Käte Hamburger: Kontext, Theorie und Praxis 9783050095554, 9783050064031

Käte Hamburger is a major creative force in modern literary studies. Her theoretical work has contributed substantially

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German Pages 325 [326] Year 2015

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Inhaltsverzeichnis
Käte Hamburger: Kontext, Theorie und Praxis. Einleitung
»[H]eute gerade nicht mehr aktuell«. Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte
Existenz, Humanität, Fiktion. Über einen Problemkomplex bei Käte Hamburger
Käte Hamburger und die frühe Erzähltheorie
»Ein sehr großer Dichter und schwacher Mensch«. Käte Hamburgers Herleitung des Lyrikbegriffs am Beispiel Rilkes
Symbolische Inkarnation
Als ob – comme si – quasi. Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden
Theoriedesign. Randbemerkung zu einem Verweis auf Nicolai Hartmann in der zweiten Auflage von Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung
Käte Hamburger im fachgeschichtlichen Kontext des Zeitraums 1955–1975
Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung und die Rezeption der Deixis
Kritik am Kompositionalismus. Zu Vorstellungen fiktional-faktual gemischter Texte, zu Semifiktionalität und zu Gradationen der Fiktionalität
Käte Hamburgers Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit
Glossar
Index
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Käte Hamburger: Kontext, Theorie und Praxis
 9783050095554, 9783050064031

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Käte Hamburger

Käte Hamburger

Kontext, Theorie und Praxis Herausgegeben von Andrea Albrecht und Claudia Löschner

DE GRUYTER

ISBN 978-3-05-006403-1 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009555-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038082-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: epic11/iStock/thinkstock Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Andrea Albrecht und Claudia Löschner Käte Hamburger: Kontext, Theorie und Praxis Einleitung | 1 Andrea Albrecht »[H]eute gerade nicht mehr aktuell« Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte | 11 Matthias Löwe Existenz, Humanität, Fiktion Über einen Problemkomplex bei Käte Hamburger | 77 Dirk Werle Käte Hamburger und die frühe Erzähltheorie | 101 Claudia Löschner »Ein sehr großer Dichter und schwacher Mensch« Käte Hamburgers Herleitung des Lyrikbegriffs am Beispiel Rilkes | 119 Sabine Eickenrodt Symbolische Inkarnation Spuren der Hamann-Lektüre in Käte Hamburgers Konzeption einer »Struktur des epischen Humors« | 139 Jørgen Sneis Als ob – comme si – quasi Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 177 Jørgen Sneis Theoriedesign Randbemerkung zu einem Verweis auf Nicolai Hartmann in der zweiten Auflage von Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung | 215

VI | Inhaltsverzeichnis Jörg Schönert Käte Hamburger im fachgeschichtlichen Kontext des Zeitraums 1955–1975 | 221 Peggy Bockwinkel Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung und die Rezeption der Deixis | 233 Lutz Danneberg Kritik am Kompositionalismus Zu Vorstellungen fiktional-faktual gemischter Texte, zu Semifiktionalität und zu Gradationen der Fiktionalität | 253 J. Alexander Bareis Käte Hamburgers Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit | 269 Claudia Löschner Glossar | 287 Index | 313 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 319

Andrea Albrecht und Claudia Löschner

Käte Hamburger: Kontext, Theorie und Praxis Einleitung Inmitten der kontroversen Debatten, die in den 1950er und 1960er Jahren zu Formen und Funktionen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung geführt wurden, formulierte der Mathematikhistoriker Otto Neugebauer sein seither oft zitiertes Plädoyer für eine reiche, sich auf die Komplexität der historischen Texte und Kontexte einlassende Konzeption historiographischer Arbeit: I do not consider it as the goal of historical writing to condense the complexity of historical processes into some kind of »digest« or »synthesis«. On the contrary, I see the main purpose of historical studies in the unfolding of the stupendous wealth of phenomena which are connected with any phase of human history and thus to counteract the natural tendency toward oversimplification and philosophical constructions which are the faithful companions of ignorance.1

Der vorliegende Band Käte Hamburger. Kontext, Theorie und Praxis weiß sich Neugebauers Konzeption wissenschaftshistorischen Schreibens verpflichtet, und dies obgleich unser Interesse weder der Geschichte der Mathematik noch einer der anderen von Neugebauer als exakt angesprochenen Disziplinen, sondern der Geschichte der Literaturwissenschaft gilt. Das fachgeschichtliche Anliegen, das die hier versammelten Aufsätze zu Käte Hamburgers literaturtheoretischen, literaturhistorischen und ästhetisch-interpretatorischen Arbeiten eint, zielt auf eine möglichst vielseitige und kontextsensible Erschließung ihres wissenschaftlichen Œuvres. Aktualisierungen und Modifikationen von Hamburger’schen Positionen sowie Anpassungen an gegenwärtige theoretische, etwa narratologische und fiktionstheoretische oder auch an interpretatorische Frageund Problemkomplexe sind damit nicht suspendiert – im Gegenteil. Unsere Absicht geht ausdrücklich dahin, Anregungen auch aus der in aktualisierender Absicht betriebenen Diskussion aufzunehmen, fachgeschichtlich zu reflektieren und in die Theoriediskussion zurückzugeben.2 Dabei sollte jedoch die verste|| 1 Otto Neugebauer: The Exact Sciences in Antiquity. Mineola 21969, S. 208. 2 Die Forschungsstelle Käte Hamburger am Stuttgart Research Center for Text Studies (SRCTS) ist eine neue Plattform, die die weitere Auseinandersetzung mit den Schriften Käte Hamburgers, und damit auch die systematische, historische und aktualisierende Einordnung in den

2 | Andrea Albrecht und Claudia Löschner hende, historisch adäquate Rekonstruktion der spezifischen epistemischen Situationen,3 die Hamburgers Denken und Schreiben konditioniert haben, unseres Erachtens jeder bestätigenden Anerkennung und Übernahme wie auch jeder Kritik vorausgehen. Dieses »Erkennen [...] des Erkannten«,4 das August Boeckh formelhaft als die eigentliche Aufgabe der Philologie und Hermeneutik bestimmt hat, ist das zentrale fachgeschichtliche Anliegen unseres Bandes. In der frühen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Käte Hamburger stand eine solche Rekonstruktionsarbeit nicht im Vordergrund. Stattdessen folgten die teilweise heftigen Diskussionen, die in den späten 1960er Jahren in Reaktion auf Hamburgers Die Logik der Dichtung einsetzten und bevorzugt um ausgewählte theoretische Aspekte der Habilitationsschrift kreisten, in der Regel Erkenntniszielen und aktualisierenden Relevanzannahmen, die zu Hamburgers Vorstellungen inkompatibel waren, auf einer anderen Wissenschaftsauffassung beruhten oder sich aus anderen wissenschaftlichen Traditionen herleiteten. Obgleich um Verständigung bemüht, fand Hamburger mit ihren Kritikern so nur selten eine gemeinsame Sprache. Dies war – dafür finden sich in diesem Band viele weitere Indizien – nicht zuletzt durch den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und Hamburgers Zeit im Exil bedingt: Die ohnehin nur selten unternommenen Versuche, nach 1945 an die Debatten und Diskussionen der 1920er und 1930er Jahre anzuschließen, misslangen. An ihre Stelle trat eine selektive Rezeption weniger Theoreme und Passagen,5 die weder Hamburgers systematischem Denkansatz noch ihrer Interpretationspraxis gerecht werden konnten. Auch für eine angemessen kritische Auseinandersetzung waren die Voraussetzungen in diesen Jahrzehnten eher ungünstig, hatte die Germanistik doch gerade erst mit der Aufarbeitung der dunklen Seiten ihrer jüngeren Geschichte begonnen und befand sich in

|| terminologischen Bestand der Narratologie, befördern soll – unter anderem indem die verstreut erschienenen und, da aus dem Druck genommen, zunehmend schwieriger zugänglichen Texte Hamburgers digital bereitgestellt werden sollen. 3 Lutz Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, in: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, hg. v. Lutz Raphael und Heinz-Elmar Tenorth. München 2006, S. 193–221. 4 August Boeckh: Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuschek, Leipzig 1877, S. 10. 5 Eine wenig beachtete Ausnahme bildet die Tübinger Dissertation von Albrecht Staffhorst: Die Subjekt-Objekt-Struktur. Ein Beitrag zur Erzähltheorie. Stuttgart 1979. Staffhorst bemüht sich um eine Rekonstruktion und Korrektur der Aussagetheorie, die Hamburgers Die Logik der Dichtung zugrunde liegt.

Einleitung | 3

einer Phase forcierter theoretischer und methodischer Renovierung, die wenig Zeit für besonnene Bestandsaufnahmen ließ. Für Die Logik der Dichtung lässt sich die problematische Rezeptionssituation in besonderem Maße beobachten. Anderen Texten von Hamburger wurde eine insgesamt weit geringere Aufmerksamkeit zuteil. Von der Literaturwissenschaft zu Hamburgers Lebzeiten wenig beachtet, wurden sie auch von der germanistischen Fachgeschichte weitgehend ignoriert. Nahezu unbeachtet blieben so erstens Hamburgers frühe wissenschaftliche wie auch ihre journalistischpopulärwissenschaftlichen Beiträge aus den 1920er Jahren6 und den Jahren ihres schwedischen Exils; eine Ausnahme bilden ihre relativ stark rezipierten Studien zu Thomas Mann.7 Wenig Aufmerksamkeit wurde zweitens ihren vor und nach 1945 auf Schwedisch publizierten Beiträgen zu Schiller, Hölderlin, Tolstoi, Rilke, Thomas Mann und der Exilliteratur geschenkt. Während ihre Monographien und auch einige wissenschaftliche Aufsätze später in deutscher Übersetzung erschienen sind, liegen viele Rezensionen und Zeitungsartikel bis heute nur im schwedischen Original vor.8 Die starke Fixierung auf die Theorie führte drittens zu einer Marginalisierung von Hamburgers literaturhistorischen Arbeiten: Ihre Interpretationspraxis, wie sie sich etwa in den später als Kleine Schriften zusammengefassten Einzelstudien, aber auch in den Vorworten zu

|| 6 Ein unserem Wissen nach in der Forschung bislang nirgends erwähnter Aufsatz ist ein Beitrag zu Rahel Varnhagen, Käte Hamburger: Rahel Varnhagen. Zu ihrem 100. Todestag am 7. März 1933, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Jg. 9, Heft 5 (1.3.1933), S. 65–67. Selten Erwähnung gefunden hat ein ähnlich angelegter Aufsatz zu Spinoza, vgl. Käte Hamburger: Spinoza und der Geist der jüdischen Gotteslehre, in: Israelitisches Familienblatt vom 29.8 1927, S. 13. Vgl. dazu den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band. 7 Zu einer Bibliographie der Veröffentlichungen Käte Hamburgers über Thomas Mann vgl. Thomas Mann – Käte Hamburger. Briefwechsel 1932–1955, hg. v. Hubert Brunträger. Frankfurt a. M. 1999, S. 193–195; Irmela von der Lühe: »Ueber Joseph haben die Leute noch immer viel von Ihnen zu lernen«. Käte Hamburger und Thomas Mann, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003. S. 83–99; Herbert Lehnert: Nebenfiguren in der Biographie Thomas Manns, in: Orbis litterarum 63 (2008), S. 335–353; Steffen Martus: Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933, in: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, hg. v. Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer. Berlin, New York 2009, S. 47–84, insbes. S. 57–59. 8 Zu einer Auflistung von Hamburgers schwedischen Monographien, Aufsätzen und Zeitungsartikeln vgl. Käte Hamburger: Philosophie der Dichter. Stuttgart 1966, S. 276–280. Doch auch diese Auflistung ist nicht vollständig.

4 | Andrea Albrecht und Claudia Löschner Ausgaben von Hans Christian Andersen9 niederschlägt, wurde daher nur selten in Beziehung zu ihren theoretischen Überlegungen gesetzt und ebenso selten in den wissenschaftlichen Kontext ihrer Entstehungszeit eingebettet. Viertens sind auch die späten literaturwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten nur in einigen wenigen Fällen Gegenstand einer intensiveren Auseinandersetzung geworden. Zu diesen weitgehend unbekannten Arbeiten, die nur punktuelles Interesse gefunden haben, zählen beispielsweise die Monographien Von Sophokles zu Sartre: griechische Dramenfiguren antik und modern (1962), ihre Studien über Wahrheit und ästhetische Wahrheit (1979),10 über Das Mitleid (1985)11 sowie über Ibsens Drama [in unserer Zeit] (1989). Erst zehn Jahre nach Hamburgers Tod sollte sich diese Situation ändern: Erste, vor allem biographisch orientierte fachhistorische Rekonstruktionen erschienen.12 Mit der von Johanna Bossinade und Angelika Schaser in Berlin im Jahr 2002 veranstalteten Tagung, die den Schwerpunkt auf den unmittelbaren Wirkungskontext und auf das Aktualisierungspotenzial von Hamburgers Arbeiten legte, sollte Hamburger von einer »Randfigur zur Klassikerin« promoviert werden – ein Anliegen, von dem viele Impulse ausgegangen sind, das aber zugleich durch die programmatische Rehabilitierungs- und Würdigungsabsicht dazu tendierte, Hamburgers Texte der Kritik zu entziehen. Dennoch dokumentiert sich in dem 2003 erschienenen Tagungsband Käte Hamburger – Zur Aktualität einer Klassikerin13 in einigen Aufsätzen erstmals ein wissenschafts- und || 9 Hans Christian Andersen: Nur ein Spielmann. Roman (1837). Mit einem Vorwort und Kommentar von Käte Hamburger. Stuttgart 1982. Hans Christian Andersen: Die zwei Baronessen. Roman (1848). Mit einem Vorwort und Kommentar von Käte Hamburger. Stuttgart 1982. 10 Vgl. aber Georg Bollenbeck: Anmerkungen zu Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, in: Grenzüberschreitungen. Festschrift für Wolfgang Popp zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerhard Härle. Essen 1995, S. 55–61. 11 Vgl. aber Friedhelm Decher: Die Distanzstruktur des Mitleids – Käte Hamburgers Bilanz in »Das Mitleid«, in: Käte Hamburger. Aufsätze und Gedichte zu ihren Themen und Thesen. Zum 90. Geburtstag, hg. v. H. Kreuzer und J. Kühnel. Siegen 1986, S. 55–70; Ethik und Ästhetik des Mitleids, hg. v. Nina Gülcher und Irmela von der Lühe. Freiburg, Berlin, Wien 2007. 12 Vgl. Gesa Dane: Käte Hamburger (1896–1992), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. v. Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, 189–198; Gesa Dane: Zu Käte Hamburgers Brief an Rudolf Unger, in: Biographisches Erzählen, hg. v. Irmela von der Lühe und Anita Runge. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 6). Stuttgart 2001, S. 166–175. Vgl. auch den systematischen Rekonstruktionsversuch von Marija Zulja Vasić Daki: Käte Hamburgers Theorie der Dichtungsgattungen. Die theoretischen Grundlagen der »Logik der Dichtung«, Siegen 2000. 13 Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003.

Einleitung | 5

fachhistorisch reflektiertes Interesse an Hamburgers Beiträgen zur Literaturwissenschaft, auf das weitere Einzelstudien zu spezifischen Fragestellungen und Themenkomplexen folgten14 und an das auch der vorliegende Band anknüpfen kann. Denn die Fachgeschichte der Literaturwissenschaft weiß immer noch ausnehmend wenig über die theoriegeschichtlichen und systematischen Kontexte, aus denen sich Hamburgers Werk speist. Den in ihre Texte eingestreuten Referenzen auf beispielsweise die allgemeine Kunstwissenschaft, die philosophische Ästhetik des Neukantianismus, die Phänomenologie, die Denkpsycho|| 14 Antje Wischmann: Strategien der Grenzüberschreitung. Recherchen zu Käte Hamburgers Forschung und Lehre im schwedischen Exil, in: Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, hg. v. Miriam Kauko, Sylvia Mieszkowski und Alexandra Tischel. Göttingen 2005, S. 195–222; J. Alexander Bareis: Käte Hamburgers »Logik der Dichtung«, die Frage nach dem Erzähler und deren Konsequenz für die Erzähl- und Fiktionstheorie, in: Text im Kontext 6. Beiträge zur sechsten Arbeitstagung schwedischer Germanisten in Göteborg, 23.–24. April 2004, hg. v. J. Alexander Bareis und Izabela Karhiaho. Göteborg 2005, S. 75– 83; Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroversen um Käte Hamburgers »Die Logik der Dichtung«, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007. S. 235–247; Ethik und Ästhetik des Mitleids, hg. v. Nina Gülcher und Irmela von der Lühe; Ulrike Weymann: Interdisziplinäre Grenzgänge bei Käte Hamburger: Zum Briefnachlass der Literaturwissenschaftlerin. Mit einem Brief von Roman Ingarden, in: LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38 (2008), H. 149, S. 148–163. Horst Turk: Re-Readings – New Readings/(Wieder)Gelesen – Neu Gelesen: Käte Hamburger, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur 100.1 (2008), S. 17–24; Erzsébet Szabó: Techniken der Defiktionalisierung: Rainer Werner Fassbinders Literaturverfilmung »Fontane Effi Briest« im Lichte der Medientheorie von Käte Hamburger, in: Begegnungsräume von Sprachen und Literaturen 1 (2010), S. 153– 167; Michael Scheffel: Käte Hamburger, in: Klassiker der modernen Literaturtheorie, hg. v. Matías Martínez und Michael Scheffel. München 2010, S. 148–167; Matthias Löwe: »Fest der Erzählung«. Käte Hamburgers ›episches Präteritum‹ und ihre Deutung von Thomas Manns Joseph-Roman, in: Poetische Welt(en). Ludwig Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet, hg. v. Martin Blawid und Katrin Henzel. Leipzig 2011, S. 279–292. Sabine Eickenrodt: Vexierspiel des epischen Humors. Käte Hamburgers phänomenologische Radikalisierung der Vorschule der Ästhetik, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, 48/49 (2013/14), S. 149–167; Geir Farner: Literary Fiction. The Ways We Read Narrative Literature. New York, London 2014; Rüdiger Campe: Die Form der Person im Roman: Poetologie nach der Poetik mit Georg Lukács, Clemens Lugowski und Käte Hamburger, in: Poetik. Historische Narrative und aktuelle Positionen, hg. v. Armen Avanessian und Jan Niklas Howe. Berlin 2014, S. 165–194. Nur am Rande wird Käte Hamburger in den zwei verwandten Aufsätzen von Stefan Rieger erwähnt: Dramenanalyse an technischen Hochschulen. Käte Hamburger, Max Bense und die Kulturtechniken des Barock, in: Kulturtechniken des Barock. Zehn Versuche, hg. v. Armin Schäfer und Tobias Nanz. Berlin 2013, S. 221–243; ders.: Dramenanalyse an technischen Hochschulen. Käte Hamburger, Max Bense und die Logistik der Dichtung, in: Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, hg. v. Nicola Gess und Sandra Janßen. Berlin, Boston 2014, S. 180–210.

6 | Andrea Albrecht und Claudia Löschner logie oder auch die Existenzphilosophie ist bislang nur sehr vereinzelt Aufmerksamkeit geschenkt worden.15 Auch der im Deutschen Literaturarchiv Marbach archivierte Nachlass verdient noch eine genauere Sichtung.16 Unser Band kann und will keine erschöpfende wissenschaftshistorische Darstellung dieser Kontexte liefern, sondern ist vor allem darum bemüht, durch die Zusammenführung verschiedener literaturtheoretischer und philosophiehistorischer Perspektiven die Rekonstruktion von Käte Hamburgers Denkansatz im Kontext seiner Entstehung ein weiteres Stück voranzutreiben. Eine erste Gruppe von Abhandlungen konzentriert sich auf die frühen literaturwissenschaftlichen Studien Hamburgers. Andrea Albrecht fokussiert in ihrem Aufsatz »[H]eute gerade nicht mehr aktuell«. Käte Hamburgers NovalisDeutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte den oftmals als bahnbrechend bezeichneten Aufsatz »Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik« aus dem Jahr 1929. Die hermeneutische Rekonstruktion der Argumentationskontexte dieses Aufsatzes, seiner zeitgenössischen Rezeption und seiner Überarbeitung aus dem Jahr 1966 zeigt, wie Hamburger ihre neukantianischen und philologischen Kenntnisse zum Zweck einer innovativen Lesart von Novalis’ mathematischen Fragmenten verbindet. Die neukantianische Basis ihres Denkens beginnt aber schon vor 1933 unter dem Einfluss der deutschen Geistesgeschichte und der Existenzphilosophie zu verblassen; nach 1945 wird der Anschluss an die neukantianische Denktradition dann nicht wieder hergestellt. Matthias Löwe nimmt in seinem Beitrag Existenz, Humanität, Fiktion. Über einen Problemkomplex bei Käte Hamburger diesen Faden insofern direkt auf, als er sich mit Käte Hamburgers erstem, in den frühen 1930er Jahren erfolgten Habilitationsversuch auseinandersetzt, für den Hamburger sich dem Thema Humanität und Existenz zuwandte. Obgleich es nie zu einer Ausarbeitung kam, hat das existenzphilosophisch grundierte Humanitätskonzept, das sich sowohl in ihren Arbeiten zur Romantik als auch in denen zu Thomas Mann abzeichnet,

|| 15 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013. Von der phänomenologischen Tradition des Personkonzepts ausgehend Rüdiger Campe: Die Form der Person im Roman. 16 Vgl. dazu Marcel Lepper: »Genau und anders«. Zum Nachlass Käte Hamburgers, in: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), H. 3, S. 734–738. Der erste Bericht über den Nachlass: Karla Rommel: Der Nachlaß von Käte Hamburger im Deutschen Literaturarchiv, in: Mitteilungen Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik. 1994, H. 6, S. 23–24. Archivalien zu Hamburger finden sich auch im Nachlass von Fritz Martini, Richard Alewyn und anderen, ebenfalls im DLA aufbewahrten Beständen. Vgl. zudem die Korrespondenz aus der Zeit 1962 bis 1991 im Nachlass von Ingrid Kreuzer im Westfälischen Literaturarchiv Münster.

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einen nachhaltigen Einfluss auf ihre späteren Arbeiten genommen. Löwe demonstriert, wie noch die Logik der Dichtung auf der existenzphilosophischen Basis aufruht und Hamburgers Verbindung von Ästhetik und Ethik begründet. Auch Dirk Werle zeigt in seinem Aufsatz Käte Hamburger und die frühe Erzähltheorie, dass viele von Hamburgers Theoremen sich auf die Diskussionen der 1920er und 1930er Jahre zurückführen lassen. Es wird deutlich, dass der Wert von Hamburgers Beitrag zur Narratologie weniger in einer Überschreitung zeitgenössischer Ansätze als vielmehr in einer konsequenten Integration unterschiedlicher Untersuchungsergebnisse in ein kohärentes und konsistentes theoretisches System besteht. Werle diskutiert diese These am Beispiel der ›erlebten Rede‹, der ›Ich-Erzählung‹ und der ›Erzählfunktion‹. Die Rilke-Interpretation Hamburgers zeichnet Claudia Löschner in ihrem Beitrag »Ein sehr großer Dichter und schwacher Mensch«. Käte Hamburgers Herleitung des Lyrikbegriffs am Beispiel Rilkes nach. Sie zeigt, dass Hamburgers Theorie der Fiktion, die sie in der Logik der Dichtung präsentiert, eng mit ihrer Interpretation von Rilkes »Dingdichtung« verwoben ist. Hamburger hebt eine besondere Wahrnehmungsweise Rilkes hervor, die sie als die Husserl’sche »Wesensanschauung« identifiziert. Dies führt Hamburger zu ihrer in der RilkeForschung bekannt gewordenen These der »Phänomenologischen Struktur der Dichtung Rilkes«. Sabine Eickenrodt setzt sich in ihrem Aufsatz Symbolische Inkarnation. Spuren der Hamann-Lektüre in Käte Hamburgers Konzeption einer »Struktur des epischen Humors« mit Hamburgers Untersuchung Don Quijote (1959) auseinander. Hamburgers Lesart provozierte, weil sie die Ästhetik des Erhabenen in eine logische Struktur des erzählerischen Humors übersetzte. Eickenrodt geht dabei insbesondere auch der Bedeutung nach, die Hamburgers nicht publizierte Studie über die Sprachtheorien Hamanns und Herders für das Verständnis ihres Humor-Konzepts hat. Eine zweite Gruppe von Abhandlungen wendet sich Käte Hamburgers Hauptwerk Die Logik der Dichtung zu und bemüht sich um historische Kontextualisierungen, die Hamburgers Theorie sowohl in literaturwissenschaftlicher als auch in philosophiehistorischer Hinsicht ernst nehmen. Jørgen Sneis nimmt sich zu diesem Zweck in seinem Aufsatz Als ob – comme si – quasi. Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden Käte Hamburgers Kritik an Roman Ingardens Konzept des Quasi-Urteils vor. Anhand der aus der Kritik resultierenden, in Briefen und späteren Studien ausgetragenen Kontroverse analysiert er, wie die beiden Kontrahenten aneinander vorbeireden und die Auseinandersetzung schließlich aufgrund divergierender theoretischer Rahmungen und unterschiedlicher Erkenntnisinteressen misslingt.

8 | Andrea Albrecht und Claudia Löschner In einem zweiten Beitrag, Theoriedesign. Randbemerkung zu einem Verweis auf Nicolai Hartmann in der zweiten Auflage von Käte Hamburgers »Die Logik der Dichtung«, geht Jørgen Sneis sodann einer Referenz auf die ontologische Erkenntnistheorie Nicolai Hartmanns nach, die Hamburger, vermutlich in Reaktion auf den um die Logik der Dichtung geführten Streit, in der zweiten Auflage ergänzt. Was die »Theorie der Aussage« schärfer konturieren soll, erweist sich bei näherer Hinsicht als Ergebnis einer nur selektiven, vor allem um Synthese bemühten Rezeption der Hartmann’schen Philosophie. Dieser Umgang mit Quellen scheint für Hamburger relativ typisch zu sein und einige hermeneutische Schwierigkeiten bei der Lektüre ihrer Texte zu bedingen. Jörg Schönert prüft in seinem Beitrag Käte Hamburger im fachgeschichtlichen Kontext des Zeitraums 1955–1975, wie sich im zeitlichen Umfeld der Erstpublikation von Die Logik der Dichtung die theoretischen Konzepte zur literaturwissenschaftlichen Praxis Hamburgers verhalten. Durch eine fachgeschichtliche Kontextualisierung wird deutlich, dass Hamburgers theoretische Innovationen nicht so durchgreifend sind, wie sie in der Rezeption bis in die 1980er Jahre zumeist eingeschätzt wurden. In ihren Textinterpretationen und literaturgeschichtlichen Kommentaren folgt Hamburger hingegen weitgehend den in den 1950er Jahren geltenden philologischen Konventionen. Um eine kritische Anbindung von Hamburgers theoretischen Positionen an aktuelle Problemkomplexe und Diskussionen geht es in der dritten und letzten Gruppe von Beiträgen. Peggy Bockwinkel zeichnet in ihrem Aufsatz Käte Hamburgers »Die Logik der Dichtung« und die Rezeption der Deixis die Rezeptionsgeschichte von Hamburgers Deixisbegriff bis in aktuelle literaturwissenschaftliche und linguistische Arbeiten nach. Die anhaltend eher verhaltene Wahrnehmung von Hamburgers Deixis-Konzept wird zum einen auf die Ausarbeitung selbst, zum anderen auf die besonderen Kommunikations- und Transferschwierigkeiten zurückgeführt, die bei bidisziplinären Untersuchungen in besonderem Maß auftreten können. In seinem Aufsatz Kritik am Kompositionalismus. Zu Vorstellungen fiktionalfaktual gemischter Texte, zu Semifiktionalität und zu Gradationen der Fiktionalität entfaltet Lutz Danneberg ein alternatives, hermeneutisch begründetes Argument für Hamburgers fiktionstheoretische Zurückweisung des Kompositionalismus, mit dem er zwar Hamburgers Annahme, man könne fiktionale Texte mittels textinterner Merkmale von nicht-fiktionalen unterscheiden, widerspricht, aber ihre rigorose Trennung von Wirklichkeitsaussage und fiktionaler Aussage über die Nicht-Wirklichkeit unterstützt. Der hermeneutische Zugang, der die Eigenschaft ›fiktional‹ als eine Makroeigenschaft von Darstellungsgesamtheiten konzipiert, läuft auf eine Reihe von Grundannahmen über fiktionale Darstellungen im Vergleich zu der als real ausgezeichneten Welt hinaus: die

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ontologische Begrenztheit fiktionaler Darstellungen, die univiale Zugänglichkeit fiktionaler Welten, die unterschiedliche Relevanz und Zugehörigkeit von Texteigenschaften zur fiktionalen beziehungsweise realen Welt. J. Alexander Bareis’ Beitrag Käte Hamburgers Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit widmet sich der zuweilen als zweites Hauptwerk angesehenen Studie Wahrheit und ästhetische Wahrheit aus dem Jahr 1979. Bareis verdeutlicht den Zusammenhang von Hamburgers Fiktionalitätskonzept mit ihrem wahrheitstheoretischen Ansatz und rekonstruiert, wie Hamburgers strikte Zurückweisung eines Konzepts von Wahrheit in der Kunst als eine Fortführung der in der Logik der Dichtung postulierten Grundauffassungen gelesen werden kann. Den Abschluss bildet ein Kleines Glossar, das Claudia Löschner im Zuge der Vorbereitung für diesen Band zusammengestellt hat. Es führt wesentliche Schlüsselbegriffe aus Hamburgers Schriften auf und erläutert und situiert sie im Kontext sowohl der historischen als auch aktueller Fragestellungen. Auf den Abdruck einer die in dieser Einleitung genannten Angaben ergänzenden Personalbibliographie haben wir verzichtet, verweisen an dieser Stelle aber auf die aktuelle bibliographische Zusammenstellung der Primär- und Sekundärliteratur in der Dissertation von Claudia Löschner.17 Weitere Studien werden erweisen müssen, ob das in unserem Band anhand von einigen wenigen Texten und einigen herausgehobenen Diskussionssträngen verfolgte Programm, Käte Hamburgers Beiträge zur Literaturtheorie und Literaturgeschichte aus den historischen, politischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Kontexten ihrer Entstehung heraus zu verstehen und auf dieser Grundlage zu einer Bestandsaufnahme, fundierten Kritik und etwaigen Reaktualisierung ihrer Arbeiten zu gelangen, fruchtbar für eine kontextsensible fachgeschichtliche Auseinandersetzung mit ihrem literaturwissenschaftlichen Œuvre werden kann. Auch eine weitere Prüfung des tatsächlichen ›Einflusses‹,18 den Konzepte und Vorstellungen von Hamburger auf die heutige Theorie, Methodologie und Praxis der Literaturwissenschaften haben, steht noch aus. Von zentraler Relevanz scheint uns dabei zum einen die konsequente Verbindung ihrer theoretischen Positionen mit ihrer literarhistorischen und interpretativen Praxis, zum anderen die fortgesetzte Rekonstruktion der Referenzkontexte zu sein, in denen Hamburgers Arbeiten stehen. Sowohl für eine angemessen komplexe || 17 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 203–227. Demnächst wird zudem auf der Forschungsplattform am Stuttgart Research Center for Text Studies eine aktualisierte Bibliographie bereitgestellt. 18 Vgl. dazu Lutz Danneberg: ›Einfluß‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, Bd. 1, A–G, S. 424–427.

