zur Dimension des Gemeinsinns, des sensus communis, nicht mehr als eine abstrakte vorgestellt werden kann, so ist sie auf die spezifische, konkrete Form der Subjektivierung zurückzubeziehen. Das bringt eine Neuformulierung der politischen Frage mit sich, wie die Teilhabe an der offenen Form und die am Sozialen zusammenhängen. Im Zentrum einer Wissensform der Ermöglichung steht 72 | Schürmann, Eva: Sehen als Praxis. Frankfurt a.M. 2008, S. 34f.
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eine ästhetische Arbeit an der Wahrnehmung aufs Gegebene, die sie mit der emphatisch politischen teilt: Statt auf eine Evidenz eines unmittelbar Gegebenen zu beharren, wird das Gegeben-Sein und dessen Wie zur Fragestellung des Deutens. Eine solche Arbeit verspricht nicht direkte Teilhabe am Sozialen, sondern problematisiert zuerst jene. Sein Ästhetisch-Politisches entfaltet eine solche Arbeit mithin weder in der Konstitution von utopischen Gehalten noch von festen Wahrheiten, sondern in der reflexiven Thematisierung jeglicher Rahmung: also der intersubjektiv gebildeten Überzeugungen, die das historisch und gesellschaftliche situierte Wissen ausmachen. Solchermaßen geteilte ästhetische Erfahrung lässt sich auf Grund ihrer reflexiven Struktur keineswegs aufs Subjektivistische reduzieren. Das hängt freilich mit der offenen Form zusammen: Die epistemologische Potentialität der offenen Form zeigt sich nicht durch eine beliebige Bestimmbarkeit, sondern in dem Engagement mit der Form selbst. Dem entspricht Erfahrung nicht der reinen Formwahrnehmung, die dann einer »formlosen« Materie auferlegt wird, sondern einem dynamischen Prozess zwischen Form und Materie. Das Ästhetische an der offenen Form ist niemals einfach evident und rein »für sich«. Es ist vielmehr nun gerade das, was die Reduktion der Form aufs abgeschlossene Produkt unterläuft, indem es einen Prozess in Gang setzt und hält, und zwar hinsichtlich der potentiellen Bedeutungen, die sich mit der materialen Konstellation einer Situation, aus der die Form sich herausschält, auf unterschiedliche Weise verschaltet. Offen wird Form erst, wenn sie aus Bewegung entsteht und diese Bewegung halten kann. Ihr Wissen entfaltet sich zwischen Situation und Akteuren. Ziel der Wissensformen der Ermöglichung kann es nicht mehr sein, die Betrachtung der Welt im Namen einer falschen Universalität von allen politischen Effekten reinzuhalten, vielmehr ist angezeigt, Wissensformen explizit zum Medium einer Reflexion auf die Widersprüche zu machen, in die sie eingelassen sind. Der Gedanke der Universalität bleibt darin enthalten, sofern er auf das Medium politischer Auseinandersetzung und des Gebrauchs der Freiheit verweist, in dem er, wie Arendt betont, seinen Ort hat. Das bedeutet darüberhinaus, zu fragen, wie Anordnungen das materiale Format unseres Stadtproduzierens strukturell mitkonstituieren. Was tut Material mit uns und was können wir mit diesem Mit-uns-Tun machen? Diese Frage impliziert nicht, in einen vormodernen Zustand zurückzufallen und den Dingen eine Magie zuzusprechen. Im Falle der Stadtforschung kann es beispielsweise fordern, des Verhältnis der Forschenden zum Stadtraum als offenen Prozess zu untersuchen und mithin die Stellungen und Relationen, die wir zum Urbanen als Raumproduzenten einnehmen (also zu dem, was wir aus jeweils situativen, materialen und sozialen Konstellationen mit erhandeln), um daraus ein Selbst- und Stadtverhältnis zu entwickeln, das uns ermöglicht, eine improvisationale Perspektive einzunehmen. Ob Dinge handeln können – wie Bruno Latour unterstellt – oder nicht, spielt jedoch nur hinsichtlich unseres
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Verständnisses von Handeln eine Rolle. Im Vordergrund steht dagegen die Frage, wie wir uns von den Dingen und ihrer Handlungswirksamkeit bewegen, affizieren lassen. Das praxistheoretische Modell in Richtung eines ereignistheoretischen Ansatzes überschreiten heißt, dass nicht handelnde Akteure und soziale Strukturen, sondern aneinander anschließende ebenso materielle wie »unkörperliche Ereignisse« 73 die strukturelle Basis des Materialen bilden. Dann aber muss sich doch herausfinden lassen, wie man sich von Versammlungen affizieren lässt und wie man ihnen neue Anschlussoptionen abliest bzw. ihnen neue hinzufügt. Solches Fragen gemahnt an den Materialismus der Begegnung Althussers, der davon spricht, das alles Materiale seine Existenz der »Abweichung und Begegnung« 74 verdankt. Dass damit alle gebildeten Entitäten von einer »radikalen Instabilität« 75 heimgesucht werden, gehört zum Kernmovens der Improvisation. »Diese Perspektive berührt Fragen des Politischen auch insofern, als sich mit ihr unsere Sicht auf das ändert, was unsere eigene agency als Existenzform oder Handlungsmacht zu bewirken im Stande sein könnte und wie politische Handlungswirksamkeit mit Fragen der Maßstäblichkeit der Anordnungen verknüpft sind. Die in jüngster Zeit sich verstärkenden sozialen Bewegungen mit dem Moto »Recht auf Stadt« können als exemplarisch dafür gelten. Am Maßstab des Objekts entzünden sich jene politischen Forderungen, die in der Folge nicht im Maßstab Nationalstaat, sondern im Maßstab Stadt sich artikulieren. Ob Gezipark in Istanbul, Bahnhof in Stuttgart, Ticketpreis der Busse in Sao Paulo oder die Räumung einer Siedlung für ein olympisches Dorf in Rio de Janeiro: Überall dort, wo ein stadträumliches Gefüge als materiale Funktion zerlegt und einer Tiefenbohrung zugeführt wird, scheint die politische Handlungswirksamkeit der Subjekte in Gang zu kommen und – unter dem Ruf nach dem Recht auf die Stadt – neue politische Formen zu generieren. Dass wir uns mit solcher Fragestellung auch stets selbst auf unser performatives Potential befragen, betrifft ferner ganz basale Ebenen unserer Stadtverfasstheit.« 76 Keineswegs ist dies verwunderlich, wie Hartmut Böhme herausstellt: Dinge können gar nicht anders denn »als Relate unserer Aktivitäten kognitiver oder praktischer Art« 77 vorkommen. Das gilt auch für Stadt. »Der Ansatz, Materialität als Anordnungen und damit als Versammlungen von Dingen und Menschen zu verstehen, die neu versammelt werden können, nimmt dabei eine dreifache Umwendung vor. Erstens will er jenen Idealismus 73 | Deleuze, Gilles: Die Logik des Sinns. Frankfurt a.M. 1993, S. 19-28. 74 | Althusser, Louis: »Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung«. In: Althusser, Louis: Materialismus der Begegnung. Zürich 2010, S. 23. 75 | Ebd. S. 42. 76 | Kniess/ Dell: »Intro.« In Dieselb. (Hg.): Tom paints the Fence. 77 | Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Hamburg 2007, S. 14.
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ad acta legen, der die Synthesis des Objekts im Bewusstsein eines vorgeformten Subjekts verortet oder auf ein Sprachfeld reduziert. Zweitens vollzieht er die Absetzbewegung zu einer Konzeption, die jegliche materielle Mannigfaltigkeit in einem Objekt vereinheitlicht. Ohne die Relationalität des Mannigfaltigen aufzugeben, erfahren die Zusammenhänge vielmehr Öffnung und Pluralisierung. Solche Öffnung verlangt nach dem dritten Aspekt, dem Einbezug der Temporalität der Anordnungen als offenem, performativem Prozess. Die Frage, wie sich diese drei Aspekte zusammendenken und in ein Machen transferieren lassen, führt sogleich zu der nächsten Frage: Wie agiert man improvisational, d.h. offen, und strukturiert zugleich mit einer Anordnung, einer Versammlung, einem Gefüge, einer assemblage, einem agencement? Was lässt sich darunter verstehen? Und wie lässt es sich so darstellen, dass daraus neue, plurale Handlungsoptionen entstehen, « 78 ohne in nur »vermeintliche« Improvisationsangebote zurückzufallen?
Das Urbane und die Raumproduktion Spulen wir noch einmal zurück: Noch ist undeutlich, was mit alltäglichen Praktiken, mit Raumproduktion eigentlich gemeint ist. Was bedeutet die Rede von städtischer Wirklichkeit? Welches Raumverständnis ist damit verbunden und welche epistemische Rolle kommt hier dem Urbanen zu? 79 Zunächst haben wir es bei gegenwärtigen urbanen Agglomerationen mit einem Prozess des Wandels und der Verdichtung hin zu einem mehrdeutigen und kontingenten Geflecht zu tun, das irgendwie aus der Möglichkeit seiner Handlungsräume zu entstehen scheint. Gleichzeitig ist jedoch im Blick zu halten, dass dieses Geflecht weit davon entfernt ist, ohne normative Rahmungen auszukommen: Metaregeln städtischer Organisation spielen als Vektoren in die urbane Bewegung hinein, wobei die Auseinandersetzung um Deutungen und Deutungshoheiten über die Stadt zunimmt.80 Henri Lefebvre geht sogar so weit, zu sagen: »heute bietet die urbane Realität eher den Anblick eines Chaos, einer Unordnung (unter der eine noch zu entdeckende Ordnung verborgen ist), als die eines Objekts.« 81 Während sich die Transformation der Stadt vollzieht, erfährt der gesellschaftlich-kategoriale Status der Stadt einen Wechsel: Stadt wird selbst zum Synonym von Gesellschaft erhoben und umgekehrt 78 | Kniess/ Dell: »Intro.« In Dieselb. (Hg.): Tom paints the Fence. 79 | Ich folge in diesem Abschnitt den Ausführungen meines Buches »Das Urbane«. Dell: Das Urbane. 80 | Zu den sozialen Bewegungen, die sich unter dem Schlagwort »Recht auf Stadt« in den letzten Jahren formiert und auch in den Medien große Resonanz erfahren haben, s.u.a. Holm/Gebhardt (Hg.): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Hamburg 2011. 81 | Lefebvre: Die Revolution der Städte. S. 81.
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– Gesellschaft verstädtert sich. »Verstädterung«, sagt Lefebvre, »ist nicht sichtbar. Wir sehen sie noch nicht.« 82 Daraus folgert er: »Zur Wissenschaft kann das Wissen um das Phänomen der Verstädterung nur in der und durch die bewusste Bildung einer urbanen Praxis werden, die an die Stelle der inzwischen vollendeten (vollkommen verwirklichten) Industriepraxis und ihrer Rationalität tritt.«83 Für die die Stadt gestaltenden Planer bildet die Praxis genau das Blindfeld. Sie leben auf diesem Blindfeld, befinden sich in ihm und können es mit ihren externalisierenden Planungsstrategien und Raumkonzeptionen (d.h. Praxis durch Vorstellungen vom Raum, vom sozialen Leben, von den Gruppen und deren Beziehungen untereinander zu ersetzen) weder wahrnehmen noch dessen Logiken begreifen.84 Das bestätigt die Herausforderung, neue Formen zu finden, um die urbane Praxis und deren Wissensformen zu untersuchen. Weshalb? Weil sich in der Praxis ein bestimmtes (wir können sagen »stilles« oder auch »implizites«) Wissen äußert, dass ihr als tacit knowledge eingelagert ist. Wenn das Urbane selbst epistemologisches Gebiet wird, bedarf es Formen der Untersuchung, die die Praxis nicht ausschließen. Denn weder legen die Phänomene den Blick darauf frei, wie sich die Rhythmen der Stadt verbinden, überlagern, auseinander bewegen und wieder begegnen, noch eröffnet uns das schriftliche Aufzeichnen des alltäglichen Lebens allein einen Zugang zur Immanenz des urbanen Prozesses. Zu fragen ist daher nach den Wissensformen einer spezifischen Praxis, »die, in Form von Simultanität und Begegnung, in sich die zerstreuten, dissoziierten, separaten Bewegungen des Sozialen vereint.«85 Das Urbane ist voller Performativität, sich überkreuzender Bewegungen und unvorhersehbarer Situationen. Der Vektor Null ist in diesem Raum virtuell enthalten: In der maximalen Reduktion von Raum und Zeit besteht die Leidenschaft der Nutzer des Urbanen. Sie sind besessen davon, Entfernung abzuschaffen. Diese Utopie ist ihr Symbol des Imaginären, die in der Performanz der plötzlichen und unerwarteten »Begegnungen und Annäherungen, in der Lust an der Geschwindigkeit« Gestalt annimmt und sich so als »differentielle Realität« 86verwirklicht. Man wagt also nicht zuviel, wenn man das Urbane heute als das Labor des Sozialen betrachtet. Das zu sagen heißt auch, das Urbane als Ort der Meditation, der Vermittlung und der Organisation der urbanen Gesellschaft und ihres alltäglichen Lebens zu fassen. Wenn das Urbane total ist, so ist es dies jedoch nicht in der Art und Weise eines Objekts, das sich in 82 | Ebd., S. 44. 83 | Ebd., S. 180. 84 | Ebd., S. 198. 85 | Lefebvre, Henri: Writings on Cities. Oxford 1996, S. 143. 86 | Lefebvre: Revolution der Städte, S. 58.
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Masse und Volumen ausdrückt, sondern eher wie ein Gedanke, der die Konzentration seiner Aktivität permanent fließen lässt und sich durch neue Formen der Konzentration verändert, ohne einen Zustand jemals festhalten zu können. Die Stadt konstituiert »das Mögliche, definiert durch ein Ende eines Weges, der zu ihm hinführt« 87. Derlei theoretische Erkenntnis ist abstrakt und konkret zugleich. Statt den Weg, der zur Stadt führt, als einen teleologischen zu begreifen, bezieht sie sich auf »ein soziales Geschehen, das noch im Fluss ist, eine urbane Praxis, die trotz aller Hindernisse im Entstehen ist. Dass diese Praxis im Augenblick verschleiert und zusammenhanglos erscheint, dass die zukünftige Wirklichkeit und die zukünftige Wissenschaft nur bruchstückartig existieren« 88, stellt sich als die eigentliche Aufgabe für die Stadtforschung dar. In Anbetracht dessen geraten solche Raumtheorien in den Fokus, die sich mit der oben thematisierten Nicht-Homogenität von Raum auseinandersetzen. Es sind dies jene handlungsorientierten oder auch relational genannten Raumkonzeptionen, welche Raum als ein durch Handlung produziertes, nichthomogenes Werden verstehen. Im Bruch mit dem statischen, akteursunabhängigen und neutralen Raumbegriff wenden sich diese Konzeptionen sozialen (Per-)Formierungen von Raum zu. Aus der Heterogenität unterschiedlichster im Moment kursierender Ansätze kristallisieren sich dabei bestimmte Deutungsaspekte in dem Vordergrund heraus. Erstens: Raum wird nicht mehr als homogener, starrer Behälter und/oder als den Dingen vorhergehende Entität, sondern als dynamische, relationale An-Ordnung von Gütern und Menschen interpretiert. Raum ist nicht unmittelbar gegeben, sondern – als sozialer Prozess – Resultat sowohl menschlicher Handlungen wie Syntheseleistungen, das topologische Orte in einen Kontext bzw. ein räumliches Bezugsystem bringt (Martina Löw).89 In der Weise, wie sich Raum als relational und als soziales Produkt zeigt, wird zweitens auch die These eines durch Handlung entstehenden und Handlung affizierenden, performativen Raumes und mithin die Untersuchung kultureller, künstlerischer und sozialer Praktiken der Aneignung und Umnutzung von Raum relevant (Michel de Certeau)90. Und drittens manifestiert sich Raum in einer Doppelgesichtigkeit, die darin besteht, durch Praxis produziert zu sein und gleichzeitig soziale Praxis mit zu bedingen. Raum existiert nicht vor der gesellschaftlichen Praxis, sondern ist als soziales Produkt sowohl Effekt gesellschaftlicher Konstituierung als auch notwendige Bedingung für die Reproduktion des Sozialen (Henri Lefebvre).91 87 | Ebd., S. 60. 88 | Ebd. 89 | Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001. 90 | Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin 1988. 91 | Lefebvre, Henri: The Production of Space. Oxford 1991.
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Derlei Ansätze handlungsorientierter Konzeption von Raum bleiben für die folgende Untersuchung grundlegend. Dabei ist anzumerken, dass Handlungstheorie nicht nur den Versuch impliziert, Handeln als Vermittlungskategorie »zwischen den materiell wahrnehmbaren Aspekten der Räume und den sozialen Folgen räumlicher Strukturen«92 zu fassen, sondern auch und vor allem auf die mit Unbestimmtheit konnotierte Produktion von Raum zu fokussieren. In diesem Zusammenhang ist zweierlei erneut zu bedenken: Erstens geht es, wenn in den folgenden Beschreibungen vor allem auf handlungstheoretische Raumkonzeptionen abgehoben wird, nicht darum, einen Raumdeterminismus (der auf die das Raumproduzieren vorschreibenden Strukturen verweist) gegen einen Raumvoluntarismus (Hypostasierung der Produktion von Raum als informellen, strukturungebundenen Akt) auszuspielen. Eher erweist sich eine solche Dichotomie auf Grund ihrer teleologischen Grundausrichtung und dem mitgeführten intentionalen Handlungsbegriff, wie oben dargelegt, als nicht mehr tragend. Es ist mir jedoch bewusst, dass das Betonen einer performativen Hervorbringung von Raum die Gefahr in sich birgt, in die Nähe eines voluntaristischen Denkens gerückt zu werden (welches die kreativen Aspekte der Raumhervorbringung in den Mittelpunkt stellt und materielle, ökonomische und politische Konstellationen vernachlässigt). Dies bekräftigt den nächsten Punkt. Auf Ermöglichung zielende Wissensformen sind nicht ohne die Analyse der Bedingungen je spezifischer Raumsituationen zu haben. Es braucht eine Analyse, die auch und gerade auf die material-ökomischen Konstellationen und die Handlungswirksamkeit (agency) räumlicher Arrangements, Assemblages, Gefüge und deren Redesign (Umarrangieren) abhebt und so den Kernbestand des Politischen berührt: die »Aufteilung des Sinnlichen«93. Weit davon entfernt, einem sozialen Konstruktivismus oder reinen Interaktionismus zu folgen, schlägt der hier vollzogene Fokus auf soziale Raumproduktion also einen integrierten Ansatz vor, in welchem soziale und materiale Raumverfahren konvergieren. Ein solches auf Performativität hin ausgerichtetes Denken hat den erkenntnistheoretischen Vorteil, nicht über dasjenige eine Aussage machen zu müssen, über das kaum eine Aussage zu machen ist, nämlich was Raum ›in Wirklichkeit‹ sei. Sie kann stattdessen auf die erfolgversprechendere Variante abheben, nämlich wie Raum konzipiert, gedacht und gemacht wird und was Raum macht. Ziel ist, sich dafür zu interessieren, wie Raum tatsächlich konstituiert, wie Raum als Fragestellung überhaupt virulent wird und was die Berücksichtigung von performativen Raumkonzeptionen im
92 | Löw/Steets/Stoetzer: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen 2008, S. 58. 93 | Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006.
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Denken einer »ermöglichenden« Gestaltung und deren Wissensformen im erweiterten Sinn für Folgen zeitigen könnte. Vor dem Hintergrund dieser Binnendifferenzierung des Modells einer Produktion von Raum stellt sich der Lefebvre’sche Terminus noch einmal in anderem Licht dar. Bei der Produktion haben wir es mit einem zweckrationalen Handlungsmodell zu tun, das eine gewisse Einseitigkeit offenbart, da es die Zwecksetzung in den Vordergrund stellt, und die Frage, wofür die Mittel des Zwecks verantworlich sind, ebenso ausblendet wie die in das Handeln eingelagerte Unbestimmtheit. Löw sagt, dass Raum aus Handlung entsteht. Aber über das Wie des Handelns erfahren wir nichts. Auch in de Certeaus Theoriebildung nimmt Handlung in der Konstitution von Raum eine vorgeordnete Stellung ein. Aber de Certeau problematisiert in diesem Kontext die nicht-intentionalen bzw. um-funktionierenden Anteile von Handlung und stößt dabei auf den Performanzbegriff. Am Beispiel von dem metaphorischen (also übertragenden) Umgang mit Wittgensteins und Austins Theorien zum Gebrauch der Sprache eröffnet de Certeau einen Blick auf die Aporien zwischen Intentionalität und Gebrauch, und, im Fortgang, auf eine performative Dimension des Handelns, deren Inhalt darin besteht, Funktionen für Möglichkeiten offen zu halten. Aus de Certeaus Konzeption geht hervor, dass sich mit dem Begriff Performanz eine Faktizität des Handelns fassen lässt, ohne in diesem Zuge dem Handeln selbst eine Finalität bzw. eine dem Handlungsvollzug vorgeordnete Rationalität unterstellen zu müssen. Wie das aber genau funktioniert, bleibt offen, mehr noch: Durch die von de Certeau betonte Dichotomie von Strategie und Taktik wird der Möglichkeitshorizont des Handelns in seiner Operationalität eher verdunkelt.94 Mit Lefebvres Analyse des Produzierens von sozialem Raum erscheint, wie wir sahen, eine ähnlich gelagerte Problematik. Lefebvre sieht sich vor die Frage gestellt: Wenn Produzieren genuin schöpferischen Charakter hat, wie kann sich Produktion von der ihr immanenten verdinglichenden bzw. entfremdenden Tendenz lösen und sich, in einer bestimmten Form der Poiesis, mit einer auf Interaktion, auf das Soziale hin ausgerichteten Praxis verknüpfen? Und umgekehrt: Unter welchen Rahmungen, Vermittlungsformen und materialen Bedingungen finden Produktionsweisen statt und wie verändern sich diese geschichtlich? Auf der Suche nach der zeitgenössischen Produktionsweise entwickelt Lefebvre entlang dieser Fragestellungen eine neue begriffliche Definition des sozialen Raums als Produziertem und dessen vermittelnder Form, des Urbanen. Schließlich geht Bruno Latour noch einen entscheidenden Schritt weiter und sagt: Das Soziale ist genuin performativ konstituiert. Daraus folgt nicht nur, dass sozialer Raum aus Handlung besteht, sondern auch, dass diese Handlungen sich voller Unbestimmtheiten
94 | Vgl. Dell: Replaycity.
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zeigen95 – mit dem Fazit: Sozialer Raum überhaupt ist Gegenstand einer »performativen Definition«96. Damit deutet sich für unsere Untersuchung eine grundlegende Relevanz des Begriffs Performanz an, ohne dass dieser bereits näher bestimmt worden sei. Bestätigt wird dies in jüngster Zeit durch eine verstärkte Öffnung des Begriffs Performanz hin zu den Raumwissenschaften. Nicht nur hat die Städtebauerin Sophie Wolfrum den Begriff des »performative Urbanism«97 geprägt, auch postuliert ein entsprechender call for papers zum Symposium Geographien des Performativen am Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung an der HU Berlin im Jahr 2012: »Die Geographie wird performativ! Zu diesem Schluss verleitet die Beobachtung gegenwärtiger humangeographischer Diskurse, die ohne »Performanz« und »Performativität« nicht länger auszukommen scheinen. […] »Performativität« hat das sprachwissenschaftliche Labor verlassen und »Performanzen« findet man nicht länger nur auf Theaterbühnen: Performt werden die verkörperten Geographien sozialer Wirklichkeit, nicht mehr und nicht weniger.«98 Am Nexus praxistheoretischer Neubestimmung von Raumtheorie und hierbei emergierender Fragen nach dem Geflecht geplanter und ungeplanter, intentionaler und nicht-intentionaler Produktionsweisen sozialen Raums schließt sich also der Kreis zu den angerissenen raumtheoretischen Positionen und zeigt einmal mehr die Relevanz der Begrifflichkeit von Performanz bzw. Performativität. Um diesen Aspekt auszudrücken und ihn in seinem ganzen – urbanistischen und epistemologischen – Zusammenhang zu erfassen, ist der Begriff einer erneuten Differenzierung und Kontextualisierung zu unterziehen.
95 | Vgl. auch: Dell: Das Urbane. 96 | Latour: Neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. S. 62. 97 | Vgl. Wolfrum/von Brandis (Hg.): Performative Urbanism – generating and designing urban space. Berlin 2014. 98 | www.geographie.hu-berlin.de/navigation/aktuelles/call_%20for_papers_perfor manz.pdf.
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2. Epistemische Strukturen der Performanz
2.1 P erspek tiven auf P erformanz Es zeichnet sich bereits schemenhaft ab, dass Performanz im Konnex von Stadt, Raum und Handlung eine Art Schlüsselbegriff bildet. Aber: Kann aus dieser Beobachtung auch eine forschende Strategie abgeleitet werden, die Performanz so ausrichtet, dass aus dem konstruktiven Umgang mit Unbestimmtheiten Ermöglichungen entstehen? Und welche Wissensformen sind damit verknüpft? Um an dieser Stelle Klarheit zu schaffen, ist es notwendig, zunächst den begrifflichen Inhalt von Performanz genauer zu befragen. Das stellt sich jedoch schnell als kompliziert heraus, schon allein deshalb, weil der Begriff bereits etymologisch mit unterschiedlichen Inhalten konnotiert ist – performance bedeutet im Englischen wie Französischen sowohl Ausführung als auch Darstellung oder Leistung. Im angelsächsischen Sprachraum kann der Begriff sowohl zu experimenteller Kunst als auch zur Produktivität am Arbeitsplatz, zu Leistung von Sportlern, zur Funktionalität technologischer Systeme wie auch zur Leistung von Geldanlagen in Beziehung gesetzt werden. Letzteres kommt umgekehrt im Deutschen als Anglizismus vor: Von performance ist z.B. die Rede, wenn zu bemessen ist, wie viel Wertschöpfung eine Anlage gebracht hat. Im deutschsprachigen Wissenschaftsraum hingegen ist, in der Nachfolge von und der Auseinandersetzung mit Austin, zunächst vor allem die linguistische Seite des Begriffs Performanz betont worden. Diese spezifische Form der Sprachtheorie verschiebt den Diskurs über Sprache von der Dichotomie von wahr/falsch hin zu gelungen/misslungen. Derlei Dislokation annonciert ein neuartiges Bedeutungsfeld, das Performanz an ihre sozialen, ökonomischen, materialen, kulturellen Ermöglichungsbedingungen bindet. Hier schließt die sogenannte performative Wende in den Kulturwissenschaften an, die Äußerungen immer auch als inszeniert hervorgebracht und das Soziale in seiner Ritualität bzw. Theatralität
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interpretiert.1 Soziale Normativität ist dann kein gegebener Sachverhalt mehr, sondern erweist sich als performativ bzw. durch seine historisch und kulturell präformierte Wiederholung hergestellt. Wenn das Gesellschaftsverhältnis nun primär als ein Selbstverhältnis bestimmt wird, das im Misslingen oder Misslingen-Lassen von Performanz seine Möglichkeit auf Transformation wahrt, beinhaltet das Emanzipationsversprechen der Performanz damit für die Subjekte zweierlei: a) sich als Selbst konform zu historisch gegebenen Normen zu optimieren, oder b), diese Normen im performativen Scheitern subversiv zu unterlaufen, sozusagen als Falsches im Richtigen, das aber in seiner wiederholenden Insistenz die Chance auf ein Kippen von Normativität selbst aufscheinen lässt. Man sollte die begriffliche Gemengelage also vor dem Hintergrund lesen, dass der Deutungshorizont einer Rede von Performanz mittlerweile eine schier unübersichtliche Zahl an Interpretationen und Stoßrichtungen umfasst und der vielleicht am besten in Uwe Wirths Abriss dargestellt ist: »Auf die Frage, was der Begriff Performanz eigentlich bedeutet, geben Sprachphilosophen und Linguisten einerseits, Theaterwissenschaftler, Rezeptionsästhetiker, Ethnologen oder Medienwissenschaftler andererseits sehr verschiedene Antworten. Performanz kann sich ebenso auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im ›Akt des Schreibens‹ oder auf die Konstitution von Imaginationen im ›Akt des Lesens‹ beziehen.«2 Dabei forcierten besonders die Kulturwissenschaften eine Verschiebung des Begriffs des Performativen, die »in einen allgemeinen Begriff der performance«3 resultiert. Dem kulturwissenschaftlichen Blick, dem Performance alles ist, musste bei seiner Indienstnahme sprachphilosophischer Performanztheorien freilich entgehen, dass er selbst noch auf vorstellungs- oder gegenstandtheoretische Annahmen rekurriert, die jene bereits aufgehoben hatten. Trotz oder gerade wegen dieser Fehlinterpretationen wurde das Performative – im »falschen Gebrauch« – theoretisch besonders produktiv gemacht. Statt also den Kulturwissenschaften eine unlautere Absicht zu unterstellen, sollte man eher fragen, warum sie einen Performanzbegriff gebraucht (im Sinne von benötigt) haben. Während die kulturwissenschaftliche Entdeckung des Performativen darin lag, »dass sich alle Äußerungen immer auch als Inszenierungen, d.h., als Performances betrachten lassen«, kam darin auch jene Modulation eines universalpragmatischen Anspruchs »in eine
1 | Beredtes Zeugnis dessen gibt u.a. die Einführung des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der FU Berlin. http://www2.hu-berlin.de/performativ/, Zugriff am 24.09.2011. 2 | Wirth, Uwe: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«. In: Ders. (Hg.): Performanz. Frankfurt a.M. 2002, S. 9. 3 | Ebd.
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universaltheatralische Betrachtungsweise«4 zum Ausdruck, die beispielsweise Stadtforschung heute erlaubt, Stadterzeugung performativ zu denken. Eine solche »umgekehrte« Sicht auf Performanz kongruiert mit dem sprachanalytischen Ansatz von John Searle. In seinem berühmten Aufsatz How performatives work heißt es entsprechend: »though every utterance is indeed a performance, only a very restricted class are performatives.«5 Der Begriff der performance tritt hier als umbrella term auf, »der sowohl Performativa als auch Inszenierungen einschließt«6. Das besagt, dass jede Person, die etwa ein Versprechen abgeben will, auf eine theatrale Instanz rekurrieren muss, die dieses Versprechen fundiert. Ergänzend fügt Jonathan Culler hinzu, dass es »iterierbare Prozeduren oder Formulierungen geben [muss], wie sie auch auf der Bühne verwendet werden. ›Ernsthaftes‹ Verhalten ist ein Sonderfall des Rollenspiels.«7 Es markiert denn auch keinen Endpunkt, dass damit jener Zusammenhang von Iterabilität und Thetralität in den Fokus des Interesses gerät, der sowohl im Alltagsleben wie auf der Bühne oder in gerahmten Ritualen wirksam ist. Vielmehr erweitern im Anschluss Jacques Derrida und Judith Butler den Begriff der Performativität dahingehend, dass sie aufzeigen, wie Identität »iteratively through complex citational processes«8 konstruiert wird.
2.1.1 Performanz und Sprache Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts überträgt der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussures die mathematische Definition von Struktur auf die Sprache, um in dem Zuge die Unterscheidung zwischen Langue und Parole einzuführen. Langue umfasst die in einem Sprachsystem angelegten Möglichkeiten, etwas zu sagen. Diese bestehen aus Strukturen (d.h. Zeichen und Regeln), auf die die Gesamtheit aller Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft zugreifen kann. Parole hingegen bedeutet das einmalige, tatsächlich aktualisierte Ereignis des Sprechens selbst. Aus dieser Teilung ergeben sich zwei Hauptachsen, nach denen Sprache zu untersuchen ist: Diachronie (diachronisch = durch die Zeit hindurch) von Sprachsystemen auf der einen und Sprachrelationen der synchronen (synchronisch = statisch, zusammen zur selben Zeit) Ebene der inneren Struktur eines Sprachsystems auf der anderen Seite. Spätere For4 | Ebd., S. 39. 5 | Searle, John, »How performatives work«. In: Linguistics and Philosophy 12, 1989, S. 538. 6 | Wirth: »Der Performanzbegriff«. S. 40. 7 | Culler, Jonathan: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1988, S. 133. 8 | Parker/Sedgwick: »Introduction: Performativity and Performance«. In: Dies. (Hg.): Performativity and Performance. New York, London 1995, S. 2.
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men des linguistischen Strukturalismus (wie z.B. Chomsky) unterscheiden in Bezug auf Kommunikation indes nicht mehr zwischen Langue und Parole, sondern Kompetenz (Sprachfähigkeit) und Performanz (Sprachgebrauch).9 Als Erklärungsmuster dient in diesem Kontext oft das Bild der Musik. In der Musik fallen Partitur und Aufführung als Unterschied von Kompetenz und Performanz auseinander, und zwar im Sinne einer Vorlage und deren anschließenden Realisierung. Für das Denken von Stadtforschung bedeutsam ist hier vor allem das Begreifen von Performanz als aktuellem Gebrauch, mit dem der Funktionalismus eine bedeutsame Erweiterung erfährt. Der Begriff des Performativen hingegen geht auf die Sprechakttheorie von John Austin zurück. In der Weiterführung des Strukturalismus hebt Austin auf die »Funktion« von Äußerungen im »Sprachverkehr«10 ab. Seine Kernfrage lautet: Inwiefern haben bestimmte Sprechweisen den Charakter einer Handlung? Als Kriterium hierfür zieht Austin die Folgen heran, die Äußerungen in einem kommunikativen Kontext für Beteiligte haben können. Bezeichnete die Linguistik zuvor mit Performanz lediglich den realisierten Sprachgebrauch, so differenziert Austin nun zwischen konstativen Äußerungen, die einen bestehenden Sachverhalt beschreiben oder Tatsachen behaupten und folglich wahr oder falsch sind, und performativen Äußerungen, die in Form einer Feststellung das Festgestelle zugleich sind. Mit performativen Sprechakten werden Handlungen vollzogen, Tatsachen geschaffen und Identitäten gesetzt. Sie können insofern nicht wahr oder falsch sein, sondern beziehen sich allein auf das Gelingen oder Fehlschlagen, mithin auf die Funktion.11
2.1.2 Performanz vs. Performativität Später wird der poststrukturalistische Diskurs diese Ansätze aufgreifen, um entlang der Differenz von Performanz (Performance) und Performativität eine neue Achse zu ziehen, die eine Rekonturierung dieser Begriffe zur Folge hat. Dabei wird dem Verständnis von Performanz als Aufführung oder Ausführung einer Handlung durch handelnde Subjekte ein Begriff der Performativität gegenübergestellt, der sich gerade dadurch auszeichnet, die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts zu unterminieren. Performativität meint dann jene Kraft oder Intensität, die das handelnde Subjekt und 9 | Baumgärtner/Fritz: Funkkolleg Sprache 1, Einführung in die moderne Linguistik. Frankfurt a.M., 1976, S. 115-120. 10 | Austin, John: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Stuttgart 2005, S. 118. 11 | Austin lässt im Verlauf seiner Analyse die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen fallen und ersetzt sie durch den Dreischritt von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten (ebd., S. 42-120).
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die Handlung in und durch diese Performanz erst produziert. Vermittels dieser Verschiebung wird es möglich, nicht-intentionale Handlungsanteile konzeptionell in die Handlungstheorie zu integrieren sowie den Handlungs- und Subjektbegriff zu erweitern, ohne auf den Begriff des handelnden Subjekts ganz verzichten zu müssen. Wohl war in solchen Auseinandersetzungen auch ein »emanzipatorischer Anspruch« enthalten, nämlich die Bevormundung durch metaphysische Ontologie und deren Postulat des Gegebenen abzuweisen. Dennoch kommt der Orientierung am prozessualen Vollzug des Handelns tatsächlich prinzipielle, methodische Relevanz zu. So eröffnet die Verschaltung von Performanz (als Akt der Verkörperung) mit dem Begriff der Performativität die Frage nach der Zeichenhaftigkeit des Körpers oder der Körperhaftigkeit bzw. materialen Medialität des Zeichens. Performativität spricht von der vollzugsförmigen Verwirklichungsleistung des Handelns. Darin bekundet sich Handeln als Form, in der und durch die die Stadt erscheint. Gewichtig zu nehmen ist somit der Aspekt der Medialität am Performativen: Als Tätigkeit, in der etwas mit anderen vermittelt wird, kommt Handeln der Charakter eines medialen Geschehens zu. Das richtet das Augenmerk darauf, dass performatives Handeln kein freier Konstruktionsakt, wohl aber ein Konstitutionsakt sein kann, der sowohl rezeptive als auch vermittelnde Züge trägt. Das Handeln lässt sich nicht auf seine Instrumentalität reduzieren, sein Wissen gibt es erst im Vollzug preis. Der Sinn des Handelns erschließt sich nicht in erster Linie aus dem ihm vorauslaufenden Plan oder der ihm nachgängigen Aussage, sondern aus dem ausführenden Charakter des tatsächlichen Machens. Das Wissen des Handelns erschließt sich allein aus der strukturellen Analyse des modalen Wie des Tuns. Medialität meint dann sowohl darstellende Ermöglichung, gestalterisches Potential als auch Kapazität zur Sinnbildung im Vollzug. Repräsentation bleibt darin nicht entbehrlich, folgt aber nicht mehr dem Abbildschema. Das gibt der Repräsentationstheorie eine neue Wendung und erlaubt, das Wissen des Handelns aus dem Subjekt-Objekt-Schema zu lösen. Das Formmoment daran ist nicht allein ästhetisch und epistemisch, sondern auch und vor allem ethisch bestimmt: In ihm macht sich die individuelle Disposition und Biographie der Handelnden bemerkbar. In Bezug auf die Stadt gilt dann: Die Form des Handelns steckt die soziomaterialen Bedingungen ab, an denen die Verhandlung darüber, was wie als Stadt erscheinen soll, sich vollzieht. Weil die Form gleichlaufend produziert und transformiert, interessiert an ihr – im Konnex der Wissensformen – besonders die Verschränkung von Performativität und Medialität. Das wird nirgends so relevant wie dort, wo eine solche Verschränkung den performativen Akt ebenso wie die mediale Bedingung seines Erscheinens zur Darstellung bringt. Der Sinn der Darstellung ist hier von keinem Gegebenen determiniert, sondern vielmehr ermöglicht. In einem späteren Abschnitt der Arbeit werde ich zu zeigen suchen: Die Darstellung struktureller Analyse von Wis-
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sensformen prozessualen Handelns lässt sich nur innerhalb einer Konzeption des Darstellens plausibilisieren, die Anleihen bei Theorien der Diagrammatik macht. Konkrete Einblicke in einen solchen Wandel der Repräsentation geben bereits die Verknüpfungen von Wissensorganisation und Diagramm-Form in den 1960er Jahren. Dort verändert sich der traditionelle Status der Zeichnung oder des Entwurfs: Sie nehmen nun »operativen Charakter an«12 . Zeichnungen, Notate, Notizen, Skizzen überwinden den Status, eine der Gestaltung vorlaufenden Form zu sein und rücken selbst zum Gestalterischen auf. Solche Operationalität zeigt sich nicht nur dort, wo diagrammatische Darstellungen Installationen, Happenings und Performances arrangieren, sondern auch dort, wo sie »Wissenstransfers dokumentieren und orchestrieren«13 oder dort, wo sie selbst Teil der Ausstellung oder Aufführung sind. Die an die Medialität des Performativen gebundene und aus ihr hervorgehende gestalterische Diagrammatik forciert einen »Ausstieg aus dem Bild«, so Tom Holert, der gleichwohl einen »Einstieg in ein breites, über die Kunstgrenzen hinausweisendes Spektrum von Modi der visuellen und skripturalen Aufzeichnung und Einschreibung«14 bietet. Am performative turn der 1960er Jahre erhebt sich Kunst zur materialistischen Erkenntnispraxis. Derlei Fragestellung regte die kulturwissenschaftliche Performanztheorie zunächst dazu an, sich an den Relationen zwischen sinnzuschreibenden Akten und der durch die Gesetze der Wiederholung bestimmten Verkörperungsakte abzuarbeiten, wobei als zweitrangig gilt, ob der Akt der Sinnzuschreibung intentional, kontextuell oder als autopoetischer Akt gefasst wird. »Relevant ist einzig, wie die Verkörperungsbedingungen den Akt der Sinnzuschreibung beeinflussen bzw. umgekehrt, wie der Akt der Sinnzuschreibung durch die Verkörperungsbedingungen beeinflusst wird.«15 Mit der Performativität emergiert somit ein kulturtheoretisches Modell, das die Fragestellungen des Symbolischen und der Medialität oder des Mediums um die Frage der Verkörperung und der Handlungswirksamkeit ergänzt und die Themenfelder von Präsentation und Aufführung, Vollzug und Setzung in den Diskurs trägt. In diesem Diskurs markiert Performativität die Seite der Handlung, des Aktes und problematisiert in ihrem Verweis auf die Momente der Singularität, der Nichtwiederholbarkeit und des Ereignisses die Paradigmen des Diskurses, der Schrift und des Textes. Die daraus hervorgehende Heterogenität der begrifflichen Bewegungen des Konzepts Performanz erklärt, dass und wie der Begriff im in vorliegen12 | Holert, Tom: »A fine flair for the diagram«. In: Leeb, Susanne (Hg.): Materialität der Diagramme. Berlin 2012, S. 136. 13 | Ebd. 14 | Ebd. 15 | Wirth: Performanz. S. 28.
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der Arbeit skizzierten Zusammenhang nicht nur als Phänomen, sondern auch als gesellschaftliches Dispositiv verstanden werden muss. Die Entdeckung des Begriffs Performanz als Instrument zur Reorganisierung unterschiedlichster Disziplinen ist nicht zu lösen von dem Interesse am strategischen Kräftefeld des Wissens, dessen sich prozessorientierte Gestaltung bedient oder als Teil dessen sie sich bewegt. Weil der begriffliche Horizont des Wortes Performanz gleichwohl weit gefasst ist, fokussiere ich in meiner Arbeit auf diejenigen Positionen und Programme, die für die Untersuchung von Belang sind. Obige Überlegungen ermutigen solch partielles Vorgehen.
2.1.3 Performanz des Sozialen – Performanz als kulturelle Praxis Bezugnehmend auf Kulturtheoretiker wie Barbara Babcock, Barbara Myerhoff und Victor Turner beschreibt John J. MacAloon kulturell-soziale Performances als »occasions in which as a culture or society we reflect upon and define ourselves with alternatives and eventually change in some ways while remaining with others.«16 Daraus lassen sich Grundformen kultureller Performanz ableiten: zum ersten die soziale und Selbstreflexion durch die Aufführung oder Verkörperung von symbolischen Formen, zum zweiten die Präsentation alternativer Arrangements des Sozialen und drittens die Möglichkeit der Bestätigung und/oder Transformation. Eine erweiterte Definition von performance geben Carol Simpson Stern und Bruce Henderson in ihrem Studienreader Performance: Texts and Contexts. Für sie inkorporiert der Terminus Performance »a whole field of human activity. […] In all cases a performance act, interactional in nature and involving symbolic forms and live bodies, provided a way to constitute meaning and affirm individual and cultural values.«17 Die Autoren bestimmen Performanz hier in Bezug auf den Dreischritt a) soziale Funktion, b) Konstitution von Bedeutung und c) Affirmation von Werten. Die Trias spielt sich in zwei Modi ab: einerseits im Modus der Symbole und andererseits im Modus der Körper. Mit der Rückkehr des Körpers, der verkörperten Praxis und dem Einbezug des Körpers als Ort des Wissens entsteht darüber hinaus eine Form des radikalen Empirismus als wesentlicher Kern der Theoriebildung von Performanz. Das zeigt einen Empirismus an, der die traditionelle Grenzziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem zurückweist und demgegenüber »the experience of objects and actions in which the self is a participant« 18 in den Blick nimmt. Der Fokus, den Wissensproduktion nun auf das legt, was sie
16 | MacAloon, John: Rite Drama Festival Spectacle. Philadelphia 1984, S. 1. 17 | Stern/Henderson: Performance: Texts and Contexts. London 1993, S. 3. 18 | Carlson: Performance. S. 192.
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die ›gelebte‹ Erfahrung nennt, führt eine Verschiebung der Deutungshorizonte mit sich, »involving a shift from the world as text to the world as performance.«19 Laut Marvin Carlsons Studie Performance: A critical Introduction20 beinhaltet heute »almost any contemporary performance project«21 kulturelle soziale und intellektuelle Belange. In einer Gesellschaft, die in hohem Maße selbstbezogen, reflexiv, besessen von Simulationen und Dramatisierungen von beinahe jedem Aspekt ihres sozialen Bewusstseins ist, avanciert Performanz zu einer höchst sichtbaren Form der Interaktion und Auseinandersetzung. Es erscheint ein Begriff von Performanz, der als analytischem Werkzeug die Metapher des Theatralen, der Darstellung und der Repräsentation in fast alle Aspekte moderner Versuche, unsere Handlungen und deren Konditionen zu verstehen, einbringt. Von Carlsons Studie erfahren wir, in welchen Formen Performanz in die soziokulturellen Strukturen der Gesellschaft hineinragt. Sowohl Musik, Tanz, Theater, aber auch soziale Praktiken des Alltags spiegeln sich in diesem Begriff, bis hin zur spezifischen Performance Art, die am konsequentesten von dem emanzipatorischen wie partizipativen Charakter von Performanz Gebrauch machte und macht. Performanz geht somit als Teil und Movens kultureller Praxis weit über die Vorstellung eines bloßen Entertainment- oder Showeffekts hinaus. Durch die theoretische Analyse von und den praktischen Umgang mit performativen Darstellungsformen werden darüber hinaus aus diesen analytische Methoden entwickelt, die sich weit über die Disziplinen hinweg etabliert und an unterschiedlichsten kulturellen Orten angesiedelt haben. So nimmt die Untersuchung ritueller Praxen ein ganzes Feld von Anthropologen wie Soziologen für sich ein. Performanz- und Kommunikationswissenschaftler bestimmen soziale Interaktion und nonverbale Kommunikation unter dem Gesichtspunkt von Performanz. Kulturwissenschaftler nehmen den Parameter Performanz als Richtschnur für die Erforschung des Alltäglichen im Konnex von Arbeit, Gender, Migration und Identität, wobei sie die Emergenz von Performanz als verkörperlichtes Ausführen kultureller Kräfte und Codes erachten. Wer sich mit dem Performanz-Komplex auseinandersetzt, hat demnach mit einem dichten Netz der Verwebung von Verbindungen zwischen den Disziplinen zu tun und deren heterogene intellektuelle, kulturelle und soziale Hintergründe als auch historische Entwicklungen zu berücksichtigen. In dieser Perspektive stellt sich die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Aufstieg eines immensen Feldes kulturell-sozialer Performanz dar: traditionelles und experimentelles Theater, Rituale, Demonstrationen, populäre Unterhaltung, Politik, Festivals, Kongresse, Paraden, Sport, ästhetische Praktiken des alltäglichen Lebens wie Spiel und Interaktion. Wie aber lässt sich die 19 | Ebd. 20 | Carlson, Marvin: Performance: A Critical Introduction. London 1996. 21 | Ebd., S. 5.
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Gesamtheit dieser Aktivitäten als Performanz klassifizieren? Derlei Frage verlangt eine theoretische Praxis, die all die performativen Aktivitäten als ein Feld der Untersuchung zusammenfasst und eine community, die sich durch Performanz konstituiert und legitimiert. Das Entstehen der cultural studies und der performance studies als universitäre Disziplinen hat hier seinen Ort. Unter dem Begriff Performanz prägt sich ein eigenes Feld des Wissens aus, dessen institutionelle Formalisierung vor allem in den amerikanischen performance studies ihren Niederschlag gefunden hat und findet. Aus der Theoretisierung der Performance-Künste an den Universitäten entwickelt sich mit den performance studies ein spezifisches Wissensfeld, dass vor allem die Frage des Verhältnisses von Identität und Performanz in modernen Gesellschaften thematisiert, die das Feld der Analyse von Performanz in Bezug auf Individuen, Gruppen, Genres, Bewegungen, Methoden zusammenfassen. Wenn Colin Counsell und Laurie Wolf einen Überblick über deren Schlüsselkategorien geben – »decoding the sign, the politics of performance, the politics of gender and performance, performing ethnicity, the performing body, the space of performance, audience and spectatorship und the borders of performance«22 – so wird deutlich, wie sich in geschichtlicher Hinsicht mit der Disziplin der Performance studies jene Bewegung der Generalisierung von Performanz fassen lässt, die wiederum eine Konzeptualisierung des Differenten unter jener erlaubt. Performance studies interpretieren Performanz als aus einer komplexen Gruppierung von Handlungen bestehend, von denen jede einzelne Handlung eine in einem bestimmten Zeichensystem kodierte Botschaft transkribiert, diese wiederum in eine Botschaft transponiert, auf den menschlichen Körper überträgt und von dort an andere Körper weitergibt. Transkription, Transformation, Identität steigen dabei zum Kernkriterium von Performanz auf. Zum einen zeigt sich Performanz als intersubjektiver Akt: Sie gibt uns die Möglichkeit, uns in einigen Teilen zu ändern, während wir andere Teile beibehalten, stellt Praktiken bereit, Bedeutung zu konstituieren und kulturelle und soziale Werte zu bestätigen. Zum anderen ist Performanz Medialität in der Form, dass sie Information vermittelt. Während dieser Prozesse funktioniert Performanz auch als a-mediale Übertragung: Sie gibt Information direkt weiter. Wo beispielsweise die Theatralisierung zwischenmenschlichen Kommunizierens ein Problematischwerden der hierin prinzipiell gesetzten Authentizität zur Folge hat, fällt es zunehmend schwer, zwischen einer Umarmung und einer ›gespielten‹ Umarmung, einer politischen Haltung und einer ›gespielten‹ politischen Haltung zu unterscheiden. Daran knüpfen sich die postmodernen Diskurse mit ihren dialektischen Implikationen des Verlusts von Originalität, des freien Spiels der Zeichen und der Instabilität von Wahrheiten. Relevanz 22 | Counsell, Colin/ Wolf, Laurie (Hg.): Performance Analysis. An Introductory Coursebook. London 2001.
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erhalten diese Diskurse im Zusammenhang mit Fragen der Begründung von Subjektivität oder Identität, entweder zwecks Erforschung des Selbst oder um eine Positionierung für einen politischen oder sozialen Kommentar oder eine Aktion bereit zu stellen. Insgesamt spannt der performative turn der Kulturwissenschaften also einen Bogen, der von der Theatralität bis zum heuristischen Prinzip des Verständnisses sozialer Verhältnisse reicht. Der treibende Grund dessen besteht in der Anforderung, menschliche Praktiken in Beziehung zu ihren Kontexten zu setzen und in diesem Zuge Repräsentation als erkenntnisleitendes Werkzeug zu problematisieren. Statt allein auf gegebene symbolische Strukturen zu fokussieren, betont der performative turn die aktive, soziale Konstitution von Wirklichkeit ebenso wie den materialen Kontext, in dem diese sich abspielt. Auf diese Weise funktioniert Performanz sowohl als Metapher des Theatralen wie auch als analytisches Mittel, um die Rahmung sozialer und kultureller Phänomene zu lokalisieren. Wo hier ein ästhetisch-performativer Zugang zu sozialen Fragestellungen hergestellt wird, so wird sozialer Raum als ein durch Handlungen in der Zeit produziertes Phänomen begriffen. Mit anderen Worten: Die relative Stabilität sozialer Verhältnisse hat in der Zeitlichkeit von Handlungsmustern ihren Ort, besonders, als sie die stetige Wiederholung sich ähnelnder HandlungsFormen impliziert. Umgekehrt haben wir es bei sozialen Prozesse keineswegs mit gegebenen Strukturen zu tun, die ostensiv vorliegen. Vielmehr müssen sie durch Handlungen als »Strukturierung im Vollzug«23 immer erst performativ (re-)produziert werden. Wenn Christoph Wulff hier von performativ-mimetischen Prozessen spricht, die in ihrer Bewegung auf Zukünftiges jeweils unter Bezugnahme auf das Vorangegangene erfolgen, stellt dies sehr wohl auch den in der klassischen Repräsentationstheorie implizierten Identitätsbegriff in Frage. Performative Wiederholung ist weit davon entfernt, Wiederholung des Identischen zu sein. Vielmehr konstituiert sie die Wiederholungsform des musterhaft Ähnlichen, das sich nie denotieren sondern immer nur explizieren lässt. In seiner Weigerung zur identischen Wiederholung offenbart sich Wiederholung als in der Zeit einmalig. Wenn es aber richtig ist, dass die Wiederholungen sozialer Handlungen nie zum exakt selben Ergebnis führen, dann sollte man anerkennen, dass die performative Differenz die Fundierung für gesellschaftliche Transformation bildet. Darauf haben sowohl Derrida als auch Butler und Bourdieu hingewiesen24 (s. Kapitel Derrida). Gleichzeitig zeigt Performativität eine neue Weise der Produktion und Form von Wissen an, das als praktisches Wissen 23 | Volbers, Jörg: »Zur Performativität des Sozialen«. In: Hempfer/Volbers (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld 2011, S. 141-160, S. 142. 24 | Wulf/Göhlich/Zirfas, (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim 2001, S. 13, Baur, Nina:
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bezeichnen werden sollte (s. Kapitel Polanyi). Dieses Wissen »ist performativ, es ist körperlich, rituell und zugleich historisch, kulturell; […] es ist ästhetisch und entsteht in mimetischen Prozessen; performatives Wissen hat imaginäre Komponenten, […] und lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren.«25
2.1.4 Politiken der Performativität 26 Im Zuge des performative turn hat vor allem Judith Butler eine spezifische politische Theorie entwickelt, an der von besonderer Bedeutung ist, dass das von der Autorin explizit formulierte Interesse an den unterschiedlichen Dimensionen von Identität und Einheit die vermeintliche Performativität der die soziale Realität herstellenden Prozesse ins Blickfeld rückt. Die Fundierung dieser Prozesse besteht darin, performative Funktionen durch wiederholte Annäherungen an normative Modelle zu sichern: »To supply the character and content to a law that secures the borders between ›inside‹ and ›outside‹ of symbolic intelligibility is«, so Butler, »to preempt the specific social and historical analysis that is required, to conflate into ›one‹ law the effect of a convergence of many, and to prelude the very possibility of a future rearticulation of that boundary which is central to the democratic project.«27 Mit der Behauptung, es gäbe keine fundamentalen Gesetzmäßigkeiten mehr, sondern Verhandlungen über Sachverhalte, unterminiert Butler primäre Zuweisungen und Machtzuschreibungen. Demzufolge existieren und konkurrieren miteinander unterschiedliche Prinzipien der Konstitution und Exklusion im Modus der Performativität. Als Beispiel und Beleg führt Gabriele Klein die Bewegung der Globalisierung an, von der sie sagt, sie bringe unterschiedliche Kulturen miteinander in Kontakt und Austausch und verstärke so das Hinterfragen von Normen.28 Performativität soll hier die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft markieren. Im Rückgriff auf Derrida formuliert Butler die grundlegende Pointe ihrer politischen Theorie: An der Performativität entstehen Kräfte, die in einem operativen Modus erstens die – das Subjekt konstituierenden – Differenzen und Anrufungen zur Konvergenz führen, und zweitens die größeren Arrangements des Sozialen reartikulieren. Solche Reartikulation als die Aufforderung zum Widerstand steht in enger Relation zu Ernesto Laclaus Definition sozialen Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeitlichkeit sozialen Handelns. Wiesbaden 2005. 25 | Ebd. 26 | Ich folge hier einem Abschnitt meines Buches »Die improvisierende Organisation«. Dell: Die improvisierende Organisation. 27 | Butler, Judith: Bodies That Matter: On the Discursive Limits of Sex. New York 1993, S. 206-207. 28 | Vgl. Klein/Sting: Performance als soziale und ästhetische Praxis. Bielefeld 2006.
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Wandels: »Hegemonic relations depend upon the fact that the meaning of each element in a social system is not definitely fixed. If it were fixed, it would be impossible to rearticulate it in a different way, and thus rearticulation could only be thought under such categories as false consciousness.«29 Wenngleich Performativität die Macht dazu zugesprochen wird, Traditionen auf brechen zu können, so stellt sich der hier avisierte Widerstand als begrenzter heraus, insofern sich neue Formen der politischen Ökonomie (mit den Techniken der Gouvernementalität) genau diesen Erosionen bedienen. Konsequenterweise besteht die Befürchtung, dass die Unmöglichkeit, normatives Verhalten als konstitutiv für subversive Performanz zu gebrauchen, gesellschaftlich strukturierte Systeme eher unterstützt als unterläuft und aktuelle soziale Praxis diesen Begriff eher in eine »Apologie der Verhältnisse«30 verwandelt.31 Performativität, so wie Butler sie versteht, bezieht sich auf die interaktionalen Pakte, interpretativen Rahmenwerke, institutionellen Konditionierungen und die Wissensproduktion. Wobei in Betracht zu ziehen ist, dass performative Kräfte in unterschiedlichen Diskursen, in unterschiedlichen ideologischen Gemeinschaften und unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen und Auswirkungen haben. Die Rede von einer epistemologischen Performativität basiert auf der Annahme, dass der Erhalt eines status quo, die Reproduktion sozialer Hierarchien von Ethnie, Geschlecht, Sexualität durch die wiederholte Performanz von Normen produziert wird. Jeden Tag üben wir, innerhalb des öffentlichen Raums wie auch innerhalb von Institutionen wie Schule, Kirche und am Arbeitsplatz, Rituale der Konformität ein, sei es in der Art wie wir uns kleiden, bewegen, artikulieren etc. Durch die Tatsache jedoch, dass keine Wiederholung der Norm, der Performanz exakt ist, entsteht Raum für Öffnung, für Transgression. Performanz erzeugt im und mit dem Zeitalter medialer Hyperbeschleunigung ein neues Wissenssubjekt, ein Subjekt, das fragmentiert, dezentriert und in multiple-hybriden Identitäten sich äußert. Aus der mechanischen Reproduktion und digitalen Speicherung, dem Prozessieren und der Transmission von Daten, aus der Explosion wissenschaftlicher und organisationaler Forschung, aus dem weltweiten Diffundieren postkolonialer und postsozialistischer Energien erwächst mit Performanz ein kulturell-epistemisches Kräftefeld, das nicht zu einem Ende der Geschichte, sondern vielmehr zu deren Multiplikation, Fragmentierung, Rekombination, Degeneration und Ausdifferenzierung beiträgt. 29 | Laclau, Ernesto: »Metaphor and Social Antagonisms«. In: Nelson/Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana 1988, 254. 30 | Legnaro, Aldo: »Performanz«. In: Bröckling/Krassmann/Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2004, S. 204-209, S. 206. 31 | Vgl. u.a. Stephan, Felix: »Neue Anmerkungen zu Camp«. In: Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2012, S. 13.
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2.1.5 Performanz als künstlerische Form Nicht nur ist der generalisierende Gebrauch des Begriffs performance im soziokulturellen Kontext eng an die geschichtliche Entwicklung der Performance-Kunst gebunden, diese entsteht überhaupt erst mit jenem. Während Theoretiker und Praktiker der performance art Fragestellungen der Performativität innerhalb des ›performative turn‹ als Stimulation in ihrer Arbeit nutzten, banden sie jene an die Beziehung von Kunst zu Strukturen der Macht ebenso zurück, wie an Aspekte zeitgenössischer Subjektivität und Identität als »the varying challenges of gender, race and ethnicity, to name only some of the most visible of these.«32 Was in der Kunstform des Performativen und deren Praxis hervorsticht, ist dabei die starke Parallelität zu den oben von Butler genannten Aspekten. Nicht umsonst betont Erika Fischer-Lichte den transitorischen, liminalen Charakter der Performance Kunst, der zum Hinterfragen von Regeln und Codes animiert. Performances schaffen Situationen, in welchen »die Zuschauer zwischen die Normen und Regeln von Kunst und Alltagsleben, zwischen ästhetische und ethische Postulates«33 versetzt werden. Damit steht nicht mehr nur (wie beim traditionellen Guckkastentheater) der Inhalt, sondern auch der Rahmen der Deutung im Mittelpunkt des Interesses: Was in der Performance Kunst geschieht, das sind vor allem Rahmenkollisionen, -verschiebungen, die den Zuschauern Situationen zumuten, »in denen sie sich nicht ›automatisch‹, d.h. nach den mit einem Rahmen gesetzten Regeln angemessen verhalten«34 können. Im Unterschied zum traditionellen Theater werden die Zuschauer nicht durch die Pädagogik einer Normativität zum Nachdenken aufgefordert (Schaut doch mal hier hin!), sondern durch die Erzeugung der Situation selbst in einen liminalen Zustand der Transformation gebracht. Die Zuschauer sind dann mit einer Situation der Entscheidung konfrontiert, in der sie fragen müssen, welcher Rahmen für sie gelten soll. Diese Reflexion über Form markiert den Kernmoment nicht-repräsentationaler performativer Verfahren: In ihnen formiert sich die Arbeit an der Bestimmung der relationalen Anordnungen und Funktionen zwischen den Teilnehmern an und ihr Umgang mit Mehrdeutigkeit in einer Situation. Das zu sagen heißt auch, dass die Vektoren, Wechselwirkungen einer Performance, konstituierend auf sie selbst wirken: »Die feedback-Schleife weist so Verwandlung als eine grundlegende Kategorie einer Ästhetik des Performativen aus.«35 In dem Zusammenhang eröffnet der Raum der Performanz nicht nur die Möglichkeit der Ausdifferenzierung von Wahrnehmung oder Bewegung im 32 | Carlson: Performance: A Critical Introduction. S. 7. 33 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 11. 34 | Ebd., S. 76. 35 | Ebd., S. 81.
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Verhältnis von Zuschauer und Darsteller, er strukturiert und organisiert diese mit. Umgekehrt sind es erst die Bewegungen selbst, die den Raum produzieren. Wenn der performative Raum ein Möglichkeitsfeld artikuliert, welches die Modi der Nutzung und Realisierung offen lässt, so bedeutet dies, dass sich die Raumwirksamkeit direkt an die im Raum des Performativen zirkulierende Energie koppelt. Für Zuschauer wie auch Performer gerät zum zentralen Wissensmoment, in der Lage zu sein, die ortsspezifische Atmosphäre wahrzunehmen, aufzunehmen und gegebenenfalls zu kanalisieren. Wie die performative Aneignung zum ontologischem Grund des Raums arriviert, so stellt dieser in der Performance-Kunst weder ein a priori Vorhandenes noch ein Artefakt dar. Insofern also Raum in der Aneignung als Ereignis produziert wird, offenbart sich das komplementäre Verhältnis, das das Urbane und die Performance Art unterhalten. Dass sich Performer in ihrer Aufführungspraxis verstärkt von Theater- oder Galeriegebäuden lösen und den Raum der Straße, des Parks als Ort ihrer Arbeit wählen, befeuert diese Konvergenz. Wenn Fischer-Lichte konstatiert, dass Performancekünstler »statt Werke zu schaffen, […] zunehmend Ereignisse hervor [bringen], in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Betrachter, die Rezipienten involviert sind«36, so hat dies auch Konsequenzen für den Werk- und Formbegriff der Kunst. Weit davon entfernt, der Autorenschaft eines einzelnen Künstlers zu entspringen, um schließlich in ein von Rezipienten wie Produzenten unabhängiges Werkobjekt zu münden, haben wir es bei Werken der Performance-Kunst mit situativ-relationalen Gefügen zu tun, die durch Handlungen unterschiedlicher Akteure »in Gang gehalten und beendet wird«37, Die Methode dessen bestimmt sich in den »Handlungen der Akteure, die darauf zielen, ein bestimmtes Verhältnis zu den Zuschauern herzustellen, und durch die Handlungen der Zuschauer, mit denen sich diese sich entweder auf die Beziehungsdefinition einlassen, welche die [Akteure] anbieten, oder sie zu modifizieren bzw. sogar durch andere zu ersetzen suchen.«38 Sofern hier Handlungen entstehen, die auf sich selbst verweisen und durch sich selbst »bedeuten« und wirklichkeitskonstituierend sind, können diese, so der Schluss Fischer-Lichtes, im Sinne Austins »performativ« genannt werden.39 Die Verweigerung repräsentationaler und geschlossener Formen des Erzähltheaters provoziert freilich einen Raum der Krise, »zu deren Bewältigung nicht auf allgemein anerkannte Verhaltensmuster zurückgegriffen werden kann.«40 Nicht-Repräsentativ meint hier indes nicht, dass nichts mehr darge36 | Ebd. 37 | Ebd. 38 | Ebd., S. 26. 39 | Ebd., S. 27. 40 | Ebd.
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stellt würde – Performance ist immer noch performativ, also zeigend. Was in ihr verlorengeht, ist das wichtigste Erbe des Erzähltheaters, nämlich die Tatsache, dass performative Situation und Signifikantenstatus a priori zusammenfallen. Die wohl unmittelbare Wirkung der Objekte und Handlungen der Performance Kunst ist das genaue Gegenteil von etwas, das sich im finalistischen Sinn als Ziel des Wegs der Selbsterkenntnis oder Selbsterbauung einstellt. Statt auf Bedeutungen reduziert zu sein, die man ihnen zuvor beigelegt hat, sind die Performances offen für neue Deutungszusammenhänge, was wiederum das Erzeugen eigener Bilder und Deutungsmöglichkeiten durch die Zuschauer zwingend macht. Natürlich können die Zuschauer dabei – in ihrer Kopräsenz mit den eigentlichen Performern – auch als Akteure gedeutet werden. Die Ebenen von Produktion und Rezeption, die sich in der Performancekunst durchdringen, unterscheiden sich aber aufs Strengste von Kategorien und Kriterien, »die in separierenden Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetiken entwickelt wurden«41. Mit Repräsentation wird also dasjenige, was dem Kanon der dramatischen Theaterwelt lange Zeit das höchste Gut war, in der Performancekunst geradezu problematisch. Präsenz und Repräsentation waren in der traditionellen Ästhetik noch als Gegensätze begriffen worden. Präsenz stand für unmittelbare Erfahrung, von Ganzheit und Authentizität, während Repräsentation »auf die grands récits bezogen [wurde], die als Macht- und Kontrollinstanz galten; sie wurde als festgelegt in ihrer Bedeutung und als starr begriffen und erschien vor allem deshalb problematisch, weil sie in ihrer Zeichenhaftigkeit nur einen vermittelten Zugang zur Welt eröffnet.«42 Die von Hans-Thies Lehman als post-dramatisches Theater43 bezeichneten Formen der Performance Kunst verstehen den Körper dagegen als Inbegriff des Präsent-Seins und die dramatische Figur als Ort der Repräsentation, des In-Direkten. War der Schauspieler im dramatischen Theater nur Ausführender eines von einem Autors vorkomponierten Plans und bildete er mit seinem Körper als Repräsentation das in dem Plan Vorgeschriebene ab und nach, so galt der Performancekunst der 41 | Ebd., S. 22. 42 | Ebd., S. 255. 43 | Unter postdramatischem Theater versteht Lehmann eine Theaterströmung, die seit den 1950er und 1960er Jahren nicht mehr vorrangig Texte von Autoren präsentiert. Es wird stattdessen eine spezifische Form der Ästhetik ins Spiel gebracht, die der Aufführungssituation ermöglicht, unter Einsatz unterschiedlicher Aktionen und Medien entsprechende Wahrnehmungen der Zuschauer zu provozieren. Nicht mehr Text- und Autorentreue stehen im Zentrum der Arbeit, sondern der Einsatz und Remix körperlicher, räumlicher, visueller und lautlicher Zeichen, die in ihrer relationalen Anordnung spezifisch-ästhetische Wirkungen hervorrufen sollen. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999.
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1960er Jahre ein solches Verfahren als » Ausweis für Repression, die der Text auf den Schauspieler und speziell auf den Körper ausübt.«44 Als Gegenmodell rief sie die Hypostasierung eines freien Körpers aus: Befreit von der Repression und Entfremdung durch einen Autor soll das Körper-Subjekt den Zugang zu Eigentlichkeit und Authentizität finden. Wo diese Argumentation auf der spezifischen Dichotomie gründet, dass es geistige, mentale Entitäten gibt, »die nur durch die Erfindung entsprechender Zeichen zum Erscheinen gebracht werden«45, entgeht ihr jedoch, dass sie auf eine vorstellungstheoretischen Prämisse rekurriert, die von der Sprachphilosophie gerade im Bezug auf die Performanz ad acta gelegt wurde. In der vorstellungstheoretischen Konzeption stehen Sprache und Schrift – als Medium eines Autors oder Subjekts – für eine Idealität, die in der Lage ist, Bedeutungen unverzerrt zu transportieren. Dieser Idealität – dem Telos, wahrheitsgetreue Aufführungen zu gewährleisten, vom Körper weitestgehende Disziplin zu fordern – stellt Performance Kunst nun die Verzerrung durch den »authetischen« Körper ausführender Schauspielersubjekte entgegen. Es ist Georg Simmel, der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine konzise Beschreibung repräsentationaler Differenz zwischen Materialität und Zeichen gibt: »Die Bühnenfigur, wie sie im Buche steht, ist sozusagen kein ganzer Mensch, sie ist nicht ein Mensch im sinnlichen Sinne – sondern der Komplex des literarisch erfassbaren am Menschen. […] Als Dichtung angesehen ist das Drama ein selbstgenügsames Ganzes; hinsichtlich der Totalität des Geschehens bleibt es Symbol, aus dem diese sich nicht logisch entwickeln lässt.«46 Dahinter steht die Frage, wie zwei unterschiedliche Schauspieler den gleichen Text ganz unterschiedlich darstellen können und jede Weise »richtig« sein kann. Für Simmel bedeutet dies: »Was wir Wahrheit über einen Gegenstand nennen, ist je nach dem Wesen, für das die Wahrheit gelten soll, etwas sehr Mannigfaltiges.«47 Simmel leitet daraus eine relationale Ebene ab, die zwischen Text und Schauspieler steht: »das Verhältnis zwischen Subjekt und Gegenstand, das aber aus keinem von beiden für sich allein stammt, sondern ein Neues, Drittes ist, über beide Gegebenheiten sich Erhebendes.« 48 Wenn Regisseure wie etwa Meyerhold bereits oder Schlemmer Dramaturgien entwerfen, die den Körper nicht auf eine Maschine zur perfekten Zeichenrepräsentation reduzieren, sondern vielmehr auf den Ausdruck des Körpers selbst und seine unmittelbare Betroffenheit setzen, stehen sie ganz in der Folge der von Simmel angestoßenen Auseinandersetzung. 44 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 256. 45 | Ebd., S. 133. 46 | Simmel, Georg: Das individuelle Gesetz. Frankfurt a.M. 1968, S. 75f. 47 | Ebd., S. 85. 48 | Ebd., S. 85f.
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Die Performancekunst der 1960er Jahre setzt an diesem diskursiven Punkt ein, allerdings, wie Fischer-Lichte deutlich gemacht hat, unter anderen Vorzeichen. Im Gegensatz zur Avantgarde der Moderne wird der Körper hier nicht als »vollständig form- und beherrschbares Material« vorausgesetzt, sondern konsequent von der »Doppelung […] von phänomenalem Leib und semiotischem Körper«49 ausgegangen. Künstlerische Performance zeigt sich ontologisch orientiert in dem Sinne, dass sie auf die Situiertheit des Körpers in der Welt abhebt und sie dort als Faktizität begründet. Damit stellt sie Performance gegen die Tendenz der Repräsentation, das Nicht-Repräsentative zu verdrängen. Unter dem Versuch, die Unterdrückung der Andersheit des referentiellen Gegenstandes im vermeintlich Selben zu tilgen, entweicht PerformanceKunst der Markierung. Die Suche nach der Position des Unmarked, die eine »representation without reproduction«50 verspricht, will die Subjektwerdung in reinster Form. Genügt es aber, das vemeintlich authentische Selbst als unhistorisches, essentialistisches Jenseits der machtpolitischen Sphäre der Repräsentation zu setzen? Theatermacher wie Grotkowski sehen Text nun nur noch als Werkzeug, das den Geist als Verkörperung in Erscheinung treten lässt. Die Performer erfüllen nicht den Auftrag eines Autors, sondern verleihen ihrem Leib »agency«.51 Der Körper ist nicht mehr Instrument repräsentationaler Aufgaben, sondern avanciert – als empirische Materialität – zum Ausdrucksfeld von Produktion und Energie. Die damit annoncierte Abkehr von der Referentialität meint indes keine Bedeutungslosigkeit, sondern vielmehr eine Hinwendung zur spezifischen Materialität und Medialität der Zeichenhaftigkeit des Körpers. Die materiale Medialität ist es, die die Aktivierung der Sinngenese im Wechselspiel zwischen Zuschauer, Aktion und Performer befeuert. Auch hier ist vorausgesetzt, Wissensproduktion (ebenso wie Wahrnehmung) nicht auf ein Kommunikationsmittel oder Zulieferungssystem für ein Bewusstsein (als Behälter) herunterzuschrauben. Im Unterschied zum Belieferungsverständnis, das annimmt, es gebe eine »basale Schicht sensueller Registrierung, von der eine höher zu bewertende Ebene deutenden Erkennens abgesondert wird«52, geht ja die Performanztheorie davon aus, dass sich performative Akte medial konstituieren, weil sie etwas »vermitteln und dabei das Vermittelte zugleich […] erzeugen«53 – an ihnen ist gleichsam der Vollzug als Inhalt der Mitteilung 49 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Ebd., S. 139. 50 | Phelan, Peggy: Unmarked. London 1996, S. 61. 51 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Ebd., S. 140. 52 | Schürmann, Eva: Sehen als Praxis. Frankfurt a.M. 2008, S. 34f., »Dieses Belieferungsdenken, demzufolge die Sinne Zulieferer des Denkens sind, ist ein historisch vorherrschendes Motiv und der Grund für die vertrackte Problemlage.« 53 | Krämer, Sybille (Hg.) : Performativität und Medialität. München 2004, S. 23.
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zu verstehen. Man sollte demzufolge die durch die Performance-Kunst betriebene Hypostasierung des Körpers nicht als verdinglichten oder verdinglichenden Fetisch abtun, sondern als Produkt konkreter historischer Prozesse bei der Politisierung von Künstlern und Rezipienten verstehen. Die Kluft zwischen der Allgemeinheit ›authentischer‹ Performanz und den politischen Formen performativer Körperlichkeit ist keine Kluft zwischen der Allgemeinheit des Subjekts und einer besonderen Sphäre politischer Performanz, sondern sie separiert die Totalität des Urbanen von sich selbst. Weit entfernt, aufs Präpolitische sich zu kaprizieren, bezeichnet der Authetizitätsanspruch der Performance Kunst den genau umschriebenen Raum der eigentlichen Politisierung: Im Kontext des Urbanen läuft dies auf das Recht auf die Stadt als solche, also als das Prinzip des Städtischen hinaus, auf das Recht der urbanen Raumproduzenten, ihr radikales Nicht-Zusammenfallen mit sich selbst innerhalb der Wiederholungen sozialen Handelns in seiner Differenz geltend zu machen. Das macht die Pointe der Performance-Kunst aus und zeigt, wie die Pole der beiden Begriffe funktionieren: Während Performance für die Körperlichkeit des Subjekts steht, manifestiert der Kunstbegriff den Setzungscharakter des Politischen. Differenz zu üben und darüber Geltung zu erlangen heißt hier, sich selbst zu setzen, nämlich insofern, als das performierende Subjekt das Überzählige ist, der Teil ohne identitär fixierte Teilhabe, der also ohne einen homogenen Identitätsraum auskommt und so zum Agenten des Allgemeinen als das Urbane aufsteigt. Macht nicht Jeanne Heeswijk, die sich als Aktivist mit der Devise »radicalize the local«– oft über Jahre hinweg an einem Projekt – in urbane Handlungszusammenhänge bettet und so die kontingente Differenz der Stadt als performative Basis für die Produktion neuer Formen von Soziabilität, kollektiver Aneignung und Selbstorganisation nutzt, genau auf diese Lücke aufmerksam? Wenn Van Heeswijk gemeinsam mit lokalen Nachbarn eines Stadtteils in Rotterdam den Afrikaandermarkt installiert und bei der performativen Produktion eines funktionsfähigen städtischen Marktplatzes die zwei Ebenen der Anordnung von Standplätzen, die Gestaltung von Verkaufsständen, Toilettenhäuschen usw. einerseits und die Form von (Bau-)Gesetzen und Regelwerken, ökonomischen Grundlagen und Dienstleistungsangeboten andererseits einander gegenüberzustellen – verweist sie dann nicht auf die elementarste Politik der Stadt? Ist ihr Projekt auf einer anderen Ebene nicht ein Hinweis darauf, dass wir, wenn stadtpolitische Interventionen ohne Bezugnahme auf ein allgemeines Recht auf Stadt vollziehen, das Politische selbst verlieren und Stadtpolitik auf ein postpolitisches Spiel von Aushandlungen über Partikularinteressen reduzieren? Wo Heeswijks performative Installationen, die die Grenzen von Kunst, Performance, Medien und künstlerischer Autonomie sprengen, indem sie performative Aktionen, städtische Gemeindeversammlungen, Diskussionen, Seminare und andere Formen der Organisation und Pädagogik kombinieren,
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an konkreten Fällen die Ausarbeitung neuer Marktordnungen und Genehmigungen, neuer Formen der Repräsentation und Beteiligung, des Managements und der Verwaltung thematisieren – richten sie sich dann nicht auch gegen die gewaltsame Geste der Entpolitisierung des städtischen Raums, die den urbanen Akteuren die Möglichkeit politischer Subjektwerdung verweigert? Sofern Struktur, Form, Funktion hier nicht gespielt, sondern verkörpert (embodied) werden, erschließt sich für die Stadtforschung ein durchaus phänomenologischer Ansatz in neuer Weise: Während der Körper des Forschenden im Kontakt zur Stadt die Grenzen instrumenteller oder semiotischer Funktionen überschreitet, ohne auf diese zu verzichten, kommt die Dichotomie zwischen Phänomenologie und Semiotik zum Erliegen. Wo performativ-handelnd Stadt als Bestehendes zugleich aufgefunden und als etwas Sinnliches produziert wird, handelt es sich um eine performative Form der Stadterschließung, die sich als mediale Form von Stadt- und Selbstverhältnissen konturiert. Eine solche Stadtforschung sollte man vor dem Hintergrund eines embodiedment lesen, das, als vermeintlich einzige Option, überhaupt in die Stadt hinein zu kommen, an urbanen Situationen teilzuhaben und die Stadt zu erfahren, am besten in dem Satz Merleau-Pontys gefasst ist: »Die Dichte des Leibes wetteifert nicht mit der Dichte der Welt, sondern ist im Gegenteil das einzige Mittel, das ich habe, um mitten unter die Dinge zu gelangen, indem ich mich Welt und Fleisch werden lasse.«54 Ein weiterer, für die Stadtforschung wichtiger Aspekt der Performance Kunst ist die Methode des Freistellens körperlicher Bewegungsabläufe. Robert Wilson und die frühe Yvonne Rainer liefern die überzeugendsten Beispiele für diese Form der Performancearbeit, die darauf fokussiert, basale, minimale Körperbewegungen herauszuheben, zu destillieren und zu markieren. Wo die Reduktion auf die Grundmotive der Bewegung deren typologische Musikalität um so mehr heraustreten lässt, betont sie die Möglichkeit, Varianz durch rhythmische und räumliche Patternbildung zu betonen. Anstatt Repräsentationen zu sein, transportieren die Performer Strukturen oder Muster, die wiederum in einen performativen Prozess eingebunden sind und aus demselben hervorgehen. Wir haben es hier mit einer Ausbildung einer Textur zu tun, aus der eine performative Landschaft entsteht, die nicht narrativ agiert, sondern vielmehr performativ-musikalisch. Bei Fischer-Lichte heißt es folgerichtig: »In Wilsons Theater avancieren so die individuellen sich im und durch den Raum bewegenden Körper der Schauspieler nahezu zum wichtigsten Thema und Gegenstand der Aufführung.«55 Wenn Wilson sagt: »Ich beobachte den Schauspieler, beobachte seinen Körper, höre auf seine Stimme und dann versuche 54 | Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1994, S. 178. 55 | Ebd., S. 143.
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ich mit [ihm] zusammen das Stück zu machen,«56 so bedeutet dies, dass er die Methode der Freistellung auch auf die Künstler selbst überträgt. So kommt er zu einer Form des performer-specific, die die individuellen Körpereigenheiten der jeweils beteiligten Performer als Material begreift. Das in epistemologischer Hinsicht Besondere an diesem Verfahren ist, dass es der Ontologie einen investigativen Charakter verleiht. Wir haben es hier mit dem Paradox zu tun, dass das Freistellen, in dem es dekontextualisiert, auf das Funktionieren den Kontext erst aufmerksam macht. Mit anderen Worten: Mit der Reduktion auf das Sein der minimalen Bewegung konstituiert sich jene Produktion performativer Fenster, die, wenn sie einen neuen Blick auf das Alltägliche, das Gewöhnliche der Körper ermöglichen, diese einem neuen Deutungshorizont zuführen. Nicht nur gewinnen die Körper daran an neuem Wert, auch erfahren sie eine Transfiguration. Hierzu trägt insbesondere Wilsons Raumtaktik als Wirkungsverstärker bei, der sich als Arbeit mit der Bühne als Landschaft äußert. Wo flächige screens mit Projektionen bespielt werden, deren timing zu dem der Performer kontrastiert, entstehen relationale Überlagerungen an Feldern und Mustern. Die Muster sind Fragmente, die einem größeren relationalen Handlungszusammenhang entstammen, den sie pars pro toto auf strukturelle Weise repräsentieren. Insofern die Darstellungen in ihrer Freistellung nie repräsentativ sind, sondern eine Deutung offen halten, sind Wilsons Performances Stills des Narrativen ohne Narrativ. Mit anderen Worten: Die Freistellung und Wiederholung der Bewegungen in ihrer Differenz – oft in Zeitlupe, um den nicht-repräsentationalen Charakter zu verstärken – betonen das Strukturelle, legen den Vorgang des Musters als Performativ frei. Dieser Eindruck wird durch den Landschaftseffekt intensiviert, der die Bewegungs-Muster in eine nicht-hierarchische Fläche auflöst. Immer wieder durchläuft der Performer den liminalen Grenzgang zwischen Bühnenraum und Bildfläche. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von der Be-Deutung hin zur Wahrnehmung von Funktion, die von »unten«, aus dem Körper des Performers und seiner relationalen Anordnung im Feld als konstitutiver Teil der Raumproduktion kommt – als die je situativ-spezifischen Parameter von Rhythmus, Timing, Intensität, Energie, Vektor. Wilsons Werk zeigt, dass die Figur niemals einfach in dem Sinne repräsentativ ist, dass sie ein bereits bestehendes Skript abbildet oder zum Ausdruck kommen lässt, da das Skript erst durch die körperliche Bewegung konstituiert wird. Hier prononciert sich die Pointe der Performance-Kunst: Die Artikulation des Repräsentativen ist immer auf minimale Weise performativ. Das Verfahren stellt durch relationale Taktiken und Strategien die je spezifische Körperlichkeit heraus- bzw. frei, welches in einem Diagramm nicht-repräsentionaler Bewegung zirkuliert. Wo das Geschehen auf der Bühne sich als blinde abstrakte Maschine geriert, die 56 | Zit. nach Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Ebd., S. 142.
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diagrammtisch vorgeht und damit, auf eine ganz andere Art und Weise als das mimetische Konzept, »sehen macht«, kann man vorgreifend formulieren, dass hier Taktik zur Strategie erhoben wird (s. Kapitel Deleuze). Daran, dass solche Blindheit nicht bedeutet, dass die Bewegungen der Performer völlig desemantisiert seien, erinnert Fischer-Lichtes These, dass die Bewegungen das bedeuten, was sie vollziehen. Wenn die Performer z.B. »den Arm in 45 Sekunden von der Taillen- bis zur Augenhöhe heben [sind sie] in diesem Sinne performativ wirklichkeitskonstituierend«57 und machen Realität durch das embodiement ihrer Strukturierung sichtbar. Vorraussetzung dessen ist, dass die Struktur der Performance in den Betrachtern in ebendem Maße mögliche Anschlüsse für Narrative aufruft, wie sie ihm die narrative Auslösung gerade entzieht. Paradoxerweise ist dies eine Form der Verfremdung und Verzerrung, in der die Performer erst dann menschlich werden, wenn ihre Bewegungen der menschlichen nicht mehr ähnlich sieht. Die freigestellte Bewegung ist in Wirklichkeit ein »allgemeiner Singular«, ein Stellvertreter für die menschliche Bewegung, und zwar dadurch, dass sie deren unmenschliche, fast maschinenhafte Verzerrung verkörpert. Was hier in Gang kommt ist die Emanzipation des Lacan’schen Partialobjekts: Weit entfernt, auf der Suche nach irgendwelchen komplementären Stücken zu sein, fehlt ihm nichts. Aber erhält hier nicht der Einwand Gewicht, Performanz zirkuliere – auf Grund ihrer Faktizität bzw. ihrer nicht-hermeneutischen Anteile – in einer Selbstreferenzialität? Dieser Einwand kann jedoch entkräftet werden, wenn man in Betracht zieht, dass gerade in der »Freistellung« und Verlangsamung der Bewegung eine Lösung von repräsentationalen Aufgaben der Figuration derselben geschieht, die jene Frage der Relationalität an Bedeutung gewinnen lässt, die hier im Mittelpunkt steht. Mit anderen Worten: Erst dort, wo die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Phänomen der Konstellation gelenkt wird, darauf, wie sich die Bewegungen im und als Raum »verschalten« und überlagern, kann das Relationale als Kernelement des Verfahrens deutlich werden. Müssen wir also nicht annehmen, dass der Vorwurf der Selbstreferenzialität, dort, wo er Intersubjektivität und Verstehen will, noch mit einer Folie der Repräsentation hantiert, die doch nachgerade überwunden werden soll? Das würde belegen, warum auch der Vorwurf der (postmodernen) Informalität hier nicht am Platze ist. Vielmehr gerät gerade die Ordnung polysemantischer Felder des Realen zum zu erarbeitenden Deutungsphänomen. Ein weiterer Fall sind Yvonne Rainers Arbeiten der 1960er Jahre. Sie stehen in dem Ruf, geschlechtliche Verhaltensweisen und performative Repräsentationen des Alltags in einen dramatischen Rahmen zu transponieren. Konsequenterweise stellt sich Rainer ihrem Werk Female Projections (1961) gegen die männlichen Formen heroischer Virtuosität auf der Bühne: »I imitated women 57 | Ebd., S. 145.
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in the subway. I had screaming fits. I was sexy. I was always being someone else on stage. […] What I was doing was taking things from life and transposing them in a dramatic form.«58 Wo Rainer zwischen der psychologischen Beladenheit des Theaters und der atmosphärischen Bilderwelt navigiert, kommt eine Explikation performativer Strategie zum Tragen, die in die, in ihrem Essay zu Parts of Some Sextets (1965) aufgezeigten, Aufforderung zur Anti-Virtuosität mündet: »No to spectacle no to virtuosity no to transformation and magic and make-believe no to glamour and transcendency of the star image no to the heroic no to the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the whiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved.«59 Noch deutlicher als Female Projections unterläuft Parts of Some Sextets den vordergründigen Impuls zum Narrativ: Wenn, über das Intervall von 45 Minuten, unterschiedliche Aktionen wie Matratzen- Herumschleifen, Tanzphrasen, Unisono-Gruppierungen parallel zu einem von Band abgespielten Text ausgeführt werden, entsteht jegliche Text-Tanz-Verbindung aus der Aktion selbst. In ihrer Weigerung zur Repräsentation kommt der tieferen Sinn der Choreographie zum Vorschein: Die Darstellung urban-zeitgenössischer Gleichzeitigkeiten und Kohärenzen: »everything on stage became an analogue for this daily life and this community.«60 Trio A versteht Rainer als Transportmittel, um »Bewegung zu den Massen« zu bringen: Obgleich das Werk viele Nuancen und eine hohe technische Anforderung enthält, soll es mit untrainierten Laien aufgeführt werden. Die Arbeit an der eigenen Bewegung, die Auseinandersetzung mit der körperlichen Erfahrung tritt hier als sozialer Moment auf. Sofern die Möglichkeit, diese Arbeit Rainers nicht in erster Linie als Choreographie, sondern als politische Performance mit Bezug auf die Lebensbedingungen der in ihnen auftretenden Laien zu lesen, von dem Werk ebensowenig abzulösen ist wie sein Zusammenhang mit der körperlichen und sozialen Realität der Darsteller selbst, wird Performance ubiquitär. Während Yvonne Rainer eine der ersten Tänzer war, die die Rückkehr zum ›alltäglichen Körper‹ als Alternative zum Körper der Aufführung vollzog, verschob sie gleichsam die Performativität auf jenen: «At that point everything became a performance. Performative actions were everywhere-the whole world became this stage. That also had to do with that particular moment.«61 Indem Rainer Aufmerksamkeit auf die direkte Materialität des Erscheinens einer Bewegung als Präsenz in einem jeweiligen Kontext legt, macht sie die Bedingung der Möglichkeit einer Performanz als 58 | Rainer, Yvonne: The Performer as a Persona. In: Avalanche, Sommer 1972, S. 50. 59 | Zit.n.: Goldberg, Rose Lee: Performance Art. S. 141. 60 | Rainer, Yvonne: Interview. In: Zurbrugg, Nicholas (Hg.): Art, Performance, Media. 31 Interviews, Minneapolis 2004, S. 301. 61 | Ebd., S. 300.
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das Politische der Realität sichtbar, ohne dass diese von narrativen Linearitäten überdeckt oder »for granted« genommen würde. Eine weitere interessante Komponente dessen ist, dass im Verschwinden der Narration die spezifische Eigenart des phänomenalen Leibes der jeweiligen Performer in den Vordergrund tritt. Es gibt keine Geschichte und kein Telos, die sich – außerhalb derer, die sie auf- und ausführen – abspielen oder konzipieren ließen: Weit enfernt, Medium eines gleichlaufend externalisierten und externalisierenden Texts zu sein, problematisiert die Performance Kunst die prinzipielle Ontologie eines In-der-Stadt-Seins der Raumproduzenten als politische Fragestellung.
2.1.6 Performanz in der politischen Philosophie Was im Rahmen der Analyse soziologischer, sprachphilosophischer, kulturwissenschaftlicher und künstlerischer Aspekte der Performanz rückwirkend zum Vorschein kommt, das sind nicht in erster Linie die ästhetischen, sondern die politischen Aspekte – seien sie emanzipatorischer oder normativer Art – der Performanz, deren strukturierende Rolle in der politischen Ökonomie der Subjekte jedem Versuch symbolischen Umschreibens eingetragen ist. Insofern sollen im Anschluss zwei wichtige Positionen politischer Philosophie dargestellt werden, die sich dem Begriff der Performanz aus jeweils unterschiedlicher Richtung nähern.
2.1.6.a Herbert Marcuse. Das Performanzprinzip Beginnen wir mit Herbert Marcuse, der in der Ausarbeitung des performance principle jene Position der Frankfurter Schule manifestiert, die die Wechselwirkung superstruktureller Phänomene wie Kultur, Politik und Ökonomie als Teil gesellschaftlicher Widersprüche zu ihrem Thema macht. Wenn Marcuse beschreibt, wie die instrumentalisierende, unterdrückende Totalität kapitalistischer Produktion unsere individuellen Handlungen vermeinlicher Selbstbefreiung bedroht, geht seine Argumentation vom performance principle als Modell eines gesellschaftlichen Realitätsprinzips aus: »in our attempt to eludicate the scope and the limits of the prevalent repressiveness in contemporary civilization, we shall have to describe it in terms of the specific reality principle that has governed the origins and the growth of this civilization. We designate it as performance principle in order to emphasize that under its rule society is stratified according to the competitive economic performances of its members. It is clearly not the only historical reality principle: other modes of societal organization not merely prevailed in primitive cultures but also survived into modern period.«62 Was damit lanciert ist, ist eine Ideologiekritik als Offenle62 | Marcuse, Herbert: Eros and Civilization: A philosophical Inquiry into Freud. New York 1961 (1955), S. 40f.
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gen einer Herrschaftsform, die Gesellschaft »entsprechend der konkurrierenden ökonomischen Leistung ihrer Mitglieder schichtet«63. Als zentrale Denkfiguren treten dabei die Begriffe der Entfremdung und Sublimation auf: »Die Menschen leben nicht ihr eigenes Leben, sondern erfüllen schon vorher festgelegte Funktionen.«64 Marcuse macht uns mit dem normativen Mechanismus vertraut, dass Sublimation umso rationaler erscheint, je universeller sie sich in der Gesellschaft ausbreitet. Dabei operiert das Realitätsprinzip als äußeres, objektiv Gesetztes wie auch als internalisierte Kraft. Während soziale Autorität ins Gewissen und in das Unbewusste des Subjekts dringt, erscheint sie ihm »als eigener Wunsch, als eigene Moral und Erfüllung.«65 Mit anderen Worten: Dort, wo der Kapitalismus will, dass wir wollen sollen, was wir sollen, wird der marginale Spielraum unserer Freiheit darin, dass wir zu jedem gegebenen Element, dem wir begegnen, nein sagen können, zutiefst bestritten. Marcuses Position ist die, dass hier ein Realitätsprinzip der Performanz forciert wird, mit dem das Nullniveau, von dem aus jeder gegebene gesellschaftliche Inhalt in Frage gestellt werden kann, zum Verschwinden kommt. Wir haben es geradezu mit einem Überwältigtwerden durch ein Realitätsprinzip zu tun, das das Heraustreten aus dem Symbolischen in der negativen Geste eines radikalen Aktes – in dem, was Freud Todestrieb genannt hat – tilgt. Da Marcuse weit entfernt ist, angesichts dieser Situation in Resignation zu verfallen, hat Habermas Recht, wenn er das, was in dieser Kritik erscheint, als eine Form der Theorienbildung fasst, die sich der »resignativen Enthaltsamkeit gegenüber der Praxis«66 – wie sie sich bei Adorno und Horkheimer abzeichnet – entzieht. Marcuse bestimmt – mit seinem Lehrer Heidegger – den historischen Materialismus seiner Gegebenheit als Gesamtbereich der Erkenntnisse, die sich auf die Geschichtlichkeit, »auf das Sein, die Struktur und die Bewegtheit des Geschehens beziehen«67. Unter Rekurs auf Marx fordert Marcuse jedoch eine dialektische Korrektur der phänomenologischen Interpretation der Geschichtlichkeit. Wenn Marcuse behauptet, dass die dialektische Methode diejenige Methode erbringt, die es ermöglicht, der »jeweiligen konkret-geschichtlichen Situation ihres Gegenstandes in jedem Augenblick gerecht zu werden«68, dann wiederholt er im Grunde Hegels These, dass es dem die »Totalität des geschichtlichen Daseins« erfassenden Blick ebenso um die »Fundamente der Existenz« wie um ihre jeweils »konkrete Lage«69 geht. 63 | Ebd., S. 49. 64 | Ebd. 65 | Ebd., S. 50. 66 | Habermas, Jürgen: Antworten auf Herbert Marcuse. Frankfurt a.M. 1968, S. 12. 67 | Marcuse, Herbert: Schriften. Band I. Frankfurt a.M. 1978, S. 347. 68 | Ebd., S. 369. 69 | Ebd., S. 368.
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Ziel ist, die naturale und ökonomische Basis der Gesellschaft mit dem Heute der Situationen zu verknüpfen, die jeweils praktisch zu bewältigen sind. Marcuses Anliegen besteht also darin, die »volle Konkretion des geschichtlichen Subjekts« 70 wiederzugewinnen. Die Grenze einer solchen Bezugnahme auf die geschichtsphilosophischen Konstruktionen von Marx und Hegel ist deren Ausblendung der subjektiven Sphäre, die Marcuse durch den Einbezug der Psychoanalyse beheben will. Während Marcuse Theorie die Freud'sche Lehre hinsichtlich ihres soziohistorischen Inhalts dechiffriert, stellt seine spezifische Form einer Philosophie der Psychoanalyse Freud auf den Kopf. Marcuses zentrale Wendung besagt, dass wir nicht nur die Freud'sche Gleichsetzung von Kultur und Unterdrückung zu übernehmen haben, sondern dass umgekehrt eine Kultur ohne Unterdrückung möglich sei. Aus dieser Perspektive besteht das Paradox in der Tatsache, dass »gerade die Errungenschaften der unterdrückten Kultur […] die Vorbedingungen für die allmähliche Abschaffung der Unterdrückung […] bieten.« 71 Hier formuliert Marcuse den grundlegenden Zug der kritischen Theorie: Wer die Wechselbeziehung zwischen Freiheit und Unterdrückung als Prinzip der Kultur kritisiert und beurteilt, sollte im selben Zug den Verlauf von Kultur als geschichtlich, als historisch »begrenzte Organisation des menschlichen Daseins« 72 interpretieren. Das berechtigt Marcuse dazu, die Nachkriegsepoche als die Organisationsform eines historisch spezifischen Realitätsprinzip des performance principle, einzuordnen. Warum aber unternimmt Marcuse eine solche sozialphilosophische Analyse des Psychischen? Die Marx'sche Geschichtsauffassung verweist auf ein Übergewicht der gesellschaftlichen Mächte gegenüber Bestrebungen einzelner und sieht das Subjekt als reaktiv durch gesellschaftliche Konstellationen geformt. Demgegenüber insistiert Marcuse auf den subjektiven Faktor innerhalb einer konsumgesteuerten kapitalistischen Welt. Dies ist natürlich die – heute allgegenwärtige – Grundbewegung, dass sich äußere Machtformen ins Innere des Menschen verlagern. Genau daraus aber gewinnt Marcuse seine kritische Volte: Da es eine historische Form ist, ist das historisch bedingte Realitätsprinzip ständig der Subversion des Begehrens nach alternativen Vergesellschaftungsformen ausgesetzt. Es kennzeichnet somit auch keinen Abschluss, wenn Marcuse Freud einer kritischen Lektüre unterzieht und daraus das Positivum erhält, dass sich mit der Entdeckung des Somatischen als Ort gesellschaftlich verursachten Leidens und der Entfremdung als Osmose von Körperlichkeit
70 | Marcuse, Herbert : Schriften. Band III. Frankfurt a.M. 1978, S. 34. 71 | Marcuse, Herbert: Triebstrukur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a.M. 1973, S. 11. 72 | Ebd., S. 10.
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und Sozialität »der volle Umfang der kulturellen Unterdrückung« 73 erhellt. Vielmehr setzt Marcuses Utopie einer nicht entfremdeten Welt gegenüber Freud die Möglichkeit einer nicht-repressiven Sublimierung voraus. Tatsächlich interpretiert Marcuse den Eros auf marxistische Weise: Es gibt eine Vorgeschichte unterdrückter Triebe aber auch eine Aussicht auf die Möglichkeit der freien Entfaltung der Subjekte und deren »Selbst-Sublimierung.« 74 Transformation von Gesellschaft, so die These, schöpft aus einer Dimension, in der die vitalen Befriedigungen des Menschen sich geltend machen. In Der eindimensionale Mensch fügt Marcuse seiner Konzeption des Performanzprinzips die räumliche Dimension hinzu: Für Marcuse ist Eindimensionalität jener Grundcharakter der Industriegesellschaft, der es jener ermöglicht, progressiven Wandel dauerhaft zu unterbinden. Was Marcuse dagegensetzt, ist das Postulat einer inneren Freiheit, die auf der Authetizitätsbedingung eines Innenraums des Menschen beruht. Der innere Raum des Subjekts, in dem der Mensch ›er selbst‹ werden und sein kann, sieht sich einer Bedrohung durch eine durch Massenproduktion und Kulturindustrie hergestellten, technologisch zugerichteten Wirklichkeit angegriffen und eingeengt, die die gesellschaftliche Kontrolle im Bewusstsein der Menschen reproduziert. Diesen Vorgang bezeichnet Marcuse als Introjektion, deren »Ergebnis […] nicht Anpassung, sondern Mimesis [ist]: eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem Ganzen.« 75 Die gewaltsame Auferlegung eines Realtiätsprinzips hat hier ihre Ursache darin, dass der Geltungsbereich des Realtiätsprinzips der einer noch fundamentaleren Gewaltsamkeit ist: Weit enfernt, brutal eine soziale Interaktion zu stören, versucht die Auferlegung eines Realtiätsprinzips in eine von Spannungen zwischen Innen und Außen geprägten »Unmöglichkeit« – durch Kultur als Transmissionsriemen – eine nichtrepressive Vermittlung zwischen performativer Körperlichkeit und Produktion sozialen Raums einzuführen. Wenn Marcuse auf den Gedanken der Totalität insistiert, versteht er den geschichtlichen Inhalt technischer Rationalität nicht als einen ihr äußerlichen Faktor. Vielmehr geht dieselbe als konstitutives Element in die Totalität der Gesellschaft ein und bestimmt die Produktion ihres sozialen Raums. Obwohl eine zunehmend irrationale Gesellschaft ihr negatives Element – Kritik, Widerspruch – bereits in sich trägt, hat es vor dem Hintergrund zunehmender Ökonomisierung des Sozialen unter dem Paradigma der Performanz wenig Sinn, wie etwa Foucault, Ökonomie als unabhängige Macht zu ontologisieren. Stattdessen fokussiert Marcuse auf dysfunktionale Faktizitäten wie Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Entfremdung und interpretiert sie als zentrale Produk73 | Ebd., S. 268. 74 | Ebd., S. 207. 75 | Ebd.
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te, als Negation des Bestehenden. Marcuse macht hier zwei Punkte geltend: Erstens geht es ihm darum, den irrationalen Charakter einer bestehenden Rationalität, eines bestehenden Realitätsprinzips offenkundig zu machen, und zweitens die Tendenzen zu bestimmen, die diese Rationalität veranlassen, ihre eigene Transformation hervorzubringen. Das zu sagen heißt auch, dass die gesellschaftliche Transformation von einem Innen her zu kommen hat. Als geschichtliche Totalität entwickelt sie selbst Kräfte und Vermögen, die die bestehende Situation in der Zeit überschreiten. Das wirft ein Licht darauf, wie Marcuse zwischen zwei Polen navigiert: dem Pol der positiven Utopie in Triebstruktur und Gesellschaft im Hinblick auf ein neues Subjekt als Vorbedingung radikaler Veränderung und der negativen Utopie von Der eindimensionale Mensch, in der die Frage gestellt wird, wie die totale Ideologisierung des Subjekts überhaupt zu brechen ist. Wenn Marcuse das Freud’sche Realitätsprinzip als performativ definiert, als die Haltung eines »ja ich kann«, (was gleichwohl bedeutet, dass der performative Trieb nicht der Trieb zu können ist, sondern im Unterschied zum Wunsch zu können, der Trieb kulturellindustriell als ein Könnender zu erscheinen) verweist er dann nicht auf die elementarste Theatralizität des gegenwärtigen kapitalistischen Kondition? Ist aber nicht die Rede vom Kontinuum der Repression, vom Dualismus der Ausgebeuteten auf der einen und von der freien Gesellschaft auf der anderen Seite, überholt? Haben wir es heute anstatt mit einer utopisch orientierten Befreiung (als kataklystischer Übersprung in eine neue Zeitrechnung) nicht eher mit der stetigen Auseinandersetzung mit dem Ausbau von Mündigkeit bei gleichzeitiger Zunahme der Bedrohung eines unabhängigen Denkens zu tun? Die Triebstruktur kann dabei ebenso Quelle der Emanzipation wie auch des Konformismus sein. Entfaltet sich nicht, wenn Marcuse als reale Befreiung das Bedürfnis nach Freiheit vor die Befreiung der Bedürfnisse setzt, ein infiniter Regress proto-libidinöser Triebschaltungen? Wer Freiheit wünscht, muss erst den Wunsch nach einem befreienden Wunsch haben usw. Was Marcuse andererseits aber sehr wohl zeigt, ist die Repression der Phantasie als ein auf Zukunft, Kritik und Gestaltung gerichtetes performance principle. Dem entspicht die Tatsache, dass keine Emanzipation entstehen kann, wenn nicht das gesellschaftliche Ziel in Beziehung zu den sinnlichen Glücksansprüchen der einzelnen Subjekte gesetzt wird. Wo Marcuse anhand der Verknüpfung von Triebstruktur und Gesellschaft die Möglichkeit einer qualitativen Transformation der Produktion, ja der Subjekte selbst und ihrer fundamentalen Bedürfnisse begründet, bleibt schließlich anzumerken, dass seine geschichtliche Einschätzung noch von der industriellen Epoche ausgeht. Während er in der – sich als die Apotheose der Rationalisierung gerierenden – Industrialisierung die Irrationalste aller bisherigen Gesellschaftsentwicklungen erkennt, und ihr eine bisher unerreichte Manipulationskapazität zuspricht, weiß Marcuse vom Urbanen noch nichts zu berichten.
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In einer Gesellschaft, die sich im Übergang von der industriellen zur urbanen Epoche befindet, bilden sich neue Formen der Machtpolitik und des Regierens aus, ihre Bewegungen verlagern sich in das Subjekt selbst. Die Rede vom Performanz- als Realitätsprinzip ermöglicht die Einsicht, dass sich das Subjekt einer äußeren Welt gegenüber sieht, die auf die psychische Struktur durch spezifische gesellschaftsbildende Organe oder Kräfte einwirkt. Was sich hier eröffnet, ist die Dialektik der indirekten Steuerung: Wenn Begriffe der Psychologie zu Begriffen der gesellschaftsformenden Kräfte avancieren, welche die Psyche bestimmen, erscheint Unterordnung unter der Macht des verinnerlichten Performanzprinzips als durch Arbeitsteilung selbst entfaltet. Dort, wo die Hierarchie von Funktionen und Beziehungen die Formen objektiver Vernunft annehmen, wird Normativität mit dem Leben der Gesellschaft identisch und entpersönlicht sich Unterdrückung. Mit anderen Worten: Produktion und die Produktionsbeziehungen wandeln sich selbst zu Instrumenten von Steuerung. Hatte schon Marx betont, dass die materielle Produktion immer auch Reproduktion der gesellschaftlichen Beziehungen ist, in denen sie statthat, so sind die gesellschaftlichen Beziehungen im Urbanen das unmittelbare Ziel der Produktion. Paradoxerweise setzt Marcuses Utopie gerade darauf, dass Verzicht und Unterdrückung per Triebstruktur verinnerlicht werden: Herrschaft ist dann nicht mehr auf äußere, körperliche Gewalt angewiesen, sondern kapriziert sich – als Selbstbeherrschung – als konstitutives Prinzip von Subjektivität.
2.1.6.b Gilles Deleuze. Diagramm der Kontrollgesellschaft Ein Jahrzehnt später entwickelt Gilles Deleuze eine zu Marcuse gegenläufige Konzeption der Performanz, welche die Rede von der Unterdrückung der Begierden rundweg ablehnt: »die Gefüge des Begehrens haben nichts mit Repression zu tun.« 76 Aber auch dort, wo für Deleuze, anders als für Marcuse, der die Auseinandersetzung mit der Entfremdung (und damit der Ideologie) gesucht hat, der innerste Kern der Gesellschafttheorie in der Vorstellung besteht, dass die Gewalt, die die Macht auf uns ausübt, libidinösen Charakter hat, ist er der Intuition gefolgt, dass das Funktionieren der Performanz und der konstruktive Umgang mit ihren Verzerrungen die Grundlage gesellschaftlicher Konstitution bildet. Dabei versteht Deleuze Performanz als Resultat einer bestimmten Praxis, und zwar des diagrammatisch angelegten kartographischen Verfahrens. Damit ist er der Theoretiker der Gegenwart, dessen Begriffsarbeit sich am besten eignet, jene diagrammatische Praxis als performative Strategie anzukündigen, die die Beschwörungen eines der rationalen Intentionalität nachgängigen Handelns hinter sich lässt. In Tausend Plateaus arbeitet Deleuze (gemeinsam mit Felix Guattari) die performativ-strategische Funktion des Dia76 | Deleuze, Gilles: Lust und Begehren. Berlin 1996 (1977), S. 22.
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gramms sehr genau heraus: Womit wir es bei der Arbeit am Diagramm zu tun haben, ist eine gesellschaftliche Technik, die es den Akteuren ermöglicht, sich collagenartig unterschiedlichsten Situation anzupassen und Situationen mit zu erzeugen. Wenn Deleuze und Guattari sagen, dass eine diagrammatische Karte in unterschiedlichen Maßstäben und medialen Formen erscheint – sie »kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Aktion oder Meditationsübung begreifen.« – bedeutet das, dass eine Karte aus »Performanz« 77 besteht. Das erklärt, warum der Konzeption des Diagrammatischen in der gestalterischen Strategie der Wissensformen der Ermöglichung auch in politischer Hinsicht eine vorgeordnete Rolle zukommt (s. Kapitel performative Strategie). Im Unterschied zu Marcuse jedoch denkt Deleuze Praxis weder aus der Warte eines Subjekts, noch aus der Warte der Dialektik. Stattdessen löst er das marxistische Modell einer Gesellschaft der Widersprüche auf in eines jener Gesellschaft, »die sich anhand ihrer Fluchtlinien bestimmt, von denen alle Massen, unabhängig von ihrer Beschaffenheit, ergriffen werden.« 78 Darin steigt das Begehren zur positiven Kraft auf, die ein Feld jener Bewegung konstituiert, auf dem sich die Verhältnisse ineinander fügen. Wo sich Institutionen, Subjektivitäten, Herrschaftspraktiken ineinander aufrichten, beschleunigen oder verlangsamen, so resultiert gesellschaftlicher Raum aus einer immanenten Ökonomie des Begehrens: »Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, sonst nichts.« 79 Wenn Deleuze Geschichtliches kontingent, im Sinne von ›anders möglich‹, denkt, so heißt dies, dass Historizität nicht von einer höheren historischen Notwendigkeit herrührt, sondern sich durch das Zusammenkommen unterschiedlicher Entwicklungen, die einfach erscheinen, bestimmt zeigt – was Fakt ist, gilt. Die Subjekte agieren nicht, sondern bewegen sich in einem diagrammatischen Raum des Begehrens, der aus einem bestimmten Gefüge ein gemeinsames Funktionieren macht. Dabei umfassen die Gefüge des Begehrens die Dispositive der Macht und nicht umgekehrt: »Die Gefüge des Begehrens breiten die Machtformen innerhalb einer Dimension aus.« 80 Wiederum ähnlich der Setzung des Triebes als Bedingung von Freiheit durch Marcuse wird von Deleuze das Begehren der Macht vorgeschaltet: »Die erste Differenz wäre also, dass die Macht für mich eine Affektion des Begehrens ist.« 81 Subjekt-Objekt-Konstellationen verflüssigen sich in der diagrammatischen Fal77 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. S. 24. 78 | Deleuze, Gilles, Parnet, Claire: Dialoge. Frankfurt a.M. 1980, S. 146. 79 | Deleuze, Gilles, Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Berlin 1977, S. 39. 80 | Deleuze: Lust und Begehren. S. 21. 81 | Ebd.
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tung der Begehrensströme und zerlaufen in ein Gefüge unterschiedlicher Situationen und Verhältnisse. Was das Subjekt macht, ist, dass es diese Räume affirmativ durchquert, sie in permanenter Bewegung konsumiert, während es in seine Begierden-Subsysteme zerfällt. Wo immer nur ein Teil des Subjekts Teile von Situationen, Ereignissen konsumiert, annuliert sich die Unhintergehbarkeit von Subjektivität – wie sie noch für Marcuse existierte – als ein relationales Feld struktureller Beziehungen und Verkettungen. Weder Subjekt noch Objekt konstituiert die Verkettung eine Maschine in beiden, um sich in der Montageordnung der materiellen und sozialen Flüsse, der ökonomischen Flüsse usw. zu bewegen. Maschine meint hier einen multiplen Funktionskreislauf, der mehr ist als das bloße Realisieren eines vorgeplanten Zielzustandes. Während sich das Subjekt im Strömen der Wunschproduktion vervielfältigt, entfällt jenes als zieldefinierende Instanz. Das zu sagen heißt nicht nur, dass die Maschine des Begehrens jegliche teleologische Ausrichtung überschreitet, sondern auch, dass die Dichotomie von Arbeitswelt hier, Subjekt und seine Triebstruktur dort, zum Auslaufmodell gerät. Gesellschaftliche Produktion von Realität und Wunschproduktionen von Phantasie konvergieren in einen sozio-politischen Raum, in dem Unterschiedliches ineinandergreift, sich überlagert, blockiert, katalysiert, sich unterbricht oder unterläuft. Anhand eines solchen Modells lässt sich etwa die performative Revolution jener neuen sozialen Bewegungen erklären, die an der Schwelle des Politischen Politik machen. Denn zur Disposition steht, woher die performativen Praktiken kommen, die sich nicht allein auf den Staatsapparat oder die ökonomische Verfügungsgewalt des Kapitals konzentrieren, sondern unter dem Schlachtruf The private is political Orte politisieren, an denen Machtmechanismen im Alltag der Stadt wirken: In dem Zuge bleibt Deleuze nicht dabei stehen, die Verhältnisse zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten anzuklagen – mit einer solchen Opposition lässt sich heute nichts mehr gewinnen. Deleuze fokussiert vielmehr auf die somatische Wurzel, die Substanz der Ausbeutung, Entfremdung: die Lohnarbeit, die passive Hinnahme der Trennung zwischen Arbeit und Begehren: die emotionale Besetzung von Arbeit ist zur Droge aufgestiegen, welche an die Abschaffung aller Wünsche appelliert. Bekanntermaßen schließt Deleuzes Konzeption hier an die Machttheorie Foucaults an, die das Subjekt in der Zirkulation von Macht verschwinden lässt: Wenn Macht Praxis ist, konzentriert sich das Augenmerk auf die räumliche Qualität der retro-aktiven Bewegung der Subjekte auf der Basis der Zirkulation von Macht selbst: »[…] die Individuen zirkulieren nicht nur in ihren Maschen (der Macht), sondern sind auch stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich ausüben und erfahren. Sie sind niemals unbewegliche und bewusste
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Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente.« 82 Wie sich das Subjekt in eine soziomorphe Netzstruktur auflöst, die Macht durch sich hindurch strömen lässt, so ist Transformation nicht mehr Emanzipation von Subjekten, sondern die Re-Steuerung, das re-controlling der Zirkulationsweise der Macht ebenso wie des Begehrens. Weder besitzt man Macht, noch hat man Zugriff aufs Begehren, man ist mit beiden nur strukturell verbunden. Das hat zur Folge, dass es so etwas wie Ideologie, also falsches Bewusstsein, gar nicht geben kann: Weit entfernt, einem falschen Schein zu erliegen, der wie ein Schleier über den Verhältnissen liegt, verbinden sich die Subjekte mit ihren Wünschen, zeigen sich real und materiell mit dem verbunden, was sich im Augenblick performativ und situativ zuträgt. Wo die Trennung zwischen ›objektiver Realität der Dinge‹ und ›subjektiver Phantasie‹ erodiert, ist das Imaginäre real. Indem Deleuze den Fokus auf die Performanz, die Ausführung der Bewegung legt, dreht er die Verhältnisse um: »Die Gesellschaft erstellt ihr eigenes Delirium im Akt der Aufzeichnung des Produktionsprozesses; doch dieses Delirium ist keines des Bewusstseins, oder das falsche Bewusstsein ist vielmehr wahres Bewusstsein einer falschen Bewegung.« 83 Herrschaft verfährt nicht ideologisch, sondern produktiv: Sie produziert Reales, ihre Form ist die der Normalisierung. Macht bezieht sich weniger auf die Produktion als auf die Produktionsbeziehungen. Eine solche Konzentration auf das strukturelle Bewegungsgeflecht des Sozialen hat Auswirkungen auf die Interpretation von Raum. Deleuze stellt das Bild eines Raumes vor, der sich in Form von Plateaus, von Falten und überlagernden Schichten geschmeidig de- und reterritorialisiert. Raum wird zur Streuung. Das Verlassen der Konzeption eines zentrierten Ichs, das Denken in Strömen, Feldern, Plateaus und Linien stellt dabei den Versuch dar, diese neue Räumlichkeit zu definieren: loszukommen von einem Zentrum, dass immer seine Peripherie produziert. Es entfaltet sich daran ein dynamisches System der Mannigfaltigkeiten und Beziehungen von Singularitäten, die sich performativ ereignen: als Ereignis, das sich als Konstellation im Rahmen eines bestimmten Topos verortet. Dabei ist das Ereignis kein Sachverhalt, »es aktualisiert sich in einem Sachverhalt, in einem Körper, im Erleben. Es hat weder Anfang noch Ende, es hat vielmehr die unendliche Bewegung gewonnen oder bewahrt, der es Konsistenz verschafft.«84 Grundform dieser Bewegung ist die Falte. Sie konstituiert nicht das Ereignis, sondern die Spur raum-zeitlicher Entfaltung der Mannigfaltigkeit: »In jedem Ereignis gibt es viele heterogene und stets simultane Komponenten, da sie jeweils eine Zwischen-Zeit sind, die sie über Zonen der Unentscheid82 | Foucault, Michel: »Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin«. In: Ders.: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 82. 83 | Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus. S. 17. 84 | Deleuze, Gilles, Guattari, Felix: Was ist Philosophie? Frankfurt a.M. 1996, S. 182f.
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barkeit, der Unbestimmtheit miteinander kommunizieren lässt: das sind Variationen, Modulationen, Intermezzi, Singularitäten einer neuen unendlichen Ordnung.«85 Besteht aber die Tendenz des neuen Kapitalismus und des Performance-Managements nicht gerade darin, Mannigfaltigkeit zu instrumentalisieren und lokale Selbstorganisation zu mobilisieren? In gewisser Weise führt Deleuze in Postskriptum über die Kontrollgesellschaften 86 Marcuses Ansatz fort. Das Konzept der Kontrollgesellschaften stellt ein Gesellschaftmodell vor, das, wo es dem Unternehmen eine Seele gibt, das scheinbare Hindernis der subjektiven Affekte in die positive Bedingung der Möglichkeit wandelt, das ein wahrhaftes Explodieren der Produktivität (= Performanz) auslösen soll, indem die Kontrolle des Subjekts in das Subjekt selbst verlagert. Hier zeigt sich erneut, dass die Mechanismen von Performanz nicht die der Ausübung direkter Gewalt sind, sondern die der subtilen Kontrolle von psychischem Verlangen und der Transformation individueller Wünsche in Muster der Konformität. Einstige Pädagogik der Emanzipation mutiert daran zum Werkzeug der eigenen Unterwerfung. Es ist Foucault, der zunächst die Seele als Effekt und Instrument einer politischen Anatomie, als Gefängnis des Körpers ausmachte: »Der Mensch, von dem man zu uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ›Seele‹ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche Macht über den Körper ausübt.« 87 Indes, im Unterschied zu dem durch Foucault beschriebenen Disziplinarregime findet die Unterwerfung der Körper jetzt durch die Kontrolle eigener Ideen statt, nicht mehr durch äußeren, disziplinarischen Druck. Ging es der Disziplinarmacht im Komplex Körper/Maschine um die Synthese, um »Zwangsbindung an den Produktionsapparat« 88, zielt Regieren jetzt auf Freiwilligkeit und eigenverantwortliche Selbstermächtigung. Wo »dieses Band […] umso stärker [ist], als wir seine Zusammensetzung nicht kennen und es für unser eigenes Werk halten« 89, handelt es sich um die eigentümliche, verwirrende Konvergenz zwischen der Dynamik kapitalistischer Ausbeutung und dem ihr vermeintlich entgegengesetzten Widerstand. Der Taylorismus wollte die Tätigkeit des Menschen, die Kontrolle des gesamten Arbeitsprozesses durch Angestellte, Kontrolleure, Aufseher und Vorarbeiter sicherstellen. Dagegen sorgen die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien für 85 | Ebd., S. 184f. 86 | Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt a.M. 1993. 87 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1974, S. 42. 88 | Ebd., S. 197. 89 | Ebd., S. 131.
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eine Selbstkontrolle und schieben dazu das Postulat der zunehmenden Komplexität von Arbeitsaufgaben und damit der zunehmenden Problematisierung externer Kontrolle vor. Das innerhalb des Komplexes von Disziplinarmacht entwickelte Erziehungsverhältnis erweitert sich zur Anleitung zur Selbstbeobachtung. Eine solche Kontrollgesellschaft prononciert sich als System ohne Eigenschaften, an dem jede Kritik abprallt. Darin spiegelt sich die ungewöhnliche Kraft des Performanzregimes, für sich zu instrumentalisieren, was sich ihm entgegenstellt – das Vermögen der Kultur der Performanz besteht darin, auch noch das zu absorbieren, was sie im Kern bedroht. Durch Neutralität und Toleranz verwandelt es jeden Widerstand in kinetische Energie, in eine Ideologie, die in die Selbstorganisation der sozialen Systeme einfließt, jedoch – und das ist das Entscheidende – ohne sie mit der Kompetenz zur Wahrnehmung eigener Ziele auszustatten. Ohne Eigenschaften zu sein bedeutet für die Kontrollgesellschaft, nicht von wirklichen Differenzierungen, sondern von Amalgamen, von Vermengungen zu leben. Die Kontrollgesellschaft verschlingt die Programme und Projekte, die sie hervorbringt, und unterminiert damit den Begriff Gesellschaft selbst als Bezugsrahmen von Kritik. Wie aber lassen sich die Produktionsverhältnisse bzw. Arbeitsformen einer Kontrollgesellschaft näher formulieren? Sofern also Stadtforschung nach der Formation urbaner Gesellschaft fragt, fragt sie nach den Produktionsweisen und -beziehungen einer Kontrollgesellschaft, die sich am Paradigma der Performanz orientiert. Was hier erscheint, ist ein Ensemble organisatorischer, technologischer und kultureller Formen der Performance, die für die Einbeziehung großer sozialer Gruppen in einen Gesellschaftskompromiss sorgen und Klassenkämpfe als obsolet erscheinen lässt. Die neue Produktionsweise unter der Regie des Performance Management90 steht also nicht für sich, sondern ist historisch in die spezifisch strukturierte Gesellschaftsformation jenes neuen Kapitalismus gebettet, aus dessen Mitte das konflikthafte Ensemble jener Produktionsverhältnisse entspringt, in denen sich der Übergang von der industriellen zur verstädterten Gesellschaft vollzieht. Dabei wirken Unternehmenstechnologie, -organisation und -kultur als Netz, das Diversität integriert und Differenz zum normativen Wert erhebt. Von Butler wissen wir, dass die Patternbildung sozialer Regelmäßigkeiten eine Dialektik von passivem wie aktivem Verhalten der gesellschaftlichen Akteure impliziert. Wo sich aber das Verhalten eng an die von Deleuze beschriebene 90 | Vgl. u.a. Bacal, Robert: Performance management. New York 1999; Bickel, Andreas: Moderne Performance-Analyse und performance presentation standards. Bern, Stuttgart, Wien 2000; Boyett/Conn: Maximum performance management. How to manage and compensate people to meet world competition. Lakewood 1995; Fischer, Bernd R.: Performanceanalyse in der Praxis. Performancemasse, Attributionsanalyse, DVFA performance presentation standards. München, Wien 2001.
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Verlagerung der Kontrolle ins Subjekt knüpft, erzeugt Selbstbeobachtung und Gegenbeobachtung jenes Wissen, das die Ausbildung von Erwartungen über Erwartungen erzeugt und regelt. Wo das politische Gleichgewicht zu Gunsten jener Kräfte kippt, deren Interessen auf die Optimierung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und die Anpassung der Politik an ökonomische Sachzwänge gerichtet sind, hat dies auch Folgen für die Stadtorganisation. Unter dem unternehmerischen Druck, der nun auf ihnen lastet, versuchen beispielsweise zahlreiche Gemeinden, das ihnen zustehende Realsteueraufkommen durch Stärkung der Wirtschaftskraft vor Ort zu mehren. Das »heizt den Wettbewerb benachbarter Kommunen um Unternehmensansiedlungen an, zum einen über das Absenken der Gewerbesteuer-Hebesätze, zum anderen über infrastrukturelle Investitionen, deren langfristiger Nutzen, Umweltwirkungen und Folgekosten lange Zeit nur bedingt entscheidungsrelevant werden.«91 Getrieben von der Konkurrenzsituation reduzieren Stadtregierungen ihr Selbstverständnis zunehmend auf die Verwaltung des Mangels, während die Zivilgesellschaft als Ausgleichsfaktor marktökonomischer Folgekosten und damit einhergehender staatlicher Einsparungen angerufen wird. Die Menschen, die in der Planung wenig bis selten vorkommen, sollen nun leisten, was Markt und Kommunen nicht mehr schaffen. Es ist paradox: Gerade zur Sicherung des Status Quo des Wohlfahrtstaats, der nicht in der Lage ist, über sich selbst hinauszuweisen, sollen sich zivilgesellschaftliche Akteure in der Gewährleistung der alltäglichen Daseinsgrundfunktionen und -bedürfnisse üben. In dem Moment, in dem der Wohlfahrtsstaat der Daseinsfürsorge, der Statussicherung und der Karriereplanung an sein unwiderrufliches Ende kommt, treten an dessen Stelle Selbstbehauptung und Leistungsoptimierung der Stadt.
2.1.7 Schaltung Die oben entfalteten Theoriebestände lassen die für unsere Arbeit grundlegende Annahme zu, dass mit Performativität zunehmend jener Modus erscheint, in dem wir aktuell gesellschaftlichen Raum als Urbanität produzieren. Zugleich bestätigt sich daran der Ansatz, Raum nicht mehr als Behälter, sondern als performatives Ereignis, also durch Handlung hergestellt, zu begreifen, als Basis gegenwärtigen gestalterisch-forschenden Arbeitens. Wo das Urbane in seiner Alltagsmaterialität und -normalität gebaute Umwelt beinhaltet, ist das Wahrnehmen, Erfahren und Produzieren von der Stadt als soziomaterialem Handlungszusammenhang auch ein körperlicher, performativer Akt. Wenn ich mich als Element von der Stadt bewege, bin ich selbst Teil 91 | Krau, Ingrid: Städtebau als Prozess. Berlin 2010. S. 77.
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des Raums und produziere diesen mit. Mein Körper gehört – in der Begegnung mit anderen – zur Raumproduktion des Städtischen. In Wittgensteins spätem Denken finden wir eine Beschreibung der körperlichen Raumempfindung, jener Kategorie dessen, was der Fall, aber nicht logisch beschreibbar ist: »›Ich‹ bedeutet offenbar meinen Körper, denn ich bin in diesem Zimmer; und ›ich‹ ist wesentlich etwas, was an einem Ort ist und an einem Ort desselben Raums, in dem auch die anderen Körper sind.«92 Ist aber meine Raumvorstellung das, was ich von diesem Umgebungsraum in mir aufnehme? Wie wird meine Raumvorstellung durch die taktile Erfahrung geprägt? Es ist richtig, dass meine Raumerfahrung mit mir, mit meinem Ich verknüpft ist, meinen Körper, meine Muskeln und Gefühle anregt, affiziert. Gewiss, meine Bewegungen und Stellungen im Raum konstituieren so meinen Wahrnehmungsraum performativ, aus dem Handeln heraus, mit. Aber lässt sich diese Wahrnehmung des Raums in ihrer Produzierheit noch vorstellungstheoretisch fassen, also externalisieren? Gibt es Raumwahrnehmung nicht allein durch den Bezug auf eine Lücke, die den Stadtraum ungreif bar macht? Was in der Vorstellungstheorie verloren geht, ist der performative Aspekt des Raumproduzierens selbst. Besteht also nicht gerade der stiftende Wert der Raumwahrnehmung darin, die Stadt zwar anzuerkennen, aber nicht zu kennen? Der elementare Denkschritt der Performanztheorie hat zunächst zum Inhalt, dass Unbestimmtheit konstitutiv zum Handeln gehört. Das zu sagen heißt auch, anzuerkennen, dass Unbestimmtheit im Wesentlichen das Verhältnis des Raumproduzierens auf der Ebene auszeichnet, wo es die Stadt als gleichlaufend nicht-externalierbares und nicht fassbares Reales produziert. Der Rekurs auf Performativität, auf das körperliche Sich-Einlassen, zielt also auf mehr als diese. Er ist für uns genau deshalb notwendig, weil die Stadt, die wir produzieren, nicht ein imaginäres Virtuelles, kein Simulakrum ist, sondern ein virtuelles Objekt von Potentialitäten. Die Bedingung der Möglichkeit dessen aber ist, dass die unfassbare Stadt zu einem Realen aufsteigt, mit dem kein reziproker Austausch möglich ist. Was hier in Gang kommt, ist, dass Repräsentation von Raum als kulturelles Artefakt, als Objekt eine Krise erfährt: Rein abbildende Repräsentation reicht nicht mehr hin, um das neue Verständnis von Raum zu artikulieren, mehr noch, sie verhüllt dessen Sichtbarkeit. Um unser Verhältnis zur Raumproduktion dennoch konstruktiv zu halten, muss eine symbolische Ordnung der nicht-repräsentationalen Repräsentationen intervenieren, die nicht in der Dualität von Formell und Informell endet – stattdessen geht der Riss durch die Form selbst. Wir haben es mit einem phantasmatischen Kern des urbanen Seins zu tun, der von den oberflächlichen Modi seiner symbolischen oder imaginären Identifikationen immer durch eine Kluft getrennt ist. Wenn wir 92 | Wittgenstein, Ludwig: Wiener Ausgabe Bd. II. Philosophische Untersuchungen. Wien, New York 1994, S. 133.
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uns ihm zu sehr nähern, sehen wir ihn nicht mehr, wenn wir ihn externalisieren, bekommen wir nichts von der realen Bewegung der Stadt mit. Der entscheidende Punkt ist hier, dass das Ereignis mit der Begegnung der Stadt als Produziertes nicht die Erfahrung einer Entfremdung oder eines Abgrunds ist – der einzige Weg, der zum Wissen einer solchen Erfahrung führt, ist vielmehr die verschaltende, diagrammatische Verschiebung in all ihren Formen. Der Schlüsselmoment in Rem Koolhaas Wirken ist vielleicht der, an dem die von Koolhaas zuerst publizierte Schrift Delirious New York den funktionalitischen Grid mit dem Delirium konfrontiert, das er angerichtet hat. Anstatt die Stadt aufs Funktionale zu entfremden, erscheint der Grid dann als zugleich strategischer und verzweifelter Versuch der Stadt, die eigene Gegenwart zu tilgen, sich aus dem Gesichtsfeld der Beobachtbarkeit zu streichen, verbunden mit dem Versuch, ein neues Gesicht anzunehmen. Dies ist Stadtwerdung in ihrer reinsten Form. Es ist nur konsequent, dass sich mit dem performative turn der Raumwissenschaften der Fokus wendet, und zwar auf die »Tätigkeiten des Produzierens und Herstellens und auf jene Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, die Akteure und kulturelle Ereignisse ausmachen sowie der interaktiven Prozesshaftigkeit kultureller Handlungen.«93 Dass es hier um ein anderes Handlungsverständnis geht, bestätigt indessen der Blick auf die ästhetischen Verfahren der Performancekunst, die Prozesse nicht als herzustellendes Produkt (jedes herkömmliche Theater wird in einem Prozess entwickelt), sondern in der Betonung auf die Performativität des Ereignisses zu denken. Performance Kunst legt die Betonung auf jenen transformatorischen Verlauf des Handelns, der die Prozesshaftigkeit des Werkes und seiner Produktion und seiner Relationalität zur Situation und seinen Parametern selbst zum Gegenstand hat. Mit anderen Worten: Der Begriff Performanz liefert Stadtforschung den konzeptionellen Rahmen, der Raumproduktion als eine medial sich entfaltende, Unbestimmtheiten einschließende Handlungsweise fassbar macht. Innerhalb dessen lässt sich die Struktur des Raums der Performanz als Schnittstelle zwischen zwei Raummodalitäten beschreiben: Erstens die Modalität des Raums, der nicht vorgängig existiert, also produziert werden muss, und zweitens die Modalität des Raums, der sich als operative und komplexe Wirklichkeit zeigt. Darin liegt gleichwohl eine Tautologie: Das Denken von Performanz als epistemologischer Teil eines Diskurses über Raum kann keine abschließende Problemlösung liefern, denn ein Diskurs ist nicht in der Lage, ein Wissen des Raums zu erzeugen. Ohne ein solches Wissen aber wären wir wieder auf die Bewegung des Diskurses selbst zurückgeworfen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Begriffsanalyse des Performativen wertlos sei: Im Gegenteil ist gerade die 93 | www.sfb-performativ.de/ Zugriff am 13.7.2009.
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Frage nach der strukturellen Verknüpfung des Begriffs Teil der Frage nach der Wechselwirkung von Performanz und Raum und mitentscheidend für die Wissensordnung der Raumproduktion. Nach Lefebvre ist dieses Wissen nur zu denken als integriert in die Kräfte der Produktion und in einer vermittelten Form als soziale Beziehung innerhalb der Produktion, alles andere bliebe Ideologie. Kann man sagen, dass Raum und Performanz eine dynamische Zeitlichkeit bilden, die im Modell der Performanz selbst ihr operatives Handlungsdiagramm besitzt? Kongruiert die diagrammatische Transposition von Notationen in die topische bzw. topologische Formation des Relationalen mit der Verschiebung der Raumwissenschaftsperspektive von Identitäten zu Schichten und Differenzen? Was ist mit der Wendung vom vorgängigen Sinn in eine Topik der phänomenologischen Wahrnehmung, die die Intentionalität des Subjektes überschreitet und sich aus dessen leiblicher Bewegung speist? In welchem Verhältnis stehen die Bewegung einer Diagrammatik des Raums und deren performative Bedeutungsordnung? Und inwiefern befeuert dies eine Thematisierung bzw. Gestaltung medialer Praktiken? Wäre damit nicht, statt dem Verweilen bei gestalterischen Fragestellungen, eine Analyse des Verfahrens performativer Raumproduktion gefragt? Und stellte deren Analyse vielleicht das Wissen bereit, das erforderlich ist, um wirksam in sie einzugreifen? Zunächst ist zu konstatieren: Der Einbezug von Performanz als Raumprinzip eröffnet Stadtforschung ein theoretisches Feld, welches nicht allein die Analyse der Konstitution relationalen Raums und dessen Strukturen berührt, sondern auch, wie Gestaltung hier hineinspielt und wiederum selbst in seiner Wissensordnung neu gefasst werden könnte. Das bestärkt die Vermutung, die Transposition des begrifflichen Feldes der Performanz auf Raum könnte einen Blick auf die Handlungsspielräume einer gestaltenden Stadtforschung und deren Wissensformen frei legen. Kritisch ist im gleichen Atemzug anzumerken, dass es schwierig ist, über performative Praxen, die ja immer hervorbringend wirken, wissenschaftliche Aussagen zu treffen – hier geraten Wissenschaften an Kompetenzgrenzen. Was Wissenschaften aber machen können, ist, die Performanzen, die Verfahrensweisen des Machens zu beobachten, zu analysieren und vor allem konzeptionell neu zu verschalten. Erst in der Folge dieser Performanzen wäre Raum (zumindest gedanklich) gestaltet oder produziert. Dabei lässt sich sagen, dass mit Performativität vor allem die wirklichkeitskonstituierenden Aspekte sozialer Praktiken beschrieben ist, während der Begriff der Performanz stärker auf das Empirische des Auf- und Ausführungscharakters dieser Praktiken rekurriert. Mit der Frage nach Performanz und/oder Performativität wird der Fokus also auf die konkreten Formen und Praktiken gelegt, statt die Entfaltung oder die Erscheinungsebene zuvor postulierter Gestaltungsprinzipien herauszudestillieren. Ohne permissiv auf genialische Schöpfungen abzuheben, versteht
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eine solche Perspektive Verfahren als Ereignisse, die auf kataloghafte Weise Serien anstelle von ›Einheiten‹ erforscht. Innerhalb des Umgangs mit Regelhaftigkeit oder Regelproduktion der Stadt findet eine Suche nach der Urgestalt nicht statt. Das schließt an an Foucaults Forderung, »dass man nicht die Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt, sondern Diskurse als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen – diese winzige Verschiebung ist vielleicht so etwas wie eine kleine (und widerwärtige) Maschinerie, welche es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen.«94 Was dann geschieht, ist, dass sich die Analyse der Stadt von der Bedeutung – also der erkenntnistheoretischen Frage: »was ist Stadt?« zu den Möglichkeitsbedingungen: »wie Stadt es macht, damit sie so funktioniert, damit zukünftige Gebrauchsweisen (= Performanz) der Stadt ermöglicht werden?« – verschiebt.
2.1.7.a Diagramm der Fragestellungen Einem so gearteten Analysieren entstammt jenes Diagramm, dessen Punkte im Folgenden zum einen die Bilanz unseres Vorgehens vorläufig und vorsichtig umreißen und zum anderen bereits topologische Verknüpfungen bzw. Parallelisierungen und Nachbarschaften angespielter Themen entfalten soll: a1) Mit Butler ließe sich der forschungsstrategische Einsatz des Performativitäts- wie des Performanzbegriffs andeuten. Es geht dann nicht nur darum, dass Raum gemacht wird. Niemand würde bestreiten, dass Raum irgendwie mit Handeln zu tun hat – wir handeln ja immer irgendwie »im Raum«. Der entscheidene Punkt ist vielmehr, dass dieses Machen nicht mehr als Deformierung eines ursprünglichen, sozusagen gegebenen Raumes gedacht wird. Performieren bedeutet zuvorderst: vollständig machen, gestalten, transformieren und nicht nachträglich abändern. Die Performierung oder performative Produktion eines Raums ist also keine Deformierung des ursprünglichen Wesens dieses Raumes. Stattdessen handelt es sich um eine Neu-Konstituierung, die, will man Gestaltung in diesem Sinne denken, immer auch Verhandlung über diese Konstituiertheit mit einschließt. b1) Das Performativitätskonzept erlaubt der Stadtforschung, die gegenwärtig produzierte Stadt zu kritisieren, ohne in teleologische Konzeptionen einer Suche nach der Ur-Idee oder eines Heureka zurückzufallen. Angesichts dessen emergiert die epistemologische Strategie, dem Begriff der Deformierung den Begriff der Performierung entgegenzusetzen. Anstatt auf eine andere Art der Analyse des Gestaltens von der Stadt zu rekurrieren, soll Analyse selbst schon gestaltend wirksam werden. Anstatt zu unterstellen, 94 | Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1991, S. 38.
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dass Gestaltung immer dann gut ist, wenn sie auf die ontlogische Prämissen abhebt (»Die schöne Stadt«, »Die europäische Stadt«), sollte man die Diskussion über Wünschenswertes oder Ablehnenswertes forschend gestalterischen Forschens im Bezug auf die Performanz, also den Gebrauch oder die Nutzung von der Stadt als Zukünftiges, und das Wissen darüber vorantreiben. Was damit an die Stelle eines rein ästhetisch-formalen oder rein funktionalistischen Räsonierens über gutes oder schlechtes Gestalten von der Stadt tritt, ist die Analyse des Performierungs-Prozesses der Raumproduktion selbst. b2) Der Ansatz eines genialischen wie eines rationalen Gestaltens koppelt Analyse und Kritik dergestalt, dass man gezwungen scheint, Abhilfe in ideellen Abstraktionen und externalisierten Räumen der Vernunft zu suchen. Das Verfahren der Performation hingegen entkoppelt Analyse und Kritik und erlaubt damit die Suche nach Alternativen im Verfahren statt in vergangenen Teleologien. Ziel ist nicht, etwas Universelles wiederherzustellen, sondern, mit Foucault gesprochen, ins Machen selbst zu kommen: »es geht darum, andere Formen […] – ich sage nicht: ›wiederzufinden‹, sondern schlicht zu fabrizieren.«95, dass die Kritik an a) der Metaphysik der Substanz und b) am Festhalten an der Uridee nicht in dem Sinne als idealistische These misszuverstehen ist, performative Praxen wären Kreationen ex nihilo. Auch performative Praxen arbeiten mit Materialität, mit dem, was Kant das »Dawider« nannte, sie haben nur ein anderes Verhältnis zum Material, weil sie den Produktionsprozess in seiner konstitutiven Kraft des Verschaltens vorhandener Ressourcen ernst nehmen und dem Naturalisieren von Ordnungen entgegenwirken. Wie aber ist dieses Verhältnis zu bestimmen? b3) Die Performanztheorie scheint zunächst zu bestätigen, dass Raum als Resultat und Teil einer produktiven Praxis zu denken ist. Wir können aber weiter mit Deleuze sagen, dass sich solche Praxis innerhalb relationaler Verbindungslinien von Differenzen abspielt. Dennoch wäre es falsch, von den Verbindungslinien auf einen fragmentierten Raum zu schließen. Nichts aber führt weiter weg von der Behauptung, man könne die Totalität als Signifikationssystem meistern, als Lefebvre Nachweis, dass Raum als Gelebtes nur dort in den Blick zu bekommen ist, wo Raum als Totalität gefasst wird: Das Urbane ist weder auf seine Teile, seine Verbindungslinien reduzierbar, noch als Totalität zu bewältigen oder zu planen. Das zu sagen verlangt, die Deleuzesche Raumvorstellung einer fließenden, rhizomatischen Zentrumslosigkeit zu problematisieren. Sicherlich ist an ihr richtig, 95 | Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 185.
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dass das Urbane kein Zentrum an-sich besitzt. Laclau hat aber gezeigt, dass mit dem einfachen ritualistischen Verweis auf den dezentrierten Charakter einer Struktur die Fragestellung noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Was unter einer dezentrierten Struktur verstanden werden muss, ist »not just the absence of a centre but the practice of decentring through antagonism«.96 Auch Lefebvre konstatiert, dass das Urbane zur Zentralität strebt, »wobei es sich um eine Tendenz handelt, die auf ein Entscheidungszentrum hinzielt«, wie auch zur Polyzentralität, »zum Aufbruch des Mittelpunktes, zur Streuung; eine Tendenz, die auf die Bildung unterschiedlicher Zentren […] hingelenkt werden kann.«97 Wir können sagen, dass genau die dislokatorische, dezentrierte Natur des Urbanen sowohl das Resultat des Kampfes verschiedener Kräfte um die Bedeutung des Urbanen ist als auch ein Aufruf zu neuen Zentrierungsversuchen: »Social dislocation is therefore coterminous with the construction of power centres.«98 Welche Mittel aber braucht es, um derlei Polyzentralität zu untersuchen? c1) Performance Art trat einst an mit dem Versprechen, weltverändernde Kräfte zu entbinden. Sie verstand sich als Angebot zur Erfahrung von Liminalität, Grenzerfahrung, die zur Wandlung führen kann oder selbst bereits als Wandlung begriffen wird. Aus dieser Wandlung leitete sie die Möglichkeit zur Neuorientierung der Subjekte und ihrer Wirklichkeitsund Selbstwahrnehmung ab. Sie erhoffte sich aus ihrer Arbeit Energie, eine Kraftquelle, die zwischen Akteuren und Zuschauern entspringt und diese zu wandeln vermag. Dabei ließ sich Rhythmus als Ordnungsprinzip verstehen, »das seine permanente Transformation voraussetzt und in seinem Wirken vorantreibt«99. Raum galt ihr als Ereignisraum, der einmalige Erfahrungen verheißt. Performance Art verstand sich daher auch als politisch-ethisches Programm: als Kunst, die das Involviertsein aller Beteiligten verlangt, die Teilhabe aller an einer Kunst einfordert, die, durch den Fakt der »leiblichen Ko-Präsenz«,100 die Verbindung von Ästhetik und Politik als unlösbar und unmittelbar gegeben empfindet. Authentizität und Unmittelbarkeit rücken damit ins Zentrum der künstlerischen Arbeit, die Beobachter, Zuschauer zu aktiven Partizipanten am Werk werden lässt. Daraus resultiert eine Ethik der Praxis, die den Zuschauer dazu zwingt, selbst Stellung zu beziehen. Widerstand wird Positivität: Die Stellung96 | Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of Our Time. London und New York 1990, S. 40. 97 | Lefebvre: Die Revolution der Städte. S. 157. 98 | Laclau: New Reflections on the Revolution of Our Time. S. 40. 99 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 33. 100 | Ebd., S. 68.
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nahme wird nicht durch ein kritisch-negatives Moment erzeugt, sondern entfaltet sich aus der positiv-affirmativen Faktizität des Ereignisses selbst. Als partizipatorischer Produzent von Raum bekommt und setzt der Zuschauer selbst die ihm eigene Position. Auf praktischer Ebene erfährt Stadtforschung von der Performancekunst, wie sie Rahmungen für ihre intervenierende Arbeit in der Stadt erstellen kann. c2) So bleibt Performancekunst für Stadtforschung relevant: als Verfahren. Dem entspricht, dass die Geographen Nigel Thrift und Ash Amin in Cities – Reimagining the Urban101 Performance Art als diejenige Disziplin identifizieren, die die neuartigen Räume des Urbanen bisher am besten aufzeigt und bespielt: »Perhaps the most exacting, exciting and enticing attempts to produce these new models of belonging have been taking place in […] performance art«.102 Performance Art redefiniert auf praktische Weise, wie wir uns reflexiv zum erlebten Raum verhalten können. Erst in einer performativen Dimension lässt sich die Stadt als ein graduelles Entfalten von Räumen und Zeiten verstehen, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Rhythmen und Takteinheiten operieren.103 Tatsächlich scheinen Performance Art und der Prozess der Verstädterung – während sie sich geschichtlich parallel entwickeln – irgendwie komplementär zueinander zu stehen. Als Grundparameter beider wären festzuhalten: Ereignis, Transformation, Null-Vektor, Differenz, offene Raum-Zeit-Form, Partizipation, Liminalität. Auf konzeptioneller Ebene lehrt Performance Art die Stadtforschung, Raum als transitorisch zu denken – Raum existiert nicht außerhalb des Performativen, der Bewegung, der Begegnung, des Gelebten, des embodiement, sondern als dessen immanenter Teil. c3) Performancekunst versuchte einst, sich in der Hinwendung zum einmaligen, zeitlich begrenzten Ereignis von der Kommodifizierungstendenz des Kunstmarktes zu befreien und so gegen die Entfremdung des Wirtschaftslebens anzukämpfen. In der Hinwendung zum Prozess sollte der alte Topos der Avantgarde, die Idee von der Einheit von Kunst und Leben, eingelöst und zugleich auf den Kopf gestellt werden. Das gelang. Allein: In der aktuellen politischen Ökonomie, die gerade auf Prozesshaftigkeit, auf Intensität, Gefährlichkeit, Risiko, (kurzum: Leben) rekurriert, kippt die Strategie: Aus Kunst und Leben wird die Einheit von Kunst und Wirtschaftsleben. Wenn Stadforschung performative Formate verwendet, hat 101 | Thrift/Amin: Cities – Reimagining the Urban. Cambridge 2002. 102 | Ebd., S. 48. 103 | Ebd., S. 49. » […] by understanding the city as gradual unfolding of spaces and times, working at different speeds and in different measures.«
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sie es mit einem Zirkelschluss zu tun, der die alte avantgardistische Position geradezu pervertiert und so die Verallgemeinerung der Paradigmen der Performance Art zur Forderung erhebt, die aus der ökonomischen Sphäre selbst als Imperativ an alle und jeden herangetragen wird. d1) Das schließt an an Marcuse, der dem modernen Kapitalismus den Vorwurf machte, er produziere Konformität und Entfremdung und presse per Massenkulturindustrie die Subjekte in den ewig gleichen Trott. Eine solche Argumentation stellt sich heute als naiv heraus: Die politische Ökonomie fordert heute selbst vom Arbeitnehmer, ein Künstler zu sein – »jederzeit änderungsbereit, kreativ, immer dabei, seine Individualität voll in den kapitalistischen Verwertungsprozess zu investieren.«104 Wenn Performanz so Teil der politischen Ökonomie wird, ändert sich auch die Bedeutung von Performance Art. Im Übergang von der industriellen zur urbanen Epoche weiten sich performative Strategien ins gesellschaftliche Feld aus und avancieren zum Teil der Unternehmenskultur und der Organisation von Arbeit. Wie aber sieht dieses Driften des Performativen in die urbane Gesellschaft aus und welche Folgen sind damit verbunden? Und welche Konsequenzen hat dies für die Autonomie der Subjekte innerhalb des urbanen Gefüges? Was passiert, wenn Performativität im Sinne von konsequentem Verschieben von Bedeutungen und Bedeutungsfeldern nicht nur neue Handlungsräume eröffnet, sondern auch jene Rahmungen liefert, in denen die Faktizität von Handlungen dazu dient, Vektoren der Stadt zu verschleiern? Wie strukturiert sich das neue Feld performativer Politik, respektive eine Politik der Performanz im Urbanen? d2) Wo für Marcuse und Lefebvre gesellschaftlicher Raum als Totalität gilt, gibt Deleuze den Gedanken an Totalität auf, um das Universelle für eine nicht lokalisierbare Fluchtlinie einzutauschen. Innerhalb dieses performativ-relationalen Raumgefüges identifiziert Deleuze Kontrolle als spezifische Raumtechnologie der Gesellschaft. Das Projekt der Einschließung der industriellen Phase galt der konzentrierten Verteilung im Raum, die Zeit ordnet und die Produktivkräfte als Zeiträume zusammensetzt, deren Wirkung größer ist als deren Einzelkräfte. Die urbane Kontrollgesellschaft hingegen erfindet neue Einschließungsmilieus die nicht in Formen, sondern in Modulationen funktioniert, gleich einem »Sieb, dessen Maschen sich von einem Moment zum anderen verändert.«105 Haben wir es aber nicht im neuen Kapitalismus, wo die Orientierung am Produkt der an Produktionsbeziehungen und Markt 104 | Misik, Robert: »Die Kulturgesellschaft und der neue Geist des Kapitalismus«. In: taz, 2.5.2006. 105 | Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. S. 256.
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weicht, vielmehr mit einer Wende zu tun, die umgekehrt jeden Prozess aufs Produkt reduziert und diesen hinter jenem zum Verschwinden bringt? d3) Trotz ihrer Gegenläufigkeit verfügen Marcuses Kritische Theorie und Deleuzes Poststrukturalismus über einen gemeinsamen Ansatzpunkt: Kritik an der Rationalität der Philosophie der Aufklärung als auch am traditionellen Marxismus. Gemeinsam ist den Autoren die Ablehnung des Begriffs der objektiven Interessen und des darauf aufbauenden Verständnisses des Klassenkampfs. Beide betrachten die Psychoanalyse als wesentlichen Teil der Gesellschaftstheorie. Wie Deleuze nimmt auch Marcuse, besonders in Der eindimensionale Mensch, eine Ontologisierung von Herrschaft vor. Die Existenz der Menschen leitet sich von der Bewegung von Macht ab. Anders aber als Marcuse setzt Deleuze dort, wo er gegen jegliche Totalität insistiert, auf differentielle Betrachtung statt auf dialektische Erlösung. Vielleicht wären beide Pole im Lefebvre'schen Begriff des Urbanen zusammenzudenken: als Totalität, die sich in permanenter Ausdifferenzierung befindet. Es ginge dann darum, auf eine Praxis hinzuarbeiten, die eine neue Totalität aufbaut, die nicht mehr nur Denken und Reflexion wäre, sondern reflexives Handeln: Improvisation. So ließe sich der Raum des Subjekts als Ort performativer Raumaneigung, -produktion und -konstitution wiedergewinnen, ohne darauf zu verzichten, von den einzelnen Praxen auszugehen, die sich nicht auf Systeme reduzieren lassen. Sie wäre nur in neuen Begriffen zu fassen; nicht als Für-Sich einer vollständigen Individualisierung, sondern als relationale Bewegung im kooperativen Verschalten. Zwischen der Ebene des individuellen Lebens und der Totalität der Praxis, zwischen dem Erlebten und dem Geschichtlichen steht die Produktion des Raums als Ebene der Verwirklichung von Bedürfnissen. Deleuze hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass Bedürfnis nicht aus Mangel und Knappheit, sondern aus Werk- und Genussfähigkeit zu definieren ist, aus den gleichzeitigen Widersprüchen individualisierter und vergesellschafteter Bewegungen. Wie aber ist solche Bewegung nachzuzeichnen, ihr Wissen zu heben? d4) Wie Deleuze aus dem Raum eine Substanz macht, so schreibt er ihm eine Eigengesetzlichkeit, eine innere antreibende Substanz des ständigen Werdens und Vergehens zu, in der alle ausdifferenzierten Öffentlichkeiten – Heterotopien, Utopien und Homotopien – verschwimmen und ihre Position verlieren. Das bedeutet, dass der Raum seine politische Dimension verliert: Politik wird von der quasinatürlichen Substanz des Libido-Flusses wegrationalisiert und mit ihr auch die Produktion von Raum durch interagierende Subjekte. Aus dem Stadtumbau der letzten Jahrzehnte wissen wir jedoch, dass der öffentliche Raum gerade keine Ur-Kraft darstellt, der aus eigenem Antrieb die Stadt in ein großes libidinales Wunschfeld trans-
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formiert. Die endgültige identitäre Festsetzung des urbanen Raums ist in letzter Instanz unmöglich – das Urbane gilt es nicht mehr als zu bewältigendes Provisorium, sondern als performativ produzierten Raum im Offenen der geschichtlichen Zeit als Möglichkeit zu begreifen. Fordert diese Unmöglichkeit der Schließung von Räumen zu einer Totalität umgekehrt nicht das ständige Bemühen der performativ-politischen Praxen um eine Form der Gestaltung von Ermöglichung?
2.1.7.b Zoom Out Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Performanz und Performativität als kritisches Konzept ein raumtheoretisches Interesse an den kontingenten und kreativen Dimensionen sozialen Handelns indiziert und rechtfertigt. Dieser Fokus ergänzt oder problematisiert traditionelle Betonungen von sozialer Struktur, kulturellem Text, ästhetischem Zeichen oder theatralem Script. Performanz kann ebenso politische Geste sein, die Transgression und Transformation vorstellt, wie ironische Distanz, deren Modi Manipulation, Künstlichkeit und den Schein von Authentizität implizieren. Mit den Kulturwissenschaften ist Performanz zu einer interpretativen und erklärenden Theorie geworden, die es erlaubt, die kulturelle Pragmatik sozialer Aktion sowie Organisationen und Politik als Wissensformen in den Blick zu nehmen. In seiner Praxisbezogenheit weist das Konzept aber auch über die akademische Welt hinaus, zu Grenzgängen von Theorie und Kultur, Theater und Performance-Kunst. Für Stadtforschung wird damit relevant, dass im Modell Performanz die Bereiche Kunst und sozialer Alltag zunehmend zu konvergieren scheinen. Dort, wo die Stadtforschung vor allem auf den handlungsorientierten Kontext der Performanz und dessen Implikationen in Bezug auf die Wissensformen der Ermöglichung abhebt, kann sie mit dem Begriff Performanz jenen strukturellen Rahmen kreieren, der es ermöglicht, die Unbestimmtheit urbaner Raumproduktion zu thematisieren. Performanz bildet hier jenen orientierenden Fluchtpunkt, der erklären hilft, dass die Stadtforschung Wissensformen der Ermöglichung benötigt, die nur als vollzugsmodale Leistung Geltung erhalten – als Tätigkeit, in der und durch die die Stadt erscheint, in der man mit anderen leben will. Im Register des performativen Geschehens, durch das etwas bewirkt wird, eignet Wissensformen der Ermöglichung pragmatische Wirkung, im Register der Handlung, in der etwas mit anderen produziert und vermittelt wird, der Charakter medialer Ereignisse. Wissen ist dann Praxis, die vorfindet, indem sie produziert. Erst die performativitätstheoretische Perspektive macht dieses Verfahren beschreibbar. Wissensformen der Ermöglichung stellen ein Handeln dar, das sowohl produziert als auch vermittelt. Das Handeln individuiert sich mit der Leiblichkeit raumzeitlicher Situierung. Das performende Subjekt der Forschung ist mit seinen mentalen und affektiven Fakultäten die performative Instanz, die Wissen individuiert. Es deutet sich an, dass hier das Fragen nach
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Gestaltung zurückkehrt. Die performativitätstheoretische Betrachtung macht plausibel, dass die Produktion von Wissen praktisch bestimmte und zugleich bestimmende Praxis ist. Solches funktioniert indes nur, wenn ein figuratives, darstellungsförmiges Element hier hineinspielt, das gewissermaßen die Medialität des Nicht-Repräsentationalen und Nicht-Intentionalen in Bewegung hält. Wenn Wissensformen der Ermöglichung Stadterschließungsweisen so konstituieren, dass in ihnen Wissen produziert wird, gehört ein darstellender Prozess mit hinzu. Welche Darstellungsformen aber sind es, welche hier die Wissensform erzeugen und ihrerseits prägen? Zunächst ist klar, dass es sich dabei nicht um repräsentational ausgerichtetes Darstellen handeln kann, also um ein Darstellen, das gegenständlich Gegebenes abbildet, sondern um heterogene, hybride Einschnitte in den Vollzug des Wissens und seine performativen Resultate, Prozesse, die an der Bildung von Selbst- und Stadtverhältnissen beteiligt sind. In dem Zusammenhang gilt die Definition von Darstellung als »performative[r] Akt, der etwas hervorbringt, was es so vorher nicht gab«106. Wie aber können Rahmungen für Gestaltungsverfahren von Darstellungen aussehen, in denen Performativität als Zusammenschau von Produktion und Verwirklichung gedacht werden muss? Wie lassen sich Wissensprozesse so aufstellen, dass die Performanz Teil der Transformationsbewegung selbst ist? Wie kann in dem Rahmen Unbestimmtheit als Fundierung von Bestimmtheit herangezogen werden? Und muss damit das, was wir gemeinhin unter Wissen – episteme – verstehen, neu gedacht werden?
2.1.7.c Zur Episteme. Wissen als Produziertes Hier bietet sich zunächst die von Foucault vorgeschlagene Definition der Episteme an. Wie sie auf einer Verräumlichung des Wissens gründet, spricht diese Definition von einem spezifischen epistemologischen »Raum einer bestimmten Epoche«107, einer allgemeinen Form des Denkens und der Theoriebildung, die bestimmend darauf einwirkt, wie »wir reflektieren, […] um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen«108. Danach stellt die Episteme eine (An)Ordnung des Wissens dar, die gesellschaftlich produziert wird. Aus ihr resultiert ein epistemologisches Feld, in welches die Erkenntnisse außerhalb der Sichtbarkeit objektiver Formen »ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren«109. Das bindet Wissen an Macht zurück: Transformation von Gesellschaft soll als Emergenz einer neuen Episteme gelten, in deren Prozess die Episteme ein »komplexes Verhältnis sukzessiver Verschie106 | Nibbrig, Christiaan Hart: Was heißt Darstellen? Frankfurt a.M. 1994, S. 9. 107 | Foucault, Michel: »Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben«. Interview, In: Reif, Adalbert (Hg.): Antworten der Strukturalisten. Hamburg 1973, S. 149. 108 | Ebd. 109 | Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 24.
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bungen« indiziert.110 Episteme, fügt später Deleuze hinzu, stehen für eine Beschreibung, die gesellschaftliche Erfahrung weder ideologisch noch repressiv, sondern in ihrer Positivität und Funktion darzustellen sucht.111 Das wohl beste Beispiel der Ausprägung dessen liefert die heterogene Geschichte performativer Widerstandsformen emanzipatorischer oder minoritärer Bewegungen seit den 1960er Jahren, auch im Hinblick auf die Effekte, die sie auf die spätere Entwicklung und Ausweitung des Performanzbegriffs ausübten. Episteme haben ihren Ort in der Diskursanalyse. Als deren Teil dienen sie dazu, die Herausarbeitung unterschiedlicher gesellschaftlicher Transformationstypen zu ermöglichen. Diskursanalyse fragt nach den Veränderungen, welche die Begriffe, Objekte und theoretische Schemata im Inneren der diskursiven Formation durchprozessieren ebenso wie nach den Veränderungen, die mehrere diskursive Formen zugleich tangieren. Innerhalb dieses Vorgangs fungieren Episteme als ein »komplexes Verhältnis sukzessiver Verschiebungen«112 . Dem entspricht, dass Foucault gesellschaftlichen Raum nicht als Homogenität, sondern als »Raum der Streuung«113 interpretiert. An den daraus hervorgehenden Wissensordnungen interessiert weniger die Summe der Erkenntnisse einer Epoche als die Frage nach der Ausbildung historisch variabler Strukturen, welche die Bedingungen für Formen der Erkenntnis darstellen. Veränderungen diskursiver Formationen wirken auf die Subjekte zurück. Der Diskurs, als Ensemble von Aussagen, die einem Formationssystem angehören, eröffnet einen epistemologischen Raum differenzierter Positionen und Funktionen, die das Subjekt zu bestimmten Bedingungen einnehmen muss. Diskontinuität erweist sich hier als Operation, die zugleich Instrument und Gegenstand der Untersuchung ist. Mit anderen Worten: Die Untersuchung beschreibt nicht allein die Struktur der einzelnen Episteme, sondern die Brüche zwischen verschiedenen epistemischen Feldern. Ein epistemisches Feld bildet einen epistemologischen Raum aus, in dem »die Erkenntnisse, außerhalb jedes auf ihren rationalen Wert oder ihre objektive Formen bezogenen Kriteriums« betrachtet werden. Episteme schreiben ihre Positivität in die gesellschaftliche Wirklichkeit ein und manifestieren so eine Historie, »die nicht die ihrer wachsenden Perfektion, sondern eher die der Bedingung ist, durch die sie möglich werden«114. Bekanntermaßen entfaltet Foucault in Die Ordnung der Dinge115 drei unterschiedliche Episteme als jene diskontinuierlichen, geschichtlich situierten 110 | Foucault, Michel: Dits et Ecrits. Schriften. Band I. Frankfurt a.M. 2001, S. 863. 111 | Deleuze: Lust und Begehren. S. 14. 112 | Foucault: Dits et Ecrits. S. 863. 113 | Ebd., S. 862. 114 | Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 24f. 115 | Ebd.
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Modalitäten der Relation zwischen Denken und Welt, welche die unterschiedlichen Felder des Wissens einer Epoche bedingen und ermöglichen. Innerhalb geschichtlicher Epochen zeigt sich Wissen von einer Serie fundamentaler operativer Regeln organisiert. Etwa ordnet Foucault die Episteme der Renaissance als ein Wissensfeld ein, das auf repräsentationalen Entsprechungen basiert. Es entfaltet sich Renaissance in einem Modus der Sprache, ordnet Wörter und Zeichen Dingen zu. Die klassische Episteme des 17. und 18. Jahrhunderts besteht dagegen aus der Repräsentation und Klassifikation aller Einheiten bezüglich der Prinzipien von Ordnung und Maß. Mit dem Aufstieg der Episteme der Moderne kommt es zu einer zunehmenden Inadäquatheit von Repräsentation und Bestimmung von Wissen. Dieser Vorgang evoziert eine Tiefe, eine in sich selbst hineingezogene Dichte, dort, wo Wissen mit dem Entäußern primärer Prozesse, der Infrastruktur, eines Unbewussten emergiert, welche unter der Oberfläche der Repräsentation existieren. Unter sie fallen Manifestationen von Ideologie, Persönlichkeit und des Sozialen selbst. Stellte Repräsentation einst die von einem Souverän geordnete Beziehung zwischen Worten und Dingen vor, so sind es in der Moderne die Techniken des Regierens, des Managements, die, eingebettet in disziplinäres Wissen, die Mediatoren-Rolle zwischen primären Prozessen und dem Subjekt übernehmen. Mit ihnen spannt sich ein epistemologischer Raum auf, »der geprägt ist von Organisationen, d.h. von inneren Beziehungen zwischen Elementen, deren Gesamtheit die Funktion sichert […] die Verbindung von einer Organisation zur anderen kann in der Tat nicht mehr die Identität eines oder mehrerer Elemente sein, sondern die Identität der Beziehung zwischen den Elementen.«116 Wie sich Wissensordnungen verschieben, so verschieben sich auch die Gefüge der Macht: Als neuer Modus der Regulation reüssiert Regieren als Form der Gouvernementalität, also dem, was zwischen Leben und Tod berechnet und gemanagt werden kann. Manifest wird damit jene Verschränkung von Wissen und Macht, die jene auf Gesundheit, Klima, Industrie, Finanzen etc. ausdehnt. Foucault nennt dies die Episteme der Biomacht. Sie konstituiert ein Dispositiv biologischer Existenz, das sich in politischer Existenz reflektiert. Gleichzeitig tritt mit der Bevölkerung ein neues Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen auf den gesellschaftlichen Plan, »aber ebenso auch als Objekt in den Händen der Regierung.«117 Es bleibt jedoch zu fragen, ob sich die Performanz tatsächlich kulturellepistemisch begründen lässt. Ist eine Reduktion der Analyse auf den strukturellen Begriff der Episteme überhaupt zielführend? Unterstellt dieses Verfahren nicht auch wieder eine kohärente Logik, praktische Konsistenz und eine Möglichkeit der Reduktion universeller Phänomene auf Teilaspekte? Zie116 | Ebd., S. 270. 117 | Foucault: »Die Gouvernementalität«.
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len Wissensformen der Ermöglichung nicht vielmehr darauf, die Lücke zwischen praktischem und theoretischem (epistemologischen) Bereich, zwischen Mentalem und Sozialen, zu schließen? Und wäre damit nicht der Gedanke aufzugeben, auf die Anwendung epistemologischen Denkens auf praktische Sachverhalte rekurrieren zu können, welche davon ausgeht, dass die soziale Sphäre strukturell mit der räumlichen Sphäre verknüpft sei? Ist das Fehlen einer solchen Konzeption der Verknüpfung nicht auch als jener blinde Fleck strukturalistischen Denkens zu bezeichnen, der einst mit der Setzung einer Opposition von Subjekt und Raum das kollektive Subjekt eliminierte? Nähme sich eine solche theoretische Praxis nicht selbst als Referenzpunkt von Wissen und trennte sich somit von sozialer Praxis? Oder – ließe sich jener blinde Fleck nicht affirmativ bespielen in dem Versuch, Unbestimmtheit zur Fundierung von Bestimmtheit nutzbar zu machen? Und sollte man nicht vermuten, dass in diesem Punkt der in den letzten Jahren vollzogene Aufstieg des künstlerischen Forschens zu verorten ist?
2.2 E pistemische P erformanz 1: K ünstlerisches F orschen ? Die oben entfalteten Gedankengänge und Kontextualisierungen tragen die Frage mit sich, welche spezifischen Perspektiven auf Wissen geschichtlich aus dem Feld der Performanz hervorgehen können. Als eine erste Perspektive kristallisiert sich die gegenwärtig neu diskutierte Form eines »künstlerischen Forschens«118 heraus, ein Ansatz, der aus einer explizit »performativen« Perspektive dem Gestaltungsvorgang eine epistemische Qualität beizumessen sucht und sich hierbei u.a. auf die von Michael Polyani entwickelte Konzeption des ›impliziten Wissens‹ stützt. Ausgehend von und anschließend an Austin gründet eine solche Perspektive in der Rekonturierung der Dichotomie von Kunst und Wissenschaft. In dem Zuge erfahren sowohl sprachliche wie visuelle Artikulationen in der Verschiebung von der Semantik und ihrer Semiosen hin zum Handlungscharakter der Medialität von Sprache eine Neubewertung. Man wagt nicht zuviel, wenn man vermutet, dass der im Fortgang der Linguistik vollzogene performative turn in den Kulturwissenschaften und in der damit einhergehenden Ausweitung des Performanz-Begriffs befeuernd gewirkt hat. Voraussetzung künstlerischen Forschens ist die bereits in der Performancekunst vollzogene Verschiebung vom Werk hin zum Verfahren des Gestaltens. In der Weigerung der Performanztheorie, Gestalten als dem Werk 118 | S. exemplarisch: Rey/Schöbi (Hg.): Künstlerische Forschung. Zürich 2009, Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich und Berlin 2009.
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vorgängig zu erachten, behauptet sich eine Neubewertung von Form, die diese selbst zur Aussage und zum Werk als Prozess macht. Galten zuvor Komposition, Interpretation und rationales Verstehen als Hauptkategorien des Werks, so rücken nun die Begrifflichkeiten von Performativität, Ereignis, Aufführung, Ausführung, Gebrauch oder Verkörperung und, mit ihnen, implizite Formen des Wissens in den Vordergrund. Nicht nur findet die Deutung von Medialität, Verkörperung, Materialität als Performanz in ihren unterschiedlichen Verweiszusammenhängen Beachtung, sondern auch und vor allem das Verständnis von performativen Verfahren als Potential der Erschließung neuer Erkenntnisformen und Wissensgenerierung. In dem Zusammenhang führt die »Aufwertung der visuellen Medien […] zu einer Vielzahl wissenschaftstheoretischer Untersuchungen, die Wissenschaft nicht länger als reine Theorie, sondern als historisch gebundene soziale Praxis in einem konkreten historischen Zusammenhang vorstellen.«119 Die Frage der Wissensform und ihrer Medienspezifik erneuert sich hier in dem Maße, wie sie nicht mehr an die Voraussetzung gebunden bleibt, dass ihre Reflexion strikt innerhalb des Bereichs einer spezifischen Disziplin verbleibt. Sofern sich dabei der Performanzansatz mit dem epistemologischen Ansatz kurzschließt, den man gestaltetes Wissen nennen sollte, ist forschendes Gestalten als Praxis und Konzeption in seiner performativen Kodierung zu deuten. Dies aber nicht mehr in dem traditionellen Sinn eines gestaltenden Subjekts und dessen Verhältnis zum Werk/Objekt. Dass der Wissensbegriff des Ästhetischen in der Überschreitung hin zu einem durch evokative, performative und nicht-diskursive Wege in Bewegung geratenen sozialen, ökonomischen und politischen Leben selbst eine Erweiterung erfährt, gerät zur Voraussetzung dafür, dass sich ein künstlerisches Forschen etabliert, welches die Problematisierung kategorialer Bestimmungen von wissenschaftlicher Forschung ebenso wie deren Auffächerung vorantreibt. In diesem Zuge sieht sich künstlerisches Forschen gezwungen, neu nach den ontologischen Bedingungen von Forschung, also der Beschaffenheit des Forschungsgegenstands, der Form der Episteme und den damit verknüpften methodologischen Ansätzen zu fragen. Dies ist wohl am besten in Henk Borgdorffs Ansatz gefasst, der zwischen Forschung über Kunst, Forschung für die Kunst und Forschung in der Kunst unterscheidet. Forschung über Kunst operiert mit der technologischen, historischen wie soziologischen Beschreibung oder Interpretation künstlerischer Praxis, so wie wir dies aus etablierten Fächern wie Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Theater- und Medienwissenschaft etc. kennen. Forschung für die Kunst ist das, was herkömmlich unter angewandter Forschung verstanden wird: »Die Forschung stellt Einblicke und Instrumente zur Verfügung, die auf die eine oder andere Art ihren Weg in die
119 | Bippus, Elke: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Kunst des Forschens. S. 7.
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konkrete Praxis finden können«120(wie etwa Materialuntersuchungen, technische Neuerungen usw.). Als Drittes entfaltet sich dasjenige, welches schließlich für die hier behandelte Thematik relevant wird: Forschung in der Kunst. Sie wird von Borgdorff als »performative Perspektive«121 bezeichnet, Donald Schön nennt sie »Reflexion in der Aktion«122 . Eine solche Perspektive unterwandert die Trennung von Objekt und Subjekt, indem sie die Distanz des Forschenden zum Gegenstand minimiert. In Absetzbewegung zur traditionellen Forschung suchen die Forschenden dabei in performativen Kontakt mit den Dingen zu kommen, um aus praktischen Situationen heraus Wissen zu destillieren. Der Ansatz bezieht sich somit darauf, dass die künstlerischen Praktiken selbst ein Reservoir an Wissen bereitstellen, das, so die These, wiederum für die wissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Gleichwohl impliziert derlei Reflexiv-Machen von Handlung, dass »Konzepte und Theorien, Erfahrungen und Auffassungen« irgendwie »mit Kunstpraktiken verwoben«123 sind, was freilich erkenntnistheoretische Fragen aufwirft. Die für die Erkenntnistheorie bis heute leitende Unterscheidung zwischen Erkenntnis (episteme) und dem praktischen Wissen (techne), dem Machen (poiesis) und dem (öffentlichen) Handeln (praxis) des Aristoteles wird vom künstlerischen Forschen wenn nicht unterminiert so doch zumindest in Frage gestellt. Dessen elementarer Gedanke ist Michael Polanyis Standardwendung des impliziten Wissens entlehnt, die bereits diesen Gegensatz problematisiert und das praktische Wissen, das implizit und nicht diskursiv oder begrifflich flottiert, erkenntnistheoretisch rehabilitiert hatte. Wie aber ist dieses Wissen genauer zu bestimmen?
2.2.1 Michael Polanyi. Implizites Wissen Polanyis Theorie kreist um die zentrale Denkfigur, die besagt, dass in menschlichem Wissen und Erkennen die Tatsache eingelagert ist, dass »wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«124. Polanyi nennt diesen Überhang tacit knowledge – implizites Wissen. Weit entfernt, in Worte fassbar zu sein, zeigt sich die Grundstruktur des Wissens als eine relationale: Wissen ist in »zwei Dinge oder zwei Arten von Dingen«125 unterteilt, von denen über das eine Wissen 120 | Borgdorff, Henk: »Die Debatte über Forschung in der Kunst«. In: Rey/Schöbi (Hg.): Künstlerische Forschung. S. 29. 121 | Ebd., S. 30. 122 | Schön, Donald A.: The reflective practitioner. How professionals think in action. New York 1983. 123 | Borgdorff: »Die Debatte über Forschung in der Kunst«. S. 30. 124 | Polanyi, Michael: Implizites Wissen. Frankfurt a.M. 1985, S. 14. 125 | Ebd., S. 18.
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etwas angegeben und über das andere Wissen nichts angegeben werden kann. Zu Erkenntnis gelangt nur, wer diese Glieder zu verknüpfen vermag. Und die Verknüpfung ist es, die implizit bleibt. Die beiden Glieder der Verknüpfung bezeichnet Polanyi als Term 1 und Term 2 bzw. proximalen und distalen Term. Die beste Einsicht in Polyanis Konzeption des impliziten Wissens liefert der Stadtforschung wohl das Beispiel des situationistischen Dérive. In diesem Zusammenhang meint Dérive jenes Umherschweifen, Gehen, Flanieren, Spazieren, Stadtwandeln, das als Methode der aktiven Form des Stadtwahrnehmens und -notierens verstanden werden muss. Wie dabei unsere Körperbewegungen wie Gehen, Orientieren, Umkehren, Beobachten, Aufzeichnen usw. die Tätigkeit Dérive ermöglichen, so spielen Situations-Bedingungen wie u.a. Verkehrslage, Stadtraumbeschaffenheit etc. als Einflussfaktoren in die Tätigkeit hinein. Während wir das Dérive vollziehen, ist es allerdings nicht so, dass wir es in einzelne Strukturen oder Bewegungen zerteilen würden. Vielmehr nehmen wir das Dérive als ganze Gestalt wahr. Eine solche Handlungs-Gestalt, von der wir kein explizierbares Detailwissen haben, bezeichnet Polyani als proximalen Term 1. Ihm stellt Polyani einen zweiten, den distalen Term gegenüber, der sich auf das Wie der Tätigkeitsgestalt bezieht. Dessen epistemologischer Effekt ist mithin der Effekt seines gespannten Bezugs auf die Gestalt, nicht deren Gegenteil. Der springende Punkt ist hier, dass die in der Tätigkeit (des Dérive) hervortretende Struktur ein Aspekt ihres ästhetischen Erscheinens ist. Sie ist das Korrelat einer ästhetischen Erfahrung der Gestalt der Tätigkeit, die die Realisierung des Dérive ermöglicht. Alles läuft darauf hinaus: Auch wenn wir nicht im Detail sagen können, wie wir Dérivieren, so können wir doch sagen, dass wir Dérivieren können. Anders als traditionelle Annahmen ist Polanyi aber nicht darauf aus, nun in dieser Aussage und dem mit ihr postulierten Faktum einen Hinweis darauf zu sehen, das implizite Wissen sei ein in epistemologischer Hinsicht nicht objektivierbarer Restbestand. Insofern Polanyi im Gegenteil das Implizite als für Wissen grundlegend interpretiert, beinhaltet dies gravierende Konsequenzen für das Selbstverständnis von Wissenschaften. Die Vorstellung von einem Wissen, das in dem Moment verlorengeht, in dem man das Augenmerk auf objektivierbare Einzelteile richtet, impliziert eine radikal neue Vorstellung von Wissenschaft – die Vorstellung von Wissenschaft, die ihr Wissen nicht mehr aus Externalisierung gewinnt. Polanyi geht davon aus, dass wir die Gestalt einer Situation erkennen, indem »wir ihre Einzelheiten beim Gewahrwerden zusammenfügen, ohne daß wir doch diese Einzelheiten zu identifizieren wüssten«126. Wie aber konstituiert sich der hier zentrale Aspekt der Gestalt? Polanyi definiert Gestalt zunächst als »Ergebnis einer aktiven Formung der Erfahrung während des Erkenntnis-
126 | Ebd., S. 15.
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vorgangs«127. Wie seine Argumentation vermuten lässt, beruft sich Polanyi an dieser Stelle auf die Gestalttheorie. Die Gestalttheorie vertrat die von den Wahrnehmungspsychologen Christian von Ehrenfels über Max Wertheimer und Wolfgang Köhler aktualisiert in Umlauf gebrachte These des Aristoteles, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile. Zunächst konnte die Wahrnehmungspsychologie am Beispiel der Tonfolge in der Musik zeigen, dass innerhalb des Wahrnehmungsprozesses strukturelle Anteile von Wahrnehmung zu einer erlebten Ganzheit (= Gestalt) zusammengesetzt werden. D.h., dort, wo sie diese Konvergenz in der Qualität einer jeweiligen Gestalt begründete, folgte die Wahrnehmungspsychologie der Intuition der sogenannten Gestaltgesetze, aus denen erklärt werden sollte, unter welchen Kriterien Wahrnehmungsanteile zu einem Ganzen zusammenspielen, bzw. Teile nicht als Teile, sondern als Ganzes wahrgenommen werden.128 Einer solchen Gestalttheorie entnimmt Polanyi jenes Grundprinzip der Relation von implizitem zu explizitem Wissen, das es ihm gestattet, die innere Ordnung seiner spezifischen Ontologie und Erkenntnistheorie zu rahmen. Wie Nonaka und Takeuchi richtigt bemerken, markiert die Gestalttheorie für Polanyi keineswegs einen Schlussstein: »Die wichtige Rolle des impliziten Wissens für das menschliche Erkennen, wie sie Polanyi hervorhebt, zeigt eine gewisse Entsprechung zum zentralen Argument der Gestaltpsychologie, die meint, dass die Wahrnehmung durch die Art ihrer Einordnung in den Gesamtkontext oder die Gestalt bestimmt wird. Während jedoch die Gestaltpsychologie voraussetzt, dass alle Bilder zwangsläufig integriert werden, behauptet Polanyi, dass die Menschen durch die aktive Schaffung und Organisation ihrer Erfahrungen Wissen erwerben.«129 Im Unterschied zur Gestaltpsychologie sieht Polanyi das Entstehen einer »Gestalt« nicht als passiv an, sondern deutet sie als aktive Gestaltungsleistung, mithin eine Befähigung, die etwas mit Erfahrung macht, so dass sich diese in eine Form des Wissens integrieren lässt: Während die Gestaltpsychologie annahm, »dass die Wahrnehmung einer Physiognomie durch ein spontanes Gleichgewicht ihrer Besonderheiten, wie sie auf der Netzhaut oder im Gehirn registriert werden, zustande kommt« betrachtet dagegen Polyani »die Gestalt als Ergebnis einer aktiven Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs. Diese Formung oder Integration halte ich für die große und unentbehrliche stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen und, einmal gewonnen, für wahr gehalten wird.«130 Gestaltungsleistung steigt hier zum Ort der Produktion von Wissen überhaupt auf. Die von der Gestaltpsychologie vornehmlich in Bezug auf Wahr127 | Ebd. 128 | Vgl. Fitzek, Herbert: Gestaltpsychologie. Darmstadt 1996. 129 | Nonaka/Takeuchi: Die Organisation des Wissens. Frankfurt a.M. 1997, S. 72. 130 | Polanyi: Implizites Wissen. S. 15.