10 | Andrea Albrecht und Claudia Löschner Darstellung ihres wissenschaftlichen Profils als auch für eine von Hamburger ausgehende vergleichende Analyse des fach- und disziplinengeschichtlichen Umfelds und der intellektuellen Netzwerke, die sich über die historischen Einschnitte der Zeit des Nationalsozialismus, die Phase der Politisierung und Demokratisierung der Geisteswissenschaften wie auch die Phase ihrer disziplinären Verwissenschaftlichung und Theoretisierung hinweg entwickelt haben, ist hier erst der Anfang gemacht. Die versammelten Beiträge sind zum einen Ergebnis eines wissenschaftlichen Kolloquiums, das die Universität Stuttgart im Jahr 2012 anlässlich des 20. Todesjahres von Käte Hamburger unter dem Titel Käte Hamburger im Kontext in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg veranstaltet hat; zum anderen wurden Beiträge später hinzugewonnen. Unser Dank gilt in erster Linie den Beiträgern, die mit Engagement und Geduld am Zustandekommen dieses Bandes teilgenommen haben. Besonderer Dank gilt Joel Berger und Marcel Lepper, ohne deren Anstiftung und Unterstützung wir mit dem Projekt gar nicht erst begonnen hätten. Dank geht auch an Wilhelm Schernus, der uns bei der Einrichtung der Beiträge eine unverzichtbare Hilfe war, und an den Akademie-Verlag, seit Kurzem mit dem Verlag Walter de Gruyter verschmolzen, der uns die Drucklegung ermöglicht hat. Wir danken außerdem der Rechteinhaberin Angela Martini für ihre großzügige Genehmigung aller angefragten Zitationen aus dem im DLA Marbach bewahrten Nachlass Käte Hamburgers.

Andrea Albrecht

»[H]eute gerade nicht mehr aktuell« Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte* Abstract: In this hermeneutic analysis the contemporary philosophical and literary-historical contexts of Käte Hamburger’s article »Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik« (Novalis and mathematics. A study on the epistemology of romanticism), published in 1929, are reconstructed. On the basis of Hamburger’s self-commentaries and the reception of her article, hypotheses about Hamburger’s original intentions are derived. The historical perspective shows that Hamburger’s study does not break with the mainstream of literary studies but rather integrates her understanding of neo-Kantianism with her philological knowledge. Between 1933 and 1945, the rich neo-Kantian tradition, from which Hamburger’s Novalis study draws, was so disrupted that by the 1950s – and perhaps still today – it had become unfamiliar and arcane.

Einleitung In der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung hat Käte Hamburgers Beitrag »Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik«1 einen fast schon legendären Ruf: Der mit Hamburger befreundete Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907–2001) beispielsweise konstatiert 1992 rückblickend, dass die »Studie über ›Novalis und die Mathematik‹ von 1929 […] fast eine Sensation für die germanistische Zunft« gewesen sei: || * Ich danke Franziska Bomski, Claudia Löschner, Alexandra Skowronski, Carlos Spoerhase und Romana Weiershausen für die kritische Lektüre dieses Aufsatzes und für zahlreiche Hinweise. Ein besonderer Dank geht an Lutz Danneberg. 1 Käte Hamburger: Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik, in: Romantik-Forschungen. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Buchreihe. 16. Band (1929), S. 113–184. Im Folgenden ohne Sigle im Fließtext zitiert. Der Beitrag erscheint 1966 in einer veränderten Fassung: Käte Hamburger: Novalis und die Mathematik, in: Philosophie der Dichter. Novalis–Schiller–Rilke [Festschrift zum 70. Geburtstag]. Stuttgart 1966, S. 11–82. Diese zweite Version zitiere ich im Folgenden im Fließtext mit der Sigle N.

12 | Andrea Albrecht Die völlig ungewohnte Themenstellung einer Verwandtschaft von Mathematik, Philosophie und Dichtung, Novalis als Vorläufer eines Albert Einstein, das war ebenso unerwartet wie nahezu skandalös.2

Gesa Dane übernimmt diese Wertung im Jahr 2000 in ihr wissenschaftsgeschichtliches Porträt Hamburgers,3 ebenso Eberhard Lämmert,4 und auch Bernward Loheide hält den Aufsatz für »bahnbrechend«; Hamburger habe gezeigt, dass Novalis mit »seinen an Kants Erkenntnistheorie orientierten Infinitesimalrechnungen […] die unendliche Annäherung an das Ideal so präzise durchdacht« habe, »dass die moderne Integral- und Differentialmathematik in ihm [Novalis] einen bedeutenden Vorläufer erkennen könne«.5 Zwar hatte Dennis F. Mahoney schon 1980 gewarnt, dass Hamburgers Thesen zur Nähe von Novalis’ Einsichten zur modernen Physik »zweifellos zu enthusiastisch formuliert« seien,6 doch auch 2009 spricht Hanna Delf von Wolzogen noch von einem »groundbreaking essay«, der nicht nur Novalis’ Verhältnis zur Mathematik, sondern gleich die »significance of mathematics for romantic poetry worldwide«7 herausgestellt habe.8 Abgesehen von der Tendenz zur Hagiographie ist diesen aktuellen Einschätzungen von Hamburgers Aufsatz die Betonung eines grundlegenden wis|| 2 Hans Mayer: Freundeswort. Gedenkrede auf Käte Hamburger, in: Reden bei der akademischen Gedenkfeier der Universität Stuttgart für Frau Prof. Dr. phil. habil. Käte Hamburger, 8. Dezember 1992, hg. v. Jürgen Hering. Stuttgart 1993, S. 23–40, hier: S. 27. Vgl. schon die Einschätzung von Martin Erich Schmid: Novalis. Heidelberg 1976, S. 7, der von einem »fundamentalen Aufsatz« spricht. 3 Vgl. Gesa Dane: Käte Hamburger (1896–1992), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Portraits, hg. v. Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 189–198, hier: S. 190 Anm. 4 Vgl. Eberhard Lämmert: Käte Hamburger – Charakterzüge ihrer Wissenschaft, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles, Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 15– 27, hier: S. 21–22. 5 Bernward Loheide: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 166 Anm. Mathematikhistorisch gesehen, macht diese Aussage keinen Sinn, ist die Integral- und Differentialrechnung doch lange vor Novalis entwickelt worden. 6 Dennis F. Mahoney: Die Poetisierung der Natur bei Novalis, Bonn 1980, S. 80 Anm. 7 Hanna Delf von Wolzogen: Käte Hamburger, in: Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia 2009. Jewish Women’s Archive, URL = , zuletzt eingesehen am 17. August 2013. 8 Vgl. auch Christa Kersting: Remigration und Wissenschaftspolitik, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser S. 50–71, hier: S. 67.

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senschaftlichen Wandels gemeinsam: Hamburger sei mit ihrer Studie aus der Tradition oder dem Üblichen ausgeschert und habe damit in der Novalis-, wenn nicht in der Romantik-Forschung insgesamt eine bedeutsame Veränderung herbeigeführt – eine Aussage, auf die man auch im Hinblick auf die Logik der Dichtung immer wieder stößt. Was genau das Innovative oder Provokante an Hamburgers Novalis-Studie sein soll, bleibt allerdings vage: Besteht es in einer neuartigen methodischen Verbindung von Mathematik, Philosophie und Dichtung? Oder in einer Antizipationsthese, der zufolge Novalis die moderne Integral- und Differentialrechnung sowie die Einstein’sche Relativitätstheorie vorweggenommen habe und deswegen weiterhin von aktueller Bedeutung sei? Oder liegt der Wert des Aufsatzes doch eher in der literarhistorischen Etablierung eines mathematik- beziehungsweise wissenschaftsaffinen Bildes von der deutschen Romantik, das sich schlecht mit den irrationalistischen Epochenvorstellungen, die teilweise bis heute zirkulieren, übereinbringen lässt? Wie wurde der Aufsatz zeitgenössisch rezipiert und welchen Wert hat Hamburger selbst ihrem Aufsatz beigemessen? Die aktuelle Forschung zu Käte Hamburger weiß auf diese Fragen keine Antworten zu geben, die frühen Beiträge Hamburgers werden heute zwar noch genannt, aber scheinen kaum mehr eingehender konsultiert zu werden. Allerdings stellen Wissenschaftlerinnen wie Käte Hamburger, deren akademische Sozialisation in die 1920er und 1930er Jahre zurückreicht, die Fachgeschichte auch vor immense Herausforderungen, denn allein um Texte wie den NovalisAufsatz angemessen verstehen und hinsichtlich ihrer Bedeutung evaluieren zu können, bedarf es – wie im vorliegenden Beitrag exemplarisch gezeigt werden soll – einer detaillierten Rekonstruktions- und aufwändigen Kontextualisierungsarbeit. Oftmals lassen sich die Traditionsbestände aus der Zeit vor 1933 nur noch unzureichend aufarbeiten. In der Absicht, möglichst differenzierte Antworten auf die genannten Fragen zu geben, werde ich daher im Folgenden zunächst den Novalis-Aufsatz in seinem Publikationsumfeld von 1929 charakterisieren (1) und zwei wesentliche Aspekte der von Hamburger entfalteten Argumentation erläutern: Dies ist zum einen die Assoziation von Novalis und der neukantianischen Mathematikphilosophie (2) und zum anderen die Assoziation von Novalis und Einstein (3), über die Hamburger mathematische, philosophische und dichtungstheoretische Erwägungen aus der Romantik mit der Erkenntnistheorie beziehungsweise der Naturwissenschaft ihrer unmittelbaren Gegenwart zusammenbringt. Um die literaturwissenschaftliche Wirkung der Novalis-Studie einschätzen zu können, werde ich anschließend anhand von empirischen Zeugnissen deren zum Teil affirmative, zum Teil aber auch kritische Rezeption bis zum Erscheinen der zweiten Fassung im Jahr 1966 rekonstruieren (4). Hamburger nutzt die Gelegenheit des Neuerscheinens dazu, ihren

14 | Andrea Albrecht inzwischen über 30 Jahre alten Text selbst zu kommentieren (5) – ein Umstand, der Hinweise für eine hermeneutische Relektüre des Novalis-Aufsatzes gibt. Denn bis heute ist – und diesem Desiderat abzuhelfen ist die Absicht dieses Beitrags – weder den zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Kontexten (6) noch der eigentlichen Rahmung von Hamburgers Aufsatz, der Mathematikphilosophie und Erkenntnistheorie des Neukantianismus (7), in der Forschung angemessen Rechnung getragen worden. Erst vor diesem philosophie-historischen Hintergrund aber lassen sich Hypothesen zur Wirkungsabsicht des Novalis-Aufsatzes (8) wie auch Hypothesen zu dem ganz anders gearteten Novalis-Profil bilden, das Hamburger in ihrer Monographie Thomas Mann und die Romantik (1932) umreißt: In diesem nur drei Jahre nach der Publikation des Novalis-Aufsatzes entstandenen Beitrag scheint Hamburger ihren eigenen, in den eingangs zitierten Darstellungen als grundstürzend attribuierten Zugriff auf die Romantik wesentlich zu revidieren (9), was zeitgenössisch von Hannah Arendt wahrgenommen und kritisiert worden ist (10). Die Befunde nehme ich abschließend zum Anlass, etwas allgemeinere Aussagen über die problematische fachgeschichtliche Rezeption der frühen Studien Hamburgers zu formulieren (11).

1 Novalis und die Mathematik als Teil der »Romantik-Forschungen« Käte Hamburgers Beitrag »Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik« erschien erstmals 1929 in einem RomantikForschungen überschriebenen Band aus der Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, die, gemeinsam mit der zugehörigen Zeitschrift, seit 1925 von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker herausgegeben wurde und als philologisch-philosophisches Prestigeprojekt der deutschen Geistesgeschichte gelten kann.9 Der Publikationsort lässt also auf || 9 Die Zeitschrift erscheint bereits seit 1923, die Buchreihe startete 1925. Vgl. allgemein zur Deutschen Vierteljahrsschrift Holger Dainat: »wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten«. Die »Deutsche Vierteljahrsschrift« vor und nach 1945, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 562–582; Holger Dainat und Rainer Kolk: Das Forum der Geistesgeschichte, in: Beiträge zur Methodengeschichte der Philologien, hg. v. Robert Harsch Niemeyer. Tübingen 1995, S. 111–134; Elke Dubbels: Zum Verhältnis von wissenschaftlicher Tradition und Politik im ›Dritten Reich‹. Die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte in den Jahren 1933–1944, in: Deutsche Vierteljahrs-

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eine gewisse Bedeutung von Hamburgers Arbeit schließen. Mit ungefähr 70 Seiten gehört ihr Aufsatz außerdem nicht nur zu den längsten Beiträgen des Bandes, sondern mit ihrem Namen ist auch der ebenfalls umfangreiche Eröffnungsbeitrag von Betty Heimann zur »Freundschaft in Schleiermachers Leben und Lehre« verbunden, als deren Nachlassverwalterin Hamburger seit Heimanns Tod im Jahr 1926 fungierte.10 Wie man den erhaltenen Korrespondenzen entnehmen kann, brachte die Überlänge des Novalis-Beitrags Kluckhohn erst auf die Idee, einen Reihenband zur Romantik-Forschung zusammenzustellen.11 Das also eher einer Gelegenheit geschuldete Zustandekommen des Bandes bildet sich auch darin ab, dass dieser keine einheitliche wissenschaftspolitische Linie erkennen lässt, denn neben Hamburger und Heimann kommt eine bunte Reihe methodisch und weltanschaulich ganz anders ausgerichteter Denker zu Wort. Mit Josef Körners kurzem editionsphilologischem Beitrag zu August Wilhelm Schlegel12 und mit Richard H. Samuels biographischem Aufsatz zu Novalis13 sind dies zunächst zwei weitere Germanisten jüdischer Herkunft, die || schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 672–706; Christoph König: ›Made in Heidelberg‹. Erich Rothacker und die Anfänge der ›Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte‹, in: Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise, hg. v. Hubert Treiber und Karol Sauerland. Opladen 1995, S. 170–182; Ralph Stöwer: Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen. Göttingen 2012, S. 81–86. 10 Betty Heimann (1885–1926) hatte 1916 bei Georg Simmel über »Hegels ästhetische Anschauungen« in Straßburg promoviert und lehrte in den 1920er Jahren an der Universität Utrecht, wo sie auch zur Habilitation aufgefordert wurde, aber zuvor an den Folgen einer Operation verstarb. Käte Hamburger wurde ihre Nachlassverwalterin und gab neben dem Aufsatz zu Schleiermacher auch ihre Habilitationsschrift postum heraus (System und Methode in Hegels Philosophie, 1927). Vgl. zu Heimann Hanna Delf: Heimann, Betty, in: Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert: Lexikon zu Leben und Werk, hg. v. Jutta Dick und Marina Sassenberg, Reinbek 1993, S. 165. 11 Diesen Hinweis verdanke ich Claudia Löschner. Die Korrespondenzen zwischen Hamburger und Kluckhohn finden sich im DLA Marbach. 12 Josef Körner (1888–1950) promovierte 1910 in Germanistik, seine 1924 in Prag eingereichte Habilitationsschrift »Romantiker und Klassiker« wurde unter August Sauer und Herbert Cysarz nur nach langer Debatte angenommen. 1939 wurde Körner aus ›rassischen‹ Gründen die venia legendi entzogen; er wurde 1944 nach Theresienstadt deportiert, überlebte aber. Vgl. dazu vor allem Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe, hg. v. Ralf Klausnitzer. Göttingen 2001. Vgl. die wichtigen Ergänzungen in der Rezension von Kurt Krolop: Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung, in: iaslonline, URL = , zuletzt eingesehen am 20. August 2013. 13 Richard H. Samuel (1900–1983) studierte bei Paul Kluckhohn, Eduard Spranger und Friedrich Meinecke und promovierte 1925 in Berlin bei Letzterem mit einer geschichtsphilosophischen Arbeit (Die poetische Staats- und Geschichtsauffassung Friedrich von Hardenbergs (Novalis). Frankfurt a. M. 1925). Obgleich evangelisch getauft, verlor Samuel 1933 wegen seiner

16 | Andrea Albrecht jedoch aus anderen Wissenschaftstraditionen stammen: Während sich Körner als Schüler Jakob Minors in Prag im Umfeld von August Sauer zu behaupten suchte, war Samuel über sein Studium bei Paul Kluckhohn, Julius Petersen und anderen bereits zu einem wichtigen Protagonisten der Novalis-Edition geworden. Beide sollten sich in den 1930er Jahren wie Hamburger der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt sehen. Hermann Gumbel14 hingegen, dessen Antrittsvorlesung zu Tieck ebenfalls einen Platz im Band findet, steht für die vor allem von August Sauer und Joseph Nadler vorangetriebene Literaturgeschichtsschreibung der Stämme und Landschaften, die mit völkischen und antisemitischen Tönen nicht geizte und schon in den 1920er Jahren verstärkt Zulauf fand.15 Gumbel, der sich ab 1933 als begeisterter Nationalsozialist gerierte,16 konnte sich zunächst in Frankfurt, später in Königsberg etablieren. Auch Kurt May, der wie Samuel aus dem Umfeld von Julius Petersen kam und zu den

|| jüdischen Herkunft seine Assistenzstelle bei Julius Petersen in Berlin und emigrierte 1934 nach Cambridge, wo er 1938 eine Ph.D. thesis über Kleist verfasste. Nach einer Internierung als »enemy alien« schloss er sich 1940 der Britischen Armee an und arbeitete kurzzeitig als Übersetzer für den britischen Geheimdienst. 1947 nahm er eine Stelle an der University of Melbourne an und baute von dort die australische Germanistik auf. Samuel war maßgeblich für die Historisch-kritische Novalis-Ausgabe (1958–1983) verantwortlich. Vgl. Warren Perry: Samuel, Richard Herbert (1900–1983), in: Australian Dictionary of Biography, National Centre of Biography, Australian National University, URL = , zuletzt eingesehen am 20. August 2013. 14 Hermann Gumbel (1901–1941) promovierte 1924 bei Franz Schultz (Ueber Grundlagen literarischer Stilkritik, erläutert an den Prosawerken der Ricarda Huch. Frankfurt 1925) und reüssierte nach 1933 als deutlich nationalsozialistisch argumentierender Germanist. So fand er beispielsweise in der Ritterdichtung des Deutschordens Frühformen nationalsozialistischen Geistes (Deutschordensdichtung und ostpreußischer Geist, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 13 (1937), S. 186–195), publizierte zu Erwin Kolbenheyer und wurde, weil als politisch zuverlässig eingestuft, 1939 in Königsberg Nachfolger des aus politischen Gründen von den Nationalsozialisten amtsenthobenen Paul Hankamer. Vgl. dazu u. a. Frank Estelmann und Olaf Müller: Angepaßter Alltag in der Frankfurter Germanistik und Romanistik. Franz Schultz und Erhard Lommatzsch im Nationalsozialismus, in: Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, hg. v. Jörn Kobes und Jan O. Hess. Göttingen 2008, S. 33–59, hier: S. 38–39. 15 Vgl. dazu Petra Boden: Stamm – Geist – Gesellschaft. Deutsche Literaturwissenschaft auf der Suche nach einer integrativen Theorie, in: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hg. v. Holger Dainat und Lutz Danneberg. Tübingen 2003, S. 215–261; Irene Ranzmaier: Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York 2008. 16 Vgl. Frank Estelmann und Olaf Müller: Angepaßter Alltag in der Germanistik und Romanistik, S. 33–60, hier: S. 38.

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Romantik-Forschungen einen geistesgeschichtlichen, gegen Fritz Strichs17 Dichotomie von Klassik und Romantik gerichteten Beitrag beisteuerte, konnte zwischen 1933 und 1945 reüssieren.18 Der Band wird mit einem Aufsatz von Benno von Wiese19 zu »Novalis und den romantischen Konvertiten« abgerundet, in dem dieser als Anreger konservativ-religiösen und antiaufklärerischen Denkens präsentiert wird, und schließt mit einem Beitrag von Andreas Müller, einem Kollaborationspartner von Paul Kluckhohn,20 zur »Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der Revolution«. Zusammengenommen stellen sich die Romantik-Forschungen also trotz ihres gemeinsamen Gegenstands als ein sehr heterogenes, vielstimmiges Unternehmen dar, in dem zeitgenössisch gewichtige Forscher zu Wort kamen. Dass sich in diesem Rahmen auch Käte Hamburger äußern durfte, die sich nach ihrer Münchner Promotion 1922 zunächst als Buchhändlerin und Privatgelehrte in Hamburg, dann seit 1928 als Privatassistentin bei Paul Hofmann in Berlin verdingte, ist also durchaus beachtlich, hatte sie sich doch in der Romantikforschung bis dahin noch keinen Namen gemacht.21 In gewisser Weise passte sie aber in das Programm, denn Hamburger trug mit ihrem Beitrag zur interpretatorischen Erschließung des Novalis-Nachlasses bei, der im Zuge des seit der Jahr-

|| 17 Fritz Strich gehörte zu den Hochschullehrern, bei denen Hamburger in München studiert hat, vgl. Hamburgers Studienbuch im Nachlass im DLA Marbach. 18 Kurt May (1892–1959) studierte unter anderem bei Julius Petersen und habilitierte sich 1925 in Erlangen bei Franz Sarau. Ab 1933 war er Professor in Göttingen und unterzeichnete das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler. 1937 trat er in die NSDAP ein, 1938 in die SA. 1943 wurde ihm vertretungsweise eine Professur an der Reichsuniversität Prag übertragen. 1951 erhielt er in Göttingen einen Lehrstuhl, wechselte kurz darauf nach Frankfurt. Vgl. Christoph König: May, Kurt, in: Neue Deutsche Biographie (NDB). Berlin 1990, Bd. 16, S. 522–523. 19 Benno von Wiese (1903–1987) promovierte 1927 bei Karl Jaspers und habilitierte sich 1929 in Bonn. 1932 erhielt er einen Ruf an die Universität Erlangen, wechselte 1945 nach Münster. Von Wiese war ab 1933 in der NSDAP und im Nationalsozialistischen Lehrerbund, engagierte sich als Blockleiter und als Lektor in Alfred Rosenbergs Schrifttumskommission im Hauptlektorat Deutsche Literaturgeschichte. Auch nach 1945 blieb von Wiese hochdekoriert. Vgl. KlausDieter Rossade: Dem Zeitgeist erlegen. Benno von Wiese und der Nationalsozialismus. Heidelberg 2007. 20 Andreas Müller (1901–?) war Studienrat, publizierte in den 1930er Jahren aber mit Kluckhohn zusammen literaturhistorische Schriften. 21 Kurz zuvor hatte sie Kluckhohn und Rothacker einen Beitrag für die Deutsche Vierteljahrsschrift geliefert, vgl. Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 446–474. Vgl. auch den kurzen Beitrag Käte Hamburger: Die Individuation der Gottesidee bei Jean Paul, in: Jean Paul Blätter 3 (1928), H. 1, S. 8–13.

18 | Andrea Albrecht hundertwende verstärkten Interesses an der Romantik eine stattliche Reihe von quellenhistorischen und editionsphilologischen Arbeiten zu Novalis und anderen Romantikern motiviert hatte und auch weiterhin motivierte. Als Begründer der historisch-kritischen Ausgabe war es nicht zuletzt Paul Kluckhohn, der sich zusammen mit Samuel um einen philologisch adäquaten Umgang mit Novalis’ Schriften bemühte und im Erscheinungsjahr der Romantik-Forschungen seine vierbändige Ausgabe der Schriften vorgelegt hatte.22 Dieser philologischen Tradition weiß sich Hamburger ausdrücklich verpflichtet und leitet ihre Studie entsprechend als einen Beitrag ein, der an die Vorleistungen von Minor, Kluckhohn und Samuel anschließt (116 Anm., 117 Anm. u. ö.) und einem editorisch erst unlängst zugänglich gemachten Ausschnitt aus Novalis’ Fragmenten, und zwar den sogenannten »Mathematischen Fragmenten«23 gewidmet ist. Mit der Erörterung von Novalis’ Verhältnis zur Mathematik möchte Hamburger aber auch eine allgemeinere Aussage über die Romantik treffen: Das Verhältnis zur Mathematik sei »aufschlußreich nicht nur für das Verständnis des Novalis selbst, sondern der romantischen Weltanschauung überhaupt« (115). Novalis soll mithin als ein »Repräsentant der Romantik« gewertet werden und als solcher ein instruktives Beispiel liefern, und zwar – wie schon der Untertitel der Erstfassung des Aufsatzes besagt – ein Beispiel für die »Erkenntnistheorie der Romantik« (113). Auf den ersten Seiten des Aufsatzes ist auf diese Weise das primär philosophische und nur sekundär literaturwissenschaftliche Forschungsinteresse, das Hamburger mit der Romantik verbindet, bereits deklariert. Auch die Rechtfertigung ihres Disziplinen übergreifenden Ansatzes folgt einem philosophischen Interesse. Denn da sich die Romantik gerade in Gestalt des Novalis, aber auch in Gestalt Friedrich Schlegels, durch ein besonderes Streben nach Universalität auszeichne, man sich in der Romantik bemüht habe, »die heterogensten Wissensgebiete«, also auch die Mathematik, »in Beziehung zueinander zu setzen« (116), kann Hamburger ihren methodischen Zugriff als dem Gegenstand adäquat bezeichnen. Die philologischen, aber auch die biographischen und mathematikhistorischen Quellen und Kontexte, die in ihrer Studie eingangs Erwähnung finden, erscheinen vor die|| 22 Novalis: Schriften. 4 Bde., hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Leipzig 1929. 23 Hamburger zitiert aus der gerade erschienenen Ausgabe von Kluckhohn, hatte sich aber, wie die Korrespondenz zeigt, bei Kluckhohn erfolgreich um eine Vorabeinsicht in die Korrekturbögen der Ausgabe bemüht. Zu Hamburgers editorischer Grundlage auch: Novalis’ Begriff vom Wissenschaftssystem als editionsgeschichtliches Problem, in: Novalis und die Wissenschaften, hg. v. Herbert Uerlings. Tübingen 1997, S. 23–46, hier: S. 25; dies.: Vom Familienarchiv zur historisch-kritischen Ausgabe. Oder: Von der ›Treue‹ zum Autor, in: Novalis – Das Werk und seine Editoren, hg. v. Gabriele Rommel. Wiederstedt 2001, S. 23–46.

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sem Hintergrund als hilfswissenschaftliche Zurüstungen, stehen jedenfalls nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Das Erkenntnisziel ihrer Studie besteht vielmehr erstens darin, zu zeigen, welche Signifikanz das Mathematische für die »Gesamtweltanschauung des Novalis« hat, und das heißt vor allem für Novalis als Philosoph, nicht als Dichter. Zweitens will Hamburger seine auf Mathematisches referierenden Reflexionen in den Kontext der »logisch-erkenntnistheoretischen Zusammenhänge […] der Marburger Schule« und drittens in den Kontext der »modernen mathematischen Wissenschaft« (118) stellen, um auf diese Weise seine Modernität zu demonstrieren. Dieser Absichtserklärung folgt auch die Gliederung ihres Aufsatzes: Der erste Abschnitt hält sich noch nah an einige wenige mathematische Fragmente des Novalis, an denen Hamburger zu belegen versucht, wie der Dichter sein Konzept des »magischen Idealismus« (120) in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Kant und dessen transzendentalphilosophischer Bestimmung des empirieunabhängigen, idealen Status mathematischer Entitäten entwickelt (119–128). Während sich Hamburger dabei zunächst vor allem auf Novalis’ Reflexionen zur Geometrie konzentriert, erweitert sie im zweiten und längsten Abschnitt des Aufsatzes diesen Fokus über Kant hinaus auf die von Newton und Leibniz begründete Infinitesimalrechnung und deren weltanschauliche Implikationen (128–177): Novalis wird hier im detaillierten Durchgang durch seine mathematischen Fragmente sukzessive als ein philosophischer Denker profiliert, dessen mathematische Reflexionen sich in der Deutung Hamburgers in unmittelbarer Nähe zur neukantianischen Erkenntnistheorie wie auch zur modernen Mathematik, d. h. zur Infinitesimalrechnung bewegen. Der dritte Abschnitt schlägt schließlich eine Brücke zur modernen Physik (177–184): Novalis’ Vorstellungen von Raum und Zeit werden – unter einem gewissen Vorbehalt gegen die anachronistische Schlussweise – mit den geometrischen Vorstellungen Minkowskis und Riemanns sowie mit den physikalischen Vorstellungen Einsteins in Verbindung gebracht.

2 Anachronismen I: Novalis – Cohen Anstatt die Argumentation Hamburgers en detail zu rekonstruieren, werde ich nur zwei Aspekte näher erläutern, die zum Verständnis der Studie und ihrer Wirkung von essentieller Bedeutung sind. Zunächst betrifft dies die vermeintlich »völlig ungewohnte« (Mayer) Verklammerung von Mathematik, Philosophie und Dichtung. Ungewohnt war diese Verklammerung für die Zeitgenossen Hamburgers nicht; vielmehr handelt es sich um eine insbesondere von Her-

20 | Andrea Albrecht mann Cohen etablierte und von Ernst Cassirer weiter ausgebaute Betrachtungsweise, die, ausgehend von erkenntnistheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Theoremen, auch andere kulturelle Phänomene und Artefakte wie etwa die Künste und die Dichtung in den Blick nahm24 – und damit schon in den 1910er Jahren auf deutliche Kritik stieß.25 Das Gelenkstück dazu boten bei Cohen wie bei Cassirer und dann auch bei Hamburger neben der Geometrie vor allem die Infinitesimalrechnung und die damit in Verbindung stehenden mathematikphilosophischen Konzepte der Unendlichkeit, der (erzeugenden) Funktion, des Kontinuums und der Stetigkeit. Der Rekurs auf diesen genuin mathematikphilosophischen Kontext hat in Hamburgers Aufsatz von Beginn an nicht nur eine heuristische, sondern auch eine konstitutive Funktion für die Exegese der Novalis’schen Fragmente: Den Grundgedanken des logischen Idealismus, den die moderne Mathematik des 19. Jahrhunderts immer stärker herausbildete, etwa in Bildungen wie der Ausdehnungslehre Graßmanns, der projektiven Geometrie und der Mannigfaltigkeitslehre Cantors, hat Novalis mit besonderer Klarheit konzipiert. Er begriff die Logik der Mathematik tatsächlich als eine »Logik des Ursprungs« im Cohenschen Sinne. Und so erhält die Mathematik, Höhepunkt einer kritisch idealistischen Erkenntnislehre, für den Romantiker, der an die unendliche Schöpferkraft des Geistes in einem fast übertriebenen Maße glaubte, eine spezifisch weltanschauliche, eben eine romantische Bedeutung. (126–127)

Hamburger beansprucht also gar nicht, Novalis als »Vorläufer« (Loheide) der modernen Mathematik zu installieren, hält ihn sogar »keineswegs« für einen »schöpferische[n] Mathematiker« (118). Ihr geht es vielmehr nur um seine Teilhabe an einem mathematikphilosophischen Programm, das später für die mathematischen Theoriebildungen des 19. Jahrhunderts Bedeutung erlangt hat. Hamburger nennt Hermann Graßmann, Georg Cantor, später kommen noch Giuseppe Veronese, Moritz Pasch und Henri Poincaré hinzu. Vorläuferschaft beansprucht Hamburger allerdings für einen Kerngedanken der neukantianischen Philosophie: Sie schreibt Novalis zu, Cohens »Logik des Ursprungs« antizipiert zu haben, die dieser 1902 in der Logik der reinen Erkenntnis ausformuliert und später – wie Hamburger zufolge auch Novalis – für andere, etwa || 24 Vgl. auch den ebenfalls von Herrman Cohen ausgehenden, aber anders entwickelten Traditionsstrang bei Franz Rosenzweig und Siegfried Kracauer, dazu Matthew Handelman: Applied Mathematics: Rosenzweig, Kracauer and the Possibilities of German-Jewish Philosophy. Diss. University of Pennsylvania 2013. 25 Vgl. dazu Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft. Würzburg 1994, S. 251–257; Hans Ludwig Ollig: Religion und Freiheitsglaube. Zur Problematik von Hermann Cohens später Religionsphilosophie. Hanstein 1979, S. 172–173.

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ethische und ästhetische Reflexionen genutzt hat.26 Hier ist nicht der Ort, um Cohens Erkenntnistheorie zu rekonstruieren; nur der Kerngedanke27 und seine mathematikphilosophische Herleitung28 seien kurz skizziert, um Hamburgers Applikation verständlich zu machen. Cohen geht davon aus, dass alle Erkenntnis als ›reine Erkenntnis‹ ihren ›Ursprung‹ allein im Denken hat, also nicht auf ein empirisch Gegebenes rückführbar ist, sondern geistig ›erzeugt‹ wird. Die Genese eines Gedankens, die den Psychologen interessieren mag, sagt nach Cohen über seine Geltung, über Gehalt und Wert des Gedankens nichts aus. Just darüber soll aber der Erkenntnistheoretiker Aussagen treffen. Der Erkenntnistheoretiker habe die »Aufgabe«,29 den Ursprung von Erkenntnissen zu eruieren, also die Gründe und Geltungsvoraussetzungen des Wissens zu analysieren und so ihren Wert zu ermitteln. Erkenntnistheoretisches Denken ist deswegen »Denken des Ursprungs«.30 Um bei dieser eigentlich klassisch metaphysischen Analyse Spekulationen zu vermeiden, muss sich der Erkenntnistheoretiker an möglichst sicheren Erkenntnissen orientieren; die elaborierteste Form sicherer Erkenntnis findet Cohen – einem Gedanken Kants folgend – in der Mathematik und den exakten Wissenschaften. Das mathematische Denken als das in den Naturwissenschaften zur Anwendung kommende Denken sei die »vorbildliche Art des reinen Denkens«.31 Dieses Denken avanciert deshalb im Marburger Neukantianismus zum Vorbild für alle || 26 Cohens Logik der reinen Erkenntnis war der erste Teil eines drei- bzw. vierteiligen Systems der Philosophie. Fertiggestellt hat er neben der Logik die Ethik des reinen Willens (1904) und die Ästhetik des reinen Gefühls (1912). Ebenfalls Überlegungen zu Novalis’ Umgang mit dem Unendlichen stellt Carl Emge an, und schlägt wie Hamburger eine Brücke zum Marburger Neukantianismus: Novalis’ »idealste[r] Pragmatismus« sei »nichts anderes als die Anwendung der Idee des Symbolismus auf die Sphäre des Erkennens. Er unterscheidet sich in nichts von der Hypothesisidee der Marburger Schule«. Carl Emge: Das Unendliche bei Novalis, in: Kant-Festschrift zu Kants 200. Geburtstag, 22. April 1924, hg. v. Friedrich von Wieser et al. Berlin-Grunewald 1924, S. 29–39, hier: S. 34. Zu Emges neukantianischem Hintergrund vgl. Christian Tilitzki: Der Rechtsphilosoph Carl August Emge. Vom Schüler Cohens zum Stellvertreter Hans Franks, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83.3 (2003), S. 459–496. 27 Speziell zur Logik des Ursprungs vgl. Werner Flach: Cohen’s Ursprungsdenken, in: Hermann Cohen’s Critical Idealisms, hg. v. Reinier Munk. Amsterdam Studies in Jewish Thought 10 (2005), S. 41–65. 28 Vgl. Gregory B. Moynahan: Hermann Cohen’s ›Das Prinzip der Infinitesimalmethode‹, Ernst Cassirer, and the Politics of Science in Wilhelmine Germany, in: Perspectives on Science 11 (2003), S. 35–75. 29 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (erstmals 1902), 21914, Nachdruck in: Werke, hg. v. Helmut Holzhey. Hildesheim, Zürich 2005, Bd. 6, S. 378. 30 Ebenda, S. 32–33. 31 Ebenda, S. 121.

22 | Andrea Albrecht anderen, auch für ethische und ästhetische Erkenntnisformen. Insbesondere in der Infinitesimalrechnung von Leibniz und Newton identifiziert Cohen das Modell ›reiner Erkenntnis‹, das ihm in der Folgezeit als systemkonstituierender Faktor dient: Das ist die Frage, […] um die es sich beim Infinitesimalen für die Logik handelt: die ungeschmälerte Sicherung, die uneingeschränkte, schöpferische Selbständigkeit des reinen Denkens. […] die präzise Frage und die erlösende Antwort auf eine unerläßliche und unersetzliche Bedeutung des Denkens, als Erzeugung, ist aus der Analyse des Unendlichen zu gewinnen. Es ist das Problem des Ursprungs, welches die neue Rechnung aufgerichtet und welches zugleich das Denken, als Erzeugung, zur Klarheit und zur Genauigkeit bringt.32

Im Unterschied zur antiken, griechischen Mathematik – auf die auch Hamburger kurz eingeht (128) –, sei in der Infinitesimal-Rechnung der Gesichtspunkt des Erzeugens […] durchgreifend zur Geltung gelangt […]. Dort [in der alten Mathematik der Griechen etc.] ist das Gegebene vorherrschend […]. In der neuern Mathematik dagegen ist […] der Ausdruck der Erzeugung (Generatio) von Anfang an üblich geworden. Die Bewegung soll beschrieben, soll bestimmt werden. Kein Gebilde darf als gegeben daher letztlich betrachtet werden, sondern, wie die Bewegung in ihrem Fortschritt bestimmt werden muß, so muß auch das mathematische Denken diesem rastlosen Laufe folgen, und an das Werden sich anklammern, und in seine Spuren seine Siegel drücken.33

Die neuere Mathematik der Infinitesimalrechnung liefert dem Physiker eine funktionale mathematische Beschreibung der (empirischen, physikalischen und stets endlichen) Bewegung und damit zugleich einen Einblick in den ›Ursprung‹ der Bewegung, die sich so nicht als Folge endlicher diskreter Schritte, sondern als ein unendliches Werden, als infinitesimaler Grenzwertprozess erweist. So kann Cohen behaupten: Der »Grund des Endlichen ist unendlich klein«.34 Zwar kann man schon in der Antike das Unendliche als ein durch Zerlegungen aus dem Endlichen hervorgehendes Konstrukt vorstellen; doch Cohen kehrt diese Vorstellungen um und lässt Endliches aus Unendlichem entstehen. Der »Grund des Endlichen« ist demnach das Infinitesimale, sind die unbegrenzt kleiner werdenden Schritte, mit denen sich eine Zahlenfolge ihrem Grenzwert annähert. Zwischen Endlichem und Unendlichem bleibt dabei allerdings eine unaufhebbare Kluft bestehen: Das Endliche ist nicht graduell mit dem Unendli|| 32 Ebenda, S. 32–33. 33 Ebenda, S. 121–122. 34 Ebenda, S. 125.

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chen verbunden, sondern das Unendliche – als unendlich Kleines und gleichzeitig unendlicher Grenzwertprozess – ist als erzeugender Ursprung des Endlichen zu verstehen.35 In ihrem Aufsatz referiert Hamburger diese Überlegung zur Erläuterung von Novalis’ Assoziation von metaphysischen und mathematischen Fragen in großer Detailgenauigkeit (137–147). Die Infinitesimalrechnung zeigt für Cohen beispielhaft, wie Erkenntnis über ein Objekt entsteht, wie also Denken Seiendes ›erzeugt‹. Anstatt von einem sinnlich Gegebenen auszugehen, das denkend nachgeahmt wird, bestimmt die neuere Mathematik die wissenschaftliche Wirklichkeit durch eine unendliche Annäherung, bringt sie also als geistige Konstruktion etwa eines naturwissenschaftlichen Gesetzes hervor. Cohen liefert damit seinen Beitrag zum erkenntnistheoretischen Fundierungsproblem, das nach dem Ursprung und den Quellen des Wissens fragt. Die infinitesimalen Größen haben, wie Cassirer später im Anschluss an Leibniz erläutert – und dabei das Cohen’sche Programm zugleich entschärft –, den Status einer »rein methodischen ›Fiktion‹, die nichtsdestoweniger notwendig und unentbehrlich ist«. Sie erlauben es dem Wissenschaftler, Bewegung nicht als »einzelnes empirisches Datum […], sondern« als »jenes allgemeine Prinzip« zu beschreiben, »dessen der Gedanke sich bedient, wenn er das Zusammengesetzte aus dem Einfachen konstruktiv hervorgehen läßt«.36 Für Cohen sind diese »Fiktion[en]« allerdings mehr als nur das Ergebnis eines »Kunstgriff[s] der mathematischen Technik«; sie konstituieren für ihn das, was er im Unterschied zur sinnlich wahrnehmbaren und endlichen ›Wirklichkeit‹ – im Anschluss an Platon – als »Realität« bezeichnet. Die infinitesimalen Größen und vergleichbare mathematische Konstrukte sind es, »die wir als Realität bestimmen«,37 und zwar als eine gedanklich erzeugte Realität, die nicht der Empfindung und anderen Kontingenzen überantwortet und insofern ›rein‹ ist. Der Bezug zur empirisch wahrnehmbaren, endlichen Wirklichkeit soll dabei nicht gekappt werden. Vielmehr findet Cohen in der Realität des mathematischen Denkens eine Vertretung,38 ein Korrelat der empirischen Wirklichkeit, das die approximative Anwendung mathematisch abstrakter Ideen auf die Natur erst sinnvoll macht. Cohen leugnet also weder das Vorhandensein von empirischen || 35 Dies ist der Hintergrund für Cohens Kritik an Spinozas Pantheismus, vgl. Jan-Hendrik Wulf: Spinoza in der jüdischen Aufklärung. Baruch Spinoza als diskursive Grenzfigur des Jüdischen und Nichtjüdischen in den Texten der Haskala von Moses Mendelssohn bis Salomon Rubin und in frühen zionistischen Zeugnissen. Berlin, Boston 2012, insb. S. 441–549. 36 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (erstmals 1907). Darmstadt 1994, Bd. 2, S. 156–157. 37 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, S. 132. 38 Ebenda, S. 136.

24 | Andrea Albrecht Sinnesdaten, Empfindungen und Anschauungen noch die Existenz von Dingen »ausserhalb der menschlichen Gehirne in selbsteigener Gegebenheit ihres Daseins«,39 doch er beharrt darauf, dass Wissensansprüche über diese Gegebenheiten nur auf gedanklichem Wege getroffen und das heißt – in der Sprache Cohens – ›rein‹ erfasst werden können. Erst im geistigen Erzeugen des Gedankens, nicht in einem wie auch immer zusammengesetzten, dem Denken vorausgehenden ›Gegebenen‹ liegt somit der Ausgangspunkt der neukantianischen Erkenntnistheorie. Auf diesen philosophiehistorischen Hintergrund nimmt Hamburger in ihrem Novalis-Aufsatz unmittelbar und ausführlich Bezug:40 Im ersten Abschnitt des Aufsatzes erfolgt dies formelhaft durch die Referenz auf Cohens »Logik des Ursprungs«, ergänzt durch die Hinweise, dass Cohens mathematikphilosophische Reflexionen auf Kant zurückgehen und trotz einer bestehenden Kontroverse von neueren Mathematikern bestätigt würden: Die Gegenstände der Mathematik, eben die mathematischen Begriffe, bedürfen zu ihrer Legitimierung keiner Entsprechung und keiner Anwendung in der Erfahrung. Darauf hatte bereits Kant nachdrücklich hingewiesen, und das haben neuere Mathematiker gegenüber gegenteiligen Meinungen (z.B. Veronese gegen Pasch) immer wieder betont. […] Das ideale Sein der mathematischen Begriffe rechtfertigt sich durch ihre Funktion und ›geht in dieser allein auf‹. (127)

Das Wissen um den idealen ontologischen Status mathematischer Gegenstände und um die empirieunabhängige Geltung mathematischer Erkenntnisse41 ist || 39 Hermann Cohen: Das Prinzip der Infinitesimalmethode (1883), in: ders.: Werke, hg. v. Helmut Holzey. Hildesheim 2005, Bd. 6, S. 126. 40 Zumindest für diesen Text kann man Hamburger einer bestimmten neukantianischen Strömung, nämlich dem Marburger Neukantianismus, zuordnen. Vgl. die gegenteilige Einschätzung bei Marcel Lepper: »Genau und anders«. Zum Nachlass Käte Hamburgers, in: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), H. 3, S. 734–738, hier: S. 735. 41 Hamburger hat dies von Ernst Cassirer übernommen. Moritz Pasch hatte sich um einen empirischen Aufbau der Geometrie bemüht. Giuseppe Veronese aber betont, daß die geometrische ›Möglichkeit‹ nicht allein auf die direkte äußere Beobachtung, sondern ebensowohl auf ›geistige Tatsachen‹ zu basieren sei. Die geometrischen Axiome sind nicht Abbilder der wirklichen Verhältnisse der Sinneswahrnehmung, sondern sie sind Forderungen, vermöge deren wir in die ungenaue Anschauung genaue Aussagen hineinlegen. Der Rohstoff, den uns die sinnlichen Eindrücke liefern, muß, um als Ansatz für mathematische Betrachtungen brauchbar zu werden, durch unseren Geist verarbeitet werden: und dieses ›subjektive‹ Element ist es, das in der reinen Mathematik, der Geometrie und der rationalen Mechanik den Vorrang vor dem ›objektiven‹ behauptet. […] Die sinnlichen Inhalte bilden somit zwar den ersten Anlaß, aber keineswegs die Grenze der mathematischen Begriffsbildung, noch den eigentlichen Bestand dessen, was in ihr gewonnen wird. Sie dienen als erste Anregung: aber sie gehen als solche in

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nach Hamburgers Lesart nun schon in Novalis’ Fragmenten deutlich präsent. Das zeige sich beispielsweise in Novalis’ Aussage, der »poetische Philosoph« sei »en état de créateur absolu. Ein Kreis, ein Triangel werden schon auf diese Art kreiert [...] wenn der Mathematiker wirklich etwas Richtiges tut, so tut er es als poeta philosophus« (135). Philosophisches, mathematisches und poetischästhetisches Denken stimmen demnach in Novalis’ Vorstellung darin überein, erzeugend und schöpferisch zu sein und auf diese von der Empirie nicht beeinträchtigte Weise in geistiger Selbständigkeit ›Sein‹ zu bestimmen. Dies macht ihn in Hamburgers Darstellung zum Vorläufer Cohens. Sich so eng an die neukantianische Philosophie anzulehnen, wie es Hamburger in ihrem Aufsatz tut, barg Ende der 1920er Jahre allerdings im Hinblick auf die akademischen Karrierepläne ein gewisses Risiko, hatte diese Position doch in der zeitgenössischen Wahrnehmung schon beachtlich an Kredit verloren. Max Scheler etwa resümiert bereits 1922 in Die deutsche Philosophie der Gegenwart: Auch die theoretische Physik erscheint hier vollständig formalisiert (nicht minder in anderer Richtung Rechtsphilosophie und Kunstphilosophie). Der ganze Erkenntnisprozeß der »Wissenschaft« – ein Begriff, der hier aufs einseitigste und noch einseitiger bei Kant an der mathematischen Naturwissenschaft orientiert ist, und zwar an der mathematischen Naturwissenschaft des newtonschen Zeitalters – wird hier in anschauungsfreies Denken, und zwar in erzeugendes Denken aufgelöst. […] Ein nicht zu übertreffender Scientivismus, der an die Stelle der Weltbegreifung ausschließlich die Begreifung der einen zusammenhängenden, den Kosmos aus dem Chaos erst erzeugenden Wissenschaft rückt, ist eines der Hauptmerkmale der Marburger Philosophie.42

Ähnlich votiert auch Rudolf Odebrecht in seinem Forschungsbericht Ästhetik der Gegenwart aus dem Jahr 1932: […] wie in der Logik der reinen Erkenntnis ein komplizierter spezialwissenschaftlicher Begriff – der Differentialquotient – zum »Ursprung« der Methode gemacht wird, so glaubt die Ästhetik des reinen Gefühls das Problem des Emotionalen auf das »Fühlen der Temperatur«, welches den »Eigenbewegungen des Nervensystems« entspricht, als der »Urform des Bewußtseins« zurückführen zu müssen. Hier spielt der Rationalismus der Newtonschen Methoden seinen letzten Trumpf aus, um zugleich mit sich selber Spott zu treiben; und nur mit tiefem Bedauern können wir die methodologischen Verkrampfungen

|| das Ganze der deduktiven Begründung, das gänzlich unabhängig zu gestalten ist, nicht ein.« Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Berlin 1910, S. 135–136. 42 Max Scheler: Die deutsche Philosophie der Gegenwart, in: Deutsches Leben der Gegenwart, hg. v. Philipp Witkop. Berlin 1922, S. 127–224, hier: S. 161–162.

26 | Andrea Albrecht verfolgen, von denen dieser ästhetisch feinfühlige Geist unter der Hingabe an das Idol einer sterbenden Epoche durchschüttelt wird.43

In den 1930er Jahren verschärfte sich denn auch der Ton. Der Marburger Neukantianismus wurde zum verfemten Symbol jüdisch-rationalistischen Philosophierens:44 Max Wundt beispielsweise bezeichnet den Neukantianismus als einen »logozentrisch« und »jüdisch übersteigerten Rationalismus«,45 Hans Alfred Grunsky schmäht ihn als »absolut widersinnigen Formalismus«46 und das Handbuch der Judenfrage von 1938 berichtet von den »rationalistischen Verbiegungen« und »talmudistischen Verballhornungen« Kants, die durch Cohen zum »ersten großen Einbruch des Judentums in die Philosophie« geführt hätten.47 Von dieser rassistischen Eskalation konnte Hamburger beim Verfassen ihres Aufsatzes noch nichts wissen. Doch ihr dürfte klar gewesen sein, dass der neukantianische Kontext ihrer Ausführungen auf ein nur geteiltes Echo stoßen würde. Ähnliches gilt für die zweite anachronistische Verbindung, die sie zwischen Novalis und Einstein zieht.

3 Anachronismen II: Novalis – Einstein Von Hamburger selbst wird die Vorwegnahme der Einstein’schen Relativitätstheorie durch Novalis nur unter Vorbehalt diskutiert, geht es ihr doch auch hier weniger um die Behauptung einer naturwissenschaftlichen Vorläuferschaft als vielmehr um die Erläuterung einer philosophischen Differenz zwischen Kant und Novalis. So möchte sie zum einen zeigen, dass es in der »Auffassung des Novalis über Raum und Zeit […] ersichtlich« werde, wieweit Novalis imstande war, die Grundgedanken Kants selbständig weiterzudenken, so daß eben diese Methode des transzendentalen Idealismus ihn forttrieb über das Euklidische Weltbild hinaus und in die Möglichkeit eines nichteuklidischen hinein – um so er|| 43 Rudolf Odebrecht: Ästhetik der Gegenwart. Berlin 1932, S. 74. 44 Es kommt deshalb einem politischen Bekenntnis gleich, wenn Wilhelm Burkamp (1879– 1939) im Jahr 1938 Cohens Ästhetik als die »tiefsinnigste[] Ästhetik« lobt, die er kenne. Wilhelm Burkamp: Wirklichkeit und Sinn. Berlin 1938, Bd. 2, S. 517 [§ 1118]. 45 Max Wundt: Das Judentum in der Philosophie, in: Forschungen zur Judenfrage. Hamburg 1937, Bd. 2, S. 75–87, hier: S. 84–85. 46 Hans Alfred Grunsky: Der Einbruch des Judentums in die Philosophie. Berlin 1937, S. 21–22. 47 Raymund Schmidt: Das Judentum in der Philosophie, in: Handbuch der Judenfrage. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes. Leipzig 1938, S. 391–401, hier: S. 401.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 27 staunlicher dies, als von nichteuklidischer Geometrie die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts noch nichts gewußt hat. (177–178)

Im Unterschied zu Kant, der gebunden an Konzepte der Newton’schen Physik das Konzept des »Euklidischen Raum[s]« und seiner Dimensionen nicht in Zweifel gezogen habe (179), habe Novalis durch sein an Mathematik und Poesie geschultes, und das heißt hier empirieunabhängiges Denken (180), eine »Ahnung von nichteuklidischer Geometrie« und der variablen »Dimensionszahl des Raumes« (179 Anm.) verspürt, was später dann durch Bernhard Riemann und Hermann Minkowski wissenschaftlich entfaltet worden sei. Am Rande sei bemerkt, dass es allerdings, was Hamburger noch nicht wissen konnte, schon weit vor der Zeit Kants und Hardenbergs in der Philosophie erste Ansätze dessen gab, was später als ›nicht-euklidische Geometrie‹ bezeichnet wurde,48 so dass Novalis’ Ahnung sich heute nicht ganz so erstaunlich ausnimmt, wie Hamburger meinte. Zum anderen schreibt Hamburger Novalis eine »Ahnung von einer Art ›Relativitätstheorie‹« zu (182). Novalis wird als ein »ahnend und intuitiv, aber oft mit einem geradezu erstaunlichen logischen Instinkt« (118) ausgestatteter Denker präsentiert – wobei der Ausdruck »Instinkt«49 hier wohl metaphorisch darauf verweisen soll, dass es sich bei den mathematischen und physikalischen Ahnungen um zwar zielsichere, aber nicht bewusste Gedankenausrichtungen handelt. Doch sowohl die geometrischen (vgl. 179 Anm.) als auch die physikali-

|| 48 Zu Lockes ›geometry of visibles‹ vgl. Norman Daniels: Thomas Reid’s Discovery of a NonEuclidean Geometrie, in: Philosophy of Science 39 (1972), S. 219–234; ferner Wolfgang Breidert: Die nichteuklidische Geometrie bei Thomas Reid, in: Sudhoffs Archiv 58 (1974), S. 235–253; zudem Hans Freudenthal: Nichteuklidische Geometrie im Altertum?, in: Archiv for History of Exact Sciences 43 (1991), S. 189–197. 49 Der ›Instinkt‹ (instinctus naturalis) eröffnet ein ganz eigenes semantisches Feld, das hier nicht weiter untersucht werden kann. Die Rede von Instinkt im Rahmen erkenntnistheoretischer Überlegungen mag obskur erscheinen, ist aber in der Zeit nicht ungewöhnlich, vgl. zum Verhältnis von Instinkt und Erkenntnis beispielsweise auch Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig 21906, S. 50–51, 186 und 261; auch Peirce denkt über einen »intellektuelle[n] Instinkt« nach, vgl. Charles Sanders Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus (1903), übers. und hg. v. Elisabeth Walther. Hamburg 1991, S. 57 und 115– 116. Vgl. zur Begriffs- und Ideengeschichte des Instinkts Charlotte Kogon: Das Instinktive als philosophisches Problem. Würzburg 1941; Wolfram Karl Köck: Zur Geschichte des Instinktbegriffs, in: Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, hg. v. Ernst Florey und Olaf Breidbach. Berlin 1993, S. 217–258. Gemeinsam ist der Rede vom Instinkt, dass die instinktiven Handlungen in der Regel unbewusst erfolgen, aber infallibel und zielgerichtet sind.

28 | Andrea Albrecht schen ›Ahnungen‹ werden hinsichtlich ihrer antizipatorischen Qualität von Hamburger umgehend relativiert: Wir dürfen nun aus den abgebrochenen Aussprüchen des Novalis keine zu große Meinung über eine vorahnende Erkenntnis der modernen Relativitätstheorie bei ihm gewinnen; sie sollen nur erweisen, daß gerade der Romantik, als deren konzentriertester Ausdruck die Persönlichkeit des Novalis gelten kann, die kühnsten Kombinationen des Gedankens, ohne die der Fortgang der mathematischen Naturwissenschaft nicht möglich wäre, besonders nahelagen und daß sie vorzüglich Novalis auf Ziele wiesen, die in der Tat das folgende Jahrhundert realisiert hat. (184)

Die Vorbehalte gegen ein anachronistisches Vorgehen und gegen die simplifizierende, aber in den Literaturwissenschaften immer wieder gern ventilierte These, dass die poetische Fiktion Vorläufer der Wissenschaft sei, sind deutlich. Warum aber schlägt Hamburger dennoch die Brücke von Novalis zu Einstein? Auffällig ist, dass Hamburger die Gültigkeit der Relativitätstheorie und den sich darin manifestierenden Fortschritt der modernen Naturwissenschaft nicht in Frage stellt, sondern als selbstverständlich voraussetzt. Dabei war um Einstein und die von ihm entwickelte Relativitätstheorie bereits Anfang der 1920er Jahre ein erbitterter Streit entbrannt, in dem nicht nur Zweifel an der wissenschaftlichen Dignität der Theorie artikuliert, sondern auch deutlich antisemitische Invektiven laut wurden.50 Im Zuge der Kontroverse wurden Argumente gegen die physikalische Theorie ins Feld geführt, die – zumindest an der Oberfläche – den Argumenten gegen die philosophische Lehre des Marburger Neukantianismus ähneln: So galt Einsteins Theorie ebenfalls als abstrakt, formalistisch, unanschaulich und lebensfern – und somit auch als typisch jüdisch.51 Spätestens 1933 wurde es dann üblich, Cohen und Einstein als Symptome ein und derselben Krise zu werten. Für Hans Alfred Grunsky beispielsweise steht fest, dass sich die für »talmudisches« Denken charakteristische »Doppelsinnig-

|| 50 Vgl. grundlegend Klaus Hentschel: Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins. Basel 1990; einen neueren, wenn auch nicht sonderlich innovativen Überblick liefert Milena Wazeck: Einsteins Gegner. Die öffentliche Kontroverse um die Relativitätstheorie in den 20er Jahren. Frankfurt, New York 2009. 51 Vgl. dazu Lutz Danneberg: Deutsche Linie und Deutsche Wissenschaft: Eckhart, Cusanus, Paracelsus, Copernicus, Böhme, Kepler, Leibniz & Co. – überfällige Forschungen zur Arbeit zwischen 1933 und 1945 an der Deutschen Linie des Denkens und Fühlens und zur Diskussion eines nichttraditionellen Konzepts epistemischer Güte, online-Publikation, URL = , zuletzt eingesehen am 17. August 2013.