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nehmung berücksichtigte Einsicht, dass wir Dinge wissen, die uns nicht unbedingt bewusst sind, »gilt für alle Formen des theoretischen und praktischen Wissens, von somatischen Prozessen angefangen über praktische Fertigkeiten und Geschicklichkeiten (eines Handwerkers, Athleten oder Klaviervirtuosen) bis hin zur wissenschaftlichen Erkenntnis.«131 Wo damit neue Formen der Erkenntnis ins Zentrum des Interesses rücken, so erweist sich die relationale, form-generierende Verknüpfung bzw. Integration der einzelner Elemente als »die unentbehrliche stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen […] wird.«132 Was dieses Modell ermöglicht, ist, Details in Form der Gestalt sowohl theoretisch wie praktisch in den Wissensprozess zu integrieren. Mehr noch: Die praktischen Formen des Wissens wie die Befähigung, Werkzeuge zu verwenden oder Geschicklichkeit (skills) an den Tag zu legen, weisen aus dieser Perspektive eine geradezu ähnliche Struktur auf, wie die des Wissens eines Wissenschaftlers. Sie beruhen auf dem weitgehend nicht-bewussten, relationalen Zusammenspiel von Körperelementen, deren Interagieren im Moment der Performanz der reflexiven Durchdringung entzogen ist. Um die Konvergenz der in der Gestalt sich entfaltenden Aspekte analytisch zu gliedern, unterscheidet Polanyi zwischen funktionaler Struktur, semantischem Aspekt und ontologischem Aspekt des Wissens. Die Idee, dass die funktionale Struktur des Wissens in der Verschiebung von Term 1 auf Term 2 zu sehen ist, soll demonstrieren, dass, wie und warum Handelnde in Handlungssituationen Maßstabsverschiebungen vollziehen, während sich die Aufmerksamkeit von den einzelnen Merkmalen einer Situation auf die Durchführung der Tätigkeit als vereinheitlichte Form (=Gestalt) disloziert. Wie bereits gesagt, bleibt hierin die relationale Verknüpfung von Term 1 und 2 implizit. Die funktionale Struktur offenbart sich im »Gewahrwerden«133 der kombinierten Bewegungen in der Performanz, wodurch die Identifikation der grundlegenden Vorgänge aus dem Blick gerät134: »Wir richten unsere Aufmerksamkeit von diesen elementaren Bewegungen auf die Durchführung ihres vereinten Zwecks und sind daher gewöhnlich unfähig, diese elementaren Akte im einzelnen anzugeben.«135 Wie Polanyi mit der phänomenalen Struktur des Wissens das Registrieren der einzelnen Bewegungselemente der Performanz136 beschreibt, 131 | Ebd., Klappentext. 132 | Ebd., S. 15. 133 | Ebd., S. 50. 134 | Ebd., S. 18f. 135 | Ebd., S. 19. 136 | Ebd., S. 20 »Allgemein läßt sich sagen, daß wir den proximalen Term eines Aktes impliziten Wissens im Lichte seines distalen Terms registrieren; wir wenden uns von etwas her etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieses anderen gewahr. Wir können dies die phänomenale Struktur des impliziten Wissens nennen.«
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so kann man sagen, dass der Term 1 aus der Folie des Terms 2 wahrgenommen wird. Wo die Konzentration auf Term 2 die selektive, analytische Wahrnehmung von Term 1 ermöglicht und fundiert, besteht der semantische Aspekt des Wissens darin, dass materiale Bedingungen des Zusammenspiels einer Situation in Wissen (z.B. Handlungsschnelligkeit und Reaktionsfähigkeit) übergehen. Wir haben es bei diesem Transpositionsprozess mit jener aktiven Deutungsleistung zu tun, die den spezifischen Horizont des Handelns erst eröffnet: Wenn wir handeln, registrieren wir die in unser Handeln eingelagerten Wahrnehmungen in Relation zu den Situationsbedingungen und deren Folgen für jenes. Das Paradox besteht darin, dass die in die Situationshorizonte eingelagerten Bedeutungen dazu tendieren, »sich von uns zu entfernen«. Genau deshalb spricht Polanyi von dem »proximale[n]« und dem »distale[n] Term.«137 Der entscheidende Punkt ist nun, dass wir die strukturellen Elemente einer materialen Situation weder aus rein objektiver noch rein subjektiver Perspektive, sondern nur aus performativer Teilnahme an einer Situation erlangen. Da wir deshalb deren Bedeutung nur in ihrer Bedeutung für die Praxis selbst kennen, ist zwischen einer Bedeutung für etwas und der Entität, die diese Bedeutung trägt, zu differenzieren.138 Das zu sagen heißt zweierlei: Erstens, ist es der ontologische Aspekt des Wissens, von dem implizites Wissen Kenntnis gibt. Zweitens artikuliert sich implizites Wissen dort, wo es die bedeutungstragende Beziehung zwischen dem proximalen und dem distalen Term hervorruft, immer relational. Erst mit der evokativen Form des Hervorrufens erlangt implizites Wissen den Status des Verstehens jener komplexen Entität, welche die beiden Terme zusammen formen.139 Mit anderen Worten: Das Verstehen der Praxis als prozessual-performativer Situation ergibt sich aus der Beziehung zwischen dem Gewahrwerden der Einzelheiten des proximalen Terms und aus der daraus sich ableitenden distalen Performanz der Praxis selbst. Es ist dieses relationale Verhältnis, das das implizite Wissen der Praxis begründet. Man darf die These wagen, dass das implizite Wissen andere Strukturen, Regeln und Logiken aufweist als das explizite. Weit davon entfernt, aus expliziten Sätzen von Regeln zu bestehen, sind die impliziten Dimensionen vielmehr »ein in den Praktiken immer wieder neu produzierter und reproduzierter Stil des Handelns«140. Auffällig ist, dass das performative Wissen nur in einem jeweiligen konkreten Handlungskontext emergiert und an diesen gebunden
137 | Ebd., S. 21. 138 | Ebd., S. 20. 139 | Ebd., S. 21. 140 | Rammert, Werner, 2001: »Nicht-Explizites Wissen in Soziologie und Sozionik – ein kursorischer Überblick«. S. 117 www.ssoar.info/ssoar/files/2008/267/tuts_wp_8_2000. pdf, (Zugriff am 19.01.2011).
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bleibt. Das praxisbezogene Wissen, das »skillful knowing«141, bleibt auf der Ebene des Nicht-Spezifizierbaren, weil es von demjenigen, der die Praxis beherrscht, nicht exakt beschrieben werden kann142 . An Performanz geknüpft stellt sich praktisches Wissen als nicht extern bestimmbar, sondern nur mit performativen Mitteln der Wahrnehmung, Mimesis und Übung, also in einem praxisgebundenen Kontext, erlernbar heraus. Das praktische Wissen kann also nicht medial dahingehend expliziert werden, dass die Explikation von der Performanz unabhängig wäre: »An art which cannot be specified in detail cannot be transmitted by prescription, since no prescription exists.«143 Damit steht aber zur Disposition, wie implizites Wissen überhaupt expliziert, Unbestimmtheit als epistemologische Ressource nutzbar und Nicht-Diskursives diskursiv gemacht werden kann.144 Klar ist nur: Eine repräsentationale Eins-zu-Eins Abbildung nichtsprachlicher Hintergründe macht hier keinen Sinn. Weder ist der Übergang zwischen den Termini fixierbar, noch kann das nichtdiskursiv Formulierte mit dem nichtdiskursiv Unformulierten verwechselt werden. Hierbei ist nun Folgendes zu beachten: Gewöhnlich verstehen wir explizierbares Wissen stets als Figur (eines Objekts, eines Gegenstandes oder einer Struktur), die aus dem Hintergrund herausgelöst wird. Polanyi dreht die Sache nun herum und argumentiert, dass, »um die Relationen formalisieren zu können, die eine komplexe Entität bilden […], diese Entität zunächst informell durch implizites Wissen identifiziert worden sein«145 muss. Die Volte besteht nun darin, dass Polanyi am Beispiel des wissenschaftlichen Problems die »tacit dimension« als stille Grundlage allen Wissens behauptet, in dem er fragt: »Aber wie kann man ein Problem erkennen, ein beliebiges Problem, ganz zu schweigen von einem guten und originellen?«146 Aus dieser Frage leitet sich ab, dass »wir kein Problem erkennen oder seiner Lösung zuführen können, wenn alles Wissen explizit, d.h. klar angebbar wäre«147. Das Vorgehen der exakten Wissenschaft, Probleme zu definieren, anhand derer Hintergründe zu explizieren sind, stellt sich als nicht adäquat heraus – es gibt kein explizites Wissen über unbekannte Dinge: »Implizites Wissen liegt […] der Fähigkeit des Wissenschaftlers zugrunde, (1) ein Problem richtig zu 141 | Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Towards a post-critical philosophy. London 1958, S. 55. 142 | Ebd., S. 88. 143 | Ebd., S. 53. 144 | Die Allgemeingültigkeit phänomenaler Wahrnehmung ist einer der Haupttopoi von Husserls Phänomenologie. Vgl. u.a.: Romano, Claude: Au coeur de la raison, la phénoménologie. Paris 2010. 145 | Polanyi: Implizites Wissen. S. 27. 146 | Ebd., S. 28. 147 | Ebd., S. 29.
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erkennen, (2) diesem Problem nachzugehen und sich bei der Annäherung an die Lösung von seinem Orientierungssinn leiten zu lassen und (3) die noch unbestimmten Implikationen der endlich erreichten Entdeckung richtig zu antizipieren.«148 Was hier hervortritt ist die Bestimmung von Unbestimmtheit als jene Bedingung der Möglichkeit des Bestimmens, die die performative »Einfühlung« in den Erkenntnisakt unabdingbar macht. Wissenschaft zu betreiben annonciert sich damit als eine Kunst, die sich »auf die Verinnerlichung von einzelnen Merkmalen« stützt, »auf die wir nicht achten und die wir daher auch nicht näher bestimmen können, sowie auf die Lenkung unserer Aufmerksamkeit von diesen unspezifizierbaren Einzelheiten weg auf eine komplexe Entität, in der sie auf eine für uns undefinierbare Weise zusammengefasst sind.«149 Eine solche Argumentation rekurriert auf eine Komplementärbeziehung zwischen der Struktur des Verstehens und der Struktur des zu Verstehenden (der komplexen Entität): »Die beiden Glieder des impliziten Wissens – der proximale Term, der die einzelnen Merkmale umfaßt, und der distale, der für ihre Bedeutung steht, die sie zusammen besitzen – ließen sich dann als zwei Realitätsebenen betrachten, die unterschiedlichen Prinzipien unterstehen. Die obere Schicht stützte sich bei ihren Operationen auf die Gesetze, die die Elemente der unteren regulieren, obschon die Operationen der ersteren nicht aus den Gesetzen der letzteren erklärbar wären. Man könnte sagen, dass zwischen zwei derartigen Ebenen eine logische Relation besteht, die der Tatsache entspricht, dass die beiden Ebenen zugleich die beiden Terme eines impliziten Wissensaktes darstellen, der sie zusammenschließt.«150 Da die Entität einer Praxis von einem Prozess herrührt, der sich strukturell nicht auf einer niedrigeren Ebene nachvollziehen lässt, werden die Ebenen des Emergenzprozesses hierarchisiert und deren Relation als ›logisches Verhältnis‹ bestimmbar gemacht – wobei zunächst jede Ebene ihre eigenen Logiken aufweist. Desweiteren zeigt sich, dass niedrigere Ebenen durch höhere gelenkt werden, während sich Operationen der höheren Ebene auf unteren Ebenen und deren strukturellen Bedingungen realisieren. Mit dieser Schlussfolgerung zielt Polanyi auf radikale Weise auf die Annahme einer Emergenz von Wissen überhaupt. Wie sich Emergenz auch und vor allem durch implizites Wissen bestimmt, so entwickelt sich Wissen als emergenter Prozess. Womit wir es bei der Emergenz Polanyis hierarchischer Ontologie zufolge zu tun haben, ist das Entstehen einer höheren Ebene durch einen Prozess, der auf der unteren Ebene nicht auffindbar ist: »Wenn jede höhere Ebene dazu dient, die von den Operationen der darunterliegenden Ebene offen gelassenen Randbedingungen zu kontrollieren, so bedeutet dies, daß die 148 | Ebd., S. 30. 149 | Ebd. 150 | Ebd., S. 37.
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Randbedingungen der auf der niedrigeren Stufe ablaufenden Vorgänge von diesen gar nicht tangiert werden. Mit anderen Worten, keine Ebene ist imstande, ihre jeweiligen Randbedingungen zu kontrollieren, und vermag auch keine über ihr liegende Ebene aus sich zu generieren, weil die Leistung einer höheren Ebene ja gerade darin läge, diese Randbedingungen zu kontrollieren. So impliziert schon die logische Struktur der Hierarchie, daß eine höhere Ebene nur durch einen auf der niedrigeren Ebene nicht auffindbaren Prozeß entstehen kann, einen Prozeß, den man folglich als Emergenz beschreiben kann.«151 Das Wichtige am emergenten Prozess liegt nun darin, dass die Fragestellung, welche die Forscher antizipieren, strukturell nicht auf der Ebene ihres Vorwissens zu finden ist. Wenn dies möglich wäre, wäre das Problem kein Problem. Das Problem besteht also nicht darin, Probleme zu lösen, sondern darin, dass das Problemlösen nicht durch ein Erinnern des Impliziten hervorgerufen werden kann. Somit rückt das Faktum der Emergenz als »Akt des Verstehens« und »Vorgang, der neue komplexe Entitäten erzeugt«152 in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Die Entwicklung nächsthöherer Ebenen ruft nicht nur die Emergenz von unvorhergesehenem Neuem hervor, sondern nimmt auch mit der steigenden Anzahl von Ebenen an Komplexität ebenso zu wie an Anfälligkeit für das Scheitern von Prozessen: »Die Serie immer komplexerer Operationen, die zu seinem Auftreten führen, geht mit einer wachsenden Anfälligkeit für Misserfolge einher.«153 Vor dem Hintergrund dieses Argumentierens erscheint der Trend der Stadtforschung, mit dem Schema Problem>Lösung zu operieren, in neuem Licht. Wenn das Erkennen des Problems aber nur unter der Vorraussetzung möglich ist, dass wir den Horizont von Stadtsituationen wahrnehmen, ohne dabei das Wissen über diese Situationen in Worte fassen zu können – heißt das nicht, dass wir erst das Problem selbst problematisieren müssen?
Schaltung Mit Polanyi können wir sagen, dass Form bzw. Gestalt stets nicht-summativ sind. Da die implizit wissenden Akteure die hierin liegende logische Lücke zu füllen haben, rückt die mediale Seite der Praxis aufs Neue in den Fokus und somit dasjenige, was aktuelle künstlerische Forschung für sich zu reklamieren beginnt. Kann künstlerisches Forschen diese Fragestellung im Schulterschluss mit den Kulturwissenschaften aber überhaupt bearbeiten? Vielleicht. In der kulturwissenschaftlichen Diskussion wurde bisher vor allem auf die Eigengesetzlichkeit und Sprachlichkeit der Medien als Träger von Bedeutung rekurriert wie auch auf Formen des Imaginären und des Gedächtnis151 | Ebd., S. 46. 152 | Ebd., S. 47. 153 | Ebd., S. 50.
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ses. Performativität, Körperlichkeit und Materialität wurden nur in ihrer Rolle als Bestimmung des Signifikanten herangezogen. Nun aber entsteht mit dem künstlerischen Forschen die Forderung nach einem neuen Blick auf die Materialität medialer Praxis selbst und ihrer Verknüpfung mit den Dingen und damit eine Öffnung für neue Formen der Auseinandersetzung mit raum- und dingbezogenen Wissenschaften. Das hat wiederum für die Wissenschaft Auswirkungen auf die ontologische Frage, was das Wesen des Forschungsobjekts sei. Wie bereits bemerkt, findet im künstlerischen Prozess eine Verwebung zwischen Objekt und Akteur statt. In diesem Verlauf konvergieren jene materiale Dimensionen, die im Prozess des Verfahrens als dessen situative Rahmenbedingungen bzw. Strukturen, als Analyse der Forschung selbst, unterscheidbar gemacht werden müssen. D.h. wohl auch, dass das Wissen als Situiertes ernst zu nehmen ist. Denn: Künstlerisch-mediale Praktiken fungieren stets auch interpretierend und Sinn konstituierend. Dieser Sinn ist der Praxis jedoch nicht vorläufig, sondern wird in ihr hervorgebracht – situiertes Wissen ist ohne eine bestimmte Praxisform nicht zu haben.154 Borgdorff konstatiert daher: »Künstlerische Praktiken sind performative Praktiken in dem Sinn, dass Kunstwerke und kreative Prozesse etwas mit uns tun, uns in Bewegung versetzen, unser Verständnis und unsere Sichtweise der Welt verändern – auch im moralischen Sinn.«155 Mediale Praxen heben darauf ab, dass der ontologische Grund der ihnen eigenen Medialität, mimetisch und expressiv zu sein, ihnen ermöglicht, Ereignisse, Verläufe, Prozesse mitteilbar und reflexiv zu machen. Diese Mediation ist jedoch relational, sie ist – und darin liegt der Kernpunkt zeitgenössischer Kunst – von den Rezipienten selbst weiterzudenken.156 Nur auf diese Weise kann das Charakteristikum künstlerischer Verfahren – via Materialität medialer Praktik dasjenige darzustellen, welches Materialität zu transzendieren in der Lage ist – für Wissensproduktion nutzbar gemacht werden. Mit der medialen Form der Praxis rückt auch der evokative Charakter des performativen Wissens, wie sie in den Theoriebeständen von Derrida, Lyotard und Deleuze bereits formuliert wurde, in seiner artikulierenden Kraft wieder ins Zentrum des Reflektierens über Wissen. Im Zuge dessen tauchen jedoch neue methodologische Fragestellungen auf. Naturwissenschaften sind empirisch-deduktiv orientiert. Ihre Forschungssysteme sind so aufgebaut, dass sie Dinge erklären können. Auch die Sozialwissenschaften arbeiten empirisch, jedoch nicht experimentell, sondern 154 | Vgl. u.a.: Deuber-Mankowsky/Holzhey (Hg.): Situiertes Wissen und regionale Epistemologie. Zur Aktualität Georges Canguilhems und Donna J. Haraways. Wien 2013; Haraway, Donna J.: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«. In: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und die Frauen. Frankfurt a.M.: 1995, S. 73-97. 155 | Borgdorff: »Die Debatte über Forschung in der Kunst«. S. 30. 156 | Vgl. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics. Paris 2002.
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im Hinblick auf das Erstellen und Analysieren von Datenmaterial, das quantitativ oder qualitativ gewonnen wird. Beide Ansätze rekurrieren auf eine Objektivität, die eine Außenstellung des Untersuchenden voraussetzt. Im Gegensatz dazu entsteht künstlerische Forschung immer aus dem Inneren des Prozesses heraus; Produktion von Repräsentationen ist immer Teil des Forschungsprozesses selbst. Somit stellen die Künstler eine ganz bestimmte Spezies von Forschern dar, die sich durch ihre starke Verbindung zum Gegenstand deutlich von der des wissenschaftlichen Forschers unterscheidet. Andererseits aber haben auch die sozialwissenschaftlichen Disziplinen bereits Methoden entwickelt, die neue Sichtweisen eröffnen – etwa mit der teilnehmenden Beobachtung – die die gegenseitige Interpretation von Untersuchungsgegenstand und Untersuchendem zu einem maßgeblichen Teil ihrer Forschung gemacht. Eine solche Forschungsform könnte, so vermutet Borgdorff, »bis zu einem gewissen Maße für bestimmte Arten der Kunstforschung dienen.«157 Allerdings müssen wir, wenn wir annehmen, dass in künstlerischem Forschen Teilnahme und Experiment konvergieren, davon ausgehen, dass dessen Forschungsplan »sowohl das Experimentieren und die Beteiligung an der praktischen Ausführung als auch die Interpretation dieser praktischen Ausführung«158 mit einschließt. Es resultiert hieraus eine der Hauptfragen künstlerischen Forschens: Wie kann implizites Wissen durch situierte mediale Praktiken experimentell artikuliert und für Interpretationen bzw. objektiv orientierte Verfahren vermittelbar gemacht werden? Ausgehend von Polanyi können wir sagen, dass es kein explizites Wissen von dem gibt, was wir noch nicht wissen, also demjenigen, was als Unbestimmtes in unserer Erfahrung vorliegt. Daraus folgt umgekehrt in Bezug auf das als Wissensreservoir durch das künstlerische Forschen in Stellung gebrachte Subjekt, dass diesem keine Ähnlichkeit mit einem vorweg bestimmten Gegenstand zugewiesen werden kann. Und darüber hinaus gilt: Das Selbst ist kein Gegebenes und somit von seiner Erkenntnisfähigkeit nicht zu trennen. Das Ich kann keine allgemeine Strukturbeschreibung vornehmen, sondern nur indirekt, anhand der medialen Praxis, in einer performativen Perspektive zur Sprache gebracht werden. Bereits Husserls Phänomenologie hatte deutlich gemacht, dass Erfahrbarkeitsstrukturen nur im Horizont der zu erforschenden Phänomene selbst vorliegen. In dem Versuch, Gegenstände keiner vorgängigen Begrifflichkeit zu unterwerfen, sie nicht als gegebene Objekte an sich, sondern in der ihnen jeweils angemessenen Weise darzustellen, lag für Husserl die prinzipiell »unendliche Aufgabe«159, einen immer größer werdenden Index von adäquaten 157 | Borgdorff: »Die Debatte über Forschung in der Kunst«. S. 43. 158 | Ebd. 159 | Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. S. 19.
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Erfahrungsbeschreibungen anzugeben. Vor diesem Hintergrund hätte künstlerisch-mediale Praxis eine Begründung aus sich selbst hervorzubringen. Das impliziert die Aufgabe, Erfahrungsweisen des Subjekts zu rekonstruieren und darin weiter an der Entwicklung von Möglichkeitsbedingungen eines Anspruchs auf Begründung zu arbeiten. Das künstlerische Subjekt stünde dann im Sinne Husserls für das »Ich, der ich es bin, der dem Sein der Welt, von der ich je rede, Seinsgeltung verleiht«160. Damit ist für die Stadtforschung zwar einsichtig, dass nicht mehr die Stadt als im voraus, sondern aus der »neuen Einstellung her gegeben«161 gesetzt wird. Dennoch ist zu fragen: Woher kommt die Bestimmtheit konstituierter Wissensbestände, wenn das Ich der Forschenden ausschließlich zu sich selbst relativ ist? Mit Polyani (und auch Husserl) ist klar, dass die Erkenntnisbegründung nicht mehr auf Vorgängigem, sondern nur noch auf impliziter Erfahrung beruhen kann. Der Ort dieser Erfahrung als Ich ist jedoch nicht näher beschreibbar und kann nicht als Grundlegung dienen. Allgemeingültigkeit von Erkenntnis zeigt sich damit abhängig von einer Leistung, Erfahrung explizit zu machen. Zugleich sieht sich diese Konzeption wiederum auf ein Ich verwiesen, für das ihr keine Mittel zur allgemeinen Darstellung zur Verfügung stehen. Das ist die Stelle, an der künstlerisches Forschen ins Spiel kommen könnte, wenn es ihm gelänge, mediale Praxis (in ihrer Subjektivität) als Ausweis ihrer eigenen Begründungsfähigkeit auszustellen. Wenn mediale Praxis der Stadtforschung auf Grund ihrer subjektiven Ausrichtung keine heterogenen Elemente in Anspruch nehmen kann, um ihren subjektiven Gegenstandsdeskriptionen eine über das einzelne Forschersubjekt hinausgehende Geltung zu verschaffen, müsste sie dann nicht (und vielleicht bedeutet Borgdorffs These von der performativen Perspektive genau dies) die Allgemeinheit in ihrer Verfahrensweise selbst sicherstellen? Das würde aber eine Inanspruchnahme gerade jener phänomenal orientierten Deskriptionen bedingen, deren Universalität in Frage steht. Indes: Wenn dies zu akzeptieren wäre und Erkenntnis nur in einer nicht vollständig rekonstruierbaren Leistung generiert würde, implizierte dies nicht eine Verschiebung des Begriffs der Erkenntnis, mithin der Objektivität des Wissens selbst? Die Performanztheorie zeigte bereits an, dass die Wahl zwischen radikalem Interpretationismus der Wahrnehmung oder einem schlichten Repräsentationalismus in Aporien führt.162 Mit obigen Überlegungen lässt sich weiterhin sagen, dass im Konnex der Frage der Wissensform erstens die Aufgabe eines Verständnisses des Bewusstseins als eines Behälters gefordert ist wie zweitens – daran anschließend – das Überdenken des Verhältnisses zwischen Handeln und Wissen. Neuer160 | Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Bd. III. Den Haag 1952, S. 149. 161 | Ebd. 162 | Vgl. Schürmann: Sehen als Praxis. S. 38.
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lich wird dieses nicht mehr als einseitiges Zulieferer-Verhältnis verstanden, sondern als wechselseitiges Bedingungsgefüge, in dem man performativ zu Wissen gelangt und zugleich zu tun vermag, was man weiß.
2.3 E pistemische P erformanz 2: W issen als G estaltung ? Mit der Rede von einem künstlerischen Forschen, welches im Rekurrieren auf ein implizites Wissen die heterogenen Performanzen der Naturwissenschaften problematisiert, kann noch keine Lösung im Bezug auf die Allgemeingültigkeit subjektiver Praxis im Konnex epistemischer Arbeit angeboten werden. Vielleicht ist aber eine Erweiterung des Debattenhorizontes im Bereich des Möglichen, wenn in Betracht gezogen und untersucht wird, ob die Wissenschaft nicht eine ähnlich gelagerte Problematisierung auch aus sich selbst heraus erfährt. Und vielleicht würde dort ersichtlich, wie künstlerisches Forschen a) den Modus der Allgemeingültigkeit seines Verfahrens zum Thema seiner eigenen Gegenstandsbeschreibung machen, b) so lokalen Arbeitsformen ihre Geltung über die einzelne Beschreibung hinaus sichern und c) darin auch die Materialität bzw. Schriftlichkeit dieser Beschreibung thematisieren könnte. Mit diesen Überlegungen taucht ein Gedankengang auf, der neben der künstlerischen Forschung eine zweite für uns relevante Sichtweise ins Feld führt: Wissensproduktion als gestalterisches Projekt und mithin als genuin performativ hervorgebracht zu interpretieren. Wie sich ein solches Modell ebenso wissenschaftstheoretisch wie -historisch fundieren lässt, möchte ich in den folgenden Kapiteln darlegen. In deren Fortgang geben die Wissenschaftshistoriker Ludwik Fleck, Gaston Bachelard und Hans-Jörg Rheinberger Impulse für einen Ansatz, der die traditionell getrennten Bereiche von Legitimation, Ideengeschichte und das situierte Gemacht-Sein von Wissen konvergieren lässt und, mit der Frage nach dem Experiment, der historischen Epistemologie Bedeutung verleiht. Wie die Historische Epistemologie zuerst als Antwort auf die tiefe Krise positivistischen Denkens in der Wissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, so besagt ihre Grundthese, dass die wissenschaftliche Tätigkeit ihre Gegenstände allererst selbst konstituiert. Die Gegenstände der Wissenschaft »existieren nicht in der Natur, sie müssen hergestellt werden«,163 heißt es bei Bachelard. Das zieht nicht nur die in den Natur- und Geisteswissenschaften fixierte Dichotomie von Natur und Kultur in Zweifel, sondern auch jeglichen naiven Begriff wissenschaftlicher Objekte. Darüber hinaus postuliert ein sol163 | Bachelard, Gaston: Le rationalisme appliqué. Paris 1949, S. 103, zit.n. Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologie des Konkreten. Frankfurt a.M. 2006, S. 9.
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cher Ansatz, dass sich die Entstehung von Wissensfeldern weniger theoretischen Paradigmen, als dem operativen Wirken von Assemblages verdankt. Der von dem Wissenschaftsanthropologen Paul Rabinow eingeführte Begriff Assemblage meint hier, dass historische Verläufe der Wissenschaften kontingent, situativ und heterogen beschaffen sind: Wissen kumuliert in bestimmten Situationen, Konjunkturen und Knotenpunkten, in denen etwas entsteht, »das aus lauter kleinen Entscheidungen hervorgeht; Entscheidungen, die zwar Bedingungen unterliegen, aber nicht völlig vorbestimmt sind«164 . Damit findet Gestaltung, Emergenz, mithin Performanz von Wissenskonstellationen Aufmerksamkeit von Seiten der Wissenschaften her : »Von Zeit zu Zeit entfalten sich allerdings neue Formen, die etwas Besonderes an sich haben; etwas, das bereits vorhandene Akteure, Dinge und Institutionen in einen neuen Existenzmodus hebt, sie in ein neues Gefüge (Assemblage) einspannt; ein Gefüge, das die Dinge in einer anderen Weise geschehen lässt.«165 Wissenschaftliche Experimente erfahren dort eine Umdeutung, wo sie nun selbst als gestalterische Praxis und als Fruchtbarmachung mehrdeutiger Assoziationen, Praxen und Aufzeichnungsweisen verstanden werden. Davon zeugt etwa Ernst Machs Einsicht darin, dass »Erfindungen und Entdeckungen« nicht als »Ergebnis eines Schöpfungsaktes«166 zu verstehen sind, sondern als Ergebnis »Allmählicher Auslese«.167 Mach fand für den Vorgang einer solchen Auslese die Formel der »Ökonomie der Gedanken«168, welche die Emergenz von Wissen in einem Prozess, der weder rein intentional bzw. rational gesteuert ist, noch aus einem genialischen Einfall resultiert, noch reiner Willkür unterliegt, sondern »Zufall«169 als Technik integriert. Wissensproduktion wechselt damit zu einem Gestalten , das eines bestimmten technischen, instrumentellen wie methodischen Rahmens bedarf und sich »durch den Einsatz von Aufzeichnungen, Schreib- und Zeichensystemen, von Techniken der Darstellung und Sichtbarmachung und durch ein grundlegendes Experimentalverfahren: die möglichst kontinuierliche Variation von Umständen und Vorstellungen«170 definiert.
164 | Rabinow, Paul: Anthropologie der Vernunft. Frankfurt a.M. 2004, S. 63. 165 | Ebd., S. 115. 166 | Mach, Ernst: »Über den Einfluss zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen«. In: Ders.: Populär-Wissenschaftliche Vorlesungen. Leipzig 1896, S. 294. 167 | Ebd. 168 | Mach, Ernst: Die Mechanik in ihren Entwicklung. Leipzig 1883, S. 452-466. 169 | Mach: »Über den Einfluss zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen«, S. 289. 170 | Krauthausen, Karin: »Vom Nutzen des Notierens. Verfahren des Entwurfs«. In: Krauthausen/Nasim (Hg.): Notieren, Skizzieren. Zürich 2010, S. 8.
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Obige Denkbewegung annonciert, dass Wissen jetzt selbst als Entwurf, projet (frz. für Entwurf) zu fassen ist, so wie es Bachelard fordert: »Über dem Subjekt und jenseits des unmittelbaren Objekts gründet die Wissenschaft im Projekt. Im wissenschaftlichen Denken (frz. médiation) nimmt das Denken des Objekts stets die Form eines Projekts an.«171 Bachelard eröffnet hier den Weg für eine »nicht-cartesianische Epistemologie«172, die als Form eines »entsubstanzialisierten Realismus«173 den Gegensatz zwischen Realismus und Rationalismus aufgibt. Sie findet sowohl in der nicht-euklidischen Geometrie des 19. wie in der Relativitätstheorie der Physik des 20. Jahrhunderts ihre Resonanz. Wie mit ihr darüber hinaus das Verhältnis von Performanz und Wissen neu zu prononcieren ist, ist Gegenstand folgender Erörterungen.
2.3.1 Gaston Bachelard: Wissen als Entwurf Die Wissenschaftsphilosophie Gaston Bachelards ist eine Reaktion auf die obene bereits thematisierte Krise der Naturwissenschaften, die – ausgehend vom Fin de Siècle – Letztbegründungsansprüche zum Erodieren bringt und Realität als relativ enthüllt. Bachelard nimmt diese Krise zum Anlass, die »Zonen der wirksamen Diskontinuität«174 von Wissenschaft in den Blick zu nehmen. Im Zuge dessen schlägt er eine historische Epistemologie vor, die von einer konstitutiven Verschränkung von Wissenschaftsobjekten, wissenschaftlicher Methode, experimenteller Praxis, erkennender Subjektivität und wissenschaftlichem Diskurs kündet, welche die Wissenschaftsgeschichte selbst als ihr Labor begreift und aus diesem Verständnis heraus agiert. Nicht allein liefert Bachelard damit eine praxeologische Perspektive auf die Performanzen der experimentalen Wissensproduktion als Felder der Wissenschaftsgeschichte, auch stellt er einen »entsubstanzialisierten Realismus«175 in den Mittelpunkt einer Neuformulierung des Erkenntnisinteresses bzw. der Form von Erkenntnis überhaupt. Solcher Realismus verschiebt die Blickrichtung des Wissens von dem vorgängig zu bestimmenden Objekt hin zum performativen Prozess, dessen Grundlage der Begriff der ›Phänomenotechnik‹ bildet. In diesem Begriff soll sich zum einen ausdrücken, dass Technik kein Mittel zum Zweck, kein Nebenprodukt der Wissenschaft ist, sondern selbst, als Verfahren, konstituierend für Wissenschaft wirkt. Zum anderen wird offenbar, dass Wissen171 | Bachelard, Gaston: Der neue wissenschaftliche Geist. Frankfurt a.M. 1988, S. 17. 172 | Ebd. S. 13. 173 | Bachelard, Gaston: Essais sur la connaissance approchée. Paris 1987 (1928), S. 297, Zit. n. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 29. 174 | Bachelard, Gaston: Epistemologie. Frankfurt a.M. 1993, S. 209. 175 | Bachelard: Essais sur la connaissance approchée. S. 297, zit.n. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 29.
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schaft statt als Finden von Gegebenem vielmehr als Prozess der Produktion von Wissen verstanden werden muss. Die Phänomenotechnik markiert somit jene Technik, »durch deren Anwendung neue Phänomene nicht einfach gefunden, sondern erfunden, d.h. durch und durch konstruiert werden«176. Nicht nur modifiziert sich damit die Darstellung des Wissens selbst, auch erfahren die traditionellen positivistischen Verfahren experimentaler Berichterstattung vehemente Kritik. Was hier geschieht ist das Auftauchen des darstellungstheoretischen Problembestands, dass Wissenschaftler dort, wo sie von ihren Experimenten berichten, die komplexen, suchenden Bewegungen des Experimentalprozesses verschweigen, um ihn stattdessen als teleologischen Verlauf darzustellen. Weit entfernt, den Experimenten eine Form linearer Erzählung zuzugestehen, betont Bachelard die Bedingungen des Funktionierens einer Phämomenotechnik, die nur dann zustande kommen, wenn Einblick in die performative Wissensproduktionspraxis der Labore gegeben wird. Daher rührt die berühmte Forderung, die er an die Forscher richtet: »Erzählt uns, was ihr denkt, nicht wenn ihr das Labor verlasst, sondern während der Stunden, in denen ihr das gewöhnliche Leben hinter euch lasst, und in das wissenschaftliche Leben eintaucht. Anstatt uns mit eurem Abendempirismus zu belästigen, zeigt uns euren handfesten Vormittagsrationalismus.«177 Wissensgewinnung soll so eine performative Dynamik erhalten, die sich vor dem Hintergrund des Programms einer Prozessepistemologie entfaltet. Wie in deren Zentrum vor allem Emergenz und Produktion stehen, geht daraus Wissenschaftsphilosophie als »angewandter Rationalismus«178 hervor, in dem sich Erkenntnisgewinnung »bei der Arbeit«179 beobachten lässt. Man sollte sich nicht darüber täuschen, dass Bachelard mit angewandtem Rationalismus angewandte Wissenschaft im traditionellen Sinne meint. Weit enfernt, Randbestand einer positivistischen Grundlagenforschung zu sein, die für sich in Anspruch nimmt, dass sie es sei, die recht eigentlich jene Problemlösungen entdecke, die dann später von der angewandten Wissenschaft technologisch implementiert bzw. ›angewendet‹ würden, präsentiert der angewandte Rationalismus etwas ganz anderes, nämlich eine Praktizität, eine Performativität der Praxis, die direkt in die epistemische Begriffsbildung hineinwirkt. Jenseits der Tatsache, dass sich jede Begriffsbildung auf Anwendbarkeit bezieht – sonst würde sie keinen Sinn machen – verleiht das Attribut ›angewandt‹ dem Rationalismus eine immanente materiale Bezugsebene, die sich auf Wirklichkeit bezieht und diese mit trans176 | Bachelard, Gaston: »Noumène et microphysique«. In: Ders.: Etudes. Paris 1970, S. 18f. zit.n. Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologie des Konkreten. S. 40. 177 | Bachelard, Gaston: La philosophie du non. Paris 1940, S. 13, zit.n. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 42. 178 | Bachelard: Le rationalisme appliqué. 179 | Ebd. S. 9 (»philosophie au travail«).
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formiert. Eine solche Argumentation zeigt die methodische Richtung an: Bachelard will das Gegeneinander-Auspielen von Wissenschaft und Anwendung überwinden und gleichsam zeigen, dass das Anwenden nicht nur formal der Sinnkonstruktion von Begriffen, sondern auch und vor allem strukturell den »Regeln der Begriffsbildung«180 zuzuordnen ist. Wie die Strukturierung die Basis des relationalen Anordnens als »Koppelung des Noumenalen [Begrifflichen] und Technischen im wissenschaftlichen Raum«181 liefert, so soll ihr als die materiale Kultur des Gesellschaftlichen allgemeine Geltung zukommen. Aber geriert sich Bachelards Rationalismus nicht in gewisser Weise eigenartig und zwar dahingehend, dass er seine Theorie auf sich selbst anwendet? Anscheinend haben wir es hier mit dem Paradox zu tun, dass sich aus dieser Bewegung der Weg eröffnet, konkret und offen »aus Experimenten neue Bestimmungen für sich selbst zu beziehen«182. Wenn wir dies ernstnehmen, so haben wir anzuerkennen, dass die Bestimmung von Erkenntnis nicht auf einem wie auch immer gegebenen Realen ruht, sondern auf der Struktur des Verfahrens von Wissensproduktion. Was Bachelard als die Strukturierung einer solchen Dynamik präsentiert, ist die relationale Anordnung topologischer Felder vertikaler und horizontaler Mobilität. Horizontal gliedert sich die Wissenschaftspraxis in eine Verteilung apodiktischer Knotenpunkte, innerhalb derer das wissenschaftliche Verfahren den dort immanenten Strukturen folgt. Wissenschaftspraxis hat diese Strukturen auch offenzulegen und den daraus resultierenden, jeweiligen Emergenzen zu folgen. Dem entspricht Bachelards Raumkonzept einer regionalen Verortung und Verschaltung von Wissensterritorien bzw. -räumen auf, die in einer »Stadt des Wissens«183 gipfelt. Die hier avisierte vertikale Mobilität von Wissensräumen bringt das Konzept einer topologischen Struktur in Umlauf, die als Bedingung der Möglichkeit einer Erfahrung von Wissen auftritt. Anstatt territoriale Fixierungen zu befürworten, konturiert Bachelards »Topohilie« – wie sie auch in dem Buch Poetik des Raums184 anklingt – ein Lob jenes räumlich sich verteilenden Imaginären, das jeder Idee von Raum zu Grunde liegt. Man sollte dies nicht als Epiphänomenologie verstehen, sondern streng formalistisch verfahren, um auf die von Bachelard thematisierte epistemologische Fragestellung einer Relationalität des Wissens aufmerksam zu machen. Die Metapher von der Stadt des Wissens ist ein Vehikel, dass die Strukturiertheit und Relationalität des Wissens ebenso formuliert wie die Anerkennung von und den Umgang mit dessen spezifischer historischen Situiertheit. Was sich hier vollzieht, ist die Verschiebung der Wissensproduktion vom steten Neu-Erfinden 180 | Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 16. 181 | Ebd., S. 53. 182 | Bachelard: Le rationalisme appliqué. S. 4. 183 | Ebd. S. 132f. 184 | Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Frankfurt a.M. 1987 (1957).
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hin zu einem rekurrenten Prozess des Verwerfens und Umordnens, der immer neu arrangiert, versammelt, redesigned. Das ist die Konsequenz der Tatsache, dass wissenschaftliches Denken die Vergangenheit beurteilt, indem es sie verwirft – seine Struktur ist das Bewusstsein darüber, dass es »keine Wahrheit ohne korrigierte Irrtümer«185 gibt. Worum es jetzt geht, ist Wissenschaft als ein unendlicher Bastel- bzw. Berichtigungsvorgang, der »die Wahrheiten von heute permanent in Irrtümer von gestern verwandelt«186. Als »nützliche Strategeme an der Grenze des Wissens«187 wechseln die Instrumente und Methoden der Forschung vom instrumentellen ins strategische Register der Wissensproduktion über, welche schließlich die Wissensdinge mit materialen Ressourcen des Prozesses der technischen Realisierung versorgt. Die relationale Anordnung des Wissensraums und dessen historische Situiertheit sind es, die hierin gegenseitige Bedingungen des Wissens bilden und sich als »variable Struktur« ordnen, die erst dann in Kraft tritt, »wenn das Wissen eine Geschichte zu haben beginnt«188. Auf diese Weise erhält die historische Epistemologie gegenüber der Wissenschaftstheorie eine neue bedeutsame Stellung. Der wissenschaftshistorische Rückblick in die vergangenen Stadien des Erkennens tritt nun in seiner diachronischen Dimension hervor, welche als selbstaufklärende Kraft in die Gegenwart hineinragt und dort die Funktion epistemologischer Selbstvergewisserung übernimmt. Wo es wissenschaftliche Teleologie hinter sich lässt, haben wir es mit einem Wissen zu tun, das sich – als rekursiver Prozess der andauernden Korrekturen und deren relationaler Verknüpfungen – historisch situiert. Man kann es so formulieren: Wissensproduktion ist ein mit Unbestimmtheit durchsetzter Handlungszusammenhang, »dessen Ende stets offen ist, der über sich hinausweist, aber noch im Hinausweisen über sich auf sich zurückweist«189. Am Begriff der Rekursion verortet sich hier jener Hebel, der es erlaubt, Historie nicht mehr als Monumentalismus oder Antiquariat (wie es Nietzsche ausdrückte190) zu betreiben, sondern in einem Spiel zwischen historischer und unhistorischer Arbeit kritisch zu wirken. Was sich damit herausbildet, ist eine Arbeit, die an der Grenze navigiert, an der das Vergangene produktiv vergessen wird, um jene plastische Kraft auszubilden, die nötig ist,
185 | Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Frankfurt a.M. 1987 [1938], S. 344. 186 | Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 43. 187 | Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. S. 137. 188 | Bachelard, Gaston: Le nouvel esprit scientifique. Paris 1934, S. 173, zit.n. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 43. 189 | Ebd. S. 52. 190 | Vgl. Nietzsche, Friedrich: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. In: Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. Leipzig 1924, S. 112ff.
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um »zerbrochene Formen aus sich nachzuformen«191. Das aber stellt uns vor die Herausforderung, dass der Wert dessen, was als Wissen herausgefunden wird, immer neu in Zweifel zu ziehen ist. Wenn sich Experimantalaufbauten als rekursive Anordnungen erweisen, in deren Verlauf Wissen produziert wird – zwingt das nicht zu einem reflexiven Bewusstsein seiner Produziertheit, das die Bedingungen der Anordnung und der performativen Intervention des Forschens hinterfragt? Um zu begreifen, was beim Wissen-Machen geschieht, gilt es, eine methodologische Neuerung einzuführen, deren Relationalität zwischen Praxis und Theorie so eng ineinander verflochten auftritt, dass »keine Methode, gleich ob experimentell oder rational, sicher sein kann, ihren Wert zu behalten«192 . Weit entfernt, auf Normativität zu verzichten, ist die von Bachelard in den Diskurs eingebrachte Methode ohne Zweifel dort nötig, wo die Regeln zur Anwendung experimentaler Instrumente beherrscht werden müssen, während die Praxis der Anwendung selbst zur Erforschung und Erweiterung dieser Regeln bei trägt.193 Es handelt sich hier um einen zirkulären Prozess, der jedoch keineswegs selbstreferentiell in sich zurückläuft, sondern sich vielmehr in seinen rekursiven Verschiebungen ausdifferenziert. Auf der formalen Ebene nähert sich der wissenschaftliche Prozess dem Wissen über die Struktur der fixierten Form, sondern über die Form des unbestimmten Prozesses und seiner Funktionen her. Einem solchen Formalismus stellt Bachelard das Zeitprinzip der spezifischen Historizität zur Seite – nicht einen naiven Zeitbegriff, der die Teleologie des Prozesses garantieren würde, sondern einen Zeitverlauf im genauen Sinne eines kairologischen, rein kontingenten Rests, mit dem die formale chronologische Struktur durch eine Art Verschaltrelais verbunden blieb. Wie aus einer solchen Historizität hervorgeht, dass »der wissenschaftliche Geist […] seinem Wesen nach eine Korrektur von Wissen«194 darstellt, so kann dessen Struktur nicht die der Form (Ordnung) sein, sondern muss das »Bewusstsein seiner eigenen historischen Irrtümer«195 (Prozess) annehmen. Darüberhinaus kann das Wahre kann nur »als Korrektur eines alten Irrtums und die Erfahrung als Berichtigung einer gemeinsamen Täuschung«196 verstanden werden, die sich im Verfahren dessen äußern, was Bachelard Rekurrenz genannt hat. Experimental-Rekurrenz ist gestalterisches Handeln, das aus einem Prozess permanenten Reorientierens besteht. Während sie differen191 | Ebd. S. 104. 192 | Bachelard, Gaston: Der neue wissenschaftliche Geist. S. 15. 193 | Zur Potentialität des Umgangs mit Normen siehe aktuell: Menke, Christoph: Die Möglichkeit der Normen. Frankfurt a.M. 2015. 194 | Bachelard, Gaston: Der neue wissenschaftliche Geist. S. 171. 195 | Ebd. 196 | Ebd.
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tiell über sich hinaus schießen, binden sich die Experimentalwissenschaften vermittels ihrer historisch-strukturellen Kopplungen rekursiv in thematischer Form an ihre Fragestellungen zurück. Damit in diesem Sinne eine Geschichte des Experiments produziert werden kann, bedient sich das wissenschaftliche Denken einer »variablen Struktur«197. Wenn demnach Wissenschaft konzentrisch und differenzierend um ein minimales Motiv herum arbeitet, geht sie nicht mehr von der Identität oder Form denkender Subjekte aus, sondern von der zeitlichen Prozessstruktur der Iteration und Rekursion des Verfahrens. In der Diskussion um Derrida werden wir darauf zurückkommen. Zunächst gilt: Wenn Bachelards Methode der Wissenschaft abverlangt, sich durch ihr eigenes Vorgehen selbst in Frage zu stellen, erhält sie Legimitation nur durch den Verweis auf vorgängige Erwerbe bzw. Erfahrungen. Gerade in ihrem Ansetzen an und Umgang mit ihren prozessualen Dynamiken basieren Wissenskonstellationen so auf einem einerseits strukturell sich absichernden und andererseits formal sich öffnenden Verfahren der Transformation. Als Vorgehensweise einer nicht-teleologisch programmierten Emergenz zeigt sich die Wissensproduktion (als Experimentalzusammenhang) bei Bachelard in der Verwebung von Produzierendem und Produziertem unter Einfluss der Interaktion der am Produktionsprozess Teilnehmenden als komplexes dynamisches, man könnte sagen improvisatorisches Feld. Wobei in Betracht zu ziehen ist, dass die historischen Bedingungen des Produktionsfeldes und dessen ständige, mitunter plötzliche Modifikation aus der Feldstruktur und ihrer Konfrontation mit jenen situativ-materialen Bedingungen heraus generiert werden, die jene wiederum selbst mit beeinflusst. Erkenntnisgewinnung am Laufen, Struktur des epistemologischen Raums koppelbar zu halten, verlangt, die Bedingungen in ihrer Strukturiertheit i.e. Relationalität stets als historisch situiert offenzulegen.
Ko-Produktion des Wissens Was hier in Gang kommt, ist ein Verständnis von Wissensproduktion nicht als epistemologischer Akt Einzelner, sondern als kollektiver Vorgang. Dabei hält das Begründen eigener Kulturen die »effektive interpsychologische Arbeit«198 der epistemologischen Räume der »Wissenschaftsstädte« konstruktiv in Bewegung. Bachelards angewandter Rationalismus ordnet sich gewissermaßen als kooperatives Unternehmen, das aus seiner kulturellen Konstellation heraus eine Bühne bildet, in dem Neues auftreten kann und die Wissenschaftler sich »Zugang zu einer Emergenz«199 verschaffen können. D.h.: Weil epistemologi197 | Ebd., S. 173. 198 | Bachelard: Le rationalisme appliqué. Zit. n. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 47. 199 | Ebd. S. 133.
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sche Akte stets in Kulturen eingelagert sind, zeigen sich deren »Emergenzen als entschieden sozial verfasst«200. Das erklärt, wie das bei Polanyi auftauchende Problem allgemeiner Gültigkeit von implizitem Wissen gelöst werden könnte. Soziale Praxis legitimiert sich durch ihr Eingelagertsein in Ko-Produktionsverhältnisse des Wissens. Wissen ist immer gesellschaftlich, daher kommt ihm Allgemeingültigkeit a priori zu. In der kulturellen Einbindung subjektiver Erkenntnistätigkeit gründet für Bachelard die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt – es gibt für ihn kein Wissen, dass der Soziabilität entzogen wäre und ihr im Rang des Universellen gegenüberstünde. Bachelards Wissensform ist die Wissensform der sozialen Immanenz. Wissen ist nichts als das Netzwerk der Beziehungen zur sozialen Welt – am besten gefasst in der Bachelardschen Figur der »Wissenschaftsstadt« – und ihn ihr entäußert. Das Streben zu Wissen ist keine Behauptung auf Kosten des Realen, sondern das uneingeschränkte Akzeptieren der Tatsache, dass das Zur-Geltung-Bringen des Wissens nur im sozialen Raum gedeiht. Dabei fungieren die Kollektivierungen von Wissenschaftlergruppen innerhalb der »Wissenschaftsstadt« als Motor der Wissensproduktion, in deren Kontext die Spezialisierung als »Aktualisierung einer Allgemeinheit«201 vor allem deshalb dynamisierend wirkt, weil sie »am offensten für Substitution«202 ist. D.h., je enger ein Wissensgebiet begrenzt ist, je eher kann es für das Spiel mit und Arrangement von Alteration und Modulation (als wesentliche Grundmodi des rekursiven Arbeitens) geöffnet werden. Wir erhalten so die spezifische Linse eines epistemologischen Raumdenkens, welches die Verräumlichung des Wissens als mobile Struktur vertikal u. horizontal strukturell (an)ordnet und so für neue Verschaltungen bzw. Transpositionen von Methoden, Kategorien, Notationen und Klassifikationen freisetzt. Was hier geschieht, ist, dass wir dort, wo Wissen in Form sozialer und kultureller Ko-Produktion entsteht, relationale Topologie als basale Voraussetzung des performativen Umgangs mit Wissen anerkennen müssen.
Performanz des Wissens Dass Bachelard mit seinem Ansatz über eine ihre Objekte passiv empfangende Phänomenologie hinausgeht, wird besonders dort deutlich, wo er vom »epistemologischen Akt«203 spricht. Dieser Akt beschreibt die Form, in der Phänomene innerhalb der Geschichte des Wissens eine Verschiebung von der Wahrnehmung einer Erscheinung hin zu einem performativen Objekt des Wissens, 200 | Ebd., S. 48. 201 | Bachelard, Gaston: L’activité rationaliste des la physique contemporaine. Paris 1951, S. 11. 202 | Ebd. 203 | Ebd. S. 25.
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von einer Gegebenheit zu einer Fragestellung erfahren. Und hierin liegt die Performanz des Wissens begründet: Erst durch den epistemologischen Akt moduliert Alltagserfahrung zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Während sich dieser Akt als Spur in die Geschichte iterativ einschreibt, artikuliert er sich als mediale Praxis investigativer Verhandlung und Konfrontation mit Welt. Wissenschaftliches Denken bildet sich kraft einer »kognitivaffektive[n] Regulation«204 des Psychischen heraus und erzeugt so eine »Rationalisierung der Erfahrung«205 Wir haben es hier mit einem entsubstanzialisierten Realismus zu tun, der die Dinge des Wissens nicht vorfindet sondern realisiert. Bachelard konstatiert daher folgerichtig: »Die Phänomenotechnik erweitert die Phänomenologie. Ein Begriff wird wissenschaftlich in dem Maße, wie er technisch geworden ist, wie er von einer Realisierungstechnik begleitet wird.«206 Innerhalb dessen zeigt sich der performative Akt der Erkenntnisgewinnung als entscheidender Faktor der produktiven Arbeit wissenschaftlicher Akteure. Die Phänomenologie der Dinge geht zu einer »Phänomenologie der Arbeit«207 über, in deren Rahmen die epistemologischen Akte »unerwartete Impulse in die wissenschaftliche Entwicklung bringen«208 Wo er das Machen und Gemachtsein der epistemischen Objekte berücksichtigt, so deutet Bachelards angewandter Rationalismus Empirismus und Realismus nicht mehr als Gegensatzpaar. Das zu sagen heißt auch, dass wissenschaftliches Denken seiner eigenen Praxis gemäß konzipiert werden muss: »Früher oder später wird das wissenschaftliche Denken selbst zum Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung werden«209, antizipiert Bachelard in seinem Aufsatz Le nouvel esprit scientifique aus dem Jahr 1934. Wenn Denken und Praxis in einem permanenten Verweissystem gegenseitiger Übergriffe stehen, werden Wissen und Wissenschaft unscharf, unrein und durch Praxis verzerrt: »Anwendung ist stets Überschreitung«210. Das bedeutet indessen nicht, dass Bachelard alles Wissen als relativ erachtet. Entscheidend ist allein, Realität und Wissen als performativ hervorgebracht zu verstehen, womit eine Art Meta-Realismus eingeführt wird, ein »Realismus zweiter Ordnung, der eine Reaktion auf die gewohnte Realität darstellt und im Streit mit dem Unmittelbaren liegt; es handelt sich um einen Realismus realisierter, durch Erfahrung belehrter Vernunft.«211 204 | Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. S. 54. 205 | Ebd. S. 83. 206 | Bachelard, Gaston: La formation de l’esprit scientifique. Paris 1938, S. 61, zit.n. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 46. 207 | Bachelard : Noumène. S. 14. 208 | Bachelard : La formation. S. 25. 209 | Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist. S. 8. 210 | Ebd., S. 9. 211 | Ebd., S. 11.
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Nun mutet es widersprüchlich an, auf die Erfahrung der Vernunft abzuheben und gleichzeitig Unmittelbarkeit auszuschließen. Hans-Jörg Rheinberger hat mit Recht darauf hingewiesen, dass man an dieser Stelle keinem Kategorienfehler unterliegen darf. Bachelard lehnt Unmittelbares nicht ab, er will nur zeigen, dass das Unmittelbare, um Erfahrung erzeugen zu können, die sich wiederum als Wissen qualifizieren lässt, das Labor als Rahmung, als Bühne braucht: »[…] die Bachelardsche Realität zweiter Ordnung ist nicht als ein kantisches Ding an sich zu denken, sondern als ein Experimentalzusammenhang, in dessen Achsen die jeweils wirkenden und damit wirklichen Begriffe eingetragen sind.«212 Die Pointe liegt darin, dass Wissen und mithin Wissenschaft sich als Gestaltung präsentieren, deren Wirklichkeit aus optionalen experimentellen Realisationen ebenso besteht wie deren differentiell-seriell angelegte Einspeisung in den Experimentalprozess. Damit wird sowohl gegen einen Konventionalismus wie auch gegen den verstreuten Pluralismus einer pragmatischen Vorgehensweise polemisiert. Alternativ schlägt Bachelard einen »kohärenten Pluralismus«213 vor, dessen Arbeit in der permanenten differentiellen Auslotung seriell-rekurrenten Vortastens besteht und dessen Schlüsse immer nur temporäre formale Rahmungen bzw. Setzungen darstellen, die als solche kenntlich zu machen sind.
2.3.2 Ludwik Fleck. Denkkollektive und Denkstile Der als Immunologe ausgebildete Ludwik Fleck beginnt sein wissenschaftliches Wirken von 1920 bis 1935 an der medizinischen Fakultät der Universität zu Lwów. Zunächst noch auf das Terrain der Medizin beschränkt, ist bereits Flecks erste Veröffentlichung Über einige Merkmale des ärztlichen Denkens 214 aus dem Jahr 1927 von der Entfaltung eines ganz spezifischen Wissenschaftsverständnisses geprägt. Dessen grundlegender Ansatz besteht zunächst in dem Hinweis auf die wissenschaftshistorische Tendenz, die besonderen Eigenschaften gerade des medizinischen Vorgehens zu übersehen: »Der Gegenstand ärztlicher Erkenntnis selbst unterscheidet sich im Grundsatz vom Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Während der Naturforscher typische, normale Phänomene sucht, studiert der Arzt gerade die nicht typischen, nicht normalen, krankhaften Phänomene.«215 Gegenläufig zu den Naturwissenschaften, die auf die Formulierung allgemeiner Naturgesetze zielen, richtet die medizinische Taxonomie ihr Augenmerk auf und arbeitet mit Krankheits212 | Rheinberger, Hans-Jörg: Historische Epistemologie, Hamburg 2007, S. 40. 213 | Bachelard, Gaston: Le pluralisme cohérent de la chimie moderne. Paris 1932. 214 | Fleck, Ludwik: »Über einige Merkmale des wissenschaftlichen Denkens«. In: Ders.: Erfahrung und Tatsache. Frankfurt a.M. 1983. 215 | Ebd., S. 37.
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typen. Typentaxonomie kann jedoch nur funktionell sein, wenn sie mit Idealisierung bzw. Fiktion operiert. Die medizinische Bestimmung von Sachverhalten ist daher nie absolut gültig, sondern immer an bestimmte Perspektiven und Situationen gebunden. Mit dem Text Zur Krise der Wirklichkeit216, der 1929 in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften erscheint, radikalisiert Fleck seine These und weitet sie auf die Naturwissenschaften insgesamt aus. Er reagiert damit auf Kurt Riezlers ein Jahr zuvor an gleicher Stelle veröffentlichten Aufsatz Die Krise der ›Wirklichkeit’217. Riezler hatte dort ein Herabsinken der Naturgesetze auf nur noch statistischen Wert und ein Entfernen der Einzelwissenschaften von einer Einheitlichkeit durch stetige Ausdifferenzierung beklagt. Dem antwortet Fleck mit einer Infragestellung traditioneller Wissenschaft überhaupt, um im Anschluss eine erneuerte Erkenntnistheorie zu fordern, die sich nicht nur auf logische Varianten reduziert: »Wenn wir den Quellen der Erkenntnis nachforschen, begehen wir meist den Fehler, uns dieselben viel zu einfach vorzustellen.«218 In Absetzbewegung zu Rieslers Argumentation gibt Fleck Tradition, Erziehung und »Wirkung der Reihenfolge des Erkennens«219 als für die Erkenntnis konstitutive Faktoren Gewicht. Wie jene Faktoren »soziale Momente« konstituieren, so »muss jede Erkenntnistheorie mit Sozialem und Kunsthistorischem in Beziehung gebracht werden, insofern sie nicht in schweren Widerspruch mit der Geschichte der Erkenntnis und der täglichen Erfahrung der Lehrenden und Lernenden geraten will«220. Dass wir es bei der Krise der Wissenschaften mit einer Krise zu tun haben, die sich vor allem als eine soziologische manifestiert, ist am besten in Flecks Mahnung formuliert: »Man darf das soziale Moment der Entstehung der Erkenntnis nicht außer acht lassen.«221 Daraus folgt eine Relativierung allen Wissens, und zwar in Bezug auf seine soziale Verfasstheit: »Jedes Individuum hat […] als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit.«222 Es kann Erkenntnistheorie nicht von einem isolierten erkennenden Subjekt ausgehen, sondern hat, unter Einbezug überindividueller Strukturen, sich stets als Ko-Forschung 216 | Fleck, Ludwik: »Zur Krise der Wirklichkeit«. In: Ders.: Erfahrung und Tatsache. S. 37-48. 217 | Riezler, Kurt: »Die Krise der Wirklichkeit«. In: Die Naturwissenschaften, Heft 37/38, 1928, S. 706-712. 218 | Fleck: »Zur Krise der Wirklichkeit«. S. 46. 219 | Ebd. 220 | Ebd. 221 | Ebd., S. 43. 222 | Ebd.
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zu begreifen. Zudem ist eine cartesianische Objekt-Subjekt Relation, die äußerlich zu bestimmende Objekte eines An-Sich voraussetzt, nicht mehr haltbar: »Wo und wann wir immer anfangen, überall sind wir mittendrin.«223 Erkenntnis tritt nunmehr als kreativer, relationaler Prozess auf, der sich in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen entfaltet: »Erkennen ist weder passive Kontemplation, noch Erwerb einzig möglicher Einsicht im fertig Gegebenen. Es ist tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein Umformen und Umgeformtwerden, kurz ein Schaffen.«224 Wie Bachelard versteht auch Fleck Wissenschaft nicht als rein analytisch oder kontemplativ, sondern vor allem als mit Emergenzen verknüpfte, konstruktiv-produktive Syntheseleistung, aus der sich serielle »Erkenntnisreihen«225 herausbilden können – wissenschaftliche Tatsachen werden performativ in Gemeinschaft hergestellt. Daraus resultiert eine positive Einschätzung der Funktion des Sozialen innerhalb der Wissensproduktion: Erkenntnis ist umso gültiger, je mehr sie sich mit Wirklichkeit verknüpft, was heißt: je mehr sie sich vergemeinschaftet – ja Erkenntnis ist überhaupt nur unter sozialer Bedingtheit möglich.
Denkkollektiv Die Form des sozialen Erkenntnisprozesses ist für Fleck die des »Denkkollektivs«: Erkennen erhält »nur im Zusammenhange mit einem Denkkollektiv Bedeutung«226. Der Begriff Denkkollektiv impliziert keineswegs einen Determinismus, der das Wissen durch soziale Strukturen bestimmt sieht. Fleck definiert das Denkkollektiv vielmehr als ein relationales, »als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«227. Das Denkkollektiv fungiert »als Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturbestandes, also eines besonderen Denkstils«.228 Wenn Fleck Wissen als performativen und sozialen Prozess verortet, hebt er nicht nur die schöpferische Komponente kollektiver Autorschaft hervor, sondern auch die Transformation der Akteure selbst durch eben diesen Prozess. Das erhebt Wissenschaft zur »Kunst, eine demokratische Wirklichkeit zu formen und sich nach ihr zu richten – also von ihr umgeformt zu werden. Es ist eine ewige, vielmehr synthetische als analytische, nie fertig zu machende Arbeit, ewig, wie die Arbeit des Stromes, der sein Bett formt. Das ist 223 | Ebd., S. 47. 224 | Ebd. 225 | Ebd., S. 51. 226 | Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 1988 (1935), S. 59f. 227 | Ebd., S. 54f. 228 | Ebd.
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die wahre lebendige Naturwissenschaft. Das Schöpferisch-Synthetische und das Sozialhistorische an ihr darf man nicht vergessen.«229 Wissenschaft kommt dort eine spezifische Kultur der Wissensproduktion zu, wo sie sich demokratisch und soziabel gestaltet. Als kollektive Arbeit lebt sie von ihrer Unbestimmtheit und lässt sich als Praxis nicht auf mechanistische Funktionalität reduzieren. Man darf sagen, dass Fleck mit dem Begriff des Denkkollektivs einen relationalen epistemischen Raum beschreibt, der nicht in der binären Beziehung von Subjekt und Objekt aufgeht, sondern selbst konstitutives Element der Wissensproduktion ist. Erkennen zeigt sich dann als »dreistellige Relation, die Beziehung von erkennendem Individuum und Erkenntnisgegenstand auf einen Wissensbestand«230. Wissen besteht aus kulturellen Verläufen, in denen sich der Wissensbestand artikuliert. Hier hat Stadtforschung zu interessieren, dass die Relationalität des Denkkollektivs die Tatsachenproduktion nicht bedingt und begrenzt. Vielmehr ermöglicht das Entstehen jener den konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit sozialer Bedingungen: »So entsteht die Tatsache: zuerst ein Widerstandsaviso im chaotischen anfänglichen Denken, dann ein bestimmter Denkzwang, schließlich eine unmittelbar wahrzunehmende Gestalt. Und sie ist immer ein Ergebnis denkgeschichtlicher Zusammenhänge, immer ein Ergebnis eines bestimmten Denkstiles.«231 Es handelt sich hier um ein Wissen, das nicht auf eine wie auch immer geordnete Natur rekurriert, sondern auf eine Unbestimmtheit materialer Konditionen und Konjunkturen. Der Umgang mit dieser Unbestimmtheit beinhaltet unterschiedliche Phasen. Vielleicht entsteht zuerst ein Widerstand, oder eine Fehlstelle taucht auf. Bald formiert sich diese zu einer Art Zwang des konzeptionellen Weiterverfolgens oder Behauptens, um dann in etwas zu münden, das der Wahrnehmbarkeit geöffnet ist: die Gestalt. Was hier aber anders ist als bei der Gestalttheorie, ist, dass Fleck nicht auf die Qualitäten der Gestalt und deren Subjektrelation abhebt, sondern auf das Verhältnis, welches die Gestalt zum Denkkollektiv unterhalten muss. Das erbringt den Nachweis darüber, wie sich anhand der relationalen Praxis des Denkkollektivs jeglicher Relativismusvorwurf entkräften lässt. Wahrheit ist für Fleck weder relativ noch rein subjektiv bestimmt, noch stellt sie eine bloße Konvention dar, sie ereignet sich vielmehr »im historischen Längsschnitt: denkgeschichtliches Ereignis, im momentanem Zusammenhange: stilgemäßer Denkzwang«232. Die Tatsache, dass Wahrheit sehr wohl determiniert sein kann, äußert sich nicht als Universalismus, sondern als Denkzwang des Denkkollektivs. So verfügen etwa zwei Personen eines Denkkollektivs über die gleiche wahr/falsche Haltung zu einem Gedanken bzw. 229 | Fleck: »Zur Krise der Wirklichkeit«. S. 46. 230 | Rheinberger: Historische Epistemologie. S. 53. 231 | Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. S. 124. 232 | Ebd., S. 131.
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beobachteten Sachverhalt. Gehören sie jedoch unterschiedlichen Denkkollektiven an, »so ist es eben nicht [k.d.V.] derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird.«233 Denkkollektive können sowohl aus Gruppen von Wissenschaftlern bestehen, die ein gemeinsames Experiment projektieren, als auch aus kulturellen Strukturen (wie z.B. der Modewelt oder einer Religionsgemeinschaft.)234 In formaler Hinsicht versteht Fleck Denkkollektive als strukturell relational und formal offen. Die Form des Denkkollektivs ist dann gegeben, wenn »zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen«235. Denkkollektive erreichen ihre nächste formale Ebene, wenn solche Transfers »Beharrungstendenzen« zeigen, Überzeugungen und Handlungsmuster von den Mitgliedern des Denkkollektivs strukturell sich verstetigen, also zum Stil bzw. Denkstil aufsteigen. Dafür, dass es trotz fixierter Strukturen dennoch zu Transformationen kommt, sorgt wiederum das Kollektiv selbst, das in der Bewegung seiner Transferleistung »eine Verschiebung oder Veränderung der Denkwerte zur Folge«236 haben kann. In dem Kontext spielen Laienöffentlichkeit und Experten zusammen, »die spezifische öffentliche Meinung und die Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück«237.
Doppelbewegung In der 1935 erschienen Monographie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache hebt Fleck schließlich Erfahrung als wesentlichen Aspekt für den Auf bau einer Erkenntnistheorie heraus. Fleck meint damit das spezifische Erleben und Verarbeiten alltäglich praktizierten und lehrenden, sich auf historische und komparative Untersuchungen berufenden Forschens. Das sagt Fleck als Praktiker, der selbst die Labortätigkeit kennt: Für ihn unterscheidet sich die »lebendige Praxis«238 des Experimentierens deutlich von der »papiernen offiziellen Gestalt«239 der Forschungsarbeit. Angesprochen ist damit einerseits die Praxis des Labors, die sich jeglicher eindeutigen Logik verwehrt und die man daher nur üben und »aus keinem Buche kennenlernen«240 kann. Andererseits sind wir mit den den Experimenten nachgeschalteten Forschungsberichten konfrontiert, eine Darstellungsform der Labortätigkeit, die nichts von deren Unbestimmtheit enthält. Das bleibt nicht die einzige Hürde auf dem 233 | Ebd. 234 | Ebd., S. 141. 235 | Ebd., S. 135. 236 | Ebd., S. 150. 237 | Ebd., S. 130. 238 | Ebd., S. 50. 239 | Ebd. 240 | Ebd.,
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Weg zum Denkstil. Auch die Methode, Wissenschaftsgeschichte für die Gewinnung grundsätzlicher Kategorien zu nutzen, stellt sich als problembehaftet heraus. Denn auf Grund ihrer Heterogenität erweist sich Geschichte als schwer greif bar: »Es ist sehr schwer, wenn überhaupt möglich, die Geschichte eines Wissensgebietes richtig zu beschreiben […] Es ist […] als ob wir ein erregtes Gespräch, wo mehrere Personen gleichzeitig miteinander und durcheinander sprachen, und es doch einen gemeinsamen herauskristallisierenden Gedanken gab, dem natürlichen Verlaufe getreu, wiedergeben wollten.«241 Was Stadtforschung von Fleck erfährt, ist, dass Wissenschaft – entgegen ihrer Selbstdarstellung – weit entfernt ist, rein teleologisch oder auf eine absolute Wirklichkeit hin ausgerichtet zu sein. Vielmehr formt sie sich als offener Prozess, dessen Richtung aus den rekursiven Schritten der Forschungspraxis resultiert, die ihrerseits eine eigene Historizität entfalten: »Wie alles sozial Bedingte hat das Erkannte sein eigenes vom Individuum unmittelbar unabhängiges Leben, seine Eigenschaften, seinen zeitlichen und örtlichen Stil, folglich sein eigenes Schicksal.«242 An den Aspekten Erfahrung und Geschichte vollzieht der Prozess des Wissens somit eine doppelte Bewegung. Wie Wissenschaft als Vorgang nie abgeschlossen ist – eine »nie fertig zu machende Arbeit, ewig, wie die Arbeit eines Stromes, der sein Bett formt«243 – so entspringen jeweils besondere Denkstile dem Zusammenspiel von Erfahrung, spezifischer Historizität und Lokalität.
Denkstil Wie aber ist der Begriff des Denkstils näher zu bestimmen? Statt linear auf einem objektiven Logizismus aufgebaut zu sein, richtet sich Flecks Konzeption auf die praktische Fähigkeit und »Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen.«244 Auch für Fleck gilt: eine wissenschaftliche Tatsache stellt keine fixierte Wirklichkeit dar, die irgendwo aufzufinden wäre, sondern entfaltet sich in Bezug auf eine Ästhetik, einen Stil der Forschung. Stil ist dabei die bestimmte Weise forschenden Handelns; eines praktischen Verfahrens, das zwischen der gerichteten und der ungerichteten Bewegung zu changieren weiß. So weisen beispielsweise in der Stadtforschung nicht allein die Instrumentensets, sondern etwa auch der Sprachduktus, in der die Stadtforschenden die Darstellung ihrer Analyse zu fassen suchen, Spuren des jeweilig eigenen Denkstils auf. Etwa die Forschenden des UDs sprechen, wenn es um Darstellungen von Stadtsituationen geht, weniger von Plänen, sondern von Diagram241 | Ebd., S. 23. 242 | Fleck: »Zur Krise der Wirklichkeit«. S. 48. 243 | Ebd., S. 47. 244 | Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. S. 131.
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men oder Notationen, deren Elemente zu ›verschalten‹ sind. Wenn dabei, wie es bei dem Studiengang UD an der HafenCity Universität Hamburg der Fall ist, mit sprachlichen Ausdrücken wie ›Auseinandernehmen‹, ›Mixer reinhalten‹, ›Tiefenbohrung‹ hantiert wird, trägt dies wiederum zum Denkstil bei, kreiert einen Erfahrungsraum, der eine neue Form praktischer Rationalität ebenso in Gang setzt und hält wie neue Formen des kombinatorischen Umgangs bei dem Entwerfen von Forschungsdesigns und Aufgabenstellungen. Derlei spezifische Sprachregelungen und -eigenheiten fließen in die Formierung des Wissens ein und beeinflussen zudem die Kriterien bei der Bewertung und Weiterverkopplung von Forschungsresultaten. Denkstil ist also auch eine Haltung: eine Art Ethik als Seinsweise, die wiederum jene Vektoren hervorruft, die Aufschluss darüber geben, was im Bereich des Denkkollektivs als wissenschaftlicher Gedanke, evidentes Urteil oder als angemessene Methode und Wahrheit gilt. Wahrheit ist danach nicht etwas, das bereits gegeben wäre und nur gefunden, erkannt und repräsentiert werden müsste. Vielmehr emergiert Wahrheit mit dem Perspektivismus des Stils und lässt sich nur durch eine, dem Stil gemäße, Bearbeitung bestimmen: »stilgemäße Auflösung, nur singular möglich, heißt Wahrheit«245. Was also im Denkstil geschieht ist die Formung kollektiver Gedankentransfers, welche durch die Balance von Transformation und Denkzwang in Bewegung gehalten wird. Deren strukturelle Beharrungstendenz weist fünf Strategien auf: Erstens kann es passieren, dass Widersprüche gegen die Grundansicht des Kollektivs übersehen bzw. ignoriert und so die Suche nach und das Anerkennen und Aufdecken von konträren Evidenzen vermieden werden. Der daraus hervorgehende kollektive Denkzwang sorgt zweitens dafür, dass das Denkkollektiv im Fall des Erscheines sich widersprechender Evidenzen nicht reagiert. Zum Dritten kann es auf Grund des Denkzwanges geschehen, dass ein Forscher des Kollektivs diesem widersprechende Beobachtungen zurückhält. Viertens besteht die Möglichkeit, dass konträre Evidenz zu groß, der clash zum Bestehenden so stark wird, dass dem Kollektiv nichts anderes übrig bleibt, als den neuen Fakt in sein Denksystem zu integrieren. Dieser Vorgang geht nicht ohne Kraft-, Reibungs- und Energieverlust für das Kollektiv ab. Als fünftes Strategiemerkmal führt Fleck jene Erdichtungen des Denkstils an, welche sich dem jeweils dominierenden Meinungshorizont anpassen. Entgegen der herkömmlichen Ansicht, Transformation des Kollektivs komme durch Innovation zustande, verortet sie Fleck im Unabgegoltenen der Geschichte: »Wahrscheinlich bilden sich nur sehr wenige vollkommen neue Begriffe ohne irgendeine Beziehung zu früheren Denkstilen. Nur ihre Färbung ändert sich zumeist, wie der wissenschaftliche Begriff der Kraft dem alltäglichen Kraftbegriff oder der neue 245 | Ebd.
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Syphilisbegriff dem Mystischen entstammt.«246 Stadtforschung lernt daraus, dass auch dann, wenn unterschiedliche Denkstile aufeinander Bezug nehmen, aus den jeweiligen Stilen völlig konträre Stadtbilder entstehen können, die parallel Gültigkeit beanspruchen. Davon, dass dies weniger Ausnahme denn Regel ist, zeugen jene Diskussionsrunden, wie wir sie auf zahlreichen Symposien zum Thema Stadt finden. Dort liegt die Schwierigkeit der Verständigung weniger im disziplinären Hintergrund, sondern eher in der Unterschiedlichkeit der Denkstile begriffen. Wo die einen von der »Europäischen Stadt« sprechen, meinen die anderen die »Informelle Stadt«, während wiederum andere die »Smart City« im Sinn haben usw.; jedes dieser unterschiedlichen Stadtbilder setzt wiederum unterschiedliche Denkstile voraus. Wie der Begriff Stil bereits impliziert, handelt der Denkstil (ähnlich der Bachelardschen Konzeption des Wissensentwurfs) in formaler Hinsicht von der typisierten Gestaltung des Wissens. Das zu sagen heißt, dass sich der Denkstil nicht auf die Verfertigung konventioneller, routinemäßiger Handlungen und Strukturen reduzieren lässt. Vielmehr stellt sich als grundlegend heraus, dass sich der Stil performativ als Tätigkeit artikuliert, die geübt werden will. Flecks Reflexionen darüber, dass Denkstile nicht aus purem Konstruktivismus resultieren, sondern auf der Materialität des forschenden Handelns beruhen, dem, »was während der eigentlichen Erkenntnisarbeit«247 geschieht – d.h. Forschen funktioniert als Klärungsarbeit, denn: »wäre ein Forschungsexperiment klar, so wäre es überhaupt unnötig: denn um ein Experiment klar zu gestalten, muss man sein Ergebnis von vornherein wissen, sonst kann man es nicht begrenzen und zielbewusst machen. Je reicher an Unbekanntem, je neuer ein Forschungsgebiet ist, umso unklarer sind die Experimente.«248 – erhalten in der heutigen Zeit, wo klar wird, dass sich etwa die Richtung eines Stadtforschens aus der Praxis und dem ihr inhärenten improvisatorischen Können ergibt, neue Aktualität. Dergleichen improvisatorisches Können der Forschung konfrontiert uns unmittelbar mit den Denkzwängen in ihrer affektiven Erscheinungsform und mit der Resonanz einer »richtungsangebenden Stimmung«249. Aus eben solchem Modell des Denkstils wird Rheinberger später seine Begrifflichkeit des »Experimentalsystems« ableiten, dessen Vektoren sich, ebenso wie die des Denkstils, als permanent praktisch und technisch kunstvoll verschaltet prononcieren: sie »existieren in Gestalt materieller Verdrahtungen, die dem Forscher, der sich in ihnen zu bewegen und der mit ihnen umzugehen gelernt hat, teilweise gar nicht unmittelbar bewusst sind. Sie existieren als Laborwirklichkeit.«250 246 | Ebd., S. 168. 247 | Ebd., S. 118. 248 | Ebd., S. 114. 249 | Ebd., S. 105. 250 | Rheinberger: Historische Epistemologie, S. 53.
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2.3.3 Hans-Jörg Rheinberger. Performative Konjunkturen des Wissens Spulen wir in die Gegenwart vor. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger ist einer der wichtigsten Vertreter dessen, was man den practical turn in den Wissenschaften nennt. Aus diesem turn ging mit dem Komplex der Science-in-the-Making jene Wissenschaftsbewegung hervor, die die Theorie in der Praxis des Experimentierens selbst verortet. Rheinberger, der Philosophie und Biologie studierte und habilitierter Molekularbiologe ist, wurde insbesondere durch seine Theorie des epistemischen Dings und der Experimentalsysteme bekannt. Er hat wichtige Arbeiten zur Geschichte der Molekularbiologie verfasst. Sein Hauptinteresse gilt einer Epistemologie und Geschichte des Experiments, in deren Mittelpunkt der Begriff des Experimentalsystems steht und sich an vielen Stellen auf Fleck und Bachelard bezieht. Begriffe wie Kontingenz, Unbestimmtheit, Spur, Ding wurden durch ihn in der Wissenschaftsforschung produktiv gemacht. In seiner Arbeit zeigen sich Fragestellungen zur Produktion von wissenschaftlichem Wissen und techno-szientifischer Objekte, die sowohl den Bedeutungs- wie auch den Handlungsraum, in welchem sich Wissensdinge entfalten, zu berücksichtigen sucht. Seine Beschreibungen technologischer Bedingungen des Experiments fokussieren auf ein Fragen nach dem Technisch-Medialen und beinhalten nicht nur wissenschaftsphilosophische, sondern auch mediengeschichtliche Erzählungen. Herzstück seiner Arbeit ist die Theorie des epistemischen Dings, in der Experimentalsysteme als Orte der Emergenz beschrieben werden. Diese Theorie kündet von der Unhintergehbarkeit technologischer Bedingungen. Nicht nur ist epistemische Repräsentation in der Verschiebung von Phänomenographie zur Bachelardschen Phänomenotechnik neu zu denken, auch historisch ontologische Annahmen darüber, was Dingproduktion und was Ding heute heißen soll, werden neu diskutiert. Darin ist der Zugang zur Wissenschaft zuallererst als Experimentalsystemzugang zu beschreiben: »Ein Forschungsprozess ist ein Vorgang, in dem sich Dinge ereignen können, die in der Regel weder im Rahmen eines theoretischen Systems vorherzusagen sind, noch zwangsläufig aus dem praktischen System des Experimentierens hervorzugehen brauchen. Dementsprechend ist die Gestaltung von Experimenten nicht notwendig durch Theorie determiniert, aber auch nicht notwendig durch Experimente beschränkt. »Dieses wechselseitige Nicht-Zusammenpassen ist einer der wesentlichen Faktoren, die den Experimentalprozess zu einem Forschungsvorgang machen.«251 Vorausgreifend lässt sich sagen, dass sich hier für die Stadtforschung drei Aspekte artikulieren: a) ein ontologisches Modell zwischen Sub251 | Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt a.M. 2006, S. 56.
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jekt und Objekt, das nicht mehr Arbeit und Werk, sondern die Maschinerie als Konzeption für Stadt bereithält, b) ein Neuentwurf des Milieus der Stadtkonstitution und Stadttransformation, der auch die gestalerisch forschende Sicht auf praktische Alltäglichkeit der Nutzung und des Gebrauchs richtet, c) ein Mitführen von einem Fragen- und Problembestand, der für reine erkenntnistheoretische Beschreibungen der Stadt bisher als nicht relevant erschien, und d) die Aussicht auf die Transposition der Denkfigur ›epistemisches Ding‹ auf den Maßstab Stadt, um so den konzeptionellen Filter des epistemischen Handlungszusammenhangs zu erhalten. Der von Rheinberger aufgestellte Dreischritt der »epistemischen Dinge«, der »Experimentalsysteme« und der daraus destillierten, mit materiellen Assemblagen operierenden »Experimentalkulturen« liefern ein neues Feld der Kontextualisierung zeitgenössischer Forschung, deren Grundlage der Rückbezug auf die historische Situiertheit von Wissen bildet: »Der Geschichtsschreibung und insbesondere auch der Wissenschaftsgeschichte ist aufgegeben, den lokalen Bedingungen [von] Genealogien auf den Grund zu kommen.«252 Diesem Programm entspringt schließlich das Konzept der historischen Experimentalsysteme, sie »sind die eigentlichen Arbeitseinheiten der gegenwärtigen Forschung. In ihnen sind Wissensobjekte und die technischen Bedingungen ihrer Hervorbringung unauflösbar miteinander verknüpft. Sie sind zugleich lokale, individuelle, soziale, institutionelle, technische, instrumentelle und, vor allem, epistemische Einheiten.«253 Man darf die Mutmaßung wagen, dass Experimentalsysteme den Rahmen einer Versuchanordnung stellen, deren Produktivität geradezu auf Unbestimmtheit angewiesen ist. Die Experimentalsysteme müssen also so organisiert sein, »dass die Erzeugung von Differenzen zur reproduktiven Triebkraft der ganzen Experimentalmaschinerie wird«254. Sie sind jene »kleinste funktionelle Einheiten der Forschung«255, deren Aufgabe es ist, einen performativen Repräsentationsraum als eine Art Bühne des Experiments zu konstituieren, auf der epistemische Dinge auftreten können. Mit der Bühne hat es alledings eine besondere Bewandtnis: Es verhält es sich keineswegs so, dass dort Stücke aufgeführt würden, die es bereits gibt. Vielmehr artikuliert sich das Experimentalsystem als technologischer Rahmen, der so gebaut ist, dass in ihm improvisatorisch dasjenige Wissen produziert werden kann, das vorher noch nicht verfügbar war. Angesichts dieser Situation definiert François Jacob Experimentalsystem auch als »eine Maschine zur Herstellung von Zu-
252 | Rheinberger, Hans-Jörg: Iterationen. Berlin 2005, S. 15f. 253 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 8. 254 | Ebd., S. 9. 255 | Ebd., S. 25.
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kunft«256. Nichts aber führt von dem hier zur Beschreibung des Experiments herangezogenen Begriff des Systems weiter weg als die Systemtheorie. Das System rückt vielmehr in den Horizont eines Integrals experimenteller Anordnungen, die unterschiedlichster Natur sein können. Was also hier mit System gemeint ist, ist eine Art lose Kohärenz oder Kopplung, synchron in Bezug auf materiale Elemente und zeitliche Dauer. Hier findet eine Drehung statt: Im Unterschied zu den Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts, die den Systembegriff vor allem auf ein Ideensystem anwendeten, innerhalb dessen Experimente nur als Falsifikationen eingeschoben waren, bestimmen heute Experimente selbst durch die ihnen eigenen systemartigen Verschaltung die Forschungszusammenhänge. Experimentelles Denken zeigt sich hier als ein Denken, das sich mit dem Handeln mischt, das sich Konstruktionen überlegt, wie die Unbestimmtheit experimentellen Handelns anerkannt und konstruktiv gemacht werden kann, als »eine durch instrumentelle Randbedingungen ausgerichtete Bewegung, in der das Räsonnieren gewissermaßen ins Spiel der materiellen Entitäten gerissen wird«257. Weit davon entfernt, Antworten auf unhinterfragt gesetzte ›Probleme‹ zu geben, prononciert sich am Experimentalsystem überhaupt erst jene Form, welche ermöglicht, die Fragen zu formulieren, die man beantworten möchte. Und genau an diesem Scharnier hat die Verschränkung von Gestaltung und Forschung ihren Ort. Womit wir es bei dem Experimentalsystem zu tun haben, ist ein gestaltetes Setting258, das Fragen materialisieren kann. Darin bekundet sich eine Wissensform, die, als Bedingung der Möglichkeit vormals unverfügbarem Wissens, praktisch sich konstituiert. Das gibt dem Verständnis des Experiments eine neue Wendung: Wissen bleibt darin nicht entbehrlich, folgt aber nicht dem gängigen Muster Beobachter-Gegenstand-Erkenntnis, welches besagt, dass Experimente vorgängiges Wissen aufdecken. Experimente produzieren »Wissen, das wir noch nicht haben«259. Aus der Verschiebung vom Objekt Experiment hin zum Handeln des Experimentierens (Rheinberger spricht von einem Ertasten oder Tappen)260 geht also irgendwie eine Wissensform hervor, die Unbestimmtheit zur Produktion von Wissen instrumentalisieren kann. Derlei Perspektive unterminiert das idealisierte Bild, welches wissenschaftliche Experimente als Bestätigung oder Widerlegung klar definierter Hypothesen zeichnet. Rheinberger demonstriert im Gegenteil, dass und wie der Forschungsprozess besonders von Kontingenzen, Unbestimmtheiten und Unordnung in Bewegung gehalten wird. 256 | Zit.n. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment–Differenz–Schrift. S. 25. 257 | Ebd,. S. 22. 258 | Zum Begriff des Settings im Konnex von Wissensformation vgl. Girmes, Renate: Der Wert der Bildung. Paderborn 2012. 259 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrift. S. 25. 260 | Ebd., S. 30.
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Gegenläufig zu Theorien wie etwa Karl Poppers Logik der Forschung 261 macht Rheinberger die Praxis des Experimentierens für das Gelingen der Forschung verantwortlich (nach dem Motto des Praktikers: »Wer selbst einmal im Labor gearbeitet hat, weiß …«) und widerlegt so die These, dass Theorie den Experimentierenden den Weg weise. Es verhält sich eher umgekehrt: das Ungeplante und Unplanbare wird zum Motor unerwarteter Resultate, die wiederum neue Theorien provozieren. Von diesem Ausgangspunkt wird in darstellungstheoretischer Perspektive rückblickend klar, wie die traditionelle Wissenschaft mit dem gewöhnlich ans Experimentieren anschließenden Naturalisierungsprozess die Geschichte verkehrt. Wie sie alle Finalität und Linearität des Experiments retrospektiv konstruiert, so schreibt sie den Experimentalverläufen anhand von Post-Narrativen eine vermeintlich teleologische Logik der Forschung zu. Dagegen zielt Rheinberger auf die Theorie einer experimentellen ›Bricolagetechnik‹ ab, einer Technik, die es den Wissenschaftlern ermöglicht, unter Kontingenz konstruktiv zu agieren. Rheinbergers Vorstellung von einer Forschung die nicht von Experimenten als homogenen, unter kalkulierten Bedingungen ablaufenden Verfahren zur Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen unterhalten wird, impliziert eine radikal neue Vorstellung von Forschung – eine Forschung, die nicht mehr auf einen unproblematisierten Repräsentationsbegriff zurückgreift. Das Primat der Theorie über das Experiment kommt dabei ebenso zum Erliegen wie das Primat der Aussagen von Theorien über die Ergebnisse von Experimenten. Es sind nicht die vorgängigen theoretischen Begriffe, die abbilden, was im nachfolgenden Experiment bestätigt wird, sondern es verhält sich gerade umgekehrt: Die materialen Spuren des Experiments, der Notationen, Zeichnungen, Diagramme markieren den Ausgangspunkt jener neuen Repräsentationsvorgänge, deren Spurenergebnisse von nun an auch zum Bereich der epistemische Dinge zu rechnen sind. Allerdings sind Spurenergebnisse epistemische Dinge in einer bestimmten Modalität. Eine solche Modalität äußert sich als Materialität experimenteller Interpretation, welche dem Experiment nachgängig ist – Spuren manifestieren ein materiales, performatives embodiement bestimmter Auftritte des epistemischen Dinges in im Labor handhabbarer Form. Genau deshalb muss mit den Spuren, so lässt sich vorausgreifend sagen, auf eine bestimmte Art und Weise, nämlich diagrammatisch, kataloghaft, seriell und nicht formal-logisch umgegangen werden (s. Kapitel Diagrammatik). Das Beispiel jener Protokollnotizen, die der Botaniker Carl Erich Correns (1864-1933) im Zuge seiner genetischen Hybridisierungsexperimente erstellt, gibt Rheinberger die Logik des forschenden Um-Schreibeprozesses wieder. Es zeichnet das Bild eines Forschers, »der anfangs eine bestimmte Frage lösen 261 | Popper, Karl: Logik der Forschung. Tübingen 1984.
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will, der sodann mit seinem experimentellen Material zu kämpfen hat und der schließlich, im Zuge seiner Experimente, zu einer epistemischen Ordnung gelangt, in der bisher insignifikante Beobachtungen und Überlegungen plötzlich Bedeutung erlangen«262 . Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass sich zentrale Wendepunkte des Forschungsprozesses, seine immanente Teleologie, historisch gerade nicht nachvollziehen lassen. Im Gegenteil legen die von Correns vorgenommenen »individualisierende[n]« 263 Notationen besonders dort, wo sie Einblick in die rekurrente, immer wieder durch minimale Verschiebungen und materielle Distinktionen verzögerte und umgeleitete Forschungsarbeit geben, beredtes Zeugnis davon ab, dass man hier vielmehr von einem Forschungshorizont sprechen sollte. Die Spuren des Experimentierens liegen als »Beobachtungen und Ergebnislisten [vor], die auf losen, grob nach den Versuchsobjekten und der Abfolge der Experimente geordneten Blättern notiert wurden«264 . Im Nachverfolgen der Notationen kann Rheinberger den Auf bau des Corrensschen Experimentalsystems jedoch wieder dahingehend rekonstruieren, dass offenbar wird, wie Correns »anfängliche Forschungsfrage nicht nur abgewandelt, sondern gestrichen und ersetzt wurde«265. Wenn Rheinberger Correns Untersuchungen beschreibt, dann besteht der wichtige Wandel darin, dass er entdeckt, dass Forschungsnotationen weder als passive Repräsentationen zu interpretieren noch auf relevante statistische Daten zu reduzieren sind. Stadttdessen entpuppen sie sich (von Correns ergänzt durch das materiale Protokoll der in Schachteln auf bewahrten Samen) als »strukturell auf Bedeutungszuwachs, Verdichtung angelegt«266. Es ist diese spezifische Anlage, die es Correns ermöglicht, zu einem späteren Zeitpunkt die Richtung des Experiments und dessen Interpretation vollständig zu ändern. Das Umdenken setzte wahrscheinlich mit der durch die Ergebnisse seiner eigenen Experimente hervorgerufenen Reorganisation der Lektüre von Mendels Vererbungslehre ein. Sofern seine individualisierenden, subjektiven Notationen Correns zu dem Zeitpunkt nicht abverlangten, die Experimente nun noch einmal neu vorzunehmen, sondern nur, die Protokolle zu reorganisieren – »Was Correns wegen seiner Fixierung auf die Xenien vorher nicht möglich gewesen war – nämlich schon früher auf die Transmissionsverhältnisse von Merkmalen zu achten bzw. Mendels Text adäquat zu lesen […], das erlaubten ihm jetzt seine sämtlichen Protokolle«267 – sollte man hier von einer diagrammatischen Anlage sprechen. Auffällig ist das Formverständnis, das hier in Gang kommt. Es 262 | Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. S. 75f. 263 | Ebd., S. 356. 264 | Ebd., S. 76. 265 | Ebd., S. 355. 266 | Ebd., S. 356. 267 | Ebd., S. 358.