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keit der Begriffe« auch bei Einstein findet.52 Die theoretische Physik hätte sich, bilanziert Ernst Krieck 1940 argwöhnisch, mit dem Neukantianismus, zumal der Marburger Judenschule Cohens, zusammengeschlossen. Das waren zu ihrer Zeit mächtige, zum selben Ziel strebende Kampfgenossen. So hat der Marburger Kantjude E. Cassirer dem Formalismus der theoretischen Physik eine starke Hilfe und Sicherung geleistet […].53

Cassirer habe »Kant als Kronzeugen« angerufen, wenn auch einen »mißverstandenen Kant«.54 In der Tat war es unter anderem Ernst Cassirer, der schon in den frühen 1920er Jahren für die Vereinbarkeit von Einstein’scher Relativitätstheorie und neukantianischen Philosophemen argumentiert hatte,55 weil die Einstein’sche Theorie mit ihrer nicht-euklidischen Raumvorstellung die wissenschaftsphilosophische Glaubwürdigkeit der Neukantianer zu zerstören drohte.56 Wie auch immer man Hamburgers Verknüpfung des romantischen Dichters mit den Protagonisten des Neukantianismus und der modernen Wissenschaft werten will, fest steht, dass sie sich mit ihren Deutungskontexten in politisch und wissenschaftlich schwieriges Gelände gewagt hat. Lag dieser riskanten Kontextwahl eine bestimmte Wirkungsabsicht zugrunde? An welchen Adressatenkreis richtete sich ihre Studie? Und welche Aufnahme ihrer Thesen zu Novalis spiegelt sich in den Rezeptionszeugnissen ihrer Zeitgenossen?

|| 52 Hans Alfred Grunsky: Baruch Spinoza, in: Forschungen zur Judenfrage 2 (1937), S. 88–115, hier: S. 107 und 115. 53 Ernst Krieck: Krisis der Physik, in: Volk im Werden 8 (1940), S. 55–62, hier: S. 57. Einstein hatte über sein Studium bei August Stadler tatsächlich eine Verbindung zum Marburger Neukantianismus. Zu den Vermittlungen von Kant-Kenntnissen insbesondere durch die Vorlesungen von August Stadler (1850–1910), die Einstein hörte, Mara Beller: Kant’s Impact on Einstein’s Thought, in: Einstein. The Formative Years, 1879–1909, hg. v. Don Howard und John Stachel. Basel 2000, S. 83–106. 54 Ernst Krieck: Krisis der Physik, S. 57–58. 55 Vgl. Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Berlin 1921. Die Vereinbarkeit war in der Zeit sehr umstritten und führte zu einem weiteren Bedeutungsverlust des Neukantianismus. Vgl. für die Gegenseite beispielsweise Lenore Kühn: Kant gegen Einstein. Erfurt 1920. 56 Vgl. beispielsweise die Kritik an Kant von Hans Reichenbach: Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori. Berlin 1920. Zu dem Komplex auch Lutz Danneberg: Deutsche Linie und Deutsche Wissenschaft.

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4 Zur Rezeption des Novalis-Aufsatzes Das Echo auf Hamburgers Aufsatz war insgesamt positiv. Den Anfang machte Paul Kluckhohn, der als Reihenherausgeber auch Hamburgers Beitrag ausdrücklich würdigte: Novalis’ Verhältnis zur Mathematik und die Bedeutung dieser Wissenschaft für sein Denken wird von Käte Hamburger mit sehr scharfsinnigen Interpretationen seiner mathematischen Fragmente dargestellt, wobei manche seiner Anschauungen und Ahnungen sich als überraschend modern erweisen.57

Diese überraschende Modernität von Novalis wurde in den frühen Jahren immer wieder als bemerkenswert eingestuft, wenn auch nicht unbedingt für »skandalös« (Mayer) erklärt. Thomas Mann beispielsweise reagierte »verblüfft« auf Hamburgers These »von Novalis’ träumerisch vorwegnehmenden Beziehungen zu Einstein und seinen Theorieen [sic]«.58 Paul Requadt hielt es für bemerkenswert, dass Hamburger »sogar Anklänge an die Relativitätstheorie«59 entdeckt habe. Allerdings fand die Antizipationsthese bei dem mathematisch, mathematikphilosophisch und naturwissenschaftlich versierten Dr. K. Hirsch, der den Aufsatz für das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik rezensierte,60 signifikanterweise keine Erwähnung. Er notierte nur die [e]rstmalige umfassende Interpretation der Rolle der Mathematik in Novalis Gesamtweltbild. Es gehört zur Allgemeinbildung, zu wissen, dass Novalis ein überschwänglicher Verehrer der Mathematik (vgl. die »Hymnen an die Mathematik«) gewesen ist. In dieser Arbeit werden die Gründe für solchen Enthusiasmus und die symbolische Bedeutung der Mathematik überhaupt für Novalis aufgedeckt. Darüber hinaus vergleicht die Verf. Novalis’

|| 57 Paul Kluckhohn: Neueste Literatur zur deutschen Romantik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 7 (1929), S. 705–744, hier: S. 721–722. 58 Thomas Mann an Käte Hamburger, 27.10.1932, in: Thomas Mann – Käte Hamburger. Briefwechsel 1932–1955, hg. v. Hubert Brunträger. Frankfurt a. M. 1999, S. 22. 59 Paul Requadt: Deutsche Romantik, in: Archiv für Kulturgeschichte 24 (1934), S. 257–271, hier: S. 259. 60 Auch im Rahmen des medizinhistorischen Interesses an Novalis kommt man immer wieder auf die Mathematik zu sprechen; Hamburgers Arbeit wird hier aber nicht zur Kenntnis genommen. Vgl. u. a. Karl Theodor Bluth: Philosophische Probleme in den Aphorismen Hardenbergs (Diss.). Jena 1914, insb. S. 26–40; Karl Theodor Bluth: Medizingeschichtliches bei Novalis: ein Beitrag zur Geschichte der Medizin der Romantik. Reprint 1934, insb. S. 12–13; Paul Diepgen: Novalis und die romantische Medizin, in: Klinische Wochenschrift 13.39 (1934), S. 1402–1405.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 31 erkenntnistheoretische Bemühungen um die Grundlagen der Mathematik mit neueren Ergebnissen, insbesondere denen der Marburger Schule.61

Weitere positive literaturwissenschaftliche Rezensionen62 folgten – auch aus dem Ausland. Der amerikanische Germanist Edwin H. Zeydel (1893–1972) beispielsweise konstatierte in seiner Besprechung für Germanic Review, dass Hamburgers Beitrag »lengthy and important« sei, habe sie doch eine erste und zugleich bestandskräftige Studie zu den mathematischen Aphorismen des Novalis vorgelegt, die diese als wesentlichen Faktor seiner philosophischen Auffassungen erweise.63 Es waren nicht zuletzt Schüler Zeydels, die in den Spuren Ham|| 61 Dr. K. Hirsch: [Rez.] Käte Hamburger: Novalis und die Mathematik, in: Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik 55.1 (1929), S. 13. Der Mathematiker und Philosoph Kurt Hirsch (1906–1986) promovierte 1930 mit der Studie Intuition und logische Form. Zur gegenwärtigen Philosophie der Mathematik (aus Geldnot wurde die Dissertation erst 1933 publiziert) bei Ludwig Bieberbach und Max Dessoir. Er arbeitete einige Jahre als Wissenschaftsjournalist für die Vossische Zeitung und schrieb eine Reihe von Rezensionen zu mathematikphilosophischen, mathematischen und physikalischen Fragestellungen, in denen er unter anderem auch Einstein, Heisenberg und andere Protagonisten der modernen Wissenschaft verteidigte. Mit einer jüdischen Frau verheiratet und selbst aus einer jüdischen, zum Protestantismus konvertierten Familie stammend, emigrierte Hirsch 1934 nach Großbritannien, wo er an verschiedenen Universitäten, zuletzt in London, erfolgreich als Mathematiker arbeitete. Vgl. K. W. Gruenberg: Orbituary Kurt August Hirsch, in: Bulletin London Mathematical Society 20.4 (1988), S. 350– 358; Kurt A. Hirsch: Sixty years of mathematics. Mathematical Medley, in: Journal of the Singapore Mathematical Society, 14.1 (1986), S. 35–50. In diesem Rückblick spricht Hirsch positiv von seinem Lehrer Ludwig Bieberbach, der bis 1933 »quite a sane man« (S. 39) gewesen und sich hinter seinen jüdischen Kollegen Schur gestellt habe. Bieberbach gehört zu den Protagonisten der »Deutschen Mathematik«. 62 In Paul Requadts sehr ausführlicher und passagenweise auch kritischer Besprechung des Sammelbandes wird Hamburgers Beitrag gegenüber den übrigen Beiträgen als eine »interpretativ fortschreitende, die Novalisforschung erheblich bereichernde Studie« deutlich herausgehoben. Die Verfasserin habe »in ganz ausgezeichneter Weise an dem Beispiel der Mathematik dargetan«, wie sich in Novalis’ philosophischem Denken Dichtung und exakte Wissenschaft verknüpfen. Paul Requadt: Deutsche Romantik, S. 258–259. Auch in der ansonsten wertneutral und rein deskriptiv formulierten Rezension von Rudolf Unger heißt es, dass Käte Hamburger »besonders aufschlußreich« Novalis’ »Äußerungen über Mathematik in Hinblick auf die romantische Weltansicht belangreiche Deutungen abgewinnt«. R. M.: [Rez.] Romantik-Forschungen […], in: Zeitschrift für Deutschkunde 44 (1930), S. 281–282. Im Inhaltsverzeichnis ist Rudolf Unger als Autor vermerkt, wahrscheinlich handelt es sich also bei den Initialen um einen Tippfehler. 63 Edwin H. Zeydel: Romantik-Forschungen (Book Review), in: Germanic Review 5 (1930), S. 297–301. Auch Theodore Geissendoerfer stellt 1933 in seiner Rezension für The Journal of English and Germanic Philology zustimmend fest, dass »Novalis’ approach to mathematics is based on the concept synthesis as he derived it from the critical idealism of Kant. For him this concept contained the creative element or power of which ›God‹ is only the idea or symbol. From

32 | Andrea Albrecht burgers dem mathematischen Novalis weiter nachgingen und eine USamerikanische Rezeptionslinie der Novalis-Forschung begründeten.64 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten klang die deutsche Resonanz auf die Studie deutlich ab – was wenig verwundert, lag die Publikation doch inzwischen Jahre zurück65 und fand durch die ins schwedische Exil vertriebene Hamburger keine Fortsetzung. In der Zusammenschau dieser frühen Rezeptionszeugnisse fällt auf, dass die in Hamburgers Aufsatz vorgenommene Verbindung von Mathematik, Philosophie und Dichtung zwar als scharfsinnig, nicht aber als ungewohnt oder gar spektakulär empfunden worden ist. Auch hinsichtlich der in ihr propagierten literaturwissenschaftlichen Thesen wurde der Studie kein grundstürzendes Potential zuerkannt. Hamburgers mathematisch-neukantianische Lesart von Novalis’ Fragmenten wurde um 1930 hingegen als eine sehr gute und erheblich bereichernde Kontextualisierung gewertet, die einen interessanten Blick auf einen bislang unberücksichtigten Ausschnitt aus dem nachgelassenen Werk des Dichters gestattete. Befremden hinsichtlich eines provozierend rationalistisch und wissenschaftsaffin geratenen RomantikBildes wurde dabei im Allgemeinen nicht geäußert. Einzig Günther Müller meldete Zweifel an: So dankenswert und anregend diese ausführlichen Darlegungen auch sind, so wird doch nur eine gleich ausführliche Nachprüfung zeigen können, wieweit hier der eigene Sinn der Novalisschen Äußerungen aufgedeckt, wieweit ihnen ein fremder Sinn untergelegt ist.66

Ob Müller mit dem »fremde[n] Sinn« jedoch die szientifische Lesart Hamburgers meinte, ist nicht sicher. Hamburgers kritischer Bezug auf die Ahnherren der || this investigation it is amply evident that, though Novalis was not a mathematician in the narrow sense of the word, his writings yet contain ideas and insights into the nature of mathematics which seem to have anticipated some of our modern theories, so greatly do they resemble them.« Theodore Geissendoerfer: [Rez.] Romantik-Forschungen by B. Heimann u. a., in: The Journal of English and Germanic Philology 32.2 (1933), S. 259–262, hier: S. 260. 64 Vgl z.B. Lydia Elizabeth Wagner: The scientific interest of Friedrich von Hardenberg (Novalis), Diss. U of Michigan, Ann Arbor 1937, S. XI–XII, 40 u. ö.; Martin Dyck: Novalis and Mathematics, Diss. U of Michigan. Ann Arbor 1959; im Preface bezeichnet Dyck sich als Schüler Zeydels. 65 Neben diesen freundlichen, aber relativ unspezifischen Würdigungen findet sich in der Zeit selbstverständlich auch eine Reihe von Studien, die Hamburgers Beitrag nicht erwähnen. So tauchen beispielsweise die Romantik-Forschungen in Paul Böckmanns ausführlichem Forschungsbericht aus dem Jahr 1933 nicht auf. Vgl. Paul Böckmann: Ein Jahrzehnt Romantikforschung, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 9 (1933), S. 47–53. 66 Günther Müller: [Rez.], in: Deutsche Literaturzeitung 51 (1930), H. 5, S. 219–224, hier: S. 221.

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Geistesgeschichte, auf Wilhelm Dilthey und Rudolf Haym, fand dagegen weit mehr Aufmerksamkeit,67 hatten sich die beiden doch abfällig über die philosophische Relevanz von Novalis’ »Hymnen auf die Mathematik« geäußert. Dilthey hatte die mathematische Bildung Hardenbergs zwar nicht bestritten; er billigte ihr eine berufspragmatische,68 später eine poetische Funktion zu, bestritt aber ihre Bedeutung für die Naturphilosophie. Dilthey war so insgesamt zu einem ambivalenten Urteil gekommen. Die »Hymnen auf die Mathematik« seien insofern »ganz unfruchtbar«, stellte er 1865 fest, da hier mit einem mystischen Begriff gespielt wird: einer ächten Mathematik, die im Morgenlande zu Hause sei, in Europa aber zur bloßen Technik ausgeartet sei. In derselben Weise [wie die Mathematik] werden die Theorien des Galvanismus und der Brown’schen Heilmethode durch eine grenzenlose Verallgemeinerung zum leeren, durch kein besonnenes Studium gestützten Spiel mit den Anschauungen der Reize, der Erregungen, der Galvanisation. Wo dagegen in die Tiefe dringende Bemerkungen auftreten: da gehören sie einer dichterischen Natur an. Zuweilen scheinen sie geradezu Stoff seiner poetischen Arbeiten zu sein, daher sie denn auch, mitten unter wissenschaftlichen Notizen, viele Mißverständnisse erregt haben. Überall aber durchdringt ein Geist dichterischer Gestaltung seine Theorien.69

Mathematisches Wissen diente Novalis demnach nur als eine ihm eigentümliche Anregung zum poetischen Spiel. Während Dilthey den Dichter in den Naturwissenschaften und in den »Wissenschaften des Geistes«70 zumindest noch auf der Höhe des Wissens seiner Zeit sah, meinte er dessen mathematische Kenntnisse als Mystizismus, als orientalische Zutat identifizieren zu können, die mit den aktuellen Entwicklungen der abendländischen Mathematik nichts zu tun habe.71 Hamburgers Studie konnte just diese Vorstellungen und Wertungen || 67 Vgl. Edwin H. Zeydel: Romantik-Forschungen, S. 299; Theodore Geissendoerfer: [Rez.] Romantik-Forschungen, S. 260. Siehe auch noch Howard Pollack: Novalis and Mathematics Revisited: Paradoxes of the Infinite in the Allgemeine Brouillon, in: Athenäum 7 (1997), S. 113– 140, hier: S. 115. 68 Vgl. Wilhelm Dilthey: Novalis, in: Preußische Jahrbücher 1865, S. 596–640, hier: S. 601. 69 Vgl. ebenda, S. 620–621. 70 Vgl. ebenda, S. 621. 71 Waldemar Olshausen, auf den Hamburger sich ebenfalls bezieht, kommt zu einem ähnlichen Urteil wie Dilthey: »Ein deutlicher Beweis dieser ungeduldigen, keinen ruhigen Fortschritt mehr vertragenden Flüchtigkeit seines Geistes gibt das Verhalten der Mathematik gegenüber. Sie hat offenbar eine kurze Zeit lang sein Interesse in hohem Maße bewegt. […] Kaum aber hat er ihr Wesen zu erkennen begonnen, so bleibt auch sie beiseite und dient nur noch dazu, seinem Geiste den Anstoß zu einer phantastischen Idee zu geben, die er dann willkürlich ihres eigentlichen Sinnes beraubt und durch spielende Assoziationen weiterbildet. So wurde die Analysis zur Erfindungskunst. So wird die Mathematik überhaupt alsbald zum eigentlichen

34 | Andrea Albrecht auf Grundlage der neuen Edition der Fragmente und mittels ihrer neukantianischen Kenntnisse korrigieren und zeigen, dass Novalis auch über um 1800 aktuelle mathematische Konzepte und Erkenntnisse räsoniert hat. Korrigiert wurde im gleichen Zug (128) auch Rudolf Hayms Behauptung, dass Novalis, von seiner Begeisterung für die Mathematik fortgerissen, in den Fragmenten jede »Besonnenheit« verliere und »über jener Kantschen Lehre zum Zungenredner«, also zu einem für seine Aussagen nicht mehr verantwortlichen Redner werde. 72 Hamburger stellte dagegen das Bild eines Dichters, der sich produktiv auf die Mathematik seiner Zeit bezieht und diese in den Fragmenten in einer kohärenten und sinnvollen Weise philosophisch reflektiert. Diese Korrekturen als einen grundlegenden wissenschaftlichen Wandel zu werten, ginge allerdings zu weit, liegt zwischen den Aussagen Diltheys und Hayms auf der einen und Hamburgers Gegenrede auf der anderen Seite doch mehr als ein halbes Jahrhundert. Und dass sich Novalis mit der Mathematik und den Naturwissenschaften intensiv beschäftigt hat, stand schon für Dilthey und Haym außer Zweifel; es war also schon vor Hamburgers Aufsatz weidlich bekannt,73 für Hirsch gar »Allgemeinbildung«,74 für Kluckhohn ein bereits gut bearbeitetes Forschungsfeld.75 Für hermeneutische Fragen vielversprechender scheint es daher, Hamburgers Aufsatz mit anderen, in ihrem Aufsatz nicht eigens aufgeführten zeitgenössischen Novalis- und Romantikbildern zu vergleichen. Doch dazu später mehr,

|| Element des Magiers […]. Denn sie lehrt die wunderbare Zahlenmystik der Natur verstehen […]« (Waldemar Olshausen: Novalis und die Naturwissenschaften. Leipzig 1905, S. 67–68). 72 Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes (erstmals 1870). Berlin 31914, hier: S. 418–419. 73 Auf die Mathematikaffinität von Novalis wird auch in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen schon viel früher hingewiesen, vgl. z. B. die Dissertation des jüdisch-österreichischen Philosophen Egon Friedell: Novalis als Philosoph. München 1904, S. 43–45. 74 In Mathematikerkreisen wird in der Tat immer wieder auf Novalis und seine Mathematikbegeisterung verwiesen, vgl. z. B. Alfred Pringsheim: Über Wert und angeblichen Unwert der Mathematik, in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 13 (1904), S. 357–382. Doch auch andernorts machte Novalis damit Furore. Im Anschluss an Vorträge Rudolf Steiners in den 1920er Jahren entwickelt sich beispielsweise auch eine theosophisch-anthroposophische Tradition der Auseinandersetzung mit Novalis und der Mathematik. Dazu zählt die Arbeit von Ludwig Kleeberg: Studien zu Novalis (Novalis und Eckartshausen), in: Euphorion 23 (1921), S. 603–639, und die Arbeit von Louis Locher-Ernst: Mathematik als Vorschule zur GeistErkenntnis. Zürich 1944. Erneut herausgegeben von der Mathemat.-Astronom. Sektion am Goetheanum. Dornach 1973. Vgl. allgemein zum anthroposophischen Rezeptionsstrang Sophia Vietor: Novalis und die Anthroposophie, in: Blüthenstaub. Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis, hg. v. Herbert Uerlings. Tübingen 2000, S. 339–364. 75 Paul Kluckhohn: Die deutsche Romantik. Leipzig 1924, S. 82–83.

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zunächst seien weitere Stationen der Rezeptionsgeschichte erwähnt, denn hier zeichnet sich nach 1945 ein signifikanter Wandel ab. Nach einer Phase der Nichtbeachtung während der Zeit des Nationalsozialismus bündelte sich das Interesse an Novalis’ Verhältnis zur Mathematik und damit auch an Hamburgers Studie vornehmlich bei den Novalis-Philologen, die sich für die mathematik- und wissenschaftshistorischen Kontexte der Hardenberg’schen Fragmente interessierten. Dabei kann man beobachten, dass mit zunehmender Spezialisierung die Sicht auf Hamburgers Leistung immer kritischer wurde – und zwar in philosophie- und geisteshistorischer wie in philologischer Hinsicht. Theodor Haering beispielsweise lobte Hamburgers Studie in seinem voluminösen Buch Novalis als Philosoph aus dem Jahr 1954 als »treffliche[s]«, »zuverlässige[s]«76 und »schöne[s] Buch«,77 widersprach aber kategorisch ihrer Herleitung der mathematikphilosophischen Überlegungen von Novalis aus kantischen Zusammenhängen.78 Auch Martin Dyck gestand Hamburger in seiner Studie Novalis and Mathematics aus dem Jahr 1959 zwar zu, sich als erste eindringlicher mit Novalis’ mathematischen Fragmenten auseinandergesetzt zu haben; doch wie für Haering war für ihn der Zusammenhang, den Hamburger über den Neukantianismus zwischen Mathematik, Philosophie und Dichtung herstellt, nicht haltbar. Hamburger sei unduly influenced by the philosophical distinctions of the Neo-Kantian school and hesitates to explore them from the more strictly mathematical point of view. She does not adequately represent the context of Novalis’ fragments in the historical setting of Novalis’ time.79

Insgesamt fiel Dycks Urteil über Hamburgers Studie sehr viel weniger emphatisch aus als sein Urteil zu Haerings Novalis-Buch, das er als »the most comprehensive, most profound, and most enlightening study of Novalis to date« auszeichnete.80 Ob man diesem Urteil zustimmen mag oder nicht, festzuhalten bleibt, dass in der auf Novalis und die Mathematik spezialisierten literaturwissenschaftlichen Forschung, die sich seit Mitte der 1950er Jahre im Anschluss an oder in || 76 Theodor Haering: Novalis als Philosoph. Stuttgart 1954, S. 553. 77 Ebenda, S. 542. 78 Ebenda, S. 534–535. Vgl. dazu auch Martin Dyck: [Rez.] Novalis als Philosoph by Theodor Haering, in: Comparative Literature 8.3 (1956), S. 264–268, hier: S. 267. Haering folgt, auch in der Kritik an Hamburger, Manfred Dick: Die Entwicklung des Gedankens der Poesie in den Fragmenten des Novalis. Bonn 1967. 79 Ebenda. 80 Martin Dyck: [Rez.] Novalis als Philosoph by Theodor Haering, S. 268.

36 | Andrea Albrecht Abgrenzung zu Hamburgers Arbeit entwickelte und bis heute prosperiert,81 mit Nachdruck vor allem auf die großen methodischen und thematischen Probleme hingewiesen wird, die sich aus der neukantianischen Kontextualisierung von Novalis’ Fragmenten ergeben.82 In der frühen Rezeption hingegen wurde, wie gesehen, diese Rahmung zwar konstatiert, stellte aber kein ernsthaftes Problem dar. Kritisiert wird nun zudem immer wieder, dass Hamburger ihre Befunde nur ins Verhältnis zu Novalis’ Poesiekonzept, nicht aber zu seiner poetischen Praxis gesetzt habe – ein Kritikpunkt, der an Hamburgers erklärtem Anliegen allerdings vorbeigeht, war sie doch, wie viele Geisteshistoriker der 1920er Jahre, vornehmlich an Novalis als Philosoph, nicht als Dichter interessiert. Es erscheint daher auch nicht als Zufall, dass trotz der vielen literaturwissenschaftlichen Rezensionen die erste wirklich angemessene Würdigung des NovalisAufsatzes nicht aus literaturwissenschaftlicher, sondern aus philosophischer Feder, und zwar von Gertrud Kahl-Furthmann (1893–1984) stammt.83 KahlFurthmann hatte zwischen 1919 und 1922 unter anderem bei Cassirer und Albert Görland in Hamburg studiert, also eine solide neukantianische Ausbildung erhalten, bevor sie bei Joseph Geyser, einem engen Kollegen von Clemens Baeumker, Hamburgers Doktorvater, in München promovierte.84 Doch ihre

|| 81 Vgl. zuletzt Franziska Bomski: Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800. Berlin 2014. Vgl. aber auch die ungedruckt gebliebene, aber recht gute Dissertation von Maximilian A. E. Aue: Novalis und Musil. Eine Untersuchung der romantischen Elemente im Werk Robert Musils, Diss. Stanford 1973, in der Hamburgers Aufsatz relativ ausführlich behandelt wird. 82 Vgl. John Neubauer: Symbolismus und Symbolische Logik. München 1978, S. 15. Mehr und mehr verliert sich dabei auch das Bewusstsein für den Pionierstatus von Hamburgers Studie. Man zitiert ihren Text, ohne sich wirklich damit auseinanderzusetzen. So beispielsweise Johannes Hegener: Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis. Bonn 1975, S. 284 u. ö.; Ulrich Gaier: Krumme Regel. Novalis’ »Konstruktionslehre des schaffenden Geistes« und ihre Tradition. Tübingen 1970, geht, obgleich er sich mit Novalis Verhältnis zur Mathematik auseinandersetzt, gar nicht auf Hamburger ein. 83 Gertrud Kahl-Furthmann: [Rez.] Käte Hamburger: Philosophie der Dichter, in: Literaturanzeiger 1 (1966), S. 264–270. 84 Vgl. Gertrud Kahl-Furthmann: Das Ideal des sittlich reinen Menschen: dargestellt an Gedanken von Plato und Kant. München 1928, S. 76. In den 1930er Jahren publiziert KahlFurthmann für den Nationalsozialistischen Lehrerbund Texte des NSDAP-Gauleiters der Bayerischen Ostmark Hans Schemm und, gemeinsam mit Henrich Hansen, eine Schrift Wider die englische Unkultur (Leipzig 1940). Parallel dazu entstanden philosophische Arbeiten, unter anderem Das Problem des Nicht. Kritisch-historische und systematische Untersuchungen (Berlin 1934). Obgleich mit einer Huldigung an den »gottbegnadeten Führer« versehen, werden hier die neukantianischen jüdischen Autoren, auch Cohen, noch ausführlich zitiert. Die Rezension von Heinrich Scholz: [Rez.] G. Kahl-Furthmann: Das Problem des Nicht. Berlin 1934, in: Deut-

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ausführliche und genaue Besprechung, die insbesondere der philosophischen Rahmung von Hamburgers Denken eingehend Rechnung trägt, bezieht sich auf die Neupublikation des Beitrags, die Hamburger als Gelegenheit nutzte, um auf ihre Kritiker zu reagieren und ihre eigenen »Bedenken des Überholtseins«, die sie gegenüber ihrer nunmehr 37 Jahre alten Studie empfand, zu reflektieren.

5 »Bedenken des Überholtseins« – Hamburgers Selbstkommentar Die überarbeitete und mit einer »Einleitende[n] Vorbemerkung« versehene neue Fassung des Aufsatzes, die nur noch den Obertitel »Novalis und die Mathematik« trägt, erscheint 1966 in der von Fritz Martini und Helmut Kreuzer zu Hamburgers 70. Geburtstag herausgegebenen Aufsatzsammlung Philosophie der Dichter. Novalis Schiller Rilke als Eingangsbeitrag. Nicht nur die Wahl des Sammelbandtitels, auch die vorgenommenen Anpassungen zeugen davon, dass sich Hamburger des stark veränderten Rezeptionskontexts durchaus bewusst ist. In der dem Aufsatz vorangestellten »Vorbemerkung« rechtfertigt sie jedenfalls seine erneute Publikation. Während sie ihre Bemerkungen zur Mathematikauffassung des Novalis für weiterhin valide hält, konzediert sie, dass das »Verfahren«, das in ihrer Studie zur Anwendung gekommen sei, womöglich veraltet sein könnte: Auf das Verfahren freilich […] könnte in erster Linie das Bedenken des Überholtseins zutreffen. Denn die Mathematikauffassung des Novalis wurde vom Standpunkt der neukantianischen Erkenntnistheorie und Mathematikphilosophie interpretiert. (N12)

Die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der Fassung von 1929 noch ohne jeden Rechtfertigungsdruck auf den neukantianischen Kontext zugreift, hat sich in der Fassung von 1966 vollständig verloren. Hamburger sieht sich sogar zu einer historischen Erläuterung veranlasst, da sie offenbar nicht davon ausgeht, dass ihre Leser in den 1960er Jahren mit dem Ausdruck ›Neukantianismus‹ noch

|| sche Literaturzeitung 55 (1934), Sp. 2454–2461, ist vernichtend. Die Neuauflage von 1968 erscheint mit einem ›bereinigten‹ Vorwort. Zu Schemm: Franz Kühnel: Hans Schemm: Gauleiter und Kultusminister (1891–1935). Nürnberg 1985; Winfried Müller: Gauleiter als Minister: Die Gauleiter Hans Schemm, Adolf Wagner, Paul Giesler und das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus 1933–1945, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60 (1997), S. 973–1021.

38 | Andrea Albrecht etwas Präzises verbinden können. Entsprechend erläutert sie in didaktischdozierendem Duktus: Der Neukantianismus war in den zwanziger Jahren noch eine dominierende Richtung, parallel mit der Husserlschen Phänomenologie, hinter der er jedoch als fortwirkende Potenz allmählich zurücktrat, um in den folgenden Jahrzehnten von der ontologischen und existentialistischen Denkweise ganz verdrängt zu werden. Heute kann also eine auf den Neukantianismus gestützte Interpretation als veraltet erscheinen und ist auch bereits so beurteilt worden […]. (N12)

Schon in ihrer Rezension zu Martin Dycks Buch Novalis and Mathematics aus dem Jahr 1961 hatte Hamburger sich gegen dessen Vorwurf gewehrt, in ihrer Novalis-Exegese dem Neukantianismus über Gebühr gehuldigt zu haben: Ich hatte, was Dyck mir vorwirft, die Verwandtschaft des mathematisch-philosophischen Denkens Fr. v. Hardenbergs mit dem des Marburger Neukantianismus (Cohen, Cassirer, Natorp) aufgezeigt – kein philosophiegeschichtlicher Zufall übrigens, da eben der Neukantianismus die Fortbildung des kritisch-transzendentalen Idealismus ist, in dessen Raum sich das Denken des Novalis vollzieht. Es ist verständlich und natürlich, daß einen heutigen Interpreten der mathematischen Fragmente dieser Gesichtspunkt nicht mehr interessieren konnte.85

In den 1960er Jahren ist der neukantianische Gesichtspunkt, der in den 1920er Jahren noch keinen exponierten Anlass zur Kritik bildete, offenbar nicht mehr ohne weiteres vermittelbar – eine Beobachtung, die Hamburger als »verständlich« und »natürlich« charakterisiert, also – sich selbst historisierend – mit einer gewissen Resignation zur Kenntnis zu nehmen scheint. Die zeitgenössischen mathematikhistorischen Quellen von Novalis, die sie 1929 nur ansatzweise zu verzeichnen begonnen hatte, die Dycks Arbeit aber nun in den Mittelpunkt rückt, können Hamburgers Interesse jedoch auch nicht fesseln: Als Hauptertrag der Arbeit Dycks ist also […] die nähere Beschreibung des zeitgenössischen mathematikwissenschaftlichen Hintergrundes der mathematischen Aufzeichnungen des Novalis zu buchen. Methodisch wäre dazu zu sagen, daß dies gewiß eine sehr dankenswerte Einordnung des Novalis in die Wissenschaft seiner Zeit bedeutet, doch aber auch letztlich nicht mehr als ein natürlicher Umstand beschrieben ist.86

Angesichts dieses Desinteresses an Dycks tendenziell positivistisch-philologischem Programm überrascht es wenig, dass Hamburger auch bei der Wieder|| 85 Käte Hamburger: [Rez.] Martin Dyck: Novalis and Mathematics 1960, in: Neophilologus 45 (1961), S. 342–343, hier: S. 342. 86 Ebenda, S. 343.

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veröffentlichung ihres Beitrags an ihrem genuin philosophischen Interesse festhält. Es ist daher aufschlussreich zu sehen, wie mit dem Rekurs auf den Marburger Kontext in der zweiten Fassung umgegangen wird. Während sowohl die Relevanz als auch der Wahrheitswert der neukantianischen Philosophie in den 1920er Jahren noch unhinterfragt blieben, von Hamburger jedenfalls als selbstverständlich abrufbarer philosophischer Wissensbestand in die Literaturwissenschaft übernommen wurden, dispensiert sie sich in der zweiten Fassung davon, über den neukantianischen Wahrheitsanspruch zu urteilen. Dem neukantianischen Kontext wird nun lediglich eine heuristische Funktion zugeschrieben, die sich unabhängig von der Wahrheit der Philosopheme im erschließenden Umgang mit Novalis’ Fragmenten bestätigt und als fruchtbar erwiesen haben soll: Die neukantianische Philosophie der Mathematik – gleichgültig ob sie als solche haltbar ist oder nicht – erwies sich als dienlich zu zeigen, wie aufschlußreich die mathematischen Bemühungen des Novalis für seine Gesamtanschauung sind. (N13)

Dafür begründet Hamburger in einem ungefähr eineinhalbseitigen Einschub aber nun die bleibende Relevanz und Fruchtbarkeit des Neukantianismus für die Exegese der Hardenberg’schen Fragmente. Dass der neukantianische Interpretationskontext »kein philosophiegeschichtlicher Zufall« sei, hatte sie ja schon Dyck in ihrer Rezension ins Stammbuch geschrieben. In der zweiten Fassung des Novalis-Aufsatzes wird diese These nun biographisch, philologisch und philosophiehistorisch untermauert. Demnach besteht zwischen Kant, Novalis und dem Neukantianismus, insbesondere in Gestalt der Protagonisten der »Marburger Schule (H. Cohen, P. Natorp, E. Cassirer)« (N13), ein enger »ideengeschichtlicher Zusammenhang« (N12) des sich von Kant herleitenden »transzendentalen Idealismus« (N13). Dieser Zusammenhang rechtfertigt für Hamburger das anachronistisch erscheinende Deutungsraster, wie sie es in ähnlicher Form auch bei einem anderen ihrer Kritiker beobachten zu können meint. Theodor Haering87 habe

|| 87 Theodor Haering (1884–1964) war, was Hamburger ganz unerwähnt lässt, in der Zeit des Nationalsozialismus ein führendes Mitglied des NS-Dozentenbundes und hatte sich als Rassentheoretiker profiliert. Er hatte allerdings zuvor zwei sehr positive Rezensionen über die von Hamburger postum herausgegebene Hegel-Studie von Heymann verfasst, vgl. Theodor Lorenz Haering: [Rez.] Betty Heimann, System und Methode bei Hegel, und Hans Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, in: Blätter für Deutsche Philosophie 1 (1927), S. 245–247; ders.: [Rez.] Betty Heymann (Dr. phil. Hamburger): System und Methode in Hegels Philosophie. Leipzig 1927, in: Deutsche Literaturzeitung 17 (1928), S. 808–812. (Sehr positiv fällt auch eine

40 | Andrea Albrecht in seinem großen Werk Novalis als Philosoph (Stuttgart 1954) eine von Kant durchaus abweichende dialektische Philosophie des Novalis darzustellen gesucht und auch die Äußerungen über Mathematik in diese eingeordnet. (N14)

Haering hatte sich in seinem in der Tat »großen«, nämlich mehr als 600 Seiten starken Buch Mühe gegeben, das philosophische Denken von Novalis als eine zwar von Kant und Fichte inspirierte, aber dennoch eigenständige Vorwegnahme des dialektischen Denkens von Hegel auszuweisen. Den dialektischen Denkansatz sieht Haering nahezu alle Wissensbereiche prägen, mit denen Novalis sich beschäftigt hat, auch die Mathematik, der er einen eigenen Exkurs widmet.88 Geometrische Formen, Analyse und Synthese sowie Differential- und Integralrechnung werden nach Haerings Exegese von Novalis jeweils in einem »höheren Sinne genommen und ins Dialektische verschoben«, so dass man zwischen einer gewöhnlichen Mathematik als »bloße[r] Verstandeswissenschaft«,89 die Novalis als einseitig und abstrakt ablehne, und einer höheren, philosophischen Mathematik unterscheiden müsse. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung kann Haering dann Hamburgers Herleitung der mathematikphilosophischen Überlegungen von Novalis aus kantischen Zusammenhängen widersprechen:90 Nirgends tritt der Gegensatz des Novalis gegenüber Kant (und der heutigen mathematischen Naturwissenschaft) deutlicher hervor als in einer solchen Entgegensetzung.91

|| andere Rezension aus: B. [Bruno Bauch?]: [Rez.] Heimann, Betty: System und Methode in Hegels Philosophie, in: Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik 7 [1928], S. 51.) 88 Theodor Haering: Novalis als Philosoph, S. 541–552. 89 Ebenda, S. 544–545. 90 Ebenda, S. 534–535. Überraschenderweise scheint Haering entgegen diesen Bekundungen und entgegen seinem Beharren auf dem Gegensatz der Kant’schen und der Novalis’schen Mathematikphilosophie in weiten Teilen der neukantianischen Interpretation der Infinitesimalrechnung zu folgen, wenn er die analogische Verwendung der Differential- und Integralrechnung bei Novalis beschreibt. In immer neuen unbeholfenen Anläufen versucht Haering, und zwar ohne dabei Cohen, Cassirer oder auch nur Hamburger zu erwähnen, sein Verständnis mathematischer Grenzwertprozesse zu erläutern und als eine Einsicht von Novalis zu deklarieren, vgl. z. B. S. 543–544, 548–549, 550. Ähnliches hätte Haering – mit teils ähnlichen mathematischen Inkorrektheiten und Schwierigkeiten, teils aber auch sehr viel präziser – in Hermann Cohens Buch Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (1883), in Paul Natorps Buch Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910) oder in Cassirers Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) finden können. Dies gilt auch für die aus den mathematischen Aussagen abgeleiteten Analogien und für die These, dass alles gegenständliche Erkennen »eine unendliche Aufgabe« sei (S. 550). 91 Theodor Haering: Novalis als Philosoph, S. 545. Vgl. auch S. 553.

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Gerade die Mathematik scheint Haering als Illustration für die wahre Meinung des Novalis vom Wesen der Erkenntnis und insbesondere der Wissenschaft und Philosophie überhaupt besonders geeignet, da sie in letzter Zeit in besonderer Weise vielfach als Beweis für die besondere Aktualität des Novalisschen Denkens im Hinblick auf neueste Entwicklungen der Mathematik und Physik in einer Weise herangezogen worden ist, welche den wahren Ansichten des Novalis […] nicht wirklich entspricht […].92

Aktuell an Novalis ist für Haering im Unterschied zu Hamburger die »Kritik der ›rein verstandesmäßigen Mathematik‹ bzw. deren weltanschaulicher Überschätzung«.93 Während Hamburger Novalis als Exponent eines mathematikaffinen Denkens dargestellt hatte, instrumentalisiert Haering den Dichter für die entgegengesetzte, mathematik- und rationalismuskritische Seite. Man könne Novalis somit auch nicht »als Herold« für aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen, die einer abstrakten und formalen Mathematik und Physik das Wort redeten, »in Anspruch nehmen«,94 sondern dürfe seine emphatischen Bekenntnisse zum Mathematischen ausschließlich auf die höhere, metaphysische Mathematik beziehen,95 die die rechnende, verstandesmäßige Mathematik weit hinter sich gelassen habe. Trotz dieser mehr als deutlichen interpretatorischen und weltanschaulichen Divergenzen begegnet Hamburger Haerings philosophischem Buch wohlwollender als dem mathematikhistorisch-philologischen Buch von Dyck, kann sie doch zumindest feststellen, dass Haering ein ähnliches anachronistisches Lesen praktizierte und trotz seines hegelianischen Deutungsrasters Novalis im Kern als einen transzendentalphilosophischen Denker begriffen hatte.96 Verstärkt durch einen Autoritätsverweis auf den Novalisforscher der jüngeren Generation (N15), auf Hans Joachim Mähl,97 insistiert Hamburger schließlich auf ihrer Kant’schen Lesart und damit auch auf der Berechtigung und Relevanz ihrer || 92 Ebenda, S. 541. 93 Ebenda. 94 Ebenda, S. 546. 95 Dyck lobt Haerings Buch insgesamt, hält diese Unterscheidung aber für verfehlt, vgl. Martin Dyck: [Rez.] Novalis als Philosoph by Theodor Haering, S. 267. 96 Ihren Widerspruch zur dialektischen Deutung der Fragmente versteckt Hamburger höflich in einer Endnote, verbunden mit einer Erläuterung zum »Kantische[n] Begriff der Synthesis«, der eben »nicht dialektisch, sondern sozusagen selbstständig« sei (N72, Anm.). Ihrer Zurückhaltung mag durch Haerings freundliche Rezension von Heimanns Hegel-Studie begründet sein. 97 Zu Mähl vgl. Gerhard Schulz: In memoriam Hans-Joachim Mähl (1923–2001), in: Novalis. Poesie und Poetik, hg. v. Herbert Uerlings. Tübingen 2004, S. 13–19.

42 | Andrea Albrecht neukantianischen Kontextualisierung. Weiterhin wird also wie schon in der ersten Fassung behauptet: Wir können bei genauerem Zusehen hier Einsichten aufdecken, die den Untersuchungen neuerer Forscher wie Cohen, Natorp, Husserl und Russel[l] ganz nahe kommen und erkennen lassen, wie tief Novalis den Grundgedanken des kritischen Idealismus in der Tat begriffen hatte: denn nur aus ihm heraus […] begriff er Sinn und Wesen der modernen Mathematik als höchste Stufe eines transzendentalen Idealismus überhaupt. (129/N22)

Auf die hier deutlich werdende Aktualisierungsstrategie, die Novalis nicht nur mit Cohen und Natorp, sondern auch mit Edmund Husserl und Bertrand Russell, also mit dem führenden Phänomenologen und dem führenden analytischen Philosophen der Zeit lesbar zu machen versucht, komme ich noch zurück. Abgesehen von der »Vorbemerkung«, wenigen Umstellungen vor allem auf den ersten Seiten und einigen kleineren Korrekturen,98 lässt Hamburger den Durchführungsteil ihrer Studie für seine Neupublikation nahezu unangetastet. Umso auffälliger ist ein Eingriff am Textende. So beschließt Hamburger den Aufsatz von 1929 noch wie folgt: Die Gedankenwelt des Romantikers Novalis fügt sich in das mathematisch-naturwissenschaftliche wie in das erkenntnistheoretische Bild des 19. Jahrhunderts (an dessen Beginn er starb), wie man es ohne weiteres nicht erwartet hätte. Die Beziehung unserer Zeit zur Romantik dürfte auch von dieser Seite her sich als eine enge erweisen. (184)

In der Fassung von 1966 ist der letzte Satz gestrichen (vgl. N70). Diese Streichung könnte man auf den einfachen Umstand zurückführen, dass Hamburger in den 1960er Jahren angesichts einer deutlich avancierten und auf einer breiten philologischen Grundlage argumentierenden Novalis-Forschung keinen unmittelbaren Bedarf mehr sah, die wissenschaftlichen Repräsentationen der Romantik zu modifizieren. Zugleich macht aber die Streichung deutlich, dass diese Intention die Entstehung ihres Aufsatzes in den 1920er Jahren noch maßgeblich angeleitet hatte. Es ging ihr demnach wohl nicht zuletzt darum, das verengte Romantikbild ihrer Zeitgenossen zu weiten beziehungsweise zu konterkarieren. Von welchem engen Romantikbild aber ist die Rede?

|| 98 Hamburger trägt philologische Nachweise, insbesondere auch zu den mathematikhistorischen Quellen von Novalis nach, korrigiert Zitate und nimmt hin und wieder eine Einschränkung auf die Frühromantik vor, wo zuvor noch allgemeiner von Romantik die Rede war. Mitunter hat der neue Satz aber auch zu neuen Fehlern geführt.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 43

6 »Die Beziehung unserer Zeit zur Romantik« – geistesgeschichtliche Gegenbilder Hamburger war in den Jahren der Weimarer Republik, wie man weiß, bei weitem nicht die einzige, die sich mit der Romantik befasste. Im Gefolge von Diltheys geisteswissenschaftlichen Studien zur romantischen Literaturepoche und Ricarda Huchs erfolgreichen Romantik-Büchern sowie getragen durch die zeitgenössische neuromantische Begeisterung avancierte die Literarische Romantik in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu einem äußerst beliebten geisteswissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand, an dem sich die Leistungsfähigkeit neuer Methoden und die Fruchtbarkeit neuer Perspektiven auf besondere Weise demonstrieren ließen. Die Romantikforschung wurde dabei zu einem der wichtigen Brennpunkte allgemeiner literatur- und geisteswissenschaftlicher Entwicklungen, in denen zeitgeschichtliche, auch kulturkritische und ideologische Aspekte der geistigen Artefakte vergangener Zeiten eine immer größere Rolle spielten. Die Literaturwissenschaft begann sich in diesen Jahren zunehmend als eine Disziplin zu formieren, die über die nationalphilologische Pflege des kulturellen Erbes hinaus ein kulturpolitisches Mitspracherecht einforderte und zu diesem Zweck den Wert ihres Gegenstands, die Literatur, über die Grenzen des Fachs hinaus auszuweiten bestrebt war. Epochenbegriffe wurden im Zuge dieser Entwicklung zu Programmbegriffen um- und ausgebaut, denen man auch epochenübergreifende Traditionen und typisierbare Tendenzen zuschreiben konnte. Die Romantik war für diesen Zweck eine offenbar besonders geeignete Epoche. Als Vertreter eines stammesgeschichtlichen Verfahrens der Literaturgeschichtsschreibung argumentierte beispielsweise Joseph Nadler für ein prononciert deutsches, genauer gesagt ostdeutsches Romantikbild: Romantik ist die Krönung des ostdeutschen Siedelwerkes, als das gemischte Blut langsam zur Ruhe gekommen war, die Verdeutschung der Seele nach der Verdeutschung der Erde und des Blutes. […] Daher beginnt die Geschichte der Romantik nicht mit Friedrich Schlegel, Tieck und Hardenberg, sondern mit der Stunde, da die Neustämme geboren wurden. Sie war das Erwachen des deutschen Blutes in den eingedeutschten Völkern, wie sich das Blut der Väter oder Mütter in den Kindern reicher Ahnen regt. Deutsch wurde der Osten erst in der Romantik. Sie ist das Zeugnis, dass die Neustämme eine Rasse geworden waren, aus hundert Mischungen ein Lebendiges, Einheitliches, Neues.99

|| 99 Joseph Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912–1928). Regensburg 31929, Bd. 1, S. 6–7.

44 | Andrea Albrecht Nadler machte Novalis dementsprechend zu einem mystischen Naturphilosophen, der die empirische Seite der Naturwissenschaften schnell überwand, die Aufklärung als »naturgegebene[n] Feind der Religion, Sittlichkeit und Kunst« betrachtete100 und sich seine Meriten vor allem als Vordenker der »völkischen Renaissance«101 verdiente. Auch die Vertreter der Geistesgeschichte, Rudolf Unger, Paul Kluckhohn, Hermann August Korff, Julius Petersen, Fritz Strich und andere, versuchten in den 1920er Jahren, gegen den mikrologisch-positivistischen Zugriff der älteren literaturwissenschaftlichen Philologen-Generation großbögig angelegte Entwicklungslinien und Synthesen zu entwerfen und die romantische Epoche – allerdings bei weitem nicht nur diese – im Zeichen von ›Leben‹ und ›Geist‹ zu porträtieren. Dies vertrug sich offenkundig gut mit den stammesgeschichtlichen Zugriffen Nadlers (und auch Sauers). Rudolf Unger beispielsweise – zu dem hin sich Käte Hamburger in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren mehr und mehr orientierte und dem sie schließlich sogar ihre Habilitation andiente102 – plädierte in seinem Aufsatz »Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts« (1925) für eine kritische Allianzbildung: »Wir geistesgeschichtlichen und stammeskundlichen Literaturhistoriker können und sollen zusammengehen, uns gegenseitig ergänzend, kritisierend, fördernd.«103 Zwar war für Unger die wissenschaftliche Basis für stammesgeschichtliche Ableitungen noch nicht ausgereift und er insistierte auf einem Führungsanspruch der Geistesgeschichte, doch in dienender Funktion waren ihm die stammesgeschichtlichen Erwägungen durchaus willkommen. Auch für Unger stand dabei unverrückbar fest, dass es sich bei der Romantik um eine Epoche des Irrationalismus handelt: Diese der Aufklärung gegensätzlichen irrationalistischen Strebungen bilden von der Mystik des 17. Jahrhunderts über Pietismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang und Gefühls-

|| 100 Josef Nadler: Die Berliner Romantik 1800–1814. Ein Beitrag zur gemeinvölkischen Frage: Renaissance, Romantik, Restauration. Berlin o.J. [1921], hier: S. 86. 101 Ebenda, S. 83. 102 Vgl. dazu Gesa Dane: Zu Käte Hamburgers Brief an Rudolf Unger, in: Biographisches Erzählen, hg. v. Irmela von der Lühe und Anita Runge. (Querelles, Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 6). Stuttgart 2001, S. 166–175; dies.: Käte Hamburger (1896– 1992), hier: S. 192–183. 103 Rudolf Unger: Die Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Betrachtungen zur stammeskundlichen Literaturgeschichte (1925), in: ders.: Gesammelte Studien. Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Darmstadt 1966, Bd. 1, S. 171–195, hier: S. 192.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 45 philosophie einen tiefsten Grundes einheitlichen Ablauf, der zuletzt in der Romantik einmündet.104

Unger sah die deutsche Romantik durch zwei »Typen des romantischen Menschen« charakterisiert: einen mehr gefühlsmäßig-irrationalistischen, in dem das Unbewußt-Dämonische, Drangvoll-Chaotische, Unvermittelt-Elementare vorwiegt, und einen sentimentalisch-bewußten, spekulativ-sublimierten, seelisch-verfeinerten, aber auch an unmittelbarer Kraft der Triebhaftigkeit geschwächten, bei dem »die Phantasie mehr von den Gefühlselementen gelöst erscheint und zur spekulativen Vernunft oder dem Kunstverstand in engere Beziehung tritt«.105

Während Johann Georg Hamann für Unger den ersten Typus repräsentierte, sollte Novalis »als charakteristischer Repräsentant der zweiten Art gelten«.106 Auch bei Hermann August Korff verfestigte sich die Romantik zu einer religionsaffinen, wenn nicht christlichen, jedenfalls irrationalistischen Bewegung, die sich dezidiert gegen die Aufklärung und einen als einseitig disqualifizierten Rationalismus gewandt habe. In diesem Sinne entwarf er Anfang der 1920er Jahre einen epochalen Dreischritt, der vom Irrationalismus der Sturm und Drang-Periode über die temporäre Synthese von Rationalismus und Irrationalismus in der deutschen Klassik bis zum reinen Irrationalismus der Romantik reicht.107 Ähnliches findet man auch bei Julius Petersens Wesensbestimmung der deutschen Romantik (1926): Mag man die verschiedenen Spielarten auch als Arationalismus, Irrationalismus, Transrationalismus oder Überrationalismus auseinanderhalten, so bleibt doch im Übergewicht des Gefühls über den Verstand, der leidenschaftlichen Unruhe über die geordnete Harmonie, der Phantasie über die Logik ein Gegensatz gegen jede verstandesmäßige Rege-

|| 104 Ebenda, S. 179. 105 Rudolf Unger: Hamann und die Romantik. Eine prinzipienwissenschaftliche Skizze (1925), in: ders.: Gesammelte Studien. Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Darmstadt 1966, Bd. 1, S. 196–211, hier: S. 197. 106 Ebenda. 107 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd.1: Sturm und Drang. Leipzig 1923, z. B. S. 173 u. ö. Vgl. auch Julius Petersen: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Leipzig 1926, S. 48: »Will man ein allgemeines Entwicklungsbild geben, so kann man sagen: der Sturm und Drang beginnt mit dem reinen Irrationalismus und gelangt mit dem Übergang zur Klassik in eine Synthese von Irrationalismus und Rationalismus; die Romantik beginnt mit dieser Synthese und läuft in reinen Irrationalismus aus.«

46 | Andrea Albrecht lung künstlerischen Schaffens und gegen alle rein rationale Weltanschauung sämtlichen eben genannten Bewegungen gemeinsam.108

Dass diese Bestimmungen der Romantik nicht nur eine historisch-deskriptive Funktion hatten, sondern auch ein aktuelles Bedürfnis nach dem Irrationalen spiegelten, war für Petersen offensichtlich. In zeitdiagnostischer Absicht zog er eine Verbindung zwischen dem Typus des Romantikers und dem »Mensch[en] von heute«: Der Mensch von heute darf schwerlich als Romantiker bezeichnet werden. Aber mehr noch vielleicht als damals fühlt er in seinem Antiintellektualismus, in seinem Gegensatz gegen Rationalismus, Mechanismus und Materialismus, in seinem religiösen und metaphysischen Drang nach ewigen Werten und seinem Streben, die Dinge von innen zu sehen, eine Wahlverwandtschaft, die ihn zur alten Romantik treibt.109

Die Beispiele mögen genügen. Wie Ralf Klausnitzer pointiert, musste die »teleologische[] Deutung der Romantik als Höhepunkt einer umfassenden irrationalistischen Bewegung« und ihre »Zuordnung […] zu einem antiaufklärerischen Irrationalismus« geradezu zwangsläufig zu einer selektiven Romantikrezeption, einer Ausblendung der widersprechenden Aspekte führen.110 Die Frühromantiker, denen Hamburgers bevorzugtes Interesse galt, wurden so mehr und mehr von den politisch und weltanschaulich genehmeren Romantikern in den Hintergrund gedrängt. Nach 1933 konnte die Literaturgeschichtsschreibung daher an die Deutungsvorgaben der 1920er Jahre nahtlos anschließen und die Romantik, insbesondere die zweite Phase der Romantik, als eine dem deutschen Geist, dem deutschen Volk und der deutschen Rasse auf besondere Weise entsprechende Epoche inszenieren. Es ist offenkundig, dass Hamburgers Romantikbild, wie es im NovalisAufsatz entfaltet wird, mit derlei Determinanten, die die zeitgenössische Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte der romantischen Epoche zuschreibt, nicht zusammenstimmt. Mit der Deutung von Novalis’ Fragmenten entwirft sie, wie gesehen, ein rationalistisches, wissenschaftsaffines und insofern ›modernes‹ Romantikbild, das den referierten Darstellungen deutlich entgegenläuft.

|| 108 Ebenda, S. 28. 109 Ebenda, S. 3. 110 Vgl. dazu Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich. Paderborn, München 1999, S. 31–79, hier: S. 45; ders.: Umwertung der deutschen Romantik? Aspekte der literaturwissenschaftlichen Romantikrezeption im Dritten Reich, in: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hg. v. Holger Dainat und Lutz Danneberg. Tübingen 2003, S. 185–214.