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verlangt uns ab, Experimente neu einzuordnen. Anstatt sich aus der A-prioriForm zu ergeben, folgt die Logik der epistemischen Dinge der relationalen Anordnung eines diagrammatisch sich ausgestaltenden Repräsentationsraums. Angesichts dessen müssen wir die Anordnung graphematischer Spuren oder Grapheme und die Möglichkeit ihres relationalen Verschiebens als Repräsentationsraum ernstnehmen. Wenn es stimmt, dass das Wissen aus der Produktion des epistemischen Raumes erst erwächst und nicht umgekehrt, dann hat Forschung auch das Erforschen ihrer eigenen Spuren zum Gegenstand zu machen, besonders dort, wo sie aus kataloghaftem, seriellem, diagrammatischem Arbeiten mit den Graphemen des Experiments besteht, aus denen sich das experimentale »Schreibspiel«268 zusammensetzt. Am kontextuellen und relationalen Schreibspiel experimentaler und individualisierender Notationen kann dasjenige für die Wissensproduktion nutzbar gemacht werden, das Rheinberger Konjunkturen nennt. Die Rede von Konjunktur geht hierbei von der ontologischen Annahme aus, dass der Verlauf, in dem epistemische Dinge performativ auftreten, darüber entscheidet, was sie zunächst sind. Der Verlauf verfügt über Konjunkturen, die sich im Schreibspiel der differentiellen Reproduktion des Experimentalsystems als »Auftreten einer außergewöhnlichen Konstellation«269 entfalten. Eine Konjunktur »kann dem ganzen Experimentalsystem eine neue Richtung weisen, und vor allem kann sie Nahtstellen zwischen verschiedenen Experimentalsystemen ausbilden«270. Mit dieser Technik vermag dasjenige, was zu einem Zeitpunkt x im Experimentalsystem als Unordnung oder als dysfunktional interpretiert wurde, zu einem Zeitpunkt y plötzlich als wesentlich erscheinen und zum zentralen Gegenstand aufzusteigen – gewissermaßen zur Konjunktur eines neuen Wissens, eines neuen epistemischen Dings, das im Anschluss wiederum neue Forschungsprogramme und neue Experimentalsysteme hervorruft. Wie das Experimentalsystem als Rahmung zum konstruktiven Umgang mit Unordnung durch seine Konjunkturen neue Anschlussoptionen schafft, so prononciert es sich als Forschungs-Attraktor. Experimente produzieren wissenschaftliche Tatsachen unter Anwendung von Apparaturen, Symbolsystemen und Aufzeichnungstechniken. Als institutionelle Rahmungen konstruieren sie epistemische Dinge. Wenn aber das Wissenschaftsreale als ein Raum von Spuren, als Produktion von Inskriptionen emergiert, stellt sich eine neue Frage: »Was geht also vor, wenn der Experimentator ein Chromatogramm produziert, ein DNA-Sequenzgel, eine Reihe von Reagenzgläsern, denen Rundfilter zugeordnet werden, mit denen wiederum Zähleinheiten radioaktiven Zerfalls korreliert werden können? Alle diese ›epistemischen Dinge‹ sind die 268 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrift. S. 30. 269 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 16. 270 | Ebd.
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Objekte der experimentellen Interpretation. Sie verkörpern bestimmte Seiten des Wissenschaftsobjekts in faßbarer, im Labor handhabbarer Form. Es ist die Anordnung dieser graphematischen Spuren oder Grapheme und die Möglichkeit ihres Herumschiebens im Repräsentationsraum, die das experimentelle Schreibspiel zusammensetzen.«271 In ontologischer Hinsicht ist weiterhin bedeutsam, dass Rheinberger innerhalb seiner Wissenschaftskonzeption zwischen epistemischen Dingen und technischen Objekten unterscheidet. Epistemische Dinge präsentieren sich hier als jene Dinge, »denen die Anstrengung des Wissens gilt«272 . Da sie sowohl materiell als auch konzeptionell, als »Strukturen, Reaktionen, Funktionen«273 im und als Repräsentationsraum erscheinen können, stellen sie hybride Gebilde vor: Sie sind »noch Objekt und schon Zeichen, noch Zeichen und schon Objekt«274. Obwohl weit davon entfernt, bereits begrifflich fixiert zu sein, können epistemische Dinge – auf Grund ihrer Materialität – bereits als strukturelle Spuren befragt, in sequentielle Serien überführt und somit als ein Gefüge von materiellen Spuren in einem historisch lokalisierbaren Repräsentationsraum definiert werden. Die Repräsentationsräume wiederum hängen von den spezifischen technischen und instrumentellen Bedingungen jeweiliger Systeme ab und »konstituieren dabei zugleich eine bestimmte Form der Iteration«275. Das bestätigt, dass Repräsentationsräume den Spurengefügen nicht vorgängig sind, vielmehr produzieren diese erst den Raum der Repräsentation. Rheinbergers elementare Denkbewegung ist die Derrida’sche Wendung von der grammatologischen Verschiebung: Unter der Bedingung, dass die strukturellen Einheiten, aus denen sich die Gefüge zusammensetzen, nicht-elementar sind und sich weniger einer originären Abstraktion als vielmehr einer ursprünglichen Synthese verdanken, lassen sich jene auch, so Rheinberger, »als ›Grapheme‹ bezeichnen«276. Sofern mit Blick auf das eben Geschilderte davon gesprochen werden kann, dass das Logische und Einfache erst im Modus der Produktion entsteht, ordnet sich die experimentale Unordnung auf relationale Weise, und zwar »durch die Verknüpfung von Spuren oder Graphemen«277. Das liefert den Ausgangspunkt für die Erklärung der hybriden Notationsformen der Experimentalsysteme: In der Oszillation zwischen Artikuliertheit und Dichte entsteht eine Grammatik der Differenz »diagrammatischer Übergänge«278, die unterschiedliche Formen 271 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrift. S. 30. 272 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 24. 273 | Ebd. 274 | Ebd., S. 25. 275 | Ebd., S. 130. 276 | Ebd. 277 | Ebd., S. 131. 278 | Ebd.
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von Hybriden der Darstellung hervorbringt: Texte, Bilder, Skizzen usw. Ähnlichkeit wandelt sich vom Kriterium für Repräsentation zur funktionalen Bestimmung »aller möglichen Hybridformen, diesen Garanten für Innovation, Auswahl und unvorwegnehmbare Verschiebungen«279. Unter technischen Dingen hingegen sind »die Instrumente, Aufzeichnungsapparaturen und, in den biologischen Wissenschaften besonders wichtig, standardisierte Modellorganismen«280 zu subsumieren. Was der Forschungsprozess schließlich realisiert, das sind die epistemische Dinge unter Zuhilfenahme jener technischen Dinge, die bereits als ausreichend stabile Materialisierungen von Wissen betrachtet und gehandhabt werden können. Insofern dienen »die Geräte des Labors […] zur Erzeugung von nicht vorwegnehmbaren Ereignissen«281.
279 | Ebd. 280 | Ebd., S. 25. 281 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrif t. S. 29f.
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Schaltung Während Rheinberger einerseits – Fleck aufgreifend – jenem einen »bestimmten material bedingten Forschungsstil«282 zuspricht, liest er andererseits – mit Bachelard – aus den zeitgenössischen Wissenschaften eine »Epigraphie der Materie« heraus, innerhalb derer Wissenschaftsobjekte sich »aus Spuren und Graphemen in einem Repräsentationsraum«283 zusammensetzen. Wir kommen hier zu dem Resümee, dass Experimentalsysteme vor allem als eine Metaform im Sinne eines Referenzrahmens verstanden werden sollten. Das lässt sich insofern auf Stadtforschung transponieren, wenn man von Forschungssystemen spricht, deren Metaformen sich nicht auf bestimmte Akteure beschränken, sondern auch in Netzwerken und Ensembles von Forschungssystemen zirkulieren, die ihrerseits wieder zu Clustern von Materialien und Praktiken zusammengelesen werden können. Hinweise für die Stadtforschung darauf, dass in darstellungstheoretischer Hinsicht die Materialität epistemischer Dinge als Einschreibung einer Kette von Verweiszusammenhängen zu verstehen ist, enthält Reinbergers Formulierung: »Die Bewegung der Signifikation selbst, das Erzeugen von wissenschaftlichem Sinn und Unsinn, verwandelt jedes angenommene Signifikat – als Resultat einer strukturellen Notwendigkeit – immer wieder in einen Signifikanten.«284 Was hier erscheint, ist die spezifische Logik des Forschungssystems, die sich aus dem Zusammenspiel von Reproduktion und Differenz entfaltet. Es ist dabei die Reproduktion, die dem Experimentalsystem (dessen Entwicklung von dem Gelingen abhängt, Differenzen zu produzieren) zeitliche Kohärenz verleiht – was für die Stadtforschung erneut nichts anderes heißt, als dass ihre Praxis auf Unbestimmtheit grundlegend angewiesen ist. Unbestimmtheit ist die Bedingung der Ermöglichung ihres Forschens. Mit anderen Worten: Dort, wo Stadtforschungssysteme in den Modus des Reproduzierens zurückfallen, hören sie auf, Forschung zu sein. Gleichwohl kann ein Experimentalsystem in ein technisches Ding modulieren und so, als stabiles Element, in andere Forschungssysteme integriert werden. Vorraussetzung hierfür bildet die Befähigung des Forschungssystems, neue »performative Fenster« zu öffnen, sich selbst zu verschieben. Um seine Wissens-Produktivität zu sichern, muss das Forschungssystem so gestaltet sein – und hier folgt erneut die Anleihe beim Poststrukturalismus –, dass »es jener Art von subversiver, verschiebender Bewegung gehorcht, die Derrida différance genannt hat«285. Die hier angeführte Rede von der epistemischen Performanz aber gibt der Stadtforschung die Gelegenheit, den von Rheinberger fruchtbar gemachten Begriff 282 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 416. 283 | Ebd., S. 413. 284 | Ebd., S. 414. 285 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrift. S. 28.
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des epistemischen Dings um den der Handlung zu erweitern und auf den Maßstab Stadt zu transponieren. Worauf wir uns dann verwiesen sehen, ist die Stadt als Gefüge epistemischer Handlungszusammenhänge. Worin aber besteht der wissenstheoretische Ertrag dieser Anleihe für die Stadtforschung genau? Ausgehend von dem Diktum, dass »in einem fundamentalen und zugleich kontingenten Sinne unsere Seinsmaschine eine Schreibmaschine ist«286, verfolgt Rheinberger zunächst die Spuren, Inskriptionen von Experimentalverläufen, an denen sich die Ausrichtung von Wissen an der Grenze zum Nichtwissen entfaltet und »an der das, was wir als Denken bezeichnen, in seiner graphematischen Materialität […] am ›Machen‹ und ›im Tun‹ ist«287. Epistemische Dinge artikulieren sich »als formale Sequenzen von Dingen, graphematische Ketten von Ereignissen«288. Zur Bedingung des Erscheinens unvorhersehbarer Ereignisse im Forschen gerät damit die Besonderheit, dass jene als serielle Kette spezifischer Repräsentationen emergieren. Sinn und Position sind in der seriellen Anordnung unentwirrbar miteinander verwoben, weshalb das wahre Ziel eine neue Form des Wissens ist. Diese bringt uns zu der zentralen Pointe, dass eine solche Kette den Stabilisierungsprozess beschreibt, der zwischen einer als unbestimmtes epistemisches Ding gefassten différance (im Sinne einer Verschiebung, Uneindeutigkeit und Spur) und einer bereits bestimmten Differenz (von in Subroutinen als technische Objekte integrierten vormaligen Emergenzen) oszilliert: »Dieses Paradox ist grundsätzlich nur deshalb auflösbar, weil die Wechselwirkung zwischen dem Wissenschaftsobjekt und den technischen Bedingungen ihrem Charakter nach nicht-technisch ist. Wissenschaftler sind ›Bastler‹, nicht Ingenieure. Im Gegensatz zum Bereich des Technischen im engeren Sinne sind Forschungssysteme gebastelte Anordnungen, die nicht auf bloße Repetition hin angelegt sind, sondern auf das kontinuierliche Auftreten neuer, unerwarteter Ereignisse.«289 Was Rheinberger hier macht, ist, Derridas Schrauben an der Schrift um eine entscheidene Runde weiterzudrehen. Ging es Derrida noch um die Hypostasierung der Schrift als performative Verschiebung, was Schrift der Praxis entzog, so wird diese bei Rheinberger wieder als performative Herstellung von Wissen produktiv. In der Verschiebung von einer Geschichte wissenschaftlicher Objektivität von Begriffen hin zu einer »Geschichte ihrer Objektizität«290 behauptet sich der Fokus 286 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 17. 287 | Ebd., S. 19. 288 | Ebd. 289 | Rheinberger, Hans-Jörg: »Experimentalsysteme, Epistemische Dinge, Experimentalkulturen. Zu einer Epistemologie des Experiments«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42/3, Berlin 1994, S. 409f. 290 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 11.
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auf das Verfahren, die materiellen Spuren der Forschungspraxis zu entziffern. Von daher erklärt sich der stadttheoretische Einsatz des Begriffs différance. Er gilt als Initial dafür, Geschichten der Stadtforschung als Geschichten von Dingen und Spuren zu betrachten, in denen das Rezente als Ergebnis von etwas erscheint, »das es nicht gegeben hat und das Vergangene [als] die Spur von etwas, das es nicht gegeben haben wird«291 Hier kommt das von Derrida eingeführte Begriffspaar différance (als für Experimentalsysteme charakteristische Form der Verschiebung) und ›Historalität‹ (als inhärente zeitliche Situiertheit von Experimentalsystemen)292 im Wissenschaftsraum zur Geltung: Die Evidenz, die Wissenschaftsobjekte als epistemische Dinge zu verleihen wissen, verdankt sich der Befähigung zur différance. Es verlangt der Stadtforschung das Verfahren ab, Serien, Kataloge zu bilden, die spezifische experimentelle, zeitlich situierte Settings konstruktiv halten. Die Logik der Science in the making ist bei Rheinberger zu ihrer radikalen Konsequenz gebracht. Ebenso, wie sich mit dieser Bewegung der Kontext der Forschungspraxis neu konstituiert, wird prinzipiell jeglicher Rekurs auf eine als vorgängig behauptete Natur, Wirklichkeit – oder Stadt – problematisiert. Dieser Rekurs lässt sich jedoch auch nicht durch eine Fokussierung auf die sozialen Bedingungen, unter denen Wissen entsteht, ersetzen. Denn das hieße letzten Endes nur, Gesellschaft selbst als letzten Referenzpunkt zu naturalisieren, wie Rheinberger in einer anderen Passage darlegt: »Im Geviert der Koordinaten von Theorie und Praxis, Natur und Gesellschaft bleibt man bei aller Rotation der Kompetenzen letztlich im Banne einer Begriffsbildung, die Derrida zweifellos zum logozentrischen Erbe der abendländischen Metaphysik schlagen würde.«293 Rheinberger bezieht sich hier auf einen Passus Derridas in Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen aus dem Jahr 1976, wo es heißt: »Man könnte vielleicht sagen, dass die ganze philosophische Begrifflichkeit, die mit dem Gegensatz Natur/Kultur in einem systematischen Zusammenhang steht, darauf angelegt ist, das, was sie ermöglicht, im Ungedachten zu lassen […].«294 Ins Zentrum des Machens von epistemischen Dingen rückt somit die Aufgabe, Bedingungen zu analysieren und zu kreieren, die ermöglichen, dass das hervorgeht, was Rheinberger »unvorwegnehmbares Ereignis«295 nennt. Aber auch das ist noch nicht alles. Damit das Forschungssystem funktioniert, ist es gleichwohl notwendig, dass in einem 291 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrift. S. 49. 292 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 11. 293 | Rheinberger: Experiment–Differenz–Schrift. S. 15. 294 | Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1976, S. 429. 295 | Rheinberger: Experiment-Schrift-Differenz. S. 15f.
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solchen Verfahren das Denken weder aufgegeben noch hypostasiert, sondern neu bestimmt, man könnte fast sagen musikalisiert bzw. auf Resonanz hin verschoben wird: »als eine durch instrumentelle Randbedingungen ausgerichtete Bewegung, in der das Räsonnieren gewissermaßen ins Spiel der materiellen Entitäten gebracht wird.«296 Aber auch dort, wo Rheinberger die in Derridas Grammatologie (die Rheinberger gemeinsam mit Hans Zischler ins Deutsche übertragen hat) thematisierte autodekonstruktive, sich jeglichem logozentrischen Zugriff entziehende Kraft der Wissenschaften übernimmt, folgt er der Intuition, anders als Derrida das gedacht hat, dass es nicht die mathematische Schrift, sondern die Schrift experimentaler Praxis – als Spur und Graphem des Wissenschaftsobjekts im Repräsentationsraum – ist, die das Schreiben selber zu einem Forschungssystem macht. Sie ist die Versuchsanordnung, welche die Spur des Denkens hervorbringt. Während Rheinberger im Rahmen von Epistemologie und Geschichte des Experiments experimentelle Umgebungen als materiale Kultur der Wissenschaft beschreibt, macht er Begriffe wie Differenz, Wiederholung, Kontingenz, Unbestimmtheit, Emergenz als wichtige Bestreitungsbegriffe der Philosophie in der Wissenschaftsforschung in neuer Weise – auch für Stadtforschung – produktiv. Welche Rolle aber kommt in diesem Verfahren der Derrida’sche Gedanke der Spur, des Graphems oder der Verschiebung im Genaueren zu? Um derlei Fragen nach der konzeptionellen Grundlegung von Rheinbergers Experimentalsystem näher zu erörtern, ist es zielführend, im Folgenden auf die zentralen Denkfiguren Derridas einzugehen und diese in den Kontext unserer Arbeit zu betten.
2.3.4 Jacques Derrida. Performanz – Schrift – Iteration. Wohnen in der Struktur Erinnern wir: Rheinberger spricht von epistemischen Dingen als den Dingen, »denen die Anstrengung des Wissens gilt«297. Epistemische Dinge sollen keine Objekte im engeren Sinn abgeben, sondern vielmehr als performativ-operative Elemente gelten. Als solche sind sie hybrid: »noch Objekt und schon Zeichen, noch Zeichen und schon Objekt«298. Für die Stadtforschung aber bleibt die Frage bestehen: Wie kann man performativ konstituierten Dingen auf den Grund gehen, sie handhabbar machen bzw. ihnen allgemeine Gültigkeit zusprechen? Rheinberger sagt, dass die epistemischen Dinge in ihrer Materialität bereits so ›vorhanden‹ sind, dass sie als Spuren befragt und in sequentielle Serien überführt werden können. Die Serien bilden spezifische epistemische 296 | Ebd. S. 22. 297 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 24. 298 | Ebd., S. 25.
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Repräsentationsräume, die wiederum an die Form des Experimentalsystems und der Konstitution einer bestimmten »Form der Iteration«299 geknüpft sind. Als iterativ-rekursive Bewegung produziert das Gefüge der Spuren den Raum der Repräsentation. Hier stellt sich eine Reihe von Fragen: Wie lassen sich die Spuren notieren? Wie sieht ein Repräsentationsraum aus, der auf finalistische Repräsentationen verzichtet und dennoch auf irgendeine Weise abbildet, um medial vermitteln zu können? Welche Haltung zur Schrift äußert sich in ihr, und welche Folgen hat das für das Herstellen und Darstellen von Wissen? Um obigen Fragen näher kommen, muss man näher auf Derridas Konzeption der Spur einzoomen. Wie in vorigem Kapitel gezeigt, schöpft Rheinberger seinen spezifischen Spurbegriff zunächst aus dem Rückgriff auf Derridas Grammatologie.300 Daher will ich im Folgenden, aus dem Blickwinkel der zentralen Fragestellungen meiner Arbeit, der spezifischen Begrifflichkeit von Derrida und der Frage der Erweiterung des Schriftbegriffs (im Konnex von Iteration und Performativität) nachgehen. Den Ausgangspunkt des Fragens nach Derridas Verfahren bildet dabei zunächst die von Rheinberger in den Diskurs eingebrachte offene, prozedurale Wissensform. Wenn das Wie der Letzteren strukturell erschlossen werden soll, erbringt die Bezugnahme auf Derrida Hinweise auf jenes. Nun mag es überraschend erscheinen, im Kontext der Frage nach Wissen auf einen Autor zurückzugehen, der sowohl die Kategorien wahr und falsch ablehnt, als auch nichts unversucht lässt, die Geschlossenheit und Systematisierung seines eigenen Werks zu unterlaufen. Zugegeben machen es Derridas Schreibweise und seine Absicherungsstrategien den Lesern nicht einfach. Und wo er in seinen Untersuchungen das Scheitern anderer beschreibt, thematisiert er sein eigenes gleich mit, vor allem, sofern es im Zirkel jedes in der Sprache sich bewegenden, den metaphysischen Charakter der Sprache kritisierenden Denken verharrt. Stets bleibt hierin die Verschränkung von Frage und Verfahren virulent, nämlich wie man Kommunizieren kann, ohne einen »homogenen Raum der Kommunikation«301 vorauszusetzen, ohne einen Prozess oder eine Form abzuschließen – und dies, während man Mittel verwendet, die aus einem System der geschlossenen Form (und d.h. für Derrida Metaphysik) kommen. Was Stadtforschung hier besonders zu interessieren hat, ist die Öffnung der Form. Damit erlangen die grundsätzlichen Zweifel Gewicht, die Derrida der Geschlossenheit von Form vorbehält. Man sollte daher Derridas Theorie keineswegs aus der Perspektive pragmatischer Gesichtspunkte eines linearen Erkenntnisfortschritts verwerfen. Das zu sagen bedeutet aber auch, das Fragen auf die Voraussetzungen zu richten, die gewöhnlich der geschlossenen Form unterstellt werden, nämlich 299 | Ebd., S. 130. 300 | Ebd. 301 | Derrida: »Signatur. Ereignis. Kontext.«. S. 72.
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»Einfachheit des Ursprungs, die Kontinuität jeder Ableitung, jeder Produktion und Analyse und die Homogenität aller Ordnungen.«302 Sofern mit Einbezug des eben Ausgeführten ein bestimmtes Formverständnis angesprochen ist, sollte man Derridas Theorie selbst als Strukturanalyse – und nicht als Form – lesen. Nur anhand einer solche Lesart kann aufgeschlossen werden, wie Derrida mit dem, was er Metaphysikkritik nennt, sehr wohl einen Kern zeitgenössischer Fragestellungen trifft: nämlich die Frage danach, wie sich totalitäre Formen, seien sie ökonomischer, politischer oder kultureller Art, kritisieren lassen. (Stadt-)Politisch steht in punkto Form heute mehr auf dem Spiel als je zuvor, da das Informelle nunmehr zur unmittelbaren Strategie der neoliberalen Macht wird. Für die Praxis verknüpft sich damit konkret die Frage: Wie und unter welchen Voraussetzungen lässt sich zur offenen Form gelangen, ohne damit in Informalismus oder Relativismus zu verfallen? Erst im Zusammenhang mit dieser Fragestellung kann die Derrida’sche Kritik am Finalismus und an der Teleologie als Ergänzung unserer stadttheoretisch motivierten Arbeit verstanden werden. Somit ist es weder Gegenstand der vorliegenden Erörterungen, Derrida zu kritisieren, noch, ihm zuzustimmen. Vielmehr beabsichtigt der Verfasser, Derrida bei seiner Performanz – also dem Auslegen seines Verfahrens – minutiös zu beobachten, um Rückschlüsse für das eigene Verfahren zu gewinnen. Derridas Theorie bleibt eben in sich selbst der Versuch, ein Verfahren zu charakterisieren, das sich keineswegs auf die Methode als Form reduziert, die man auf Inhalte anwendet, sondern das Verfahren hat den Anspruch, gleichzeitig Inhalt zu sein. Seiner Methode nach enthält diese Form ihre Botschaft, die wiederum ihrerseits durch die Vorgehensweise, die Praxis, Texte zu produzieren und zu analysieren, eingelöst wird. Wiewohl sie naive Annahmen über eine Gegebenheit der Welt zurückweist, ist eine solche Analyse kein Konstruktivismus, der jegliches Gegeben bestreiten würde. Dagegen stellt Derrida ein Verfahren vor, das die Konstruktion an das analytisch-strukturelle Zerlegen und Fragmentieren des Gegebenen bindet. Stets fragt derlei Strategie des Sichtbarmachens, Aufzeigens und Assoziierens nach impliziten Vorannahmen, Ausweichmanövern in dem Gelesenen. Was will ein Verfahren sagen, worauf zielt es ab? Verfolgt es eine These, eine Theorie, oder verharrt es in einem lesenden Praxismodus, der mich selbst zu einer beständigen Auseinandersetzung bringt? Was Derrida abarbeitet, rückbaut, auseinandernimmt, will den Stil der Theoriebildung als Ganzes befragen und verändern. Dass er dabei Kommunikation als Verständigungsmodus auf den Prüfstand stellt und den Konsequenzen der Schrifttheorie einen »Bruch mit den Horizont der Kommunikation als […] sprachlicher und semantischer Transport«303 vorausstellt, 302 | Ebd, S. 73. 303 | Ebd., S. 82.
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macht einsichtig, warum Derrida seinerseits keine Botschaft im Sinne eines Verpackens und Sendens formuliert und auf ein vereinfachendes Zulieferverständnis von Kommunikation in Form des Sender-Empfänger-Schemas verzichtet. Wie die sprachanalytische Philosophie, so geht auch Derrida zunächst von jener Betonung der konstitutiven Rolle der Sprache und der sprachlichen Beschaffenheit der Erkenntnis aus, die Vorstellungs- ebenso wie Gegenstandstheorie prinzipiell zurückweist. Auch für Derrida gilt zunächst, dass die Sprache nicht bloßer Ausdruck eines ursprünglich durch das Bewusstsein vollzogenen Bezuges auf etwas ist, sondern dieser ursprüngliche Bezug selbst. Dennoch aber beinhaltet Derridas Skeptizismus, dass er dort, wo er die Vorstellungstheorie aufgegeben will, Ausdrücke wie ›Sinn‹, ›Bedeutung‹, ›Bewusstsein‹, ›Wahrheit‹ oder ›Gegenstand‹ noch im alten vorstellungstheoretischen Sinn gebraucht. Das führt zu Einwänden, von denen hier nur die zwei wichtigsten zu nennen sind. Einerseits prononciert sich Derridas Denken in dem durchaus ambivalenten Verfahren, einmal getroffene Aussagen sogleich auszustreichen, zurückzunehmen, einzuklammern. Im Hinblick darauf hat Werner Konitzer darauf aufmersam gemacht, dass Derridas Theorie genau dort, wo sie jede Überprüfung seiner Wahrheit zurückweist, noch »in der Situation, von der sie sich zu lösen vorgibt, befangen«304 bleibt. Zweitens ist eine Unschärfe in Derridas Zeichenbegriff nicht von der Hand zu weisen: Mal meint Derrida mit dem Bezeichneten den Gegenstand (= Referenten), die Vorstellung des Referenten als Erlebnis, das mit dem Denken oder Aussprechen des Ausdrucks verbunden ist, oder die Bedeutung im Sinne Husserls. Solche Einwände wären sicherlich dann gewichtig zu nehmen, wenn Derrida noch zeichentheoretisch argumentieren würde. Er vertritt aber eine Auffassung von Schrift, die diese nicht als Zeichen deutet. Es stimmt, dass Derrida auf die Saussure’sche Zeichentheorie analytisch Bezug nimmt. Dies jedoch nicht mehr im Sinn einer Interpretation von der Schrift im semitioschen Register. Insofern ist etwa Derridas Kritik der Präsenz weit davon entfernt, die Schrift der Präsenz gewissermaßen vorzuschieben. Nur in dem Fall der hypothetischen Annahme, die Derrida nicht teilt, dass Schrift in ihrer Äußerlichkeit ein Zeichen wäre, müsste diese der Selbstpräsenz des Bewusstseinsakts vorhergehen. Derrida verzichtet aber auf das Postulat einer ursprünglichen Bedeutung, von der alle anderen abgeleitet werden können. Bedeutungen liegen für Derrida nicht fest. Sie verändern sich im Spiel der differenzierenden Verweiszusammenhänge, die mit einer Öffnung des Verständigungsraums für Wiederholung und Wiederholbarkeit einher gehen. Umso mehr muss betont werden, dass Derrida analytisch sehr wohl darauf zielt, gewählte und gesetzte Ausschnitte des dynamischen Prozesses mit Bedeutungshorizonten zu ver304 | Konitzer, Werner: Sprachkrise und Verbildlichung. Würzburg 1997, S. 13.
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sehen. Diese Bedeutungshorizonte haben aber als relativ zu gelten und ihre Voraussetzung der Setzung und der Rahmung sind in Rechnung zu stellen. Für Derrida ist Schrift nicht Form, sondern Struktur. Wir haben es weder mit einem Zeichen zu tun, das für etwas anderes steht, noch mit einem Signifikanten, der einen Referenten oder ein Signifikat repräsentiert, sondern mit einer Spur, die auf etwas verweist, das nicht statisch fixiert ist, sondern weiter verweist in einem Gefüge von Verweisungsrelationen und Nachbarschaftskonstellationen. Wie das einfachste Element der Sprachwissenschaft de Saussures das Phonem ist, so hält bei Derridas Schriftverständnis das Graphem als einfachstes Element her. Nicht die Zeichentheorie, das Zeichen-Geben, bildet bei letzterem den Kontext der Sprache, sondern die Praxis des Schreibens im Sinne des Hinterlassens einer Verweisungsspur. Derridas spezifischer Lektürestil sucht nicht nach einer in der Schrift enthaltenen Bedeutung, so wie es die traditionelle Bedeutungstheorie unternahm, die Bedeutungskonstitution als Abbildung oder Repräsentation eines letztlich transzendentalen Signifikats verstand. Wo Derrida einen gänzlich anderen Zeichen- und Schriftbegriff verfolgt, der Bedeutungskonstitution als Effekt eines Spiels differentieller Verweiszusammenhänge fasst, so erfährt der Schriftbegriff bei ihm eine extreme Erweiterung: Für Derrida ist alles Schrift, ein Sachverhalt, den Habermas bekanntlich als übermäßige Verallgemeinerung der poetischen Sprachfunktion kritisiert hat.305 Diese Verallgemeinerung aber ist es, die es uns erst erlaubt, zu den Voraussetzungen einer Normalsprache vorzustoßen. Gegenläufig zu Habermas geht Derrida ja davon aus, dass es eine Normalsprache, die es einer Gemeinschaft ermöglicht, ohne Vorannahmen Übereinkünfte zu erzielen, nicht geben kann: Jede Normalsprache beinhaltet einen Weltentwurf und gründet ihrerseits wieder auf Voraussetzungen und Übereinkünften. Der springende Punkt besteht darin, zu sagen, dass man hinter die Sprache zurückgehen kann. Worauf man dann stößt, ist die Spur, das graphemische Terrain der Schrift, das nicht auf eine Bedeutung festzulegen ist und auch nicht festgelegt werden muss. Tatsächlich geht das Spiel der Verweiszusammenhänge der Spur und der Schrift endlos weiter: »Es gibt Schrift, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen.«306 So, wie die Wende zur Sprache kein Außen der Sprache kennt, so kennt Derrida schließlich kein Außen der Schrift: Sein Schriftbegriff setzt voraus, »daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereichs der differentiellen Verweisungen fixieren
305 | Habermas, Jürgen: Der philosophische Diksurs der Moderne. Frankfurt a.M. 1985, S. 234 u.243. 306 | Zit.n. Engelmann, Peter: »Einleitung«. In: Derrida, Jaques: Die différance. Stuttgart 2004, S. 18.
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kann«307. Man missversteht Derrida, wenn man nicht beachtet, dass es sich hier um eine verfahrensstrategische Erweiterung des Begriffs der Schrift handelt: Sie soll die Möglichkeit der offenen Form sichern. Anstatt einen Graphozentrismus gegen einen Logozentrismus auszuspielen, gibt Derrida das Zentrum selbst auf: Schrift ist »diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung«308. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Vermittlungen, wie Medien funktionieren, dreht sich im Kern um die Problematik, wie Zeichen funktionieren, wie wir anders mit ihnen umgehen können als wir das von der Tradition her kennen. Das Erzeugen von Ambivalenz hat dabei die Funktion zu zeigen, wie voraussetzungsreich das ist, was wir allzu schnell in fixierte Formen fassen. Für die Stadtforschung ergibt sich daraus der Hinweis, dass die wissenschaftstheoretische Reduktion der Analyse auf ein Anschauen und Beschreiben ausreicht. Es kommt auf das Zerlegen und neu Zusammensetzen an. Das situiert das Stadtforschen in einer Praxis – einer Schreibpraxis –, die nie abgeschlossen ist und ein beständiges Weiterschreiben indiziert. Dieser Praxis eignet ein Verfahren der Sichtbarmachung von Strukturen und Bedingungen, welches wiederum zu der Bewegung gehört, die die Praxis konstituiert. Derridas Theorie lässt Stadtforschung mit Paradoxien dort zurück, wo sie auf eine fixe Form hofft. Seine Lektüre aber hilft, besser zu verstehen, was passiert, während man sich mit der Stadt als Gegebenem als Schrift auseinandersetzt. Weil hier Sinn als durch Schrift gemacht verstanden wird, gehört es zum Wesen der Schrift, immer wieder zu entgleiten und neu justiert zu werden. Dem Defizitären der Sinnproduktion entspricht die verfahrenstechnische, bilanzieren lässt sich Derridas These nur im Negativverfahren. Alles läuft darauf hinaus, dass Stadtforschung die darin liegende Ambivalenz aushalten muss. Keinesfalls aber ist, wie oft unterstellt, in solchem Modus des Paradoxiebewusstseins alles egal. Wir haben es nur mit einer anderen Dimensionierung und mit andauernden Entscheidungsprozessen zu tun, einem Nicht-Verfahren, das ohne ein neues geschlossenes Theoriegebäude auskommen soll, sofern es nicht zur Ideologie, sondern zur subversiven Praxis tendiert. Derridas Ansatz entspringt und basiert auf einer geschichtlichen Verortung des Zeichenbegriffs. Es sind die 1960er Jahre, eine Zeit, in der sich die Aufmerksamkeit vom Signifikat auf den Signifikanten verlagert, wie etwa in der politischen Ökonomie, der Psychoanalyse, der Biologie oder der Programmiertechnologie. Was all diesen Disziplinen eignet, ist, dass sie mit spezifischen Terminologien der Schrift operieren. Dass sich hier das Programm als die zentrale Schriftform prononciert, führt zu einem Übergang von dem Paradigma der Sprache zum Paradigma der Schrift. Während darin der Signifikant 307 | Ebd. 308 | Ebd.
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(die Materialität des Zeichens) auf neue Weise ernstgenommen wird, verliert die Idee des reinen Signifikats (die Bedeutung) an Boden. Der alten Metaphysik galt das Signifikat noch als gottähnlich und nie erreichbar. Wo der Signifikant nie sinnbildend tätig war, war seine Aufgabe eine subalterne. Er hatte die Reinheit des Signifikats preiszugeben, während umgekehrt Bedeutung nicht durch die Materialität des Zeichens geschaffen werden konnte. Nun aber resultiert aus dem Aufstieg des Signifikanten die Konzentration auf dessen strukturelle Funktion. Mit anderen Worten: Die Schwächung des Signifikats macht den Blick frei für die Relationalität zwischen den Signifikanten und ihrem Verweissystem. Das verschiebt die dem Signifikat inhärente Frage nach dem Ursprung: Weil es nicht so ist, dass ein Signifikant auf ein Signifikat verweist, das nicht seinerseits in einer Terminologie von Signifikanten auszubuchstabieren wäre, gibt es kein Signifikat, das ein Signifikat in herkömmlicher Deutung wäre, nämlich ein reines: »Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisendender Signifikanten entkäme, das die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes anheimzufallen.«309 Wann immer eine Bedeutung vorliegt, liegt auch ein Signifikant eines Signifikanten vor. Sprache besteht aus Verweisungsketten von Bedeutungen. Und was in einer Kette steht, ist immer ein Signifikant, eines gekoppelt mit einem anderen. Während die alte Idee des Signifikats besagte, ›Da ist etwas, was über dem Signifikant steht und als solches keiner Signifikanz bedürfte‹, konstituiert sich mit Derrida gesprochen Sinn hingegen nur über die Bewegungen der Zeichenkette und d.h. in Verschiebungen, Durchgängen von Differenzen. Das konfrontiert uns mit der Einsicht, dass es den absoluten, präsenten und zeichenfreien Sinn nicht gibt, er war nur ein Phantom. Es ist schließlich die Analyse des Signifikantensystems, die Derrida zum Begriff der différance führt. Wir haben es hier mit einem Terminus zu tun, der auf die Struktur des Sinns verweist, so wie Derrida sie sieht. Keineswegs verzichtet Derrida auf Sinn, er lenkt den Blick nur von dessen Form auf dessen Struktur. In dem Zusammenhang ist bedeutsam, dass das französische Wort differer nicht nur ›differieren‹ oder ›sich unterscheiden‹ meint, sondern auch auf die zeitliche Dimension des ›Aufschiebens‹ verweist. In Letzterer liegt das begriffen, was man die zeitliche oder räumliche Verzögerung nennen kann: Die Bedeutung eines Terminus braucht immer einen Umweg. Sie lässt sich nur aus dem Kontext erschließen, mit anderen Termini einerseits und den Sinn von Sätzen in einer bestimmten Situation andererseits. Dort wo diese Tatsache Derridas Kritik an unserer Gewohnheit, Sprache gemeinhin als homogenen Raum aufzufassen, untermauert, lenkt sie die Konzentration auf eine Analyse der Schriftkultur und einer Zeichentheorie, die derlei Homogenitätsbehauptung mit der These begründet, es käme nur auf reine Mündlichkeit, 309 | Derrida, Jaques: Grammatologie. Frankfurt a.M., S. 17.
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auf Präsenz an. Wie Derrida darlegt, gibt es im Bereich des Signifikantensystems aber keinerlei Sinn, der die reine Struktur eines absoluten Bei-Sich-Seins eines Bewusstseins hätte. Stets hat es Bedeutungsproduktion mit Aufschub und nicht mit unmittelbarer Präsenz zu tun. Sinnbildung entsteht nur in einer Kette von Verweiszusammenhängen. Weit entfernt, Form im Sinne eines Behälters, der sich statisch füllen lässt, zu sein, zeigt sich der Raum der Sprache als das dynamische Geschehen des Verweisens, in welchem die Spur der Schrift ihre Wirkkraft entfaltet. Einsicht ins Konkrete gibt hier das Beispiel der Reflexion. Wir wissen, dass Einsichten des Denkens nur durch Retention einer Kette von Gedanken zustande kommen. D.h., Evidenz ist abhängig von dem Prozess, den man durchlaufen hat, bis man zur der Einsicht gekommen ist. Weil die Elemente des Sinns synthetisiert sein müssen, gibt es aber keine Evidenz ohne Differenz, keine Evidenz, die nicht den Charakter einer strukturellen Synthese von Differentem hätte. Verschiedenes gehört zur Einsicht, die nicht nur Hinein-Sehen, sondern auch das Sehen des Einen bedeutet, stets dazu. Am Beispiel der Reflexion wird deutlich, dass das Präsenzdenken nicht prinzipiell abzulehnen ist. Lediglich sollte man – mit Derrida – darauf aufmerksam machen, dass wir selbst im Nukleus des Präsenzdenkens immer Differenz, das Angewiesen-Sein auf Verschiedenes in der Form des Zusammenspiels finden. Immer sehen wir uns auf ein Verständnis der Termini, die in einem Satz angewendet werden, zurückgeworfen. Wer ›weiß‹ sagt, braucht ein Bewusstsein von Farbe, wer Farbe sagt, braucht ein Bewusstsein von Oberfläche an Körpern, von Räumlichkeit, Ausgedehntheit, Sichtbarkeit; Farbe ist etwas anderes als Klang usw. Alles läuft darauf hinaus: Sinn mag uns als reine solitäre Form oder Gestalt erscheinen, aber das erscheint eben nur so. Immer sehen wir uns auf eine Vielfalt an Vernetzungen verwiesen. Jeder Terminus ist ein Knoten, eine Struktur. Für Stadtforschung ergibt sich damit der Schluss, dass es in der Stadt keine Struktur, keinen Knoten, keine Relationalität für sich gibt, sondern nur mehreres und nur durch das Viele Zugriff auf Eines. Der Sinn der Stadt konstituiert sich nur über Umwege, Aufschübe und Verflechtungen. Wenn Derrida seine Konzeption in Absetzbewegung von dem konturiert, was er als das »metaphysische« Denken bezeichnet, so bleibt es bei aller Kritik doch letztenendes bei einem Angewiesensein auf einen heute philosophisch hochproblematischen und umstrittenen Begriff. Was aber, wenn man das, was hier als Anker des Denkens herhalten soll, an das knüpft, was man in der Stadtforschung Planung nennt? Dann stellt man schnell fest, dass vieles von Derrida an der Denkrichtung der Metaphysik Ausgemachte sehr wohl an das Denken erinnert, welches traditionelle Planungskonzeptionen in Gang hält. Für die Stadtforschung kommt aus solcher Analyse der Vorteil heraus, näher auf das Formkonzept eines solchen Denkens schauen zu können. Deshalb sollten
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Stadtforschende, wenn sie in den folgenen Abschnitten von Metaphysik lesen, eben jene im Stillen für sich durch das Wort Planung ersetzen. Von der »alten Metaphysik« sagt Derrida, sie rahme die philosophische Schau des Logos und versuche so, dem Denken, im Rückgang auf die Formen der Präsenz, eine Gründung zu geben. Die Zielstellung dessen bestimmt sich aus der rigorosen Vereinheitlichung des Denkens. Um operieren zu können, macht Metaphysik das, was auch Planung macht: Sie hebt auf stabile, vorgängige Einheiten ab, die als Identitäten gesetzt, in Repräsentationen handhabbar und als Anordnungen kategorisierbar gemacht werden. Dagegen setzt Derrida auf das, was nicht mehr als Totalität, sondern nur noch als Differenz denkbar ist. Den Aufhänger für sein weiteres Vorgehen liefert die Problematisierung des repräsentationalen Verfahrens. Ihm wird zunächst unterstellt, es berücksichtige jene kontingenten Bedingungen nicht, unter denen kategoriale Systeme überhaupt erst gegründet würden. Diese Thematik taucht bereits bei Husserl auf, mit dessen Denken sich Derrida immer wieder intensiv auseinandergesetzt hat. Ebenso wie die Theorien Bachelards und Flecks artikuliert sich auch Husserls Phänomenologie als Antwort auf jene Krise des Wissens, die eben nicht nur eine der positiven Wissenschaften, sondern auch die der Metaphysik ist. Husserl bemängelt, die Metaphysiker hätten sich in ihrer spekulativen Einstellung (die am Ende einer Überlegung immer schlussfolgern, Fragen zum Abschluss bringen will und so Möglichkeitshorizonte verdunkelt) verloren. Sie hätten sich der »Sünde des Explikationismus« schuldig gemacht, ebenso wie »die Verfechter der empirischen Wissenschaften«310. Die berühmte Konsequenz, die Husserl aus dieser Lage zieht und mit der er sich als der »wahre Positivist« positioniert, lautete: »Aber nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen.«311 Eine Erkenntnistheorie, die Dinge nur als präformierte Objekte im Dienste der Erkenntnis sieht, ist damit obsolet, die erkenntnistheoretische Ausrichtung, »die in ihrem Sinn gemeinten Gegenstände sozusagen naiv als seiend zu setzen und zu bestimmen oder hypothetisch anzusetzen«312, gilt es, mit einer zurückhaltenden, möglichst urteilsfreien Meditation zu umgehen. Was Husserl hier vorschlägt, ist die phänomenologische Methode der Epoché. Sie soll ermöglichen, mit der Analyse und Darstellung der Art und Weise, wie Gegenstände ins Bewusstsein treten, zu den »Sachen selbst!«313 vorzustoßen und ein voraussetzungs310 | Derrida, Jacques: »Genesis und Struktur und die Phänomenologie«. In: Ders.: Die Schrift und Differenz. S. 236. 311 | Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1965 (1911), S. 85. 312 | Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Bd. II. Halle 1928, S. 9. 313 | Ebd.
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loses Wahrnehmen der Dinge der Welt in ihrer unverkürzten Wirklichkeit zu formulieren. Wo hier die für das 20. Jahrhundert bestimmende Problematik, wie aus Kontingenz allgemeingültige Bestimmtheit gewonnen werden soll, virulent wird, so spricht Husserl in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie314 von der Dringlichkeit eines intuitiven Wahrheitsbegriffs, der auf einer neuen »Interessenrichtung«315 beruhe. Manifest wird hier eine habituelle Einstellung, »zu der wir uns ein für allemal entschließen«316 und in der sich das Ich in einer reinen Schau als »uninteressierter Zuschauer«317 etablieren soll. Es bezeichnet denn auch keinen Schlussstein, wenn Husserl Phänomenologie über die Metaphysik hinaus treibt. Zwar will er Bedingungen der Erkenntnis thematisieren, »transzendentale Naivität«318 außer Geltung setzen, um »in Akten phänomenologischer Erfahrung«319 eine »Welt individuellen Seins, die Welt der phänomenologischen Data, die des reinen Bewußtseins«320 zugänglich zu machen. Fraglich bleibt jedoch, wie phänomenologische Erfahrung in der Ausschaltung aller Geltung ein neues Geltungsfundament gewinnen kann, das Allgemeingültigkeit erhält. Unabhängig von der Lösung, die Husserl in seiner Transzendentalphänomenologie vorschlägt, tritt hier ein Faktum auf, welches das Scharnier zu der von Derrida avisierten Stoßrichtung bereithält: Husserl benötigt die Schrift, um seine These der idealen Gegenständlichkeit in Form einer »geistigen Leiblichkeit«321 zu konstituieren, die als »virtuell gewordene Mitteilung« über die Funktion verfügt, »rein körperlich betrachtet, schlicht sinnlich erfahrbar und in ständiger Möglichkeit, intersubjektiv in Gemeinschaft erfahrbar zu sein.«322 Während jedoch für Husserl die Schrift das Krisenmoment bildet, welches die innere Erfahrung zu verdecken droht, wendet Derrida eben dieses Moment ins Positive. Wenn Schrift Freiheit dahingehend bedeutet, dass sie jene Deutungen offenlässt, entbehren diese nunmehr der Rückführung auf eine Urform. Und dort, wo er dem Faktum der Materialität von Schrift als Spur Unhintergehbarkeit zuspricht, verschiebt 314 | Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. 315 | Ebd., S. 175. 316 | Ebd., S. 153. 317 | Ebd., S. 73. 318 | Husserl, Edmund: Phänomenologische Psychologie. Den Haag 1962, S. 429. 319 | Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Den Haag 1973, S. 179. 320 | Ebd. S. 174. 321 | Husserl, Edmund: Formale und transzendentale Logik. Halle 1929, S. 25. 322 | Husserl: »Beilage III.« In: Ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. S. 371.
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Derrida das Husserl’sche Beharren auf Innerlichkeit und Präsenz zur differierenden Schrift, die Spuren produziert. Zoomen wir erneut ein: Mit dem Buch Grammatologie323 legt Derrida eine »Wissenschaft der Schrift«324 vor, deren Ziel darin besteht, eine Kritik der »Metaphysik der phonetischen Schrift«325 zu unternehmen. Wer Metaphysik hinterfragen will, hat nach Derrida a) zu erkennen, dass die Wissenschaft der »logozentrischen Epoche«326 als Bedingung der episteme einen »bestimmten Begriff des Verhältnisses zwischen gesprochenem Wort und Schrift«327 selbst festgelegt hat, und b) die Relation zwischen »gesprochenem Wort und Schrift«328 aufs Neue zu untersuchen sei. Dem enstpricht, dass sich in der Wissenschaft der Schrift eine Bewegung der Schrift selbst prononciert, eine Bewegung der Erweiterung der Schrift, in der diese zusehends die »Extension der Sprache zu überschreiten«329 scheint. Insofern zielt Derrida nicht nur auf die Verfasstheit von Schrift, sondern auch auf »die Totalität dessen, was sie ermöglicht«330. Hier kündigt sich ein Schritt zur Performativität von Schrift an, der nicht nur an die Beschaffenheit der Schrift rührt, sondern auch »das Wesen und den Gehalt der [mit der Schrift verbundenen] Tätigkeiten selber zu beschreiben«331 sucht. Wo damit die Tätigkeit des Darstellens bzw. Repräsentierens neue Relevanz erhält, spricht Derrida von der Möglichkeit spezifischer Darstellungsweisen, die offensiv darauf rekurrieren, dass Schrift Sprache erzeugen kann. Eine solche Argumentation rechnet mit dem Tatbestand, dass Denken über Schrift sich nicht auf einen uns bereits vertrauten Begriff einer Technik, einer Schrift, die Sprache irgendwie abbildet, gründen kann. Vielmehr stellt sich die Technik der Schrift nunmehr selbst als problematisch dar: »Niemals wird der Begriff der Technik ohne weiteres den Begriff der Schrift erhellen können.«332 Am Überborden der Zeichen vollzieht sich jene Wende vom Selbstzweck zum Ausarbeiten technologisch gewordener Ökonomie des Schreibens, die darin mündet, Totalität überhaupt preiszugeben. Wenn Derrida gegen die Totalität des Buchs polemisiert, so richtet er sich doch nicht gegen dessen kulturelle Gestalt, sondern gegen dessen grundlegende Idee, die
323 | Derrida, Jaques: Grammatologie. 324 | Ebd., S. 13. 325 | Ebd., S. 11. 326 | Ebd., S. 16. 327 | Ebd., S. 14. 328 | Ebd., S. 11. 329 | Ebd., S. 17. 330 | Ebd., S. 21. 331 | Ebd., S. 21. 332 | Ebd., S. 18.
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»immer auf eine natürliche Totalität verweist«333. Totalität ist dem »Sinn der Schrift zutiefst fremd«334 . Formal betrachtet kappt sich die Metaphysik in ihrer Geschlossenheit (clôture) von ihren Möglichkeitsbedingungen ab. Den Blick auf die Möglichkeitsbedingungen will Derrida in seiner Ideologiekritik dagegen nicht aufheben, sondern vielmehr, durch die Bewegung der Differenz, ermöglichen. Das hat seinen guten Grund: Jener alten Ideologiekritik, der die Abschaffung der Verhältnisse das Entscheidende war, musste freilich entgehen, dass sie damit den Möglichkeiten des Bestehenden entriet und damit hinter sich selbst zurückfiel. Dagegen schlägt Derrida eine differenzierten und differenzierenden Strategie (man könnte sie performative Strategie nennen, s. Kapitel Performative Strategie) einer Begriffsverschiebung von Innen vor. Dies ist nicht neu, zog doch bereits die philosophische Tradition selbst das Postulat einer Vorstellung der Präsenz von Wahrheit in Zweifel. Auch Husserl fragte nach einem Begriff der Wahrheit, der keine weiteren Grundlagen in Anspruch nehmen darf, als die mit dem Beginn in der bloßen Phänomenalität. Husserl spricht daher von Evidenzstilen, denen Selbstgebungen als Maß der Bewährung ihrer Urteile zu gelten haben, die als »für die jeweiligen Gegenständlichkeiten selbst als für uns seiende ursprünglich konstituierende, ursprünglich Sinn und Sein stiftende«335 Urstiftungen aufgefasst werden. Das thematisiert zuvorderst, dass Wissen sich seiner Evidenz erst versichern muss. Während Husserl jedoch Evidenz als Akt auf der Unhintergehbarkeit des Erlebnisses gründet, zielt Derrida auf den unhintergehbaren Charakter des Zeichens, auf dem alles Wissen basiert. In dieser Perspektive kann Präsenz der Wahrheit als Totalität für allgemeingültige Erkenntnisbildung nicht vorausgesetzt werden, da sie eine Differenz immer in Anspruch zu nehmen hat: Diejenige zwischen präsentem Signifikat (Sinn, Bedeutung) und vermittelndem Signifikanten (Lautbild): »Es muß ein transzendentales Signifikat geben, damit so etwas wie eine absolute und irreduzible Differenz zwischen Signifikat und Signifikant zustande kommt.«336 Diese Grundstruktur (in deren Ordnung Derrida auch die ontisch-ontologische Differenz Heideggers noch angesiedelt sieht) bildet den Rahmen, den sich die abendländische Metaphysik selbst gegeben hat, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Kehren wir zur geschichtlichen Perspektive zurück. Schriftwissenschaft beginnt sich im 17. Jahrhundert, also zur Zeit der Rationalismen und Systeme, durchzusetzen. Sie basiert auf jener Bestimmung der absoluten Präsenz als Selbstpräsenz, die wir mithin Subjektivität nennen. Die in diesem Kontext entstehenden Theorien sehen die Sprache, so heißt es bei Derrida, »eingesäumt 333 | Ebd., S. 35. 334 | Ebd. 335 | Husserl: Formale und transzendentale Logik. S. 167. 336 | Ebd., S. 38.
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vom unendlichen Signifikat, das über die Sprache hinauszugehen«337 scheint. Dieses sozusagen ›vorsprachliche‹ Signifikat interpretiert Derrida als das »inkonsistente Doppel eines höheren Signifikanten, den Signifikanten des Signifikanten«338. Wenn Derrida etwa Hegel unterstellt, dass dieser mit dem absoluten Subjekt Hegels (als Einheit von Einheit und Nichteinheit, von Subjekt und Objekt) Schrift noch als Hilfsform der Sprache verstanden habe, wird der Begriff der Schrift in einer Weise in Frage gestellt, die nicht nur die Relation zwischen Schrift und Sprache, sondern auch den Subjektbegriff selbst zu problematisieren hat. Schon bei Husserl und Heidegger begegnet uns der Hinweis darauf, dass sich eine Hypostasierung des Subjekts als Mittel zur Begründung der Möglichkeit von Erkenntnis (und damit von Bedeutung) nicht halten lässt. Als alternative Lösung schlägt Derrida nun eine ganz spezifische Variante vor. Diese hebt, anders als es noch bei Heidegger und Husserl der Fall ist, nicht mehr auf ein Primat der Präsenz ab, sondern besteht in der Anerkennung eines Primats der Schrift. Eine Anerkennung, die Derrida zufolge zu einer wirklichen Überschreitung der Metaphysik führen soll. Im Verzicht darauf sich auf Form (als Totalität der Wahrheit) zu stützen, gründet die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis nunmehr auf Funktion (als Performanz) und Bewegung in der Struktur (als Differenz). Doch wie lässt sich dieser Schritt begründen? Derrida argumentiert mit dem Hinweis auf das, was er die Bewegung »des Signifikanten des Signifikanten«339 selbst nennt. In dieser Bewegung drückt sich nicht länger eine »abgefallene Sekundarität«340 der Schrift aus, sondern die generelle Affiziertheit eines jeden Signifikats. Im Unterschied zur traditionellen Semiotik, die versuchte, Sinn, Wahrheit, Präsenz, Sein usw. aus der Bewegung der Bedeutung herauszuholen und statisch bzw. ojektivierbar zu machen, misstraut Derrida der Objektivierbarkeit prinzipiell. Indes muss er im gleichen Zuge eingestehen, dass das Misstrauen seinerseits impliziert, nicht mehr von einem Ort der Instanz eines übergeordneten, außerhalb der Differenz Stehenden sprechen zu können. Was hier forciert wird, ist also erst einmal eine bestimmte Dysfunk337 | Derrida: Grammatologie. S. 16. 338 | Ebd., S. 17. Derrida verwendet hier die sprachwissenschaftliche Begrifflichkeit von Signifikant und Signifikat, lat. Bezeichnendes und Bezeichnetes. Er rekurriert im Besonderen auf Ferdinand de Saussures vorgenommene Unterscheidung zwischen Zeichenkörper (als Signifikant die lautliche oder graphische Gestalt eines Zeichens) und dem dadurch bezeichneten Gegenstand (Signifikat). Saussures Zeichentheorie zufolge ist der Signifikant ein akustisches Bild und das Signifikat der dazugehörige Gedanke; beide stoßen im Zeichen zusammen. Näheres hierzu folgt in einem späteren Abschnitt des Kapitels. 339 | Ebd., S. 29. 340 | Ebd.
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tionalität der semiotischen Theoriebildung, um im Anschluss dasjenige freizulegen, »was im Zeichenbegriff weder existiert noch je funktioniert hat«341. Daraus folgt, dass schlechterdings kein Signifikat außerhalb desjenigen Spiels stehen kann, welches die Sprache konstituiert. Auch hier gilt: Es gibt kein Außen der Sprache. Es ist die Schrift selbst, die fassbar machen soll, dass ihre eigene »Heraufkunft« unabdingbar mit der »Heraufkunft des Spiels«342 verknüpft ist. Das Postulat, dass es die Schrift sei, die die Sprache begreift und nicht umgekehrt, markiert den Kern von Derridas Paradigmenwechsel. Wie sich die Schrift von der Sprache emanzipiert, so geht der linguistic turn in den grammatological turn über. Aus einer solchen Sicht auf Schrift resultiert nicht nur die Konsequenz, Schrift um die Notationsformen der Kinematographie, Phonographie und Choreographie und deren spezifische Graphematik zu erweitern, sondern auch die Forderung, das Augenmerk auf den ermöglichenden Charakter von Schrift zu legen – ihre Athletizität.343 Für Derridas Argumentationslinie ist wesentlich, nicht nur darauf zu achten, was Sprache zeigt, sondern auch auf das, was sie kann bzw. auf den Modus, in dem sie funktioniert. Es reicht nicht aus, die bestimmten Praktiken zugeordneten Notationssysteme offenzulegen. Man muss auch »das Wesen und den Gehalt der Tätigkeiten selber […] beschreiben«344. Die hier konstatierte Ausweitung des Medialen als Schrift (in Form der Übertragung) hängt für Derrida unmittelbar mit jener Entwicklung von Informationspraktiken und -techniken zusammen, zu der auch die »Ausweitung der Phonographie und all jener Mittel« zu zählen ist, »mit deren Hilfe die gesprochene Sprache konserviert und außerhalb der Präsenz des sprechenden Subjekts verfügbar gemacht werden kann«345. Von derlei Ausweitung leitet Derrida »eine neue Logik des ›Supplements‹« ab, die eine an der phonetischen Sprache orientierte »Ökonomie«346 des sich selbst affizierenden »›Sich-im-SprechenVernehmens‹«347 ablöst. Schrift als Radikalisiertes »stammt nicht mehr aus einem Logos«348, sondern präsentiert die »Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt«349.
341 | Ebd. 342 | Ebd. 343 | Ebd. (Schrift wird, in dem Wort Derridas, »athletisch.«) 344 | Ebd. 345 | Ebd., S. 23. 346 | Ebd., S. 18f. 347 | Ebd., S. 26. 348 | Ebd., S. 19. 349 | Ebd., S. 24.
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Kritik metaphysischer Phonologie Derridas Position sucht die »Metaphysik der phonetischen Schrift«350 dort anzugreifen, wo sie auf einen Logosbegriff rekurriert, der sich auf die Verbindung von logos und phone gründet. Hypostasierung des Subjekts und damit des gesprochenen Worts bedarf der Ideologie phonetischer Produktion, der das Wesen der phone als Schnittstelle zum logos gilt. Gekoppelt an und affiziert von dem, was die Metaphysik Seele nennt, kommt der phone versammelnde, produzierende und empfangende Funktion zu. Daran gerät die Stimme zum Produzenten des primären Zeichens, wie Aristoteles sagt: Das in der Stimme verlautende Zeichen ist ihm ein Abbild der in der Seele hervorgerufenen Zustände. Wo in solcher Metaphysik die phone als Transmissionsriemen zwischen Seiendem (die Dinge) und Seele (die Affektationen) zur Geltung gebracht wird, so erweist sich mit der Deutung von der Stimme als das Produzierende auch der Produktionsbegriff als bereits teleologisch besetzt.351 Woher aber stammt diese phonetisch orientierte Teleologie? Die mittelalterliche Theologie verstand den Logos als ein unendlich schöpferisches Subjekt und die intelligible Seite des Zeichens als Seite der unendlichen Produktion. Das signatum der Scholastik richtete sich auf eine erschaffene res, ein pneumatologisch geäußertes Seiendes, das sich seinerseits linear aus dem Logos und dem göttlichen Atem erschloss. Damit war das signatum in seiner Medialität durch Präsenz und Unmittelbarkeit bestimmt – und es zeigte sich spurlos.352 Noch Hegel hat die Hervorbringung des Begriffs und die Selbstpräsenz des Subjekts an den Vorrang des Gehörten und damit der Stimme geknüpft. Bei ihm heißt es: »Das Ohr vernimmt […] das innere Erzittern des Körpers, durch welches nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern die erste ideelle Seelenhaftigkeit zum Vorschein kommt.«353 Schrift, als ›lebendige‹ Schrift vernommen, bindet sich für Hegel stets an die Stimme und an den Atem: Pneumatologie (Ausdruck von Herrschaft und Linearität) erhebt sich über Grammatologie (Relationalität, Nicht-Linearität). Selbst die moderne Linguistik bleibt einer solchen Pneumatologie und deren inhärenter Linearität bzw. dem Logozentrismus insofern verpflichtet, als sie das Signifikat affirmativ in seiner Präsenz im intuitiven Bewusstsein bereits für sinnerfüllt und damit vom Signifikanten, von der Spur unabhängig erachtet – das Signifikat zum Sinn hat die Spur nicht nötig. Genau diese Bezugnahme auf einen Sinn eines »außerhalb jedes Signifikanten denkbaren und möglichen Signifikats«354 ist es, die Derrida in Zweifel zieht. 350 | Ebd., S. 18. 351 | Die teleologische Aufgeladenheit des Produktionsbegriffs ist eine Problematik, mit der, wie ich in »Das Urbane« zeige, auch Lefebvre zu kämpfen hat. Dell: Das Urbane. 352 | Derrida: Grammatologie. S. 128. 353 | Ebd., S. 26. 354 | Ebd., S. 128.
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Alternativ schlägt er vor, via Hinwendung zur Spur, zum Graphem und dessen Weltlichkeit bzw. Materialität und Praxis vorzustoßen. Wer die Idee des Zeichens und damit auch jede Form metaphysischer Teleologie kritisieren will, hat aufzuzeigen, dass das Signifikat immer schon (»ursprünglich und wesensmäßig«355) Spur ist, sich »immer schon in der Position des Signifikanten befindet«356. Eine solche These würde auch den Signifikant entlasten, dem in der abendländischen Tradition die Aufgabe zufiel, die Heterogenität der parallelen Ordnungen von Signifikat (als Sinn oder Ding, noema oder Realität) und Signifikant (Spur) abzubilden oder zu fassen. Es war dies eine Parallelität, in der das Signifikat in seiner Form (seinem Wesen, ti esti) das Privileg der Präsenz und des unmittelbaren Kontakts zum Logos genoss. Jegliches formale Wesen des Zeichens war gleichlaufend nur durch diese Präsenz zu bestimmen. In nuce bildete der Metaphysik ein transzendentales Signifikat die Grundlage jenes Denkens, das alle Schrift bereits impliziert und gleichzeitig eine »absolute und irreduzible Differenz zwischen Signifikat und Signifikant«357 sichern soll. Ein solches Signifikat produziert sich selbst-affizierend gleichzeitig in der Präsenz und als Bezeichnetes in einem Element der »Idealität und Universalität«. Wenn der intelligible, nicht-weltliche Wesenszug des Elements für die Substantialisierung des Ausdrucks konstitutierend wirken soll, liegt die Bedingung der Möglichkeit des Signifikats, zu sein, in der synästhetischen Erfahrung der phone358, des gesprochenen Wortes, als »Erfahrung des Seins«359. Das Wort Sein wäre dann, wie es bereits Heidegger in Sein und Zeit360 darzulegen suchte, ein immer schon verstandenes Ur-Wort. Aber eben jenes Postulat eines vorausgesetzten Vorverständnisses des Wortes Sein macht, so Derridas Entgegnung, jegliche Dekonstruktion von Metaphysik und finalistischer Teleologie (oder für uns: Planung) unmöglich. Weit entfernt, auf Ontologie zu verzichten, beabsichtigt Derrida, die Linguistik hin zu einer Ontologie der Schrift zu drehen. Die Wendung behauptet sich in der Forderung, dass wenn Linguistik nicht darin aufgehen kann, sich allein aufs Ontische (auf das Seiende als existierende Gegenstände ostensiver Definition) zu orientieren, sie, um die »Ontologie und Seinsprivileg stiftenden Begriff-Wörter außer Kraft zu setzen«361, gleichlaufend jegliche Regionalität von Ontologie hinter sich zu lassen hat. Bezüglich der Frage nach dem Sein 355 | Ebd., S. 129. 356 | Ebd. 357 | Ebd., S. 38. 358 | Die phone wäre sozusagen Schnittstelle, Interface Medium zwischen Logos und Subjekt. 359 | Derrida: Grammatologie. S. 39. 360 | Heidegger, Martin: Sein und Zeit. §5. Tübingen 1949, S. 130ff. 361 | Derrida: Grammatologie. S. 40.
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und dessen Konstitution geht Derrida daher wieder mit Heidegger und zwar hinsichtlich der Strategie, die teleologische Bestimmung des Sinns des Seins loszulassen, um »in letzter Instanz die Einheit des Wortes zu dislozieren«362 . Wie hier anerkannt wird, dass jedes Signifikat immer schon in ein Netz von Sprachen und historischer Signifikanz eingebettet ist, so wird die Annahme eines irreduziblen ersten Signifikats aufgegeben.363
Relationalität: Wohnen in der Struktur Der philosophiegeschichtliche Moment, an dem Heidegger in der Einführung der Metaphysik das Wort Seyn durchstreicht, markiert für Derrida jenen Augenblick, an dem die Zeitrechnung der Metaphysik endet – es ist der letzte Atemzug eines pneumatischen Phonozentrismus, »letztmögliche Schrift einer Epoche«364 . Gleichzeitig behauptet dieses Sein Heideggers die Schnittstelle zu und erste Schrift von etwas Neuem: der Denkfigur der différance, welche die Ökonomie der Produktion des Differierens zwischen Ontischem und Ontologischem (die nicht in einem Zug zu denken ist) fasst. Weder die ontischontologische Differenz noch ihre Gründung in der Transzendenz des Daseins können, da sie noch der alten Epoche einer Onto-Theologie angehören, als ursprünglich gelten. Dagegen kommt mit der différance ein Wechsel von den statischen Ebenen des Ontischen und des Ontologischen über zur performativen Bewegung zwischen ihnen als Schriftproduktion – als Grammatologie – in Gang. Auf der einen Seite baut hier Derrida auf die Irreduzibilität der durch Heidegger vollzogenen Ausstreichung des Seins. Eine solche Ausstreichung kündet von der und befestigt eine »Notwendigkeit des schriftlichen Kunstgriffs«365, obgleich deren Begrifflichkeit noch jenem philosophischen System angehört, das für die »Auslöschung der Differenz«366 steht. Auf der anderen Seite sucht Derrida mit diesem Schritt zurück zwei nach vorn zu gehen, jede Exteriorität der Schrift hinter sich zu lassen und »die Schrift und die Differenz miteinander in Verbindung zu bringen«367. Wir haben gesehen, dass Derridas Argumentation ihre zentrale raumtheoretische Wendung dort nimmt, wo sie auf ein Außen verzichtet. Gewichtig zu nehmen ist der Alternativvorschlag, nämlich die Strategie, sich internalisierend in die Bewegung der Epochenwende hinein zu begeben, um von innen her an den Strukturen zu drehen. Für das In-den-Strukturen-Agieren benutzt Derrida wiederum einen Heideggerschen – durchaus raumtheoretisch aufgeladenen – Begriff: den des Wohnens. 362 | Ebd., S. 41. 363 | Ebd., S. 42. 364 | Ebd., S. 43. 365 | Ebd., S. 44. 366 | Ebd. 367 | Ebd.
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Und nur von dieser raumtheoretischen Begrifflichkeit und ihrer strategischen Aktivierung her wird der Vorgang des Internalisierens von Struktur plausibel: Die dekonstruierenden Bewegungen können »nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen […] in bestimmter Weise bewohnen«368. Dekonstruktion369 hat »von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen«370. Für Stadtforschung ergibt sich daraus: Es ist die Schrift, die den Dingen vorgängig ist, oder noch radikaler: Stadt ist Schrift. Der Ort des Logos der Stadt als topos noetos enthält keinen zu transkribierenden (aufzuschreibenden) Sinn, der Sinn ist bereits in der Schrift und ihrer Produktion enthalten. Damit rührt die Schrift der Stadt in ihrer Nicht-Phonetik an der Substantialität von Präsenz: Schrift braucht keine Identität, keine transzendentale Idee, keinen Namen mehr. Womit es die Stadtforschung dann zu tun hat, ist, dass die Schrift den Namen der Stadt ausstreicht, sie ist nicht mehr Form sondern Struktur. Stadtforschung hat sich dann auf die Beschreibung der Verknüpfungsgefüge der Stadtschrift zu konzentrieren, anstatt vorgängige Identitätszuweisungen zu behaupten. Sie profitiert hier von dem (dia-) grammatologisch inspirierten Wechsel von der Identität zur Relationalität. Was dieser Wechsel mit sich trägt, ist eine Praxis der Schrift, welche Aufhebung und Produktion gerade nicht negiert, sondern von der Teleologie befreit und zur Transformation der Seinsweisen des Ethos (das bei Heidegger »Schicklichkeit« heißt) hin wendet.371 Das betrifft die Stadtforschung vor allem im Hinblick auf den Gebrauch des – noch teleologisch besetzten – Begriffs der Raumproduktion. Wir haben gesehen, dass Derrida auch dort, wo er Hegel kritisiert, ihm folgt. Hegel bleibt, selbst wenn er »das tönende Wort« als »Boden der Innerlichkeit«372 der Schrift vorzieht, doch auch der erste Denker der Differenz. Seine Überlegungen zum Zeichen als »produzierendes Gedächtnis«373 markieren den Beginn eines Denkens der Produktion als Bedingung der Möglichkeit von Schrift, d.h. Schrift als das Produzierende, die Derrida zur Relationalität der Verweiszusammenhänge und Verschiebungen weiterdreht. Schrift beschreibt und besteht aus »Relationen, nicht Benennungen«374. Der hier zentrale Gedanke der Relation stellt das Verfahren der Verschiebungen und Aufschiebungen 368 | Ebd., S. 45. 369 | Es geht mir hier vor allem um die Weise, Ethik, das Verfahren des Wohnens in der Struktur, weniger um das mittlerweile ›postmodern‹ besetzte Wort »Dekonstruktion«. 370 | Derrida: Grammatologie. S. 45. 371 | Ebd., S. 47. 372 | Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Werke Bd. 8. §459. Frankfurt a.M. 1986. Zit.n. ebd., S. 47. 373 | Ebd., S. 48. 374 | Ebd., S. 47.
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heraus. Angesichts dessen beinhaltet der Begriff der différance nicht mehr die »Opposition zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen«375, sondern die relationale Bewegung »der différance zwischen zwei différences oder zwischen zwei Buchstaben«376, die jede Gegenwärtigkeit ausschließt. So löst sich für die Stadtforschung die Schrift von der geschlossenen Form der Stadt, um sich hin zur Struktur ihrer eigenen Grammatologie zu bewegen.
Krise der Repräsentation. Derrida und Saussure Wie aber ist die différance genauer zu bestimmen? Neben der Teleologie ist zunächst das, was Derrida den metaphysischen Modus von Repräsentation nennt, Gegenstand sprachwissenschaftlicher Kritik. Sich entlang der Struktur von Ferdinand de Saussures Cours de Linguistique générale377 voranarbeitend kommt Derrida zum dem Schluss, dass Schrift in der Liguistik nur deshalb als sekundäre bzw. abgeleitete Funktion gilt, weil sie dort »repräsentativ ist«378. Auch für Saussure stellen »Sprache und Schrift […] zwei verschiedene Systeme von Zeichen« dar, »das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erste zu repräsentieren«379. In einer solchen »metaphyischen« Perspektive sinkt der Signifikant auf die Ebene der sekundären Repräsentation herab, so, wie bereits bei Aristoteles das gesprochene Wort als graphie-phonie des Logos galt. Wo Saussure Sprache als »eine Übereinkunft«380 bestimmt, innerhalb derer Zeichen über einen rein repräsentationalen Charakter verfügen, so ist »die Natur des Zeichens, bezüglich dessen man übereingekommen ist, indifferent«381. Nicht nur kündet die Funktion der Übereinkunft von dem genuin sozialen Charakter der Sprache, auch verschiebt sich die Funktion von der sprechenden Person zur Sprache. Dies allerdings nicht in dem Sinn, dass das Zeichen einen Namen oder eine Sache, »sondern eine Vorstellung und ein Lautbild«382 repräsentiert. Tatsächlich stellt das Zeichen eine Ganzheit vor, in die sowohl Signifikant als auch Signifikat eingehen. Daraus folgt die strukturalistische Konsequenz, dass die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Be-
375 | Derrida, Jacques: »Die différance«. In: Ders.: Die différance. Stuttgart 2004, S. 114. 376 | Ebd. 377 | Im Folgenden zitiert als: de Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967. 378 | Derrida: Grammatologie. S. 54. 379 | zit.n. Ebd., S. 54. 380 | Ebd. 381 | de Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. S. 12. 382 | Ebd., S. 77.
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zeichnetem eine beliebige ist, sie ist arbiträr.383 Das darin eingelagerte Element der Beliebigkeit gilt jedoch nicht bezüglich des Sinns, sondern der Struktur der Sprache. Die Arbitrarität des Zeichens markiert denn auch keinen Gegenpol zum Sozialen, vielmehr geht sie aus jener hervor, sie vermittelt sich durch soziale Performanz, sie organisiert sich im sprachlichen Gebrauch und ist daher »ererbtes Produkt«384. Aus Arbitrarität leitet sich ab, dass, weit davon entfernt, einer zeitlosen, vorgängige Vernunft zu entstammen, für Zeichen kein anderes Gesetz gilt »als das der Überlieferung«385. Wie Zeichen auf Grund ihrer Transformierbarkeit durch Gebrauch in der Zeit relational zu bestimmen sind, so drücken eben jene Transformationen eine »Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Bezeichneten und der Bezeichnung«386 aus. Das führt »theoretisch die Möglichkeit mit sich, jede beliebige Beziehung zwischen der lautlichen Materie und den Vorstellungen herzustellen«387. Hier kommt ein Postulat einer Vorrangigkeit des Sprechens vor der Schrift zum Tragen, das Intentionalität von Sprache unterstellt. Damit rückt auch die Zeichentheorie in den Horizont einer ontologischen und subjekttheoretischen Position. Der spezifischen Repräsentationskonzeption Saussures, die ein modellhaftes, rein formenbezogenes Ideal der Sprache postuliert, »das eine in Wirklichkeit niemals rein phonetische Funktionsweise beherrscht«388, mussten freilich jene Strukturen entgehen, die jene Performanzen aufweisen, die sich – vom Gebrauch verzerrt – verändern können. Das bedeutet keineswegs, dass de Saussures idealistisches Formkonzept sich nicht mit dem Problem einer verunreinigend in das System Sprache eingreifenden Schrift konfrontiert sieht. Durchaus gesteht Saussure ein, dass vom Verfahren der Schrift nicht vollständig abstrahiert werden kann. Im Unterschied zu Saussure, der dies als eine zu vernachlässigende Größe ansieht, betont Derrida geradezu das Affizieren durch Notation, welches jenseits von Repräsentation im Gange ist und Sprache von einem Außen unterminiert. Das ringt Derrida die Bedingung ab, die Extension des Begriffs Sprache als grenzenlos und nicht-identisch mit Schrift zu erachten. Wenn behauptet wird, dass Schrift nicht mehr Supplement für das gesprochene Wort ist, gibt es keine ›erste‹ Schrift mehr. Oder anders herum: Alles ist Supplement. Aus eben dieser Bewegung der Nicht-Identität entfaltet sich der Derrida’sche Gedanke der Spur. Wie Spur etwas ist, das sich niemals im Sinne einer totalen Gegenwärtigkeit realisieren lässt, so löst das Intervall des Immer-anders-Sein im Selbst-Sein das Identitätskonstrukt einer Gegenwart, als Bei-sich-selbst383 | Ebd., S. 79. 384 | Ebd., S. 84. 385 | Ebd., S. 87. 386 | Ebd., S. 88. 387 | Ebd., S. 89. 388 | Derrida: Grammatologie. S. 55.
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Sein des Elements in seinem Anderssein, ab. Das Intervall der Spur trennt alles Existierende von dem, »was es nicht ist, damit es selbst sei, aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, muß gleichzeitig die Gegenwart von sich selbst trennen, und so mit der Gegenwart alles scheiden, was man von ihr her denken kann, d.h. in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, besonders die Substanz oder das Subjekt«389. Das richtet das Augenmerk auf die Relationen von Differenz und Auf- bzw. Verschub: Die Ökonomie der Identität tritt zu Gunsten einer seriellen Auffächerung der Differenz zurück, so »daß einer der Termini als différance des anderen erscheint, als der andere, in der Ökonomie des Gleichen unterschieden/aufgeschoben (différé), das Intelligible als von dem Sinnlichen sich unterscheidend (différant), als aufgeschobenes Sinnliches (différé); der Begriff als unterschiedene/aufgeschobene – unterscheidende/aufschiebende Intuition (différée – différante); die Kultur als unterschiedene/aufgeschobene – unterscheidende bzw. aufschiebende Natur (différée – différante); jedes Andere der Physis – techne, nomos, thesis, Gesellschaft, Freiheit, Geschichte, Geist etc. – als aufgeschobene Physis (différée) oder als unterscheidende Physis (différante). Physis in différance.«390 Verschiebung als »das Übergehen von einem zum anderen Signifikanten«391 und Verdichtung als die »Substitution eines Signifikanten durch einen anderen«392 zu denken bedeutet, Abschied zu nehmen vom Begriff der Identität als solchem und Differenz von einer Kritik an jenem zu befreien. Wo sich Subjektivität, Bewusstsein nur als »Selbst-Gegenwart, als Wahrnehmung der Gegenwart«393 denken lässt, insistiert Derrida mit Nietzsche und Freud gleichwohl darauf, dass »die Haupttätigkeit unbewußt ist, und dass das Bewußtsein ein Effekt von Kräften ist, deren Wege und Weisen nicht seine eignen sind«394. Das verlangt umgekehrt, Strukturen performativ zu denken und (hier wieder bezugnehmend auf Nietzsche) als Feld von »Kräftedifferenzen« von »Spur und zugleich […] Energetik«395. Gegenwärtigkeit zeigt sich nicht mehr als im metaphyischen Sinne produziert, sondern als verloren, als »nicht wieder gutzumachender Verlust von Gegenwart, irreversibler Verschleiß von Energie« als Prozess »rückhaltloser Verausgabung«.396 Innerhalb dessen kündet der Begriff der Spur von einer Schrift, die die reine Energetik des Unbe389 | Derrida: »Die différance.« S. 126. 390 | Ebd., S. 133. 391 | Ebd., S. 138. 392 | Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a.M. 1995, S. 281. 393 | Derrida: »Die différance«. S. 130. 394 | Ebd., S. 132. 395 | Ebd., S. 133-35. 396 | Ebd., S. 136.
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wussten produktiv an sich selbst werden lässt. Dabei haben wir es mit einem medialen Übersetzungsvorgang zu tun. Wir können das Unbewusste nie direkt wahrnehmen. Was sich an ihm zeigt ist seine Wirkung, »es webt sich aus Differenzen und entsendet Repräsentanten.«397 Genauso verhält es sich mit der différance. Sie ist »weder einfach aktiv noch passiv«, sondern eine »mediale Form«, die »eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Ob-jekt, […], weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken lässt«398. Sofern mit Blick auf das eben Geschilderte davon gesprochen werden kann, dass Derrida Saussures Überlegungen keinesfalls im Ganzen zurückweist, erscheint für die Stadtforschung die Arbitrarität des Zeichens als jenes Scharnier, an dem Dislozierung der Schrift ihren Ort hat. Die These von der Arbitrarität, als Aussage über die Relationen determinierter Signifikaten und Signifikanten und deren Regelung, lässt eine wesentlich orientierte Unterscheidung zwischen phone und graphe nicht mehr zu. Sobald Schrift die dauerhafte Ordnung zwischen Zeichen und Bezeichnetem darstellt, können »graphische Signifikanten in Erscheinung treten, die von einem bestimmten Verhältnis zu anderen vereinbarten, also ›geschriebenen‹ Signifikanten geregelt werden«399. Es ist an dieser Stelle die Frage der Vereinbarung und deren Relationalität, die als Hebel für eine Neubewertung der Schrift herhält. Tatsächlich wäre eine solche Vereinbarung außerhalb des Horizonts der Schrift gar nicht zu konzeptionalisieren. Angesichts dessen kapriziert sich der epistemologische Raum als Raum der Einschreibung und der strukturellen Topologie einer »räumlichen Distribution, des geregelten Spiels ihrer […] Differenzen«400. Solange an dem Gegensatz von Natur und Distribution im metaphysischen Sinne festgehalten wird, fallen die Symbole, die Grapheme, aus dem System heraus, was aber wiederum zur Konsequenz hat, dass das Phonem nicht mehr Repräsentation des Graphems sein kann. Im Prinzip der phonetischen Schrift gibt es somit weder ein natürliches, noch ein symbolisches (Hegel) oder ikonographisches (Peirce) Verhältnis.401 Man sollte daher wagen, im Sinne der Arbitrarität Repräsentation radikal abzulehnen402 und – als Form – aufzulösen, hin zu einer Struktur relationaler Verweiszusammenhänge: Wie es der graphische Signifikant ist, der »in der phonetisch genannten Schrift durch ein mehrdimensionales Netz 397 | Ebd., S. 137. 398 | Ebd., S. 119. 399 | Derrida: Grammatologie. S. 78. 400 | Ebd. 401 | Ebd., S. 79. 402 | Aus diesem Grund wäre auch das diagrammatische Denken von Peirce von seiner ikonographischen Fixierung hin zur offenen Notation der performativen Diagramme zu erweitern (s. Kapitel Peirce).
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auf das Phonem«403 verweist, so präsentiert sich das Verhältnis Schrift und Sprache als ein ›totales‹ System, das »für alle nur erdenklichen Sinnbesetzungen offensteht«404. Anhand der strukturellen Perspektive rückt formale Offenheit in den Rang der Bedingung der Möglichkeit von Vereinbarungen vor. Mit dem Begriff des graphems ist dann jene die Instanz der unmotivierten, nicht eigen-sinnigen, vereinbarten Spur benannt, die wirkt, bevor es zur Materialität der Einschreibung kommt.405 Auffällig wird nun die Beziehung von Spur und Differenz: »Die Spur, in der sich das Verhältnis zum Anderen abzeichnet, drückt ihre Möglichkeit im ganzen Bereich des Seienden aus.«406 Wenn Derrida – gegen die Teleologie der Metaphysik – die Spur als Erscheinen der Differenz »vor dem Seienden«407 denkt, so bedeutet dies, dass, bevor das Seiende überhaupt in den Bereich der Präsenz treten kann, dessen Struktur und Genese den Möglichkeiten und Bedingungen der Spur Tribut zu zollen hat. Was dann geschieht, ist das Erodieren der Dichotomie von Zeichen und Symbol. Statt von festen Formen vom Symbol und vom Zeichen auszugehen, will Derrida auf die Bewegung zwischen diesen Begriffen rekurrieren, jene Bewegung, in der sich die Transformation von Symbol zu Zeichen abzeichnet. Wenn das aber richtig ist, sollte man auch die umgekehrte Richtung in Betracht ziehen. Diese Zeilen sind vor dem Hintergrund von Charles Sanders Peirces Zeichentheorie zu verstehen, die wohl am besten in Derridas These gefasst ist, dass »der Anbruch der Bezeichnungsbewegung […] zugleich deren Unterbrechung möglich«408 macht. Hier dreht Derrida – mit Peirce – die Frage der Phänomenologie vom Ding hin zur Phänomenologie vom Zeichen. Dabei deutet die spezifische Lesart der Phänomenologie durch Derrida Husserls Ruf »Zu den Sachen« als Hypostasierung der Präsenz der Dinge und deren ursprünglicher Gegenwart. Zwar war es der Verdienst der Phänomenologie, jegliche naive Naturalisierung eines Gegeben zu hinterfragen, gleichzeitig blieb sie, so Derridas Ansicht, in der Teleologie hängen und rief die »radikalste und kritischste Restauration der Metaphysik«409 hervor. In der Kombination von Zeichentheorie und Phänomenologie lässt sich nun einen Schritt weiter gehen, und zwar indem man die Manifestation der Dinge hin zur »Idee eines Zeichens«410 verschiebt. Wir haben 403 | Derrida: Grammatologie. S. 80. 404 | Ebd. 405 | Ebd., S. 81. 406 | Ebd., S. 82. 407 | Ebd. 408 | Ebd., S. 83f. 409 | Ebd., S. 86. 410 | Peirce, Charles Sanders: »Logic as semiotic: The Theory of signs«. In: Ders.: Selected Writings. London 1940, S. 93.
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es mit einer Manifestation der Dinge zu tun, die keine vorgängige Präsenz freisetzt, sondern selbst produktiv ist, und zwar in der Produktion der Zeichen. Wenn Derrida behauptet, dass es eine ursprüngliche Phänomenalität nicht gibt, sondern nur Zeichen, so nicht in dem Sinne eines Konstruktivismus, der alles Reale in ein Simulakrum auflöst. Was hier in Gang kommt ist vielmehr eine Ding-Phänomenologie, die anerkennt, dass das Ding selbst bereits representamen411 ist. Umso mehr macht eine solche Argumentationslinie deutlich, dass Derrida nicht darauf aus ist, sich des Repräsentationsbegriffs zu entledigen. Stattdessen radikalisiert und öffnet er diesen, indem er ihn von der vorgängigen Form hin zur Relation und zur Produktion der Struktur multipler Verweisoptionen verrückt: »Das Eigentliche des representamen besteht darin, es selbst und ein Anderes zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen.«412 Mit seiner Definition und Ausarbeitung des diagrammatischen Denkens war Peirce (s. Kapitel Peirce) zu einem Spiel gelangt, welches die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikanten anerkennt. Die Argumentation dessen fußt auf der Setzung eines funktionalen Spiels, in dem etwas als Zeichen definiert werden kann, was etwas anderes bestimmt und dazu auf etwas Weiteres referiert. Funktional ist das Spiel deshalb, weil es die Frage der Bedeutung und damit ontologische wie auch transzendentale Fragestellungen ausklammert. Wo er für sich selbst ein Außen, eine Exteriorität reklamiert, um von dort aus ein »Spiel in der Welt«413 zu denken, bleibt der Spielaufbau der Peirceschen Diagrammatik hinter sich selbst zurück. Aber auch dort, wo Derrida, anders als Peirce, die Überwindung der reduzierenden Darstellung faktischer, funktionaler Performanzen sucht, folgt er der Intuition, dass die Frage des Seins und des Seienden nicht aufgeben werden kann, sondern in neuen Wegen auszudeklinieren ist. Wenn wir versuchen, die Performanzen in der Wirklichkeit aufzuspüren, bevor wir die Wirklichkeit selbst als Performanz gedacht haben, zäumen wir das Pferd von hinten auf: »Zuerst also muß das Spiel der Welt gedacht werden, und dann erst kann man versuchen, alle Spielformen der Welt zu begreifen.«414 Das fordert die Stadtforschung heraus, die Unmotiviertheit der Spur und damit ihre prinzipielle Offenheit bzw. Unbestimmtheit von nun an mitzudenken und somit auch Unbestimmtheit als Bewegung, als Teil der Produktion von der Stadt. Struktur ist nicht mehr als Gegebenes, Festes, zu denken: Spur-Handlungen können Strukturen erzeugen. Die Spur ist kein ostensiv
411 | Das Representamen gilt bei Peirce als ein Zeichen, »das für ein Objekt in bestimmter Hinsicht steht«. Nach: Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart, 2000. 412 | Derrida: Grammatologie. S. 86. 413 | Ebd., S. 87. 414 | Ebd., S. 88.
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definierbarer Zustand, sondern, erwachsend aus dem Nutzen und Produzieren von Strukturen, performative Bewegung und von daher zu beschreiben. Die traditionelle Formel des Ableitens der Spur (graphem) von der Stimme (phone) lässt sich nur brechen, wenn man die Ursprünglichkeit der Stimme entreißt und sie der Spur zuspricht, auch unter der Gefahr, damit in ein Ursprungsdenken zu verfallen, das man, weil es auf eine Ur-Erfahrung rekurriert, eigentlich vermeiden möchte. Ein solcher Schritt verfängt nur, wenn man den Diskurs temporalisiert, und von Momenten des Diskurses spricht. Ins Zentrum des Interesses rückt die Konstitution einer Bewegung, die es ermöglicht, die »Reduktionsbewegung der Spur«415 mitzugehen, während die Logik des Diskurses auch jene Momente durchläuft, die un-logisch, un-vernünftig sein können. Wer an den inneren Tendenzen eines Diskurses drehen will, hat Diskursanalyse somit in eine Vektoranalyse des jenem gegenläufigen Diskurses zu überführen und Momente gegeneinander auszuspielen. Wo es in einem Moment keine Ur-Spur geben kann, so ist im nächsten Moment zu sagen: »die reine Spur ist die Differenz.«416 Was jedoch nicht meint, dass die Differenz bereits funktional bestimmt wäre. Allein der Fokus richtet sich auf die formgebende Bewegung, welche die Differenz als Spur hervorbringt. In dem Modell rekurriert Differenz nicht auf irgendeine sinnlich erfahrbare Materialität, sondern ist umgekehrt Bedingung der Möglichkeit derselben. Zwischen Intelligiblem und Sensiblem angesiedelt, erlaubt sie »die Verknüpfung der Zeichen untereinander im Innern einer nämlichen abstrakten Ordnung […] oder zwischen zwei Ausdrucksordnungen«417. Wie Differenz nicht sinnlich wahrnehmbar ist, so ist sie doch Voraussetzung für das zu Erfühlende und dessen (An-)Ordnung – die Differenz als Spur erfüllt die Funktion der Ermöglichung. Und da Differenz nur aus Ermöglichung und Verfahren besteht, kann man ihrer nicht habhaft werden: »es kann keine Wissenschaft von der operierenden Differenz selbst geben.«418 Differenz, und das erweist sich im Kontext der Wissensformen der Ermöglichung und für eine Rekonturierung der Stadtforschung als wesentlich, ist Grundlage der Form. Form entsteht aus der strukturellen Bewegung der Differenz. Eine solche Sichtweise dreht jenen Form-Material-Komplex herum, der spätestens seit Aristoteles davon spricht, das Telos sei in der Form angelegt (und aus diesem Telos entfalte bzw. entwickle sich die Bewegung der Entwicklung), und Form sei etwas, das man einem passiven Material überstülpt. Jegliche Planung blieb noch stets in dieser Perspektive auf der Form hängen. Differenz hingegen kapriziert sich hier als die Bewegung der »Formation der Form«419. Man wagt 415 | Ebd., S. 108. 416 | Ebd. 417 | Ebd., S. 110. 418 | Ebd. 419 | Ebd.
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nicht zuviel, wenn man sagt, dass Derrida hier einen Hinweis darauf gibt, wie sich das die Planung begründende Bewegen durch die Form durch eine MetaForm ersetzen lässt, d.h. durch eine Art Relationsgefüge der Ermöglichung, das diagrammatisch wirkt und gleichzeitig eingedrückt, notiert, Spur ist (s. Kapitel Diagrammatik). Mit Husserl420 gesprochen stellt das Diagramm eine hyle/morphe Struktur vor, die sich mit Derrida zur Differenz-Spur verschiebt und als reelle Komponente des erlebten Raums fungiert, jedoch weder zur Stadt noch zum Erlebten gehört. Sie ist gewissermaßen nicht-repräsentational und doch macht sie die – konzeptionell durchdrungene – Erfahrung von Raum erst möglich. Vorgreifend, noch bevor wir den Diagrammbegriff näher in den Blick genommen haben, deutet sich bereits an: Die Rede von der Differenz-Spur erlaubt der Stadtforschung, Diagrammatik neu zu denken, und zwar als eine Form des Diagramm-Handelns im Inneren der Struktur, das auf ein Außen verzichtet und die naturalistische Dichotomie zwischen innerer und äußerer Erfahrung als überholte und unvollständige Alternative herausstellt. Im Zuge dessen avanciert in der Rede von der Differenz-Spur Struktur ihrerseits zum Produzierenden. Die Differenz-Spur rührt von der Verzeitlichung jedes Erlebten her, das, weder intelligibel noch sensibel, nicht nur die Ordnung zwischen den Zeichen, Dingen, Elementen regelt, sondern sie sogar erst hervorbringt »produziert«421. Und das weist der Diagrammatik eine besondere epistemologische Funktion zu: Sie ist es, die die Bewegung der Differenz-Spur, die Elemente in der strukturellen Meta-Form von »Texten, Ketten und Systemen […] an die Oberfläche dringen«422 lässt. Diagrammatik ist die Bedingung dafür, dass die strukturellen Serien, die sich im Gewebe der Spur einzeichnen, sichtbar gemacht werden können. Das zu sagen bedeutet für die Stadtforschung: Die Differenz zwischen der Stadtschrift und dem Erlebten, sich performativ als Stadtnutzungen Einschreibenden in die Stadt stellt sich als die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren heraus, sie ist selbst schon Spur. In dem Zug wird das gestalterische Problem eines in der Form enthaltenen, vorgängigen Plans obsolet. Wenn die Spur der Ursprung des Logos ist, so bleibt nur zu konstatieren, dass die Annahme eines Ursprungs des Sinns (als Plan) entfällt und die Spur sich mit planerisch aufgeladenen Begriffen wie Idealität oder Identität nicht mehr fassen lässt. Wo Differenz als Temporalisation von erlebter Stadtnutzung auftritt, entzieht sich die Struktur der Spur der Beschreibbarkeit durch einen linearen Zeitbegriff. Derridas Aussage, Spur sei
420 | Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und der transzendentalen Phänomenologie. S. 63. 421 | Derrida: Grammatologie. S. 113. 422 | Ebd.
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»der absolute Ursprung des Sinns«423 hebt also nur heraus, dass der Ursprung des Sinns nicht identitär markiert werden kann. Für die Frage nach Wissensformen der Ermöglichung im Rahmen der Stadtforschung und deren (gestalterische) Darstellungsmodi interessiert an diesem Konzept, dass es der Schrift nicht nur Performativität zuspricht sondern auch primäre Erfahrung. Als Gewebe der Spur ermöglicht die Schrift »als Ursprung der Erfahrung des Raumes und der Zeit […], dass sich die Differenz zwischen Raum und Zeit artikuliert und als solche in der Einheit einer Erfahrung erscheint«424. Schrift und der Prozess des Verschriftlichens avancieren zur Bedingung der Möglichkeit von der Erfahrung des espace vecu, des »gelebten Raums«. Mehr noch: In ihrer Bewegung zeigt sich überhaupt erst Raum oder umgekehrt: Jedes sich Zeigen von Raum ist Schrift. Eine solche Folie erklärt jene Formen diagrammatischer Notation, die nicht mehr abbildhaft, sondern produktiv, d.h. hier gestalterisch, re-präsentierten. Die Artikulation räumlicher Erfahrung als Spur erlaubt, »graphische (›visuelle‹ oder ›taktile‹, ›räumliche‹) Ketten, Serien, Reihen – unter Umständen linear – mit performativen (›lautlichen‹, ›zeitlichen‹) Ketten, Serien, Reihen« zu verschalten. Während die Spur selbst, ebenso wie der Raum, keine Substanz hat, übersteigt sie »die Frage Was ist – und macht sie vielleicht erst möglich«425. Das statische Denken in Ordnungen (wie es auch die Planung bestimmte), der Ausgang von Axiomen, Postulaten und Definitionen, löst sich auf und geht über in die Bewegung der Zerstreuung und Verschiebung, Dissemination, Temporisation und Temporalisation – ein »Zeit-Werden des Raumes und Raum-Werden der Zeit«426. Die différance beschreibt einen »Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte und Wirkungen die différents oder die différences wären«427. Wie sich dieser Prozess weder als rein aktiv noch als rein passiv erweist, weder Tätigkeit eines Subjekts noch ein Erleiden durch ein Objekt ist, so geht die hier angedeutete »TemporisationTemporalisation« nicht mehr im »Horizont des Anwesenden«428 auf. D.h., die Bewegung des Bedeutens kommt nur noch als und in Relation in Betracht. Und zwar dann, wenn sich »jedes sogenannte ›gegenwärtige‹ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht«429. Jedes gegenwärtige Element enthält das Merkmal eines vergangenen,
423 | Ebd. 424 | Ebd., S.113. 425 | Ebd., S. 131. 426 | Derrida : »Die différance«. S. 117. 427 | Ebd., S. 118. 428 | Ebd., S. 128. 429 | Ebd., S. 125.
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während es sich seinerseits durch seine »Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen«430 lässt.
Derrida und Austin. Performativität Wie wir sahen, setzt Derrida die Performativität von Schrift als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Die Stadtforschung hat hier nachzuvollziehen, wie das hier eingelagerte, spezifische Verständnis von Performativität näher zu bestimmen ist, um auf das praktische Verfahren der Iteration zu stoßen. Derridas Essay »Signatur Ereignis Kontext« 431 behandelt das durch John Austin vollzogene Aufdecken und Ausformulieren der Performativität als spezifischem Sprach-Modus. Im Zuge der Argumentation führt Derrida eine Verschiebung zu Austin ein, welche auf eine Neubestimmung von Kommunikation und Zeichen, Rede und Schrift zielt. Das Interesse gilt dabei vor allem der Frage, ob und wie in Kommunikation auch »nicht-semantische Bewegungen«432 mitgeteilt werden können. Um an den Kern dieser Frage zu gelangen, problematisiert Derrida zunächst Austins Unterscheidung zwischen ernst gemeinten performativen Äußerungen und unernstem Sprachgebrauch. Derrida unterstellt Austin eine Semantik der Intentionalität, die Verstehen mit dem subjektiv gemeinten Sinn einer Äußerung verknüpfe. Austin setze ein Ideal gelingender Kommunikation voraus, das auf teleologischen Prämissen beruhe und so eine metaphysische Position beziehe. Eine solche Position baue auf der Annahme auf, dass es ein Reales hinter den Erscheinungen gebe. Damit unterminiere Austin jene nicht-metaphysische Position, die er sich doch bereits mit dem Performativitätsbegriff erarbeitet hatte. Aus dieser Argumentation leitet Derrida seinerseits ein Programm ab, welches Kommunikation nicht mehr als Medium von Sinn oder Intention versteht, sondern dagegen vorschlägt, auf die Zeit- und Raumgebundenheit des Sprechens und, im selben Zuge, auf dessen inneres Strukturprinzip zu fokussieren. Wie auch in der Grammatologie zeigt sich hier die operative Konsequenz, die linguistische Unterscheidung von langue (Sprachsystem) und parole (Sprechakt) in das Begriffspaar »Temporalisation« und Verräumlichung«433 zu transponieren. Das soll den Akt des Sprechens von jeglicher Metaphysik befreien und zur raumzeitlichen Materialität verschieben. Sprachliche Zeichen stehen für Dinge, die gegenwärtig nicht anwesend sind.434 Ein Zeichen ist nur erkennbar in Verweis auf die historischen Übereinkünfte, die getroffen wurden, um eine Sache zu bezeichnen. Die Bedeutung 430 | Ebd. 431 | Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. 432 | Ebd., S. 71. 433 | Ebd., S. 36f. 434 | Ebd., S. 38.
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des Zeichens rekurriert nicht auf eine metaphysische Wesenheit, sondern ist historisch situiert. Wenn Zeichen und Zeichengebrauch nur aus dem generischen Gebrauch zu verstehen sind, werden die Strukturmerkmale des Zeichens – Wiederholbarkeit und Zitierbarkeit – sowie das Verfahren der Iteration auf neue Weise wichtig. Denn Bedingung für das Verstehen von Sprechen ist neben dem Regelsystem der Sprache auch das Faktum des Sprechens als Gegebenes und im Anschluss daran die geschichtlich bedingte Struktur von Sprachvermögen und -verstehen. Die Rede von der geschichtlichen Bedingtheit impliziert hier, wie bereits gesehen, keineswegs ein linear-finalistisches Geschichtsverständnis. Dass Sprache historisch konstituiert ist, besagt gerade, dass sie sich nicht auf einen Ursprung, eine Kausalität oder Finalität fixieren lässt. Sprache entfaltet sich vielmehr als dynamisches Gewebe von Differenzen. Das verlangt eine weitere Spezifizierung der Spur: Wenn es sich als nicht mehr ergiebig erweist, die Frage nach einem Wesen, Ursprung oder nach einer Form der Zeichenbedeutung zu verfolgen, muss es eine andere mediale Struktur geben, die ermöglicht, dass sich im Zuge der historischen Gebrauchsweisen Sprache als Form zeigt oder produziert. Und die Inblicknahme dieser ›anderen‹ Struktur gelingt durch den Wechsel von der Performanz zur Performativität, vom individuellen Sprachgebrauch zur allgemeinen Verwendung der Sprache als Rede und im konsequenten Weitertreiben dessen zur Schrift als wesentlichem medialen Gegenstand von Sprache. Im Zuge dessen erweitert sich der Schriftbegriff auf radikale Weise: Schrift ist Sprachverwendung, die auf gemeinsam geteilte Geschichte verweist und Strukturen bereit stellt, derer wir uns bei gegenwärtigem und zukünftigem Sprechen bedienen können.435 Es spielt hier eine wichtige Rolle, dass für Austin nur der aktuell vollzogene Sprechakt Handlungswirksamkeit hatte, die indes – so sah es Austin – bei der Erwähnung des Sprechakts in einem Zitat verloren geht. Das Zitieren verleiht dem Sprechakt den Charakter einer Fiktion, ein zitiertes Versprechen beispielsweise ist nicht selbst ein Versprechen. Dagegen sucht Derrida eine Sichtweise geltend zu machen, die die Handlungswirksamkeit von der durch Austin angenommenen Ursprünglichkeit löst und sie als Effekt jeglicher Sprechsituation erachtet. Die Alltagssprache verliert damit ihre Abgrenzung von abgeleiteten Formen wie der Wissenschaftssprache oder der Poesie. Derrida zufolge operieren alle Sprachformen mit einem Raum der Effekte. Galt bei Austin das Zitieren und Wiederholen gegenüber dem handlungswirksamen Sprechakt als parasitär, so dreht sich dieses Verhältnis nun um. Sich von der traditionellen Fixiertheit auf die Gegenwart zu befreien, setzt voraus, in die Analyse auch jene Spuren von vergangenem Gesagten mit einzuschließen, die auf ein in Zukunft geschehendes Jetzt verweisen können. Wo weniger von Belang ist, ob ein Sprechakt im Hinblick auf einen vorgegebenen Sinn gelingt, 435 | Ebd.
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so tritt die Frage des Gelingens im Kontext von Geschichtlichkeit in den Vordergrund. Angesichts dessen kommt es darauf an, jene historischen Spuren auszumachen, deren Fortsetzung jeweilig geformte Schrift als Text manifestiert. Handlungswirksamkeit bindet sich nicht mehr an eine bestimmte Textgattung, sondern an die Medialität und Materialität von Schrift, an materielle Effekte, die sich aus dem Zusammenspiel von Performanz und Performativität ergeben. Hierdurch verschiebt sich erstens das Zentrum des Interesses auf die Art und Weise, wie in bestimmten Gebräuchen auf historisch situierte Übereinkünfte und Materialien rekurriert wird. Zweitens gerät ins Blickfeld, wie ein solcher Prozess eine mit einer Äußerung bezeichnete Sache herstellt. Für die Stadtforschung eröffnet sich daran ein spezifischer Modus der Untersuchung, der durch Wiederholung und Kommentierung eine Art Spuren-Katalog evoziert, welcher die in Begriffen und Theoremen impliziten Annahmen freizulegen sucht. Ein solches Verfahren postuliert kein neues Außen, sondern legt jenen Modus frei, der Form aus Bewegung hervorgehend versteht. Das gibt die Zielrichtung an: Der Kern des Verfahrens besteht darin, der werdenen, sich der formenden Bewegung von innen her kritisch zu nähern. Genau aus diesem Grund bildet das diagrammatische Zerlegen und Neuversammeln der Spuren – als historisch bedingtes Material – die Grundlage für die strukturellen Möglichkeitsbedingungen ermöglichender Wissensformen. Ein solches Verfahren geht einher mit dem Begriff des Programms, der »nur über eine Geschichte der Möglichkeiten der Spur als Einheit einer doppelten Bewegung von Protention und Retention verstehbar wird«436. Der Begriff des Programms provoziert – wie die Arbeit von Rem Koolhaas bestens exemplifiziert – ein Überschreiten der funktionsfixierten Planung hin zur Emergenz nicht-intentionaler Aktivitäten, seine graphemische Ordnung entfaltet sich jenseits der alphabetischen Logik, als »Bewegung seiner Geschichte nach eindeutigen Ebenen, Typen und Rhythmen«437. Dafür, dass Derrida hier nicht ontologisch, sondern genealogisch argumentiert, spricht sein stetes Hinweisen auf die historische Situiertheit jeglicher Schriftpraxis. Das Entstehen nicht-linearer Verfahren der Verräumlichung und deren nicht-linearer Notation transformiert – als Lesart des Raums – auch die Struktur des Raumes 438 selbst: »Mit dem Beginn einer zeilenlosen Schrift wird man auch die vergangene Schrift unter einem veränderten räumlichen Organisationsprinzip lesen.«439
436 | Derrida: Grammatologie. S. 149. 437 | Ebd. 438 | Ebd., S. 154. War die Entstehung der Städte an die Entstehung und Beherrschung der Schrift gekoppelt, so werden neue Schriftformen die Städte und deren Konzeption verändern. 439 | Ebd., S. 155.
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Endlich fragt Derrida danach, wie Performativität als Spur in der Zeit Sinn hervorrufen kann und akzentuiert in diesem Zusammenhang die Iterabilität und Zitathaftigkeit performativer Äußerungen. Wenn das Gelingen performativer Äußerungen davon abhängt, dass diese als zitathafte (zeichentheoretische Perspektive) oder ritualhafte (kulturtheoretische Perspektive) Form in einem System gesellschaftlich anerkannter Konventionen und Normen identifizierbar und wiederholbar sind, so impliziert dies auch, dass die Möglichkeit des Scheiterns und des Fehlschlagens performativer Äußerungen keinen Sonderfall des Sprechens und der Sprache darstellt, sondern einen ihnen immanenten, sie konstituierenden Bestandteil bildet. »Könnte eine performative Äußerung gelingen«, lautet Derridas berühmte Frage in »Signatur Ereignis Kontext«, »wenn ihre Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Aussage wiederholen würde, mit anderen Worten wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform identifizierbar wäre, wenn sie also nicht in gewisser Weise als »Zitat« identifiziert werden könnte?«440 Es wurde oft in dekonstruktivistischer Hinsicht bemerkt, dass wir mit Derridas Frage akzeptieren müssen, dass der Erfolg einer performativen Handlung in sich immer provisorisch ist. Wenig beachtet wurde aber das – für die Stadtforschung immens wichtige – Wie der durchaus konstruktiven Operation, die dazu nötig ist, um mit diesem Provisorium zu Rande zu kommen: die strukturell-iterative Musterarbeit an und mit Sprache. Stets gilt, dass es im relationalen Agieren aus den Strukturen kein letztes Signifikat und keinen letzten Referenten geben kann. Die Stadtforschung sieht sich hier der Herausforderung gegenübergestellt, von der Ambivalenz dessen, was sie als Stadtschrift notiert und vorfindet, auszugehen. Das ist keinswegs einfach, sondern sehr mühsam und ein Lernprozess in sich selbst. Die oben angerissene Fragestellung der raumzeitlichen Materialität von Sprache rechtfertigt sich hier: Dass wir schwer ausmachen können, dass sich Wiederholung oder Iterativität linearer Sinngebung entziehen, liegt gerade an ihrer Rekurrenz: »Man merkt das nicht, weil man meint, dort Themen wahrzunehmen, wo das Nicht-Thema, das, was nicht zum Thema werden kann, das, was keinen Sinn hat, unablässig wiederkehrt, d.h. verschwindet.«441 Die Wiederkehr oder Iteration von Motiven und Mustern trägt also ebenso zur Thema-Konstitution wie zur Thema-Auflösung bei. Iteration ist Iterabilität, Zerfall des Sinnes. Diese Auflösung fasst Derrida mit dem Wort Dissemination: Die Dissemination von beispielsweise »Weiß bringt eine Struktur von Tropen hervor, die unablässig um sich selbst kreist, weil sie ständig einen Dreh zuviel vollbringt: keine Metapher mehr, keine Metonymie. Wo alles metaphorisch wird, gibt es keinen 440 | Derrida: »Signatur. Ereignis. Kontext.«. S. 99. 441 | Ebd., S. 101.
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eigentlichen Sinn und folglich auch keine Metapher mehr.«442 Analog hierzu formulieren Julia Kristevas Mallarmé-Kommentare: »Spaltung des Sinnes, der Aussage, des Wortes; Verlust ihrer Identität zugunsten eines Rhythmus, einer Musik, einer Melodie – so geht aus Mallarmés theoretischen Schriften das Gestaltungsprinzip seiner Praxis hervor.«443 Wo aber die extreme Ambivalenz eine Zersetzung des Sinnes bewirkt, erscheint auch eine Akzentverschiebung zugunsten des performativen Ausdrucks. Die Stadtforschung lernt hieraus, dass Iteration auch Alteration impliziert: Wiederholung bedeutet Wieder-Holen in einen anderen Kontext, meint Verschiebung.444 Muster fluktuieren im Gebrauch; sie erzeugen mit ihrer Kontinuierung ebenso ihre Diskontinuierung. Deshalb steht mit jeder Wiederholung eines Musters – als Material – ebenso sehr die Differenz am Anfang. Es gibt kein Schrift-Äußeres, kein ›jenseits‹ der Schrift. Wo in der Iteration keine Präsenz, keine Gegenwart denkbar ist, die sich unabhängig von der Textur benennen oder aufweisen ließe, kommt die Affirmation des cut-ups und der Collage in Gang: »Man muss schneiden«, sagt Derrida in den seinerseits vollzogenen Überlegungen zu Mallarmé, »weil […] das Anfangen sich entzieht und sich teilt, sich auf sich hinfaltet und sich vervielfältigt.«445 Erneut erhält die Stadtforschung einen Hinweis darauf, wie sich verstehen und konzeptionalisieren lässt, dass Form aus Bewegung kommt und nicht umgekehrt: »[W] eil es damit anfängt, dass es sich wiederholt«, hat jedes Ereignis selbst »die Form der Erzählung.«446 Die Gegenwärtigkeit jedes Ereignisses als Muster rührt von der Differenz her, sie ist »nicht umgekehrt ableitbar«447. Um aber Multiplikationen an Mustern vornehmen zu können, muss Iteration relational agieren. Damit avanciert das Dazwischen, das strukturelle »Als« 448, das mit seiner Struktur stets vorgängig bleibt, das bereits einen Riss, eine ihm eigene Kluft in sich trägt, zum Entscheidenden. Nur wenn das, was als Muster erscheint, die Anwesenheit seines Augenblicks bereits tilgt und zur Spur sich wandelt, kann relationales Forschungshandeln funktionieren: als immer neue Verschaltung relationaler Musterkonstellationen. Man sollte also nur insoweit von der Materialität her denken, als man auf die Ordnung der Signifikanten rekurriert. Doch handelt es sich dabei um eine skripturale Materialität, d.h. eine 442 | Derrida: La dissemination. Paris 1972, zit.n.: Zima, Peter V.: Ästhetische Negation: das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé. Würzburg 2005, S. 37. 443 | Kristeva, Julia: La Revolution du langage poétique. Paris 1974, S. 34. 444 | Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Wien 1999, S. 333. 445 | Derrida, Jacques : Dissemination. Wien 1995, S. 338. 446 | Ebd., S. 328. 447 | Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a.M. 1979, S. 106. 448 | Derrida, Jacques: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. München 1987, S. 201ff.
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stets schon formierte. Aus diesem Grund beharrt Derrida auf der Paradoxalität der Spur, »die nur ankommt, um sich davonzumachen, um sich selbst auszustreichen in der Remarkierung ihrer selbst […], die sich, um anzukommen, in ihrem Ereignis, ausstreichen muß«449.
Schaltung Zusammenfassend lässt sich sagen: Derridas Argumentation basiert auf dem Lehrsatz, der Logozentrismus setze die Schrift zu einem sekundären, parallelen Medium herab, das einst aus der »Innerlichkeit des Sinns« herausgefallen sei und damit eine Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem hervorgerufen habe. Sicherlich gehörte ein solches Denken fortan zum Grundbestand einer jeden finalistischen Planung und fundierte deren Unterscheidung von Sinnlichem und Intelligiblem. Davon, letztere Begriffe zurückzuweisen, sollte die Stadtforschung jedoch absehen: Ohne sie »lässt sich heute nichts mehr denken«450. Die Stadtforschung sollte sich vielmehr darauf verlegen, die Bedingungen der Möglichkeit der Begriffe und die »Grenzen ihrer Möglichkeit« 451 neu zu hinterfragen und damit auch das Medium Schrift als Tätigkeit, als mediale Praktik performativ zu machen, aufzuwerten bzw. zu befreien oder auch: zu aktivieren. Was darüber hinaus beinhaltet, Exteriorität von Stadt-Schrift anzuzweifeln: »Die Exteriorität des Signifikanten ist die Exteriorität der Schrift im allgemeinen. Wir werden zu zeigen versuchen, dass es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge. Ohne diese Exteriorität bricht selbst die Idee des Zeichens zusammen.«452 Mit der Exteriorität des Signifikanten fällt die Universalität von Stadt-Schrift. Somit zeigt sich nicht nur Schrift als performativ – auch ihr Gemacht-Werden und ihr Materialität rücken in den Blick. Jede Form der Stadtnotation ist von nun an von der Kultur, der Technik, dem Verfahren her zu denken.453 Für die Stadtforschung lässt sich hieraus die These ableiten, dass es keinswegs darum geht, das Instrumentarium der Planung ad acta zu legen oder eine Nicht-Planung zu favorisieren. Wo hier ein Drehen im Inneren der Strukturen der Planung als Möglichkeit in Aussicht gestellt wird, so verlangt dies, einereseits Notations- und Schriftverfahren der Planung sehr wohl zu gebrauchen und andererseits Modi zu entwickeln, die es erlauben, dabei die Performativität von Schrift, ihr Gemacht-Werden und ihre Materialität als Ressource des Wissens über die Stadt einzusetzen. Die Stadtforschung erfährt dabei, dass sie dort, wo sie mit repräsentationalen, finalistischen Folien auf die 449 | Jacques Derrida: »Punktierungen – die Zeit der These«. In: Gondek/Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Frankfurt a.M. 1997, S. 24. 450 | Derrida: Grammatologie. S. 28. 451 | Ebd., S. 29. 452 | Ebd., S. 29. 453 | Ebd., S. 30.
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Stadt blickt, sich selbst den Blick auf die Verweiszusammenhänge der Stadtschrift und den Zugang zum Wohnen in den Strukturen zustellt. Wenngleich in dem Zusammenhang Arbitrariät als Hebel fungieren soll, um am Repräsentationsbegriff zu drehen, bleibt die Frage bestehen, wo die Arbitrarität herkommt. Bezugnehmend auf Saussure identifiziert Derrida hier Differenz als das korrelativ Essentielle, als »Ur-Schrift«454 der Spur und Quelle des sprachlichen Werts. Damit ist gesagt, dass ein sprachlicher Laut reduziert auf seine Phänomenalität als physischer Klang keiner Kategorie der Sprache zugehören kann. Die Essenz des Signifikanten ist nicht-materiell, unkörperlich, sie besteht einzig und allein aus der Differenz der empirischen Zeichen untereinander.455 Genau die Angewiesenheit des Zeichens auf die Differenz macht die Bedeutung des Zeichens a) relational und b) räumlich-topologisch. Denn der signifikante Gehalt des Zeichens hängt ebenso von seiner eigenen Beschaffenheit ab, wie von der Beschaffenheit der das Zeichen umgebenden Zeichen und von der räumliche Konstellation bestimmter Zeichen-Nachbarschaften. Das Verhältnis von Phonologismus und Graphismus kehrt sich um: Wie das gesprochene Wort, um überhaupt Differenzen bilden zu können, auf einen bestimmten Fond an Materialität, an Spur, mithin an Schrift zugreifen können muss, so ist Schrift der Stimme vorgängig. Für die Stadtforschung gilt damit: Jede neue Aufzeichnung, jedes neue Aufnehmen von der Stadt ist eine Neuzusammenstellung, ein Neu-Versammeln, das nicht einer planerischen, sondern einer graphemischen Vernunft folgt. Mehr noch: Erhandelter Stadtraum und Raumproduktion sind – wie gesprochene Sprache – als Schrift zu denken.456 Indes: Wie es keine natürliche Sprache gibt, so gibt es auch keine keine naturalisierbare Grammatik einer Raumproduktion. Jede Sprache, jede Aktivität muss von Schrift berührt sein, um überhaupt die Differenzen aufstellen zu können, die sie für ihre Existenz benötigt. So kann Differenz »nicht ohne die Spur gedacht werden«457. Wenn aber Raumproduktion als Form sich konstituiert, tritt auch hervor, dass jegliche graphemische Materialität und deren Bewegung zur Verunreinigung dieser Form führen. Was bedeutet, die Spur ist nicht nur schematisch zu konzipieren (als etwas, das die Verbindungen zwischen graphischem und nicht-graphischem Ausdruck regelt), sondern die Spur selbst ist dis-play458, performative Bewegung der Zeichenfunktion, welche Inhalt und Ausdruck hervorbringt (s. Kapitel Diagrammatik). Differenz als Relationalität ist Bedingung, nicht Teil von Raumproduktion. Ihre Bewegung ermöglicht die Verzeitlichung und Relationalität eben jener. Wie im 454 | Ebd., S. 92. 455 | Ebd. 456 | Ebd., S. 97. 457 | Ebd., S. 99. 458 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 14.
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Anschluss zu zeigen sein wird, liefert die Notation als Schrift des Diagramms nicht nur das Schema zur Relation von Form und Materialität, sondern hat selbst produzierende Performativität im Produzieren und Sicherstellen des Funktionierens unterschiedlichster Darstellungsformen. Stadtnotation ist weder Funktion noch Substanz, sondern (Meta)Form, aus der die Raumproduktion schöpft. Das funktioniert nur, weil die Differenz Form ermöglicht. Der strukturelle Auf bau der Raumproduktion ist dergestalt, dass die Form durch Differenz und Relation entsteht, ja der formale Auf bau der Raumproduktion basiert auf Differenz. Das bedeutet weiterhin, dass sich die Bewegung der Differenz als Verzeitlichung des Erlebten nur formal artikulieren kann, wenn sie sich als (An)Ordnung gleichzeitig verräumlicht und damit Struktur als das Nicht-Wahrgenommene, Nicht-Bewusste mit einschließt. Die Bewegung der Verräumlichung der Spur als Schrift integriert das Unbewusste, das Un-Vernünftige. Wenn jedoch Begriffe nur in der differentiellen Formung der Serie funktionieren, bedeutet dies, dass die Verräumlichung als (An)Ordnung eine infinite Verschiebung fordert. Das berührt erneut die Planung und die Sicht auf die Form: Die Entscheidung für bestimmte Notationen oder Raum-Handlungen ist nicht nach Form oder Identität zu bestimmen, sondern a) nach der Struktur der Topik und b) nach der historischen Situiertheit einer jeweils spezifischen Strategie.459 Legitimationen können nie absolut sein und haben immer ihrer spezifischen strategischen Lage Rechung zu tragen. Auch deshalb ist Stadtforschung Vektoranalyse. Sie untersucht einen »bestimmten Kräftezustand und […] ein historisches Kalkül«460. Die Relation zwischen Sinnlichem und Intelligiblem lässt sich dabei nicht ohne die Verräumlichung denken. Gewöhnlich haben wir ein naives Verständnis der Stadtwirklichkeit. Wir hängen einer naiven Objektivität nach, eben weil wir räumlich Äußerlichkeit als vertraut erachten. Die Spur hingegen »ist die Eröffnung der ursprünglichen Äußerlichkeit schlechthin, das rätselhafte Verhältnis des Lebendigen zu seinem Anderen und eines Innen zu einem Außen: ist die Verräumlichung.«461 Diese Räumlichkeit kann wiederum »ohne das gramma, ohne die Differenz als Temporalisation […] nicht in Erscheinung treten«462 . Eine Runde weiter gedreht gilt: Wir können über die Stadt ohne ein spezifisches Raumwissen oder auch Verräumlichungswissen nichts aussagen.463 459 | Derrida: Grammatologie. S. 122. 460 | Ebd. 461 | Ebd., S. 124. 462 | Ebd. 463 | Das gilt auch für die Zeit: Heidegger nennt den teleologischen Zeitbegriff »vulgär«, denn dieser sei von der aristotelischen Physik bis zur Hegel'schen Logik a) von einer rein physikalischen Punkt-zu-Punkt-Bewegung und b) von einem hypostasierten Jetzt aus konzipiert. »Die vulgäre Charakteristik der Zeit als einer endlosen, vergehenden, nich-
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Wo Derridas Präsenzkritik die Kette Stimme > gesprochenes Wort > Idealität der Bedeutung aufruft, so entspricht dieser im Städtebau jenes Bild, das Le Corbusiers Hand beim Zeigen eines Plans präsentiert. Dort entfaltet sich jene Kette gezeichneter Plan > zeigende Hand > Idealität der Bedeutung, die einst der Funktionalismus als jene städtebauliche Maxime etablierte, die heute noch das Herangehen an die Stadt als Objekt determiniert. Diese teleologische Kettenfolge gilt es dort loszulassen, wo »die traditionelle Fixierung des Städtebaus auf einen idealisierten Endzustand« eine »immer geringere Rolle«464 spielt, wie André Krammer in seinen »Anmerkungen zum Verhältnis von Städtebaulehre und Stadtforschung« berichtet. Das Beispiel Universität der Nachbarschaften (UdN) zeigt hier, wie Baupraxis und Bauplan, Handlung und Zeichnung gleichursprünglich agieren, um fortgesetzt aufeinander zu verweisen, sich zu ersetzen oder einander zu verschieben. Wo Performativität der Bauhandlungen und Medialität der Bauschrift gleichursprünglich sind, so stellt sich die Ursprungsfrage überhaupt als obsolet heraus, um das hierarchische Denken in ein Denken relationaler Topologien oder Diagramme zu wenden.465 Weil hier an die Stelle des Vorrangs ein Zugleich tritt, bilden die verschiedenen Bestimmungen der forschenden Selbstbaupraxis eine relationale Nachbarschaftsordnung oder Bereiche einer diagrammatischen Karte aus, die sich in unterschiedlichster Weise verschalten lassen. Jegliches Gestalten und Forschen im und am Bestand profitiert davon, dass die Schrift eines Gebäudes über eine Materialität verfügt, deren Verweiszusammenhänge auf verschiedene Weise interpretier- und lesbar sind. Das impliziert aber auch: Keine Lektüre kann ihre Bedeutung in Gänze erfassen. Ihre Materialität ist positiv, während deren Deutung stets Verdeckung bleibt. Das Ziel der Arbeit der UdN war daher nicht tumkehrbaren Jetztfolge entspringt der Zeitlichkeit des verfallenden Daseins. Die vulgäre Zeitvorstellung hat ihr natürliches Recht. Sie gehört zur alltäglichen Seinsart des Daseins und zu dem zunächst herrschenden Seinsverständnis. Daher wird auch zunächst und zumeist die Geschichte öffentlich als innerzeitiges Geschehen verstanden. Diese Zeitauslegung verliert nur ihr ausschließliches und vorzügliches Recht, wenn sie beansprucht, den ›wahren‹ Begriff der Zeit zu vermitteln und der Zeitinterpretation den einzig möglichen Horizont vorzeichnen zu können.« Heidegger, Martin: Sein und Zeit. § 81. S. 426. Das von Heidegger monierte linear ausgerichtete Zeitverständnis ist, so Derrida, eng mit dem Phonologismus und der Metaphysik der Präsenz verknüpft. Derrida: Grammatologie. S. 126. Hierin identifiziert Derrida auch einen der Gründe dafür, warum sich Roman Jakobson von de Saussure distanzierte, als er in der Absetzbewegung zu dessen Homogenitätsgedanken die Linie durch die vertikale Struktur des Musikalischen – »den Akkord« – ersetzte. 464 | Krammer, André: »Von der Allmacht zur Kooperation. Anmerkungen zum Verhältnis von Städtebaulehre und Stadtforschung.« In: Dérive Nr 40/41, »Unterstanding Stadtforschung«, Okt.-Dez. 2010. 465 | Vgl. Dell, Christopher: »Plan«. In: Kniess/Dell: Tom paints the fence.
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das Verschmelzen der Sinnhorizonte von Lehrformaten und Bauhandlungen zu einer Lösung, sondern das Erarbeiten von Fragestellungen aus der forschenden und zugleich gestaltenden Praxis heraus, die ihre eigenen Schriftformen und Lektüremodi hervorbrachten. Anders als abschließende Ergebnisse zu präsentieren, das in einer ›richtigen‹ Weise zu verstehen sei, stellen die Repräsentationsresultate der UdN ein Gewebe an Spuren vor, das weiterzuschreiben, weiterzulesen ist. Ein solches Arbeiten basiert auf einer Verschaltlogik, die sich nicht auf eine vorgängige Idee, eine Gestalt oder einen Plan beruft, sondern einen Möglichkeitsraum eröffnet, der unterschiedlichste Mischverhältnisse zulässt. Dass diese Arbeit kein Prinzip hätte, stimmt indes nicht: Ihr Prinzip ist das der Improvisation. Eben eine solche Improvisation scheint mir für die epistemischen Handlungssysteme, die ihnen zugehörigen Rahmungen bzw. Meta-Formen der Stadtforschung und die diagrammatische Struktur ihrer Repräsentationsräume charakteristisch zu sein. Angesichts dessen leitet das Projekt einer diagrammatisch orientierten Stadtforschung seine Qualität aus dem technologischen Charakter der Improvisation her. Die Verfahrensweisen, die Art der Denk- und Handlungsübungen, die sie freisetzt und artikuliert, ebenso wie das strukturelle Gerüst, der sie folgt, sind weniger die von Subjekten als gegebene Formen als vielmehr die von improvisationstechnologischen Gefügen. Demgemäß wandelt sich mit solcher konzeptionellen Folie auch unser Verständnis jener Dynamik urbaner Prozesse, die mit Unbestimmtheit durchsetzt sind und ebenso die Ansicht darüber, was Wissen im Kontext von der Stadt bedeutet und was es heißt, Ko-Produzent solchen Wissens zu sein.
2.4 M e taschaltung /R emix : I mprovisierende S tadtforschung Wir sahen, dass die von Borgdorff in Aussicht gestellte performative Perspektive auf Wissen dessen radikale Subjektivierung befeuert. Im Hinblick auf die Stadtforschung und deren Anspruch an Wissenschaftlichkeit aber stellen wir die Frage: Welche Weisen der Re-Objektivierung muss Wissen durchlaufen, um dennoch Anschlussstellen bilden zu können? Welche Form des Experimentalsystems, mit Rheinberger gesprochen, kann ein solches Verfahren ermöglichen? Und auf welcher Grundlage nicht-repräsentationaler Materialität ist eine solche Form der Performanz epistemischer Dinge zu denken? Die schwierigen Aspekte des Performativen zeigen auf, dass wir nicht nur Darstellungen von der Stadt machen, sondern Darstellungen von der Stadt auch etwas mit uns machen. Das erhebt sie in den Rang von Schriftbildern, die jenseits von Einschreibung und Wiederholung als selbstständige Aktanten auftreten. Stadt-Wahrnehmen und Stadt-Schreiben erscheinen damit als perfor-
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mative Akte, die etwas gründen, anfangen oder entstehen lassen. Das impliziert Wahrnehmen als aktives und gleichzeitig rezeptives Anheimgeben, als ein Vereinnahmt-Werden zu verstehen, welches in dieser Auseinandersetzung zwischen Handlungs- und Wahrnehmungszusammenhang stets als Vektor von einem zum anderen oszilliert und verweist. Dieses Differieren und Verschieben legt erst Bedeutungskonstellationen offen oder unterläuft sie. Die Aktivität der Stadtwahrnehmenden (ich deriviere, nehme wahr) und die scheinbare Passivität der wahrgenommenen Elemente und Situationen der Stadt (ich werde wahrgenommen) geraten in eine Wechselbewegung, die auf der Performativität der Darstellung als Ereignis basiert. Wenn wir den Blick auf die Stadt durch den konzeptionellen Filter des epistemischen Handlungszusammenhangs richten, sehen wir Momente, die das Davor, das Währenddessen und das Danach zu neuen Koordinaten formen, mit deren Hilfe aktuelle Darstellungspraktiken und stadtforscherische Auseinandersetzungen mit dem Performativen in Verbindung treten. Das kataloghafte Arbeiten des Diagrammatischen kommt darin zu seiner Wirkmacht, wo sich Index und Verweis, die die Struktur der Darstellungen ausmachen, am Begriff des Performativen neu verorten und zur Handlungsstruktur aufsteigen. Galten die Einschreibungen, unter denen Stadtvisualisierungen entstanden, vordem als Treiber der Handlungsmacht der Diagrammatik, so ist es jetzt das Potential der Einschreibung, der Notation oder des Recordings als Möglichkeitsraum, das die Funktionalität der schriftbildlichen Operation sichert. Der Stadtwahrnehmungsprozess allein führt nicht nur zur Stadtdarstellung, sondern wird zugleich selbst als epistemische Struktur ins Visuelle überführt. Insgesamt deuten unsere Untersuchungen zur epistemischen Performanz an, dass Herstellung von Wissen als rekursive Gestaltungsarbeit geschieht. Nach Bachelard muss man »die Phänomene sortieren, reinigen, in die Gussform der Instrumente gießen; ja sie werden auf der Ebene der Instrumente erzeugt«466. Wissenschaft »lernt aus dem was sie konstruiert« 467. Diese Bewertung des Experiments in den Wissenschaften weist dem Gestalten eine neue Bedeutung zu. Konzipiert »als materiale Wirklichkeit«, steigt Gestaltung zum »Wissensgenerator schlechthin«468 auf. Anstatt auf eine einer ›wahren‹ Realisation vorgeschalteten Skizze reduziert zu werden, erweist sich Gestaltung nun nicht nur selbst als produktiv, sondern eröffnet außerdem einen Prozess mit limitierter »Zielgenauigkeit«469, wie Rheinberger konstatiert. Er spricht deshalb von der Unbestimmtheit als ontologische Grundbedingung der Konstruktion, Herstellung oder Modifikation von epistemischen Dingen. Gestaltungen müssen offen sein, 466 | Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist. S. 14. 467 | Ebd. 468 | Krauthausen: »Vom Nutzen des Notierens«. S. 10. 469 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge.
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um sowohl ihre eigene Unbestimmtheit als auch die des Experimentalsystems zu thematisieren und darauf zu verweisen, dass Labore »nicht nur Fragen, Ziele, Gegenstände und Ergebnisse der Forschung bedingen, sondern auch performative Räume des Unvorhersagbaren, Ungeplanten, ja Zufälligen und Ludischen eröffnen«470. Eine spezifische Form der epistemisch orientierten Gestaltung provoziert und erzeugt technisch sedimentierte, operationale Möglichkeitsfelder, »deren Reglementierung nur gerade soweit gehen darf, dass Anschlüsse wahrscheinlich werden, z.B. Rekursionen und Transformationen«471 . Diese These hat gravierende Auswirkungen auf das im Kontext der Stadtforschung verhandelte Wie der Gestaltungskonzeption. Rheinberger rekurriert ja nicht nur auf die triviale Feststellung, dass Experimente immer schief gehen können, also immer einen bestimmten Grad an Unbestimmtheit aufweisen. Das deutet auf einen Paradigmenwechsel in der wissenschaftsphilosophischen Sichtweise hin, die das Relationale an Wissenschaft und deren Unschärfe als Produktives in den Blick nimmt. Nicht nur ist der performative Charakter gestalterischen Verfahrens von Interesse (also das, was es bewirkt und wie es ausgeführt wird), sondern auch, wie Verfahren methodisch, instrumentell und material so aufgestellt werden, dass sie Fragestellungen bearbeiten können, »ohne dass bereits eine Adresse oder ein Ausgang in der Zukunft benannt werden kann«472 . Daher rührt die grundlegende Verschiebung des Gestaltens als Praxisform von der Komposition zur Improvisation. Rheinbergers Konzeption der Wissensgewinnung kündet von experimenteller Virtuosität, die sich »nicht in der vollendeten Demonstration« präsentiert, sondern darin, »sich im Raum einer solchen Erkundung bewegen zu können«473. Die Wissenschaftshistorikerin Karin Krauthausen, die ihrerseits wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Rheinberger war, deutet dessen Thesen als Verweis auf »improvisatorisches Geschick«474 der Wissen gestaltenden Akteure. Der Begriff der Improvisation impliziert hier jedoch nicht »romantische Ästhetik« 475 und »Genie am lebenden Objekt«476, sondern, wie wir eingangs konstatierten, vielmehr eine Selbsttechnologie – im Sinne des späten Foucaults – als »regelmäßige Praxis«477 der Einwirkung des Subjekts auf sich selbst, »durch die man versucht, sich selbst zu bearbeiten, zu transformieren und zu einer be-
470 | Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Hamburg 2006, S. 88. 471 | Krauthausen: »Vom Nutzen des Notierens«. S. 10f. 472 | Ebd., S. 22. 473 | Rheinberger, Hans-Jörg: »Experimentelle Virtuosität«. In: Rheinberger/Nägele/ Haas (Hg.): Virtuosität. Eggingen 2007, S. 14. 474 | Krauthausen: »Vom Nutzen des Notierens.« S. 10. 475 | Ebd. 476 | Ebd. 477 | Ebd., S. 13.
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stimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen«478. Im Zuge der Deklaration des Lebens zum performativen Kunstwerk wandelt sich bei Foucault das Werk zur Gestaltung, gerät das Werk zum Offenen. Dabei beruft sich Foucault auf das griechische Denken. Solches spricht von der techne tou biou, einer Lebenstechnik, »die sich auf die vergängliche Sache [bezog], die das Leben desjenigen ist, die diese techne umsetzte.«479 Damit berührt sich eng, dass auch für Foucault »das Leben eben deshalb, weil es sterblich ist, ein Kunstwerk zu sein hat«480. Überraschende Produktivität erfährt diese Perspektive im Denken von Forschen als Gestaltung (Rheinberger spricht, wie Bachelard, von Entwurf) und experimentaler Virtuosität als Improvisation. Diese Perspektive bietet ein Konzept an, das auf die Beschreibung von Forschung zurückwirkt und den Forschungsprozess als einen Vorgang interpretiert, »in dem sich Dinge ereignen können, die in der Regel weder im Rahmen eines theoretischen Systems vorherzusagen sind, noch zwangsläufig aus dem praktischen System des Experimentierens hervorzugehen brauchen. Dementsprechend ist der Entwurf von Experimenten nicht notwendig durch Theorie determiniert, aber auch nicht notwendig durch Experimente beschränkt. Dieses wechselseitige Nicht-Zusammenpassen ist einer der wesentlichen Faktoren, die den Experimentalprozess zu einem Forschungsvorgang machen.«481 Greifen wir Derridas zentrale Fragestellung wieder auf. Wo sie um die Performativität von Sprache und damit auch um das Gelingen und Scheitern von Sprechakten kreist, so liefert der Kurzschluss zwischen Performanz- und Schriftbegriff die Basis dieser Denkfigur. Ein solcher Kurzschluss wird von Derrida durch die Verortung an jenen Parameter zurückgebunden, welcher das Scharnier von Sprache und Schrift herleitet: der Funktion. Für Derrida stellt sich die Kopplung der Funktionsweise von Sprache mit der Funktionsweise von Schrift als jener Hebel heraus, an dem sich ansetzen lässt: Funktioniert Sprache aus der Schrift, kann man an Sprache auch strukturelle Umstellungen vornehmen, die ihre Bedeutung nicht vorgängig, sondern im Ereignen der Sprache selbst erlangen. Als grundlegend für diese Argumentation begegnet hier der Begriff der Iteration als infiniter Rezitierbarkeit und Öffnung zu mannigfaltiger Rekontextualisierung von Texten und Textfragmenten. Auf der Basis seiner Iterierbarkeit kann man »ein schriftliches Syntagma immer aus der Verkettung, in der es gefasst oder gegeben ist, herausnehmen, ohne daß es dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens und genau genommen alle Möglichkeiten der ›Kommunikation‹ verliert. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder es ihnen auf478 | Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Frankfurt a.M. 2007, S. 254. 479 | Foucault: Ästhetik der Existenz. S. 199. 480 | Ebd. 481 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 56.
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pfropft. Kein Kontext kann es abschließen. Noch irgendein Code.«482 Das Zeichen wird nicht hermeneutisch verstanden, ihm keine Bedeutung beigelegt, die es immer irgendwie ›schon hat‹. Derrida rekurriert vielmehr auf das Ereignen des Zeichens als Sprache. In der Funktion des Zitierens manifestiert sich diese Konzeption: Zeichen lassen sich zitieren, mithin in Anführungszeichen setzen. Und nicht nur das: auf Grund ihrer Zitierbarkeit können Zeichen »mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen«483. In der Funktion des Zitierbaren liegt die Möglichkeit des »Herausnehmens« und »zitathaften Aufpfropfens«484. Umgekehrt gilt: »Was wäre ein Zeichen, das nicht zitiert werden könnte?« 485 Derrida spricht hier von einer Bedingung der Möglichkeit des Überschusses. Eine solche Bedingung enthält die Spuren des Prozesses (als graphemische, materiale Entitäten): als Aktions- und Anschluss-möglichkeiten, die zum Zeitpunkt des Prozesses noch nicht gedacht werden, aber durch den strukturellen Auf bau des Prozessrahmens ermöglicht werden können. Genau in diesem Sinne nimmt Rheinberger den von Derrida ins Sprachspiel eingeführten Begriff des Pfropfens in Anspruch, um so »die Rekombinationen und das Hinundherschieben von und innerhalb von Experimentalsystemen«486 als Voraussetzung für den Vorgang zu nehmen, »aus alten Geschichten neue hervorzubringen«. Sobald die Serien den Zustand der ›Reinheit‹ erlangen, ist der Vorgang abgeschlossen. Wenn performative Äußerungen funktionieren sollen, ist die Möglichkeit des Zitats vorauszusetzen. Und: Wenn jeder performative Gebrauch von Zeichen notwendigerweise durch eine »allgemeine Iterabilität«487 (Zitathaftigkeit) determiniert ist, lässt sich ein erkenntnistheoretisch motivierter, ›vorläufiger‹ Ausschluss von Möglichkeiten des Zitierens und Inszenierens schwerlich rechtfertigen. Der entscheidende Dreh liegt darin, dass die Performanz verwendeter Sprache durch die Dynamik einer iterativen Bewegung bestimmt wird – Form entsteht aus Performanz und nicht umgekehrt. Mit Derrida können wir für die Stadtforschung eine in Gestaltung eingelagerte Wissensorganisation als eine »Typologie von Iterationsformen«488 erschließen, welche den Typus weniger als formale Intention, sondern eher als strukturale Katalogarbeit interpretiert. Damit ist nicht gemeint, dass die Kategorie der Intention verschwindet. Sie verschiebt sich nur auf das strukturell-relationale 482 | Derrida: »Signatur. Ereignis. Kontext«. S. 27f. 483 | Ebd., S. 32. 484 | Ebd. 485 | Ebd. 486 | Rheinberger: Experiment-Differenz-Schrift. S. 57. 487 | Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 40. 488 | Ebd., S. 41.
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Zusammenspiel von Form, Struktur und Funktion. Es emergiert ein Gestaltungswissen, in dem Formenteleologien »nicht mehr die ganze Szene und das ganze System der Äußerung steuern können«489. Weder sollte man einem solchen Gestalten das Fehlen eines absoluten Verankerungszentrums anlasten, noch ein Abgleiten der Schrift in ein anything-goes oder eine Orientierungslosigkeit des Prozesses unterstellen. Dass jedes Zeichen zitiert werden kann, fordert vielmehr ein Anerkennen der Tatsache, dass Orientierung immer eine Praxis, ein Setzen beinhaltet. Es geht nicht mehr um eine vorausgesetzte universale Struktur der Sprache, sondern um das Machen mit und an Sprache, um die Möglichkeit eines iterativen Verfahrens der Umbettung von Mustern in immer neue Kontexte. Derridas Differenz- und Spurgedanke hilft der Stadtforschungsarbeit, den iterativen Charakter relationaler Musterarbeit ins Spiel zu bringen. Aber fehlt Derridas Konzeption des Schriftprimats nicht sowohl der Bezug auf Wahrnehmung und Phänomenalität wie auf die Materialität des Handelns, die in jede Spur verflochten ist? Stets macht bei einem solchen Fragen die Perspektive den Kern der Sache aus. Der Begriff des Performativen meint bei Derrida »Praktiken der Dekontextuierung und Rekontextuierungen von Marken und damit die Singularität in Wiederholungen, soweit Zeichen stets an ihre Iterabilität gebunden sind«490. Diese Sichtweise macht dann Sinn, wenn man das Augenmerk auf die Verfahrensweise des Relationalen als Arbeit des Produzierens von Ordnungen legt. Gegen Derrida ist aber einzuwenden, dass eine Gestaltung der Ermöglichung durchaus an Präsenz geknüpft ist und sich daher ein Ausspielen jener gegen die Schrift wenig Erfolg verspricht. Lektüre und Schreiben enthalten in ihren Akten immer schon Setzungen, die mit Materialität, körperlicher Präsenz und sozialen Strukturen gekoppelt sind und sich damit als Existenz konstituieren. Das erlaubt und verlangt gleichermaßen, Spuren als Materialität des Politischen zu interpretieren, als dasjenige, das als Versammlung, als res publica (das was uns angeht) in geschichtlich situierten Konstellationen entsteht und versammelt wird. Wir können also sagen: Die Spur tritt auch auf der Ebene der Perzeption auf, sie ist die differentielle Struktur, deren Lektüre es der Erkenntnisgewinnung überhaupt erst ermöglicht, nicht von gegebenen Objekten, sondern von dem Prozess der Wissensproduktion selbst auszugehen. Liegt darin nicht das Versprechen, im Bezug auf eine gestaltungsbasierte, ermöglichende Wissensform bzw. Wissens-organisation die Husserlsche Epoché – als meditative Hingabe an das Wirkliche oder auch als Wahrnehmungshandeln – neu wiederzuentdecken, die nicht in tradierte Subjektpositionen zurückfällt? Und zeugt nicht die Renaissance des situa-
489 | Ebd., S. 40. 490 | Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Frankfurt a.M. 2002, S. 13.
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tionistischen Dérive als Wahrnehmungsübung in der zeigenössischen Städtebaulehre genau davon? Derrida legt offen, dass bereits die Linguistik mit dem Aufzeigen der Arbitrarität von Zeichen die Teleologie und Wahrheit des Logos in Frage stellt. Damit rückt die Verknüpfung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem in den Blick: Wie kommt es, dass das Wort Stadt ebenso wie das Ding Stadt bedeutet? Wenn es nicht mehr die Stimme des Logos ist, die uns über die Wahrheit dieser Verbindung informiert, was ist es dann? Es muss ein Bindeglied geben zwischen Idealem und Realem, und als solches hatte die Linguistik die Struktur identifiziert. Der Derrida’sche Fokus auf die Struktur redet jedoch nicht, wie oft konstatiert, einem Relativismus das Wort, sondern vielmehr einer Relationalität. Eine Struktur bildet, wie Derrida es formuliert, eine »Institution«, eine Übereinkunft. Damit ist jeglichen teleologischen Naturalisierungstendenzen ebenso Einhalt geboten, wie relativistischen Annahmen. Für den den Wissensformen der Ermöglichung inhärenten Aspekt des Gestalterischen hat dies zwei Konsequenzen, die für die Stadtforschung besonders relevant sind: Sie lauten a) dass man nicht mehr auf einem leeren Blatt Papier gestalten kann: das Blatt ist bereits voll von Möglichkeiten, Spuren, Diagrammen usw., und b), dass Gestaltung nicht mehr aus einer teleologischen Problemlösung bestehen kann, sondern – entlang der Aktualisierung struktureller Spurensuche und Verhandlung – Fragestellungen und Handlungsoptionen entwickelt. Im Kontext der Stadtsforschung entbehrt Gestaltung somit jeder Berufung auf und der Legitimation durch eine »Wahrheit« der »schönsten« Form: Jede Entscheidung, die sie trifft, ist eine Interpretation, die sich in ihrem Wissen historisch situiert versteht. Gestaltung agiert nicht mehr aus einem Raum des Exteriorität heraus, sondern weiß darum, dass sie sich relational in einem topologischen Feld positioniert und die eigene Position immer mit zu thematisieren hat. Gleichwohl ist zu fragen: Wenn Zeichen arbiträr sein können, wäre dies für Funktionen auch vorauszusetzen? Und würde hierin nicht gerade, im Anschluss an de Certeau, der Konnex zum Performanzbegriff liegen? Kann die Performanz in unterschiedlichen Funktionsräumen hergestellt werden? Welche Funktionen stellt Performativität her? Welche Spuren, Schriften erzeugen Raum? Wie können Gestaltungen so ausgerichtet werden, dass Funktionen und Strukturen in der Lage sind zu »wandern«, also sich selbst in den parcours zu begeben? Wenn wir sagen, Dekonstruktion sei kein Relativismus, so verfängt dies nur, wenn die Beziehung Form-Struktur, wie sie in der Metaphysik angelegt war, umgedreht wird. Folglich bestimmt die Form nicht mehr die Struktur, auch wenn die Struktur formal vorliegt; Ziel ist vielmehr, aus den Strukturen selbst heraus zu agieren. Wenn also die Stadtforschung auf iterative Mustertypologien zurückgreift, darf sie nicht, wie es beispielsweise mit Christopher Alexanders Pattern Language geschah, darin zurückfallen, Muster als ge-
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schlossene Formen zu interpretieren. Daher kann der Fokus nicht allein auf der formalen Zielsetzung liegen, Zitate als Muster zu erlernen, sondern sollte ferner darauf abheben, erlernte Muster um neue zu erweitern, Muster zu kreieren und Elemente als minimale Strukturen bzw. Komponenten neu zu verschalten. Hieraus ergibt sich in Bezug auf Gestaltung eine zweite Ebene des Arbeitens: Sie liegt in der Befähigung, inventarisierte Muster der eingelagerten Primärebene zu scannen und iterativ zu bearbeiten. Wahrnehmung und Einüben erlauben es uns, Muster von Gestalt und Zeit, die durch Modi der Erfahrung verinnerlicht werden, zu absorbieren und zu speichern. Iteration (von lat. Iterum = wiederum) als Verfahren sequentieller Annäherung macht aus Mustern neue Muster, also Muster von Mustern, in denen von der Mannigfaltigkeit der sinnlich gespeicherten Muster diejenigen ausgesucht und in Teile zerlegt werden, die in gegebenen Situationen zusammenpassen. Es sind diese Metamuster, die, nicht als Kreation ex nihilo, sondern als Re-Assemblage Neues hervorbringen. Metamuster erzeugen Rahmen und Notationen der zu bespielenden Wirklichkeit, sie sichern Ordnung nicht, indem sie Ordnung auffinden, sondern indem sie aus Unordnung Ordnungen herausdestillieren. Weil es sich hier um einen Lernprozess handelt, wandelt sich in der iterativen Arbeit das Musterrepertoire ebenso wie die Einstellung zu Mustern. Zu bestimmten Zeitpunkten werden auf dem höheren Level bestimmte Formulierungen erkennbar, die dann in der weiteren Arbeit wieder umgeworfen, neu zusammengesetzt werden können. Genau deshalb spricht Rheinberger ja davon, dass der Modellierungsprozess der experimentalen Wissensproduktion schließlich aus einer »Hin- und Herbewegung zwischen verschiedenen Darstellungsformen in verschiedenen Repräsentationsräumen«491 hervorgeht. »Wissenschaftsobjekte nehmen durch Vergleichen, Verschieben, Marginalisieren, Hybridisieren und Pfropfen verschiedener Modelle Gestalt an – miteinander, gegeneinander, voneinander, aufeinander.«492 Die Stadtforschung lernt daraus, dass ihre Repräsentationsräume von den spezifischen technischen und instrumentellen Bedingungen jeweiliger Rahmungen epistemischer Handlungszuammenhänge des Städtischen herrühren und »konstituieren dabei zugleich eine bestimmte Form der Iteration«493. Die Kriterien solcher Iterationen spielen sowohl in einem ästhetischen wie korrespondierendem Register. Zuspitzend lässt sich mit Derrida formulieren: Der ›guten‹ Schrift ging es einst wie der ›guten‹ Gestaltung heute: ihre Voraussetzung war, dass sie als stets schon irgendwie »begriffen« verstanden wurde.494 Auf dem Hintergrund unserer Überlegungen aber gälte für Gestaltung die Voraussetzung, keine 491 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. S. 116. 492 | Ebd. 493 | Ebd., S. 130. 494 | Derrida: Grammatologie. S. 34.
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vorgängigen Formen, keine Linearität der Zeit, keine Teleologie des Wissens mehr anzunehmen, sondern die historische Situiertheit desselben. Im Verweis auf den Gebrauch der Sprache betont Derrida die Verbindung des Elementes der Wiederholung mit dem Element der Veränderung (als Iteration). Je nach Kontext verschiebt sich die Bedeutung eines Musters, auch wenn es sich um ein Zitat handelt. Könnte mit Performativität eine Ebene des Vollzugs und der Aufführung sozialen und kulturellen Handelns als Improvisation beschrieben sein, das seinen konstitutiven Charakter im Gebrauch erhält?495 Wenn wir Derridas Iterationsbegriff als Grundkategorie eines jeden Zeichengebrauchs anführen, in der Zeichen in jedem Gebrauch notwendig gleich und different zugleich sind, wäre Gestaltung als iterativ zu denken. Damit würde der nichtintentionale Anteil von Gestaltung beschreibbar. Es ist dann nicht von Bedeutung, ob wir etwas Identisches gestalten wollen oder nicht. Entscheidend ist der Gebrauch (= Performanz) der Muster und ihre Wiederholung, um überhaupt mitteilen zu können. Jeder Kontext, jede Situation, jede Wiederholung ist neu. Das impliziert geradezu, dass jegliche Deutung von einer Situation von vorausgegangen Normierungen abweicht. Watzlawik lehrt uns indes, dass wir nie nicht mitteilen können. Gleichwohl gilt, dass sich die Situiertheit von Äußerungen in den nicht-intentionalen Anteilen der Gestaltung radikalisiert. Muss man somit das von Derrida beschriebene relational-iterative Performieren aus den Strukturen heraus nicht Improvisation nennen, die technologisch geworden ist? Improvisation wäre dann die Form der Iteration und Rekombination des jeweiligen Indexes eines spezifischen Projektes, wäre Vorgang fortgesetzter Umschrift. Bestünde eine solche Gestaltungsform als ausgestelltes Experimentalsystem weniger in der Arbeit mit Werken, sondern vielmehr in der performativen Niederschrift der Werke als Performanz? Entsteht Wissen in Wiederholung und Differenz – in differenzieller Reproduktion? Wie wäre die Logik einer solchen Gestaltung des permanenten Forschens zu beschreiben? Indes muss man Iteration im gleichen Zuge von Improvisation unterscheiden. Iteration spricht vom Aushalten einer unauflösbaren Aporie zwischen Identität und Differenz. Zum einen setzt das Funktionieren eines Zeichens stets die minimale Wiederholbarkeit des Zeichens voraus, zum anderen erweist es sich, weil im Gleichen das Andere erscheinen kann, auch in neuen, unstabilen Kontexten gesichert. In dem Zuge wird weder das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet noch das Singuläre dem Allgemeinen gegenüber hypostasiert, sondern das Aushalten der beiden Pole und die Unmöglich495 | Im Anschluss an Derrida ist Judith Butler noch einen Schritt weiter gegangen: Sie hat darauf insistiert, dass Wiederholungen niemals Ausfertigungen desselben sein können. Die performative Produktion kulturellen Handelns kann nie ein geschlossenes System sein, sondern birgt immer auch die Möglichkeit von Veränderung und Subversion (s. Kapitel Performanz. Zum Begriff.).
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keit, bei einem von ihnen zu verharren, anvisiert. Derrida will damit nicht von einem realen Handeln sprechen, mit dem etwas konkret anzufangen ist, vielmehr will er zeigen, dass Vernunft und Handlung keine abgrenzbaren Bezirke sind. Das impliziert sowohl die Möglichkeit lokaler Stabilisierungen als auch deren Unterwerfung unter Transformation. Stabilisierung ist nie definitiv. Improvisation indes, als die Befähigung, im Handeln konstruktiv mit Unordnung in jeweiligen Kontexten umzugehen, nimmt immer das Optionale in den Blick, ohne eine vorausgehend-definitive Stützung auf Sinn bzw. Signifikanten und Struktur. Sie nutzt Struktur so, dass neue, funktionierende Verknüpfungen der Strukturen aus dem Handlungsprozess resultieren, ja mehr noch, dass Handlung selbst Strukturen hervorbringen kann. Dies vollzieht sich auf der Basis eines Rekombinierens erlernter Muster (die sozusagen als Objekte des Funktionierens gesetzt werden) in neuen Situationen. Die Muster, die man verwendet, werden bewusst, aber nicht um ihrer selbst willen gebraucht. Improvisation setzt die Einübung von Mustern voraus, aber auch die Fähigkeit, die relationalen Verschaltoptionen der Muster so zu durchdringen, dass Rekombination stattfinden kann. Dennoch ist das Beherrschen von vielen Mustern keine Garantie für die Fähigkeit, gut improvisieren zu können, denn die Befähigung zur Improvisation liegt gerade in dem Hinausgehen über erworbene Muster. Fassen wir zusammen: Die synthetische Gegenüberstellung von künstlerischem Forschen und einer auf Experimentalsysteme hin angelegten science in the making weist nicht nur den Weg für die bereits von Husserl und Wittgenstein gestellte Forderung, Erklärung durch Beschreibung zu ersetzen.496 In der Zusammenschau von performativer Perspektive, ihrem Rekurrieren auf die subjektive Wahrnehmung und dem in die Praxis eingelagerten impliziten Wissen auf der einen und Schriftform der kollektiven Produktion von Wissen als Spur auf der anderen Seite wird ein Horizont aufgespannt, diesen Beschreibungen Allgemeingültigkeit bzw. ein Erzeugen von Anschlussstellen zuzuweisen. Die Frage nach den Sachen selbst zeigt an, dass nicht, wie in der Empirie, bei den »mittelgroßen Waren«497 stehengeblieben werden kann, wie Austin die raumzeitlichen Dinge einmal nannte. Voraussetzung dieser Perspektive ist, weniger auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu rekurrieren, sondern auf die Bedingungen der Ermöglichung von Möglichkeit. Für die Gestaltung von Wissensformen zeigt dies einen Paradigmenwechsel an. Stadtforschung sollte einsehen, dass das Neue als Ziel auszugeben gar keinen Sinn macht, denn dann würde man um das Neue bereits wissen, womit es nichts Neues mehr wäre. Wohl aber lässt sich versuchen, die Bedingungen der Möglichkeit von Neuem durch Bezugnahme 496 | Vgl. Wittgenstein: Logische Untersuchungen. § 109. »Alle Erklärung muß fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.« 497 | gl. Mayer, Verena: Edmund Husserl, München 2009, S. 13.
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auf Rekurrenz zu bestimmen. Es kann deshalb nur um Ermöglichung statt um das Mögliche gehen. Damit wird für Wissensformen der Ermöglichung auch der emphatische Gebrauch des Begriffs des Neuen selbst obsolet, wie mit Latours Rückgriff auf das Redesign zu zeigen sein wird. Ein solchermaßen begriffenes Neues erscheint nicht als Neues im emphatischen Sinne, sondern nur in Form einer Transformation, »die es zu einer Spur von dem macht, wozu es wurde«498. Deshalb sagt Rheinberger: »Wir können natürlich versuchen, die Bedingungen der Möglichkeit [des Neuen] anzugeben. Aber sie erscheinen wie das Neue selbst nur zugänglich durch eine Art von Rekurrenz, die das Produkt benötigt, um der Bedingung seiner Produktion habhaft zu werden.«499 Und er schließt daraus: »Das führt zu einer Krümmung des Denkens, die nicht wieder zu linearisieren ist.«500 Jeder Versuch einer Linearisierung hätte wiederum einen Rückfall in alte repräsentationale Verfahren zur Folge. Dann setzte man wieder eine externe Wirklichkeit als Gegebenes voraus, welche von einem externalisierenden, von der Außenwelt unberührten Raum der Vernunft aus zu begreifen wäre. Letzterer nimmt eine Analyseform in Anspruch, die auf der Prämisse beruht, nicht durch das verändert worden zu sein, »was man der historischen Synthesis unterwirft«501. Dagegen wäre mit Ilya Progogine von einer »operationalen Zeit«502 zu sprechen, in der die Möglichkeit der inneren Zeitstrukturierung als konstituierend im performativen Prozess angesehen wird. Im Zusammenspiel experimentaler Handlungs- und Materialsysteme fungiert operative Zeit nicht nur als formale Hülle auf der Achse zeitlicher Ausdehnung, sondern als »Charakteristikum der Struktur selbst«503. Damit ergibt sich eine improvisationale Perspektive auf die Stadtforschung, die besagt, dass jede sozio-materiale Konstellation der Stadt ebenso wie die Organisationsweise des konstruktiven Umgangs mit dieser eine innere Zeitform besitzt, die auf nicht physikalische Raumzeitkoordinaten zu reduzieren ist. Diese Zeitform wäre vielmehr als Indexikalität, Serialität, Verkettung von Systemzuständen zu fassen, da sie in der Form iterativer Zyklen auftritt. Derart gestaltete Organisationsweisen von der Stadtforschung sind dann, mit Rheinberger gesprochen, »gerade durch eine Art differentielle Reproduktion ausgezeichnet, bei der das hervorbringen von Unbekanntem zum reproduktiven Prinzip der ganzen Maschinerie wird«504. Während traditionelle Perspektiven von Systemen aus498 | Zit.n. Rheinberger: Experiment-Differenz-Schrift. S. 47. 499 | Ebd., S. 47f. 500 | Ebd., S. 48. 501 | Ebd. 502 | Vgl. Progogine, Ilya: Vom Sein zum Werden – Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften. München und Zürich 1979. 503 | Rheinberger: Experiment-Differenz-Schrift. S. 50. 504 | Ebd., S. 51.
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gehen und danach fragen, inwieweit diese auf Wissenschaft beruhen,505 ergibt sich nun der umgekehrte Weg: Den Ausgangspunkt bildet nun der performative Forschungsprozess als Wissensform der Ermöglichung selbst, in der sich »die wissenschaftliche Aktivität abspielt«506 und der unter der Perspektive der Improvisation von epistemischen Handlungszusammenhängen zu analysieren ist. Diese Überlegungen implizieren also, ein Verfahren zu entwickeln, das Gestaltungsvorgänge unter der Perspektive der Produktion von Raum als epistemischem Handlungszusammenhang fokussiert. Was aber bedeutet das genau für unsere Auffassung von Wissen und Wissens-organisation im Zusammenhang der Wissensformen der Ermöglichung? Derridas beunruhigende Logik der Aporie ist die eines Philosophen, der nicht unmittelbar auf eine Praxis abhebt. Dennoch zeitigt seine Theorie ganz konkrete Auswirkungen auf die wissenschaftliche Praxis, wie wir bei Rheinberger und dessen Experimentalsystemen sehen können. Rheinberger will etwas mit Derridas Idee machen, will eine neue Sicht auf die Praxis des Experimentierens als Modus der Wissenserzeugung hervorrufen. Könnte solch ein Transpositionsprozess auch für die Gestaltung von ermöglichenden Wissensformen gelingen? Ließe sich aus den vorhergehenden Überlegungen zur epistemischen Performanz ein Horizont kritischer Konzeption der Wissensgestaltung und deren epistemischer Strukturen ableiten? Dazu vorerst drei Punkte: Erstens lassen sich epistemische Handlungszusammenhänge – als Gestaltetes – als performativ hervorgebracht deuten und damit als experimentell-empirisches Geschehen fassen. Darin erweisen sich Rekursion und Iteration als operationale Kernmomente des forschenden Arbeitens. Dies impliziert zweitens, seriell-topologisch, also kataloghaft vorzugehen und so relational-strukturell möglichst viele Varianten methodisch zu produzieren. Drittens ist es entscheidend, das Verfahren an materiale Konditionen wie Affizierungen zurückzubinden. Mit diesem Ansatz wird über das Gestalten bereits jenseits rein ästhetischer Vorgaben gesprochen und vor allem die strategische oder Verfahrensseite in den Blick genommen. Jedoch auch innerhalb dieser Strategie emergiert ein Wandel: Es geht nicht um Teleologie, sondern um die Ökonomie eines Prozesses und die Umstände, die das Gestalten als prozessual-epistemische Praxis begünstigen bzw. hervorbringen. So wie es in einer von Rheinberger in Ereignis-Schrift-Differenz zitierten Stelle der Grammatologie heißt: »Alles in der Zeichnung der différance ist strategisch und kühn. Strategisch, weil keine transzendente und außerhalb der Schrift gegenwärtige Wahrheit die Totalität des Feldes theologisch beherrschen kann. Kühn, weil diese Strategie keine einfache Strategie in jenem Sinne ist, in dem man sagt, die Strategie lenke die Taktik nach einem Endzweck, einem Telos oder dem Motiv 505 | Ebd., S. 68. 506 | Ebd.
2. Epistemische Strukturen der Per formanz
einer Beherrschung, einer Herrschaft und einer endgültigen Wiederaneignung des Feldes. Eine Strategie schließlich ohne Finalität; man könnte dies blinde Taktik nennen, empirisches Umherirren«507 (s. Kapitel Perfomative Strategie). Hieraus ergeben sich neue Fragen: Kann eine auf Ermöglichung zielende Wissensgestaltung Wissen (urbaner Wirklichkeit) nur nutzbar machen, wenn sie weniger von Formen als von Strukturen bzw. relationalen Anordnungen von Elementen ausgeht? Wären die Notationen des Versuchauf baus und der Versuchsauf bau selbst bereits als Gestaltungstätigkeiten zu klassifizieren, weil sie a) Wissen und b) neue Verknüpfungsmöglichkeiten des Relationalen hervorbringen und ermöglichen? Und: Wäre unter Einbezug des künstlerischen Forschens Subjektivität als Vektor radikal in die Wissensproduktion einzubeziehen, weil dort die Affizierung durch die Dinge stattfindet? Und wie wäre dann Gestaltung in diesem Kontext zu definieren? Wären Subjektivierungsprozesse nicht selbst Gestaltungsaufgaben, in denen gestalterische Disziplinen ihr Selbstverhältnis reflektieren und transformieren? Wie sind nun genauer Wissensformen so zu entwerfen, dass relationaler Stadtraum auf seine vektorialen Energien, Potentiale für Ermöglichung bzw. deren Verstärkung, Aktivierung hin untersucht werden kann? Wie lässt sich mit einer gestalterisch orientieren Stadtforschung auf strukturellem Wege jene Form schaffen, die es ermöglicht, die Fragen zu formulieren, die man beantworten möchte? Welche Auswirkungen hat das auf die Strukturkonzeption im Denken von epistemischen Strukturen selbst? Muss dann nicht auch der epistemische Raum diagrammatisch gedacht werden, also nicht als Wissenscontainer, in dem sich Wissen befindet und der als Zulieferer für den Container Bewusstsein fungiert, sondern als ein epistemische Handlungszusammenhang, der sich performativ-relational entfaltet? Wie wäre gestaltende Forschung am epistemischen Ding Raum als Zugang zum Stadt-Wirklichen zu konstituieren, an dem man teilhaben kann und in dem die eigene Transformation (als Subjektivierungsprozess) möglich ist und die durch ein strukturales Motiv gesichert wird? Mit den obigen Überlegungen kristallisieren sich folgende Begriffe als relevant für die Stadtforschung heraus: Spur, Struktur (= Muster), dis-play, Diagramm, Rekonfiguration, Rekombination, Improvisation. Im folgenden Teil sollen diese Begriffe näher auf ihre Bedeutung und Relevanz für Wissensformen der Ermöglichung befragt werden. Vergegenwärtigen wir uns: Die performative Perspektive bezieht ihre Grundierung aus der meditativen Hingabe an die Dinge, so wie sie Husserl in seiner Epoché als vorurteilsfreie Untersuchung vorschlägt. Die Analyse der Perzeption von Auftritten epistemischer Handlungszusammenhänge der Stadt zeigt jedoch an, dass man, um Anschlussstellen für die Wissenform zu erzeugen, nicht bei dem Objekt Stadt als einem Isolierten stehen bleiben kann. Die epistemischen Handlungszusammenhänge rücken 507 | Derrida: Grammatologie. S. 32f.
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damit in den Horizont einer Rahmung, die wiederum eines konzeptionellen Aufbaus bedarf. Dieses konzeptionelle Verfahren kann indes nur mit dem neuen Repräsentationsbegriff der Spur funktionieren, weil sonst die performative Perspektive aufgegeben werden müsste, was wiederum zu einer Schließung des Verfahrens und zu einer Aufgabe der von Rheinberger als unverzichtbar aufgezeigten Rekurrenz führen würde. Somit ergibt sich ein nicht-hierarchischer Zweischritt von Perzeption und Konzeption, mithin Begriffe, die eine Parallelität zu Lefebvres Kategorien der spatialen Praxis und der Räume der Repräsentation aufweisen508. Das ermöglichende Kriterium einer Gestaltung von Wissenformen erweist dahingehend, dass sie die Performanz epistemischer Handlungszuammenhänge realisier- und lesbar macht. Sie stellt irgendwie eine Form des Zusammensetzens bzw. Neu-Versammelns und Rekonfigurierens von etwas dar, bei der noch nicht ganz geklärt ist, wie sie geschieht. Wir haben von der Meditation des Wahrnehmungshandelns, der Wissensproduktion unter performativer Perspektive gesprochen. Nun kommt es auf die Ermöglichung als Gestaltung selbst an. Das hieße zu fragen: Wie können Perzeption (als Subjektivität) und Konzeption (als Form der Darstellung und der Anschlussfähigkeit) in den Zustand der Projektion (als Gestalten und Fundieren durch Wahrnehmen und Darstellen) gelangen und gleichzeitig ihre Gründung auf der performativen Perspektive sichern? Wäre damit nicht auch eine bestimmte Sicht auf Einheit, Vielheit (und damit auch Anzahl) als bestimmte performative Formen des Versammelns in den Blick zu nehmen? Und wie ist die in diesem Zusammenhang verstärkt hervortretende Begrifflichkeit einer Diagrammatik näher zu klären? Lefebvre hat oft genug darauf hingewiesen: Der zu untersuchende Gegenstand Stadtraum wehrt sich gegen seine Beforschung, weil er sich nicht auf ein externalisierbares Objekt reduzieren lässt. Der Stadtraum ist ein soziales Produkt, das prozessual entsteht und das in sich unterschiedliche Kategorien entfaltet. Diese Kategorien lassen mit jener Triade nachzeichnen, die Lefebvre mit den Termini spatiale Praxis, Repräsentationalem Raum und Repräsentationen von Raum aufgespannt hat. Nun gehört es zu den Eigenarten des zeitgenössischen Raumdiskurses, dass in ihm Lefebvres Kategorien meisthin auf die Dichotomien Raumrepräsentation vs. Repräsentationale Räume, Planer vs. Nutzer, Gestaltung vs. Nutzung usw. reduziert wurden. Die Fragestellung der dritten Kategorie – der der spatialen Praxis – geriet ins Abseits. Das lag daran, dass der Prozess des räumlichen Handeln in seiner Strukturiertheit nicht näher untersucht, sondern vorausgesetzt wurde. In Absetzbewegung dazu bildet die Strukturiertheit des Raumproduktionsprozesses in vorliegender Schrift den Hauptaspekt. Sie unterstellt, dass es die spatiale Praxis ist, die in ihrer
508 | Vgl. Lefebvre, Henri: The Production of Space. Oxford 1991.
2. Epistemische Strukturen der Per formanz
Medialität ebenso wie ihrer Materialität Raumrepräsentation und Repräsentationale Räume, Darstellung und Nutzung, fundiert und vermittelt. Solche Vermittlung aber geschieht keineswegs in teleologischer Form, sondern in der von Derrida als différance beschriebenen offenen und zugleich »medialen Form«.509 Besonders die Endung –ance verweist dabei auf die besondere Form der Aktivität des medialen Differierens510. Anstatt sich auf vorhersehbare Wirkungen zu richten, zielt die Aktivität auf Beweglichkeit und Resonanz als dynamische Qualitäten, um eine Operation zum Ausdruck zu bringen, die keine Operation in dem herkömmlichen, planerisch gedachten Sinne ist. Anstatt fixierend zu verfahren, gibt die mediale Form Strukturen, Linien, Rahmungen vor, von denen die Bewegungen des Weiterschreibens ausgehen und sich als Verweisungsverfahren entfalten. Mit anderen Worten: Sie stellt einen losen Strukturverbund bereit, der als vorläufige graphemische Spur, einer offenen Partitur gleich, seine Wirkung erst in der relationalen Verschaltpraxis einer diagrammatischen Rekonfigurierung zeitigt. Wenn Derrida in diesem Zuge von Form zu Struktur wechselt, verzichtet er keineswegs auf die Form, sondern lädt diese strukturell so auf, dass sie zur offenen Form wird, die sich medial konturiert. Wie die in sich vielfältige und differente, improvisatorische Operation zwischen Aktiv und Passiv, das Differieren, den Differenzen nicht vorausgeht, so kommt der Begriff des Ursprungs, aus dem die Planung alles ableitet, nicht mehr zum Tragen. Das bestätigt sich dort, wo die Stadtforschung bei der Konfiguration und Rekonfiguration epistemischer Handlungszusammenhänge auf mehr oder weniger hartnäckige Widerstände des Gegenstands Stadt stößt. Die Forschung hat es mit schwer lesbaren, hybriden Gemengelagen an sozialen, materialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Vektoren und Bedingungen zu tun, die sie nicht mit fixen Zielen versehen kann, sondern mit deren Unbestimmtheit sie konstruktiv umgehen muss. Finalistisches, externalisierendes oder homogenisierendes Vorgehen ist hier weder möglich noch sinnvoll. Es kommt stattdessen darauf an, Linien, Strukturen, Rahmungen oder Zielkorridore zu bilden, die nur dann Bedeutung generieren, wenn Resonanzen zwischen den Elementen entstehen. Genau das sind jene Momente, Zeitpunkte, in denen Diagramme ans Funktionieren kommen. Die darin eingelassenen Modi der Rekursivität, der Retention und der Iteration sorgen dafür, die Zeit selbst als Konstituierendes der Stadtforschungspraxis ernst zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass der Prozess des diagrammatischen Umschreibens, Umordnens, Redesignens, Rearrangierens, Rekonfigurierens in der material vermittelten differentiellen und improvisatorischen Bewegung der epistemi509 | Derrida: Die différance. S. 119. 510 | Ebd. In Anbetracht dieser besonderen Form kommt es Derrida auf die Aktivität des différer in der différance an, wo »das a unmittelbar vom Partizip Präsens herstammt«.
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schen Handlungszusammenhänge und ihrer Rahmungen (d.h. ihrer medialen oder auch Meta-Formen) nicht nur selbst am Werk ist, sondern mehr noch ihre Zeitstruktur ausmacht. Für einen Musiker ist selbstverständlich, was die Stadtforschung noch lernt: Nämlich, dass in Bezug auf die Transformation und Prozessualität von Dingen, Handlungen – oder auch sozio-materialer Stadtsituationen – die Zeit nicht einfach als linear verlaufende chronologische Achse zu sehen ist. Davon, dass damit Strukturen der Zeit zur strukturellen Eigenschaft von Stadtforschungsfeldern aufsteigt, die sich in bestimmten Phasen einpendeln und in anderen auseinanderlaufen, solche Unordnungsphasen aber gerade das Einpendeln auf neuem Niveau wieder ermöglichen, kündet Lefebvres Begriff der Rhythmusanalyse.511 Ein Stadtforschungsfeld lässt sich damit als diagrammatische, relationale Anordnung von epistemischen Handlungszusammenhängen begreifen, von denen jeder seine eigenen Zeitqualitäten, Dauern und Rhythmen mit sich führt. Diese Perspektive bringt in die Stadtforschung ein, das letztere es bei sozio-materialen Stadtsituationen mit einem komplexen Feld von epistemischen Handlungszusammenhängen zu tun hat, die sich an komplexe Polyrhythmen und Zeitformen binden. Das fordert von der Stadtforschung Tiefenbohrungen vorzunehmen, die auf gebaute Struktur, architektonische Analyse ebenso wie auf Handlungsweisen, Nutzungen, Geschichte, Kontext in der Zeit fokussieren. Dabei ist zu erforschen, wie Handlungen und gebaute Elemente zusammenspielen, um herauszubekommen, wie zukünftig neue Arrangements neue Weisen des Orchestrierens hervorrufen können. Wo ein Stadtforschungsprojekt einzelne Tiefenbohrungen und Serien von rekursiviterativen Fällen durchläuft – im Curriculum des Masterstudiengangs Urban Design an der HafenCity Universität heißt das takes – so behalten alle Serien und Fälle ihre eigene Zeitstruktur in Abhängigkeit von ihrem differentiellen Durchspielen und Wiederholen und Umschreiben. Daraus folgt, und auch das ist für die Stadtforschung wichtig, dass das jeweilige Feld epistemischer Handlungszusammenhänge der Stadt nicht von einer singulären, das ganze Feld umspannenden Chronotopie diktiert werden kann. An die Rhythmusanalyse bindet sich die Bedingung, dass ohne ein Minimum an Resonanz kein Weiterschreiben in Gang kommt, ohne ein Minimum an Dissonanz keine temporären epistemischen Handlungszusammenhänge entstehen. Es ermergiert damit ein Stadtforschungsfeld, dessen Wissensform sich immer multipel zeigt. Eine solche Wissensform intendiert hingegen keine Beliebigkeit, sondern kündet vielmehr von dem politischen Projekt, das Deleuze stets mit dem Begriff der Diagrammatik verband: das Verfahren, an Prototypen Formen neuer Wirklichkeit zu erschließen. Auch von daher begründet sich die Rede von der Wissensform der Ermöglichung.
511 | Lefevbre, Henri: Éléments de rhythmeanalyse. Paris 1992.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
3.1 D iagr ammatik Rheinbergers Experimentalsystem zeigt einen Modus der Wissensorganisation an, der auf Unbestimmtheit als Ressource setzt. Obige Untersuchungen wiesen auf, dass solcher Modus sein Erkenntnispotential nur unter der von Borgdorff formulierten performativen Perspektive entfaltet. Damit wird jedoch das Problem der Allgemeingültigkeit subjektiver Erfahrungshorizonte und deren als implizit zu erachtende Wissensbestände nicht aus dem Weg geräumt. Die Schwierigkeit der epistemologisch eingeschränkten Artikulationsfähigkeit von Subjektivität bleibt bestehen. Nötig ist demnach, die erkenntnistheoretische Perspektive erneut zu verschieben. Eine solche Verschiebung impliziert, von einer Fundierung von Erkenntnis in einer als vorgängig behaupteten Realwelt abzusehen und im gleichen Zuge sich gegen einen Subjektivismus zu verwahren. Zwar hebt die performative Perspektive auf die Immanenz von Subjektivität als erkenntnisleitend ab. Das funktioniert freilich nur, wenn die erkenntnistheoretische Trennung von Objekt und Subjekt eine Problematisierung erfährt. Es gilt hier noch immer Husserls Grundsatz, dass wir nur über eine vorurteilsfreien Epoché zu den Dingen gelangen können, also über eine Mediationsform, die sich den Dingen auf solche Weise anheim gibt, dass sie von der distanzierenden Erklärung zur der reinen, internalisierenden Beschreibung der Phänomene kommt. Realität darf nicht als fundamental existierend vorausgesetzt werden, alle transzendenten Vorannahmen der Kantschen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bleiben »außer Spiel«1. Wenn Husserl der Erkenntnistheorie einst vorwarf, »die in ihrem Sinn gemeinten Gegenstände sozusagen naiv als seiend zu setzen und zu bestimmen oder hypothetisch anzusetzen«2, bedeutete das nicht, dass er die in der alltäglichen Praxis vorgenommene naive Annahme einer Voraussetzung raum-zeitlicher Wirklichkeit ablehnte. Husserl intendierte mit seiner Reduktion keine Negation, sondern vielmehr eine Trans1 | Husserl: Die Idee der Phänomenologie. S. 39. 2 | Husserl: Logische Untersuchungen. Bd. II. S. 9.
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formation des epistemologischen Denkens. Die erkenntnistheoretische Prämisse der Vorgängigkeit des Realen findet bei ihm keine Berücksichtigung mehr und wird in ihrer Funktion als Fundament außer Kraft gesetzt. Nur wenn das die Sicht verstellende An-sich als Grundlegung fällt, kann zu den Dingen in ihren Relationen vorgedrungen werden. Das führt zu folgenden Fragen: Was ist mit den Ergebnissen einer Beobachtung, die sich in vorurteilsfreier Meditation übt, anzufangen? Wie können diese bis zu einem gewissen Punkt allgemeine Anschlussfähigkeit erlangen? In diesem Zusammenhang tauchte während der Untersuchung kontinuierlich der Begriff der Diagrammatik auf. Es bahnte sich an, dass Wissensformen der Ermöglichung ihre Inhalte vor allem über eine diagrammatische Logik artikulieren bzw. allgemein verständlich bzw. zugänglich machen können. Was aber meint der Begriff Diagramm in diesem Zusammenhang genau? Diese Fragen verlangen der Untersuchung ab, die eingangs formulierte Rede von der gestalterischen Diagrammatik näher darzulegen. Diagramm entstammt dem lateinischen diagramma, das wiederum auf das griechische diagramma zurückgeht, einer Kombination der griechischen Wörter diagraphein (einschreiben) und gramme (Linie). Am Ursprung dieser Wörter steht die Verbindung zweier indo-europäischer Wurzeln: grbh-mn. Grbh – (kratzen, schaben) heißt soviel wie nachzeichnen, zeichnen, stellt aber auch das Bild eine Krabbe dar, die ihre Spuren im Sand hinterlässt. mn steigt später zu Bild, Buchstabe und Text auf. Zusammenfassend ergibt sich die etymologische Deutung von Diagramm als Einschreiben, d.h. als Verknüpfung von Schrift und Bild. Der Duden sagt zum Diagramm Folgendes: Dia|gramm das; -s, -e : 1. zeichnerische Darstellung von Größenverhältnissen in anschaulicher, leicht über blickbarer Form. 2. (bot.) schematische Darstellung von Blütengrundrissen. 3. Stellungsbild beim Schach. 4. magisches Zeichen (Drudenfuß).
Im Petit Robert steht für Diagramm: Appariation isolée en 1584; usage confirmé en 1767, du grec dia-gramme, dessin. 1. 2.
tracé géometrique sommaire des parties d’un ensemble et de leur disposition les unes par rapport aux autres, plan, schéma. tracé destiné à présenter sous une forme graphique le déroulement et les variati ons d’un ou plusieurs phénomènes. Courbe graphique.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation 3. logique, mathématiques, Diagramme de Venn, représentation graphique d’opéra tions […] effectuées sur des ensembles.
Das American Heritage Dictionary of the English Language gibt über das Diagramm folgende Auskunft: 1. 2. 3.
a plan, sketch, drawing, or outline, not necessarily representational, designed to demonstrate, or explain something, or clarify the relationship existing between the parts of a whole. Mathematics. A graphic representation or geometric relationship A chart or graph.
Obige Definitionen machen zunächst deutlich, dass das Diagramm mit einer Funktion der Beschreibung oder Erklärung von Relationen zwischen den Teilen und dem Ganzen, den Teilen untereinander ebenso zusammenhängt, wie mit dem Ausdruck eines dynamischen Vorganges oder der Variationsfolge eines bestimmten Phänomens. Das Diagramm ließe sich somit als ein relationales Zeichen bestimmen, das Prozessverläufe abzubilden sucht. Das gilt jedoch nur, wenn wir Diagramme rückwärts betrachten, also als Repräsentationen von etwas Vergangenem. In dem von uns verfolgten Zusammenhang drängt sich indes die Perspektive auf, Diagramme performativ zu interpretieren. Und genau hieraus erschließt sich das Attribut »gestalterisch«. Vorläufig sei gestalterische Diagrammatik definiert als die Notation struktureller Skizzen, die eine Konstellation vorhandener Strukturen so darstellen, dass Emergenz zukünftiger Prozesse ermöglicht und, bei gleichzeitiger Offenheit, Prozesse stabil gehalten werden. Gestalterische Diagrammatik organisiert nicht nur Wissen, sondern arbeitet an und gründet auf der Gestaltung von Wissensorganisation. Das hat ferner zur Konsequenz, dass wir nicht mehr von der traditionellen Repräsentation sprechen können und das Diagramm als nicht-repräsentationalen Auf bau bestimmen müssen. Wie dieser Auf bau darin besteht, keine Objekte oder Sachverhalte abzubilden, sondern Potentialitäten zu strukturieren, so avanciert das Diagramm als Verfahren zur ›art de faire‹. In diesem Zuge mag es verwundern, dass hier zur Ermittlung einer Wissensform ein Modell herhalten soll, das selbst Instrument ist oder zumindest einem instrumentellen Gebrauch seine Entstehung verdankt. Aber genau um diese Drehung soll es im Folgenden gehen: Ein Instrument (das Diagramm) ist als gestalterische Praxisform und, damit einhergehend, als Ausgang eines spezifischen Denkens von Praxis zu verstehen. Diagrammatik handelt dann nicht einfach von Diagrammen als Gattung von Zeichen, sondern meint ein spezifisches »Entwurfs- und Erkenntnisverfahren«3. 3 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 17.