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Der intendierte Adressatenkreis ihrer Studie könnte demnach aus liberalen philologischen Fachkollegen bestanden haben, in denen sie Mitstreiter gegen eine irrationalistische oder völkische Vereinnahmung der Germanistik zu erkennen meinte und denen sie sich zum Zwecke ihrer akademischen Karrierepläne als Novalis-Kennerin empfehlen wollte. Es ist dann allerdings erklärungsbedürftig, warum Hamburger auf die Erwähnung dieser potentiellen Allianzpartner ebenso konsequent verzichtet wie auf die Erwähnung der besagten ›Gegner‹. Von den referierten Autoren, die das ›Wesen‹ der Romantik zu bestimmen suchen, taucht in Hamburgers Studie kein einziger auf.111 Sie zitiert Quellen und Editionen, Dilthey und Haym, ausgewählte Spezialliteratur (Simon, Olshausen, Obernauer, F. Kuntze, Benjamin) sowie in geradezu exzessiver Form immer wieder Cohen, Cassirer und Natorp. Erklärungsbedürftig ist außerdem, warum sie die detaillierten und teilweise sehr formal gehaltenen Ausführungen zur Mathematik und Mathematikphilosophie nicht stärker herabstimmt; bei der notorischen Aversion, die die zeitgenössischen Geisteswissenschaftler gegen Mathematisches hegten, dürfte dies eher kontraproduktiv gewirkt haben. Das Zitationsmuster, die stark neukantianische Ausrichtung und die mathematische Instrumentierung ihrer Studie legen eine andere Hypothese nahe: Präsumiert man, dass Hamburger ihre Studie mit Bedacht konzipiert hat (und nicht einfach nur unter neukantianischem ›Einfluss‹112 gestanden hat), könnte sie es ebenso gut auf eine Anerkennung durch die Neukantianer, insbesondere Ernst Cassirer, angelegt haben, zumal sie zum Zeitpunkt der Abfassung ihrer Novalisstudie in Hamburg weilte und dort an der Universität unter anderem Vorlesungen bei Cassirer hörte.113 Wie aber stellten sich die Neukantianer zur Romantik? || 111 In ihrem DVjs-Aufsatz zu Jean Paul ist dies anders, so dass man davon ausgehen kann, dass Hamburger die einschlägigen Debattenbeiträge, zumindest die Arbeiten von Rudolf Unger, sehr wohl kannte, vgl. Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul. 112 Vgl. zu der Problematik dieser Kategorie Lutz Danneberg: ›Einfluß‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, Bd. 1: A–G, S. 424–427. 113 Die Relevanz des Neukantianismus für Hamburgers Arbeiten wird in der neueren Forschung gelegentlich bemerkt, zumeist aber nur auf den direkten Einfluss Ernst Cassirers zurückgeführt, vgl. z. B. Gesa Dane: Käte Hamburger (1896–1992), S. 194–195; Gert Mattenklott: Käte Hamburger im Kontext ihrer jüdischen Verhältnisse, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser, S. 72–82, hier: S. 76–78. Mattenklott weiß immerhin noch, dass die neukantianische Tradition von Cohen ausgehend zu rekonstruieren wäre, vgl. S. 79. Selten aber geht man den philosophischen Konsequenzen dieser Einsicht anhand von Hamburgers Schriften nach und noch seltener wird dabei der breiten neukantianischen Tradition gedacht, der Cassirers Arbeiten entstammten. Vgl. jedoch

48 | Andrea Albrecht

7 »...immer nur dieselbe Romantik« – Romantikkritik in der neukantianischen Ästhetik Nicht nur die Stammes- und Geistesgeschichtler kultivierten das dichotomisch angelegte Narrativ von aufklärerischem Rationalismus und romantischem Irrationalismus, gegen das Hamburger über Novalis Einspruch erhob. Auch in den Kreisen des Neukantianismus, insbesondere des Marburger Neukantianismus um Hermann Cohen, war dies ein immer wieder aufgegriffenes Schema, allerdings mit der entgegengesetzten Wertung. Bei Cohen hatte die »Philosophische Romantik« sogar ein ausnehmend schlechtes Image. Für ihn stellte sie einen Rückschritt, eine Regression dar, die hinter die durch Kant repräsentierte ›kopernikanische Wende‹ zurückgefallen sei. In der Ästhetik des reinen Gefühls von 1912 heißt es: Vielleicht ist die Romantik nicht allein durch ihre Rückschau auf die Geschichte, die Politik und die Religion des Mittelalters charakterisierbar, sondern ebenso zentral und mehr noch flagrant durch den Rückgang auf die vorkritische Stellung der ästhetischen Frage. Es ist eben das Grundelement der Mystik, dieses innersten Lebensgrundes in der geistigen Struktur des Mittelalters, welches in allen Wendungen der Romantik wieder zum Durchbruch kommt.114

Die romantische Regression besteht für Cohen aus mindestens drei Komponenten: Erstens einer ethisch-politischen Wende hin zur Restauration, die mit einer weltanschaulichen Wende hin zum Mystizismus, zum mittelalterlichen Geist und zu unaufgeklärter, das heißt intoleranter Religiosität verbunden ist. Zweitens einer erkenntnistheoretischen und wissenschaftlichen Wende, die statt Wissenschaft wieder Metaphysik zu treiben veranlasst, also sich etwa in der Gestalt Schellings oder Schopenhauers von den Naturwissenschaften zugunsten naturphilosophischer Spekulationen verabschiedet. Das »Prinzip der Romantik« sei »Mißtrauen und die Feindschaft gegen die wissenschaftliche Erkenntnis«.115 Auch in der Logik der reinen Erkenntnis hatte Cohen schon in ähnlicher Weise gegen die romantische Abkehr von Kant agitiert:

|| jetzt grundlegend: Claudia Löschner: Denksystem – Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 29, 50–55, 105–107 u. ö. 114 Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls (1912). Berlin 21923, Bd. I, S. 9 (die Ausgabe ist seitenidentisch mit dem Nachdruck der Werkausgabe). 115 Ebenda, S. 13.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 49 Auch in der Philosophie ging die Romantik wieder zum Mittelalter zurück. Die neuen Wahrheiten wurden Begriffe der genialen Intuition und intellektuale Anschauungen; aber der strenge Begriff der reinen Erkenntnisse, der sich auf die Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft beschränkte, für ihn gab es keinen Rang und keinen Halt mehr […]. Indem jene Romantiker die reinen Erkenntnisse in dieser präzisen Einschränkung preisgaben, verleugneten sie den sichersten Besitz und das höchste Recht der Vernunft.116

Hauptverantwortlich für die romantische Regression in der Erkenntnistheorie ist für Cohen vor allem ein Philosoph: Fichte. In deutlich polemischer Absicht stellt er dessen Errungenschaften in Frage und deutet seine Philosophie als antimethodische und antirationale Wende:117 Was konnte es nützen, daß Fichte das Sittengesetz zur Grundlage des Naturgesetzes proklamierte; was konnte sein ethischer Idealismus in der methodischen Wurzel fruchten, wenn er doch die theoretische Realität vereitelt hatte? Gegen eine solche Nichtachtung der Vernunft in der Wissenschaft erschien der alte Pantheismus noch als ein heilsames Kraut. So merkte man den Pferdefuß nicht, der diese Gleichsetzung von Idee und Begriff unterschob.118

Drittens schließlich hat die Romantisierung des Denkens auch Konsequenzen für Kunst und Ästhetik. Cohens Kritik an der romantischen Ästhetik speist sich aus seinem systemphilosophischen Ansatz: Die philosophischen Romantiker, allen voran Schelling und Hegel, später auch Schopenhauer, hätten die Ästhetik von Ethik und Logik entkoppelt, sie der Philosophie übergeordnet und die Kunst so als Vorstufe der Religion installiert. Kunst wird infolgedessen zum privilegierten Ausdruck des gesamten Systems erhoben;119 Intuitionen, Phantasien und subjektive Gefühle treten an die Stelle mitteilbarer Erkenntnisse, das Irrationale an die Stelle ordnender Gedanken. Mit diesen Thesen aber habe man »alle Dämme der kritischen Philosophie« eingerissen und alle »Spuren der kritischen Wegweiser und Grenzwächter vernichtet und verweht«.120 Da für Cohen

|| 116 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, S. 11. 117 Ebenda, S. 416. Die erkenntnistheoretische Kritik an Fichte ist bei Cohen grundlegend, auch wenn er sich temporär positiv auf andere Aspekte, etwa auf politische Aspekte der Fichte’schen Philosophie bezieht. Vgl. Andrea Poma: The Critical Philosophy of Hermann Cohen. Translated by John Denton. Albany 1997, S. 72–76. 118 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, S. 314. 119 Stephan Nachtsheim: Zum zeitgenössischen theoretischen Kontext von Hermann Cohens Ästhetik, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62.2 (2010), S. 142–156, hier: S. 143–144. 120 Hermann Cohen: Ästhetik, Bd. I, S. 9–10.

50 | Andrea Albrecht »alle Philosophie« grundsätzlich »systematische Philosophie« sein muss,121 impliziert die Auskopplung und Aufwertung der Ästhetik eine Abwertung von Logik und Ethik und eine sich daraus notwendig ergebende Zerstörung des Systems, ergo der Philosophie. Dies aber kommt für Cohen einem Irrweg gleich, den er im Rekurs auf die kantischen Grundlagen gerade zu vermeiden beziehungsweise zu revidieren sucht: Zugleich aber ist es damit deutlich geworden, daß die Ästhetik bei dieser Romantik aufhören mußte, das Glied eines Systems der Philosophie zu sein. Wurde doch auch der Begriff eines Systems, der Teile als Glieder zur Voraussetzung hat, mit dieser Reduktion aller Philosophie auf Ästhetik zerbrochen und vereitelt. Und unsere Losung ist nunmehr klar geworden: Entweder ist die Ästhetik das Glied eines Systems der Philosophie, oder aber das System und mit ihm die Philosophie selbst wird vernichtet, wenngleich sie in Ästhetik aufgelöst wird.122

Wie schon Paul Stern in seiner Rezension von 1913 anmerkt, bekämpft Cohens Ästhetik nicht nur die historischen »romantisch-irrationalistischen Tendenzen«,123 sondern findet diese auch in seiner eigenen Zeit. Es sei, stellt Cohen fest, immer nur dieselbe Romantik […], die überall und zu allen Zeiten die Schwiegermutter Weisheit verachtet. Sie will eben immer die echte, leibhaftige Mutter in der wissenschaftlichen Vernunft nicht anerkennen.124

Cohen betätigt sich in seiner Ästhetik des reinen Gefühls nicht nur als ästhetischer Theoretiker, sondern auch als Beobachter der künstlerischen Praxis. Mit seinem Verdikt der Romantik hat er deswegen auch Künstler im Visier, beispielsweise Richard Wagner, dessen Gesamtkunstwerk in ästhetischer Hinsicht eklektizistisch sei und sich in ethischer Hinsicht von der humanen, ethischen Aufgabe, der die Kunst im Cohen’schen System verpflichtet ist, dispensiert habe.125 Ähnlich verwerflich, wenn auch aus anderen Gründen, erscheinen ihm Künstler und Kunstformen, die dem Katholizismus zuarbeiten – wie beispielsweise Novalis. Er figuriert in Cohens ästhetischen Darstellungen zwar nur als || 121 Ebenda, S. 16. Vgl. dazu auch Reinhold Breil: Zum philosophischen Systemgedanken bei Cohen, Natorp und Rickert, in: Wahrheit und Geltung. Festschrift für Werner Flach, hg. v. Reinhard Hiltscher und Alexander Riebel. Würzburg 1996, S. 9–34. 122 Hermann Cohen: Ästhetik, Bd. I, S. 16. 123 Paul Stern: [Rez.] Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 8 (1913), S. 291–303, hier: S. 291. 124 Hermann Cohen: Ästhetik, Bd. I, S. 18. 125 Hermann Cohen: Kants Begründung der Ästhetik. Berlin 1889, S. 320–322.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 51

Nebenfigur, da Cohen den romantischen Dichtern – in den Worten Ulrich Siegs – »derart feindlich gegenüber« stand, dass er sie gegenüber den gemeinhin als ›klassisch‹ rubrizierten Dichtern, vor allem gegenüber Goethe, »nur ganz marginal berücksichtigt«.126 Das Urteil über Novalis aber, das Cohen fällt, ist an Eindeutigkeit kaum zu überbieten: Bei Novalis ist schon äußerlich auffallend der Rückfall in die kirchliche Minne, wie in der Nachahmung der Maria mit dem Jesuskinde.127

8 Hamburgers neukantianischer Novalis Lässt man Hamburgers Argumentation vor dem Hintergrund des neukantianischen Romantikbildes Revue passieren, so stellen sich einige argumentative Eigentümlichkeiten des Aufsatzes plausibler dar als bisher. Von der starken und expliziten Orientierung an Konzepten und Ideen, die aus dem Marburger Neukantianismus stammen, war schon ausführlich die Rede. Doch auch über diese geradezu um Patronage ersuchende Zitationspraxis hinaus scheint Hamburger bemüht, Erwartungen der neukantianischen Leserschaft zu erfüllen und für ihr ungewöhnliches Novalis-Bild zu werben.128 Erstens betrifft dies ihren deutlich säkularisierenden Blick auf die Romantik. Auch die so religiös erscheinenden und zeitgenössisch auch mehrheitlich religiös gedeuteten mathematischen Hymnen des Novalis möchte sie auf »ihren eigentlichen, areligiösen«, nämlich »kritisch-transzendentalen« Sinn zurückführen (124). Es sei gerade für die ungemein komplizierte und differenzierte geistige Struktur des Novalis wesentlich und interessant, daß um dieselbe Zeit, in der aus der Tiefe der erlebenden Seele die Hymnen an die Nacht gedichtet wurden, der denkende Geist sich um die methodische Konzeption des mathematischen Unendlichkeitsbegriffes bemühte. (139 Anm.)

Dehnt sie an anderen Stellen ihre Thesen zu Novalis auf die Romantik allgemein aus, wird ihm im Hinblick auf die Religion eine Besonderheit zugeschrieben: Das »religiös-metaphysische Problem des Unendlichen, das ein Lieblingsproblem der Romantiker war«, sei allein bei Novalis zu einem »methodischen« Prob-

|| 126 Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, S. 252. 127 Hermann Cohen: Ästhetik, Bd. II, S. 47. 128 Vgl. Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 253.3 (1991), S. 603–628, hier: S. 624.

52 | Andrea Albrecht lem »der Mathematik« geworden (143), ja das »transzendent-religiöse Wesen des romantischen Unendlichen« habe sich bei ihm »in das transzendental begründete, methodische der Mathematik« verwandelt (152). Hamburger setzt sich mit dieser säkularen, rationalistischen Deutung von Novalis deutlich von den zeitgenössisch propagierten Romantikbildern ab, allerdings wiederum ohne deren Vertreter zu nennen. Bereits erwähnt wurde Ricarda Huch, die sich in ihren Romantikstudien nicht nur zur Religion, sondern auch zum Verhältnis von Poesie und Mathematik prononciert geäußert hat und Hamburger nicht unbekannt gewesen sein dürfte. Huch zufolge gilt die Mathematik traditionell als »die eigentlich unpoetische, jedenfalls unromantische« Wissenschaft,129 die poetische Naturen deswegen gemeinhin ablehnten: In der Regel pflegen phantasiebegabte, künstlerisch veranlagte Menschen eine besondere Abneigung gegen die Mathematik zu haben, so daß sie gern völlige Untauglichkeit für dies Gebiet vorschützen und sogar stolz auf diese angebliche Lücke sind.130

Novalis allerdings habe diese Abneigung – und in diesem Punkt kommen Hamburger und Huch überein – nicht geteilt. Huch erkennt in seinem Schaffen vielmehr den Wunsch, auch das scheinbar so widerständige Mathematische zu poetisieren: Von dieser Einseitigkeit war Novalis weit entfernt, der in jeder Einzelwissenschaft den Grundriß zu einer allumfassenden Wissenschaft suchte, in jedem gesetzmäßigen Verlauf ein Gleichnis der Harmonie des Alls sah. Nicht nur, daß er mit Eifer Mathematik studirte, er poetisirte sie wie alles, womit er sich beschäftigte, durchdrang sie mit seiner lebendig warmen Seele; man lese nur seinen Hymnus an die Mathematik […].131

Letztlich sieht Huch Novalis’ Begeisterung für eine poetisierte Mathematik jedoch auf den ›typisch romantischen‹ Wunsch hinauslaufen, Polaritäten zu überwinden und – vermittelt über zahlenmystische Spekulationen, die Huch auch bei Zeitgenossen von Novalis an Auftrieb gewinnen sieht132 – Mathematisches mit Religiösem zu verbinden. Diesen Synthese-Wunsch wertet Huch als typisch romantisch, so dass sich der zunächst konstatierte Konflikt zwischen romantischer Poesie und Religion auf der einen, Mathematik auf der anderen Seite wiederum auflösen lasse:

|| 129 Ricarda Huch: Ausbreitung und Verfall der Romantik. Leipzig 1902, S. 82. 130 Ricarda Huch: Blüthezeit der Romantik. Leipzig 1899, S. 70–71. 131 Ebenda, S. 70–71. 132 Vgl. Ricarda Huch: Ausbreitung und Verfall der Romantik, S. 82–88.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 53 Wie nun aber die Romantik immer die entgegengesetzten Pole zu verbinden strebte, so wollte sie die Mathematik, scheinbar die weitgehendste Abstraktion, das Leerste, das ganz Seelenlose, mit der größesten Fülle, mit der Seele selber, der Religion verbinden.133

Hamburger wählt offenkundig einen ganz anderen Weg: Zwar geht es Novalis auch nach ihrer Exegese um eine Überwindung von Gegensätzen, doch diese Überwindung erfolgt auf kantischer und wissenschaftlicher, nicht auf mystischer Basis und lässt Novalis als Statthalter eines rationalistischen, aber dennoch poetisch fruchtbaren Romantikkonzepts erscheinen. Die Poesie hält sich hier, ganz wie es Cohen in seiner Ästhetik gefordert hatte, in systematischer Abhängigkeit von der Logik, erkennt also die »echte, leibhaftige Mutter in der wissenschaftlichen Vernunft« an. Zweitens privilegiert Hamburger den Kant’schen Kontext gegenüber dem Fichte’schen (120), was ihr in vielen literaturwissenschaftlichen Rezensionen angekreidet wurde. Man kann wohl davon ausgehen, dass sie Philologin genug war, um zu wissen, dass die Herabstufung von Fichte sich nur schwer mit der Quellenlage rechtfertigen ließ, zumal es schon in den 1920er Jahren in der Novalis-Forschung als Konsens galt, dass Novalis’ Fragmente wie auch die ganze romantische Bewegung maßgeblich von Fichte beeinflusst war. »Auf Fichte fußt die Romantik«, hieß es bei Kluckhohn apodiktisch.134 Nicht nur die Literaturwissenschaftler, auch die Philosophen sahen das ähnlich: Novalis »geht von Fichte aus«, liest man etwa bei Nicolai Hartmann.135 In der zweiten Fassung ihres Aufsatzes gesteht Hamburger die Relevanz der Fichte’schen Philosophie denn auch unumwunden ein: Es geht aus dem neukantianischen Ansatz unserer Interpretation […] hervor, daß auch der spezifisch Kantische […] Aspekt seines Denkens betont wird. Den Studienheften und Fragmentsammlungen ist zu entnehmen, daß sich Novalis ausführlicher mit Fichte als mit Kant auseinandergesetzt hat. (N14)

|| 133 Ebenda, S. 82. Dieter Mahnke wird diese Verbindung von Mystik und Mathematik später weiterführen. 134 Paul Kluckhohn: Die deutsche Romantik. Leipzig 1924, S. 23. 135 Nicolai Hartmann: Die Philosophie des deutschen Idealismus. Fichte, Schelling und die Romantik (erstmals 1923). Berlin 1960, Bd. 1, S. 189. Allerdings gab es im Umfeld der KantGesellschaft Bemühungen, die kantische Grundlage zu stärken, vgl. etwa den von Hamburger nicht erwähnten Vortrag von Paul Hensel: Novalis’ magischer Idealismus (1921), in: ders.: Kleine Schriften und Vorträge, hg. v. Ernst Hoffmann und Heinrich Rickert. Tübingen 1930, S. 278–290, hier: S. 278: »Und so ist es denn nicht zu verwundern, daß es kantische Gedanken sind, die uns bei der Orientierung von Novalis’ Philosophie, dem Magischen Idealismus, zuerst und vor allem entgegentreten.«

54 | Andrea Albrecht Die in den Rezensionen kritisierte Marginalisierung Fichtes führt Hamburger demnach unmittelbar auf ihren »neukantianischen Ansatz« zurück – und nicht etwa auf einen philologischen Befund im Hardenberg’schen Material. Auch diese Hierarchisierung der Deutungskontexte, die Kant über Fichte setzte, entsprach den neukantianischen Vorlieben und kontrastierte auffällig mit der zeitgenössisch in nationaldeutschen und völkischen Kreisen gepflegten Begeisterung für Fichte.136 Drittens scheint sich Hamburger in ihrem Beitrag um eine Verknüpfung von Novalis’ Überlegungen mit jüdischen Denkern zu bemühen. Neben Kant, den Hamburger entschieden als den maßgeblichen Referenzautor für Novalis’ Mathematikphilosophie qualifiziert und gegenüber Fichte aufwertet (120), positioniert sie auffälligerweise Salomon Maimon, obgleich ihr ein philologisch solider Beweis dafür fehlt, dass Novalis die Schriften von Maimon gekannt hat (vgl. 154 Anm.). Die Inspirationsquelle für die Einbindung Maimons im Kontext der Einlassungen zur Differentialrechnung dürfte einmal mehr die neukantianische Mathematikphilosophie sein, in der Maimon seit Friedrich Kuntzes Kritik an der Nichtbeachtung Maimons durch Cohen einen privilegierten Platz einnahm.137 Cohen war in seinen Schriften eigentlich grundsätzlich darauf bedacht, die vermeintlich deutschen Kulturtraditionen als deutsch-jüdische Traditionen sichtbar zu machen. So reicht eine von Cohen rekonstruierte philosophischtheologische Traditionsspur von den altisraelitischen Propheten über Luther zu Kant (und darüber hinaus bis zu Cohen);138 in der Geschichte der Ästhetik finden die Psalmen,139 in der Geschichte der ästhetischen Theoriebildung wie auch in der Moralphilosophie findet Mendelssohn einen bedeutsamen Platz.140 Warum Cohen nun in die mathematikphilosophische Linie, die er in seinem Buch zum Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (1883) zieht, Maimon || 136 Vgl. dazu Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. München 1974, S. 194–205; Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2004; Hans-Joachim Becker: Fichtes Idee der Nation und das Judentum. Amsterdam 2001. 137 Zum Verhältnis von Cohen und Maimon vgl. Friedrich Kuntze: Die Philosophie Salomon Maimons. Heidelberg 1912; Florian Ehrensperger: Einleitung, in: Salomon Maimon. Versuch über die Transzendentalphilosophie, eingeleitet und mit Anmerkungen sowie einer Beilage versehen von Florian Ehrensperger. Hamburg 2004, S. VII–LII, hier: S. XLV–XLVI. Friedrich Kuntze, der aus dem südwestdeutschen Neukantianismus stammt und sich ebenfalls mit Mathematischem befasst, wird von Hamburger zitiert. 138 Diese Linie zieht Cohen immer wieder, vgl. z. B. Hermann Cohen: Die religiösen Bewegungen der Gegenwart; ein Vortrag. Leipzig 1914. 139 Vgl. Hermann Cohen: Ästhetik, Bd. II, S. 36–38. 140 Vgl. Hermann Cohen: Ästhetik, Bd. I, S. 94–95 u. ö.

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nicht ausdrücklich integriert hat, bleibt an anderer Stelle zu klären. Wichtiger ist hier, dass Hamburger Friedrich Kuntze folgt und Maimon ausführlich zur Erläuterung des Novalis’schen Denkens heranzieht. In einer Collage von Maimon-, Novalis- und Cohen-Zitaten zur philosophischen Deutung der Differentialrechnung (154–157) kann sie so im Bereich der Mathematikphilosophie ein Miteinander in Szene setzen, das Novalis zu einem wichtigen Verbindungsstück zwischen aufklärerischem und neukantianischem Rationalismus stilisiert und zugleich, wenn auch auf anderer Grundlage, Cohens Vorstellung einer deutschjüdischen Synthese nahekommt. Viertens zeichnet Hamburger en passant ein geistesgeschichtliches Gesamtbild der Zeit um 1800, das Cohens und Cassirers Vorstellungen ähnelt. Zwei Zuordnungen sind darin bemerkenswert: Hamburger stellt zunächst fest, dass der »Gedanke der Kontinuität als Ursprungseinheit, d. h. als zugrundeliegende Allheit«, in der Teil und Ganzes, Funktionswerte und Funktion eine holistische Einheit bilden, kein »spezifisch romantisches Prinzip« (165), sondern ein Prinzip sei, das Novalis sowohl mit Leibniz als auch mit Goethe verbinde. Diese epochenübergreifende Traditionslinie sei typisch für Novalis, nicht aber für die anderen romantischen Dichter: Es mag in der Idee der kontinuierlichen Verknüpfung der Erscheinungen zu einem Ganzen, durch das die Teile erst bestimmt werden, eine der wesentlichsten Verbindungslinien gegeben sein, die von Goethe zur Romantik hinüberführen. Aber was bei Goethe als Resultat genauer Beobachtung, aus der Erfahrung gewonnen, in begrifflicher Schärfe erfaßt wird, dann freilich als eine Idee in die künstlerische Weltanschauung, innig verwoben wurde, erwächst der Romantik aus der verschwommenen Unendlichkeit und Universalität ihres Welt- und Lebensgefühls, und eigentlich nur Novalis macht hiervon eine Ausnahme. (166)

Es ist vor allem der an den Naturwissenschaften und der Morphologie interessierte Goethe, der Hamburger zufolge auf empirischem Wege zu dem Kontinuitätsdenken gelangt sei, das sich Novalis auf logisch-philosophischem Wege erschlossen habe. Gemeinsam aber möchte sie beide positiv von den spekulativen Naturphilosophen abheben, die für Hamburger (wie für Cohen) Unendlichkeit und Universalität nur verworren zu erfassen verstehen. Trotz dieser Einschränkung zieht sie über das Kontinuitätsdenken von Goethe und Novalis hinweg auch eine Linie zum frühen Schelling, dem »Philosoph[en] der Romantik« (167), der sich erst später von wissenschaftlichen Betrachtungsweisen und damit auch von Goethe und Novalis entfernt habe: Die metaphysische Spekulation aber läßt den sicheren Boden der Erfahrung, auch der wissenschaftlichen Erfahrung, die allein den Kontinuitätsgedanken entwickeln und rechtfertigen kann, weit unter sich, eine Entwicklung der Schellingschen Lehre, die immer wei-

56 | Andrea Albrecht ter fortschreitet, über das ästhetische Gebiet zuletzt im religiös-mythologischen sich verlierend. (168)

Stellt man Hamburgers Traditionslinie des Kontinuitätsdenkens in den Kontext der zeitgenössischen Romantikforschung, wird deutlich, dass sie sich implizit gegen eine anders gezogene Linie wendet, die Goethe zwar als einen ganzheitlichen Denker, aber zugleich als Kritiker der Aufklärung und als Kritiker des mathematischen Weltbilds betrachtet.141 Novalis dagegen wird in unausgesprochener Übereinstimmung sowohl mit der neukantianischen Sympathie für Goethe als auch mit der neukantianischen Aversion gegenüber der spekulativen Naturphilosophie zu einem akzeptablen Referenzpunkt neukantischen Denkens nobilitiert. Fünftens ist Hamburger in auffallender Weise darauf bedacht, Novalis als einen systematischen Denker und damit, dem neukantianischen Horizont entsprechend, als Philosoph auszuweisen. Obgleich Novalis’ fragmentarisches Schreiben als dezidiert antisystematischer Gestus gewertet werden könnte und in der Forschung auch so gewertet worden ist (174),142 extrahiert Hamburger aus seinem Beharren auf Kontinuität und dem in den Fragmenten immer wieder aufgegriffenen mathematischen Reihenkonzept einen eigenen Systemanspruch: Im Begriff der Kontinuität ist implizite enthalten die Konzeption des Systems, wie denn das mathematische Reihenprinzip, das sich auf die Kontinuität in einfachster Form aufbaut, nichts anderes als die Bildung eines Systems bedeutet. […] Wie es für das Kontinuum charakteristisch ist, daß […] die einzelnen Elemente nur durch das und in dem Kontinuum ihre Bestimmung erhalten, so wird auch das System dadurch definiert, daß seine Glieder nur Glieder sind in bezug auf das Ganze des Systems. (173)

Um »den inneren Sinn einer solchen Systemauffassung« (175) und das systembildende »Grundgesetz« (174) – auch dies ein Cohen’scher Ausdruck – genauer zu erfassen und zugleich eine Verbindung mit dem Systemdenken der Neukantianer aufzuzeigen, greift Hamburger in ihren Erläuterungen auf Überlegungen eines Schülers von Cohen, auf Nicolai Hartmanns Aufsatz Systematische Methode zurück,143 den dieser im Jahr 1912, also noch vor seiner ontologischen Abkehr vom Marburger Programm, publiziert hatte. Das Novalis zugeschriebene Sys-

|| 141 Als ein besonders wirkmächtiges Beispiel mag Herman Nohl: Die deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme, in: Logos 12.2 (1911), S. 350–359, dienen. 142 Vgl. z.B. Paul Kluckhohn: Die deutsche Romantik, S. 88: »Novalis hat kein einheitliches System geschaffen, seine Philosophie war dauernd in Bewegung.« Vgl. dazu auch Franziska Bomski: Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis. 143 Nicolai Hartmann: Systematische Methode, in: Logos 3.2 (1912), S. 121–163.

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temdenken ist demnach ein dynamisches, das sich vom starren spinozistischen144 als auch vom starren aufklärerischen Systemdenken deutlich abhebe und gerade dadurch den zukunftsweisenden kritizistischen Systemansprüchen genüge: Ein System, das als eine starre, unveränderliche Struktur dogmatisch auftritt, dem sich alle Erscheinungen, zugestutzt, einzuordnen hätten, wie es etwa die Aufklärung mit ihrem Vernunftsystem bezweckte, ja wie es auch vom System Spinozas gelten kann – eine solche Systemauffassung freilich konnte die Romantik nicht haben. Nicolai Hartmann hat das Wesen eines Systems, wie es der Kritizismus fordern und ausbilden muß, so definiert: »Im Lichte kritischer Besinnung gibt es kein System als Ausgangspunkt, sondern nur als Ziel, als Desiderat. System ist kein Anfang, sondern ein Ende für die philosophische Erkenntnis. Dieses Ende ist nie da, nie fertig; denn philosophische Erkenntnis ist nie fertig ... System bedeutet keine gegebene Systatik, sondern das Suchen nach ihr, die Systasis«. (175– 176)

Systasis meint hier die prozessuale Verknüpfung von Elementen zu einem Gefüge, einem Ganzen. Das Prozesshafte, Dynamische, Suchende dieser Systemauffassung nimmt Cohens Vorstellung des philosophischen, sprich systemati-

|| 144 Vgl. auch den Beitrag von Käte Hamburger: Spinoza und der Geist der jüdischen Gotteslehre, in: Israelitisches Familienblatt 24 (1927), Nr. 8, S. 13. Für Hamburger »vollzog sich an Spinoza […] das tragische Schicksal des jüdischen Volkes, daß die Heimat seines Blutes nicht dieselbe ist wie die Heimat, in dem es aufwächst, daß die Sprache, die es spricht, und die seine Gedanken färbt, einer fremden Gemeinschaft angehört«. Spinoza habe die Bibel als moralischen, nicht als religiösen Text gedeutet und, »zu sehr gebunden im abendländischen Denken«, das heißt vor allem im Denken von Aristoteles, Platon und den Eleaten, den jüdischen Gott des Alten Testaments nicht als »dynamischen Gott« wahrgenommen, der redet, zürnt, schafft etc., sondern den jüdischen Gott als »absolute und unendliche, einzig und in sich seiende Substanz«, also statisch konzipiert und geometrisch (und das heißt: nicht dynamischinfinitesimal) beschrieben. Dennoch spricht Hamburger Spinoza ausdrücklich Religiosität zu. Ihm habe die »rationalistische Deduktion, die mathematische Methode und die mechanische Naturerkenntnis« durchaus als »Mittel religiöser Sehnsucht« gedient. Hamburger übt damit Kritik an Spinoza, wendet sich aber zugleich gegen die zeitgenössische Spinozakritik, auch gegen die Kritik Cohens. Cohen hatte sich entschieden gegen Spinoza ausgesprochen. Politisch sieht Cohen in Spinoza einen jüdischen Verräter des Judentums, vgl. Hermann Cohen: Spinoza über Staat, Religion, Judentum und Christentum, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur (1915), H. 1, S. 56–150, hier: S. 124–125. Dazu allgemein Jan-Hendrik Wulf: Spinoza in der jüdischen Aufklärung, S. 441–549; David J. Wertheim: Salvation through Spinoza. A Study of Jewish Culture in Weimar Germany. Leiden 2011, S. 102–103 (zu Hamburger), S. 192–195 (zu Cohen).

58 | Andrea Albrecht sierenden Denkens als unendliche, unabschließbare »Aufgabe«145 auf – eine Vorstellung, die Hamburger auch bei Novalis ausmacht: Ein System, das die Unendlichkeit des fortschreitenden Denkens verbürgt, ja durch das diese Unendlichkeit erst ihre methodische Rechtfertigung und Sinngebung erfährt, ein solches System war geradezu der Abschluß der romantischen Weltanschauung und lag notwendig auf ihrem Wege […]. (176)

Novalis liefert für Hamburger damit einmal mehr ein Beispiel für ein Romantikbild, das mit dem Neukantianismus wesentliche Eigenschaften, hier sogar die »systembildende Tendenz« (174) teilt, sich zugleich aber signifikant von den üblicherweise tradierten und erst recht von den völkisch konnotierten Bildern abhebt. Sechstens lässt sich schließlich eine weitere methodische Parallele feststellen: Hamburgers anachronistisches Vorgehen, das in der Rezeption nach 1945 so scharf kritisiert wird, folgt der neukantianischen Überzeugung, dass sich das Philosophieren nicht auf eine historisch-rekonstruierende Aufgabe, etwa auf eine hermeneutische Auslegung Kants beschränken darf, sondern philosophiehistorische Rekonstruktionsfragen stets mit Fragen nach der Wahrheit und Aktualisierbarkeit der rekonstruierten Philosopheme verbinden sollte. Es handelt sich also in doppeltem Sinne um eine Form ›rationaler Rekonstruktion‹: Die historische Position wird rekonstruiert und hinsichtlich ihres als rational identifizierten Gehalts aktualisiert. Während die Marburger Neukantianer nach dem Motto »Mit Kant über Kant hinaus« die Kant’schen Vorgaben weiterdachten und an die aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen anzupassen versuchten,146 denkt auch Hamburger ›mit Novalis über Novalis‹ hinaus, wenn sie seine Ideen im aktuellen Kontext des Neukantianismus verortet. Selbst die anachronistische Assoziation von Novalis auf der einen, Cohen, Einstein, Russell und Husserl auf der anderen Seite lässt sich somit als ein typisch neukantianisches Verfahren beschreiben. Selbstverständlich bleiben trotz dieser Gemeinsamkeiten große Unterschiede zwischen dem von Hamburger gezeichneten Bild Hardenberg’schen Denkens und den Vorstellungen neukantianischen Philosophierens bestehen. Dennoch || 145 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, S. 64. Auch Walter Benjamin hat sich mit diesem Konzept intensiv auseinandergesetzt, vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung. Berlin 2000, S. 106–120 u. ö. 146 Vgl. das Diktum von Wilhelm Windelband: Vorwort [zur ersten Auflage, 1883], in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie. Tübingen 41911, Bd. 1, S. III–IV, hier S. IV: »Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen.«

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sollten die Ausführungen gezeigt haben, dass der neukantianische Kontext einen geeigneten Schlüssel für die hermeneutische Rekonstruktion von Hamburgers Novalis-Studie liefert. Mit seiner Hilfe lässt sich nicht nur die Gesamtanlage des Texts plausibler machen, sondern es lassen sich auch viele Details der Studie erläutern, die ohne den neukantianischen Kontext idiosynkratisch wirken.

9 »Durchbruch der Lebensidee« – Hamburgers geistesgeschichtlicher Novalis Wenn Käte Hamburger in ihrem Novalis-Aufsatz das Bild eines progressiven, wissenschaftsfreundlichen Novalis entwirft, so gibt es also gute Gründe anzunehmen, dass es ihr nicht allein darum ging, Novalis vor der nationalistischen und völkischen Vereinnahmung zu bewahren, sondern den romantischen Autor zum einen in die Tradition der Wissenschaftsphilosophie der Moderne, zum anderen in die Tradition des aufklärerischen Rationalismus wie des transzendentalen Idealismus zu stellen und somit in die maßgeblich vom Neukantianismus, vor allem von Cohen und später auch Cassirer betriebene Tradierung einer wissenschaftsaffinen Moderne zu integrieren. Sollte ein szientifischer Novalis den einen als negatives, so sollte er den anderen gerade als positives Gegenbeispiel für die in beiden Fällen zu holzschnittartige Inanspruchnahme der Romantik dienen. Hamburger warb so bei den Neukantianern der 1920er Jahre förmlich darum, die Romantik nicht vorschnell der Gegenseite zu überlassen und stattdessen in Novalis einen Autor zu erkennen, der sich nicht so ohne weiteres unter das einfache Verdikt des Irrationalismus subsumieren ließ. Die möglicherweise damit verbundene Hoffnung auf eine fortgesetzte Beteiligung neukantianischer Stimmen am Projekt der deutschen Geisteswissenschaften oder gar am Projekt der Moderne erfüllte sich nicht: Nach 1933 war in Deutschland für diese Stimmen kein Platz mehr. Doch schon zuvor begann sich Hamburger von ihrem stark neukantianischen Denkansatz wieder abzuwenden und auch ihre Novalis-Forschung anders auszurichten. Wie man den erhaltenen Korrespondenzen entnehmen kann, verfolgte sie zwar zeitweilig noch den Plan, auf der Grundlage ihres Novalis-Aufsatzes eine größere Untersuchung zu Novalis zu verfassen,147 möglicherweise sogar bei Kluckhohn darüber zu habilitie|| 147 Käte Hamburger an Thomas Mann, 14.8.1934, in: Thomas Mann – Käte Hamburger. Briefwechsel 1932–1955, S. 37: »Sonst hindert mich die Unsesshaftigkeit meines jetzigen Lebens an

60 | Andrea Albrecht ren,148 und bewarb sich bei der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft um finanzielle Unterstützung.149 Zu dieser Fortsetzung kam es jedoch nicht. Stattdessen verlagerte150 sich der Schwerpunkt von Hamburgers Forschungsaufmerksamkeit auf Thomas Mann. Zu dieser Verlagerung trug möglicherweise die 1930 erfolgende Versteigerung des Novalis-Nachlasses bei, die Hamburger den Zugang spätestens 1933, als der neue Besitzer Salman Schocken ins Exil gehen musste, unmöglich machte. Nach einer wohl prägenden Lektüre des Zauberberg wurde Käte Hamburger jedenfalls nicht nur zu einer Bewunderin der Texte Thomas Manns, sie bewunderte auch den Autor selbst, mit dem sie in München 1932 erstmals zusammentraf und in der Folge einen bis zu Thomas Manns Tod anhaltenden Briefwechsel unterhielt.151 Durch seine spezielle Anknüpfung an die deutsche Romantik offerierte Thomas Mann Hamburger eine Möglichkeit, ihre Forschungsarbeiten in ein größer angelegtes geistesgeschichtliches Projekt zu integrieren, das von der Aufklärung über die Romantik bis zur Gegenwart reichen und dem Humanitätsgedanken gewidmet sein sollte. Von der Hamburger-Forschung nur selten wahrgenommen,152 verabschiedete sich Hamburger im Zuge dessen zumindest vorübergehend auch von ihrem aufklärerisch-rationalistischen, durch den Neukantianismus informierten Novalis-Bild. In ihrer Monographie Thomas Mann und die Romantik. Eine problemgeschichtliche Studie, die 1932 in der von Hans Hecht, Friedrich Neumann und Rudolf Unger herausgegebenen Reihe Neue Forschungen. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker erschien,153 wie auch in

|| ruhiger Arbeit an meinem grösseren Buch über Novalis. Ich habe so gar keine Ahnung, wohin mein Weg mich führt, worauf ich mich einstellen soll. All dies widerstrebt meiner eigentlichen Lebensform sehr u. es ist oft nicht leicht, damit fertig zu werden.« 148 Vgl. dazu die Funde von Claudia Löschner: Denksystem, S. 60 Anm. 149 Vgl. dazu Bernhard Zeller: Marbacher Memorabilien. Vom Schiller-Nationalmuseum zum Deutschen Literaturarchiv 1953–1973. Marbach 1995, S. 109. Vgl. auch Käte Hamburger an Thomas Mann, 17.2.1932, in: Thomas Mann – Käte Hamburger, Briefwechsel 1932–1955, S. 24. 150 Vgl. Jürgen Behrens: Der Kampf um den Novalis-Nachlaß, in: Ernst Beutler: 1885–1960, hg. v. Christoph Perels. Frankfurt a. M. 1985, S. 59–72. 151 Vgl. Hubert Brunträger: Einführung, in: Thomas Mann – Käte Hamburger. Briefwechsel 1932–1955, S. 7–18, hier: S. 8. 152 Vgl. aber den Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band. Hier ist es die Analyse des existenzphilosophischen Problemkomplexes, die den Verfasser veranlasst festzustellen, dass Hamburger sich in ihrer Studie Thomas Mann und die Romantik auf »ein ziemlich intimes ›Rendezvous‹ mit dem Zeitgeist« eingelassen und infolgedessen eine »existenzphilosophische[] Umdeutung der Romantik« vorgenommen habe. 153 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik. Eine problemgeschichtliche Studie. Berlin 1932.

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einem kleinen Aufsatz zur romantischen Politik bei Thomas Mann154 wird in expliziter Anknüpfung an Fritz Strichs überhistorische Unterscheidung von klassischem und romantischem Typus155 Thomas Mann dem »Typus des Romantischen« zugeschlagen.156 Um die Spezifik seines irrationalen Weltgefühls sichtbar zu machen, untersucht Hamburger die »Polarität von Leben und Tod« und die »Polarität von Leben und Geist«157 und diagnostiziert eine homolog angelegte Entwicklung »des 20. und des 18. Jahrhunderts«;158 an die Stelle der »›Ratio‹ der Aufklärung« trete hier wie dort die »›Irratio‹ der Romantik«: Der Wandel von einem rational erkennenden zu einem irrational beseelenden (oder verstehenden) Geistesbegriff ist […] das Problem Thomas Manns, wie es das der »Goethezeit« ist, deren Entwicklungsphasen er gleichsam in seiner eigenen Entwicklung noch einmal durchmacht.159

Diese Entwicklung hat nach Hamburger in der Frühromantik wie bei Thomas Mann zwei Phasen, die Hamburger mit den Namen Friedrich Schlegel und Novalis belegt. Friedrich Schlegel stehe dabei für eine »Vorstufe […], weil das geistige Prinzip, um das sich sein Denken dreht, noch von wesentlich aufklärerischintellektualistischem Charakter ist«, während es erst Novalis gelinge, durch Magie und Todesmystik eine poetische »Synthese und Durchdringung«160 der Polaritäten umzusetzen. Seine geistesgeschichtliche Parallele findet dieser Wandel nach Hamburger in der Werkgeschichte Thomas Manns: In den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) reflektiere Thomas Mann den »Durchbruch der Lebensidee« und überwinde so die »Herrschaft des rationalistischen Intellekts, des ›literarischen‹ Geistes, der die rationalen Gebilde der Zivilisation, der Bourgeoisie, der Demokratie, der Politik und eben der Literatur, der ›Zivilisationsliteratur‹ hervortreibt«161 – mit einem Wort: die Aufklärung. Die hier noch antithetisch konzipierten Prinzipien des Geists und des Lebens würden dann in Manns folgenden Texten immer deutlicher als »Durchdringung und

|| 154 Käte Hamburger: Romantische Politik bei Thomas Mann, in: Der Morgen 2 (1932), S. 106– 115. 155 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 5 Anm. 156 Ebenda, S. 8 und 10. Vgl. zur Einschätzung dieser Studie aus der Perspektive der Thomas Mann-Forschung unter anderem Wiebke Buchner: »Die Gottesgabe des Wortes und des Gedankens«. Kunst und Religion in den frühen Essays Thomas Manns. Würzburg 2011, S. 254–256. 157 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 12. 158 Ebenda, S. 16. 159 Ebenda, S. 14–15. 160 Ebenda, S. 42. 161 Ebenda, S. 15–16.

62 | Andrea Albrecht Synthese«162 gestaltet, unter anderem im Zauberberg (1924): Auf der Ebene der problemsymbolischen Formensprache manifestiere sich hier der geistesgeschichtliche Wandel in der figuralen Gegenüberstellung von Lodovico Settembrini, Leo Naphta und Hans Castorp. Thomas Mann habe sich zunächst in Settembrini einen Repräsentanten »jener Vernunft-Geistigkeit« kreiert, die er »als westlich französischer Herkunft für das deutsche Wesen ablehnt«.163 In Naphta, dem katholisch getauften Juden, erwachse Settembrini dann ein Gegenspieler, ein »anderer Geistestypus«, den Thomas Mann im Zeichen des »fanatische[n]« Katholizismus gegen die »klassisch-rationale[] Geistigkeit« Settembrinis aufbegehren lasse. Naphta allerdings könne sich aufgrund »seiner jüdischen Rassenzugehörigkeit« nicht von seiner »intellektualistische[n] Zuspitzung der Probleme« lösen und müsse deswegen »den eigentlichen Sinn jeder Geistigkeit«,164 das heißt die Synthese und Durchdringung von Leben und Geist, Leben und Tod, verfehlen. Es bleibt dieser Deutung nach Hans Castorp vorbehalten, durch das »Erlebnis des Todes«165 den Schritt über die antithetische Polarität von Settembrini (Aufklärung, Klassik) und Naphta (Judentum, Katholizismus, Frühromantik) hinaus in Novalis’ Reich der Liebe und der Todesmystik zu vollziehen. Hamburger kommt in ihrer Zauberberg-Deutung zu durchaus sensiblen Textbeobachtungen, etwa zur Artifizialität der Kompositfigur Naphta und zur Novalis-Lektüre Thomas Manns,166 doch kann dies hier nicht weiter interessieren. Drei Aspekte aber sind für meine Fragestellung aufschlussreich: Erstens wählt Hamburger mit einer geistes- und problemgeschichtlichen Methode hier einen Zugang zum Werk von Novalis, der weder mit dem neukantianischen noch mit dem philologischen Zugang des Novalis-Aufsatzes von 1929 im Einklang steht. Es gehe ihr, konstatiert sie in Thomas Mann und die Romantik in programmatischer Absicht, nicht um »philologische Akribie«, nicht »um den Nachweis eines direkten quellenmäßigen Einflusses«, sondern vor allem um den »weltanschaulichen Quellgrund«167 Thomas Manns. Der auch sprachlich auffällige Übergang vom philologisch konnotierten Konzept der ›Quelle‹ zum geistesgeschichtlich konnotierten Konzept des ›Quellgrunds‹ führt vor Au|| 162 Ebenda, S. 17. 163 Ebenda, S. 81. 164 Ebenda, S. 53–54. 165 Ebenda, S. 72. 166 Dennoch gilt die Interpretation heute als veraltet, weil sie »allzu großräumig geistesgeschichtlich verfährt«, so Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche, Werk, Wirkung. München 4 2010, S. 185. 167 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 5–6.

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gen,168 dass es Hamburger um den allgemeineren Nachweis eines »geistesgeschichtlichen Zusammenhang[s]«169 zwischen dem »Gedankengut«, der »Geisteshaltung« und »Wesensstruktur«170 der Frühromantiker auf der einen, Thomas Manns auf der anderen Seite geht. Aus geistesgeschichtlicher Perspektive lasse sich das »Problemerlebnis« des Autors im Problemerlebnis der Frühromantiker spiegeln, während das »Problemsymbol«, das heißt die Ausdrucksform, in der dieses »Urerlebnis[]« Gestalt gewinne, zeitgebunden sei, also der »Anschauungs- und Vorstellungswelt der jeweiligen Epoche« entnommen werde.171 Während das ›Erlebnis‹ somit ein zeitübergreifendes, aber typusgebundenes, wesenhaftes Phänomen ist, ist das Symbol zeitgebunden und typenübergreifend gedacht. Hamburger findet so in engem Anschluss an Rudolf Unger, Fritz Strich und Hermann August Korff eine methodische Möglichkeit, historische Entwicklung und überhistorische Typenlehre zu verknüpfen. Damit aber schließt sie sich gerade der geistesgeschichtlichen Bewegung und ihren großbögigen Narrativen an, denen sie in ihrem Novalis-Aufsatz noch keinen Raum gegeben, ja die sie nicht einmal in ihren Fußnoten bedacht hatte. Die methodische Umorientierung korrespondiert – zweitens – mit einer stillschweigenden Revision des wissenschaftsaffinen, rationalistischen Novalisund Romantikbildes, das sie in ihrem Novalis-Aufsatz noch so deutlich konturiert hatte. Die »eigentliche romantische Problematik« erkennt sie 1932 in einem konfliktuösen Nebeneinander einer »›logischen‹ und ›magischen‹ Geistesauffassung, der Ratio und der Seele«172 – eine »polare Korrelativität«, die erst mit Novalis ihre synthetische, dem Irrationalen Tribut zollende Auflösung findet. Zwar wird einem einseitig irrationalistischen Porträt der Romantik immer noch eine Absage erteilt, doch Hamburger konzediert nun: Denn so falsch es ist, den Romantiker schlechthin als den irrationalen Menschen zu charakterisieren, so ist es doch einer der wesentlichen Züge dieses vielfach komplizierten Typus, den irrationalen Strömungen im Menschen und außer ihm nachzugehen. Für diese Strömungen aber wurde etwa vom Sturm und Drang an »das Leben« das Schlagwort, und im Sturm und Drang erkannte denn auch die neuere geisteswissenschaftliche Forschung

|| 168 Als Metapher verweist die philologische ›Quelle‹ sowohl auf (genetische) Herkunft als auch auf ursprüngliche Reinheit und Singularität; sie fungiert als Heuristikum und zum bestätigenden Beleg. Der Übergang zum ›Quellgrund‹ scheint diese Metaphorik zu substanzialisieren, insofern es nun um eine nicht mehr singularisierbare Herkunftsreferenz und ein dadurch bestimmtes Kausalverhältnis zu gehen scheint, sondern um das Umfeld der Quelle. 169 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 4. 170 Ebenda, S. 5. 171 Ebenda, S. 2. 172 Ebenda, S. 49.

64 | Andrea Albrecht die Wurzel der Romantik, zumal die ihrer irrationalen, um den Lebensbegriff sich drehenden Wesenszüge.173

Ihre eigene Arbeit zu Novalis zitiert Hamburger nicht, stattdessen aber Rudolf Unger, Fritz Strich, Kurt May174 und immer wieder Hermann August Korff. Der Epochenphasierung des Letztgenannten möchte sie sich nun weitgehend anschließen und die »Goethezeit« von der »Aufklärung als eine[] dem Weltgefühl nach grundwesentlich« verschiedene Epoche abheben.175 Auch damit scheint sie ihre frühere Studie zu Novalis zu überschreiben. Einigen Geistesgeschichtlern ging ihre Anpassung allerdings nicht weit genug: So schlägt Benno von Wiese in seiner Besprechung aus dem Jahr 1937 vor, die Frühromantik und Thomas Mann deutlicher in die »Geschichte der abendländischen Dekadenz« einzuordnen und die »andre, zweite, spezifisch deutsche Romantik« davon abzusetzen, welche »tragisch, mythisch, volkhaft und der Wirklichkeit verpflichtet« sei.176 Der dritte Aspekt schließlich betrifft die Bezugnahme auf Jüdisches. Im Novalis-Aufsatz war Hamburger, wie gesehen, noch um eine Anbindung des Novalis’schen Denkens an jüdische Denktraditionen bemüht, ohne dass diese allerdings als dezidiert jüdisch markiert wurden. An anderen Stellen des Aufsatzes wurden die religiösen Komponenten von Novalis’ Werk heruntergespielt und transzendentalphilosophisch umgedeutet. In ihrer Studie zu Thomas Mann tritt hingegen nun der christliche Novalis in den Vordergrund. Hinzu kommt ein Konzept des Jüdischen, das nicht religiös oder philosophiehistorisch, sondern zeittypisch biologisch definiert wird: In der Auslegung von Thomas Manns Figu|| 173 Ebenda, S. 9–10. 174 In einer längeren Fußnote geht Hamburger auch recht kritisch auf die Studie des Schülers von Ludwig Klages, Hans Kasdorff (Der Todesgedanke im Werke Thomas Manns. Leipzig 1932) ein, hält sich dabei aber ganz im Rahmen wissenschaftlicher Argumentation. Vgl. Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 78 Anm. Kasdorffs Studie schließt wie die Hamburgers an Rudolf Ungers Arbeiten an und stellt in ähnlicher Weise die Auseinandersetzung mit dem Tod ins Zentrum der Betrachtungen. Allerdings zeiht Kasdorff Thomas Mann der Dekadenz (vgl. S. 12) und des »romantischen Pessimismus« (S. 182); ihm sei es trotz eines späten Entschlusses zum »Lebensdienst« (S. 109) nicht gelungen, eine »lebensvolle Dichtung« zu schaffen (S. 183). Thomas Mann schreibt Kasdorff daraufhin explizit ein »geistiges Nazitum« zu, meint dies aber wohl metaphorisch. Vgl. Thomas Mann an Käte Hamburger, 10.9.1932, in: Thomas Mann – Käte Hamburger, Briefwechsel 1932–1955, S. 21. Käte Hamburgers hermeneutische Auslegung hat ihm offenbar besser gefallen als Kasdorffs Kritik. 175 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 9–10. 176 Benno von Wiese: Forschungsbericht zur Romantik, in: Dichtung und Volkstum. Neue Folgen des Euphorion 38 (1937), S. 65–85, hier: S. 84. Immerhin hält von Wiese die Arbeit von Hamburger auch in diesen Jahren noch für erwähnenswert.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 65

renarsenal im Zauberberg wird der intellektualistische Charakter Naphtas ausdrücklich auf seine ›rassische‹ Zugehörigkeit zum Judentum zurückgeführt und dem »nordisch-protestantische[n] Dichter«177 Thomas Mann entgegengesetzt. Diese ›rassische‹ Bindung des Charakters kann auch durch die katholische Taufe und den katholischen Glauben nicht überwunden werden. Hamburger bezieht in ihrem Aufsatz nicht eigens Stellung zu diesen Zuschreibungen, scheint sie vielmehr geradezu beiläufig zu referieren oder aus dem Mann’schen Roman zu extrahieren, was eine hermeneutische Zurechnung schwierig macht. Signifikant bleibt dennoch, dass Hamburger sich von diesen Zuschreibungen weder explizit noch implizit distanziert. Vielmehr scheint ihre Thomas Mann-Studie178 letztlich den vom Autor präferierten »typischen Weg des deutschen Menschen«179 als einen Weg zu affirmieren, der zur Idee wahrer Humanität, wahrer »Gemeinschaft« und einer »Sphäre des Sozialen« führt.180 Dem Juden Naphta bleibt dieser Weg verschlossen.181 Was hat Hamburger zu diesen doch nicht unerheblichen Revisionen ihrer vorherigen Auffassungen motiviert? Dokumentiert der Text einen ernsthaften Überzeugungswandel, nur eine mehr oder minder oberflächliche Anpassung oder aber den Wunsch, neukantianische und geistesgeschichtliche Denkansät-

|| 177 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 53. 178 Vgl. dazu auch Steffen Martus: Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933, in: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, hg. v. Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer. Berlin 2009, S. 47–84, hier: S. 59–60. 179 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 97. 180 Ebenda, S. 99. 181 Das Verhältnis Thomas Manns zum Judentum ist ambivalent und wird in der Forschung kontrovers diskutiert, vgl. z. B. die Beiträge in: Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, hg. v. Manfred Dierks und Ruprecht Wimmer. Frankfurt a. M. 2004; Jacques Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden. Tübingen 2003, vgl. zum Zauberberg insb. S. 138–174, zu Naphta S. 150–166. Hamburger ist mit ihrer affirmativen Haltung gegenüber Thomas Mann nicht allein; Mann hatte in der Zeit viele – auch jüdische – Bewunderer, die sich mit seinen stereotypen jüdischen Figuren zu arrangieren wussten. Vgl. z. B. die Einschätzung des jüdischen Kunsthändlers Heinz Berggrün, der 1936 in die USA emigrierte. Heinz Berggrün: Jüdische Gestalten im Lebenswerk Thomas Manns. Zum 60. Geburtstag des Dichters am 6. Juni, in: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland 11 (1935), S. 119–122, hier: S. 122: »Naphta geht zugrunde, weil er sich nicht einordnen konnte. Man liest seine Geschichte als Jude gewiß nicht mit derselben Befriedigung wie die des jüdischen Arztes aus der ›Königlichen Hoheit‹. Aber man liest sie mit der tiefen Achtung vor einem Dichter, der sich bemüht, die Gefahren aufzuzeigen, die in der Besonderheit der jüdischen Mentalität verborgen liegen. Thomas Mann hat nie einseitig geurteilt.«

66 | Andrea Albrecht ze zu versöhnen, wie dies auch Cassirer und andere neukantianische Denker182 bereits versucht hatten? Biographisch gut belegt ist jedenfalls, dass Hamburger mit ihrem Umzug nach Berlin Anfang der 1930er Jahre den Plan fasste, sich mit einer Arbeit zum Thema Humanität und Existenz, bei der auch die romantische Humanitätsidee eine Rolle spielen sollte, bei Rudolf Unger in Göttingen zu habilitieren.183 Wie man den erhaltenen Korrespondenzen entnehmen kann, weiß sie als jüdische Frau um die »ungeheuren Schwierigkeiten, die unter den heutigen Umständen der Verwirklichung« ihres Habilitationswunschs »entgegenstehen«. Dennoch bittet sie Unger, sie bei ihren »sehr kühnen Plänen« zu unterstützen,184 und verweist ihn ausdrücklich auf die Studie zu Thomas Mann, die als eine Art Arbeitsprobe gelten soll. In der Tat wird in den Fußnoten dieser Studie nicht nur ausführlich auf Anschlussstellen zu Ungers problemgeschichtlichen Arbeiten hingewiesen,185 auch die neue Habilitationsidee findet mehrfach Erwähnung.186 Bei der Thomas Mann-Studie könnte es sich mithin um einen reinen Zwecktext handeln, der Hamburger trotz der für eine Jüdin notorisch schlechten Ausgangsbedingungen eine Habilitationsmöglichkeit verschaffen und sie insofern akademisch retten sollte. Allerdings ließe sich ein solches Kalkül dann ebenso für den Novalis-Aufsatz von 1929 vermuten, nur dass hier noch unter anderen politischen Bedingungen kein Geisteshistoriker, sondern || 182 Ernst Cassirers Schrift Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (Berlin 1917) liefert dafür ein gutes Beispiel. Karl Mannheims Rezension fällt denn auch entsprechend scharf aus: »Cassirers neuestes Buch ist eines von jenen zahlreichen, ihrem Gehalt nach symptomatischen Werken, in denen sich das Deutschtum während der Kriegsjahre seine nationale Wesensart und seine geistige Bestimmung zu Bewußtsein bringen will. [...] Er formt die Begriffe Freiheit und Form zu Funktionsbegriffen um […], als ob er auf dem Feld der Geistesgeschichte diesen Begriffstyp methodisch erproben wollte, dessen theoretische Gestalt und in den exakten Wissenschaften dokumentierte Geschichte er in einem vorangegangenen Werk beschrieben hatte (Substanzbegriff und Funktionsbegriff) […]. Auf der Grundlage solch allgemeiner Kategorien ist es unmöglich, eine konkrete Analyse durchzuführen. […] Selbst wenn wir zugestehen würden, daß die Analysen des Autors diese allgemeine Perspektive auf den deutschen Geist in allen Bereichen bestätigte, bliebe immer noch unentschieden, warum wir in dieser Zusammenfassung von Form und Freiheit gerade einen deutschen Zug sehen müssen. […] Aber alle diese Fehler folgen letztlich aus den theoretischen Schwierigkeiten der anfänglichen Problemstellung […].« Karl Mannheim: Rezension von Ernst Cassirer, Freiheit und Form, in: Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus. Göttingen 2004, S. 563–567. 183 Vgl. Gesa Dane: Zu Käte Hamburgers Brief an Rudolf Unger. 184 Käte Hamburger an Rudolf Unger, 3.7.1932, zitiert nach Gesa Dane: Käte Hamburger (1896–1992), S. 193. 185 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 10 Anm., S. 16 Anm. 186 Ebenda, S. 15 Anm., S. 26 Anm.