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Was aber meint Erkenntnisverfahren hier und welche Wissensform ist in Diagrammen eingelagert? Um vor dem Hintergrund der Fragestellungen die gestalterische Diagrammatik zu fundieren, soll an dieser Stelle auf das, was sich im Diskurs als »diagrammatisches Denken« etabliert hat, zurückgegriffen werden. Als grundlegende Bezüge erweisen sich die Semiotiken von Charles Sanders Peirce und Nelson Goodman. Beide beschreiben Diagramme als Zeichensysteme, die sich zwischen Schrift und Bild ansiedeln4 und an der Schnittstelle von Wahrnehmung und Einbildungskraft, von Sinnlichkeit und Verstand operieren.5 Diagramme sind im relationalen, nicht im identitäts-formalen Sinne anschaulich. Sie setzen daher eine Kenntnis ihrer MetaForm, ihrer Rahmung – und d.h. ihres thematischen Kontextes, auf den sie sich beziehen – voraus. Darüber hinaus liegt die Funktion des Diagramms in der Zusammenschau von Relationen und Materialien begründet. Wenn Diagramme ihre Offenheit für Möglichkeiten durch Abstraktion sichern, ist das erkenntnistheoretische Spezifikum der Diagramme vor allem in der Ermöglichung von Erkenntnis zu verorten: Diagramme liefern, wie Frederik Stjernfelt wohl am konzisesten in seinem Buch Diagrammatology formuliert hat, eine Zeichenart, »which represent the internal structure of […] objects in terms of interrelated parts, facilitating reasoning possibilities«6. Mit dem Diagramm ist also eine bestimmte Zeichenart angesprochen, die die Beziehung zu dem Objekt, das es beschreibt, nicht durch Abbildung auf baut, sondern durch die Bezugnahme auf das Beziehungsgeflecht der Elemente des Objekts. Infolgedessen macht das Diagramm das, was man auch Relationalität des Objekts nennen kann, zum Motor von Denk- und Verstehensprozessen. Dies in dem Sinne der Bewegung weg von der Vorstellung vom Zeichen als simples Kodieren und Decodieren hin zu den epistemologischen Fragen der Gewinnung von Wissen durch Zeichen überhaupt. Eine solche Instrumentalisierung des Relationalen funktioniert auf Basis der performativen Qualität des Diagramms, Anfertigung und Modellbildung konvergieren zu lassen: »Eine diagrammatische Visualisierung vollzieht und zeigt, was sie beschreibt, und steht auf diese Weise dem Beschriebenen zugleich Modell.7« Das macht die gestalterische, produktive Orientierung der Diagramme aus, weit entfernt davon, vorformuliertes Wissen zu repräsentieren, ermöglichen sie auf praktisch-performative Weise, neues Wissen zu produzieren. Man kann daher sagen, dass die gestal-
4 | Vgl. Krämer, Sybille: »Operationsraum Schrift. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift.«. In: Grube/Kogge/Krämer (Hg.): Schrift: Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005, S. 23-61. 5 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 10. 6 | Stjernfelt: Diagrammatology. S. ix. 7 | Zit.n. Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 19.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
terische Arbeit von Diagrammen darin liegt, »Transformation von Wissen« 8 in einer medialen Praxis zu fundieren. Medientheoretisch gesprochen geht Diagrammatik aus der »Auseinandersetzung des Geistes mit in Medien verkörperten Zeichen« hervor, der »es stets um die prozedurale Vermittlung von Kompetenzen geht, die sich performativ, also aus der Praxis der Konfiguration und Rekonfiguration ergeben«9. Die Diagramme, die hier interessieren, scheinen auf noch nicht näher bestimmte Weise einen beweglichen, d.h. prozeduralen, performativen und in diesem Sinne praktischen Umgang mit ›Wissen‹ zu gestatten, der auf einer Darstellungsweise gründet, die verlangt, nicht-repräsentational zu sein. Das Kriterium der Nicht-Repräsentationalität erlaubt diagrammatischen Darstellungen mannigfaltige Re-Konfigurationen eines relationalen und proportionalen Gefüges und die performative Erprobung neuer Konfigurationen. Diesen Sachverhalt bezeichnet die Medientheorie auch als Virtualitätsprinzip10: Das im Diagramm dargestellte Gefüge setzt Vorstellungen frei, die, wie der Abschnitt zu Peirce zeigen wird, auf die Abduktion von Transformationsoptionen abheben. Diagramme verweisen nicht nur auf Möglichkeitsräume, stellen nicht nur Elemente von Situationen so frei, dass sie neu angeordnet werden können, sie zeigen auch die Relationen selbst: Sie illustrieren, aus welchen Beziehungen ein Situationszusammenhang besteht. Wo Diagramme als Darstellungen von Relationen definiert werden können, erhält Diagrammatik ihre ermöglichende Eigenschaft von dem Merkmal her, dass »die Relationen und Proportionen, die Strukturen und Funktionen, die Diagramme vor Augen führen, prinzipiell veränderbar«11 sind. Was hier geschieht, ist, dass sich Diagrammatik auf eine bestimmte Art medialer Praxis oder Praktik beruft, die sich zwischen den Elementen bewegt und variierend, transponierend und modulierend vorgeht. Darauf, dass dabei – und das ist für die forschende Arbeit mit Diagrammen besonders wichtig – der Fragmentisierung von Sachverhalten in ihre Einzelteile eine Kernrolle zukommt, weist etymologisch vor allem die Silbe dia hin, die im Griechischen ›auseinander‹, ›durch‹ oder ›zwischen‹ bedeutet. »Zuweilen entspricht ihre Bedeutung auch dem Präfix ›zer-‹, wie beim deutschen Verb ›zerlegen‹. Diagramme zerlegen einen Zusammenhang in seine Teile und setzen dem Betrachter damit die Struktur dieses Zusammenhangs auseinander; indem diese Art der Zerlegung zwischen den Zusammenhang und den Betrachter tritt, werden ihm im Wechselspiel von Ansicht und
8 | Ebd., 23. 9 | Ebd., S. 22 (kursiv i. O.). 10 | Siehe ebd. 11 | Ebd., S. 9.
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Einsicht, von Überblick und Durchblick Erkenntnisse vermittelt.«12 Stets verorten sich, wie die in ihnen vollzogene Temporalisierung der Struktur zeigt, Diagramme selbst in einem spezifischen Verhältnis zur Realität.13
3.1.1 Charles Sanders Peirce: Diagrammatisch Denken Wir haben gesagt: Im Feld gestalterischer Diagrammatik meint Medialität nicht nur das im repräsentativen Abbilden sich Bewegende, sondern auch das Performative. An Medialität als Praxis formt sich die Bewegung zwischen Zeichen und Bedeutung, sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Jede Konfiguration kann wieder neue Konfigurationen produzieren und dadurch den Verlauf von Produktionen offenhalten. Als Folge dessen »unterläuft die Diagrammatik sowohl die Entweder-Oder-Logik von Innen- und Außenwelt als auch die Dichotomie von materiellen und mentalen Bildern oder Zeichen«14. Sie operiert eher als Fragestellungs- denn als Problemlösungsmaschine. Solches bekräftigt die Konzeption des von Peirce eingeführten ›Diagrammatischen Denkens‹15, die auf der Konvergenz entworfener Handlungen und medial performierter Lösungswege basiert. Peirce gibt folgende Definition: »By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a percept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same percept would have the same results, and expresses this in general terms.«16 In der dreistufigen Erkenntnislogik von Peirce bildet die Diagrammatik weder Induktion noch Deduktion, sondern eine Form der Abduktion. Im Gegensatz zur ersteren, die darin bestehen, bekanntes Wissen zu versammeln, geht Abduktion auf ein noch nicht gekanntes Wissen zu. Peirce ist hier in12 | Ebd. 13 | Vgl. Meyer: Edmund Husserl. S. 69. Solches lässt sich besonders an der Husserlschen Reduktion erhellen, welche solches Verhältnis als Kontinuum geteilter Erfahrungen vorstellt. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass es nicht hinreicht, vom Kompositionalitätsprinzip zum Kontextprinzip zu wechseln. Funktionieren kann Diagrammatik nur via Fundierung im Kontinuitätsprinzip, denn ohne sie entbehren die Aussagen des Diagramms über seine jeweilige Bezugssituation jeder Relevanz. 14 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 16. 15 | Frederik Stjernfelt und Michael May haben die Konturen des Diagrammatischen Denkens bei Peirce ausführlich dargestellt. May, Michael: »Diagrammatisches Denken: Zur Deutung logischer Diagramme als Vorstellungschemata bei Lakoff und Peirce«. In: Zeitschrift für Semiotik, Band 17 (3-4), Tübingen 1995; Stjernfelt: Diagrammatology. 16 | Peirce, Charles Sanders: New Elements of Mathematics. Bd. IV. Atlantic Highlands 1976, S. 47f.
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spiriert von Kants Kritik der Urteilskraft und deren Unterscheidung zwischen zwei Arten der Urteilskraft, der bestimmenden und der reflektierenden: »Ist das Allgemeine […] gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, […] bestimmend. Ist aber das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.«17 Diagrammatik in diesem Sinn ist ein gestalterisches Handeln, das die reflektierende Urteilskraft in Bewegung versetzt und gleichzeitig einen Modus bildet, schematisch zwischen Sinnlichem und Intelligiblem zu vermitteln. Peirce rekurriert in diesem Zusammenhang auf die Zeichenhaftigkeit von Objekten, welche bei ihm jedoch nicht ontologisch, sondern vielmehr pragmatisch begründet ist. Zeichen sind Medien: »As a medium, the sign is essentially in a triadic relation, to its object which determines it, and to its interpretant, which determines.«18 Medial zu sein bedeutet für das Zeichen, dass es nicht nur repräsentiert, sondern auch das zu bezeichnende Objekt konfiguriert. Das Zeichen bildet nicht nur ab, sondern trägt, ganz im Sinne von Kants Urteilskraft, eine Regel mit sich, die man jedoch selbst sich erschließen, deren Form man selbst mit produzieren muss, um sich medial ein Objekt dar- bzw. vorzustellen. Zeichen geben Auskunft sowohl »im Hinblick auf die (ästhetische) Konfiguration der Art und Weise, wie sie ein Objekt darstellen, als auch im Hinblick auf die (logischen) Schlussfolgerungen, die aus dieser Konfiguration über das Objekt abgeleitet werden können.«19 Was hier zur Geltung kommt, ist die nicht-triviale Beschreibung dessen, wie in Zeichen Ähnlichkeit eingesetzt wird. Nach Peirce enthalten Zeichen implizite Strukturen, die es durch eine spezifische Verwendung explizit zu machen gilt. Auf dieser Grundlage entwickelt Peirce eine Kategorisierung der Zeichen in drei Typen: erstens die Bilder, welche einfache Qualitäten repräsentieren, zweitens Diagramme, welche die analogen Relationen zwischen sich und dem Ding in sich tragen und schließlich drittens die Metaphern, die sich durch die Ähnlichkeit zwischen Dingen positionieren. Hier regen besonders die Diagramme an, die sich als genuin relationale Kategorien zeigen: »ihre Ähnlichkeit besteht nur hinsichtlich der Relation ihrer Teile«20. Was hier geschieht, ist, dass Diagramme ihre Geltung nicht über die Repräsentation, sondern über die Produktion von Differenz und Performanz innerer Funktionen erhalten. 17 | Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe. Band X. Frankfurt a.M. 1974, Einleitung, A XXIII. 18 | Peirce, Charles Sanders: Definitions of the sign, S. 76, zit.n. Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 43. 19 | Ebd., S. 42. 20 | Peirce, Charles Sanders: Collected Papers 2.282. Zit. n. Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 44.
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Anders als bei bildhaften Darstellungen kann es keine Diagramme für sich geben: Diagramme rekurrieren auf Relationalität und sind nur durch eine solche zu erschließen. Daraus lässt sich die operative Dimension des Attributs gestalterisch ableiten: Diagramme gewinnen ihre Funktion aus dem gestalterischen Moment, wie Bauer und Ernst andeuten: »Diagrammatische Ikonizität ist nicht abbildende, sondern entwerfende Ähnlichkeit.«21 Mit Diagrammen lassen sich bereits bestehende Wissensbestände neu verschalten, in Relation setzen oder rekonfigurieren und so neues Wissen hervorrufen. Genau deshalb greift es zu kurz, Diagramme auf schematische Zeichnungen zu reduzieren. Ausschlaggebend ist, im Zuge der visuellen Darstellung der Organisation von Wissen, nicht mit dem Gestalten aufzuhören, sondern im Gegenteil das gestaltende Verfahren der Darstellung selbst zum Prinzip zu machen. Dass Diagramme in diesem Zusammenhang reduzierend agieren, macht gerade ihre dekonstruktive Stärke aus: Sie collagieren und arbeiten mit Freistellungen, Fragmenten von Karten, Subtraktion (Deleuze nennt dies, wie wir sehen werden, subtraktive Synthese). Endlich erklärt Peirce »alles notwendige Denken« zu einem »diagrammatisch Denken«. Insofern bildet die Diagrammatik kein randständiges Gebiet, sondern steigt zur Grundlage des Denkens überhaupt auf, wo »die Sicherheit, die alles andere Denken liefert, sich auf notwendiges Denken stützen«22 muss. Vor dem Hintergrund der Peirce’schen Diagrammanalyse hat Sybille Krämer die Kontur der Diagrammatik in fünf Attribute gegliedert: Ikonizität, Relationen zeigen, Sinnlichkeit des Allgemeinen, Schematismus sowie eine spezifische Form der Evidenz.23 Ikonizität meint, wie oben bereits angerissen, eine spezifische Form der Darstellungsleistung, die die Frage der Ähnlichkeit neu beleuchtet. Gelten traditionell alle Formen der Ähnlichkeit als repräsentationsbestimmt kann das Ikonische bei Peirce seine Bedeutung durch eine nicht-repräsentationale Ähnlichkeit gewinnen. Das geschieht, indem Ähnlichkeit vom Register des Mimetischen oder Naturalistischen ins Strukturelle überwechselt. Nur durch diesen Wechsel kann das gelingen, was oben entwerfende Ähnlichkeit genannt wurde. Darüber hinaus erweitert sich damit der Diagrammbegriff auf Formeln, Karten usw. hin. Allerdings: Wenn Diagramme nicht repräsentational arbeiten, was zeigen sie dann? Sie zeigen Relationen: »The pure diagram is designed to represent and to render intelligible,
21 | Ebd. S. 44. 22 | Peirce, Charles Sanders: Naturordnung und Zeichenprozess. Studien für Semiotik und Naturphilosophie. Frankfurt a.M. 1991, S. 316. 23 | Krämer, Sybille: »Operative Bildlichkeit. Von der ›Grammatologie‹ zu einer ›Diagrammatologie‹? Reflexionen über erkennendes ›Sehen‹«. In: Heßler/Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. S. 94-123.
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the form of relation merely.«24 Es gehört zum Wesen des Strukturellen, nicht von vornherein sichtbar zu sein. Insofern kommt dem Zeigen von Relationen nicht nur eine vorgeordnete Rolle in der Funktion der Diagramme zu, sie bildet auch ihre Fundierung. Zum Attribut der Sinnlichkeit des Allgemeinen gehört der strukturelle Aspekt im Generellen, der besagt, dass Diagramme zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen, zwischen dem Realen und dem Imaginären vermitteln. Diagramme machen nicht nur sichtbar, sie fügen der sichtbar gemachten Struktur eine Operativität zu, aus der eine Transformation der strukturellen Relation hervorgehen kann. Darin liegt der ermöglichende Effekt des Diagramms. Wo hier Kants Schematismus anklingt, so warten Diagramme mit einer Doppelfunktion auf: Sie funktionieren gleichermaßen schematisch und schematisierend: »[A diagram] is on the one side an object capable of being observed while on the other side it is general.«25 Das führt zum nächsten Attribut, dem Schematismus: »Diagramme können dadurch Allgemeines zeigen, dass sie ein interpretierbares Symbol bzw. ein Schema schaffen, welches dann das Generelle verkörpert im Unterschied zum konkret eingezeichneten Diagramm.«26 Hier verknüpfen sich die Ebenen der Wahrnehmung und der Abstraktion. Wer mit einem Diagramm arbeitet, es herstellt oder liest, lässt immer ein Schema im Hintergrund gewissermaßen »mitlaufen« und sorgt so für eine abstrakte Verschaltebene. Weder repräsentiert noch präsentiert indes das Diagramm ein Schema. Das Schema, für welches das Diagramm steht, entfaltet sich erst aus dem improvisationalen Umgang mit diesem. Das koppelt Diagramme schließlich an ein spezifisches Modell von Evidenz. Insofern Diagramme keine Evidenz darstellen, bilden sie nicht ab, ermöglichen aber Einsichten, die nicht in der Konstruktion des Diagramms enthalten sind.27 Daraus erschließt sich einmal mehr der entwerfende, gestalterische Aspekt des Diagramms, der das Darstellen selbst zum Element des Gestaltens erheb, und umgekehrt die ermöglichende Form von Wissen thematisiert. Zur Erklärung, wie das Relationsgefüges des Diagramms funktioniert, bietet Peirces diagrammatische Type-Token Unterscheidung ein Referenzmodell an, das den empirischen Buchstaben als Verkörperung eines universellen Typus versteht.28 In dem Zusammenhang impliziert der token das Vorkommnis beispielsweise eines Wortes, während der type die Brücke zum Überindi24 | Peirce, Charles Sanders: »Prolegomena for an Apology for Pragmatism (1906)«. In: Eisele, L. Carolyn (Hg.): The New Elements of Mathematics Bd. IV. Den Haag 1976, S. 59. 25 | Ebd., S. 318. 26 | Krämer: »Operative Bildlichkeit«. S. 101. 27 | Peirce: »Prolegomena for an Apology for Pragmatism«. S. 319. 28 | Peirce, Charles Sanders: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bd. I-VIII. Cambridge 1933, 4.537.
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viduellen bilden soll. Der Typ hat die Funktion, einer Meinung Bedeutung zu verleihen. Weil aber der Typ objektive Bedeutung nur exemplifiziert und nicht idealiter abbildet, erlaubt er eine spezifische Form der Identifikation von Bedeutung in Kommunikation, die auf direkte Repräsentation verzichtet. D.h., nicht die Zeichen geben Bedeutung, sondern dasjenige, was man mit den Zeichen macht, also das Exemplifizieren als Variationstechnik. Mit anderen Worten: Bedeutung ist immer relational bestimmt und vom Kontext abhängig. Hier sei noch eine Bemerkung zu den der Untersuchung eines Darstellens von der Stadt entstammenden Erfahrungen eingefügt. Dort zeigt sich: Je hybrider die Diagramme, desto unordentlicher wirken sie auf den ersten Blick.29 Sind sie jedoch ermöglichend gestaltet, nämlich auf ein entwerfendes Interpretieren hin, ordnet sich mit der performativen Kompetenz die Unordnung in eine relationale Anordnung struktureller Art. So setzen Diagramme immer auch ein Wissen, genauer: eine performative Kompetenz voraus. Diese lässt sich freilich an dem Lesen von und dem Spiel mit Diagrammen erlernen. Kontemplative Problemlösungs-Betrachtung eines »Darum geht es« wandelt sich mit dem Diagramm in ein Fragestellungen-Generierendes »Worum geht es hier?«. Das Rekurrieren auf Performanz schließt ein, die im Diagramm angelegten Relationen zu nutzen, zu rekonfigurieren, neu zu verschalten, Strukturen relational neu zu versammeln. Daraus entfaltet sich ein Denken, das, anhand des Mediums und der Medialität der Diagrammatik, weniger Bilder zusammensetzt als Relationen. Nicht nur gewinnt solches Denken für das Gestalten Relevanz. Es ist, wenn es darum geht, eine mediale Praktik zu entwickeln, in welcher Medien helfen, »die Spielräume der verschiedenen Zeichenkonfigurationen als Handlungs- und Operationsräume«30 zu strukturieren, selbst an das gestalterische Moment ermöglichender Wissensformen gebunden. Auf diese Weise heben gestalterisch orientierte Diagramme stets auf das relationale Potential von Handlungsoptionen ab. Aus Peirces Konzeption lässt sich gewinnen, dass Diagramme gleichwohl nicht für ein anything goes stehen. Ihr Gelingen liegt in der Arbeit mit und Verschaltung von konkreten Funktionen. Dergestalt diagrammatologisch bestimmt, fungieren Diagramme als Denkwerkzeuge, »deren Funktion nicht von anderen Medienformaten übernommen werden kann«31. Mit diesen Werkzeugen lässt sich für die Stadtforschung ein diagrammatisches Denken aufschließen, das gerade nicht auf eine Komplexitätsreduktion, sondern, als notative Partitur eines rekursiven Probehandelns und der darin eingelagerten Wissensorganisation, auf deren Erhöhung rekurriert. Noch eine Bemerkung ist wichtig: wir haben die Kriterien des Diagramms beschrieben. D.h. Bestimmungen des Diagrammatischen, die etwa hinsicht29 | Vgl. hierzu: Dell: Replaycity. 30 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 47. 31 | Ebd.
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lich des Verfertigens einer Darstellung gelten. Diese Kriterien können aber auch in umgekehrter Weise für das Verwenden einer vorliegenden Darstellung in Anschlag gebracht werden. Nehmen wir die berühmte Zeichnung des Maison Domino durch Le Corbusier. An ihr möchte ich im folgenden zeigen, wie sich ein und dieselbe Zeichnung in den drei von Peirce aufgestellten Modi unterschiedlich interpretieren lässt. Das soll sagen: Je nach Kontext kann ein und dieselbe Darstellung sowohl als Bild, als Metapher als auch als Diagramm fungieren. Wie ist das möglich? Die Abbildung 11 verdeutlicht die Unterscheidung der Kategorien, indem sie die Zeichnung des Maison Domino in unterschiedlichen Bezugnahmen zeigt. Im ersten Fall funktioniert das Zeichen als Bild. Genau eine solche Lesart verwendeten Studierende der Architectural Association London anlässlich der Architekturbiennale in Venedig im Jahr 2015. Dank ihrer Arbeit lässt sich heute gut veranschaulichen, wie dort, wo die Zeichnung von Maison Domino als Plan für einen zu realisierenden Bau herhält, die Bezugnahme entsprechend organisiert wird. Mit einfachen Qualitäten und anhand simpler visueller Eigenschaften wird der Referent assoziiert: der Rohbau einer Gebäudestruktur. Im zweiten Fall haben wir es mit einer Metaphernlesart zu tun. Sie kommt durch die Bezugnahme einer Teil-Gesamtheit-Struktur auf ein Drittes zustande. Wofür die Zeichnung des Maison Domino hier steht, ist die Struktur des von der Moderne propagierten Plug-In-Lebensstils, wie er sich im offenen Grundriss entfaltet. Wenn wir aber drittens an den Optionen interessiert wären, die ein offener Grundriss und seine bauliche Struktur prinzipiell bereithalten, würden wir das Zeichen diagrammatisch verwenden. Wir würden es vielleicht in Bezug zu den typologischen Strukturen setzen, die Le Corbusier für Trois Etablissments Humains erstellt hat. Die Bezugnahme findet dann statt, indem die Teil-Gesamtheit-Struktur des Diagramms die Teil-Gesamtheit-Struktur eines Referenten X (=Trois Etablissments Humains) spiegelt. Angesichts dessen repräsentiert die Konzeption der Rahmenstruktur - in Form der Denkfigur des manuals – auf nicht-repräsentationale Weise ein bestimmtes regulatives Prinzip Formen zu modulieren und als Konzeption zu verschieben. Anstatt abgebildete oder abbildende Form zu sein, wirkt Le Corbusiers Maison Domino vielmehr als strukturelles Prinzip einer Kompositionseinheit, die sich mannigfaltig multiziplieren lässt.
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Abbildung 11: Le Corbusier Le Maison Domino, übersetzt in die Peirce’schen Lese-Modi
3.1.2 Gilles Deleuze: Subtraktive Synthese Gilles Deleuzes spezifische Konzeption des Diagramms zielt darauf, das Wie des Denkens und mithin die Existenz als ein prozessuales Werden zu erhellen. Solche Untersuchung versteht Deleuze als einen »transzendentalen Empirismus«32, der die Immanenz von Werden, Empirie und Erfahrung zum Inhalt hat. Im Rückgriff auf Foucault bestimmt Deleuze das Diagramm gesellschaftstheoretisch als ein Reservoir von Strukturen, das sich in ein Vektorenfeld relationaler, agonaler Kräfte bzw. Interessen, Subjektivitäten bettet. Die Kräfte sind es, welche die diagrammatische Struktur sozusagen ans Funktionieren bringen und damit Wirklichkeit erst schaffen bzw. ordnen. Wirklichkeit ist nicht da: Sie wird produziert. Innerhalb dessen konstituieren sich Strukturen jedoch nicht als der Erfahrung vorgängige a priori Konstruktionen. Kulturell bedingt erwachsen sie aus der geschichtlichen Heterogenese konflikthafter Auseinandersetzungen, sie emergieren »mit der Erfahrung und wirken auf Erfahrung ein«33. In der Absatzbewegung zu Struktuationstheoretikern wie Giddens oder Bourdieu fasst Deleuze Strukturen demnach als genuin performativ, als eingebettet in die Materialität von Kultur und Geschichte. Die von ihm bereits in »Woran erkennt man den Strukturalismus?« herausgearbeitete material-strukturale Differenz zwischen Realem und Imaginärem verflüssigt Deleuze später (gemeinsam mit Felix Guattari) zu einer dynamischen Bewe32 | Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 1992, S. 186. 33 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 316.
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gung der Assemblage, dem Agencement (Gefüge), in welcher Zeichenhaftigkeit und räumlich verortete Materialität (Deleuze nennt dies Territorialisierung) konvergieren. Das Rekurrieren der Diagramme auf strukturelle Arbeit ereignet sich hier allerdings nicht, wie Bauer und Ernst konstatieren,34 informell, sondern vielmehr qua ihrer Nicht-Repräsentationalität. In ihrer A-Signifikanz (Deleuze spricht auch von Blindheit 35) verfügen Diagramme in formaler Hinsicht vor allem über eine Rahmungsfunktion (als Meta-Form), innerhalb derer Elemente, Strukturen und Muster (als Ensemble von Strukturen) relational angeordnet, zum Funktionieren gebracht und Formen produziert werden. Hinsichtlich der Frage der Wissensform der Stadtforschung und dem von ihr benötigten Verweis auf universelle Ordnungsprinzipien sticht heraus, dass sich das Diagramm bei Deleuze als eben jene Rahmung vollzieht, die Relationen nach einem Ordnungsprinzip anordnet, welches nicht universell, sondern historisch situiert ist. Das hat aber keineswegs zur Folge – und hier ist noch einmal der Informalitätsvorwurf zurückzuweisen – dass Diagramme ohne Logik operieren. Stattdessen folgen sie der in ihren Konfigurationen und Rekonfigurationen angelegten Verschaltoptionen und Relationsmöglichkeiten, die wiederum je nach kulturellem Bezugssystem variieren können. Deleuze spricht auch von einer atonalen Logik, die strategisch wirkt (s. Kapitel Performative Strategie). Was also ein Diagramm formt, »ist die Performativität seiner strategischen Eigenschaften. Das Diagramm ist als ein Verfahren des Übergangs und der Variation zu beschreiben, das aus der Topologie der Punkte eine temporär ebenso funktionierende wie heterogene und mannigfaltige Nachbarschaftsordnung herstellt. Mannigfaltig deshalb, weil das Diagramm strukturell offen ist und kein abgeschlossenes System darstellt.«36 Deleuze entwickelt seine spezifische Konzeption des diagrammatischen Denkens in Form eines Work-in-Progress. Durchgängiges Moment dieses Begriffsfindungsprozesses bleibt die Affirmation des Diagramms als strukturierte Potentialität. Derlei Affirmation steigt zum entscheidenden Merkmal eines Zusammendenkens von Diagramm auf der einen und Virtualität, Werden und Alterität auf der anderen Seite auf. Den Beginn von Deleuzes Auseinandersetzung markiert ein 1975 in der Ausgabe 343 von Critique erschienener Artikel über Foucault. Deleuze nimmt hier im Besonderen auf die von Foucault in Überwachen und Strafen vorgenommene Beschreibung des Bentham’schen Panoptikums Bezug. Parallel zur Einordnung des Panoptikums als Diagramm hatte Foucault dort auch die Begriffe ›Schema‹, ›Programm‹, und ›Dispositiv‹ aufgerufen. Deleuze führt die Theoriebestände zur Aussage zusammen: »ce n’est pas une théorie et ce n’est même pas un modèle à proprement parler, c’est 34 | Ebd. 35 | Deleuze, Gilles: Foucault. Frankfurt a.M. 1992, S. 10. 36 | Dell: Replaycity, Berlin 2011.
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une machine, […] une machine abstraite. […] Définie comme pure fonction et pure matière, elle fait elle-même abstraction des formes où ces matières sont qualifiées.«37 Und er fügt hinzu: »Ce n’est pas un modèle qui s’appliquerait. C’est un diagramme.«38 Deleuze unterscheidet hier das Diagramm klar von Konzeptionen wie ›transzendentaler Idee‹, ›ideologischer Überbau‹ und ›ökonomischer Infrastruktur‹. In dem Zuge resultiert aus der Rekonturierung des Diagrammbegriffs eine prinzipielle Neudefinition der Macht, ihrer Verteilung und ihrer Beziehungen mit dem Feld des Sozialen jener Gesellschaften, die Foucault die Disziplinargesellschaften nennt. Was das Diagramm charakterisiert, ist seine Immanenz – eine Immanenz, die Foucault bereits als Eigenschaft der Macht selbst identifiziert hatte. Der Gebrauch des Panoptikums rechtfertigt sich über diese Immanenz, die sich, als Prinzip und Wirkung, auf unterschiedlichste Institutionen wie ein Krankenhaus, eine Schule usw. übertragen lässt. Der Kern der Funktion dieser Version des Diagramms besteht darin, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu kontrollieren: »Mais il y a une substance-soldat qui n’est pas la même que la substance-ouvrier, ou la substance-élève ou la substance-prisonnier.«39 Zunächst scheint ein Diagramm ein Gefüge zu konstituieren, das in seiner vektorialen Beschaffenheit Macht performativ verteilt: »C’est donc le diagramme coextensif à un champ social, 1) qui définit la machine sociale en tant qu’abstrait 2) qui organise et articule à tel moment les machines sociales concrètes chargées d’effectuer celle-ci, 3) qui exerce même un rôle sélectif sur l’ensemble des techniques au sens étroit du terme à travers les machines sociales qui les mettent en œuvre.«40 Damit verfügt eine jede Gesellschaftsform über ein ihr jeweils eigenes Diagramm, welches ihr koextensiv ist und das sie als soziale Maschinerie prozessual am Laufen hält und auflädt. Während es das Diagramm ist, das die gesellschaftlichen Handlungsweisen definiert, organisiert und performiert, vollzieht sich Transformation von Gesellschaft über die Modulation der Diagramme, sie findet diagrammatisch statt. In dem Zusammenhang präzisiert Deleuze nicht nur die nicht-repräsentationale Eigenschaft des Diagramms, sondern auch vier weitere, im Kontext unserer Arbeit besonders wichtige Punkte: erstens die Verbindung des Diagramms mit dem Ausdruck von Relationen, zweitens die performativ-strategische Rolle des Diagramms in der Emergenz dessen, was passieren wird, drittens der Diagrammatik als politisch-historische Funktionsweise und viertens der ›Hubs‹, die Punkte der Emergenz oder Kreation, von denen aus sich das Diagramm entfaltet und an dem es ins Funktionieren kommt. Deleuze spricht 37 | Deleuze: »Écrivain non: un nouveau cartographe«. S. 1209. 38 | Ebd. 39 | Ebd., S. 1219. 40 | Ebd., S. 1221.
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später auch von »Verkettungen«, in denen »Vereinheitlichungsbrennpunkte, Totalisierungsknoten, Subjektivierungsprozesse« zu finden und »immer relativ, immer aufzulösen [sind,] um einer unruhigen Linie noch weiter zu folgen«41. Den critique-Aufsatz beendet Deleuze mit der These: »un diagramme ne fonctionne jamais pour représenter un monde objective; au contraire il organise un nouveau type de réalité. Le diagramme n’est pas une science, il est toujours affaire politique. Il n’est pas un sujet d’histoire, ni surplombe l’histoire. Il fait de l’histoire en défaisant les réalités et les significations précédentes, constituant autant de points d’érmergence ou de créationisme, de conjoncts inattendues, de continuums improbables. On ne renonce à rien quand on abandonne les raisons. Une nouvelle pensée, positive et positiviste, le diagrammatisme, la cartographie.«42 Im Jahr 1980 nimmt Deleuze – diesmal in Zusammenarbeit mit Felix Guattari – den in critique entwickelten Gedankengang wieder auf. Besonders im fünften Kapitel (Sur quelques régimes de signes) des Buches mille plateaux beleuchten die Autoren die Semiotik auf ihre Verortung im Spannungsfeld von Zeichenregime und Formalisierung der Expression hin. Deleuze und Guattari (D/G) gehen davon aus, dass Zeichen als Funktionen der Existenz (fonctions d’existence) in dem Sinne zu bestimmen sind, dass ihnen performative Geltung in Form von agencements zukommt: »agencements d’énonciation«43. Als entscheidendes Merkmal tritt die Definition von Zeichenregimen nach internen Variablen hervor: «Les régimes de signes se définissent ainsi par des variables intérieurs à l’énonciation même, mais qui restent extérieures aux constantes de la langage et irréductibles aux catégories linguistiques.«44 D/G fügen hinzu, »l’agencement n’est pas d’énonciation, il ne formalise l’expression que sur une de ses faces; sur son autre face inséparable, il formalise les contenus, il est agencement machinique ou de corps.«45 D/G insistieren darauf, dass Inhalte weder an ein mit Bezeichnetem assoziiertes Bezeichnendes geknüpft werden können, noch in Bezug auf Objekte bestimmbar sind, die in ein Kausalverhältnis mit dem Subjekt treten. Form des Inhalts und Form des Ausdrucks (expression) sind als Vorraussetzung reziprok; geordnet als die zwei Gesichter des gleichen – durch die »abstrakte Maschine« organisierten – Gefüges (agencement). Wer danach fragt, was hier der Begriff abstrakte Maschine meint, stellt schnell fest, dass die Konzeptionen von abstrakter Maschine und Diagramm bei D/G interdefinitorisch parallel und ineinander laufen. Grundsätzlich lässt sich die abstrakte Maschine als vollkommen destratifiziert, deterritorialisiert 41 | Deleuze: Unterhandlungen. S. 126. 42 | Deleuze: »Écrivain non: un nouveau cartographe«. S. 1223. 43 | Deleuze/Guattari: Mille Plateaux. Paris 1980, S. 174f. 44 | Ebd. 45 | Ebd., S. 175.
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beschreiben. Sie hat weder Substanz noch Form und unterscheidet auch nicht zwischen Form, Inhalt und Ausdruck, sondern sie organisiert diese Parameter – sie agiert gewissermaßen diagrammatisch (»diagrammatique« 46). Und weil sie keine Form und Substanz hat, weiß sie auch nicht von ihnen: Die abstrakte Maschine ist blind, denn sie bildet nichts ab. Ihr Funktionskern liegt in ihrer Eigenschaft, nicht-repräsentational zu sein. Erneut haben wir es mit dem negativen Verfahren des Vermeidens einer Eins-zu-Eins-Darstellungsweise zu tun. Es bildet die Vorraussetzung dafür, Zukünftiges offen halten zu können. »Une machine ou diagrammatique ne fonctionne pas pour représenter, même quelque chose de réel, mais construit un réel à venir, un nouveau type de réalité. Elle n’est donc pas hors de l’histoire, mais toujours plutôt ›avant‹ l’histoire, à chaque moment où elle constitue des points de création ou de potentialité.«47 Wir erfahren, was den topologisch-operativen Modus des Diagramms konstituiert: Stets dort, wo es ›hubs‹, Punkte der Kreation ausbildet, fängt es an zu funktionieren. Ein Jahr nach mille plateaux unternimmt Deleuze den Versuch, das diagrammatische Vorgehen anhand der künstlerischen Arbeit Francis Bacons zu exemplifizieren. Deleuze definiert hier die diagrammatischen Linien des Bacon’schen Zeichnens als »nicht-repräsentativ, nicht-illustrativ und nicht-narrativ«48. Linien fungieren hier als Werkzeuge, um figurative Daten zu organisieren. Sie sind nach Deleuzes Auffassung kein Gemälde, sondern »zeigen« das Machen des Gemäldes, drücken die performative Dimension des Diagramms aus. Dessen Linien tragen keinen Sinn a priori in sich, operieren aber, um Sinn herzustellen. Ihre Funktion besteht darin, in der Ordnung der figurativen Daten selbst operativ zu wirken. Die Kraft der Linien liegt in der Entfigurierung, sie lösen die Teile der optischen Organisation auf, durch die das Gemälde »bereits beherrscht und im voraus figurativ wurde«49. Die Funktion des Diagramms entspringt dann der Suggestion: der »Einführung von faktischen Möglichkeiten«50, die vorher in der Figuration fixiert waren bzw. brach lagen. Linien des Diagramms stellen keine Formen vor, sondern Strukturen. Sie wirken aus ihrer Bewegung auf Formen hin. Weil sie keinen Sinn in sich selbst tragen, sind Linien nicht figurativ. Sinn kann hier nur als auf etwas anderes verweisend gelten, denn der operative Sinn ist ja da: als performatives Werkzeug der Bewegung des Prozesses. Linien, Fragmente zeigen nur auf sich selbst, stehen für sich selbst und weisen gleichzeitig auf ihre Anschlussfähigkeit hin, die es herzustellen gilt. Wo das Diagramm organisiert, besteht seine 46 | Ebd., S. 176. 47 | Ebd., S. 177. 48 | Deleuze, Gilles: Logik der Sensation. München 1994, S. 36. 49 | Ebd. 50 | Ebd.
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Operativität darin, kleinteilige Strukturen in Relation zu setzen. Dabei definiert die diagrammatische Bewegung den performativen Akt, ermöglicht, dass dem Performativen Sinn zukommen kann. Gleichzeitig ist das Diagramm in sich selbst performativ, da es das Machen als Prozess zeigt. Das Diagramm kann nicht ohne die Performanz funktionieren, da es sonst in seiner Öffnung ungenutzt, fast schon obsolet scheint. Das Diagramm stellt die Relationalität eines Ganzen (in diesem Fall des Gemäldes) her. Um relationalen Gefügen Sinn zukommen zu lassen, brauchen wir Diagramme, und zwar nicht nur zur Explikation, sondern auch zur Gestaltung und Implementierung. Das Diagramm gerät auf diese Weise performativ zu einem operativen Werkzeug. Die Flächen, Linien und Farben eines Gemäldes stehen für eine Materialkonfiguration, innerhalb derer Materialien sowohl als essentielle Elemente wie auch als Strukturen (also Ensembles von Elementen) des relationalen Gefüges interpretiert werden können. Strukturen sind hier rein »strukturierend« gedacht: Sie können allen Arten von ontologischen Ebenen entspringen, sie repräsentieren keine spezifischen Objekte, sondern stehen operativ für die Ausführbarkeit einer performativen Bewegung. Ein Diagramm ist dann etwas, das die Strukturen so ins Verhältnis setzen kann, dass ein strukturelles Netz entsteht, welches die Offenheit eines Prozesses konstruktiv bespielbar macht. In dieser Konzeption zeichnet sich ein prinzipielles pragmatisches Potential des diagrammatischen Prinzips für die Stadtforschung ab, das sich grundlegend von dem Prinzip der Idee und der Repräsentation unterscheidet. Repräsentational ausgerichtete Wahrnehmungskonzeptionen verbinden die Stadt der eigenen Wünsche mit möglichen Stadträumen der Wunscherfüllung rezeptiv und setzen so Stadtwirklichkeit mit realisierter Möglichkeit gleich. Weil indes ein solches Repräsentationsdenken die Möglichkeit nur als Abbild von zu Verwirklichendem begreift, blockiert es sich selbst. Demgegenüber richtet sich das diagrammatische Prinzip auf das Einschreiben formaler Relationen, die sich operativ auf das Handeln als Stadt beziehen. Gerade weil in diesem Prozess ganz konkret unbewusste, unverfügbare Abläufe mit steuerbaren Handlungen verschränkt werden, greift es gemeinhin zu kurz, das Diagrammatische allein quantitativ als »Abstraktionsgrad« bestimmen zu wollen. Das in dieser Konzeption aufscheinende Interesse von Deleuze, die Differenz qualitativ zu konzipieren, zielt nicht auf eine isolierte Reflexion und Unterscheidung von Qualitäten. Im Gegenteil: Deleuzes Text Woran erkennt man den Strukturalismus erhellt, dass es in erster Linie darum geht, die Frage nach ihrer Verbindung zu stellen, nach der Topologie der Nachbarschaftsordnungen.
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Abstrakte Maschine: Entdeckungen im Unbewussten Die vielen Arten und Weisen, die Deleuze im Verlauf seiner theoretischen Arbeit gefunden hat, um das Diagramm zu beschreiben, schließt mit der Studie Foucault51 ab. Es ist dies eine Aufsatzsammlung, in der Deleuze die philosophische Kartographie von Foucault expliziert und die den Diagrammbegriff als Transmissionsriemen ins Spiel bringt. Deleuze agiert hier auf zwei Ebenen: Zur Verbildlichung des Foucault’schen Denkens und dessen TechnoLogik nutzt Deleuze das Diagramm seinerseits als Darstellungswerkzeug. In diesem Verfahren beruft er sich auf Foucault selbst, der (allerdings in wenigen Stellen seines Werks) den Begriff des Diagramms zur Erklärung seiner eigenen Vorgehensweise heranzieht. Gleichzeitig eröffnet das Beschreiben der Foucault’schen Konzeption für Deleuze die Möglichkeit, das Funktionieren des Diagramms zu beschreiben. Um das Funktionieren geht es. Seinen Ausgangspunkt liefert das topologische Feld der Relationen, welches der Strukturalismus als Deutungsfeld erschlossen hat. Offen bleibt: Wie funktioniert dieses Feld? Wie wirken die strukturellen »Regeln des Feldes, in denen Singularitäten sich verteilen und reproduzieren52? Deleuze rückt die strukturalistischen Fragen nach der Existenz oder Nicht-Existenz von Modellen oder Realitäten, die als Strukturen bezeichnet werden können, in den Hintergrund. Im Vordergrund steht für ihn die Frage: Wo ist der Status und der Ort, »der dem Subjekt in Dimensionen zukommt, die man noch nicht für völlig strukturiert hält«53? D.h. jedoch nicht, dass hier auf einem Umweg das Subjekt als konstituierende Form wieder eingeführt würde. Vielmehr ist ein neues Spiel eröffnet, das die Maßstäbe zu überwinden sucht, quasi ein multimaßstäbliches Denken, das sich zwischen Mannigfaltigkeit und »dem Einen« bewegt. Weder unterstellt es die Objektivität des Feldes noch eine einheitliche Form des Subjekts: »es gibt lediglich knappe Mannigfaltigkeiten mitsamt singulären Punkten und leeren Plätzen für diejenigen, die dort einen Moment als Subjekte funktionieren, kumulierbare, wiederholbare und sich selbst erhaltende Regelmäßigkeiten.«54 Daran schließt an, dass Deleuze Geschichte als kontingente Heterogenese historischer Prozesse interpretiert. Geschichte entzieht sich sowohl der Form (als Teleologie oder Herrschaft des Subjekts) als auch der Struktur (als homogenes System): Sie konstituiert einen funktionalen Vektor, der die Mannigfaltigkeiten, die Ebenen, die Matrizes und Felder durchquert. Das Funktionieren der Subjekte für einen Moment bedeutet, dass etwas als knappe Mannigfaltigkeit erscheint, die, in den Worten Foucaults, »ein Gebiet von Strukturen durchkreuzt 51 | Deleuze: Foucault. 52 | Ebd., S. 13. 53 | Ebd., S. 26. 54 | Ebd.
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und sie mit konkreten Inhalten in Raum und Zeit erscheinen lässt«55. Foucault hätte hier auch sagen können: als Zeit und Raum erscheinen lässt. Denn zum Entscheidenden gerät erneut, dass hier Zeit und Raum nicht als Behälter verstanden werden, in die etwas hineinzufüllen sei. Vielmehr bringt sie die Bewegung des Diagramms, der abstrakten Maschine, hervor, um zum funktionieren. Die Quintessenz liegt in der Performanz der Bewegung, ihrer grundlegenden Positivität: Diagrammatisch Arbeitende zeigen das Verfahren als Funktionieren, als Verlauf, als Prozess, der etwas hervorbringt, sie suchen nicht nach einem heimlichen Sinn, der »unter« der Oberfläche zu entdecken sei. Das meint keinen Rückzug in eine relativistische Position. (Die besagt: nun gut, da passiert etwas, das keinen teleologischen Sinn hat, also kann es alles Mögliche sein, beschäftigen wir uns nicht mehr damit.) Es verhält sich genau umgekehrt: Gerade weil hier in einer Form Wissen produziert wird, dem wir mit dem Verfahren des Erkennens als Objekt nicht näher kommen, gibt es eine neue Arbeit, und zwar das Verfahren des relationalen Offenlegens einer prozessualen Performanz als Wissensproduktion neuer Ordnung. Denn obwohl ein performatives Ereignis als Aussage direkt und positiv in die Welt tritt, ist ihr Funktionieren im Dunkeln. Foucault insistiert: Auch wenn es hinter der Performanz keinen teleologischen Sinn offenzulegen gibt, ist sie doch als Aussage »gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen«56. Deshalb wählt Foucault für die Beschreibung des performativen Erscheinens von Feldern, Diskursen, »Wörter, Sätze, basale Propositionen weder nach der Struktur noch nach einem Autor-Subjekt, […] sondern entsprechend der einfachen Funktion, die sie in einer Gesamtheit ausüben«: z.B. Regeln der Internierung für das Asyl oder auch für das Gefängnis; Disziplinararrangements für die Armee oder Schule.57 Behalten wir im Blick: Der Begriff der Struktur und ihrer topologischen Verräumlichung ist für Foucault grundlegend, um überhaupt auf den Gedanken des Arrangements von Disziplinaranordnungen als Feld, als Ensemble von singulären Punkten zu stoßen. Allerdings reicht ihm die Beschreibung nicht hin: Um auf die Ebene zu gelangen, das Feld nicht nur als Objekt zu beschreiben und damit hinter einen Formalismus zurückzufallen, muss er nach der Performanz fragen: Was macht das Feld? Wie funktionieren die Punkte? Wie funktioniert das Diagramm? Es sind zwei Wege, die einander bedingen: Kartierung macht nur Sinn, wenn sie in ihrer Funktion beschrieben wird, in dem das Verfahren zu Tage tritt, das Machen. Zum anderen ist die Kartierung erst wertvoll für zukünftiges Machen, wenn wir eine Vorstellung davon erlangen, wie wir selbst Felder als knappe Mannigfaltigkeiten produzieren und wann und wie das »funktioniert«. Und genau hierin liegt eine neue Form des 55 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt 1973, S. 126. 56 | Ebd., S. 158. 57 | Deleuze: Foucault. S. 30.
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Wissens. Sie lässt uns improvisatorisch handeln, in kontingente Situationen – als Felder – hineinspielen. Das beinhaltet, die Felder funktional »lesen«, also kartieren bzw. notieren zu können, während wir sie produzieren, ermöglicht die Antizipation des Funktionierenden jene zukünftige relationale Anordnung aktueller Verhältnisse, die wir noch gar nicht komplett sichtbar antizipieren können, von denen wir aber schon quasi als Virtualität »wissen«. Mit Deleuze lässt sich sagen, dass sich Situations-Felder nicht nach Regeln bilden, um Form zu sein, sondern dass sie Formen bilden, um Transformation auszulösen, um im Prozess »ihre Natur zu verändern«58, und zwar in dem agiert, gemacht wird. Ihre Qualität entwickeln die Vorgänge, indem sie den Raum produzieren und sich in der Dichte der Strukturen verteilen. Das gestaltende Moment daran liegt in der Schaffung eines Milieus der relationalen, also interagierenden und funktionierenden Streuung und Verteilung. Funktionieren heißt dann, Situationen zu ermöglichen, die Regeln nicht nur bestimmen, sondern auch aus der Anwendung selbst hervorbringen und das Diagramm resonieren lassen. Der Begriff der Anwendung kippt hier: von der Bestätigung von bereits Funktionierendem hin zum performativen Ins-Spiel-Bringen von Wissen an Praxen und Fällen. Strukturen werden mit voller Wucht ins Feld geworfen, und zwar so, dass daraus andere Anordnungen entstehen. Das spricht in städtebautheoretischer Hinsicht von einem »umgekehrten Funktionalismus«59. Ein solcher reverse functionalism gibt nicht Funktionen als formale Regelungen vor (wie z.B. das zonierende Planungsverfahren der Charta von Athen), sondern verteilt Strukturen und Formen so, dass Funktionen entstehen. Hier ist Anwendung das Wissen-Machen selbst: Als diskursive Praxis bringt sie ein Wissen hervor, dass »weder grobe Skizze noch das Nebenprodukt einer konstituierenden Wissenschaft«60 ist. Was allerdings auch bedeutet, dass dieses Wissen möglicherweise nicht auf ein erkenntnistheoretisches Modell hinausläuft, sondern Formationen hervorbringt, die in der Gestaltung und im Experiment eine Rolle spielen, indem sie sich auf den Ebenen der Ästhetik, der Ethik oder Politik bewegen.61 Man kann von einer reflexiven Anwendung sprechen, die die Performanz und ihre Bedingungen nicht umgeht, sondern als Struktur einbezieht. Und nicht nur das: Ihr gestalterisches Moment gewinnt solche Anwendungsstrategie gerade daraus, dass sie Funktionen im Machen ermöglicht bzw. erzeugt. Das daraus hervorgehende »performative« Wissen erhält einen Ort, der irgendwo zwischen Wissenschaft und Erkenntnis navigiert. Die Objekte die58 | Ebd., S. 31. 59 | Vgl. Dell, Christopher: »Reverse Functionalism. Deleuze and the Structure of Diagrams«. In: Valena/Avermaete/Vrachliotis (Hg.): Structuralism Reloaded. München 2011. 60 | Foucault, Archäologie des Wissens. S. 261. 61 | Deleuze spricht hier von Schwellen.
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ses Wissens (Rheinberger würde sagen: die epistemischen Dinge) »sind genau die Mannigfaltigkeiten, die das Wissen selbst mit seinen singulären Punkten, seinen Plätzen und Funktionen beschreibt«62. Zu der Arbeit eines solchen Wissens gehört auch, die Mannigfaltigkeiten zu bestimmen, zu kartographieren. Das Wesentliche besteht hier weder in dem Überschreiten von Wissenschaft noch in der Entdeckung von Verfahren zur wissenschaftlichen Behandlung von Prozessen (das systemtheoretische Modell), sondern in der Performanz von Gestaltung des Experiments: Es geht um die Darstellung (als diagrammatische Notation) eines Feldes, das Aussage ist, »wenngleich ohne gemeinsames Maß, ohne jede Reduktion oder diskursive Äquivalenz«63. Funktion der Darstellung ist nicht, aus dem Prozess ein Produkt zu machen, sondern den Prozess zum Funktionieren zu bringen oder neue Prozesse als Projekt, als Diagramm zu erzeugen: Projekt als ontogenetisches Verfahren, »als ein Sein der Sprache, […] das mit jeder Gesamtheit variiert«64. An dieser Darstellungsform manifestiert sich das gestalterische Moment des Diagrammatischen. Im Spannungsfeld von Aktualisierung und Virtualität eröffnet sich die Frage nach der Intensität der Praktiken und der daran gekoppelten Verknüpfung von Ereignis und Selbst. Einerseits prononciert sich Virtualität als ein unendliches Feld der Potentiale und Kräfteverhältnisse, die instabil, flüchtig, molekular sind und Möglichkeiten definieren, Interaktionswahrscheinlichkeiten. Andererseits erscheint Aktualisierung als ein Vorgang, der flüssigen Materien und diffusen Funktionen eine Form gibt. Diese Formgebung kann sich maßstäblich vergrößern und immer neue Formen integrieren, so dass es zu einer übergreifenden Gesamtheit von Interpretationen und damit zur Homogenisierung ursprünglich heterogener Kräfte kommt. (Das Diagramm z.B. einer Institution widmet sich primär solcher Integrationsarbeit.) Gleichzeitig, und das ist das Widersprüchliche am Diagramm, kann Aktualisierung nur vonstattengehen, wenn sie eine Differenzierung auslöst, wenn sie Differenzierungslinien eröffnet, anhand derer sich die Möglichkeiten ihre Bahn suchen. Würde dies nicht geschehen, würde nicht ein Anderes entstehen, würde der Prozess nicht in Gang kommen und in der Phase eines nicht realisierten Plans stecken bleiben. Die Frage, ob es die Regel ist, die dem Diagramm die Form gibt oder ob es das Diagramm ist, das die Regel erzeugt, ist in unserem Vorgehen nachrangig bzw. gar nicht operativ interessant. Denn das Diagramm entsteht nicht durch Reduktion auf Planung sondern durch Schwellenarbeit an einer Vielzahl von Plänen, es ist nicht lateral oder vertikal sondern transversal, seine Regeln sind auf der gleichen Ebene angesiedelt wie es selbst. Was also ein Diagramm formt, ist die Performativität seiner strategischen Eigenschaften, die auf derselben 62 | Deleuze. Foucault. S. 33. 63 | Ebd., S. 34. 64 | Ebd., S. 31.
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Ebene liegenden Verfahren des Übergangs und der Variation, die aus der Topologie der Punkte eine temporär ebenso funktionierende wie heterogene und mannigfaltige Nachbar-schaftsordnung herstellen. Mannigfaltig deshalb, weil das Diagramm kein System konstituiert, sondern strukturell offen einer »atonalen Logik«65 folgt. Wenn Deleuze sagt, das Diagramm sei eine Karte, meint er also eine besondere: Als »abstrakte Maschine«66 organisiert sie sich durch strukturorientierte »Funktionen und Materien«, die in ihrer Darstellung, in ihrer Kartographie das Verhältnis, die Differenz von Karte und Territorium einer Problematisierung zuführen. Gewöhnlich nimmt die Stadtforschung an, dass ihre Repräsentationen dazu gemacht sind, um ›Wahrheiten‹ der Stadt zu erkennen. Das ist insofern problematisch, als hier das Werden der Stadt ausgeklammert und stattdessen von festen Punkten und von festen Formen der Erkenntnis über die Stadt ausgegangen wird. Das Diagramm hingegen eröffnet, als intersoziale Form, die immer im Werden begriffen ist, die Option, die Stadt als offenen Prozess zu verfolgen. Am Diagramm, von dem Deleuze sagt, »dass es eine präexistierende Welt abbildet«67, gewinnt die Stadforschung eine Weise, eine Meta-Form als offenstrukturierte Rahmung in die Forschungsarbeit einzubringen, die unbestimmte Verläufe konstruktiv halten kann, ohne sie abschließen zu müssen. Nicht alle Diagramme sind also hier gemeint, sondern nur jenes gestalterische, welches »einen neuen Typus von Realität, ein neues Modell von Wahrheit [produziert]. Es macht die Geschichte, in dem es die vorherigen Realitäten und Bedeutungen auflöst und dabei ebensoviel Punkte der Emergenz oder der Kreativität der unerwarteten Verbindungen und der unwahrscheinlichen Übergänge bildet. Es fügt der Geschichte ein Werden zu.«68 Und gerade weil das gestalterische Diagramm nicht passiv abbildet, sondern produktiv ist, kommt mit ihm das Paradoxon des blinden Sehen-Machens zum Einsatz: Wie die abstrakte Maschine des Diagramms blind operiert, ist sie es, die zum Sehen oder Sprechen bringt.69
3.1.3 Nelson Goodman: E xemplifikation und Diagramm Während Deleuze Strukturen als kulturell eingebettet interpretiert, deutet Nelson Goodman Kultur selbst als Prozess der Welterzeugung. Als Nominalist 70 geht Goodman davon aus, dass wir immer Zeichen, Symbole, Wörter 65 | Ebd., S. 10. 66 | Ebd., S. 52. 67 | Ebd., S. 54. 68 | Ebd. 69 | Ebd. 70 | Der Nominalismus geht davon aus, dass Allgemeinbegriffe nicht auf eigenständig existierende Ideen, sondern auf durch Menschen getätigten Abstraktionsleistungen be-
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brauchen, um eine Welt zu ›haben‹ – Welt besteht aus Beschreibungsweisen, Schemata, Anschauungsformen. Sie stellen die Werkzeuge bereit, mit denen die aktuelle Welt als eine von vielen möglichen Formen dargestellt und erfahren werden kann. In diesem Zuge wandeln sich Bedeutungen zu Relationen zwischen Begriffen, Tatsachen zu Relationen zwischen Versionen. Den daraus vermeintlich resultierenden erkenntnistheoretischen Nachteil nimmt Goodman billigend in Kauf, da er darauf abhebt, dass Tatsachen »offensichtlich etwas Gemachtes« 71 darstellen. Erkenntnis zeigt sich abhängig von Operationen der Darstellung ebenso wie von deren spezifischer Medialität bzw. Materialität. Für die Stadtforschung bietet Goodmans Konzeption eine Ergänzung zu Deleuzes topologisch orientierter Untersuchung um eine typologische Variante. Dafür bringt Goodman den Begriff der Exemplifikation in Umlauf, den er im Bezugsrahmen einer auf künstlerischer Praxis gründenden Epistemologie bestimmt. Daran knüpft sich eine Aufwertung der Künste gegenüber den Wissenschaften an. Eine solche Form der Epistemologie versteht die Künste nicht mehr nur als Solitäre subjektiver l’art pour l’art, sondern erachtet sie, vor dem Hintergrund einer in sie integrierten und alles Wissen fundierenden »lernenden Erfahrung«, als erkenntnistheoretisch relevant. Goodman ergänzt die Argumentation folglich um die Forderung, dass »Künste als Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens […] ebenso ernst genommen werden müssen wie Wissenschaften.« 72 Goodman geht zunächst von der Grundprämisse einer Intentionalität zum Wissen aus: Es gehört zu den basalen Eigenschaften der Menschen, neugierig zu sein. Das übergeordnete Ziel sowohl sprachlicher als auch nichtsprachlicher Praktiken äußert sich im »Drang nach Wissen. Was uns Freude bereitet ist die Entdeckung« 73. Die Frage, was dieser Drang mit Erkenntnistheorie zu tun hat, berührt das Grundverständnis der Produktion von Wissen überhaupt.74 Dahinter steht wiederum die These, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht einfach gegeben ist, sondern aus einem Akt der Herstellung von Welt hervorgeht. Jede Wahrnehmung erweist sich gleichermaßen als Interpretation von spezifischen Erfahrungen wie durch subjektive Vektoren wie Neigungen und Interessen beeinflusst: »Rezeption und Interpretation lassen sich als Vorgänge nicht trennen; sie sind vollständig voneinander abhängig.« 75 Der Sachverhalt aber, dass Dinge auf viele unterschiedliche Weisen wahrgeruhen. Da nur Einzeldingen Realität zukommt, können Begriffe für Gegenstände nur als Namen für eine Gruppe von Gegenständen aufgefasst werden. 71 | Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M. 1984, S. 116. 72 | Ebd., S. 127. 73 | Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Frankfurt a.M. 1995 (1976), S. 237. 74 | Ebd., S. 19f. und S. 23f. 75 | Ebd., S. 20.
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nommen werden können, lenkt erst die Aufmerksamkeit auf die epistemische Produktivität der Kunst. Wie Kunst weder versucht, objektive Wahrnehmung hervorzurufen, noch unter allen vorstellbaren Interpretationen beliebig auszuwählen, so sticht jener ihr innewohnende Produktionsaspekt hervor, der schließlich alle erkenntnistheoretischen Vorgänge betrifft: »Wenn wir einen Gegenstand repräsentieren, dann kopieren wir nicht solch ein Konstrukt oder eine Interpretation – wir stellen sie her.« 76 Wissenschaftliche Berichte machen also dasselbe wie Kunstwerke: Sie stellen dar. Wissenschaftliche Berichte wie auch Kunstwerke sind ebenso real wie die Dinge, auf die sie Bezug nehmen, da das, was man allgemein als ›wirkliches Ding‹ bezeichnet, einem relationalen Wechselspiel von Wahrnehmung und Deutung unterliegt. An einer solchermaßen dargelegten Relationalität des Wissens vollzieht Goodman die Rekonturierung einer Philosophie der Künste – Kunst schärft sich als epistemologische Praxis und die Weisung zum Wissen spitzt sich zu. Als Scharnier zwischen den Gattungen Wissenschaft und Kunst begegnet einem bei Goodman der Begriff des Symbols. Zunächst lassen sich alle Formen der Kommunikation (Sprache, Kunst, Wissenschaft) als Symbolsysteme auffassen. Goodman fokussiert nun auf die Charakteristika des Symbolsystems Kunst, die schließlich als Brücke zwischen Kunst und Erkenntnistheorie fungieren sollen. Am Anfang steht dabei die Beschreibung der spezifischen symbolischen Eigenschaften der Kunst als »Symptome« des Ästhetischen: syntaktische Dichte, semantische Dichte, syntaktische Fülle und Exemplifikation.77 Zwar stellen Symptome weder notwendige noch hinreichende Bedingungen für ästhetische Erfahrung dar. Jedoch kommen sie in der Kunst verstärkt vor: »Wahrscheinlich sind die vier Symptome in ästhetischer Erfahrung eher zu finden, als dass sie fehlen, und normalerweise nehmen sie eine hervorragende Stellung ein; aber jedes von ihnen kann in der ästhetischen Erfahrung fehlen oder in der nichtästhetischen zu finden sein.« 78 An diesem Charakteristikum macht Goodman die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft fest: Auch in letzterer lassen sich häufig Symptome des Ästhetischen finden. Kunst und Wissenschaft ähneln sich nicht nur darin, dass sie mit Symbolen agieren, sondern auch darin, wie sie dies tun: Ästhetische Merkmale spielen »in den feinen qualitativen und quantitativen Unterscheidungen, die für den Test wissenschaftlicher Hypothesen erforderlich sind, eine herausragende Rolle […]. Kunst und Wissenschaft sind einander nicht völlig fremd.« 79 Sich gegen die kategorische Auffassung wendend, Emotionalität charakterisiere die Kunst und Rationalität oder Wahrheit die Wissenschaft, präsentiert Goodman 76 | Ebd. 77 | Ebd., S. 232-235. 78 | Ebd., S. 234. 79 | Ebd.
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eine Mengenlehre symbolischer Charakteristika beider: »Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ist nicht der zwischen Gefühl und Tatsache […], sondern eher ein Unterschied in der Dominanz bestimmter spezifischer Charakteristika von Symbolen.«80 Die Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft reduziert sich damit darauf, dass Wissenschaft zwar zum Teil die Kunst kennzeichnenden Symptome benutzt, aber auf einen stärkeren Anteil an wissenschaftstypischen Symbolisierungsweisen rekurriert. Sowohl künstlerische wie auch wissenschaftliche Ausdrucksweisen lassen sich als symbolische Äußerungen definieren. Was aber ist unter Symbolen genau zu verstehen? Symbole zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf etwas Bezug nehmen können. Der Akt der Symbolisierung versorgt die Kunst mit jenem Verfahren, das es Künstlern ermöglicht, einen Bezug zwischen dem Kunstwerk und dem, was es bedeutet, herzustellen. Dazu stehen nach Goodman zwei Hauptmodi der Bezugnahme zur Verfügung: Denotation und Exemplifikation. Bilder oder Sprache werden im Modus der Denotation interpretiert: Symbole treffen auf Gegenstände zu, die sie auszeichnen oder beschreiben, wobei für Goodman unter Gegenstände sowohl materielle Dinge wie auch Ereignisse fallen. Das soll die Repräsentation von der Mimesis befreien und ihr eine höhere Form der Abstraktion zubilligen. Zwar muss beispielsweise ein Bild ein Symbol für einen Gegenstand sein, um ihn repräsentieren zu können. Ähnlichkeit zum Gegenstand ist jedoch weder hinreichende noch notwendige Bedingung der Repräsentation: »Fast alles kann für fast alles andere stehen. Ein Bild, das einen Gegenstand repräsentiert – ebenso wie eine Passage, die ihn beschreibt – nimmt auf ihn Bezug und, genauer noch: denotiert ihn.«81 Zur Repräsentation – und das ist eine ungemein anregende Erweiterung des Umfangs dieses Begriffs – zählen nach Goodman daher nicht nur Abbildungen im engeren Sinne, sondern symbolische Beziehungen im Generellen, »die relativ und variabel« sind.82 Von Denotation grenzt sich Exemplifikation durch einen »Unterschied im Bezugnahmegebiet (domain)« 83 ab. Ihre Symbolfunktion operiert als »Besitz plus Bezugnahme«.Ein Symbol exemplifiziert eine Eigenschaft, wenn es diese sowohl besitzt als auch auf sie Bezug nimmt. »Repräsentation ist also eine Frage der Denotation, Ausdruck dagegen […] eine Frage des Besitzes.«84 Während im Modus der Denotation die Richtung der Bezugnahme vom Symbol (einem Bild oder einem Ausdruck) zum Gegenstand oder Referenten verläuft, wird das Symbol bei der Exemplifikation von einem Prädikat denotiert, das auf 80 | Ebd., 243. 81 | Ebd., S. 17. 82 | Ebd., S. 50. 83 | Ebd., S. 53 -57. 84 | Ebd., S. 58.
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dieses Symbol zutrifft; die Bezugnahme erfolgt in die umgekehrte Richtung. Wenn wir etwa sagen ›das Bild ist grau‹, dann funktioniert das Bild nicht selbst als Prädikat (wie es bei Denotation der Fall wäre). »Das Bild denotiert nicht die Farbe grau, sondern wird von dem Prädikat grau denotiert.« 85 Diejenige Kunstform, die vollständig im Modus der Exemplifikation funktioniert, ist die Musik. Anhand der Eigenschaften, die sie besitzen, verweisen musikalische Symbole auf andere Eigenschaften, demonstrieren sie, stellen sie aus. Ein musikalisches Werk kann also in Anbetracht seiner tertiären Hauptparameter seine »harmonischen, melodischen und rhythmischen Eigenschaften exemplifizieren« 86. Neben der Musik zieht Goodman das Beispiel der Textiltechnik heran. Einblick ins Konkrete der Exemplifikation soll dabei die Stoffprobe im Musterbuch eines Polsterers bringen. Die Funktion des Musters besteht darin, dass es als Symbol bestimmte Eigenschaften eines Stoffs exemplifiziert, aber nicht alle. Das Stoffmuster ist nur »eine Probe der Farbe, der Webart, der Textur und des Musters, aber nicht der Größe, der Form oder absoluten Gewichts oder des Wertes«87. Als Muster exemplifiziert die Stoffprobe daher nur diejenigen Eigenschaften, die sie einerseits besitzt und auf die sie andererseits Bezug nimmt: »Exemplifikation ist Besitz und Bezugnahme.« 88 Dabei hebt Goodman heraus, dass nicht jedes Material als Probe dient. Bezogen auf die Diagrammatik der Stadtforschung heißt das: Nicht jede Stelle des Diagramms kann als Muster für den Organisationsverlauf fungieren. Daraus leitet sich ein Kernelement ermöglichender Wissensformen ab: die Befähigung, Verfahren des Interpretierens und Anordnens eines Diagramms zu entwickeln, die es erlauben, am Diagramm »exemplifizierende« Stellen und Muster herauszuarbeiten. Das stellt die Stadtforschung vor die bildungstheoretische Herausforderung, solche Befähigungen einzuüben. Eine Praxis der Exemplifikation bleibt nicht bei der buchstäblichen Bezugnahme stehen, sondern schließt durchaus auch metaphorische Formen mit ein. Dementsprechend besitzt ein Bild, das Trauer zum Ausdruck bringt, diese Trauer nicht buchstäblich, sondern metaphorisch. Dabei können Ausdruck und Exemplifikation als jene Symbolfunktionen gelten, die besonders in den Künsten eine Rolle spielen. Die metaphorische Exemplifikation erlaubt es, auch solchen Kunstwerken, die in traditioneller Redeweise gar keine Symbolfunktion mehr aufweisen – wie etwa abstrakte Gemälde – eine symbolisierende und damit erkenntnisproduzierende Wirkung zuzuschreiben. Wollen wir vor dem metaphorischen Hintergrund ein Werk verstehen, so »müssen 85 | Ebd.. 86 | Goodman/Elgin: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften. Frankfurt a.M. 1988, S. 36. 87 | Goodman: Sprachen der Kunst. S. 59. 88 | Ebd., S. 60.
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wir nicht wissen, welche Eigenschaften es gerade besitzt, sondern welche von ihnen es exemplifiziert« 89. Vor dem Hintergrund erweisen sich jene Diagramme der Stadtforschung, die Abbildstrategien vorsätzlich erweitern, unterlaufen und verzerren als Inskriptionen, Schriften dessen, was wir beim »antizipatorischen« Wahrnehmen von Situationen als epististemischen Handlungszusammenhang analysieren, organisieren und registrieren. Die Grundlage dessen ist jedoch die Bedingung, dass die Darstellungen keine besonderen Eigenschaften mit einer sichtbar zu machenden Situation gemeinsam haben müssen.90 Folgen wir Goodmans Argumentation, bleibt freilich eine Leerstelle bestehen. Mit Matthias Vogel wäre zu fragen: Welche belastbare Relation lässt sich zwischen Exemplifikation und Erkenntnis herstellen?91 Dazu ist zunächst mit der Problemstellung der Denotation zu beginnen: Denotative Beziehungen sind für Fehldeutungen anfällig, weil die Relation zwischen einem Symbol und einem Gegenstand scheitern, nicht brauchbar (valabel) sein kann. Eine Grenze in einem Territorium kann etwa in Wirklichkeit anders verlaufen als sie in einer es darstellenden Karte eingezeichnet ist. Dass eine Karte als Symbol einen Sachverhalt »richtig« darstellt, gehört aber zur grundlegenden Bedingung dafür, ihr den Status von Erkenntnis zuschreiben und zwischen wahr und unwahr unterscheiden zu können. Während sich dieser Status im Bereich der Denotation somit an die Frage der Erfüllung oder Enttäuschung bindet, ist er im Bereich der Exemplifikation ausgeschlossen, ja gar nicht angestrebt. Es liegt bereits in der metaphorischen Eigenschaft des Musters, der Probe, begründet, dass es eben keine eindeutige Zuordnung gibt. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil sich die Exemplifikation auf Prädikate bezieht: »Das Bild denotiert nicht die Farbe grau, sondern wird von dem Prädikat grau denotiert.«92 Falschheit eines Musters wäre also, wie Vogel konstatiert, »systematisch von der Falschheit denotativer Sätze, wie ›dein Teppich hat dieselbe Farbe wie diese Probe‹ abhängig«93. Mit anderen Worten: Die Probe selbst entbehrt des Potentials, richtig oder falsch zu sein, sie ist immer von dem Relationsgeflecht von geltenden Sätzen abhängig. Ein Muster kann nicht auf die Differenz 89 | Goodman/Elgin: Revisionen. S. 36. 90 | Goodman sagt hierzu: »Psychologen und Linguisten haben die allgegenwärtige Beteiligung von Handlung and der Wahrnehmung im allgemeinen, den frühen und extensiven Gebrauch gestischer, sensomotorischer oder enaktiver Symbole und der Rolle solcher Symbole in der kognitiven Entwicklung herausgehoben. Für Jaques-Dalcroze ist der Gebrauch dieser Aktivitäten für das Erfassen von Musik ein fundamentaler Faktor in der musikalischen Erziehung.« Goodman: Sprachen der Kunst. S. 68. 91 | Vogel, Matthias: »Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns«. In: Becker/ Vogel (Hg.): Musikalischer Sinn. 2007, S. 350. 92 | Ebd., S. 58. 93 | Ebd., S. 350.
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von Wahrheit und Falschheit auf bauen, eine Differenz, die für Erkenntnis von Gegenständen jedoch grundlegend ist. Ein Ausdruck kann zwar funktionieren, wo er in der Lage ist, einen Sachverhalt auszudrücken, er kann aber trotzdem unwahr sein. Endlich kann ein Muster nicht daran scheitern, eine seiner Eigenschaften zu exemplifizieren, aber es kann daran scheitern, zugleich ein Muster für eine Eigenschaft zu sein, die etwas anderem zukommt. Herkömmlich bedeutet Erkenntnis, etwas »aus sich« verstehen können. Die Exemplifikation eines Musters ist jedoch immer an relationales Denken gekoppelt. Das ruft erneut die wissenstheoretische Fragestellung auf: Um eine Exemplifikation nutzen zu können, muss die Stadtforschung diese in den Zusammenhang einer Aufgabenstellung überführen, der ergänzend zu beschreiben ist. Darstellungen der Stadtforschung entfalten, insofern sie mit Musterfunktion operieren, ihr erkenntnistheoretisches Potential nur dann, wenn vorab bestimmt wird, welches seiner Eigenschaften es exemplifizieren soll. Wir schlagen deshalb vor, die Argumentation zu drehen: Die Stadtforschung kann Muster, Notationen dazu verwenden, Eigenschaften epistemischer Handlungszusammenhänge der Stadt zu vergegenwärtigen, auf die wir uns auch unabhängig von diesen Darstellungsmöglichkeiten beziehen können.
3.2 M e taschaltung /R emix Mit obigen Erörterungen seien einige zentrale Punkte diagrammatischer Wissens- bzw. Erkenntnisform beschrieben. Was sich im gestalterischen Diagramm zeigt, sind die Darstellungs-, Notations-, und Handlungsinstrumente, mit denen Stadtforschung relational, exemplifizierend und rekonfigurierend an der Sichtbarmachung von Sachverhalten, Situationen, Assemblages und deren Strukturen arbeitet. Mittels solcher Diagramme lassen sich verschiedene Konfigurationen eines epistemischen Handlungszusammenhangs der Stadt durchgespielen und miteinander vergleichen, um zu praktischen oder theoretischen Fragestellungen zu gelangen. Mit Grammatik ist hier sowohl das Regelwerk benannt, die Logik, die hinter der rekonfigurativen Verschaltung topologisch angeordneter Elemente, Beispiele, Fälle usw. steht, als auch die performativ-materiale Zeichenhaftigkeit des gramma (s. Kapitel Derrida). Diagrammatische Anordnungen kaprizieren sich als provisorische Zeichen-, Schrift- oder Bildkompositionen, die erst aus der strukturellen Durchsicht und ihrer improvisationalen Anwendung (i.e. das Durchspielen von Fällen) zu verstehen sind. Ohne das Hinausgehen der Darstellung über das Nicht-Provisorische oder das Repräsentationale können gestalterische Diagramme nicht ins Funktionieren kommen. Der konstruktive Umgang mit dem Provisorischen, Unbestimmten, Unordentlichen steigt hier zur Bedingung der Ermöglichung von Wissen auf. Seine erkenntnistheoretische Gründung erhält das Wissen
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gestalterischer Diagramme in dem, was etwa Bruno Latour »experimentelle Metaphysik« genannt hat, eine Metaphysik, die auf als undiskutierbar hingestellte Tatsachen – als deskriptive Selbstgegebenheiten fortschreitender Analyse – nicht bauen mag. Indes: Je weniger undiskutierbare Tatsachen bestehen, umso weniger haben Wissensformen die Freiheit, klassifizierend über sie je nach Bedarf zu verfügen. Unter gestalterischer Diagrammatik können wir also zunächst »das Regelwerk der Schaubilder« verstehen, und, »davon abgeleitet, die Fähigkeit zum anschaulichen Denken […], die gewisse Entwurfs-handlungen einschließt«94 . Weil Diagramme auf Diagrammatik angewiesen sind, lassen sie sich nicht auf ihre explikative Funktion reduzieren. Geschähe dies, würden sich Diagramme als geschlossene Einheiten artikulieren und damit ihr gestalterisches Moment verlieren, also dasjenige Moment, das ihre eigentliche Wirkkraft auszeichnet: Prozesse gleichzeitig offen und konstruktiv zu halten. Diagramme sind demnach nie ›wörtlich‹ zu nehmen, sondern allein als relationale und neu zu verschaltende Anordnung. Weder nichts noch ein Genaues zeigend, operieren Diagramme im Spannungsfeld zwischen intelligibler und sensibler Welt, »zwischen Wahrnehmung und Einbildungskraft, von Sinnlichkeit und Verstand«95. An anderer Stelle bezeichne Diagramme daher auch als »performative Notationen«96, weil sie Erkenntnis nur auf der Grundlage des aktiven Beobachtens und Durchspielens von Relationen bilden. Bauer und Ernst führen in diesem Sinne aus: »Insofern die Konfiguration ein layout von Beziehungen darstellt, ist sie nicht nur im rein technischen Sinne ein display, sondern auch im performativen Sinne: ein dis-play, ein Angebot zur spielerischen Rekonfiguration der Verhältnisse.«97 Das Diagramm ist nach Deleuze eine abstrakte und zugleich blinde Maschine: Indem sich diese Maschine »durch informelle Funktionen und Materien definiert, ignoriert sie jede Formunterscheidung zwischen einem Inhalt und einem Ausdruck, zwischen einer diskursiven Formation und einer nicht-diskursiven Formation«98. In seiner Blindheit wirkt das Diagramm jedoch keinweswegs anti-aufklärerisch, sondern entpuppt sich als eine Art Aufklärung zweiter Ordnung – eine Form der Explikation, die nicht in die Tiefe von Objekten, sondern von Prozessen geht und Oberflächen erzeugt, die das Verfahren des Prozesses offenzulegen suchen. Dies geschieht in performativer Hinsicht, hingehend auf das, was man damit machen kann, und in funktiona94 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 9. 95 | Ebd. 96 | Dell: Replaycity. 97 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 14. 98 | Ebd.
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ler Hinsicht: Welche Funktionen üben Strukturen im diagrammatischen Feld aus? Wie gezeigt versieht Deleuze das Diagramm daher mit Attributen wie ›generativ‹, ›performativ‹ oder auch ›nicht-repräsentativ‹. Dass er hier auch die Bezeichung informell einbringt, leitet indes fehl. Obige Erörterungen belegen aufs Eindrücklichste, dass es Stadtforschung beim Diagramm sehr wohl mit einer Form zu tun hat, die gleichwohl spezifischer Einordnung bedarf. Diese ist nicht ohne eine Rekonturierung des Improvisationsbegriffs zu haben. Erst mit ihm kann das Diagramm als Werkzeug verstanden werden, das, in der relationalen Verschaltung von Programm, Struktur und Kontext, Wissensformen der Ermöglichung generiert. Dennoch bleibt die Frage bestehen: Ignoriert das Diagramm den Unterschied? Oder macht es einen Unterschied im Unterschied, macht es also Unterschiede beweglich? Der Begriff der Maschine ist bei Deleuze komplex gefasst und bezieht sich nicht allein auf technische Materialität, sondern auf ein Denken in Matrizes, Virtualitäten. Eine Maschine lässt sich, so Henning Schmidgen, hier verstehen als eine »funktionierende Anordnung von heterogenen Teilen, als laufendes Arrangement, das auch technische Objekte umfassen kann«99. Maschine wird als ein System von Strom-Einschnitten und Strömen gefasst, die im Prinzip als unendlich anzusehen sind. Außer Stromverzweigungen in alle Richtungen gibt es noch ein Merkmal der Maschine: die Kontinuität der Ströme, das Strömen selbst.100 Das Symptom des Strömens zeigt sich schon darin, dass wir im Alltag des Urbanen von dessen multipler Realitätsdimension überfordert sind. Ströme sind immer unterwegs. Das Improvisationale am Diagramm wäre dann unsere techne, Ströme in der abstrakten Maschine zu dosieren, zu kanalisieren und zu nutzen. Die Theorie der abstrakten Maschinen, der Diagramme, hilft, Partialobjekte wirklich als Strukturen anzuerkennen, nicht unabhängig von der Totalität, sondern unabhängig von der Teleologie. Diesseits jeglicher hierarchisch geordneter Totalisierung eröffnet sich Struktur als differentielle Mannigfaltigkeit und weist auf ein Realitätsfeld hin, das wir als relationalen Raum beschreiben können. Abstrakte, blinde Maschinen sind Positionen des Unbewussten (das ist die gute Nachricht: Das Unbewusste hat Positionen), die jedoch nicht stabil in festen Verschaltungen fixiert sind, sondern in Etappen durchlaufen werden. Das Durchlaufen geschieht in Form von Dauern, pulsierenden Rhythmen ohne Metrum. So kann das Diagramm nicht nur seine Latenz erhalten, sondern auch steigern. Es ist also eine Kernfrage, wie wir mit dem Diagramm umgehen. Die Tiefe der Maschine sieht erst einmal organlos, ordnungslos, formlos und unorganisiert aus. Jedoch tritt diese Tiefe im Verlauf der gelebten Zeit in eine Relationalität und spezifische Verhältnisse ein, die neue Ordnungen oder neue Maschinen neuer Ordnungen 99 | Schmidgen, Henning: Das Unbewusste der Maschinen. München 1997, S. 16. 100 | Ebd., S. 43.
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entstehen lassen. Deleuze bezeichnet abstrakte Maschinen von daher auch als unbewusste Formationen, in denen sich die Synthese im Unbewussten vollzieht. Produktionen, Entnahmen, Ströme und Einschnitte, Quellen werden in den ihnen jeweils spezifischen Weisen synthetisiert und prozessiert. Sie sind fast unendlich variabel verschaltbar und reduzieren ihre Alternativen in Bezug auf ein übergeordnetes Drittes. Die Maschinen als Diagramme nehmen die Resonanz der Strukturen auf und funktionieren sowohl als Katalysatoren und Resonanzfilter oder Verstärker, die aus ihrer Varianz und Wiederholung Differenz hervorbringen. Die abstrakte Maschine ist somit zweierlei: zum einen Relais, in dem Erlebnisse, Ereignisse als Fragmente hervorgebracht werden. Diese Fragmente lassen sich nicht totalisieren. Und zum anderen Resonanzraum für die Ereignisse selbst. Goodman hingegen spricht im Konnex der Diagrammatik von »Ways of Worldmaking«. Die Grundweisen eines solchen Welterzeugens teilt Goodman in zwei Hauptstränge auf: der Komposition (= Zusammenfügung) auf der einen und der Dekomposition (= Zerlegung) auf der anderen Seite: »Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen.«101 D.h., die Stadtforschung rekonfiguriert, redesigned beständig Versionen der Stadt. Der Begriff der gestalterischen Diagrammatik profitiert dort, wo der Umschlag von Komponieren zum Dekomponieren schwer zu definieren ist und beides ineinander übergeht. Während dekomponierende Zerlegung analytisch bzw. ordnend auf die Komposition wirkt, stellt das Zusammenfügen wieder neue Anschlussstellen für das Dekomponieren bereit. Auch darin zeigt sich der epistemologische Wert der diagrammatischen Praxis, relationale Anordnungen sowohl in ihren strukturellen (Dekomposition) wie auch formalen (Komposition) Aspekten zu erkennen. Die Stadtforschung hat es heute mit Stadt-Welten aus schwer differenzierbaren Entitäten oder Betonungen zu tun. Deren Qualitäten lassen sich erschließen, wenn sie diagrammatisch als relationale Anordnung erhellt werden. Denn Welten, die sich hinsichtlich ihrer Elemente nicht unterscheiden, »können doch verschieden geordnet sein«102 . Man kann somit sagen, dass in diagrammatischen Arbeiten ein Redesign angelegt ist, ein Agieren mit der performativen Differenz im Um- und An-Ordnen. Peirce bringt den Aspekt der Relationalität, der Operativität, des Schemas und der Urteilskraft in den Diagrammbegriff ein. Mit Goodmans Perspektive auf Diagrammatik rückt der Begriff der Gestaltung verstärkt in den Blick, bei Deleuzes Sicht das Gesellschaftliche. Insgesamt schieben sich an der mit der Diagrammatik entfalteten Stoßrichtung sowohl kompositionale als auch politische Fragestellungen in den Fokus. 101 | Goodman: Weisen der Welterzeugung. S. 19. 102 | Ebd., S. 25.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
Im Sinne der ermöglichenden Wissensformen kamen mit diesem Kapitel affirmativ-kritische Varianten der Diagrammatik in den Blick. Derridas Metaphysikkritik hatte indes angedeutet, wie die Stadtforschung ihre eigene Diskontinuität gleichsam als inhärente différance mitdenken und mitlaufen lassen muss, um Diagrammatik als eine Variante des Aushaltens von Wirklichkeit zu konzipieren. Derridas aporetisches Denken führt die Stadtforschung zu einer Gleichzeitigkeit unaufhebbarer, gegensätzlicher Positionen. In politischer Hinsicht geht es dann nicht mehr darum, ein System zu bekämpfen oder Widerstand zu leisten. Denn wer Teleologie vermeiden will, und darauf kommt es Derrida an, hat das Unlösbare auszuhalten. Wie aber verhält es sich hier zu alternativen Varianten? Ließe sich eine politische Konstitution des Wirklichen denken, die die Verhandlung über eine gemeinsame Gestaltung von Welt als Wissensform ermöglicht? Schließlich handelt es sich bei der gestalterischen Diagrammatik sehr wohl um eine strategische Unternehmung, jedoch eine, die keinen originären, fixierten Plan vorschiebt. Aber stößt nicht, wer Strategie ohne Finalität, ohne Telos interpretiert, auf eine contradictio in adiecto?
3.3 P erformative S tr ategie Stra|te|gie, die [frz. stratégie < griech. strategia]: genauer Plan des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein militärisches, politisches, psychologisches o. ä. Ziel zu erreichen, u. in dem man diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, von vornherein einzukalkulieren versucht: die richtige, falsche S. anwenden; eine S. des Überlebens ausarbeiten. Stra|tum das; 1. (Sprachw.) Strukturebene in der Stratifikationsgrammatik, Teilsystem der Sprache (z.B. Phonologie, Syntax). 2. (Med.) flache, ausgebreitete Schicht von Zellen. 3. (Biol.) Lebensraumschicht eines Biotops. 4. (Soziol.) soziale Schicht.103
»Jedem atmosphärischen Zustand […] entspricht ein Kräftediagramm oder ein Diagramm der in die Kräfteverhältnisse eingegangenen Singularitäten: eine Strategie. Aber es gehört zur Strategie, sich in der Schicht zu aktualisieren, zum Diagramm, sich im Archiv zu aktualisieren, und zur nicht-geschichteten Substanz, sich zu schichten. Aktualisieren heißt sich integrieren und zugleich sich differenzieren. Es gibt jedoch nicht nur Singularitäten, die von den Kräfteverhältnissen erfasst sind, sondern Singularitäten des Widerstands, die fähig sind, diese Beziehungen zu modifizieren, das instabile Diagramm zu ändern.«104
103 | Duden – Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. Mannheim 2006. 104 | Deleuze: Foucault. S. 171.
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Rekapitulieren wir erneut die bis hierhin gezogenen Grundlinien unserer Untersuchung: Wissensformen der Ermöglichung heben zum einen darauf ab, Gestaltungsprozesse um eine performative Perspektive zu erweitern, zum anderen, Wissen als – im Modus der Diagrammatik – gestaltet zu interpretieren. Woher motivierte sich unser Vorgehen? In der Einführung konnten wir mit Löw, Lefebvre und de Certeau nachzeichnen, dass Raum und dessen Produktion – als das gegenwärtig Urbane – von vielschichtigen, relationalen und dynamischen Bewegungen herrührt. Raum ist Ort globaler Transformationsprozesse ebenso auch lokaler Lebenswelten und kultureller Praktiken. Raum ist Ort der Verhandlung unterschiedlicher Interessen, mentales Konstrukt ebenso wie Gegenstand vielfältiger Projektionen und konkreter Wahrnehmung. Mit der Deutung des Urbanen als in klein- und großmaßstäblichen Polarisierungsprozessen Produziertes werden nicht nur vorherrschende Denkmodelle des Gestaltens bzw. Planens und deren Planungsinstrumente zunehmend in Frage gestellt, sondern auch die Form des in ihnen eingelagerten und aus ihnen hervorgehenden Wissens. Daraus resultiert eine Krise der (teleologisch oder finalistisch orientierten) Repräsentation, wie sie traditionell für das Wissen ebenso wie für die Planung galt. Diese Krise ist nicht nur eine ästhetische, sondern auch und zuvorderst eine politische: »In der Krise befindet sich nicht nur die Repräsentation als Instrument«, konstatiert Antonio Negri, um hinzuzufügen: »Die Krise der Repräsentation ist ontologisch, da sie die Realität der sozialen Subjekte berührt, das Leben, die Gefühle und die Leidenschaft der demokratischen Partizipation.«105 Im Fall der Planung verweist das alte metaphysische Repräsentationsmodell auf die konzeptionelle Durchdringung einer räumlichen Problemstellung, ihrer Lösung und Umsetzung (s. Kapitel Einführung). Das Paradox dessen ist, dass im Verfertigen der Repräsentation der Planung das Nicht-Darstellbare alltäglicher Praxis aus dem Blick gerät. Verdeckt werden die Möglichkeiten und Potentiale dessen, was de Certeau die Operativität und Virtuosität der gewöhnliche Praktiken, die unnennbare Dynamik des Alltäglichen genannt hat und wir nun Ermöglichung nennen. Nun gibt es bereits verschiedenste Versuche einer ›partizipativen Planung‹, dieser Krise der Repräsentation Rechnung zu tragen. Man könnte es als eine Bewegung von der singulären Perspektive, die aus einem Zentrum heraus agiert, hin zu einer pluralistischen Perspektive, die sich der Auseinandersetzung stellt, beschreiben. Es scheint jedoch, dass die darin enthaltenen Planungsstrategien (Planung zu einem Zeitpunkt x und Realisierung zum Zeitpunkt y) dieselben geblieben sind. Was tun?
105 | Negri, Antonio: »Die Krise der Machtübertragung«. Mitschrift eines Vortrags auf dem Sherwood Festival am 05.07.2005, sul serio #11 2006.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
Mit Derrida wurde auf die Geschlossenheit (cloture) respräsentationalen Denkens hingewiesen. Dessen Möglichkeitsbedingungen will Derrida gerade durch die Hinwendung zur Bewegung der Differenz auf neue Weise erschließen, gewissermaßen einer neuen »Ermöglichung« zuführen. Intention ist nicht, die Verhältnisse umzukehren, sondern eine differenzierte und differenzierende Strategie als Begriffsverschiebung von Innen einzuführen. Das befeuert erstens die Annahme, Gestalten ebenso wie Wissen als performativ hervorgebracht und als experimentell-empirisches Geschehen zu fassen, deren wesentliche Momente in der Rekursion und der Iteration bestehen. Zweitens ist damit formal ein seriell-topologisch, also kataloghaft organisiertes Verfahren annociert, das relational-strukturell möglichst viele Varianten methodisch produzieren kann. Als dritter Aspekt tritt die Rückbindung des Verfahrens an materiale Konditionen ebenso wie an Affizierungen hervor. Aus dieser Trias resultiert eine Verschiebung im Begriff der Strategie selbst. Strategie agiert nicht mehr teleologisch, sondern im Hinblick auf die Ökonomie eines Prozesses und die Bedingungen der Möglichkeit von Ermöglichung, welche Gestalten als prozessual-epistemische Praxis begünstigen bzw. hervorbringen. Wir sahen, dass Rheinberger – auf Derrida rekurrierend – von einer Strategie »ohne Finalität« und »blinder Taktik«106 spricht. Wie aber ist diese Strategie der »blinden Taktik« näher zu beschreiben? Es ist offenbar, dass sich Rheinberger schwer tut, die Praxis einer solchen Strategie auszuführen. Wo er von einem ›Tasten, Tappen‹ spricht, reicht das nicht hin. Wissenstheoretisch valabel kann unserer Untersuchung nach weder ein Gebilde heißen, das die Strategie allein aufs Niveau blinder Taktik herunterskaliert, noch jene Denkfigur, welche die Idee von Strategie negativ ausdrückt, indem sie die Widersprüche des Suchens unnachgiebig in dessen innerster Struktur findet. Von daher erhält das Verdikt »gestalterische Diagrammatik« seinen Sinn. Denn aus der differanten Suchbewegung selbst erschließt sich der ihr wesentliche Gesichtspunkt: »Er besagt, dass das System ein Spiel von Differenzen und Oppositionen realisiert, die seiner eigenen Operator-Zeit gehorchen und dass es gleichzeitig verschiebt oder verlagert, was zu einem gegebenen Moment seine Grenzen zu sein scheinen.«107 Solches Verschieben impliziert zweierlei: Erstens, dass die Strategie immanent diagrammatisch strukturiert sein muss (das ermöglicht gewissermaßen die Verschiebung), und zweitens, dass es materiale Strukturzusammenhänge gibt, die »stattfinden können«108. Hierin besteht die Bedingung der Möglichkeit eines Überschusses, welcher die Spuren des Prozesses (als graphemische, materiale Entitäten) enthält. Daraus gehen jene Aktions- und Anschlussoptionen hervor, die dem Prozess nicht vorgängig als 106 | Derrida: Grammatologie. S. 32. 107 | Rheinberger: Experiment – Schrift- Differenz. S. 56. 108 | Ebd.
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Plan vorangestellt, aber durch die diagrammatische Konstitution der Metaform ermöglicht werden können. Kehren wir an dieser Stelle zu Fragen der Stadtplanung und der bereits in der Einführung herangezogenen Archplus 183 zurück. Dort spricht Anh Linh Ngo von einer aktuell zu konstatierenden Wende zum »situativen Urbanismus« in der Planungspraxis: »diese Wende ließe sich kurz als eine Bewegung weg von statischen Planungs- und Arbeitsweisen hin zu kleinteilig individuellen und offenen performativen Strategien umreißen.«109 Ngo beobachtet eine Machtverschiebung im Gefüge der an der Raumproduktion Beteiligten, die sich darin äußert, dass »gegenwärtig der einzelne Akteur und sein Umgang mit dem Vorgefundenen eine neue Wertschätzung erfährt«110. Auch Fezer und Heyden konstatieren im selben Heft, dass sich Stadtentwicklungsprozesse kaum mehr auf ihre planbare Dimension reduzieren ließen und so allgemeinverbindliche normative und hierarchische Planungsweisen durch nichtdirigistische Formen der Partizipation ihre Erweiterung fänden. Und Kyong Park ergänzt zur pluralen Auffächerung und Ausdifferenzierung gegenwärtiger Raumproduktion Folgendes: »The territories of space and knowlegde are increasingly overlapping and multiplying, generating new patterns of social geography that may be no longer comprehensible in the Western tradition of dialectical conception of the world. The authority of Modernity as the dominant determinant of society has fragmented […] as spaces are becoming less distinctive and knowledge more hybrid.«111 Von der Rede vom situativen Urbanismus her rührt somit die Forderung nach Gestaltungsweisen und Wissensformen, welche es den Gestaltenden ermöglicht, sich »mit der Gänze der dynamischen gesellschaftlichen Wirklichkeit und den daraus resultierenden pluralistischen Entscheidungsfindungen«112 auseinanderzusetzen. Das verlangt, die von Ngo angeführte ›performative Strategie‹ näher zu beleuchten. Es ist nicht nur in Erfahrung zu bringen, welche für Wissensformen der Ermöglichung nutzbaren Verfahren eine solche Strategie birgt, sondern auch, welche politischen, mithin machttheoretischen Implikationen mit ihr annonciert sind. Wir haben gesagt: Das Dispositiv der Performanz äußert sich in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Formen der Objektivierung des Subjekts. Umgekehrt: Immer neue Strategien der Subjektivierung der Arbeit, indirekter Steuerung und anderer Kontrolltechniken stellen das Individuum 109 | Ngo, Anh Linh: »Vom unitären zum situativen Urbanismus«. In: archplus 183, Mai 2007, S. 20. 110 | Ebd. 111 | Park, Kyong: »The urban ecology of globalization and balkanization«. In Potrc, Marjeta: Fragment Worlds. 112 | Fezer/Heyden: »Versprechen des Situativen« In: archplus 183, Mai 2007, S. 9295, S. 93.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
vor neue Herausforderungen, sich selbst zu definieren, zu finden und (performativ) herzustellen. Durch diese Konflikte wird jenes Vektorfeld bestimmt und beeinflusst, das in neuen Subjektivierungsformen auch direkte Auswirkungen darauf hat, wie wir Raum deuten, organisieren und produzieren. In gewissem Sinne könnte man davon sprechen, dass man am Vektorfeld die Matrix erkennen kann, in der neue Formen der Steuerung und Organisationstechniken wirksam werden. Das wirft für das Gestalten ebenso für das wie Wissen die Frage auf, wie diese Bereiche sich den neuen Bedingungen stellen, welche Strategien sie in diesem gesellschaftlichen Feld entwickeln.
Performanz als Verfahren In Kapitel 2.1 hatten wir dargelegt, wie sich vor dem gesellschaftlichen Dispositiv der Performanz eine gestalterische Strategie entfaltet, die sich der Performativität als Wissens- und Kulturfeld bedient. Um diese These im Konnex einer performativen Strategie zu begründen, möchten wir Deleuzes Beschreibung der Foucault’schen Machtanalysen wieder aufgreifen. Deleuze zeigt, wie Foucault am Parameter von Macht die Eigenschaften diagrammatischen Vorgehens als Performanz analysiert. Zentrales Ausgangspostulat von Foucault ist, dass Macht (ebenso wie Raum) nicht an sich existiert, sondern produziert wird. Foucault geht es nicht um ein Was (eine Ontologie der Macht), sondern um das Wie, also darum, wie sich komplexe Beziehungsgeflechte als Macht performativ äußern. Die Frage für ihn lautet nicht, »wie Macht sich manifestiert, sondern wie sie ausgeübt wird«113. Anders formuliert: Macht ist für Foucault als Performatives interessant, also dasjenige, was geschieht, wenn wir sagen, dass jemand Macht ausübt. Macht gilt »als Ensemble wechselseitig induzierter und aufeinander reagierender Handlungen«114. Ohne Handlung gibt es keine Macht. Was umgekehrt bedeutet, dass Macht nicht unbedingt über Zeichen, Sprache kommuniziert werden muss. Macht ist nicht Form, sondern operatives Kräfteverhältnis. Sie ist sozusagen meta-performativ: »als Handlung, die auf andere Handlungen, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen einwirkt.«115 Macht geschieht immer in Beziehungen, in einem organisationalen Rahmen, dort wo Beziehungen zwischen Individuen oder Gruppen ins Spiel kommen. Und umgekehrt: Jede Beziehung ist, so Foucault, mit Machtmechanismen behaftet, entsteht aus ihnen. Wenn das Vektorfeld der Machtbeziehungen nur als Handlung existiert, so bezieht es sich doch auf bestehende Strukturen. Es ist also immer auf einen Raum bezogen, der sich sowohl performativ 113 | Deleuze: Foucault. S. 92. 114 | Ebd., S. 93. 115 | Ebd., S. 99.
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herstellt als auch mit bereits Existierendem verknüpft ist. Wir können sagen: Macht ist ein Raumphänomen, schon allein deshalb, weil sie nicht auf Personen einwirkt, sondern auf deren Handeln. Das situative Vektorfeld konstituiert ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten. Operativ wird es geleitet von den Handlungsoptionen raumproduzierender Subjekte. Ein solches Vektorfeld ist eine Art Metahandeln, dass Handlungen und damit sozialen Raum organisiert. Handlungen werden provoziert, geblockt, belohnt, bewertet usw. Dabei kommen feinste Steuerungsmechanismen zum Einsatz, die wiederum von den kulturellen Rahmungen des sozialen Raumes beeinflusst werden oder ihre Wirkung erhalten. Steuerung bedeutet, den sozialen Raum zu gestalten und zu regulieren, mögliche Handlungsfelder einer Organisation zu strukturieren. Das setzt voraus, dass eine solche Organisation über Möglichkeiten verfügt – Handlungsfelder können nicht ermöglichungsstrukturell funktionieren, wenn sie als geordnete, statische Räume definiert werden. Wir können sagen, Machtbeziehungen sind raumkonstitutiv, d.h. sowohl im sozialen Raum selbst integriert als auch als sozialer Raum wirksam. Sie sind als Ensemble zu lesen und nicht zusätzliche Struktur, die außerhalb von Gesellschaft als zu Beseitigendes gelesen werden könnte. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Gesellschaft in den indirekten Steuerungsmechanismen, also der Verlagerung der Kontrolle in das Subjekt, zu sich selbst findet. Aber in einer Gesellschaft, in der nicht nur das Einwirken auf das Handeln anderer, sondern auch das eigene Handeln jederzeit abgefragt wird, sind neue Lebensformen, neue Techniken der Steuerung erforderlich. Das impliziert für die Wissensorganisation und ihre gestalterischen Strategien, in Rechnung zu stellen, dass in der Folge der Komplexität und Heterogenität urbaner Lebenswelten Vektorfelder und unterschiedliche Organisations- und Lebensformen, die den gesellschaftlichen sozialen Raum prägen, immer differenzierter werden, sich mannigfaltig überlagern, sich in Situationen gegenseitig aufheben, verstärken oder begrenzen. Man kann von WissensFeldern sprechen, die sich in Form einer offenen Liste von Variablen vorstellen lassen, die ein Wissensdiagramm ausdrücken. Ein Wissensdiagramm ist ein performatives Vektorfeld, das sowohl auf Handlungen einwirkt als auch Handlungen darstellt. Damit rückt Performanz in ein neues erkenntnistheoretisches Register ein – jegliche Fundierung der Strategie im performativen Umgang mit Wissen fordert einen Wandel im erkenntnistheoretischen Vorgehen selbst. Die performative Strategie hat daher vor allem Verfahrensweisen, Produktionsweisen und das in ihnen sich entfaltende Wissen als Konzepte offenzulegen oder in die (nicht abgeschlossene) Form des Konzepts (als diagrammatischer Begriffsraum) zu überführen. In diesem Verfahren zeigt sich die doppelte Bewegung der Performanz: Zum einen steht die Unmittelbarkeit des Ereignens, der Erfahrung als direkter
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Form der Handlung im Vordergrund. Um jedoch in der allgemein anschlussfähigen Beschreibung dieser Handlungen nicht in ein repräsentatives Schema der Bild-Realität-Objekt-Form zurückzufallen und damit Handlungen und Ermöglichung auszuschließen, gilt es, die Konzeption der jeweiligen Fälle als Abstrakta zu behandeln: So stellt die Fähigkeit, Performanz hervorzurufen, die Fähigkeit zu affizieren116 eine Funktion des Kräftevektors dar. Allerdings handelt es sich hier um eine, wie Foucault sagt, reine Funktion, »d.h. um eine nicht formalisierte Funktion, unabhängig von den konkreten Formen gefasst, in denen sie sich verkörpert […]«117. Aus diesem Sachverhalt erschließt sich für die Stadtforschung die Zielrichtung der Wissensformen der Ermöglichung: eine Mikrophysik der Handlung als Konzept offenzulegen, in dem berücksichtigt wird, dass die Physik der Handlung eine abstrakte ist. Foucault bezeichnet diese abstrakte Konstellation als Diagramm, als Funktion, die man »von jedem spezifischen Gebrauch ablösen muss«118. Hier drängen sich zwei Fragen auf. Erstens: Erübrigt sich mit Foucaults Ablösung der Funktion vom spezifischen Gebrauch die von de Certeau in Umlauf gebrachte Performanzkonzeption einer durch den Gebrauch bestimmten Drehung der Funktion selbst? Nein. Eher verhält es sich umgekehrt. Gerade die Differenz zwischen Funktionsweise und Gebrauch ermöglicht Um-Funktion. Zweitens: Was meint Foucault im Fall der Strategie mit Mikrophysik? Ist nicht Strategie mit de Certeau einer übergeordneten Form zuzuordnen? Deleuze macht hier den entscheidenden Einwand, dass es zwar richtig sei, dass in der Deutung der Foucault’schen Analyse einer Mikrophysik der Macht die Dimension der Taktik vorangestellt sei, während Strategie der Makropolitik zugeordnet würde. Aus der performativen Perspektive stellt sich dieser Sachverhalt jedoch anders dar. Mit ihr kann Deleuze darauf insistieren, dass der Mikroebene ebenfalls strategische Funktion zukommt.119 Wie ist dies zu rechtfertigen? Nur indem Strategie hier in einem neuen, eben performativen Sinn zu verstehen ist, einem Sinn, der sich vor allem etymologisch ableiten lässt: strate heißt Schicht, und es ist die Schwellenbewegung zwischen den Schichten, die aus der Mikrobene ein strategisches Phänomen macht. Dieses neue Verständnis von Strategie stellt sich für Wissensformen der Ermöglichung als entscheidend heraus. Es hinterfragt jene de Certeausche Unterscheidung, die besagt, dass eine der wesentlichen Differenzen von Taktik und Strategie in der Verfügung über 116 | Vgl. hierzu: Ott, Michaela: Affizierungen. München 2011. 117 | Deleuze: Foucault. S. 101. 118 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt 1976, S. 292: »Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt Gefängnissen gleichen?« 119 | Deleuze: Lust und Begehren. S. 18.
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den Raum besteht. Strategie, so de Certeau, sucht den Raum zu kontrollieren, während Taktik eher situativ mit vorgegebenen Verhältnissen agiert. Deleuze jedoch zielt darauf ab, das periphere, sozusagen in den Alltag diffundierende, taktische Potential als Ressource im größeren Maßstab nutzbar zu machen. Das gelingt nur, wenn Taktik auf den Level von Strategie gehoben wird. Was wiederum bedeutet, Strategien zu entwickeln, die in der Lage sind, Teleologie zu überschreiten. Ein Abarbeiten daran, wie solches zu bewerkstelligen sei, wie das Überschreiten der Teleologie Teil des Experiments der performativen Strategie selbst werden kann, ist Gegenstand folgender Überlegungen.
Angewandte Relationalität Obige Untersuchungen zeigen der Stadtforschung an, dass erkenntnistheoretisch nicht mehr im alten Sinne vorgegangen werden kann. Wie aber wäre das Wissen der Stadt dann zu erzeugen? Es gilt hier, die Unterscheidung von Kraft, Performanz und Wissen im Kontext der Diagrammatik zu mobilisieren. Deleuze zufolge besteht Wissen aus geformten Materien. Wissen konstituiert sich relativ starr, geschichtet, archiviert und segmentiert. Performanz (Macht) hingegen agiert diagrammatisch: Sie geht nicht durch Formen, sondern durch Kräfte hindurch, »sie mobilisiert nicht-geschichtete Materien und Funktionen und arbeitet mit einer sehr geschmeidigen Segmentierung«120. Wie das Diagramm produktiv mit den geschichteten Ebenen des Wissens arbeitet, sie durchkreuzt so erweist sich Performanz als sich ereignendes Kräftefeld und erhält die Attribute lokal, instabil, diffus. Performanz ist nicht lokalisierbar, sondern erscheint in der Ausübung des Nicht-Geschichteten. Als solche bildet Performanz anonyme Strategien, die beinahe stumm und blind sind, »da sie sich den stabilen Formen des Sichtbaren und des Sagbaren entziehen«121. Daran eröffnet sich eine Dualität von Wissen und Performanz, von Schichtung (stratification) und Strategie, von Archiv und Diagramm. Weil sich Performanz als Handlungsdispositiv äußert, kann ihre Form nie ganz gewusst, ihre Praxis nicht auf ein Wissen reduziert werden. Gleichwohl bleibt es essentiell, das Verfahren der Performanz aus dem Unterbewussten heraus zu destillieren, um Transformation zu ermöglichen. Und das wiederum funktioniert nur über diagrammatische Arbeit der Mikrophysik. Diese ist nicht im Sinne einer schlichten Konzentration auf das Lokale zu suchen, sondern zeigt »einen neuen Typus von Beziehungen, eine Dimension des Denkens [an], das sich nicht auf das Wissen reduzieren lässt«122 . Folgende Formel lässt sich daraus ableiten: Kraft/Performanz/Wissen 120 | Deleuze: Foucault. S. 103. 121 | Ebd., S. 104. 122 | Ebd.
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Regelwerk Hierbei sollte man mitdenken, dass Performanz nicht nur auf strukturelle Ensembles von Regeln zurückgreift, sondern auch, in diagrammatischen Konstellationen, aus Handlungen neue Strukturen, Regeln erzeugt. Genau das macht die Rede vom relationalen Raum so kompliziert, will man nicht in das Konzept der Physik von Aristoteles, einer linearen Bewegung von A nach B, zurückfallen. Will die Stadtforschung die Konzeption des relationalen Raums verwenden, hat sie zur Kenntnis zu nehmen, dass sich relationaler Raum eben kaum von außen bestimmen lässt, sondern einen Zugang zur performativen Immanenz räumlicher Situationen und einer Konzeptionalisierung dessen verlangt. Von daher speist sich die Rede vom epistemischen Handlungszusammenhang. Insofern ist die diagrammatische Arbeit am relationalen Raum auch immer epistemologische Schwellenarbeit. D.h. nicht, dass das Wissen aus dem relationalen Raum selbst stammt, sondern dass die historische Situiertheit der Raumkonstellationen das performative Diagramm voraussetzen, das es konstituiert. Gleichzeitig bleiben die Wirkungen des politischen Vektorfeldes auf die Schichten des Wissens ungewusst, so dass zwar die Aktualisierung eines Feldes integrierend, stabilisierend wirkt, der Prozess der Aktualisierung jedoch im Dunkeln bleibt. Epistemologisch denken wir uns das Wissen dann im platonischen Sinne als Entdeckung eines Bildes, einer Idee, wodurch das Wissen sich als Sediment selbst sozusagen naturalisiert und seine konflikthafte Entstehung ausblendet. Diagramme wären in diesem Deutungshorizont als jene »blinde Maschinen« zu bezeichnen, jene techno-logischen Instrumente, die Schichten- bzw. Schwellenarbeit sichtbar machen und auf die strategische Ebene heben, sie, mit Derrida gesprochen, als Spuren sichtbar machen. Unserer Ansicht nach besteht die Strategie der Performanz diagrammatischer Arbeit genau darin, dass sie Zugang zu diesem »anderen« Wissen, zu den Prozessen der Performanz selbst zu erhalten sucht. Mit Foucault könnten wir dann sagen, dass nicht nur ihre graphischen Darstellungen von Diagrammen Aussagen sind, sondern dass die Aussagen bereits Arten von Diagrammen konstituieren. Darin gewänne die Stadtforschung das Performative der Strategie gestalterischer Diagrammatik: »die Aussage ist die Kurve, die die singulären Punkte vereinigt, d.h. die die Kräfteverhältnisse verwirklicht und aktualisiert«123, die in der Gestaltungsarbeit zwischen Handlung, Beobachtung, Kartographie, Konzeption, Projektion und Realisierung sich orientiert. Das bestätigt unsere Ausgangsannahme, dass sich Gestaltungsarbeit selbst auf Recherche und Prozess verlagern kann und muss. Im Horizont der Wissensformen der Ermöglichung kann die Stadt erforschende Gestaltung sich als Metaform artikulieren, als organisationale Rahmung für Recherchearbeiten, die auch auf Aktualisierungen beschränkt sein können. Eine solche Metaform 123 | Ebd., S. 110.
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konzentrierte sich dann darauf, Verbindungen des Sichtbaren zum Außen herzustellen, sie zu aktualisieren und dessen Vektoren zu integrieren. Es ist dies ein ganz anderes Vorgehen als teleologisch ausgerichtete Prozessgestaltung (siehe Einführung). Performative Strategie setzt den relationalen Raum als Gründung, d.h., die Verbindung nicht als überbrückend sondern als konstituierend. Wie funktioniert das? Dadurch, dass der Modus der Sichtbarkeit von dem Modus der Performanz unterschieden wird. Hier verortet sich der Grund diagrammatischer Arbeit als Strategie: Sie ist nötig, um in der Darstellungsform die Intensität, die differentiellen Vektorrelationen, die Singularitäten als Potentiale zu integrieren und für Zukünftiges aktualisierbar zu machen bzw. zu halten. D.h. jedoch nicht, dass es keine Gestaltungstechniken (wie z.B. Werkzeichnung) mehr gibt, vielmehr wird anerkannt, dass beschreibende Bilder (Pläne, Erkenntnis) und Performanz-Kurven (Diagramme, offene Notationen) zwei heterogene Felder der Formalisierung und Integration situativer Potentiale darstellen. Das Kräftediagramm der Situation aktualisiert sich sowohl in den Beschreibungsbildern (das passiert, wenn einer Gestaltung als Plan zugestimmt wird) und in den Performanz-Diagrammen (das passiert, wenn Diagramme neue Deutungshorizonte für Potentiale einer Situation sichtbar machen, was wiederum zu neuen Handlungsoptionen führt). So wie die Diagramme als Sichtbarkeiten die Performanz in Beschlag nehmen, so nimmt ihrerseits die Performanz die Sichtbarkeiten in Beschlag, die sich auch dann weiterhin von ihnen unterscheiden, wenn sie mit Plänen, Grundrissen, Schnitten arbeiten. In diesem Sinne ist es für die gestalterische Analyse möglich, sich selbst in der Unterscheidung von Plänen und Diagrammen wiederzufinden. Das Arbeiten an performativen Konzepten zieht utopische Kurven, die durch diskursive Objekte (materiale Konstellationen) und bewegliche Subjektpositionen (Akteure und Aktanten) sich in ein Gestaltungs-Sein einschreiben, das wiederum, soviel lässt sich bereits sagen, durch die Technologie der Improvisation am Laufen gehalten wird. So erhält Form bzw. Komposition Beweglichkeit, entfaltet sich Gestaltung weniger als Kreation, sondern als Wissensorganisation, das Wissen selbst ist im Entwurf verortet. Gestaltung meint dann, Wissensformen der Ermöglichung durch Anordnung zu kreieren: als Katalog, Atlas, Sammlung der gesamten, dem jeweiligen Projekt eigentümlichen Sprache. Die Beschreibungen zeichnen ebenso viele Bilder, produzieren Streuung von Sichtbarkeiten, Bündelung situativ-performativer Qualitäten, deren Geheimnis die Gestaltung besitzt (ohne darauf angewiesen zu sein, die Realisierung herbeizuzwingen). Das organisationale, metaformale setting, der Versuch, die Disziplinen zu überschreiten, ist hier keine l’art pour l’art, sondern dem der Wissensformen der Ermöglichung eigenen Dilemma geschuldet, d.h. dem Versuch, zwischen den unterschiedlichen Formen des Wissens zu vermitteln, neue Sichtbarkeiten zu erzeugen, um performative Potentiale als prozessual offene Strukturen freizulegen. Etwa
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die von Cedric Price einst am Fun Palace in die Stadtforschung eingebrachte uncalculated uncertainty124 stellt dem Herbeizwingen des Plans ein VertrauenMüssen auf die informellen Elemente der Kräfte gegenüber, welche die unterschiedlichen Formen durchdringen. Genau deshalb sind die Recherche, die serielle Aufreihung von Versuchsauf bauten, Untersuchungen, Schemata, ist die diagrammatische Arbeit im performativen Sinne strategisch: weil sie, im Zusammenspiel repräsentativer und nicht-repräsentativer Darstellungstechniken, die Vektorenrelationen von Raumsituationen, räumlichen Konstellationen als Performanz zu zeigen sucht. Eine Wissensform der Ermöglichung sucht Raum nicht nur als performativ produziert zu begreifen, sondern auch dies in Gestaltung als Wissensproduktion umzusetzen, und »zwar in der Beziehung zwischen beiden irreduziblen Formen der Spontaneität und der Rezeptivität, aus denen sich Wissen herleitet«125. Formal kann das Vorgehen, Prozesse als offene Rahmungen zu strukturieren, mit dem Nachbarschaftsprinzip erklärt werden, welches Deleuze in den Theorie-Diskurs eingebracht hat. Deleuze spricht von der Struktur als einem Feld, das nach relationalen und topologischen Kriterien vorgeht: Die Struktur wäre dann als ein relationales Regelwerk vorzustellen, das aus der prozessualen Praxis heraus temporäre Nachbarschaftsordnungen herausbildet und dadurch neue Verweiszusammenhänge ermöglicht.126 Diese Organisationsform bildet ihre eigenen Repräsentationen heraus: Die Kataloge, Atlanten, Kartographien als Produkte der Arbeitsebenen sind wie Serien von Zeitschnitten zu verstehen, welche die Prozesse durchlaufen. Sie konstituieren eine Topologie von Punkten, die im Verhältnis zueinander relativ sind. Die Punkte sind die relativen Orte der Glieder, der Schnitte und Schnittstellen. Die Bestimmung der Punkte hängt sowohl von dem absoluten Ort zu einem bestimmten Moment ab wie von dem relationalen Verhältnis, das beständig zirkuliert und zu sich selbst verschoben wird. In diesem Sinne ist die Arbeit an der Verschiebung keine formale Addition, wie man denken würde, sondern die grundlegende Eigenschaft, die überhaupt erst ermöglicht, die Struktur als Ordnung der Orte unter wechselnden Verhältnissen zu definieren. Die offene Rahmung, eigentlich ein Abstraktum, wird zur Basis konkreten Handelns: »die Spiele benötigen das leere Feld, ohne das nichts voranginge noch funktionierte.«127 Das Politische daran äußert sich in der Umdeutung der Form bzw. der Ordnung. Eine solche Umdeutung geht wiederum aus der improvisationalen Einstellung hervor: Form gerät jetzt zur beweglichen composition provisoire und 124 | Mathews, J. Stanley: From Agit-prop to Free Space: The Architecture of Cedric Price. London, 2007. 125 | Deleuze: Foucault. S. 114. 126 | Deleuze, Gilles: Was ist Strukturalismus? Berlin 1992, S. 15. 127 | Deleuze: Foucault. S. 114.
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wäre somit sowohl als räumliche Struktur wie auch als Konzeption als leeres Feld zu beschreiben – ein leeres Feld, das erst durch Performanz ins Spiel kommt, aber auch erst konzeptionell gedacht werden kann, wenn gedanklich von Raum als Performanz ausgegangen wird. Die performative Struktur ist sozusagen das der historischen Kontingenz räumlicher Situation vorausgesetzte a priori. Gleichwohl gibt es nichts außerhalb der Situation. Darin besteht der paradoxale Charakter der performativen Strategie als Mikro-Physik der Macht: »die in Beziehung stehenden Kräfte sind von den Variationen ihrer Abstände und ihrer Beziehungen nicht ablösbar, […] die Kräfte befinden sich in einem unendlichen Werden«, sozusagen als ein Werden der Kräfte, das die räumlichen Situationen begleitet. Das Diagramm ist kein Ort an sich, sondern ein virtuelles Feld, das die Performanz begleitet, »als Raum ausschließlich für Veränderungen«128. Diagrammatische Gestaltungsarbeit am Wissen wäre also dazu da, um Kräfte, Vektoren in Gang zu setzen, die aus dem Außen des Diagramms kommen und gleichzeitig immanent in Situationen vorhanden sind. Erst wenn zum diagrammatischen Außen Zugang besteht werden die Kräfte aktualisierbar. Darin besteht die strategische Essenz dieser Art des Gestaltens: »niemals ist es das Zusammengesetzte, das Historische und Geschichtete, das Archäologische, das sich transformiert, sondern es sind die [performativen] Kraftelemente, die aus dem Außen stammen, in eine Beziehung treten (Strategien).«129 Die Strategie versucht, als relationale Arbeit, die Verhältnisse von Kraft und Diagramm offen zu legen, um an das Potential zu gelangen, das in dieses Verhältnis eingefasst ist, ein, wie Deleuze es nennt, ›drittes Vermögen‹, »das sich als Fähigkeit zum Widerstand darstellt«130. Widerstand ist (genau wie Performanz) einer Situation primär, und zwar »in dem Maße, in dem die Kräfteverhältnisse ganz ins Diagramm eingebunden sind«131. Umgekehrt ist impliziert, dass es Widerstand gibt, der sich performativ zeigt, jedoch noch nicht konzeptionalisiert ist – Widerstand, der sich noch nicht strategisch organisiert hat. Die performativen Kräfte wirken beständig auf das Diagramm ein. Im Zusammenspiel von Organisation (Strategie) und Arbeit an der Schichtung (strata) bezieht die performative Strategie das Vektoriale am Politischen in ihr Vorgehen ein: Sie will wissen, was passiert, wenn transversal-performative Widerstandkräfte auf Macht treffen, sich umschichten, integriert werden, auf Schnittstellen, Knotenpunkte stoßen oder sie gar hervorrufen. Eine solche situationsorientierte Strategie finden wir in jüngeren Arbeiten, die Stadtforschung und Wissensproduktion zusammenführen, wie etwa
128 | Ebd., S. 119. 129 | Ebd., S. 122. 130 | Ebd., S. 125. 131 | Ebd.
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das Projekt Spatial Agency an der Universität Sheffield132, die Universität der Nachbarschaften, das Projekt 50 000 Logements der Architekten Lacaton, Vasall und Hutin (vom Entwerfen her) oder Projekte des Studiengangs cultural engineering an der Universität Magdeburg (von der Wissenstheorie her). Innerhalb dessen gemahnt Jean-Philipp Vasall an das Entscheidende, nämlich, als Gestalter in urbane Situationen (die wir epistemische Handlungszusammenhänge nennen) selbst hinein zu kommen: »identifying elements, forces and energies which are genuinely determining the spatial performance of a given situation.«133 Und Bernd Kniess, Initiator der Universität der Nachbarschaften, forscht im universitären Kontext danach, wie urbane Strukturen zum Funktionieren gebracht und somit neue Formen des Wissens kreiert werden können. Für Kniess steht die diagrammatisch orientierte Suche nach performativen Urban Hubs, nach Arealen, an denen Handlung stattfindet, sich bündelt und sich den herkömmlichen Lesarten entzieht, im Vordergrund: »Uns geht es darum, auf diesem Weg Zusammenhänge städtischer Nutzung neu zu erschließen.«134
Phänomenologie in Epistemologie ver wandeln Wir sagten, dass mit Performanz die Emergenz eines neuen Episteme beschrieben werden kann. In der Stadtforschungsperspektive ist damit nicht nur auf die Produziertheit des sozialen Raumes aufmerksam zu machen, sondern auch darauf, dass sich mit dieser Produktion ein Wissen und eine spezifische Wissensform verbinden. Innerhalb dessen besagt die Rede von der epistemologischen Performativität, dass die Produktion und Reproduktion sozialer Räume durch die wiederholte Performanz von Normen produziert würde. Jeden Tag üben wir, Raum herzustellen, Raum zum Funktionieren zu bringen. Es bleibt jedoch die Frage offen, ob dieses Verfahren nicht eine kohärente Logik, eine praktische Konsistenz und eine Möglichkeit der Reduktion universeller Phänomene auf Teilaspekte unterstellt. Gälte es nicht vielmehr, die Lücke zwischen praktischem und theoretischem (epistemologischem) Bereich, zwischen Mentalem und Sozialem zu schließen? Diese Fragen lassen eine lineare Anwendung epistemologischen Denkens auf praktische Sachverhalte nicht mehr zu. Ebensowenig lässt sich mehr – unter Annahme eines Handlungs-Struktur-Dualismus – davon ausgehen, dass es eine soziale Sphäre hier 132 | www.spatialagency.net/. 133 | »Tabula Non Rasa. Towards a performative contextualism. Ilka& Andreas Ruby in conversation with Jean-Philippe Vasall.« In: Ruby, Ilka und Andreas (Hg.): Urban Transformations. Berlin 2008, S. 252. 134 | Kniess, Bernd: »Explore Migration«, Vortrag im Seminar Kartographie des Masterstudiengangs Urban Design, HCU Hamburg, 29.06.09.
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gäbe, die strukturell mit der räumlichen Sphäre dort verknüpft sei. Das Denken einer Opposition von Subjekt und Raum, welche das kollektive Subjekt eliminiert, greift zu kurz: Theoretische Praxis bliebe dann getrennt von sozialer Praxis und würde sich selbst als Referenzpunkt von Wissen setzen. Die performative Öffnung für das Unmittelbare der Stadtsituation, für das In-der-Situation-Vorhandene schließt ein, eine Phänomenologie hinzuzuziehen, die mit Merleau Ponty sagt, dass das reine Subjekt nicht Bewusstsein an sich sei, sondern Existenz, d.h. das Zur-Welt-sein-durch-einen-Leib. Phänomenologie macht aufmerksam auf die Körperlichkeit des wissenden Subjekts und seine historische Situiertheit. Dennoch bleibt das Postulat der Zielgerichtetheit, der operativen Intentionalität des Menschen zur Transzendenz ein Problembestand der Phänomenologie. Husserl hatte noch Intentionalität primär im Sinne eines Relationalitätsanspruchs verstanden, der die relationale Selbstbewussheit an die Stelle eines substantialistisch ausgelegten Ich setzt. In der Nachfolge Husserls wurde allerdings der Intentionalitätsbegriff teleologisch aufgeladen und so das Strukturelle der Sprache und des Diagrammatischen verdeckt.135 Deleuze, mit Foucault denkend, bietet hier der Stadforschung einen Ausweg, eine Variante an, wie sich Phänomenologie in Epistemologie verwandeln ließe, indem man sie strategisch macht. Damit verwirft Deleuze jene Form der Subjektivität, die sich intentional auf eine Sache richtet und dann in der Welt zeigt. Deleuze schlägt stattdessen eine Weise der Erforschung neuer Erkenntnisformen vor, die weder auf dem Bezeichnenden der Sprache noch auf einer Ursprünglichkeit der Erfahrung beharrt: »denn Sehen und Sprechen sind Wissen, aber man sieht nicht das, wovon man spricht und man spricht nicht über das, was man sieht.«136 Es gälte damit eine Intentionalität zu überwinden, »die sich noch in einem euklidischen Raum bewegt, der sie daran hindert, sich selbst zu begreifen«, hin zu einem topologischen, relationalen Raum, »der das Außen und das Innen, das Fernste und das Tiefste miteinander in Verbindung bringt«137, in Relation setzt. Die Erforschung neuer Erkenntnisformen zur Stadt kündet von unterschiedlichen Erscheinungsformen des Wissens, die zu klassifizieren und zu bestimmen wären. Eine wirkliche Bemächtigung des Wissens kann jedoch nur stattfinden, wenn sich die Untersuchung von der Informalität des Diagramms ableitet, der diagrammatischen Formation, in der sowohl Ausgangs135 | Foucault spricht davon, dass die Phänomenologie nicht mithalten konnte, wenn es darum ging, Rechenschaft abzulegen von den Bedeutungseffekten, die von einer Struktur linguistischen Typs produziert werden konnten, in die das Subjekt (im phänomenologischen Sinne) nicht intervenierte, um Bedeutung zuzuweisen. Vgl. dazu Miller, James: Die Leidenschaft des Michel Foucault. Köln 1995, S. 74. 136 | Deleuze: Foucault. S. 153. 137 | Ebd., S. 155.
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punkt als auch Bedingung von Möglichkeit liegen. Dort entdeckt die Stadtforschung das strategische Terrain der Macht [Performanz], im Unterschied zum geschichteten Gebiet des Wissens, das sie von der Epistemologie zur Strategie führt. Die Stadtforschung sollte also urbane Phänomene in Diagrammen nicht nur zu zeigen, sondern auch Aussagen treffen über die Hintergründe, die Kämpfe und die Bedingungen von Stadtraumproduktion. Das beinhaltet, vom stadterkenntnistheoretischen Rekurrieren auf einer rohen Stadterfahrung und dem Postulat eines neutralen Stadtraums Abschied zu nehmen. Raum und seine Erfahrung sind in gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Konflikte gebettet, die wiederum Strategien beinhalten oder sich performativ reproduzieren. Performanz ist das Macht-Sein im Gegensatz zum Wissen-Sein; ihre Kräfteverhältnisse, Vektoren bringen die Beziehungen zwischen den Formen des Wissens erst zum Funktionieren. »Die Griechen […] haben die Kraft als etwas entdeckt, das umgebogen werden kann, und das lediglich durch Strategie«138, weiß Foucault. Aber eine solche Strategie kann die Stadtforschung nur ausbilden, indem die stadtforschenden Subjekte sich gewissermaßen selbst trainieren, Übungsräume schaffen, Techniken des Selbst ausbilden, um die Performanz der Kräfte zu lenken. Was umgekehrt impliziert, dass Performanz immer an eine ethische Dimension gebunden ist, an den Einbezug der Transformation des Selbst durch die angestoßenen Prozesse. Techniken des Selbst verlangen den Stadforschenden ab, zu lernen, wie man den relationalen Raum auf sich selbst anwendet, wie man nicht nur Prozesse zu Produkten macht (wie beispielsweise die Systemtheorie oder die Kybernetik), sondern wie man sich selbst prozessual zum Prozess verhält. Foucault nennt das kritische Ontologie.139 Derlei Wissen um die Seinsweise liegt weniger in der Bestimmung der fixen Form als in der Bestimmung des Form-Werdens. Wie sich kritische Ontologie in drei in einem Wechselverhältnis zueinander stehende Dimensionen auffächert – Macht, Wissen, Selbst – so lehrt die Analyse solcher Trias die Stadtforschung nicht nur, was in jeweilig spezifischen Stadtsituationen zur – wie auch immer prekären – Form führt. Sondern auch, dass jegliche Be-Gründung immer nur Versuch der Gründung bleibt. Eine dergestalt formatierte performative Strategie lässt die Stadtforschung den Bezug zu sich als Wissensform in neuer Dimension entdecken. Es ist eine Dimension, die nicht auf gestalterische Praxis reduziert, nicht allein aus ihr heraus erklärt, dargestellt und konzeptionalisiert werden kann. Genau hiervon rührt die methodische Begründung der im Rahmen dieser Arbeit vollzogenen Anleihen bei sehr verschiedenen Theoriekontexten und –beständen. Ohne eine 138 | Ebd., S. 160. 139 | Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«. In: Ders.: Ästhetik der Existenz. S. 171190, S. 187.
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disziplinübergreifende Kontextualisierung, ohne den methodischen Schlüssel der Erweiterung des Katalogs der Bestände bliebe der Versuch, die Reorganisation und Rekonzeptionalisierung des Wissens als Form, die Heterogenität der Wissensformen der Ermöglichung darzustellen, unterkomplex. Dass ein solches Zusammenspiel nur in der Anerkennung disziplinärer Differenzen gelingt, bestätigt schon das der Interdisziplinärität Intrikate, dass sie Dichotomien nicht negieren kann, ohne sie vorauszusetzen.
Schaltung Halten wir fest: Während sich das traditionelle, klassische Konzept der Gestaltung auf die Objektproduktion bezieht, kann Gestaltung heute nicht mehr nur auf physisch-räumliche Aspekte abzielen, sondern hat auch seine performative Wissensdimension mit einzubeziehen, jedoch in nicht-teleologischer Form. Dahinter steht eine Raumkonzeption, die Raum nicht als einen Behälter, sondern als Handlungsfeld begreift – Gestaltung geht vom Formgebenden zum strukturell Ermöglichenden über und erweist sich als konstituierend für die Wissensformen der Ermöglichung. Das Wissen des Urbanen erschließt sich in gestaltendem Forschen, das mit performativer Strategie und Diagrammatik operiert. Dieser Ansatz zeigt, dass gestalterische Dinge nicht nur entstehen, indem sie geplant, gedacht, gezeichnet und dann realisiert werden, sondern sie sind a) in ein Vektorfeld von Bedingungen und Verhandlungen eingebettet, und b) Teil einer Projektion, die sich aus der Dauer und der Art seiner Nutzung(en) bzw. Gebräuche entfaltet. Wenn die Stadtforschung auf maximale Gebrauchsweisen abzielen und diese ermöglichen will, sollte sie den Gestaltungsprozess nach vorne hin ausdehnen, und zwar hin zum diagrammatischen Offenlegen, Sichtbarmachen, Erforschen und Analysieren der Bedingungen, die zur Produktion von sozialem Raum und gebauter Umwelt beitragen. Gestalten wendet sich hieran von der Form als Gestalt oder Stil hin zur performativ-strategischen Ebene der Erforschung von strukturellen (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Bedingungen spezifischer Situationen als festem Bestandteil gestalterischer Produktion. Die in die Gestaltung zu integrierende Forschungsarbeit verknüpft die Fragestellungen jeweils spezifischer Situationen mit übergreifenden, fundamentalen Aspekten. Hier sehe ich das Modell des Studiengangs »cultural engineering« an der Universität Magdeburg als exemplarisch für ein Forschen am Sichtbarmachen dessen, wie materiale Konditionen und Umnutzungen eine angewandte Umdeutung urbaner Strukturen hervorrufen können. Es geht dort vor allem um die Analyse der Aneignungsstrategien des Alltags und die Frage, welche Wissensformen damit verknüpft sind. Die Analyse wäre, so wie es etwa beim Masterstudiengang Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg geschieht, wiederum in gestalterisches Denken zu übersetzen, um zu zeigen, wie so mit simplen Minimalstrukturen Materialen neu angewen-
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det werden können, die eigentlich für ganz andere Kontexte gedacht waren.140 Daran schließt der Schritt an, aus dem Übersetzungsprozess generative Regeln abzuleiten, die wiederum ermöglichen, diagrammatisch mit Projekten umzugehen und dadurch neue Qualitäten zu definieren bzw. zu ordnen, die wiederum Raum für Aneignung bereitstellen. Aus einem solchen generativen, diagrammatischen Umgang mit dem Gestalten resultiert beispielsweise die städtebauliche Option, Baugesetzregelungen als Spielgenerator und performativen Katalysator in den Entwurfsprozess einzubeziehen, wie es Bernd Kniess in seinen architketonischen Projekten eindrucksvoll demonstriert hat.141 Jeder gestalterischen Auseinandersetzung liegen Regeln zu Grunde, die es performativ und als Behinderung positiv, sozusagen als Modulatoren der diagrammatischen Synthese, ins Spiel zu bringen gilt. Diese Analysen künden davon, dass sich mit der von Ngo angesprochenen performativen Strategie Design zum Re-Design wendet. Gestalten geht vom tabula rasa-Postulat des genuin Neuen zum konstruktiven Umgang mit und Neu-Versammeln von Bestehendem in der forschenden Auseinandersetzung mit sozialen und ökonomischen Bedingungen von Gestaltung über. Damit gerät nicht nur in den Blick, welche politischen Debatten und Aushandlungen über zu Gestaltendes (einer monde commun) zu führen wären, sondern auch die Fragestellung, welche Rolle der Sicherung zukünftiger Gebräuche durch Unterhaltung, Instandhaltung und Operation von Gestaltetem zukommt. Dass dies in keinster Weise die Bedeutung konstruktionsbezogener Aspekte mindert, vielmehr das Gegenteil der Fall ist, bekräftigt die These, dass der von Deleuze forcierte Hinweis die Informalität des Diagramms in die Irre leitet. Im Gegenteil stellt sich gerade das Transponieren der Analysefaktoren bzw. -parameter auf die Konstruktion des zu Gestaltenden als generativem, diagrammatischem Prozess als besonders wichtig heraus. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die fixierte Form, sondern darüber hinaus in Hinsicht auf die konstruktiven Aspekte der durch Metaform (Rahmung) und Minimalstruktur erzeugten gestalterisch-diagrammatischen (An)Ordnung, die maximale Nutzungen unter Unbestimmtheit ermöglicht. Wie aber lässt sich ein solches Re-Komponieren, Neu-Versammeln als Redesign näher fassen?
140 | Wie z.B. die Konstruktionen unter der Verwendung von Gewächshauselementen durch Lacaton/Vasall. 141 | Vgl. auch: Kniess, Bernd: adoptions. Seoul 2005.
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3.4 G estalterische D iagr ammatik z wischen I mprovisation und R edesign Anhand obiger Erörterungen konnten für das Gestaltungsdenken im Konnex der Wissensorganisation von Stadtforschung unterschiedliche Bewegungen nachvollzogen werden. Es verschiebt sich vor allem mit Deleuze der Funktionsbegriff zum Gebrauch und – vor allem mit Derrida – der Formbegriff zur Struktur hin. Solches ermöglicht, dass in der Diagrammatik Form bzw. Prozess nicht mehr teleologisch interpretiert, sondern relational mit Struktur und Funktion verschaltet werden. Vor dem Hintergrund dieser holzschnittartigen Zusammenfassung will folgender Abschnitt das Wie eines Gestaltens erschließen, das sich, im Anschluss an Bruno Latour und Karl Weick, vom Design zum Redesign, vom Formen-Gestalten hin zu performativen Weisen des Form-Machens und Versammelns wandelt.
Form. Funktion. Struktur Zunächst gilt: Ein solcher Wandel entspringt dem Erfahrungsfeld des Urbanen und des daran gekoppelten Raumverständnisses. Mit Lefebvre können wir sagen: Das Urbane vereint in sich die Dimensionen, Ebenen von Form, Struktur und Funktion. Es funktioniert auf bestimmte Weise, hält Dinge am Laufen, ist zur Hand, wird genutzt, gebraucht. Gleichzeitig ist die Stadt auch Form, und zwar auf zweierlei Weise: Zum einen als aistheton, als Wahrnehmbares, dessen Formempfinden uns mit Lust oder Unlust (Kant) affizieren kann, zum anderen als reine Form, als, wie Lefebvre sagt, virtuelles Medium: »der Punkt der Begegnung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit. Diese Form hat keinerlei spezifischen Inhalt, aber alles drängt zu ihr, lebt in ihr.«142 Das Urbane ist auch Struktur: als Ensemble von Elementen und als Ort des Ins-Werk-Setzens und Kreierens von Regelwerken. Die Reichweite der Parameter Struktur, Funktion und Form, ihre Felder der Wertigkeit, ihre Grenzen und ihre reziproken Beziehungen ergeben eine Totalität als das Urbane. Topologisch, verstanden im Sinne eines relationalen Anordnens, heißt dies, dass die Elemente dieses Ganzen eine gewisse Unabhängigkeit und eine relative Autonomie besitzen: »es gilt, nicht eins dem anderen vorzuziehen, denn daraus entstünde Ideologie, also ein dogmatisches System mit geschlossenen Bezeichnungen: der Strukturalismus, der Formalismus, der Funktionalismus.«143 Die Klassifikation nach Funktions-, Struktur- oder Formbegriffen wäre aber ein 142 | Lefebvre: Die Revolution der Städte. S. 156. 143 | Lefebvre, Henri: Le Droit à la ville. Paris 1967, S. 5 Übersetzung: [Arbeitsversion] Christopher Dell. Lektorat: Martje Petersen (unveröff.). Vgl. hierzu ausführlicher: Dell: Das Urbane.
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zureichendes Verfahren der Erkenntnis nur, wenn die vermeintlich unmittelbar gegebenen Tatsachen des Urbanen abstraktiv so leicht von ihrem Grunde sich ablösen ließen, wie sie einem naiven ›ersten Zugriff‹ sich darbieten. Nicht aber, wenn die urbane Wirklichkeit eine jeglichem forschenden ›Zugriff‹ vorgeordnete und höchst ›artikulierte‹ Beschaffenheit hat, von der das szientifische Subjekt samt den Gegebenheiten seiner Erfahrung selber abhängt. Je weniger die Ausgangs-›tatsachen‹ als deskriptive Selbstgegebenheiten vor der fortschreitenden Analyse bestehen, um so weniger hat die Stadtforschung die Freiheit, klassifizierend über sie je nach Bedarf zu verfügen. Das verlangt von der Stadtforschung, die Parameter untereinander auf reziproker Ebene Zug um Zug zu verschalten, sowohl für die Analyse des Realen (einer Analyse, die niemals erschöpfend ist und ohne Resträume) wie auch für die Wissensformen, die daraus hervorgehen. Eine Funktion kann sich durch die Mittel unterschiedlicher Strukturen erfüllen, obgleich es zwischen den Begriffen keine eindeutige Verbindung [Beziehung] gibt. »Es gilt zu verstehen, dass sich Funktion und Struktur mit Formen umhüllen, die diese ent- wie auch verhüllen – dass die Triplizität der Aspekte ein »Ganzes« konstituiert, das mehr ist als seine Aspekte, Elemente und Teile.«144 Struktur, Funktion, Form gehören zum Ding Stadt ebenso wie zu den urbanen Akteuren, die mit dem Urbanen umgehen, es mitproduzieren und im Verhältnis zu ihm mehrschichtig situieren: wahrnehmend, konzeptionalisierend, praktizierend usw. Wie lässt sich aber das diagrammatisch-relationale Verschalten von Form, Struktur und Funktion in die Wissensorganisation einbringen? Wie muss eine Wissensform beschaffen sein, die Konzeption, Handlung und Raum zusammendenken und dabei Handlung als Unbestimmtes integrieren kann? Wie lässt sich Unbestimmtheit ins Gestalten ebenso aufnehmen wie in eine Wissensorganisation, die Wissen als Entwurf versteht? Dieses Fragen markiert die Stelle, an der Design ins Redesign moduliert.
Bruno Latour. From Design to Redesign Ein wichtiger Anstoß kommt hier von Bruno Latours höchst eigenwilliger Interpretation des Designbegriffs. Gegenläufig zu jenen häufigen Lesarten, die Design eine reine Oberflächenwirkung bescheinigen, unterstellt Latour Design überraschenderweise eine Bescheidenheit, eine Konzentration aufs Detail und semiotisches Handwerk (damit meint er wohl die Typographie). Darüber hinaus sieht Latour den Vorteil des Design darin, dass es niemals ex nihilo agiere, »that it is never a process that begins from scratch«145. Der Befund, 144 | Ebd. 145 | Latour, Bruno: »A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design«. Vortrag auf der Networks of Design Conference. Design History Society Falmouth,
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dass Design immer mit Vorgefundenem, Bestehendem arbeitet, liefert den Anlass zur terminologischen Erweiterung: »to design is always to redesign146« Einblick in das Warum des vehementen Abhebens auf das Re- des Design gewährt Latours Hinweis auf den allgemeinen Verlust moderner Szenographien: »no male hybris, no mastery, no appeal to the outside, no dream of expatriation in an outside space which would not require any life support of any sort, no nature, no grand gesture of radical departure -and yet still the necessity of redoing everything once again in a strange combination of conservation and innovation that is unprecedented in the short history of modernism.« Um lakonisch die Frage hinterher zu schieben: »Will Prometheus ever be cautious enough to redesign the planet?«147 Die Zeit modernistisch geprägter Gestaltung scheint an ihr Ende gekommen: Wir können nicht mehr alles planen. Weder erweist sich der externalisierbare, extra-reale Raum der Vernunft als adäquater Ort des Gestaltens noch ist der Gestaltungsbegriff selbst, als Moment eines heureka, zu halten. Das lehrt die Stadtforschung zunächst, dass die Stadt vielmehr selbst zu einem Verlauf des permanenten Umgestaltens als Seinsform avanciert. Was aber tun? Wenn man nicht mehr von Außen alles überblicken kann – ginge es dann nicht darum, in die Situationen des Wirklichen selbst hinein zu kommen? Aber hieße das, die Elemente des Gestaltens selbst seien dem Verlauf des Wirklichen inhärent? Wahrscheinlich, denn wo sollten sie sonst zu finden sein? Aber muss sich die Stadforschung nicht auch die Werkzeuge aneignen, die es erlauben, diese Elemente lesen und konstruktiv ins Spiel werfen zu können? Latour sagt, dass wir Design gewöhnlich als etwas verstehen, das man, als eine Art ästhetischer Oberfläche oder Hülle (= Form), zu einer Funktion hinzufügt. Design ist, diesem Verständnis nach, immer Teil eines Dualismus, der sagt: »look not only at the function, but also at the design«148. Latour beobachtet jedoch aktuell eine grundlegende Wandlung dieser Sicht. Design prononciert sich nicht mehr nur als Frage eines unernsten Verschönerns von Dingen, sondern wandelt sich zunehmend zum substantiellen Sachbestand von Produktion überhaupt: »What is more, design has been extended from the details of daily objects to cities, landscapes, nations, cultures, bodies, genes, and, as I will argue, to nature itself – which is in great need of being re-designed.«149 Durch die ihm inhärenten, intrinsischen Praktiken hat sich Design in die DinCornwall 2008. www.bruno-latour.fr/articles/article/112-DESIGN-CORNWALL.pdf (Zugriff 03.04.2011). 146 | Ebd., S. 1. 147 | Ebd. 148 | Ebd. 149 | Ebd., S. 2.
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ge selbst eingeschrieben, mehr und mehr Elemente dessen in sich aufgenommen, was die Dinge selbst ausmacht. Latour spricht daher von einer performativen Ontologie des Designs: «Today […] it would be absurd to distinguish what has been designed from what has been planned, calculated, arrayed, arranged, packed, packaged, defined, projected, tinkered, written down in code, disposed of and so on. From now on, ›to design‹ could mean equally any or all of those verbs.«150 Dies geht einher mit dem Tatbestand, dass sich Design auf unterschiedlichste Maßstäbe beziehen lässt. Was Latour an dieser Stelle besonders interessiert, ist der Einfluss, den Design auf die Art und Weise hat, wie wir Dinge rezipieren, mit Dingen handeln. Gerade am Design eröffne sich jener Wechsel von den »matters of fact« zu den »matters of concern«, der essentiell in die politische Ökologie einer Verhandlung über die Komposition der gemeinsamen Welt hinein spielt: »the typically modernist divide between materiality on the one hand and design on the other is slowly being dissolved away. The more objects are turned into things – that is, the more matters of facts are turned into matters of concern – the more they are rendered into objects of design through and through.«151 Im Nachgang von Moderne und Postmoderne soll nun dem Design eine Brückenfunktion zwischen den alternativen Erzählungen Emanzipation, Fortschritt auf der einen und Zusammenhalt, Sorge auf der anderen Seite zukommen: »the little word ›design‹ could offer a very important touch stone for detecting where we are heading and how well modernism (and also postmodernism) has been faring.«152
Die fünf Vorteile des Design Aus der Analyse destilliert Latour zuletzt fünf Vorteile des Designs heraus: Erstens eignet dem Design die grundlegende Eigenschaft, in der Lage zu sein, mit dem umzugehen, was ist – Design hat nicht zwangsläufig die Implikation eines Neu-Konstruierens. Weit entfernt, fundamental zu sein, kann es zur ›echten‹ Praxis bzw Produktion hinzugefügt werden: »It seems to me that to say you plan to design something, does not carry the same risk of hubris as saying one is going to build something.«153 Das ist, was Latour auch die post-promethische Form des Gestaltens nennt: Es ist eine Bewegung weg vom Genie, vom Titanen-Konstrukteur hin zu einer Form des Redesign, in dessen Bewegung Bestehendes neu versammelt, remixed wird. Ein so verstandenes Design entsagt aufs Radikalste dem avantgardistischen Postulat »Go forward, break
150 | Ebd. 151 | Ebd., S. 2. 152 | Ebd. 153 | Ebd., S. 3.
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radically with the past and the consequences will take care of themselves!«154 Der zweite Vorteil des Design besteht darin, dass es in seinem Verzicht auf den großen Wurf über die Fakultät verfügt, Details auf neue Weise wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Latours Sicht lehrt: Dort, wo Design praktisch ist, weil es mit dem agiert, was ist, bildet es ein Handwerk aus, das in seiner Bescheidenheit die kleinen Feinheiten des Planens nicht aus den Augen verliert – »it was unthinkable to connect these features of design with the revolutionary and modernizing urges of the recent past.«155 Von diesen Überlegungen her rührt zudem eine Wandlung der Konzeption von Handlung und Produktion. Der Begriff des Machens erfährt eine grundlegende Modifikation, ja sogar wird die Rede davon, etwas sei so oder so hergestellt, ersetzt durch: Es ist so oder so designed – Produktion, Poiesis und techne konvergieren in einem Begriff. Der dritte Vorteil des Designs liegt im Tatbestand, dass nicht mehr zuerst danach gefragt wird, wie man in einer Situation entscheidet, sondern danach, wie man sie interpretiert. Jedes Designprojekt impliziert die Frage nach der Produktion von Bedeutung. Das mutet zunächst überraschend an, stellte doch zu Beginn der Designgeschichte Design in seiner schwächsten Form nur ästhetische Zutat zu einer Funktion dar. Mittlerweile jedoch ist Design in die Objekte hineindiffundiert und prägt zunehmend deren Bedeutungs- bzw. Interpretationsraum: »Wherever you think of something as being designed, you bring all of the tools, skills and crafts of interpretation to the analysis of that thing.«156 Das ehedem als oberflächlich eingeschätzte Design bringt in seiner zeitgenössischen Variante eine Tiefe mit, die die Verschiebung vom Objekt hin zum Ding, von der Form zur Versammlung annonciert. In Bezugnahme auf Heidegger zieht Latour hier den etymologischen Konnex von Ding als thing heran, was soviel bedeutet wie zu Versammelndes. In Latours Worten: »artefacts are becoming conceivable as complex assemblies of contradictory issues. […] When things are taken as having been well or badly designed then they no longer appear as matters of fact. So as their appearance as matters of fact weakens, their place among the many matters of concern that are at issue is strengthened.« 157 Ein Ding als Artefakt ist aus Skripten komponiert, die unterschiedliche Handlungsformen sowohl aufnehmen, einlagern und versammeln wie auch affizieren, ermöglichen, anregen, hervorrufen. In diesem Zuge fällt die Dichotomie zwischen Form und Funktion ebenso wie die zwischen Präsenz und Schrift: »The artefact is composed of writings all the way down!«158 Als vierten Vorteil identifiziert Latour die Bewegung von Design zum Redesign selbst. Re154 | Ebd. 155 | Ebd. 156 | Ebd., S. 4. 157 | Ebd. 158 | Ebd.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
design entlastet das Gestalten von jenen Zumutungen, welche die allseits von ihm geforderte, permanente Kreativitätsbehauptung bereithält. Redesign beginnt nie bei Null, nie bei einer leeren Leinwand oder einem neutralen Raum. Hier klingt Deleuze an: Die Leinwand bzw. Situation ist immer schon voll von strukturellen Virtualitäten, die diagrammatisch, in Form einer relationalen Praxis, aktualisiert und verschaltet werden können – genau darin liegt Wissen und Befähigung des Gestaltens als Redesign. Eine solche Kritik an der Repräsentation bescheidet sich nicht beim Konstatieren des Nicht-Repräsentationalen, sondern sucht einen methodischen Wechsel von funktionaler Analogie und formaler Ähnlichkeit hin zur Kraft der strukturellen Betrachtung topologisch angeordneter Serien umzusetzen. Das hat gravierende Konsequenzen für die Definition des Gestaltungsbegriffs selbst. Die alte Gestaltungs- bzw. Entwurfsformel Problem – Analyse – Problemlösung und deren EntwederOder-Teleologie der ›besten Form‹ tritt ab zu Gunsten einer Untersuchung von Gebrauchsmöglichkeiten bzw. Performanzermöglichungen. Das bedeutet nicht, dass es keine Probleme mehr gibt, sondern nur, dass an einer tieferen Stelle angesetzt wird, bei der Fragestellung: Um was geht es überhaupt in einer jeweiligen Situation unter welchen Bedingungen? Fragen, die nur allzu häufig im Implementierungs- und Realisierungseifer rein formal ausgerichteter Gestaltungskonzeptionen untergehen. Weil Redesign Fragestellungen über die kataloghafte Verschaltung struktureller Optionen, (Proto)Typen, im Spiel hält, zeigt es sich als re-mediale Praxis, die redesigned, was vorher schon da war: »To design is never to create ex nihilo.«159 Dort, wo Redesign Fortschrittsideologie durch das Anerkennen und Neuverschalten dessen, was ist, ersetzt, wird auch dem Aspekt der Nachhaltigkeit eine neue Wendung gegeben. Weil es auf ästhetisierende Formen ebenso verzichtet wie auf selbstreferentielle Sicherheitspostulate, kann Redesign besser jene Ressourcen nutzen, die ›da‹ sind. Das liegt auch daran, dass die Recherche über das, was da ist – also das, was überhaupt Transformation erfahren soll – in der Arbeit des Redesigns einen viel größeren Raum einnimmt, als dies gemeinhin beim problemlösungsorientierten Gestalten der Fall ist. In ähnlichem Sinn wie Latours Kritik am Design als dem Inszenieren von Problemlösungen (welches behauptet, immer schon das Problem zu kennen, jedoch mit jeder Lösung 25 neue Probleme schafft) begegnet bei Ruedi Baur die Definition des Designs als Transformationsarbeit an Bestehendem: »Sollte [Design] nicht eher an der Verhältnismäßigkeit der von ihm in Gang gesetzten Transformationen gemessen werden statt an Stil und Neuheit, die es zum Ausdruck bringt?«160
159 | Ebd., S. 5. 160 | Baur, Ruedi: Antizipieren, Hinterfragen, Einschreiben, Irritieren, Orientieren, Übersetzen, Unterscheiden. Baden 2009, S. 416.
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Entscheidende Argumente gegen einen Relativismus erbringt der fünfte Vorteil, die ethische Dimension des Design. Was hier angezeigt ist, ist, dass Design stets die Frage nach guter oder schlechter Gestaltung enthält. So treten in ihm Kategorie und Form auseinander, weil offenkundig ›Schönes, Wahres, Gutes‹ der ultima ratio ontologischer Fundierung von Ästhetik nicht mehr der politischen Verhandlung als ihr möglicher Erfolg entspricht. Führten die Problemlösungsstrategien traditioneller Gestaltungsprovinienz meist undiskutierbare, alternativlose Tatsachen ins Feld, gibt es im Redesign weder undiskutierbare Tatsachen noch werden Experten unhinterfragt ans Pult gesetzt: jedes Design hat sich seiner eigenen politischen Ökologie zu stellen und damit der Frage, was die Rede von guter oder schlechter Gestaltung überhaupt meint. Das erklärt, warum Design immer als genuin politische Angelegenheit zu verstehen ist. Nehmen wir die Rede vom Redesign ernst, kann sich niemand mehr während eines Gestaltungsprozesses hinter naturalisierten Tatsachen (das ist so, das haben wir immer schon so gemacht, das ist eben schön, harmonisch, gut proportioniert, richtet sich nach dem goldenen Schnitt etc.) verstecken. An der hiermit annoncierten Politisierung des Designs verortet sich eine Konkretisierung des Ethischen und umgekehrt: Form wird politischer Verhandlungsgegenstand vieler, die in einer Form des Co-Designs sich über die Komposition der gemeinsamen Welt auseinandersetzen. Konkrete Einblicke vermittelt die 2006 vom Fachbeirat der IFG Ulm verantwortete Ausschreibung »Designing Politics – the Politics of Design«. Hier sehe ich das Modell folgender, dort eingebrachter Fragen als exemplarisch an: »– Wie können Gestalter in Zukunft ihre Aufgabe in einem erweiterten und vermittelnden Beziehungsfeld bestimmen, das auch soziale und kognitive Prozesse einschließt?
– Gibt es für die Gestalter im Feld gesellschaftlicher Transformation einen Weg, Intervention und Partizipation zu initiieren und zu moderieren?
– Welche Gestaltungsmöglichkeiten verbinden sich mit dem Blick auf das Wirken, die Vernetzung und Konditionierung jenseits formaler Anschaulichkeit?«161 Solches Fragen trägt einem Verständnis des Urbanen Rechnung, das Raum als von vielen Kollaborateuren produziertes Kollektiv und Akteuren und Aktanten interpretiert, das nicht alle Kollaborateure, nicht alle Skripte immer sichtbar werden lässt oder willkommen heißt. Der agonale Konflikt um Sichtbarkeit und Anerkennung ist konstitutiver Teil des Raumproduzierens und des kollaborativen Redesigns am Urbanen. Innerhalb dieser Auseinandersetzungen bietet die dem Design inhärente ethische Dimension »a good handle from which to extend the question of design to politics. A politics of matters of facts and of objects has always seemed far fetched; a politics of designed things and issues is somewhat more obvious.«162 161 | Spitz, René: HfG IUP IFG Ulm 1968-2008. Ulm 2012, S. 187. 162 | Latour: A Cautious Prometheus? S. 6.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
Lefebvre hat aufgezeigt, wie sich im Designbegriff Produktion, poiesis und techne verbinden.163 Handeln und Machen sind ebenso neu zu bestimmen wie das Konstruieren. Das gilt auch für einen Konstruktivismus, der das Soziale, Subjektive, Symbolische von Realem, Materialem, Objektivem und Faktischem eindeutig zu trennen weiß. Erst im Eingang neuer, zumeist ungewisser Verknüpfungen dieser Kategorien kann der Ausgang aus einem Gestalten gefunden werden, das sich entweder auf ästhetisch-subjektive Schöpfung oder rational-technologische Handwerksarbeit zurückzieht. Das meint der Wandel vom Design zum Redesign: »It is the same material world, but now it has to be remade with a completely different notion of what it is to make something.«164 Mit Redesign wird derart an den teleologischen Konzeptionen von Produktion, Bauen, Konstruktion und Erklärung gedreht, dass ein Re-Materialismus emergiert, der den Begriff der Materie als Hülle, mit der wir alle irgendwie auf komplexe Art und Weise verbunden sind, wieder nutzbar macht, »without importing with the notion of ›matter‹ the whole modernist baggage of ›matters of fact‹«165. In diesem Zuge gewinnt auch ein Begriff des Machens neue Wertigkeit, der vorher nur dem Basteln zugerechnet wurde: die Bricolage als intelligentem Re-Design vorhandener Ressourcen.166 Damit erodiert die Vorstellung jenes Gestalterheroen der Moderne, der den Zugang zur Metaphysik, zur phone des gestalterischen Logos zu haben behauptet und von einem externen espace concu heraus den Plan für einen espace vecu festlegen will: »Nothing much is left of the scenography of the modernist theory of action: […] no dream of expatriation in an outside space which would not require any life support of any sort […].«167 Stattdessen bekundet sich in der Aufgabe des outside space die Forderung danach, alles nochmal zu machen. Wobei Machen jetzt in einer seltsamen, asymmetrischen Verwebung von Konservation und Innovation neu zu bestimmen ist. Das gibt eine Zielrichtung an, die erneut auf Improvisation als Handlungsmodell hinzudeuten scheint. Latour schließt seine Betrachtungen zum (Re-)Design mit einer, auch im Hinblick auf gestalterischer Diagrammatik im Konnex von Stadtforschung wichtigen, etymologischen Volte. Gestalten kommt von Zeichnen, vom italienischen designo her. Zeichnen ist das Hauptagens der Gestaltenden. Im Englischen bedeutet Zeichnen to draw, was auch Dinge zusammen bringen heißen kann: How to draw things together. Daraus zieht Latour den Schluss, dass Gestalten auch immer bedeutet, Dinge zu versammeln. Redesign ist also zuvorderst mit der Aufgabe befasst, zwar nicht auf Darstellung zu verzichten, aber 163 | Vgl. Dell: Das Urbane. 164 | Latour: A Cautious Prometheus? S. 7. 165 | Ebd., S. 9. 166 | siehe Ebd., S. 10. 167 | Ebd..
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diese so performativ zu machen, dass es uns in die Lage versetzt, Dinge, die uns angehen (matters of concern, diskutierbare Tatsachen) so zu versammeln, dass sie Teil eines politischen Disputes werden und in spezifisch materialer Weise bewegend wirken können. Das verlangt auch, Raum als immer wieder neu zu versammelnde Materialität neu zu deuten: »We know how to draw, to simulate, to materialize, to zoom in and out on objects; we know how to make them move in 3-D space, to have them sail through the computerized virtual res extensa, to mark them with a great number of data points etc. Yet we are perfectly aware that the space in which those objects seem to move so effortlessly is the most utopian (or rather atopic) of spaces. These are the least realistic spaces of circulation ever imagined. They are spaces that does not even fit with the ways in which architects, engineers, designers draw and modify blueprints, nor with the process through which they direct fabrication on the factory floor or manipulate scale models.« Genau das macht Gestaltung der Ermöglichung zu einer zuvorderst epistemologischen Frage: Wir wissen erkenntnistheoretisch, wie wir Gegenstände repräsentieren können, »but we have no clue what it is to draw Ding«168. Die von Latour vorgeschlagene neue Erkenntnisform des DingZeichnen-Könnens ist jedoch, als Wissensform, in sich selbst neu zu begründen. Alles läuft darauf hinaus, dass eine solche Wissensform ihre Fundierung nur in der improvisationalen Perspektive auf Raum als Produziertes bzw. als relationaler Anordnung diagrammatisch immer neu zu versammelnden Akteure und Aktanten gewinnen kann. Genau das möchte ich Wissensform der Ermöglichung nennen. Wir haben damit die für unsere Untersuchung leitende Definition der Gestaltung erhalten. Wie aber ist der darin eingelagerte Modus der Organisation bzw. des organisationalen Handelns näher zu bestimmen?
Karl Weick. Organizational Redesign as Improvisation Die Rede von Versammlung bestärkt die Vermutung, dass nicht nur der Frage der Organisation in der Untersuchung des relationalen Raums und der Raumproduktion eine relevante Rolle zukommt – auch die Wende der Organisationstheorie speist sich umgekehrt aus jener. Grund genug für die Stadtforschung, einen Blick auf die Theoriebestände der Organisationswissenschaften zu werfen, auch deshalb, weil dort die Auseinandersetzungen um den Begriff des Redesigns (vor allem inspiriert durch die Arbeiten von Karl Weick) bereits seit längerem geführt werden. In dem Aufsatz »Organizational Redesign as Improvisation«169 zeigt Weick an, dass die Organisationstheorie traditionell auf einen Gestaltungsbegriff rekurriert, den sie von der Architektur entlehnt zu 168 | Ebd., S. 12. 169 | Weick, Karl: »Organizational Redesign as Improvisation«. In: Ders.: Making sense of the organization. Malden 2001.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
haben meint. Das entlang der Linien eines solchen Gestaltungsbegriffs modellierte organisationale Design wird in der Folge als Aktivität interpretiert, »that occurs at a fixed point of time«170. Mit Aktivität ist vor allem ein Entscheiden intendiert, welches im Nachgang in Pläne übersetzt werden soll. »The plans are based on assumptions of ideal conditions and envision structures rather than processes. The structures are assumed to be stable solutions to a set of current problems that will change only incrementally.«171 Diese Sichtweise auf Organisation unterstellt Strukturen als deren feste Bestandteile, die nur durch Planung ein- bzw. ausgebaut oder umgestellt werden können. Was sich daran entfaltet, ist ein topologisches Organisationsdenken, das von jeder Struktur weiß, wo sie hingehört, und von keiner, was sie ist. Wo so die Erfahrung des Objekts abgeschnitten wird, verliert die Organisation den Zugang zum Wirklichen, muss sie doch stets den Umweg über eine externalisierte und externalisierende Planung nehmen. Organisationsdesign als Improvisation (und damit als Redesign) hingegen konturiert sich als kontinuierliche Aktivität, in der Verantwortlichkeiten des Machens der Interpratetion des Situativen entspringt: »recoursefulness is more crucial than resources, the meaning of an action is usually known after the fact and little structures go a long way.«172 Anstatt Unsicherheiten auszublenden, prononciert sich Redesign als kontinuierlicher Prozess, der jene zu Strukturen umdeutet und zur Ressource macht: »To redesign an organization means that people need to redefine the crucial uncertainty facing the organization, to specify the critical resources needed to address that newly denied uncertainty and then encourage people to find or improvise the resources needed.«173 Eben solche Strukturierung formaler Offenheit ist es, die an organisationaler Improvisation das Lernen ausmacht: Weil die Fähigkeiten der Akteure das Design beeinflussen, werden komplexe Situationen nicht durch höheren technischen Aufwand (und Materialkosten), sondern durch ein Mehr an improvisationalen skills bearbeitet. »The idea that ability affects design is also implicit in the choice to deal with technical complexity through greater complexity of the performer rather than greater complexity of the structure.«174 Als Kernfrage des Organisierens stellt sich Proportion und Simultanität heraus: »the issue in most organizations is one of proportion and simultaneity rather than choice.«175 Mit Improvisation bestätigt sich der oben von Latour 170 | Ebd., S. 57. 171 | Ebd. 172 | Ebd., S. 58. 173 | Ebd., S. 66. 174 | Ebd., S. 68/69. 175 | Weick, Karl: »Improvisation as a mindset for organizational analysis«. In: Organization Science, 9, 1998, S. 551.
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angerissene shift vom Entscheiden hin zum Interpretieren: »Improvisation is largely an act of interpretation rather than decision-making. […] To interprete means to encode external events into internal categories that are part of the group’s culture and language system. The act of interpretation involves creating maps or representations that simplify some territory in order to facilitate action.«176 Wobei anzumerken ist, dass die hier von Weick eingefordeten Simplifikationen eben nicht als Komplexitätsreduktion zum Zwecke von Entscheidungsfindung und Planung, sondern als Minimalisierungen von Strukturen zu verstehen sind, die nötig werden, um Planung diagrammatisch zu halten. Macht es sich Weick aber, wenn er via Improvisation Organisation vom Entscheiden hin zum Interpretieren verschiebt, nicht zu einfach? Ist dann gar keine Entscheidung mehr nötig? Nein, im Gegenteil, Entscheidung wird nur relational in ihrer Position disloziert. Es gibt nicht mehr »die Gestaltenden«, die Bescheid wissen, auf der einen und Ignoranten, die irgendwie »unterrichtet« (sei es auf frontale oder partizipative Art und Weise) werden müssen, auf der anderen Seite. Improvisation richtet sich auf eine ermöglichende Wissensform hin und damit an die Performativität all derjenigen, die an einer Situation teilnehmen und lotet erst einmal die gestalterischen Ressourcen aus. Dadurch entsteht ein Design, das zwei Dinge tut: »Either it enables (H.d.V.) people to learn more about their environment and rebuild some agreements about causal structure […] or it enables them to generate truly novel solutions.«177 Organisationen können also dann besonders gut als generische Designs agieren, wenn sie solche Interaktionen ermutigen, »that enable people to come to agreements about preferences and sometimes about causal structures«178. Stadtforschung lernt damit, dass sie gut daran tut, die Aushandlung von Präferenzen als Rahmung, als Metaform zu erachten, auf die man sich einigt, um den Forschungsprozess offen halten und trotz erhöhter Konfliktbildung im minimal-structure-Entfaltungs-Bereich179 gemeinsam arbeiten zu können. Wenn es unter hohen Unsicherheitsgraden um Interpretation geht, macht es mehr Sinn, sich auf die Erstellung dieser Rahmung (als Übereinkunft) zu konzentrieren als auf Effektivität, da Effektivität vor allem auf Entscheidungsfindung rekurriert, und so das Ganze als Feld von Ressourcen aus dem Blick verliert: »An improvised design creates a point of reference around which meaning forms. To redesign is to respecify this generative point.«180 Improvisation funktioniert
176 | Weick: »Organizational Redesign as Improvisation«. S. 72. 177 | Ebd., S. 73. 178 | Ebd., S. 74. 179 | Zum Begriff minimal structure vgl. Dell: Die improvisierende Organisation. 180 | Weick: »Organizational Redesign as Improvisation«. S. 75.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
freilich nicht ohne Kontrolle, die Kontrolle ist nur anders als in linearen Organisationsweisen aufgebaut: »It is controlled by frames of reference.«181 Ergebnis dessen kann jedoch kein neuer Wissensbegriff sein, sondern ergibt das Bild einer relationalen Wissensorganisation, die sich im Handlungsmodus der Improvisation organisiert. Auf eine Kurzformel gebracht lässt sich sagen, dass die sozialräumliche wie materiale Wissensorganisation die Form des Wissens ist.182 Die Wissensform der Ermöglichung bindet sich hier an zwei Modi: erstens an die spezifische Organisationsform der Improvisation und zweitens an die spezifische Form der Gestaltungsform des Redesign. Man kann mit Renate Girmes sagen, dass derlei Gestaltungsform ein setting bereithält, das aktivierend wirkt und währenddem das handling von und die Sichtweise auf Strukturen so organisiert, dass improvisationale Handlungen als offene Muster anschlussfähig werden und bleiben. Das geschieht, so formuliert Girmes in Anlehnung an Herbart, in Form der kombinatorischen Topik einer Darstellung, die das »Medium relevanter Bezugsorte (Topoi) für das Zeigen der Welt und die Argumentation der mit dem Gezeigten verbundenen Bedeutsamkeit von etwas«183 so nutzt, dass wir improvisationale Handlungen strukturieren, (an)ordnen, speichern und katalogisieren können. Eine so verstandene, technologisch zu nennende Improvisation wird zum zentralen Handlungsmodell einer Wissensform »that animates people so that they create actions, which can then become patterned«184. Angesichts dessen präsentiert sich technologische Improvisation als eine diagrammatische Arbeit mit und an Strukturen, deren Prämisse bedeutsam ist: »actions can be an important source of meaning and structure that hold a system together, but only when these actions become salient anchors for justification.«185 Wichtig bleibt für die Stadtforschung, dass sich eine solche Form immer offen strukturiert bzw. ihre Erfolge nicht als fixierte Formen deutet und sich damit vom Prozess abschließt. Die Vorgehensweise ist komplexer als es scheint: »One of the ironies of organizational design is, that its very effectiveness makes redesign and learning more difficult. Redesign is stimulated by […] experiments, trial and error.«186 Darin begegnet die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Improvisation als Prozess. In ihm löst die Tätigkeit des Designens die Gestaltung als fixierte Form ab: »the way out of turbulence may lie in a continuous improvisation in response to continuous change. De-
181 | Ebd., S. 77. 182 | Zur Relation von Form und Organisation: Girmes, Renate: Der Wert der Bildung. Paderborn, S. 183. 183 | Ebd., S. 112. 184 | Weick: »Organizational Redesign as Improvisation«. S. 75. 185 | Ebd., S. 76. 186 | Ebd., S. 81.
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signing replaces design.«187 Das hat Folgen für Form und Selbstverhältnis der Organisation des Wissens gleichermaßen: »By definition, organizations based on improvisation will reflect a continually changing set of competencies as resources are recombined in increasingly novel ways. As people are encouraged to grow and develop, the basis for new designs will also expand.«188
Schaltung Mit Latour konnten wir Redesign als improvisationale Handlungsform beschreiben, die Konstellationen neu ordnet. Auch das Konzept organisationaler Improvisation von Weick ist keine Erfindung des hic et nunc, sondern denkt bereits Vorhandenes aus einer anderen Perspektive neu zusammen. Die Verschaltung beider Konzeptionen führt uns zu einem Redesignbegriff, der Improvisation technologisch zu machen verspricht. Improvisationen basieren auf Erfahrungswissen (s. Kapitel Polanyi), welches eingesetzt wird, um in Situationen reagieren zu können. Währenddem erfährt das Erfahrungswissen in der Situation der Improvisation selbst eine Erweiterung bzw. Transformation. Das erlaubt der Stadtforschung, ein Feld des konstanten Remixes und des Zugangs zum Wissensspeicher aufzubauen, »to gain retrospective access to a greater range of resources.«189 Wo das Üben der Improvisation auch ein Einüben des Erinnerns ist190, rekurriert das Improvisieren in seiner Innovationstätigkeit – anders als gewöhnlich angenommen – gerade nicht auf Spontanität und das Heureka des genialen Einfalls, sondern auf das Rekombinieren, Rearrangieren vorhandenen Materials, vorhandener Ressourcen, Erfahrungen und vorhandenem Wissen. Das ringt der Stadtforschung eine spezifische Konzeptionalisierung des Situativen und des konstruktiven Umgangs mit ihm ab. Annonciert ist damit eine Bewusstwerdung technischer Fähigkeiten, Erfahrungen und jeweiliger Regelwerke. Stadterforschende Improvisatoren müssen nicht nur in der Lage sein, Wissen und Daten zu speichern, sondern auch die Relationalität des Versammelten zu lesen und neu zu verschalten. Dabei gilt es, die Intuition zu schulen, als »unbewusste, schnelle Verarbeitung von Erfahrungswissen.«191 Das intuitive Handeln lässt sich wiederum durch »Mustererkennung und -bewertung« strukturieren, wie sie mit der Iterationsarbeit an der differance bei Derrida erscheint. Es »nutzt
187 | Ebd., S. 88. 188 | Ebd., S. 85. 189 | Ebd., S. 547. 190 | Ebd., S. 547, »to improve improvisation is to improve memory«. 191 | Müller, David: »Bestimmungsfaktoren der Improvisation im Unternehmen«. In: Zeitschrift für Planung & Unternehmenssteuerung 18 (3), 2007, S. 255-277. S. 258.
3. Diagrammatik, Redesign und Improvisation
das Wiedererkennen von Situationen und Modellen und greift […] auf implizites Wissen zurück«192 . Alles läuft auf ein tieferes Verständnis von und, daraus folgend, dem relationalen Umgang mit Prozessen hinaus.193 Die von Borgdorff in den Wissensdiskurs eingebrachte performative Perspektive lässt die These zu, dass das Wissen der Organisationen durch Performanz in die Welt kommt. Obige Überlegungen führen indes erneut zur Frage nach dem organisationalen Modus dieser Performanz. Das Wissen der Organisation lässt sich danach nicht als ein Skript, ähnlich eines Theaterstücks, fassen, das geplant, geschrieben, vornotiert wird, um dann ›aufgeführt‹ zu werden. Organisationale Transformation des Wissens emergiert vielmehr als eine laufende Improvisation, die von stadtforschenden Akteuren enacted wird, die versuchen, aus den Prozessen der Stadtwirklichkeit Sinn zu produzieren und kohärent zu diesen Prozessen zu agieren. Wie die Vorstellung vom organisationalen Design als »a bounded activity that occurs at a fixed point in time« nicht mehr haltbar ist, so erodiert auch eine Organisationskonzeption des Wissens, die Strukturen als stabile Lösungen eines Sets von Problemen versteht.194 Als Alternative zum objektorientierten Verständnis von Design kommt mit Weick Improvisation als Modell in den Blick: Ein solches organisationales Redesign »tends to be emergent and visible only after the fact«195. Weder gestaltet Redesign Objekte, noch ist es selbst Objekt. Als ein zeitbasiertes, geschichtliches Konstrukt ist Redesign eine improvisationale Forschungsform von seriellen Fällen, Handlungen und epistemischen Handlungszusammenhängen, die diagrammatisch verschaltet warden. »Viewed from the perspective of improvisation, [Redesign is] more emergent, more continuous, more filled with surprise, more difficult to control, more tied to the content of action, and more affected by what people pay attention.«196
192 | Ebd., S. 265. 193 | Weick: »Organizational Redesign as Improvisation«. S. 166. 194 | Ebd., S. 347. 195 | Ebd. 196 | Ebd.
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4. Metaschaltung/Remix: Form-machen und Verschalten
Die Zielstellung dieser Untersuchung bestimmte sich aus dem der einleitenden These zugrunde liegenden Axiom: Gesucht wird nach einem Basiskonzept für die wissensformale Reflexion für die Stadtforschung, das handlungs- und darstellungstheoretische Perspektiven verbindet; gesucht wird damit zugleich nach »Wissensformen der Ermöglichung«, nämlich als einer gestaltenden wie gestalteten Wissensform, die sich den Nötigungen des komplexitätsreduzierenden Problemlösens nicht unterwirft – und die doch bei der Gestaltung als einem ihr fundamentalen Gegenstand bleibt. Das Verschalten einer solchen Gestaltung bindet sich an eine Diagrammatik, deren Bedingung der Ermöglichung die improvisationale Perspektive bildet. Die Verwendung des Verbs »verschalten« leitet sich hier von der Diagrammatik selbst ab. Es macht auf die funktionale, nicht-repräsentationale und nicht-subjektivistische Potentialität des Diagrammatischen aufmerksam. Das Technische am Verschalten kündet von dem Versuch, Stadterschließungsformen zu finden, die das Register rein sprachbasierter Zugänge zur Stadt überschreiten. Die darin vorgenommene sozio-materiale Deutung diagrammatischer Darstellungsweisen bietet die Attraktivität, »möglichst viele Ebenen der sowohl geistigen wie körperlichen Adressierbarkeit aufrechtzuerhalten«1. An dieser Stelle der Arbeit liegt genug Material vor, um im Anschluss eine serielle Batterie möglicher Definitionen bzw. Kriterien von Wissensformen der Ermöglichung selbst in diagrammatischer Weise aus improvisationaler Perspektive zu entfalten. Dass somit das behandelte Verfahren auf sich selbst angewendet wird, gehört auch zu den Axiomen der Anfangsthesen. Der darin forcierte Gebrauch von Wiederholungen, Begriffsbildungen und -verkettungen begründet sich mit der Notwendigkeit, Sprache, die genau den diagrammatischen Verschaltraum verstellt, soweit zu dehnen, dass dieser Raum auch in der Sprache zum Vorschein kommt. Das dabei vorgenommene diagrammatische 1 | Leeb, Susanne: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Materialität der Diagramme. S. 19.
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An- und Umspielen derselben Motive aus unterschiedlichen Perspektiven gehört zum Modus vorliegender Schrift.2 Innerhalb dessen läuft die Rede von den epistemischen Handlungszusammenhängen der Stadt darauf hinaus, epistemische Strukturen der Stadt in ihrer Performanz seriell so zu verschalten bzw. relational beweglich zu machen, dass diese als anschlussfähiges Material sichtbar werden. Das Epistemische bleibt darin nicht entbehrlich, folgt aber nicht dem gängigen Muster des Zulieferer-Betriebes ›Sender Stadtwelt > Empfänger Beobachter-Ich‹. Wo Erfahrungs- und Affizierungszustände, im qualitativen Sinne, als wahrnehmungsoder eher noch, performativ bedingt verstanden werden müssen, so findet das Nicht-Propositionale bzw. Nicht-Intentionale des Wissens darin seine Berücksichtigung. Während Wissen stets von dem Wie und Was seines Vollzuges abhängt, gerät auch in den Blick, dass sich Agenten des Wissensvollzuges nicht nach dem Schema klassischer Handlungstheorien konzeptionalisieren lassen. Diese Theorien stellen Akteure als mehr oder weniger autonome Subjekte vor, die – aus rationalen Gründen, in eindeutigen Situationen – intentional in einen Neutralraum hinein agieren. Eine solche Perspektive blendet geradezu all diejenigen Dimensionen aus, die in meiner Untersuchung angezeigt sind. Die Stadtforschung hat also in eine ganz andere Richtung zu zielen. Wie es gilt, das Improvisationale an der Erfahrung aufzudecken, so sollte Stadtforschung anerkennen, dass Wissen ohne Leiblichkeit und Sozialisation nicht zu haben ist.3 Gewichtig zu nehmen ist dabei der Hinweis, dass das Improvisationale im Vollzug selbst Wissen liefert: Die Stadtforschung kann nicht planen, was sie weiß, aber sie wird doch wissen können, was sie zu wissen erwartet. Man lernt und hat gelernt, Wissen zu machen. Auch das ist bedeutsam, um zu verstehen, dass man Improvisation lernen kann. Im Zusammenhang der Untersuchung von Wissensformen der Ermöglichung eröffnet Goodman den Blick auf »the Ways of Worldmaking«, die in der medialen Praxis der Explikation auf ein Zusammenspiel von Wahrnehmung, Konzeption und Projektion setzen. Wie in der Einführung vorgreifend formuliert und im Laufe der Analyse zunehmend bestätigt, ist hier hinzuzufügen, dass derlei Zusammenspiel erst in der konkreten Praxis zu seiner Ontologie findet. Notwendig ist die Einsicht: Der konstruktive Umgang mit dem Provisorischen erweist sich als wesentlich, weil die Weisen der Stadterzeugung nicht in einem Entwurf erschöpfend dargestellt noch überblickt werden können. Die Frage nach der Form bzw. Organisation von Wissen schließt sich an. Das Nachzeichnen der Konturen performativen Wissens, des Begriffs gestalterischer Dia-grammatik über eine performative Kategorie der Strategie hin zur von Latour und Weick geführten Redesigndiskussion konnte deutlich 2 | Hierzu ausführlich: Dell: Die improvisierende Organisation. 3 | Vgl. Dell, Christopher: Prinzip Improvisation. Köln 2002.
4. Metaschaltung/Remix. Form-machen und Verschalten
machen, dass sich nicht nur die Bestimmung von Wissen als Form vom Objekt zum Machen hin verschiebt, sondern das Machen selbst problematisch wird. In diesem Zuge erfährt Improvisation in ihrem Verhältnis zur Form nicht nur eine neue Relevanz, auch ist mit jenem die Rekonturierung des Begriffs Improvisation selbst annonciert. Das mündet in einen Vorschlag dazu, wie das Verfahren einer technologisch gewordenen Improvisation, akkurates Wissen über Gegebenheiten und Möglichkeiten aus dem Inneren von Situationen heraus zu entwickeln, als ermöglichende Wissensform im Modus des Redesign relevant werden könnte. Wie bereits gezeigt ist das Gelingen dieses Vorschlags abhängig von einer Neu-Fundierung epistemologischer Arbei der Stadtforschung. Hierzu einige Bemerkungen. Galt Form der Stadtforschung einst als analytische Kategorie, auf deren Basis sich Bestimmbares auseinanderlegen oder zusammenführen lässt, wird innerhalb des Komplexes der Form nun eine Sicht gefordert, die das Unbestimmbare zur Voraussetzung allen Form-Machens hat. Daraus entspringt die Verhandlung über die gemeinsame und provisorische Komposition der Stadt. Solcherart Verhandlung erfordert eine Thematisierung der Bedingungen eines jeden Form-Machens und damit auch der Frage nach dem »Wer macht Form?« Mit der Frage nach der Wissensform wird explizit nach einer Konstellation und Situierung gefragt, in der Wissen so sein bzw. werden kann, dass es zum politischen Thema aufsteigt. Darin liegt eine fundamentale Kritik an einem erstarrten Wissensbegriff, vor allem aber am Postulat des direkten, unverstellten Zugriffs auf die Bestimmbarkeit von als vorgängig Behauptetem. Zwar kann die Wissensform nur in ihren Relationen zur Welt und den Dingen gedacht werden, weil anders der Wissensform keine Thematisierbarkeit als politischem Gegenstand zukommt. Dadurch scheint das Formmachen in der Relationalität zu einem bestimmenden Verfahren zu werden. Die Stadtforschung hat hier vor allem die Anerkennung der Unbestimmtheit als Grundlage allen Bestimmens zu interessieren. Wie aber wäre eine Situierung der Form zu denken, die durch ihre Relationalität bestimmbar ist, während das Formmachen selbst nicht als zu Bestimmendes aufgefasst werden muss? Sowohl Subjektivismus wie auch Objektivismus sind in ihrer Setzung einer Vorgängigkeit von zu Bestimmendem (Latour nennt das die »Politiken der Natur«) nicht in der Lage, Unbestimmtheit zur Aufklärung von Bestimmtheit einzusetzen. Die mise-en-forme der politischen Ökologie, wie sie Latour vorschlägt, ordnet sich nicht auf eine am bestimmten Seienden in der Stadt orientierte Bestimmtheit hin. Vielmehr zielt sie auf eine spezifisch zu gestaltende Selbstbestimmtheit, die sich aus der Orientierung an einer Bestimmungsleistung für die sinnlich erfahrbare Stadt ein Stück gerade so weit löst, dass es ihr möglich wird, sich für die Erfahrung der Unbestimmtheit eben dieser Materialität zu öffnen. Wenn wir damit fragen: »Wer macht Form?« reagieren wir auf die Unbestimmtheit der Wirklichkeit als sinnlich Realem und versuchen, den
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Horizont der Intentionalität neu abzustecken. Es geht der Weg in einer solchen kompositionalen Analyse weg von der Erkenntnisform des Bestimmens hin zur Erkenntnisform des Interpretierens, worin, könnte man mit Heidegger sagen, »der Horizont für Verständnis und mögliche Auslegung«4 von der Stadt zu gewinnen ist. Wissensformen der Ermöglichung können also nicht im idealistischen Sinne aus der Stadt heraus deduziert werden, weil an ihnen die Form die Situiertheit, also mithin den Ort des Unbestimmten, darstellt. Ein solcher Ort besteht aus Möglichkeit, er verzichtet auf jeglichenBestimmtheit implizierenden Selbstbezug von Subjekten. Einer Wissensform in diesem Sinne kommt, so meine These, keine argumentative Funktion für die Entwicklung von Bestimmtheit zu, sondern nur ein Status, ein Zustand, aus dem Mögliches bzw. Transformatorisches gedacht werden kann. Den Organisationsmodus für eine solche Wissensform zu finden – so zeigt Rheinbergers Konzeption der Experimentalsysteme – misst sich an dem Kriterium, den Status der Unbestimmtheit so zum Ausdruck zu bringen, dass der Übergang von Unbestimmtheit zur Bestimmtheit und der darin impliziten rekursiven Bewegung verstehenden bzw. ermöglichenden Gestaltens sichtbar wird. Das Modell des Organisationsmodus rechtfertigt sich weniger durch seine analysierbare Form oder unmittelbare Gewissheit, sondern durch die Fähigkeit, einen Prozess der Explikation in Gang zu setzen, der bestimmte Formen produziert und wieder in sich zurücknimmt. Das beinhaltet: Die Wissensorganisation bildet nicht fraglos eine Einheit, sondern muss Einheit durch Formen des Verständnisses über »Stadt« und des Verhandelns darüber beständig neu herstellen. Eine solch spezifische Form, die wir auch als Wissensform der Ermöglichung bezeichnen, ist kein bestimmtes Ding und versteht sich auch nicht von den in der Welt vorfindlichen Dingen her, sondern aus dem Horizont, in dem Mögliches ermöglicht wird. Dieser Horizont ist jedoch auf eine radikale Situierung mit den als Stadt vorfindlichen Dingen und deren Materialität angewiesen, um im sozio-materialen »Dawider« sein »Woraufhin« zu entfalten. Obwohl sich derlei Form des Wissens nicht unter einem bestimmten Begriff eines Subjekts oder Ichs subsumieren lässt, muss sie sich dennoch im Alltag unter solchen Begriffen darstellen und auffassen lassen. Das thematisiert, dass all dasjenige, was Stadtforschenenden im Alltag als gegeben, als bestehende Wirklichkeit zu begegnen und einen Imperativ des »Passe Dich an!« mit sich zu tragen scheint, »in Wirklichkeit« durch soziale Interaktion produziert wird. Was jedoch nicht bedeutet, dass es sich bei dem Glauben an die Identität weltlicher Dinge und ihrer sozial vorgegebenen Bestimmtheiten um ein im ideologiekritischen Sinne falsches Bewusstsein handele. Denn eine solche Sichtweise würde implizieren, dass es ein richtiges Bewusstsein gäbe, was wiederum die Bestimmtheit von Subjekten setzte. Im Falle der Wissensformen der Ermög4 | Heidegger, Martin: Sein und Zeit. S. 39.
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lichung aber geht es um den Status genuiner Unbestimmtheit, in dem nicht mehr die ausschließlichen Verhältnisse bestimmter Dinge zum Thema werden, sondern in der nach der Differenz als solcher gefragt werden kann, die Bestimmung überhaupt ermöglicht. Die Stadtforschung hat nach einer Struktur zu fragen, die Stadt so erschließt, dass sie die Form aufzeigt, wie die Stadt als performativer Akt geschieht bzw. produziert wird und damit das Komponieren einer gemeinsamen Stadt verhandelbar macht und einen Ort dafür gestaltet. Solchermaßen diagrammatisch gestaltetes Wissen wäre ein Ort der Möglichkeit des Aufeinanderprallens, des clashs mit der Stadtwirklichkeit und damit ein Ort des Ermöglichens, eines Verstehens von der Stadt, also ein Ort, an dem die Bedingungen eines gemeinsamen Formmachens mitthematisiert werden. Das setzt allerdings voraus, mit Lefebvre das Urbane als eine Welt der Begegnung von Differentem, von Heterogenität zu kategorisieren. Der Ort des performativen Formmachens ist demnach nicht die Realität selbst, sondern ein Ort des Zugangs zum Verständnis von Realität. Gleichermaßen meint eine Wissensform, die weiß, dass das zu Komponierende bestimmt wird, ohne dass es eine wahrheitsdifferente und damit vollständige Bestimmtheit mitbringt, nicht subjektive Spontanität. Denn ein solches Komponieren basiert eben gerade nicht auf apriorischer Bestimmtheit des Subjekts. Es rührt vielmehr von der unbestimmten Selbstbestimmung des Komponierens aus seinen jeweilig situierten Komponenten her. Wenn die Stadtfoschung auf Gegebenes rekurriert, vergisst sie bzw. übersieht sie allzu oft, dass die Eröffnung des Gegebenen auf einer Differenz gründet, mit der die Möglichkeit von Bestimmung bzw. Gestaltung beginnt. Dieses Vergessen um die Nicht-Vorgängigkeit des Bestimmten ist der springende Punkt: Es funktioniert im Alltag, taugt jedoch nicht für die Analyse des Alltags, die wir für Gestaltung benötigen. Die urbane Gesellschaft, in der Differenz und Differenzierung zur Bedingung alles Möglichen gehört, verlangt der Stadtforschung eine Struktur des Verstehens von der Stadt ab, die aus der kompositionalen Modifikation der Auffassung lebensweltlicher Horizonte resultiert. Nur in der sich ausdifferenzierenden Bewegungsspur jener kann die Struktur sichtbar werden (s. Kapitel Derrida). Der Begriff der Realität in diesem Sinne stellt die Stadtforschung kontinuierlich vor die Frage: »Worum geht es?« Wissensformen der Ermöglichung platzieren das »Woraufhin?«, das »Worum geht es?« an den Anfang, also eine Bestimmung der Relation des Woraufhin, in der möglich wird, die Unbestimmtheit von der Stadt nicht nur zu thematisieren, sondern auch die intentionale Differenz in ihrem ermöglichenden Grund als Bezug zum Ermöglichenden denkbar bzw. nutzbar zu machen. Die Bewegung dieser Ermöglichung selbst ist, das haben die Untersuchungen zur epistemischen Performanz gezeigt, nur diagrammatisch zu bespielen. Mit der gestalterischen Diagrammatik ist ein Werkzeug bzw. ein Verfahren beschrieben, dass die empirische Praxis des Forschens bzw. einer experimen-
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tellen Praxis zum Sprechen bringt. Mit einem Wissensdualismus von kognitiv repräsentiertem Wissen auf der einen und dessen Anwendung auf der anderen Seite lässt sich gestalterische Diagrammatik jedoch nicht erschließen. Sie rekurriert vielmehr auf eine mediale Praktik, deren Wissensbestände nicht vorab vorliegen, sondern sich »performativ, also aus der Praxis der Konfiguration und Rekonfiguration ergeben«5. Mediale Praktik bedeutet, dass Diagrammatik mit der praktischen Vermittlung von Emergenzen operiert, die nicht vorab deklarierbar sind. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Wissen der Diagramme selbst performativ ist. Dass das Wissen sich nur zeigt, wenn man etwas auf bestimmte Weise mit den Diagrammen macht, gehört mit zum Komplex der epistemischen Handlungszuammenhänge, der Stadtdarstellungen immer als Teil von der Stadt und Stadtproduktion interpretiert. Damit ist indiziert, das wir es nicht nur mit gestalterischen Diagrammen oder Diagrammatik zu tun haben, sondern auch mit einem Diagrammhandeln, das Krämer auch als »Diagrammspielen«6 bezeichnet hat. In dieses Machen bzw. Spielen ist eine Befähigung zum Umgang mit einem nicht-repräsentationalen Wissen, mit Erfahrungswissen, i.e. mit der Instrumentalisierung von Affizierungen eingebaut (s. Kapitel Performative Notation). Das lehrt die Stadtforschung, dass sie nicht nur Raumproduktion untersucht, sondern selbst auch Räume des Wissens produziert, während sie Teil von der Stadt ist. Eine gestalterische Diagrammatik der Stadtforschung hat somit eine »prozedurale Form von Wissen zum Gegenstand, welche nicht isoliert von kultureller und medialer Praxis gesehen werden kann« 7, weil sie aus eben jener Praxis performativ in situ produziert wird. Gleichzeitig ist das Wissen von der Stadt ohne eine performative Kompetenz, eine Art von reflexivem Handeln, nicht erschließbar. Angesichts dessen besteht das Grammatische an der gestalterischen Diagrammatik darin, dass Diagrammatik in ihrer Arbeit an der Regelung von Konfiguration und Rekonfiguration nicht per se unordentlich oder nur unordentlich in einem bestimmten Sinne, und zwar im Sinne der Planung, sich darstellt. Die Grammatik hat eine Grammatologie, die das ›Wohnen in den Strukturen‹ erlaubt, die sich aus dem Inneren der Strukturen heraus bewegt, anstatt im Vorhinein formal geklärt zu sein und an der sich das Lesen der raumproduzierenden Logiken durch die Stadtforschung konturiert (s. Kapitel Derrida). Genau deshalb sollte die Stadtforschung im Zusammenhang von Diagrammatik von einer relationalen Praxis sprechen, von einem Redesign, welches sich vor allem an dem analytischen Verschalten und Neu-Verschalten relationaler Gefüge und dem Verschieben und Freistellen von Parametern (z.B. Form/Struktur/Funktion), struktureller Elemente und der Gefüge untereinander abarbeitet. 5 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 22. 6 | Krämer: »Diagrammatisch«. 7 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 22.
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Oft wird gegen Diagramme eingewendet, sie seien beliebig oder subjektiv. Auf den Befund defizienter Diagrammwirklichkeit stößt indes paradoxerweise nur, wer als diagnostisches Instrument Diagramm und Objekt zusammenfallen lässt, also das Konzept zum Maßstab macht, und wer behauptet, dass es die definierende Eigenschaft des Diagramms sei, aus objektiven Elementen zu bestehen. Diese Auffassung wird dann bestätigt, wenn Diagramme nicht gestalterisch konzipiert sind. Auch hier ein Paradox: In der Architektur und der Stadtforschung finden sich einige Beispiele (von Ben van Berkel über Gregg Lynn bis Winy Maas), bei denen Diagramme 1:1 in Form umgesetzt wurden, womit, nach unseren Kategorien, zwar Gestaltung geschah, das Diagrammatische daran aber sein Gestalterisches verlor. Das Kriterium für das Attribut gestalterisch besteht darin, dass Lesbarkeit nicht von undiskutierbaren Tatsachen, sondern von der improvisationalen Perspektive diskutierbarer Tatsachen abhängt. Gewiss, gestalterische Diagramme bieten keine vorgängige, abgeschlossene Form. Sie sind aber auch weit davon entfernt, informell zu sein. Das formal Gestalterische besteht ja genau darin, auf performative Weise die abduktive Analyse am und mit dem Diagramm in Form zu bringen. Der Kunsthistoriker Steffen Bogen schreibt, dass mit dem Begriff diagrammatisch »eine spezifische Eigenschaft von Medialität« beschrieben werden soll, »die weder in der Logik der Schrift, noch in der des Einzelbildes aufgeht«8. Bogen zieht daraus den Schluss, dass Diagramme ein sowohl ästhetisches als auch epistemisches Phänomen darstellen, also auf die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst verweisen. Das erhellt, dass die Diagrammatik in der Darstellung der von uns oben beschriebenen Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft eine Schlüsselrolle spielt. Dem ist auch in Verweis auf die improvisationale Perspektive der Stadtforschung zuzustimmen: Gestalterisch orientierte Diagramme lassen sich nur aus jener heraus lesen. Dass Diagramme sich zwischen Schrift- und Bildlogiken bewegen, rückt sie erneut in die Nähe von Derridas Grammatologie oder umgekehrt: Derrida sieht Schrift überhaupt diagrammatisch. Damit hebt Derrida dasjenige hervor, das auch für ein diagrammatisches Arbeiten wesentlich ist: die performative Hervorbringung der Schrift immer im Blick zu halten. Genau deshalb kritisiert Derrida jegliche Berufung auf ein Außen, von dem aus ein »Spiel in der Welt«9 zu denken sei. Wirklichkeit (bei Derrida als diagrammatische Schrift) ist selbst als Performanz zu fassen: »Zuerst also muß das Spiel der Welt gedacht werden, und dann erst kann man versuchen, alle Spielformen der Stadt zu begreifen.«10 8 | Bogen, Steffen: »Schattenriss und Sonnenuhr. Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 68.2, 2005, S. 153-176, S. 175. 9 | Derrida: Grammatologie. S. 87. 10 | Ebd., S. 88.
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Unbestimmtheit avanciert somit zum Teil der Produktion von der Stadt. Um die Arbeit an und mit der Unbestimmtheit konstruktiv zu halten, bedarf es der Diagrammatik, die, wie wir sahen, aus dem Inneren der Strukturen her sich bewegt. Eine damit einhergehende dekonstruktive Analyse von Situationen ist nötig, um wieder konstruktiv ins Spiel zu kommen, um »mit Hilfe diagrammatischer Strukturen unsichtbare Relationen ›sichtbar‹ zu machen«11. Hierin liegt auch jenes Unabgegoltene in Derridas Denken, welches Rheinberger im Konnex der Wissenschaft wiederentdeckt und fruchtbar gemacht hat.12 Der Modus diagrammatischer Darstellung ist nicht-repräsentational, was jedoch nicht heißt, dass gar nicht mehr dargestellt würde. Im Gegenteil, es wird nur ›anders‹ dargestellt. Die Darstellung findet nicht mehr in dem Repräsentationsmodus des Eins-zu-Eins-Abbildes statt. Primäre Anschaulichkeit entfällt zugunsten aktiver Deutungsarbeit bzw. experimenteller Wissensproduktion. Das Wissen, das zu wissende Objekt wird im performativen Verfahren der diagrammatischen Darstellung erst produziert. Solcherart Wissensprodukte sind es, die der Verfasser »epistemische Handlungszusammenhänge« nennt. Der Wissensgehalt der Diagrammatik wie der epistemischen Handlungszusammenhänge bestimmt sich somit weniger durch Funktion denn durch Performanz, also Gebrauch. Von Derridas Problematisierung des Finalismus und der Teleologie erhalten wir zudem eine Problematisierung des von Lefebvre in die Raumdiskussion eingebrachten Produktionsbegriffs. Aber es gilt sie anders zu lösen: nämlich das Handeln – als Improvisation – neu zu denken, anstatt auszuweichen. Wir sagten mit Goodman, dass diagrammatische Notationen dazu verwendet werden können, uns Eigenschaften zu vergegenwärtigen, auf die wir uns unabhängig von exemplifikatorischen Darstellungsmöglichkeiten beziehen. Es bleibt aber weiterhin unklar, welche Konditionen wir dieser Wirkung zu Grunde legen können und dass uns das Diagramm als mediale Praxis »etwas anschaulich oder erfahrbar und uns somit kognitiv zugänglich macht, das wir begrifflich noch gar nicht erfassen«13. Wenn wir über das ästhetische Medium diagrammatischer Notation einen bestimmten Wahrnehmungskanal in Bezug auf Wissensproduktion14 öffnen wollen, so ist genau dies gemeint. Der Stadtfor11 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 29. 12 | Auch wenn Stjernfelt nicht von Derrida, sondern von Peirce ausgeht, kündet der Titel seiner Schrift Diagrammatology von einer diagrammatologischen Variante der Grammatologie: Stjernfelt: Diagrammatology. 13 | Bauer/Ernst: Diagrammatik. S. 351. 14 | Vgl. zum Terminus Wissensproduktion: Gibbons, Michael et al.: The New Production of Knowledge: The Dynamics of Sciences and Research in Contemporary Societies. London 1994 und auch die Website: http://knowledge-in-the-making.mpiwg-berlin. mpg.de/knowledgeInTheMaking/de/index.html (Zugriff 7.4.2014). Im Konnex von Gestal-
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schung muss es darauf ankommen, einen Wahrnehmungsraum zu schaffen, der in der Lage ist, Atmosphären, Verläufe, Prozesse auszudrücken, die wir weder als vorgängig gegeben voraussetzen noch begrifflich fassen können. Auf den erkenntnistheoretischen Level sind diese Artikulationen jedoch erst dann zu heben, wenn die Stadtforschung damit Vorgänge, Ereignisse identifizieren kann, die sie entweder mit begrifflichen Beschreibungen versieht (die begriffliche Beschreibung einer Technologie der Improvisation könnte ein Beispiel sein) oder Beschreibungen zuordnet, die sie schon hat. Diagramme fungierten dann als Modell: Erkenntnis würde an einem mit dem Diagramm korrelierenden Gegenstand gewonnen und es entstünde damit Wissensproduktion. Was aber nicht heißt, dass diese Form der Homologie von den Eigenschaften von Prozessen immer dem physischen Moment der Wahrnehmung nachgeschaltet sein muss. Wir können also sagen, dass in der Öffnung der medialen Praktik der Diagrammatik als Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfeld bereits die Möglichkeit liegt, das Modell als antizipatorisches Feld für eine Erkenntnis bezüglich der Raumproduktion bzw. des Redesigns zu instrumentalisieren. Das kündet von einer Übung im relationalen Denken, das Stadtforschende dazu befähigt, die Relationen zwischen zwei Tätigkeiten – in unserem Fall dem Gestalten und dem Wissensproduzieren als Form, Struktur und Funktion eines Tuns – als improvisationalen Verlauf des Forschens in den Blick zu nehmen. Der Bezugnahme auf das Performative ebenso wie dem Improvisationalen gilt damit auch ein anderer Mimesisbegriff: Nachahmung bleibt darin nicht abkömmlich, sie folgt aber nicht dem Repräsentationsmodell der direkten Abbildung. Vielmehr eröffnet der Vorgang des Nachahmens als Nachvollzug ein Neues, fungiert sozusagen als Milieu für Transformation der Immanenz. Die Stadtforschung erfindet nichts neu, sondern befähigt bzw. ermächtigt sich dazu, Potentiale von Situationen zu deuten bzw. hervorholen. Aus dem Nachahmen und Nachvollziehen raumproduzierender Prozesse via diagrammatischem Denken resultiert eine neue Haltung zum Gegenstand Raum: Stadtforschende versetzen sich in gewisser Weise in die Lage, den Prozess der Organisation in seiner Relationalität (als Bedingung der Erkenntnis durch Muster) zu erfassen. Das gestalterische Diagramm wäre dann das öffentlich zugängliche Produkt, das die Stadtforschung daraufhin befragen könnte, in welcher relationalen Hinsicht, d.h. auf welche spezifischen Raumzusammenhänge hin, es eine epistemologische Wirkung entfaltet, die Stadtforschung also Erkenntnisse über den Stadtraum als Wissensspeicher gewinnt. Da es sich dabei auch um einen ästhetischen Vorgang handelt, spielt das Imaginative des Nachvollzugs eine Rolle, das Stadtforschung, als Rahmen und imaginatives Mittel zweiter Ordnung, durch Beschreiben oder durch Handlungen, tung: Mareis/Joost/Kimpel: Entwerfen – Wissen – Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext.
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zugänglich machen kann. Der Kern dieser Arbeit liegt dann im strukturellen Nachvollziehen von Vorgängen: »Der Nachvollzug ist daher in der Wahl seiner Mittel freier, seine Beziehung auf den Gegenstand nimmt nicht am Eintreten vergleichbarer Effekte Maß, sondern an den Strukturen und Erschließung des Gegenstands, und zwar entlang von Eigenschaften, die der Gegenstand durch den Nachvollzug gewinnt und nicht schon aufweisen muß.«15 Zum Entscheidenden bei der gestalterischen Diagrammatik gerät dabei, dass die Stadtforschung etwas von der Wissensproduktion über den Kanal der medialen Praktik zum Ausdruck bringt bzw. exemplifiziert. In Erweiterung zum mimetischen Vorgang, der voraussetzt, dass der nachzuahmende Gegenstand bereits bestimmt ist, öffnet die Kategorie des Nachvollzugs ein Feld neuer Erkenntnisse über die Organisation als strukturiertes Ereignis. Die Stadtforschung gewinnt daran Einsicht in Struktur, über die sie unabhängig von dem Nachvollzug über die gestalterische Diagrammatik (als Notation) gar nicht verfügt hätte. Genau deshalb muss man der diagrammatischen Notation neben der analytischen auch eine gestalterische oder produzierende Ebene zusprechen. Das gestalterisch Ermöglichende daran ist, die Form des wissensproduzierenden Tuns nicht nur analytisch zu erfassen, sondern auch produktiv weiterzudenken, indem man diese Form re-konstruiert, neu versammelt. Das hilft vor allem in denjenigen Forschungssituationen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie uns strukturlos und damit als nicht nachvollziehbar erscheinen (und die, so können wir mit Latour konstatieren, gegenwärtig in ihrer Zahl zunehmen). Die metaästhetische Perspektive markiert hier den springenden Punkt der Fragestellung: Wir werden nicht nur auf Grenzen unseres Nachvollzugs aufmerksam gemacht, sondern kommen in die Lage, im improvisatorischen »Diagrammspielen« diese Grenzen zu erweitern. Das beinhaltet auch, die Vielfalt der Wahrnehmungen in relationaler Weise so aufeinander zu beziehen, dass Stadtforschende sie als Sinnzusammenhang erfahren. Entscheidend an diagrammatischer Medialität ist dabei, dass das Diagramm an sich für uns nichts sagt, aber aus der Konstellation seiner wahrnehmbaren Eigenschaften einen Sinn für uns entfalten kann. Was man also an der diagrammatischen Notation lernt, ist vor allem auch ethischer Natur: eine Haltung einzunehmen, die man mit Vogel als »Bereitschaft zu diesen Nachvollzügen beschreiben kann«16. Ist diese Haltung etabliert, so ist sie, das ist unsere Überzeugung, nicht an spezifische visuelle Darstellungen gebunden, auch wenn sie sich an ihnen entwickelt hat. Das Berufen auf gestalterische Diagrammatik leitet sich vielmehr von der These her, dass eine solche Form des Verfahrens ermöglichen hilft, auch die Wahrnehmung anderer Situationen in anderer Weise zu strukturieren und Perspektiven in Bezug auf Raum zu verändern. Der Perspektivwechsel stellt 15 | Vogel: »Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns«. S. 360. 16 | Ebd. S. 365.
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sich nur dort ein, wo Nachvollzug von Raum als diagrammatisch gedachter Vorgang sich konstruktiv in Erfahrung integrieren lässt. Dies impliziert für die Stadtforschung, auf ein Redesign hinzuarbeiten, das in seinem Organisationsverlauf Praktiken von Selbstorganisation, Unbestimmtheit und Ermöglichung in sich aufnimmt und »besitzt«. Ein solches Redesign exemplifizierte, wie Goodman betont, »keine normalen oder vertrauten Handlungen, sondern vielmehr Rhythmen, Strukturen und dynamische Figuren.«17 Und darin liegt genau der Mehrwert, den das Redesign für die stadtforschende Reflexion über Wissen produziert: »die exemplifizierten Strukturen und Eigenschaften können die Erfahrung reorganisieren, indem sie normalerweise nicht miteinander verknüpfte Handlungen miteinander in Beziehung setzen oder andere, gewöhnlich nicht differenzierte voneinander unterscheiden.«18 Im Prozess diagrammatischer Operationen von der Stadtforschung zeigt sich die immanente Struktur der Performanz. Das Diagramm als »operative Gesamtheit«19 ist, konstatiert Deleuze in seiner Auseinandersetzung mit dem Maler Bacon, »eine faktische Möglichkeit, es ist nicht das Faktum selbst. Nicht alle figurativen Gegebenheiten dürfen verschwinden; und vor allem muß eine neue Figuration, die der Figur, aus dem Diagramm hervortreten und die Sensation ins Klare und Präzise führen.«20 Die entscheidende Drehung, die Deleuze hier vollzieht, besteht darin, das Blatt, auf dem etwas eingezeichnet wird, nicht mehr als leer, sondern als voll zu interpretieren. Zwar ist das Blatt (als Situation) formal unterbestimmt, aber strukturell voll – voll an strukturellen Verweiszusammenhängen bzw. zu aktivierenden Relationen und Möglichkeiten. Das hat Auswirkungen darauf, wie die Stadtforschung Gestalten verstehen kann. Wenn mit Deleuze die Performativität des Gestaltens als Rechercheprozess in den Blick genommen wird, verschiebt sich die Frage von der Form hin zur Funktion – aber nicht im Sinne des Funktionalismus, der formal von Außen her agiert, sondern als ein inwendiger, umgedrehter »reverse«-Funktionalismus, der aus der Bewegung des Stadt-Machens selbst kommt.21 Stets betont Deleuze die produktive Funktion des Handelns und setzt sie in Korrelation mit dem Begriff des Diagramms. Das klassische Problem des Anfangens, des Gestaltens als Eureka, löst sich dabei in Luft auf oder wird zumindest umformuliert. Einst galt dem Gestalten die Angst vorm Anfangen – denn nur das Genie wusste, wie eine neutrale, leere weiße Fläche zu füllen ist. Deleuze dreht die Sache um: Es geht gar nicht mehr darum, ex nihilo Neues zu 17 | Goodman: Sprachen der Kunst. S. 70. 18 | Ebd. 19 | Deleuze: Logik der Sensation. S. 63. 20 | Ebd. S. 68. 21 | Vgl. Dell: »Reverse Functionalism. Deleuze and the Structure of Diagrams«.
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kreieren, sondern das, was ist, in neue Relationen zu bringen. Die Wendung geschieht unter Einbezug der affektiven Bewegung: Wie das Diagramm improvisatorische Markierungen der A-Signifikanz herstellt, so bündeln sich die Affizierungen in a-signifikanten »Empfindungsmarken«22. Der Rationalraum der Vernunft tritt hinter eine Performativität des Machens zurück. Die rationale Souveränität geht verloren, die Stadtforschenden lassen sich selbst blind sein und überlassen sich ihrer diagrammatischen Bewegung. Das dabei entstehende Diagramm bildet – als epistemischer Handlungszusammenhang, der sowohl Handlungs- wie auch Darstellungsform einschließt – die operative Totalität der Linien und Zonen, der a-signifikanten und nichtrepräsentativen Bildschriftlichkeit. Anders als beim Funktionalismus, in der das Diagramm das Bild der Stadtfunktion ist, stellt das Diagramm beispielweise bei dem Atelier Bow Wow für sich selbst noch kein pikturales Faktum dar, sondern ist Keim: Das Diagramm ist zwar voller Unbestimmtheit, »aber auch der Keim von Ordnung und Rhythmus«23. Das Diagramm bildet sozusagen ein strukturelles Anordnungsfeld, das nicht formal abgeschlossen ist, sondern eine minimale Struktur, die benötigt wird, um den Prozess des intervenierenden Stadtlesens offen und gleichzeitig stabil zu halten. Das macht das Diagramm performativ: Es entwirft ein Feld nicht hypothetischer, sondern faktischer Möglichkeiten. All dies führt die Stadtforschung zu dem überraschenden Schluss, dass es in ihren Bewegungen des Improvisationalen durchaus eine Logik gibt – Deleuze nennt sie die Logik der Sensation oder auch atonale Logik. Die Fragestellung dieser Logik besteht in der Bestimmung der Relation von faktischer Möglichkeit und (virtuellem) Faktum. Die Bedingung einer solchen Logik entspringt der radikalen Verbindung der Ästhetik mit ihrer Konzentration auf das Relationale. Daran knüpft sich, dass der Status der faktischen Möglichkeit auf die Konstellation der Sinnesmodalitäten und damit der Form des Erfahrungsraumes angewiesen ist. Weil in Konstellationen und Nachbarschaftsordnungen gedacht werden muss, ist atonale Logik immer räumlich und umgekehrt das Räumliche relational. Entscheidende Hilfen zum Verständnis einer solchen Arbeit am Relationalen bringt in die diagrammatische Reflexion zweifellos die Rede von der »subtraktiven Synthese« ein. Sie beschreibt Diagrammatik am Modell des analogen Synthesizers. Auf dem Weg will Deleuze das diagrammatische Verfahren vor allem auf seine Modulationskapazität hin bestimmt wissen. Das Diagramm wäre demnach als relationales Verschalten verschiedener subtraktiver Filter zu verstehen, deren spezifische Relationen im Verfahren der subtraktiven Synthese als Modulation zu einem Ganzen konvergieren: »Das Diagramm, Träger der analogen Sprache, wirkt nicht als Kode, sondern als Modulator […] wenn es operativ ist, definiert es faktische Möglichkeiten, indem es die Linien für das Gerüst und die Farben 22 | Deleuze: Logik der Sensation. S. 63. 23 | Ebd.
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für die Modulation befreit. Linien und Farben können dann die Figur oder das Faktum bilden, d.h. die neue Ähnlichkeit im visuellen Ensemble erzeugen, in dem das Diagramm wirken, sich verwirklichen muss.«24 Die Performanz der abstrakten Maschine Stadtforschung, deren Wesen sich aus dem Zusammenspiel einzelner Wirkungsmomente zusammensetzt, kann als Ausgangspunkt für eine Theoriebildung der gestalterischen Praxis dienen, die Form offen zu halten sucht. Kern einer Wissensform der Ermöglichung bestünde vor allem in der Frage danach, wie man Diagrammatik gestalterisch ins Werk setzen kann, wie man die Wirkmomente der im Diagramm enthaltenen Performativität nutzen und improvisational ins Spiel bringen kann, sozusagen als kontrollierter Umgang mit der Unordnung von Verhältnissen und Möglichkeiten. In diesem Kontext bedarf es einer Erfindung und Anwendung von Filtern, die durch eine subtraktive Synthese produktive Zusammenhänge erscheinen lassen und deren Verläufe in kataloghaften Serien zu fassen sind.
Wissen des Diagramms Im Kontext der Wissensformen der Ermöglichung geht es um die operativperformative Dimension gestalterischer Diagrammatik. Mit Krämer ließe sich sagen: »Der operative Kern der Diagrammatik besteht in der Performanz einer in ihr angelegten Modellbildung.«25 In der Diagrammatik wird demnach die ›passive‹ Repräsentationsstrategie einer vorgängig gegebenen Abbildung hin zu einer ›aktiven‹, performativ-gestaltenden Dimension durchbrochen. Wenn diagrammatische Darstellungen der Stadtforschung, wie sie bei Koolhaas, Atelier Bow Wow, Venturi und Scott-Brown, Kniess oder anderen auftauchen, immer vollziehen und zeigen, was sie beschreiben, so können sie dies immer nur experimentell und unscharf tun. Derlei konturierte Diagrammatiken schalten nicht ein als reale Stadt gegeben Behauptetes vor, sondern erzeugen mit dem im diagrammatisch beschriebenen Modell einen Rahmen für praktische Stadterschließung. Darin liegt ihre Performativität begründet und umgekehrt: Gerade auf Grund seiner Performativität lässt sich das diagrammatische Modell nicht essentialisieren oder naturalisieren. Gestalterische Diagrammatik rekurriert auf eine Performativität des Wissens dahingehend, dass sie mit Emergenzphänomenen epistemischer Handlungszusammenhänge hantiert, die nicht allein deklarativ regelbar sind. Sie funktioniert bezüglich des Verfahrens des Verschaltens und der Rekurrenz wie eine Sprache insofern, dass sie eine mannigfaltige Anzahl an Konfigura24 | Ebd. S. 74. 25 | Krämer, Sybille: »Die Schrift als Hybrid von Sprache und Bild«. In: Hoffmann/Rippl (Hg.): Bilder. Ein (neues) Leitmedium? Göttingen 2006, S. 88.
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tionen und Rekonfigurationen erlaubt. Im Unterschied zur Sprache jedoch ist sie nicht auf ein bestimmtes Medienformat begrenzt. Wo ihr Gegenstand eine prozedurale Form von Wissen vorstellt und sie erst aus der Performanz, also dem jeweiligen Anwendungsfall von Praxis hervorgeht, so kann sie nicht getrennt von der ihr eigenen medialen Praxis betrachtet werden. Umgekehrt ist die Befähigung zur Diagrammatik nicht abgelöst von Praxis beschreibbar, sie zeigt sich in der performativen Kompetenz der Forschenden. Weil in ihm mediale Praxis und Erkenntnis konvergieren, lässt sich sagen, dass mit dem Diagramm eine spezifische Form der Medialität beschrieben ist, »die weder in der Logik der Schrift noch in einer Phänomenologie des (Einzel-)Bildes aufgeht«26. Das Gestalterische am Diagramm wächst mit dessen Hybridität: An ihr lässt sich sowohl auf das epistemische Phänomen wissenschaftlichen Arbeitens wie auf das ästhetische Phänomen gestalterischer Praxen verweisen. »Das Diagrammatische ist also ein Kriterium, um die Austauschbewegungen zwischen Wissenschaft und Kunst zu betrachten.«27 Da bestimmte Relationen in epistemischen Handlungszusammenhängen der Stadt erst mit Diagrammen strukturell sichtbar gemacht werden können, wird mit dem Diagramm sozusagen der Gegenstand der Erkenntnis als diskursiver Gegenstand erst performativ hervorgebracht. Das erschließt sich auch über Rheinbergers Rede von den epistemischen Dingen.28 Das in gestalterischen Diagrammen eingelagerte Wissen ist immer improvisatorisch dahingehend, dass es als Fähigkeit definiert werden kann, abstrakte Symbole mit konkreten Handlungen zu verbinden. Diagrammatik unterscheidet sich daher insofern von der Empirie, dass sie Wissen nicht als etwas vorgängig zu Entdeckendes interpretiert. Auch für Gestaltung selbst hat dies eine Konsequenz, nämlich die, sich nicht auf eine, im externalisierten Rationalraum der Vernunft vorhandene oder erstellte ideale Form als Grundlage eines angenommenen Plans zu berufen, der im zweiten Schritt zur Anwendung kommen soll. Gestaltung – als improvisational orientiertes Redesign – zeigte sich vielmehr als ein Verfahren, »das aufzeigt, wie Wissen in actu formuliert wird«29. Die in die improvisationale Arbeitsweise des Diagrammatischen eingeflochtene strukturelle Dimension weist die Stadtforschung auf das kataloghafte, serielle Verschalten relationaler Gefüge (agencements) hin, bei denen unterschiedliche Parameter und deren Kopplungen rekonfiguriert werden können. Während sich Rekonfigurationen für die Stadtforschung aus situationsspezifischen materialen, sozialen und affektiven Ressourcen ergeben, erweit sich die diagrammatische Operation in ihrer Performanzbezogenheit vor allem als eine Verschaltung von Struktur (Regelwerk, kleinste Einheit des Ensembles) und Funktion (Ge26 | Bogen, Steffen: »Schattenriss und Sonnenuhr«. S. 75. 27 | Braun/Ernst: Diagrammatik. S. 29. 28 | Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. 29 | Braun/Ernst: Diagrammatik. S. 23.
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brauchs- und Funktionslogik von Gegenständen, Sachverhalten und Prozessereignisreihen). Auf der Ebene der Verwendung erlaubt das diagrammatische Arbeiten der Stadtforschung die performative Transformation der im Diagramm enthaltenen Relationen bzw. Nachbarschaftsordnungen. Die Darstellungen dieser Arbeit (als Zeichnung, hybride Darstellung, Text oder auch Aktion bzw. Intervention) konturiert sich als mediale Praxis zur Veranschaulichung des in dem diagrammatischen Arbeiten gewonnenen (rohen) Datenmaterials. In seinem Verweis auf die Performativität ist das diagrammatische Konfigurieren und ReKonfigurieren ein Verfahren, das das Erforschen stadträumlicher Situationen als Gestaltungsaufgabe wahrnimmt und begreift, an der alle an einer bestimmten Raumsituation beteiligten Akteure als Raumproduzenten verstanden werden.
Zur Sichtbarmachung: Notation der Raumproduktion Der Verfasser gründete das Axiom der Suche nach Wissensformen der Ermöglichung auf der Rede von der ›Logik des raumproduzierenden Handelns‹. Dabei identifizierte er das Untersuchen der spezifischen Form der Wissensproduktion solcher Praktiken, deren Repräsentation und deren Handlungsverständnis als zentrale Fragestellungen. Eine solche Untersuchung führte zu weiteren Fragen: Wie lassen sich die Gesamtheiten der Kenntnisse und Techniken beschreiben, die es ermöglichen, situativ-relationale Raumlogiken sprechen zu lassen, also deren Potentiale sichtbar zu machen? Wie lassen sich die strukturellen Merkmale, Funktionen, Formen urbaner Situationen so beschreiben, dass sichtbar wird, was sie als Performanz instituiert und wie ihre Verbindungen und Verkettungen und die Gesetze ihrer Verkettungen bestimmbar und erweiterbar werden können?30 Wie greifen in diesem Forschungs-Diagramm Perzeption (phänomenologische Wahrnehmungsarbeit, Epoché), Konzeption (Sichtbarmachung, Darstellung), Projektion (Projektarbeit) und Improvisation (Ontologie der Transformation) ineinander? Es lässt sich bereits sagen, dass es sich bei der Vorgehensweise der Sichtbarmachung von Stadtsituationen und deren raumproduzierenden Logiken nicht um eine abschließend wirkende Erkenntnisform oder Homologie handeln kann. Vielmehr gilt es, Sichtbarkeit strukturell offen zu halten und mit Unmittelbarem und Unsichtbarem als Erfahrung zu verschränken, denn ein homologes System würde die neuen Anschlussmöglichkeiten, neuen Nachbarschaftsordnungen auslöschen. Die hierbei entstehenden Notationen sind nicht das, was die Situation ist, sie repräsentieren sie nicht in dem Maße, dass sie einen abgeschlossenen Sinn als Form darstellen. Vielmehr werden die Elemente urbaner Situationen in unterschiedlichsten medialen Spuren aufgezeichnet (recording the city), um so gruppierte, geclusterte Elemente zu erhalten, die in 30 | Foucault: Ordnung der Dinge. S. 60.
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einer Art komparativen Recherche einer temporären Hierarchie zugeführt werden und damit die Bedingungen der Situation als Struktur, Form und Funktion und deren praktische Möglichkeiten offenlegen. Mit dem Erfahrungsbegriff ist hier also nicht Unmittelbares zu hypostasieren, sondern in die Materialität von Diskursen und die Macht, Wirklichkeit produzieren zu können, gebettet. Macht konstituiert indes Wirkliches nur über die Strukturierung von Erfahrung. Gleichzeitig bestimmt der Wissensraum der Diskurse die Bedingungen möglicher Erfahrung. Erfahrung meint hier also Korrelation, »die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektformen besteht«31. Wissensformen der Ermöglichung sprechen davon, (urbane) Situationen weder vom Standpunkt des wissenden Problemlösers noch vom Standpunkt rein instrumentell-rationaler Planung aus zu erforschen, sondern ein Arrangement des Forschens als gestalterisches Diagramm auszubilden. Als Kriterium gilt: Das Diagramm ermöglicht, die Forschung so zu orchestrieren, dass die Gestaltenden vom Standpunkt der Elemente, der Materialien, der Skripte, der Kollektive, der strukturellen Regeln einer spezifischen Situation her ins Spiel kommen. Die wissenschaftliche Übertragbarkeit von Gestaltung (im Sinne künstlerisch-performativen Forschens) besteht nicht in dem hermeneutischen Sinn der Situation, sondern im situativen Verfahren des konstruktiven Umgangs mit der An-/Unordnung der Situation in Gemeinschaft als Prototyp einer Technologie der Improvisation. Das Präfix ›An-‹ steht für die Relationalität der Nachbarschaften und gleichzeitig für die Möglichkeit, Nachbarschaften für etwas nicht an einem Ort befindlichen, weit voneinander entfernt liegendem zu erstellen, und so Ähnlichkeit von (typologischen) Merkmalen auch über Distanz deuten zu können. Demgegenüber bedeutet das Präfix ›Un-‹, Differentes und Heterogenes an einem Ort ›in Nachbarschaft‹ zusammenzubringen, zu versammeln und so zum einen Kräfte zu mobilisieren und zum anderen das Frequenzspektrum einer Situation zu erhöhen. Dies lässt sich im Maßstab übertragen. Man kann auch Nachbarschaftsordnungen von (z.B. in einem Stadtteil) angeordneten Punkten erstellen und damit das Frequenzspektrum einer stadtbezogenen Forschung erhöhen. Insofern besteht das Ziel einer solchen Stadtforschung darin, eine neue Ebene der Sichtbarkeit innerhalb des Verfahrens der Sichtbarmachung zu erreichen und dieses so als Prototyp erkennbar werden zu lassen.32 Das Gruppieren von Elementen findet dann strukturell-vektoriell statt, weil es den Elementen Kräf31 | Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt a.M. 1997, S. 10. 32 | Vgl. zum Verständnis des Prototyps als strukturelle Form siehe: Dell, Christopher: »Notes sur le projét de Civic City«. In: Baur/HEAD (Hg.): Le prototype comme outil. Genf 2014.
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te gibt, die sie einander nahe bringen oder sie entfernen, neue Konstellationen als einer Art übergeordnetes Ordnungssystem (= Metaform) ermöglichen, dem Unordnung nicht nur inhärent, sondern konstituierende Kraft ist. Diese Kraft verbirgt sich sozusagen an der Grenze zwischen Sichtbarkeit und NichtSichtbarkeit. Wenn also die nicht-repräsentationalen Notationen (Diagramme) nicht mehr unmittelbar den Situationen ähneln, die sie bezeichnen, so sind sie dennoch nicht von diesen Situationen getrennt. In einer anderen Form sind sie weiterhin ein Ort der Sichtbarmachung und partizipieren an dem Raum und dessen relationalen Logiken, in dem sich die Möglichkeiten, die Virtualitäten der Situation äußern. Notationen der Stadt gelten so als Zeichen unsichtbarer Analogien, Relationen und deren Performativität. Ordnung und Unordnung sichern sich in ihrer gegenläufigen Tendenz ab. Ordnung hat die Kraft und Tendenz, die dispersen Elemente einer Situation zu assimilieren und zu homogenisieren. Diese Bewegung wird von der Unordnung kompensiert, welche die Dinge fragmentiert und in ihrer Isolation belässt und gerade dadurch die Spannungen der Relationalität als Energie erhöht. In dem Wechselspiel von Unordnung und Ordnung als relationaler Anordnung zeigen sich die Situationen als Räume der prozessualen Transformation, die ihre Anker, Anhaltspunkte, Strukturen im Verlauf des Verfahrens im Rückgriff auf die Neuversammlung von Vorhandenem mit herstellen. In dem die Notationen als performative Diagramme diese Bewegung ergreifen, sich in diese Bewegung fallen lassen, hören sie auf, sich von gegebenen Ordnungen, Repräsentationen, »passiv durchqueren zu lassen«33. Sie bemächtigen sich ihrer unmittelbaren und unsichtbaren Kräfte, befreien sich genug, »um festzustellen, dass diese Ordnungen vielleicht nicht die einzig möglichen oder die besten sind.«34 Noch einmal zusammengefasst: Als hoch instruktives Modell der Untersuchung von und Arbeit an Raumproduktion bietet sich der Stadtforschung gestalterische Diagrammatik (als Redesign) in improvisationaler Perspektive an. Ihre performativen Techniken strukturieren sich unter folgenden Punkten: a. Sichtbarmachung der Elemente urbaner Situationen b. Sichtbarmachung der seriellen Verkettung der Elemente (= Katalog) als relationale (An-/Un)ordnung (a+b = Offenlegen der Bedingungen einer Situation) c. Sichtbarmachung der neuen Verschaltoptionen und Kräfte, die in der relationalen An- und ihrer gleichzeitigen Unordnung liegen, sowie das d. Erstellen von performativen minimalen Strukturen (als Hubs oder verdichtete, revers-funktional (= performativ) aufgeladene Elementkerne), die neue Performanzen (Nutzungen, Gebräuche) gleichzeitig ermöglichen und in 33 | Foucault: Ordnung der Dinge. S. 23. 34 | Ebd.
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ihrer Unbestimmtheit belassen. Denn gerade in der Unbestimmtheit liegt jene Ressource, von der das Arrangement zehrt bzw. seine Energie bezieht. Angesichts dessen gerät das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Denken und Handeln zum entscheidenden Kriterium für die Operationalität der Form des Stadtwissens. Deshalb sind jene diagrammatische Verfahrensweisen, die Darstellungssysteme und Raumpraktiken als relational interpretieren und verknüpfen helfen, wichtig. An ihnen werden die Rohmaterialien von Gestaltungssprozessen auf neue Weise relevant: nicht als mögliche Fehlentscheidungen, die zugunsten einer besseren Gestaltung fallen gelassen wurden, sondern als Material, das in Form medialer Praxis hervorgebracht und als gestalterischer Prozess in einen Speicher neuer Verschaltmöglichkeiten einzuführen bzw. –fügen ist. Mit Krämer lässt sich sagen: »Das Diagrammatische ist ein operatives Medium, welches infolge einer Interaktion innerhalb der Trias von Einbildungskraft, Hand und Auge zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn vermittelt, indem Unsinnliches wie beispielsweise abstrakte Gegenstände und Begriffe in Gestalt räumlicher Relationen verkörpert und damit nicht nur ›denkbar‹ und verstehbar, sondern überhaupt erst generiert werden. Die Signatur unserer Episteme verdankt sich in vielen Hinsichten den Kulturtechniken des Diagrammatologischen – bleibe dies nun implizit oder sei es explizit.«35
Phänomenologisches Wahrnehmen und Performativität Wird aber damit nicht auch nach einer bestimmten Form von Präsenz bzw. Wahrnehmung gefragt, die Stadtforschende erst in die Lage versetzt, an Potentiale urbaner Situationen heranzukommen? Mit Fischer-Lichte gilt indes: »Präsenz ist keine expressive, sondern eine rein performative Qualität. Sie wird durch spezifische Prozesse der Verkörperung erzeugt.«36 In ihrer Definition von Präsenz unterscheidet Fischer-Lichte zwischen zwei Modi, der schwachen und der starken Präsenz. Anhand der starken Präsenz setzt »der Darsteller seinen phänomenalen Leib als einen raum-beherrschenden und die Aufmerksamkeit des Zuschauers erzwingenden«37 ein. Diese Fähigkeit zur Präsenz kommt nicht von allein, ist nicht einfach da, sondern verdankt sich bestimmter Disziplinen, Techniken, Praktiken. Schwache Präsenz wird von Fischer-Lichte als Gegenwärtigkeit bezeichnet, »wie sie mit der bloßen Anwesenheit des phänomenalen Leibes des Akteurs gegeben ist«38. Die Fragestellung der Präsenz ist für uns in zweifacher Hinsicht relevant: Zum einen sind Präsenz und ihre 35 | Krämer: »Die Schrift als Hybrid von Sprache und Bild«. S. 105. 36 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 165. 37 | Ebd. 38 | Ebd., S. 163.
4. Metaschaltung/Remix. Form-machen und Verschalten
energetischen Level Ressource eines performativen Urbanen, zum anderen steht sie im Kontext dessen, was wir als gegenwärtige Stadt bezeichnen, denn: Präsenz kommt dann ins Spiel, wenn wir versuchen, einen Sinn für die Gegenwart von der Stadt überhaupt zu entwickeln, wenn wir die Gegenwart, die wir als Raumproduzenten sowohl erleben als auch mit erzeugen, für eine zukünftige Praxis konzeptionalisieren wollen. Dies wiederum wirft neue Fragen auf. Was ist unter urbaner Präsenz zu verstehen, unter den Energien des Performativen, den Potentialen dessen, was Nigel Thrift »the politics of affect«39 nennt? Was tritt in Erscheinung, wenn das Urbane performt wird? Es sind die Performancekünstler, die sich in dem Bereich von Theater, Performance, Aktion, Happening den 1960er Jahren genau an dieser Problematik abarbeiteten und abarbeiten. Zu Beginn war es ihre Strategie, den Gegensatz von Präsenz und Repräsentation zu verstärken. Die Strategie ermöglichte der Disziplin, »das Phänomen der Präsenz zu isolieren und sozusagen zu ›vergrößern‹.«40 Ziel war es vor allem, neue Rahmungen und Konzepte zu erfinden, auszuprobieren und zu praktizieren, die die repräsentationale Konvention des Theaters, von Autoren erstellte Fiktionen, als gegenwärtig darzustellen. Könnte nicht die Stadtforschung dieses Korrektiv heute gut gebrauchen? Gälte es nicht, im Rückgriff auf die Performancekunst, einen Transfer zu wagen und der Repräsentation die Forderung nach realer Gegenwart gegenüber zu stellen? Was sich als Performance ereignet, ist als urbane Alltäglichkeit real, ereignet sich in real-time, als realer Raum, als absolute Gegenwärtigkeit. Ein solcher Status ist in die Stadtanalyse einzubeziehen, denn das Phänomen der Präsenz von der Stadt ist jene Kraftquelle, die das Städtische zu transfomieren vermag. Die embodied presence des Urbanen als Performance sieht jenes als aus Handlung entstehend, als dauerndes Werden, als mal zirkuläre, mal punktuelle Energie, die, so unsere Ansicht, als transformatorische Kraft sich radikalisieren ließe. Was wiederum bedeuten würde, das Konzept Präsenz zu entdramatisieren: Es ginge gerade um das Gewöhnliche, das Alltägliche der Stadt oder in der Untersuchung um eine Freistellung und Rekombination des Alltäglichen, um es zu verstärken. In diesem Konzept ermöglicht es die Präsenz, das Gewöhnliche, innerhalb bestimmter Rahmungen auffällig werden zu lassen. Das Paradoxon dieses Konzeptes ist: Diejenigen, die diese Präsenz funktionalisieren und instrumentalisieren, verdecken gerade die Präsenz als blind field. In der Untersuchung der Präsenz der Stadt würde es darum gehen, eben jenen blinden Fleck aufzuspüren und zu öffnen, nicht in der Form des Effekts, sondern des Sensiblen. Und genau hierin zeigt sich der Kern des embodiement als Konzeption für Wissensformen der Ermöglichung. Nötig sind Konzepte, Aktionen, die zeigen 39 | Thrift, Nigel: Non-representational Theory. New York 2008, S. 182. 40 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 167.
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können, wie das Dérive, die Epoché, das meditative Sich-der-Stadt-Überlassen oder das In-Situationen-Hineinkommen – als Teilhabe an relationaler Raumproduktion – überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit dafür darstellt, dass das Urbane als Thema von Symbolbildungen, Material für Zeichenbildungen, Produkt kultureller Erscheinungen u.a. begriffen werden kann. Es geht, wie in der Performance-Kunst gezeigt, um eine investigative Ontologie, darum, einen Zugang zu einem urbanen Sein als Quelle, Ressource dessen, was als Urbanes entsteht, zu bekommen. D.h. jedoch nicht, die strukturelle Frage nach der Zeichenhaftigkeit des Urbanen aufzugeben. Der Strukturalismus hat mit seiner Emphase des Texts und der Zeichen ermöglicht, die Phänomenologie zu überschreiten und die »unsichtbaren« relationalen Gefüge der Stadt offenzulegen. Nur erhebt der Strukturalismus die Struktur selbst zur Form und fällt damit hinter sich zurück. Es gälte also vielmehr, die strukturelle Denkungsart auf Phänomenologie zu übertragen und letztere auf dem Wege diagrammatisch auszurichten. Mit Ash Amin können wir sagen, dass die Stadt kein Text ist, sondern Handlung: The city performs itself.41 Wenn wir dies ernst nehmen, kommt der Aufgabe, den phänomenologischen Ansatz neu zu reaktivieren, und zwar als eine epistemologische Ontologie, die der performativen Verkörperung von der Stadt auf den Grund geht, neue Relevanz zu. Das markiert die Stelle, an der es für die Stadtforschung fruchtbar wird, die Performanztheorie einzubeziehen und nach dem Konzept des embodiement zu fragen. Thomas Csordas definiert embodiement als »existential ground of culture and self«, und stellt so der Erklärungsmetapher »Kultur als Text« eine Konzeption entgegen, die der Repräsentation die gelebte Erfahrung vorzieht (wie Lefebvre das espace vecu). Für die Stadtforschung hieße das, dem, was als alltägliche Stadt »passiert«, eine dem Text vergleichbare konzeptionelle Position zu verleihen, also das Urbane unter dem Textparadigma der repräsentationalen Pläne keineswegs zu subsumieren. Damit ist ein methodisches Feld eröffnet, dass mit Lefebvre nicht nur nach den Parametern der Raumproduktion fragt, sondern auch nach den nicht-repräsentationalen Ebenen einer phänomenalen Performanz des Urbanen, das als Seinsform die Grundvoraussetzung jeglicher Raumproduktion bildet. Dies wäre nicht als Ersatz herkömmlicher Stadtdarstellungen zu denken, sondern als methodische Korrekturinstanz gegenüber der Deutungshoheit und Erklärungsansprüchen von Begriffen wie Plan, Text oder Repräsentation. Es gilt also nicht nur, Problemzonen, Problemstellungen zu identifizieren, dann eine Konzeption zu erstellen (wie partizipativ auch immer) und dann eine Bestandsaufnahme und Umsetzung folgen zu lassen. Vielmehr gälte es, das Erhandeln und Testen urbaner Situationen durch die Experten des Alltags 41 | Amin, Ash: »Culture Economy«. Vortrag gehalten an der HCU Hamburg, am 21.10. 09.
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(wie sie von den Theatermachern Rimini Protokoll genannt werden)42 ernst zu nehmen und zu untersuchen, wie das Urbane als verkörperte Aktivität performativ entsteht. Das hieße desweiteren, die Freistellungstechnik der Performancekunst auf die Stadt zu übertragen: einzelne Phänomene herauszustellen, zu verlangsamen und, als Katalogform, in eine Varianz unterschiedlicher neuer relationaler Nachbarschaftsordnungen zu überführen. Dabei ist im Kontext Stadt zu berücksichtigen dass es sich beim Performanzbegriff stets um Prozesse im Sinne der Verkörperung handelt, egal ob mit ihnen repräsentationale, abbildhafte oder figurative Elemente hervorgebracht werden oder nicht. Denn: Was immer die urbanen Akteure als Performer mit ihren Handlungen als Urbanes erzeugen, hinterlassen sie, so unsere Annahme, wahrnehmbare Spuren, die auf einen Transformationsprozesse hinweisen. Dass dies ein verletzlicher, oft minimaler, kaum sichtbarer Prozess ist, macht die Aufgabe komplex wie auch dringlich. Wären diese Spuren aufgesucht, gälte es, den darin enthaltenen Potentialen agency zu verleihen, ihnen eine Bühne, eine Form, eine Rahmung zu geben, sie auf anderen Ebenen in neuen Konstellationen und erweiterten Maßstäben zu aktivieren. Wenn wir das Urbane als performed auffassen, gehen wir von einem performativen Konzept von Raum aus. Nicht nur wird der Raum mit Lefebvre als sozial produziert definiert, sondern auch seine Organisationsweise gerät in den Blick. Wichtigste These ist, dass performativer Raum zuvorderst von seinem Gebrauch bestimmt wird. Performativer Raum ist ein Raum der Möglichkeiten, der auch durch Strategien und Taktiken der Ermöglichung und der Aneignungsweisen bestimmt wird. Diese wiederum hängen von der relationalen Beschaffenheit situativer Konstellationen und Praktiken, ihrer Bewegung und Wahrnehmung ab. »Wie immer von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, wie sie genutzt, umgangen, […] konterkariert«43 oder ermöglicht werden, ist sowohl grundlegende Basis von wie auch Auswirkung auf Raum als Performatives. Interessant ist, dass diese relationale Anordnung sich organisiert und strukturiert, ohne dabei vollständig determiniert zu sein. Indem sie improvisationale Momente instrumentalisiert und technologisiert, ermöglicht hier gestalterische Diagrammatik performative Raumnutzung, ohne diese vorher festzulegen. Sie öffnet sich so für essentielle Parameter des Urbanen: Unvorhergesehenes und die Introduktion von »unexpected actors«44. Dafür braucht es unterschiedliche Ebenen: erstens variable Arrangements und deren inhaltliche wie strukturelle Unterfütterung durch gestaltete Speicher, Archive, Kataloge. Zweitens die Inszenierung spezifischer Arrangements (z.B. durch 42 | Dreysse/Malzacher: Experten des Alltags – Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin 2007. 43 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 187. 44 | Amin: »Culture Economy«.
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Intervention) zur Provokation, Aktivierung bisher unbekannter oder nicht genutzter Möglichkeiten, drittens Arrangements zur Aushandlung dieser Aktivierung durch die beteiligten Akteure und viertens die Grundprämisse, alles unter maximaler Verwendung des in einer urbanen Situation bereits Vorhandenen zu erstellen. So ließe sich von den Performancekünsten lernen, wie Partizipation auf eine andere Ebene (level) gehoben werden kann: nicht in der Zuschauerperspektive, die ab und zu Vorschläge von außen dazu machen kann, wie etwas von Profis zu realisieren und zu repräsentieren sei, sondern als ontologisches Konzept, das die Einladung ausspricht und provoziert: join the story.45 Ein Beispiel für eine solche Arbeit bietet die Performancegruppe gods entertainment. Die Struktur, die Rahmung, die sie als Vorgaben inszenieren, beschränken auf der einen Seite die Möglichkeiten und gleichzeitig werden die Möglichkeiten für die Zuschauer, sich zu bewegen und an der Aktion als Autoren teilzunehmen, erhöht und multipliziert. Raum wird durch die Verschränkung von Aktionen, Wahrnehmungen und Deutungsarbeit von Akteuren und Zuschauern produziert. Man könnte sagen, dass die strukturellen Arrangements von gods entertainment so gestaltet werden, dass sie eine zentrale Funktion einnehmen, ohne als solche vordergründig in Erscheinung zu treten: die Relationalität von Akteuren und Zuschauern als Aktion und Wahrnehmung, als zirkulierende Energie eines performativen Raums in einer Weise zu kanalisieren, dass »Räumlichkeit ein spezifisches Wirkpotential zu entfalten [vermag]«46. Unter diesen Bedingungen wird die Rollenverteilung aufgehoben und die ontologische Grundverfasstheit des Raums, kollektiv produziert zu sein, offenbar gemacht. Die Differenz zwischen Zuschauer und Akteur erodiert. Wer immer durch die performativen Metaformen sich bewegt, kann beides sein oder werden: gleichzeitig Beobachter und Akteur. Im und vom Prozess der Aneignung erhält das Feld seine Relationalität. Von Fall zu Fall, von Situation zu Situation verschiebt sich das Verhältnis zwischen Zuschauer und Performer, Rollen erfahren neue Zuschreibungen. An jedem Handlungs-Knotenpunkt entstehen neue hubs, an denen sich Räumlichkeit als Performativ entwirft und das Agieren der an der Situation Beteiligten auf immer neue Weise »diagrammatisch« verschaltet: so gerät Raum generativ. Räumlichkeit, so bestätigt Fischer-Lichte, ist im performativen Kontext »nicht gegeben, sondern wird ständig neu hervorgebracht. Der performative Raum ist nicht – wie der geometrische Raum – als ein Artefakt gegeben, für das ein oder mehrere Urheber verantwortlich zeichnen. Ihm eignet kein Werk-, sondern Ereignischarakter.«47
45 | Vgl. dazu: Düllo, Thomas: Transformation als Kultur. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover. Bielefeld 2011. 46 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 194. 47 | Ebd. S. 199f.
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Endlich positioniert sich das spezifische Präsenzverständnis von Performancekunst als Gegenprogramm zum Repräsentativitäts-Anspruch und lässt sich als solches für eine gestalterische Diagrammatik konzeptionell fruchtbar machen. In einer solchen Gestaltungsform ist transparent, dass Gestaltende mit der Darstellung von Realität selbst aktiv an deren Produktion teilhaben und diese transformieren. Es wird offengelegt, dass die Wirklichkeit, die die Gestaltenden zu repräsentieren vorgeben, erstens in seinem performativen Akt der Repräsentation erst konstituiert wird und zweitens auch nicht-repräsentationale Effekte hervorbringt. Die Handlung des Gestaltens wird zum Teil der Gestaltung selbst. Gestaltung und Realität sind nicht mehr eindeutig voneinander abgrenzbar, sondern gehen ineinander über und beeinflussen, transformieren sich gegenseitig.
Raumproduktion und Improvisationstechnologie Der kurze Abriss zur Raumtheorie am Beginn der Arbeit zeigte an, dass eine Sichtweise, die vornehmlich auf einen espace concu rekurriert, nicht mehr ausreicht, um die Komplexität urbaner Prozesse zu beschreiben oder mehr noch zu gestalten. Einen wichtigen Schritt weiter führt uns eine solche Raumtheorie, wenn sie uns lehrt, auf die Tiefenstrukturen des relationalen Raumproduzierens zu achten. Was sich hier annonciert, ist, mit Löw Raum als relationale An-Ordnung von Gütern und Menschen zu interpretieren. Dabei verschiebt sich die Perspektive von den Objekten hin zu Prozessen und Handlungsverläufen: Raum zeigt sich genuin als performativ.48 Verliert im Zuge der Suche danach, was diese Art und Weise, den Raum zu verstehen, für die Gestaltung bedeutet, die Metapher der »Komposition« ihre Bedeutung? »Les faits signalent l’existence d’acteurs surprenants, qui viennent modifier, par une succession d’événements imprévus, la liste médiateurs qui composaient jusque-là les habitudes des membres du collectif«49, sagt Latour. Bedeutet das nicht, dass Komposition zwar kaum an Relevanz verliert, sich aber in Richtung einer composition provisoire der gemeinsamen Welt verschiebt? Und ist diese nicht besser als Technologie der Improvisation zu definieren – als eine Technologie der Subjektformen, die aus Serien von Momenten, Ereignissen und Listen von Protokollen über die Komposition der gemeinsamen Welt besteht? Und befeuert das nicht das Interesse an Organisationsweisen der Improvisation als Gestaltungsmodus? Und schließt umgekehrt an das performative 48 | Löw, Martina: Raumsoziologie; Läpple, Dieter, »Essay über den Raum«. In: Häußermann, Hartmut u.a. (Hg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler 1991; Sturm, Gabriele: Wege zum Raum. Opladen 2000; Ahrens, Daniela: Grenzen der Enträumlichung. Opladen 2001. 49 | Latour: Politiques de la nature. S. 150.
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Verständnis von Raum nicht auch eine Verschiebung des Verständnisses von Darstellung bzw. Sichtbarmachung an?50 Wenn obiges zutrifft, käme damit in der urbanen Epoche dasjenige in den Blick, was in der industriellen Gesellschaft als wertlos galt. Damit ist kein Rückfall in ein postmodernes Paradigma eines informellen anything goes zu verstehen, sondern das upcycling eines mentalen Modells: Improvisation als Technologie. Ich möchte hier vier Ebenen unterscheiden: Auf der ersten Ebene steht die einfache Improvisation im Modus Ein-zu-Eins, den man auch als den Reperaturmodus bezeichnen sollte.51 Sie operiert mit einer Ordnung, die rein reaktiv und reparierend zu Werke geht, alles ad hoc löst und ohne Plan ist. Auf der zweiten Ebene finden wir die geplante Organisation: Sie versucht, den Plan perfekt zu machen, um damit Realität zu ordnen. Die dritte Ebene ist die der Kybernetik. Diese erkennt Prozesse an, allerdings versucht sie, aus Prozessen Produkte zu machen und auf Input-Output-Variablen zu reduzieren. Auf der vierten Ebene finden wir die Improvisation zweiter Ordnung – als Improvisationstechnologie. Improvisation zweiter Ordnung konzentriert sich auf die Ordnung von Ordnung, also die Organisation von Unordnung. Indem sie sich auf das Vektorfeld der Kräfte in Situationen fokussiert, wird in Potentialen von Situationen gedacht. Improvisierende Akteure agieren prozesshaft im Prozess und haben die eigene Transformation mit auf dem Schirm. Ich habe an anderer Stelle Improvisationstechnologie als »konstruktiven Umgang mit Unordnung in Gemeinschaft« definiert.52 Dieser Satz ist zunächst einmal leer und rein formal. Mit dem Satz suche ich ein Werkzeug zu etablieren, das nicht als formal-inhaltliche Vorschrift gelten, sondern helfen soll, Fragen zu stellen. Es geht darum, anhand dieses Satzes zu hinterfragen, was Struktur und (Un-)Ordnung (Form) in einer jeweiligen Situation bedeutet, wie daraus Funktionen und Nutzungen abgeleitet werden können und in welchem Interessen- oder Konfliktfeld sich die Situation abspielt (Gemeinschaft). Dieser Reflexionsvorgang ist auch die Funktion des Satzes selbst als Form: Zweck ist es, über Form zu reflektieren, anstatt Form anzuwenden. Man könnte den Satz als Imperativ des Improvisierens deuten: als Vorschlag, dass jeder, der an einer Improvisation teilnimmt, Zeit dafür aufwenden sollte, darüber nachzudenken, nach welchen Regeln eine Situation funktioniert und gestaltet werden kann.
50 | Dafür spricht beispielsweise die aktuelle Debatte darüber, was Bilder ›machen‹ können, und die damit verbundene »Theorie des Bildakts«. Bredekamp machte unlängst darauf aufmerksam, dass die Theorie des Bildakts von Lefebvre ausgeht. Man sollte hinzufügen: ausgeht von demjenigen, der die Raumtheorie am Urbanen neu begründet hat (vgl. Bredekamp: Theorie des Bildakts. S. 48). 51 | Zum Verhältnis von kairos und Improvisation siehe: Dell: Prinzip Improvisation. 52 | Vgl. Dell: Die improvisierende Organisation, S. 381.
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Dabei geht es gerade nicht darum, sich dem Paradigma der Performanz unterzuordnen, sondern in einem ständigen Lernprozess über den Ort und die Situation neue Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erforschen. Ziel ist nicht allein, herauszufinden, was eine Situation meint, sondern was sie ermöglicht, also was in einer Situation performativ »drin« ist. Damit ist weder ein Relativismus, Subjektivismus oder Ästhetizismus gemeint, sondern der Versuch, das Reale anzuerkennen und konstruktiv zu bespielen: Problematiken der konkreten Bearbeitung, der Details im Rahmen einer Realisierbarkeit auch und vor allem in Bezug auf zukünftige architekturrelevante Fragen des low budget: Umnutzung, Zwischennutzung und Restnutzung wären genau an dieser Schnittstelle zu verhandeln. Ein in diesem Sinne erweiterter Begriff des Gestaltens als composition provisoire würde sich weniger an einem Verfahren orientieren, das zum Zeitpunkt X eine bestimmte Anzahl Pläne hervorbringt, die zum Zeitpunkt Y in der Realität umgesetzt werden sollen – und dann unter Umständen gar keine Chance oder auch keinen Sinn in einer Realisierung finden. Vielmehr wird Gestaltung als reflexives Handeln verstanden, das an der Realität entlang »aktualisiert« wird. Ein solches Handeln tastet Realität auf abrufbare Potentiale seismographisch ab – was als solches auch zu »üben« wäre. Das richtet an uns die Herausforderung, Form nicht ad acta zu legen, sondern, in der Überwindung von groben Vereinfachungen und der Hinwendung zu Komplexität und Heterogenität, neu zu denken. Es gehört zur immanenten Wesenseigenschaft der performativen Situation, dass ihre Konzepte und Strukturen nie von vornherein sichtbar sind. Das Spezifische am Arbeiten mit der Performanz als Strategie bedeutet deshalb, diagrammatische Arbeit und deren Notationen als Möglichkeiten zu begreifen und umgekehrt Möglichkeiten als diagrammatische Konstellation freizulegen: Lokale Kräfte geraten in diesem Verfahren in Bewegung. Die abstrakte Maschine kreuzt die konkreten Fälle und sucht die Energie des Performativen in unterschiedlichsten Maßstäben zum Resonieren zu bringen. Eine solche Arbeit ist ein Freistellen der Konzeptionen, das sozusagen als »relational-konzeptuelle Praxis« gleichzeitig kreativ ist, also nicht nur Wissen darstellt, sondern auch produziert. Im Vertrauen auf die Immanenz der performativen Situation, wird es möglich, uns in die Situation hinein zu begeben, dorthin, wo der Prozess beginnt, im singulären Fall seiner Bewegung. Der structural hunch des Feldes beginnt gewissermaßen unbewusst zu spielen, wir werden gestoßen, behindert, bewegt, inspiriert. Auch wenn die Bewegung neue Fälle, Projekte hervorruft, so geht es doch immer um das gleiche Prinzip: situative Potentiale strukturell zu heben. Das Potential zeigt sich immer in anderen relationalen Konstellationen von Formen, Strukturen und Funktionen. Die Arbeit daran ist abstrakt, weil sie nicht direkt repräsentiert. Sie ist aber gleichlaufend konkreter als euklidische Planung, weil sie von der Realität der Situation, so wie sie sich als Performativ ereignet, ausgeht. Erinnern wir uns:
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Will sich Repräsentation behaupten, muss sie auf die Macht der Wiederholung, des Abbildes rekurrieren. Um ihre Operativität zu sichern, nimmt Repräsentation Raum und Zeit als indifferente, neutrale Milieus an. Sie gerät damit selbst in den Stress, dem Wirklichen immer voraus zu sein – und dort nie anzukommen. Gewiss, Realität der Erfahrung braucht ihre Möglichkeit. Aber Bedingungen solcher Möglichkeit als allgemein Gültiges zu formulieren, blockiert den Möglichkeitscharakter selbst. Weil das Beharren auf eine stets dem Möglichen ›vorausgehende‹ Repräsentationsbeziehung zwischen Realem und Möglichem Welt zum Abbild seiner Möglichkeit degradiert, enträt solches Beharren der Erfahrung dessen, womit es sich befassen will: Welt. Verwirklichung gründet hier gewissermaßen auf der Blockade des Wirklichen. Das Abbildmodell verstellt sich damit den Zugang zum Transformationsprozess des Werdens und der zeitbasierten Variabilität der Strukturen. Gestalterische Diagrammatik im Modus der Improvisation gibt der Frage nach dem Wirklichen eine neue Wendung: Sie zielt auf die fundamentale Begegnung des Affizierens in Situationen und den virtuellen Status der immanenten Strukturen. Seinen Ausgang nimmt das Verfahren bei der Rekonturierung der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung. Erfahrung setzt dann nicht mehr auf die präformierte Gestalt der Repräsentation, sondern auf die Virtualität ihrer Strukturen, um so zu den genetischen Bedingungen von Erfahrung vorzustoßen. Das bedeutet umgekehrt auch: Das Abstrakte des Diagramms sagt noch nichts an-sich aus. Es wird erst wirksam, wenn es als Verfahren und als Situatives gedacht wird. Gestalten kann dann nicht mehr bedeuten, einen Plan von oben über einen Raum zu legen, sondern (das Gestalten) hat von unten auszugehen und aus dem Unterbewussten urbaner Situationen Potentiale heraus zu graben; es kann dabei von unzähligen Punkten ausgehen. Ihre Blindheit ist es, wie wir sahen, die die diagrammatische Arbeitsweise selbst in Bewegung hält: »gerade indem sie nicht spricht und nicht sieht, bringt sie zum sprechen.«53 Die konzeptuelle Produktion der im diagrammatischen Arbeiten seriell sich verkettenden Projekte, Fälle, Versuchsaufbauten, takes konstituieren sich gleichzeitig polyphon und monothematisch: sowohl als Variationen über Performativität als architektonische Strategie wie auch über Performanz als gesellschaftlichem Diagramm. Die Konstante des Urbanen käme desto mehr als Konsistenz zur Bewegung, je größer die Anzahl an Fällen, die kreiert, durchgeführt und analysiert werden. Der seriellen Verschaltung von Fall-Batterien (sozusagen als Prototyping im Sinne einer Typologie, die den Typ sowohl als strukturelle Form wie auch als Energiespeicher zu lesen weiß) entstammt nicht nur die Begriffsbildung der Theorie, sondern leitet auch forschend von ihr die Herausforderung zur systematischen Dokumentation der Aktion als Fond neuer Theoriebildung ab. 53 | Deleuze: Foucault. S. 115.
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Gewiss, Latour spricht davon, dass es im Design um Hüllen geht: »To define humans is to define the envelopes, the life support systems, the Umwelt that make it possible for them to breathe. This is exactly what humanism has always missed.« 54 Man kann Latour zustimmen, dass Design sicherlich auch darin besteht, Hüllen zu entwerfen. Aber wenn Latour so argumentiert, begibt er sich in die Gefahr, wieder in einen Formalismus der Oberfläche und eine EinHausung als Gestaltungsweise zurückzufallen. Worauf Latour aber m.E. hier hinaus will, ist, auf eine Materialität als Anreger zu rekurrieren: »materiality as […] fragile envelope into which we are even more entangled, explicit«55. Dieses Material jedoch wäre formal aus einer Struktur heraus zu denken, die performativ angeeignet bzw. einer performativen Struktur zugeführt werden kann. Es wäre also eine Schnittstelle zu generieren zwischen den Ebenen envelope und hub. Das heiß: Sobald auf Grundlage der diagrammatischen Sichtbarmachung der in einer Situation vorhandenen Materialien, Ressourcen, Bedingungen, Anschlussstellen eine Metaform entsteht, gilt es, Setzungen zu instituieren, die minimale Strukturierung aufweisen und eine Aktivierung des Raums ermöglichen bzw. herausfordern. Das Material in seiner Strukturierung ist dann neuversammelte Setzung, die, sozusagen als Probe-Gegebenes, ins Spiel gebracht wird. Diagrammatische Notation und deren strukturelle Rekapitulation des Prozesses ist dann impliziter Teil des redesign. Die Stadtforschung hat den gestalterischen Prozess performativ strategisch zu machen, herauszufinden, welche Strategie dem Prozess (auch nachgeordnet) zu Grunde liegt (performative Strategie). Wir suchen eine kritische Ontologie, die es erlaubt, authentisch zu sein und die starken Punkte aufzuzeigen, die aber nichts verdecken muss. Dabei wird der Prozess sowohl als Quelle und Material wie auch in seiner Konzeption und seinem Verlauf dargelegt, was auch heißt, dass z.B. die Konfigurationen, die in das Spiel eingegeben werden, lesbar bleiben. Wo dabei jegliche Überhöhung von Unmittelbarkeit – die, wie Derrida zeigt, droht, in Formalismus zurückzufallen – zu überwinden ist, steigt das reflexive Handeln in Situationen zur Zielstellung auf. Es geht darum, im Agieren die Potentiale von Situationen so auseinanderzunehmen, dass sie, im Sinne einer relationalen, improvisational agierenden composition provisoire und eines Redesign neu zusammengesetzt, verschaltet oder versammelt werden können. Ein solches reflexives Handeln, das Komposition im Provisorischen konstruktiv hält, macht Improvisationstechnologie zur Grundpraktik gegenwärtigen Gestaltens von Wissen. Eine diagrammatische Karte »kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Aktion oder Me54 | Latour: »A Cautious Prometheus?«, S. 8. 55 | Ebd.
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ditationsübung begreifen.«56 Deleuze und Guattari ziehen daraus den Schluss: »Bei einer Karte geht es um Performanz.«57 Im Konnex der Wissensformen der Ermöglichung lässt sich die These von der Karte auf den Katalog transponieren: Der Katalog ist jene Karte der Stadtforschung, die als ein veränderlicher Speicher in real-time die Performanz der Stadt als Handlungsverlauf zugänglich macht. Das bestärkt die These, dass das Wissen sowohl von der Stadt als Untersuchungsgegenstand wie auch vom Projekt als Gestaltungszusammenhang überhaupt nicht als Gegensatz oder Widerspruch zur Performativität zu verstehen sind, im Gegenteil: Erst in der Anerkennung von und dem konstruktiven Umgang mit der Performanz wird eine Gestaltungsarbeit als Wissensform (Derrida sagt dazu: Wohnen in der Schrift) möglich und sinnvoll. Erst dieser spezifisch performative Ansatz der diagrammatischen Gruppenarbeit als technologisch gewordene Improvisation ist organisationale Bedingung für Wissensformen der Ermöglichung als konstruktivem Umgang mit dem, was das Urbane als Gegenwärtiges ist. Der wissenschaftstheoretische Ertrag von Rheinbergers Analyse experimentaler Notationen gestattet dabei eine evidenzkritische Lektüre der scheinbaren Objektivität von Erzählungen wissenschaftlicher Experimentberichte, auch und besonders, insofern sie deren Stil- und Kulturgebundenheit untersucht. Bedeutet die in Kapitel 2 unter dem Schlagwort »Epistemische Strukturen der Performanz. Performative Strukturen des Epistemischen« erschlossenen gestalterischen Aspekte im Experimentieren zunächst eine Erweiterung der Zuständigkeit der Wissenschaftsgeschichte und Übertragung ihrer gestalterischen Zugänge auf andere Wissensformen, so geht damit eine explizite Reflektion und Rekonfiguration der disziplinären Analyseinstrumentarien des Forschens überhaupt einher. Was hier einerseits klar als an die Wissenschaftsgeschichte gerichtete Erweiterung des Gegenstandsfeldes formuliert wird, entfaltet im Bestreben, Experimentalwissenschaft als Gestaltungswissenschaft zu regenerieren, gleichzeitig ein Zuständigkeitspostulat für Wissensformen generell. Das Attribut gestalterisch ist hier klar ans Diagrammatische geknüpft. Es meint ein prozedurales, poetisch-produzierendes Vorgehen in Kollektiven und ein Vermögen, das die welterschließenden Potentiale im performativen Machen und diagrammatischen Verschalten des Forschens erhellt. Flecks Bezeichnung des Stils als Modus des Form-Machens enthält den Hinweis darauf, dass die Weise, wie Wissen zum Ausdruck gebracht, artikuliert wird, eine darstellerische Konstitutionsleitung ist, die sich, so unsere Folgerung, auf der Ebene der Diagrammatik bemerkbar macht. Performative Formulierungsleistungen können Wissensformen zu einem darstellungsförmigen Konstitutionsgeschehen werden lassen. Ihre die Verwirklichung überschreitende Ermöglichungskomponente erhalten 56 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. S. 24. 57 | Ebd.
4. Metaschaltung/Remix. Form-machen und Verschalten
Wissensformen indes erst in improvisationaler Perspektive. Die Vollzugsform des Arbeitens als technologische Improvisation ist dabei deren maßgebliche Qualität. Es ist die gestalterische Diagrammatik als Darstellung, Notation oder Handlungsform, die es gestattet, die performative Dimension von Wissen miterscheinen zu lassen. Das schließt an Latours und Rheinbergers Beobachtung an, dass sich Welterschließung nicht nur sprachlich, sondern auch ästhetisch artikuliert. In der Praxis des Experimentierens gerät das Empirische zu etwas Kon-Figuriertem. Die gute Nachricht daran: Es gibt eine wissensproduzierende Organisationsleistung, die bereits dem sinnlichen Machen zuzuschlagen ist und sich nicht nachgängiger Urteilsbildung verdankt. Die schlechte Nachricht: Jegliches Rekurrieren auf die gestalterische Dimension birgt die Gefahr des Rückfalls in formal-repräsentationale Sichtweisen. Entweder suggerieren solche Sichtweisen, das nicht-begriffliche Erfahrungsfeld ließe sich bruchlos in die Erfahrung begrifflicher Einheiten überführen oder, schlimmer noch, am schön Gestalteten gelänge bereits das Wissen und Ästhetik sei damit selbst zum Geist zu erheben.58 Die historische Epistemologie indes macht die Stadtforschung darauf aufmerksam, dass sich Wissen nicht auf eine Konstruktion herunterschrauben lässt, »die vom Geist unmittelbar auf nackte Sinnesdaten gerichtet ist«59. Vielmehr affiziert das nicht-begriffliche Erfahrungsfeld von der Stadt die repräsentationale Wissensbildung, indem es in einem formal unterbestimmten und strukturell vollen Milieu politischer Kräfte seine Wirksamkeit entfaltet. Um hier Organisationsleistungen erkennen zu können, ist das Diagrammatische am Gestalten genauso wichtig wie das Gestalterische an der Diagrammatik. Konkrete Einblicke in derlei konturierte diagrammatische Handlungsmuster vermitteln die aktuell von unterschiedlichen Protagonisten der Architektur verantworteten Darstellungsformen, die das hybride, intermediale Zusammenwirken von beispielsweise Zeichnung, Fotographie, Freistellung, Axonometrie, Text usw. belegen. Eindrucksvolle Beispiele bieten hier Arbeiten von Theo Deutinger, Larissa Fassler, Bernd Kniess, Lacaton/Vasall, Atelier Bow Wow, Rem Koolhaas und anderen. Am Improvisationalen gleichwohl erhellt sich, dass die Produktionsweise und deren Organisation an Wissensformen der Ermöglichung nicht weniger thematisch als das Dargestellte selbst ist. Nur in improvisationaler Perspektive wird die Simultanität medialer Vermittlung und performativer Hervorbringung im Gestalten von Wissen durchsichtig. Das Interessante an Wissensformen der Ermöglichung liegt überdies in der Bewegtheit, Offenheit und Fähig58 | Das wird nirgends so eklatant wie dort, wo in »Partizipationsprojekten» am »kreativen Denken« bunte Zettelchen mit tollen Ideen an die Wand gepinnt werden, während die realpolitischen Entscheidungen ganz woanders sich vollziehen. 59 | Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1997, 1963, S. 108.
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keit der Aneignung, mit der sie sich zu möglichem – und auch immer anders möglichem – Wissen und dessen Repräsentationen formieren. Während der vergangenen Jahre hat sich unser Weltbild ebenso grundlegend verändert wie jenes von der Stadt. Insbesondere die Verstädterung Welt hat zu einer Situation beigetragen, in der sich Welt- und Stadtzugang zu überlagern scheinen. Wie wir Zeugen neuer politischer, kultureller oder zeitlicher Ökonomien sind, so brauchen wir auch eine Ökonomie der epistemischen Handlungszusammenhänge in der Stadtforschung. Wo die Stadt als Objekt zum Prozess des Urbanen sich verschiebt, hat auch die Form ihres Wissens eine offene zu sein. Kehren wir, um den Bogen zu schließen, an dieser Stelle zu Rem Koolhaas’ content zurück. Im Fall von content haben wir es mit einer grundsätzlich neuen Form der Stadtforschungsdarstellung zu tun, in deren Licht der Performanzimperativ des Gesellschaftlichen ebenso wir die Flüchtigkeit und Unbestimmtheit des mit ihr produzierten Raums zugleich als Effekt wie Modell eines Anforderungsprofils an die Stadt erscheint. Koolhaas bringt hier architektonische Recherche gegen das reduktive Wesen reinen Bauens in Stellung. Mit diesem Schritt erfährt Architektur eine Erweiterung hin zu einer Denkungsart, in welcher Konzepte des Architektonischen diagrammatisiert, im Kontext verschoben, auf »falsche« oder »inadäquate« Weise verwendet und mit unterschiedlichsten Fragestellungen verschaltet werden. Wo Architektur von nun an als »amalgamation of ancient knowlegde and contemporary practise, an awkward way to look at the world«60 gilt, avancieren Architektur und Städtebau zur Folie aktueller Wissensproduktion und zu einem »diagram of everything«61. Seine Legitimierung erhält ein solches Diagramm vom Architekturwerden einer sich urbanisierenden Welt: »we are today at the exact moment, when you could say the whole world has become the subject of architecture.«62 Gleichwohl bleibt das Wie einer der Mitte architektonischer bzw. städtebaulicher Recherche entspringenden Diagrammatik ein noch unzureichend beleuchteter Forschungsgegenstand. Wenn Koolhaas die Stadtforschung auf eine Diagrammatik hin moduliert, entsteht nicht nur eine spezifische Organisationsform, sondern auch die Möglichkeit der Entwicklung neuer Stile der Stadtzugänge auf Grund von Diagrammen. Diese Prozesse bringen sowohl performative Produktionsweisen wie auch visuelle Ordnungen hervor. Von dort verweist Koolhaas auf die unterschiedlichen Modi des Diagrammatischen: »Für uns ist das Diagramm nicht nur ein Instrument, um Architektur zu schaffen oder uns in die Lage zu versetzen, Architektur zu schaffen. Es ist auch ein Instrument, mit dem man auf die Welt schauen und einige von den bizarren Konditionen darstellen kann, die wir beobachten. Das bleibt einer 60 | Koolhaas, Rem: content. S. 20. 61 | Ebd. 62 | Steele/Eisenman/Koolhaas (Hg.): Supercritical. London 2010, S. 11.
4. Metaschaltung/Remix. Form-machen und Verschalten
der wichtigsten Aspekte dessen, was wir heute »das Diagramm« nennen.«63 Aus dem strukturellen Vorgehen, das Beobachten und Darstellen, Weltzugang und Weltvermittung gleichermaßen im Diagrammatischen verortet, resultieren – wie sich an content besonders explizieren lässt – nicht nur neue Formen der Produktion, sondern auch eigene Repräsentationsmixes: Kataloge, Atlanten, Kartographien, Variantologien von Material und Materialordnungen. In der Terminologie von Deleuze bilden diese die ›Produkte‹ der Plateaus, die sich als Serien von Zeitschnitten, die die Gestaltungs-Prozesse durchlaufen, aktualisieren. Nimmt man den an Koolhaas exemplarisch abzulesenden Aufstieg gestalterischer Praxis zum Wissensdispositiv als Aufgabe ernst, geht es bei den Wissensformen der Ermöglichung um Weisen gestalterisch-diagrammatischen Verschaltens als Fähigkeit, – mit anderen – Modi der Stadterschließung unter Unbestimmtheit improvisatorisch zu erproben. Was sich darin aber keinsfalls niederschlagen sollte, ist die Institutionalisierungsbestrebung von Gestaltungswissenschaften oder -forschung, die alles Forschen in Gestaltung umdeutet. Vielmehr zeigt die vorliegende Untersuchung an, dass es darum geht, Wissensbestände der science in the making ebenso wie der Performanztheorie für die konzeptionelle Deutung aktueller Stadtforschung und deren hybride Darstellungspraxis in Form gestalterischer Diagrammatiken heranzuziehen. Die Erklärung, was an deren Wissensgebräuchen jeweils spezifisch sei, kommt bei dem ›so ist es‹ performativer Praxis keineswegs zum Erliegen. Sie hat die improvisationale Perspektive auf den formalen, funktionalen und strukturellen Grund dessen in Rechnung zu stellen, was hier Wissensformen der Ermöglichung heißt. Denn es gibt ermöglichendes Wissen immer nur im Wie des Handelns – im relationalen Verschalten – verkörperten Wissens. Sicher bleibt ein solches Wie immer der affizierenden Energie des Was, des Dawider verhaftet. Gleichwohl, derlei Energie steht nicht einfach herum. Sie verlangt nach prozessualem Lesen, Affizieren-lassen von und Verschalten mit den epistemischen Handlungszusammenhängen der Stadt. Es macht die Wissensformen der Ermöglichung aus, dass sie – im Rückgriff auf die Medialität des Handelns – eine solche Verschaltpraxis der Stadtforschung an ein improvisationales Können binden.
63 | Ebd. »for us the diagram is not only a device that triggers architecture, or enables us to trigger architecture. It is also a device with which to look at the world and to try to represent some of the bizarre conditions we observe. For me this remains an important part of what we might call ›the diagram‹ today.«
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Urban Studies Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.) Die Welt reparieren Selbermachen und Openness als Praxis gesellschaftlicher Transformation Oktober 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3377-1
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Februar 2016, 200 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3491-4
Noa K. Ha Straßenhandel in Berlin Öffentlicher Raum, Informalität und Rassismus in der neoliberalen Stadt
Johanna Hoerning »Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten
November 2016, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3486-0
Januar 2016, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3204-0
Michaela Schmidt Im Inneren der Bauverwaltung Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten Oktober 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3333-7
Carmen M. Enss, Gerhard Vinken (Hg.) Produkt Altstadt Historische Stadtzentren in Städtebau und Denkmalpflege September 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3537-9
Antje Matern (Hg.) Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Städte – Orte – Räume Mai 2016, 218 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3088-6
Johannes Marent Istanbul als Bild Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten April 2016, 284 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3328-3
Corinna Hölzl Protestbewegungen und Stadtpolitik Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires 2015, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3121-0
Judith Knabe, Anne van Rießen, Rolf Blandow (Hg.) Städtische Quartiere gestalten Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat 2015, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2703-9
Dominik Haubrich Sicher unsicher Eine praktikentheoretische Perspektive auf die Un-/Sicherheiten der Mittelschicht in Brasilien 2015, 378 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3217-0
Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.) Gleisdreieck / Parklife Berlin 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1
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