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der Philologe Kluckhohn und der Neukantianer Cassirer die adressierten Patrone wären. Angesichts des deutlichen Wandels stellt sich dann aber die Frage, was sich Hamburger als ›Kern‹ ihrer wissenschaftlichen Auffassung zurechnen lässt, sofern so eine Frage überhaupt sinnvoll ist. Partiell Aufschluss kann darüber wiederum ein Blick in die zeitgenössische Rezeption geben, aus der insbesondere eine Rezension von Hannah Arendt herausragt.

10 »…nicht völlig ohne wissenschaftliche Belege« – Hannah Arendts Kritik In einer Besprechung, die 1934 in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft erscheint, disqualifiziert Hannah Arendt Hamburgers Thomas Mann-Monographie als eine wissenschaftlich unzureichende Arbeit. Zur Einschätzung dieser Kritik sei vorab darauf hingewiesen, dass zwischen Hannah Arendt und Käte Hamburger in den frühen 1930er Jahren sowohl ein politisch-weltanschaulicher Dissens als auch eine fachliche Konkurrenz vorlag. Denn im Unterschied zu Hamburger hielt Arendt den Weg der jüdischen Assimilation zu diesem Zeitpunkt bereits für gescheitert und auch den neukantianischen Weg einer deutsch-jüdischen Kultursynthese für naiv und verfehlt.187 Sie ließ diese Überzeugung in ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rahel Levin Varnhagen einfließen – ein Projekt, an dem sie zwischen 1929 und 1933 in Berlin, dann im Pariser Exil arbeitete.188 Arendt deklarierte hier zwar zunächst, wie dies später auch bei Hamburger zu finden ist, das ›GoetheErlebnis‹ Rahel Varnhagens als Schlüsselereignis, rückte aber bald in einer bewusst aktualisierenden Form die Frage nach der prekären jüdisch-deutschen Identität in den Vordergrund.189

|| 187 Vgl. u. a. Hannah Arendt: Aufklärung und Judenfrage, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 4 (1932), S. 65–77. 188 Hannah Arendt: Berliner Salon, in: Deutscher Almanach für das Jahr 1932. Leipzig 1931, S. 173–184; dies.: Originale Assimilation. Ein Nachwort zu Rahel Varnhagens 100. Todestag, in: Jüdische Rundschau 38 (7.4.1933), Nr. 28/29, S. 143; dies.: Rahel Varnhagen. Zum 100. Todestag, in: Kölnische Zeitung, 7.3.1933, S. 131. 189 Vgl. dazu Claudia Christophersen: Ein Leben wird gestaltet. Rahel Varnhagens GoetheVerehrung aus der Sicht von Hannah Arendt, in: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, hg. v. Wolfgang Heuer und Irmela von der Lühe. Göttingen 2007, S. 15–30. Ausführlicher Claudia Christophersen: »...es ist mit dem Leben etwas gemeint«: Hannah Arendt über Rahel Varnhagen. Königstein/Ts. 2002.

68 | Andrea Albrecht Hamburger arbeitete ab 1933 ebenfalls an einem Projekt zu Rahel Varnhagen und publizierte 1933 dazu einen ersten journalistischen Beitrag in der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung. Rahel Varnhagen wird hier gegen kritische jüdische Stimmen, die ihr eine Entfremdung vom Judentum vorwerfen, in Schutz genommen und als Beispiel für eine gelungene Assimilation beschrieben. Dabei dient auch Hamburger die aktuelle politische Situation als Ausgangspunkt der Betrachtungen: Durch die judenfeindliche Hochflut von neuem in den schweren Konflikt zwischen seinem Judentum und seinem deutschen Lebens- und Kulturraum gestürzt, aus ihm immer bewußter, in einem religiösen oder nationalen Sinne, sich auf das Bollwerk seines Judentums zurückziehend, wird der deutsche Jude sehr leicht geneigt sein, aus seiner heutigen Situation heraus der Erscheinung der Rahel Varnhagen in einer kritisch ablehnenden Form zu begegnen. Denn die geschichtliche Stellung und Leistung dieser jüdischen Frau ruht nicht so sehr in ihrer Bedeutung für das Judentum wie für das Deutschtum des deutschen Juden, in dessen Assimilationsgeschichte eben sie einen Höhepunkt darstellt. […] Wenn aus der Situation des deutschen Judentums heraus Rahel Varnhagen sich ihm entfremdete, so reicht doch ihre starke, ihre reiche, ihre im höchsten Sinne humanitäre Persönlichkeit weit über diese geschichtlichen Bedingungen hinaus, und immer darf das deutsche Judentum stolz sein, daß sie ihm entstammte und ihr Wesen zuletzt doch durch ihr jüdisches Menschentum entscheidend geprägt war.190

Hamburgers Würdigung der sich in Rahel Varnhagen manifestierenden Synthese von Deutschtum und Judentum fällt konträr zu der Wertung Arendts aus. In dem 1934 publizierten, während Hamburgers Studienaufenthalt in Dijon entstandenen Aufsatz »Goethe et Rahel«, der auf Französisch in der Revue Germanique erscheint, ändert sich dies nur insofern, als nun nicht mehr eine allgemeine Humanitätsidee die Basis der bei Rahel Varnhagen diagnostizierten Synthese bildet. In den Vordergrund rückt stattdessen Rahel Varnhagens GoetheErlebnis, das für Hamburger gewissermaßen als Beleg für eine prinzipielle Harmonisierungsmöglichkeit deutscher und jüdischer Traditionen im Zeichen der deutschen Aufklärung und Klassik fungiert.191 Es ist insbesondere Goethe, || 190 Käte Hamburger: Rahel Varnhagen. Zu ihrem 100. Todestag am 7. März 1933, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 9 (1.3.1933), H. 5, S. 65–67, hier: S. 65 und 67. Den Hinweis auf diesen Beitrag verdanke ich Wolfram Pyta. 191 Vgl. zur Einschätzung die Darstellung von Konrad Feilchenfeldt: Rahel-Philologie im Zeichen der antisemitischen Gefahr (Margarete Susman, Hannah Arendt, Käte Hamburger), in: Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Göttingen 1987, S. 187– 195. Vgl. zum Dissens zwischen Hamburger und Arendt auch Claudia Schulze: »Jene urtheilt eigentlich nicht, sie hat den Gegenstand«. Rahel Varnhagens Goethe-Rezeption in der Interpretation von Käte Hamburger, in: Rahel Levin Varnhagen. Studien zu ihrem Werk im zeitgenössischen Kontext, hg. v. Sabina Becker. St. Ingbert 2001, S. 231–258, zum Streit insb. S. 245–246.

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der für Hamburger, wie für viele jüdische Exilanten, darunter auch Ernst Cassirer, ein besseres, humanistisches Deutschland gegenüber dem nationalsozialistischen repräsentiert. Hamburgers früher journalistischer Beitrag zu Varnhagen wird, wie auch ihr Beitrag zu Spinoza, meines Wissens später von ihr nicht wieder erwähnt und ist von der Forschung wohl auch deswegen bis heute nicht beachtet worden. Der Aufsatz »Rahel et Goethe« hingegen erscheint Ende der 1960er Jahre erneut in stark veränderter, nun deutscher Fassung.192 Inzwischen war Hannah Arendts Monographie Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik schon einige Zeit auf dem Markt193 und Hamburger nutzte die Gelegenheit, harsche Kritik an Arendts vermeintlich zu präsentistischem, politisch verzerrtem und diffamierendem Rahel-Bild zu üben.194 Dennoch ließ sie Hannah Arendt mit dem Hinweis auf »ein wenig Kritik«195 ein Exemplar ihres Aufsatzes zukommen, wodurch diese sich wiederum dazu provoziert sah, sich über Hamburgers wiederholte Kritik zu beschweren. Arendt schrieb am 21. Juni 1971 aus New York an Käte Hamburger in einem verärgerten Ton: Sehr geehrte Frau Hamburger, ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Arbeit über Rahel und Goethe zugeschickt haben. Aber glauben Sie wirklich, dass Ihre Meinung, ich hätte ein »Rahel durchweg höhnisch diffamierendes Buch geschrieben« als »ein wenig Kritik an meiner Rahel-Auffassung« bezeichnet werden kann? Wie immer das sei, mir erscheint Ihre Meinung ein groteskes Missverständnis. Ich habe die Rahel immer sehr geliebt, und, als ich das Buch schrieb, schien mir, dass man es nicht nötig habe, mit ihr posthum das zu tun, was sie zeit ihres Lebens so verachtet hat, nämlich: »Schmeichelvisiten bei sich selbst abzulegen.« Ich habe sie nicht schonender behandelt, als sie sich selber behandelt hat. Und obwohl es vierzig Jahre her ist, seit ich dieses Buch geschrieben habe, bin ich immer noch der Meinung, dass ich ihr damit eine Ehre erwiesen habe.196

|| 192 Käte Hamburger: Rahel und Goethe, in: Studien zur Goethezeit. Festschrift für Lieselotte Blumenthal, hg. v. Helmut Holtzhauer und Bernhard Zeller. Weimar 1968, S. 74–93. 193 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 1959. 194 Vgl. Hamburger: Rahel und Goethe (1968), S. 92; Käte Hamburger: Rahel und Goethe, in: Kleine Schriften zu Literatur und Geistesgeschichte. Stuttgart 1976, S. 111–135, hier: S. 129–130. Vgl. auch Gesa Dane: Eine Klassikerin der Literaturtheorie: Käte Hamburger, in: German Literature, Jewish Critics. The Brandeis Symposium, Woodbridge 2002, S. 121–130, hier: S. 125. 195 Käte Hamburger an Hannah Arendt, 10.5.1971, zit. nach Claudia Schulze: »Jene urtheilt eigentlich nicht, sie hat den Gegenstand«, S. 246. 196 Zit. nach Claudia Christophersen: »...es ist mit dem Leben etwas gemeint«, S. 279. Dort findet sich auch eine intensivere Analyse zu Hamburgers und Arendts divergierenden Auffassungen zu Rahel. Am Rande wird darauf auch Bezug genommen von Irmela von der Lühe: Erzählen als ›Bewältigen‹. Hannah Arendt und die Dichtung, in: Textgelehrte. Literaturwissen-

70 | Andrea Albrecht Die zitierte Passage zum »durchweg höhnisch diffamierende[n] Buch« stammt direkt aus Hamburgers197 Beitrag zu Rahel, wie er 1968 erschienen war. Und Hamburger lenkte ein: In der Wiederherausgabe in den Kleinen Schriften aus dem Jahr 1976 schwächte sie die Aussage ab; nun ist nur noch von einem »mehr oder weniger diffamierende[n] Buch« die Rede.198 Die somit bis in die 1970er Jahre andauernden Misstöne zwischen Hamburger und Arendt reichen, wie Arendt in ihrem Brief schreibt, vierzig Jahre zurück. Sie nehmen ihren Anfang mit Arendts Rezension von 1934, die allerdings ausschließlich wissenschaftlich,199 nicht politisch argumentiert und aus diesem Grund wohl auch als wissenschaftliches Rezeptionsdokument ernst genommen werden kann. In scharfem Ton bezeichnet Arendt in ihrer kurzen Besprechung nicht nur die geistesgeschichtliche Parallelisierungsmethode Hamburgers als ein »nicht rechtmäßig[es]« Verfahren: Eine Zusammenstellung wäre nur dann legitim, wenn der wirkliche, d. h. geschichtliche Zusammenhang aufgezeigt und Th. Mann als Erbe dargestellt würde. Das Heraussuchen von geschichtlich neutralen Ähnlichkeiten verfälscht die Geschichte und damit beide Glieder des Vergleichs.200

Über diese Kritik am Verfahren hinaus hält Arendt auch die Ergebnisse von Hamburgers Studie für entweder trivial oder falsch: Daß die Romantik deutsche Tradition geworden ist und daß Thomas Mann in dieser Tradition steht, ist so selbstverständlich, daß es eines »allgemeineren Nachweises« nicht mehr bedarf. […] Die beiden gemeinsame »urtümliche Problematik« sieht die Verfasserin vor allem in dem »unlöslichen Zusammenhang von Leben und Tod«. Das Thema dieses Zusammenhanges ist in den unübersehbaren letzten dreitausend Jahren stets zentral gewesen; die Verfasserin glaubt allerdings, daß dieser unlösliche Zusammenhang das

|| schaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie, hg. v. Nicolas Berg und Dieter Burdorf. Göttingen 2014, S. 309–320, hier: S. 319. 197 Vgl. Käte Hamburger: Rahel und Goethe (1968), S. 92. 198 Käte Hamburger: Rahel und Goethe (1976), S. 130. In der zweiten erweiterten Auflage der Kleinen Schriften, die 1986 herauskommen, fehlt die entsprechende Seite aufgrund eines Setzerfehlers, vgl. Käte Hamburger: Rahel und Goethe, in: Kleine Schriften zur Literatur und Geistesgeschichte. 2. Auflage, Stuttgart 1986, S. 163–181. 199 Darin ähnelt Arendts Rezension zu Hamburger Karl Mannheims Rezension zu Ernst Cassirers Schrift Freiheit und Form. In beiden Fällen wird primär die Verletzung wissenschaftlicher Standards kritisiert. 200 Hannah Arendt: [Rez.] Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 28 (1934), S. 297–298, hier: S. 297.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 71 »Problem jeder vornehmlich irrational gefärbten Lebenseinstellung« darstelle. Das ist nicht nur undeutlich, sondern ein Irrtum.201

Schließlich erkennt Arendt in der Thomas Mann-Studie einen Selbstwiderspruch. Die Rezensentin hebt hervor, dass Hamburger gegen ihre deklarierte Intention auf philologischem Weg Einflüsse aufzeige und ihre Arbeit ausschließlich in diesen Passagen wissenschaftliche Meriten habe: Das Buch von Käte Hamburger ist nicht völlig ohne wissenschaftliche Belege. Wenn sie solche gibt, sind sie allerdings Belege gerade im Sinne der Methode, die sie zu Beginn ihrer Arbeit ausdrücklich abgewehrt hatte, nämlich Belege für einen direkten quellenmäßigen Einfluß. (siehe z. B. S. 56–58)202

Arendts Kritik ist vernichtend, doch sie macht zugleich darauf aufmerksam, dass sich in Hamburgers Thomas Mann-Studie für zeitgenössische Leser203 ein Bruch, eine wahrnehmbare Inkonsistenz zwischen philologischer und weltanschaulicher Intention abzeichnet, die als Symptom für eine vornehmlich äußere Akkommodation Hamburgers gelesen werden könnte. Für diese Hypothese spricht der prokataleptische Hinweis in Hamburgers Einleitung, mit dem sie den potentiellen Einwand vorwegzunehmen sucht, dass in ihrer Studie »Nichtzusammenhängendes […] gewaltsam aneinander gepaßt« werde; man könnte denken, dass sie selbst methodische Bedenken hegte.204 Für die Anpassungshypothese spricht zudem, dass Hamburger in dem Aufsatz »Romantische Politik bei Thomas Mann«, der kurz vor der Publikation der Monographie im Juni 1932 in der liberalen jüdischen Zweimonatsschrift Der Morgen abgedruckt wird, politisch aufgeklärter argumentiert.205 In diesem dezidiert jüdischen Publikationskontext zeichnet sie mit größerer Reserviertheit als in der Monographie Thomas Manns politische Entwicklung von einer unpolitisch-konservativen zu einer sozialen beziehungsweise sozialdemokratischen Humanitätsidee nach – eine

|| 201 Ebenda, S. 297–298. 202 Ebenda, S. 298. 203 Die Monographie findet in der Fachpublizistik Beachtung, wird aber zumeist mit der zeitgleich erschienenen Studie von Hans Kasdorff verglichen. Deutlich negativ fällt das Urteil Adolf v. Grolmans aus, auch weil sich Hamburger, die er für eine Doktorandin hält, an einen zeitgenössischen Autor gewagt habe, vgl. Adolf v. Grolman: Kleinere Schriften zur deutschen Literaturwissenschaft, in: Junge Literaturhistoriker und ihre Erstlinge (IV), in: Die Neue Literatur 35 (1934), S. 211–220, hier: S. 219–220. 204 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 297. 205 Käte Hamburger: Romantische Politik bei Thomas Mann, S. 114.

72 | Andrea Albrecht politische Wende,206 die Thomas Mann in Reaktion auf die erstarkenden nationalsozialistischen Kräfte in der Weimarer Republik in einer Reihe von Reden vollzogen und schließlich zu einem Gegner der Nationalsozialisten hat werden lassen.207 Hamburger scheint nicht zuletzt aufgrund dieser Wende in Thomas Mann auch während der darauffolgenden Jahre des Exils einen Schriftsteller gefunden zu haben, über den sich ihre Romantikforschungen an zeitgenössische Fragen der Humanität knüpfen ließen. Für die Hypothese einer vorwiegend äußeren Anpassung an die Bedingungen der Zeit spricht schließlich auch, dass Hamburger weder in ihrer 1945 erschienenen Studie zu Thomas Mann208 noch in der Neuveröffentlichung des Novalis-Aufsatzes von 1966 auf die Monographie von 1932 verweist. Allerdings könnte man ebenso gut anders argumentieren: Da Hamburger in ihrem Aufsatz zum »Todesproblem bei Jean Paul« aus dem Jahr 1929 bereits auf Novalis’ Auseinandersetzung mit dem Tod eingeht und hier auch schon explizit und deutlich an die geistesgeschichtlichen Arbeiten Rudolf Ungers anschließt,209 ließe sich vermuten, dass eher der Novalis-Aufsatz als die Thomas Mann-Monographie als die nur für einen äußeren Zweck geschriebene Studie zu charakterisieren wäre. Hamburger hätte sich dann durch Cassirer und sein Umfeld an der Hamburger Universität nur kurzzeitig von ihrem geistesgeschichtlichen und – durch den Kontakt zu Paul Hofmann – zunehmend auch existenzphilosophischen210 Forschungsprogramm abbringen lassen und die Gelegenheit für eine neukantianisch informierte Auseinandersetzung mit Novalis genutzt, um im Anschluss daran mit der Arbeit zu Thomas Mann wieder ihren eigentlich geistesgeschichtlichen und existenzphilosophischen Interessen nachzugehen. Letztlich ist wohl nicht zu entscheiden, mit welchen wissenschaftlichen Beiträgen Hamburger sich vor 1933 stärker identifiziert hat oder ob es sich für sie überhaupt als ein Entweder-Oder darstellte. Doch unabhängig von der nur hypothetisch zu rekonstruierenden Motivlage Hamburgers lässt sich festhalten, dass der neukantianische Kontext, aus dem sich ihr Novalis-Aufsatz von 1929

|| 206 Vgl. dazu neuerdings auch Sebastian Hansen: Betrachtungen eines Politischen. Thomas Mann und die deutsche Politik 1914–1933. Düsseldorf 2013. 207 Käte Hamburger: Romantische Politik bei Thomas Mann, S. 114; vgl. Thomas Mann: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft (1930), in: ders.: Gesammelte Werke: Reden und Aufsätze 3. Frankfurt a. M. 1990, Bd. XI, S. 870–890; ders.: Kultur und Sozialismus (1928), in: ders.: Gesammelte Werke: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt a. M. 1990, Bd. XII, S. 639–649. 208 Käte Hamburger: Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder«. Eine Einführung. Stockholm 1945. 209 Vgl. Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, S. 449, 467 u. ö. 210 Vgl. den Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 73

speist, selbst in ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit Anfang der 1930er Jahre weitgehend marginalisiert und durch andere Kontexte ersetzt wird. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ließ sich in Deutschland ohnehin kein wissenschaftsaffines, rationalistisches Romantikbild mehr durchsetzen.

11 Abgerissene Fäden, tote Tradition – Schlussbetrachtungen Im Mai 1946 schreibt Käte Hamburger an ihren germanistischen Kollegen Josef Körner: Hat es überhaupt Sinn, sich mit diesen oder jenen Spezialproblemen einer Wissenschaft oder sogenannten Wissenschaft zu befassen, deren gesamter Betrieb, deren ganze Tradition an Kultur so zusammengebrochen ist wie die deutsche Geisteswissenschaft? Wenn ich Schriften von vor 1933 lese, ist es wie eine ferne Vergangenheit. Damals hatte die Gegenwart, und so auch die damals gegenwärtige Wissenschaft, noch ihren Zusammenhang mit der deutschen Geisteskultur. Jetzt ist es wie ein gähnender Abgrund oder wie lauter abgerissene Fäden, und sinnlos erscheint es mir oft, in der toten Tradition mich zu bewegen. Ob sie wieder lebendig werden kann? In anderer Weise vielleicht?211

In den späten 1940er Jahren sind die in den 1920er Jahren noch so vitalen neukantianischen Kontexte für Hamburger offenbar nur noch »ferne Vergangenheit« und »tote[] Tradition«, was sicherlich trotz aller Euphemismen und Metaphern nicht nur auf eine zeitliche Distanz, sondern auf die mit dem Holocaust einhergehende Vernichtung der deutsch-jüdischen Intelligenz und ihrer bildungsbürgerlichen Milieus verweist. Eine Überbrückung des »gähnende[n] Abgrund[s]«, eine Kontinuierung der »abgerissene[n] Fäden« und eine Verlebendigung der Traditionen, und sei es auch nur in »anderer Weise«, erscheint Hamburger jedenfalls als nahezu aussichtslos. Dies sollte sich auch in den || 211 Käte Hamburger an Josef Körner, 12.5.1946, hier zit. nach Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe, S. 216. Der Kontakt zu Körner entstand erst nach 1945, doch Hamburger wird gewiss schon in den 1920er Jahren Arbeiten von Körner gelesen und von der Auseinandersetzung um Körners Habilitation erfahren haben. Ein wesentlicher Grund für die Ablehnung durch die Prager Germanisten war Körners ›Anationalität‹. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung vor allem Ralf Klausnitzer: Nachwort, in: Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe, S. 385–461; Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz, S. 70–71. Körner selbst war ein durchaus streitbarer Zeitgenosse, vgl. seine beißende Rezension zu Herbert Cysarz: Josef Körner: Barocke Barockforschung, in: Historische Zeitschrift 133 (1926), S. 455–464.

74 | Andrea Albrecht 1950er Jahren nicht ändern. Fritz Martini und Max Bense, die sich von Käte Hamburger in Stuttgart Unterstützung beim Ausbau einer analytisch-rationalen Geisteswissenschaft erhofften und ihr nicht zuletzt deswegen 1957 die Habilitation ermöglichten, hatten an einem Anschluss an die abgebrochenen neukantianischen Traditionen der Weimarer Republik kein Interesse.212 Martini, während der Zeit des Nationalsozialismus aktives Mitglied von NSDAP und SA, entstammte wie Max Bense213 einer ganz anders geprägten wissenschaftlichen Tradition. Der Neukantianismus sei, wie Hamburger 1964 an Klaus Schröter schreibt, »heute gerade nicht mehr aktuell, wo man einerseits ontologisch, anderseits logistisch-strukturell denkt«.214 Blickt man heute ohne Wissen um den zeithistorischen Kontext auf Hamburgers Novalis-Aufsatz zurück, mag es daher zwar so erscheinen, als habe sie damit in der Novalis-Forschung einen bedeutsamen wissenschaftlichen Wandel oder gar einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Aus fachgeschichtlicher Perspektive aber hat Hamburger durch ihre Studie nicht mit der Tradition gebrochen, sondern vor allem ihr neukantianisches Wissen konsequent mit ihrem philologischen verknüpft.215 Bedeutsam gewandelt hat sich in Wirklichkeit vor allem der Rezeptionskontext. Denn mit dem Zivilisationsbruch nach 1933 wird die Kontinuität des philosophisch-philologischen Denkens, wie es sich im Neukantianismus ausgebildet hatte, zerstört. Anders als im Fall des Logischen Empirismus, der Phänomenologie oder auch der Kritischen Theorie kam es im Fall des Neukantianismus zu keiner nennenswerten Fortschreibung im Exil, wozu sicherlich auch dessen bereits in den 1920er Jahren erodierende Anerkennung, aber auch der Tod namhafter Protagonisten beitrug. Die ehedem reiche neukantianische Tradition, aus der sich Hamburgers Novalis-Studie speiste, von der Hamburger sich aber schon, wie gesehen, Anfang der 1930er Jahre selbst verabschiedet hat, ist daher so nachhaltig dem Vergessen überantwortet worden, dass deren Thesen und Methoden in den 1950er Jahren und auch heute noch als nicht anschlussfähig erscheinen können.

|| 212 Vgl. Christa Kersting: Remigration und Wissenschaftspolitik, S. 69. 213 Vgl. dazu ausführlich Alexandra Skowronski: Distanz und Nähe. Zum ambivalenten Rollenprofil Max Benses zwischen 1933 und 1945. Masterarbeit Freiburg 2013 (unpubliziert). 214 Käte Hamburger an Klaus Schröter, 3.12.1964, in: Um Thomas Mann. Der Briefwechsel Käte Hamburger – Klaus Schröter 1964–1990. Hamburg 1994, S. 19. 215 Einen in gewisser Weise vergleichbaren Versuch unternimmt Anni Carlsson (zuvor Rebenwurzel, 1911–2001) in ihrer Dissertation zu Novalis, nur dass hier nicht der Neukantianismus, sondern Nicolai Hartmanns Philosophie Pate steht. Carlsson reicht die Dissertation bei Hartmann ein. Sie folgt Hartmann auch in der Ausrichtung auf Fichte. Vgl. Anni Carlsson: Die Fragmente des Novalis. Basel 1939. Hamburger findet keine Erwähnung.

Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus | 75

Es ist folglich nur konsequent, wenn auch in Hamburgers Habilitationsschrift Die Logik der Dichtung (1957) die neukantianischen Kontexte nur noch subkutan eine Rolle spielen. Im Wissen um die Vergeblichkeit eines Wiederbelebungsversuchs der abgebrochenen Traditionen verzichtet Hamburger auf die Erläuterungen, die für einen mit der neukantianischen Terminologie und Denkmethode nicht vertrauten Leser für ein angemessenes Verständnis nötig gewesen wären, etwa auf eine Erläuterung der Termini Funktion, Erzeugung, System.216 Cohen und Natorp finden hier keine explizite Erwähnung, Cassirer wird in der ersten und zweiten Auflage noch genannt,217 in der dritten Auflage von 1977 aber fällt selbst dieser kleine Verweis einer Kürzung zum Opfer. Die literaturwissenschaftliche Fachgeschichte ist daher durch Hamburgers Arbeiten – wie auch durch andere Arbeiten, die aus den Traditionsbeständen der 1920er und 1930er Jahre schöpfen – mit einem methodisch schwierigen Problem konfrontiert. Denn sowohl die hermeneutische Textanalyse als auch die fach- und zeithistorische Rekonstruktion der Kontexte, aus denen heraus sich argumentative Texte wie der Novalis-Aufsatz, die Thomas MannMonographie oder auch Die Logik der Dichtung zum Sprechen bringen und möglicherweise erklären lassen, ist voraussetzungsreich und aufwändig. Mit der immanenten Analyse und Auslegung eines einzelnen Texts und seines unmittelbaren Publikationsumfelds ist es in der Regel nicht getan. Auch Hamburgers eigene, aus der Retrospektive erfolgte Kommentierung ihrer Texte liefert, wie gesehen, nur Indizien, reagieren die Selbstkommentare doch jeweils auf ein anderes zeithistorisches Umfeld. Das Gleiche gilt für die empirische Rekonstruktion der zeitgenössischen Rezeption, denn es ist nicht auszuschließen, dass Hamburgers Text den eigentlich adressierten Leserkreis mit ihrer Studie gar nicht erreicht oder aber dieser keine auswertbaren Rezeptionsdokumente hinterlassen hat. Die zwölfjährige NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen haben auch hier zu Verwerfungen und Diskontinuitäten geführt, die die Evaluation der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte erschweren. Präsumiert man aber nun, dass Hamburger nicht einfach nur wechselnden Einflüssen nachgegeben hat, sondern mit ihren wissenschaftlichen Publikationen sowohl Erkenntnisziele als auch pragmatische Strategien verfolgt hat, nimmt man sie also als Wissenschaftlerin ernst, ist man auf die hypothetische Rekonstruktion von Kontexten angewiesen, die sich allerdings nicht immer durch Theorieinserate oder durch das Zitationsverhalten im Text explizit veran|| 216 Vgl. dazu ausführlich Claudia Löschner: Denksystem, S. 28–29, 50–51, u. ö. 217 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 244–245; zweite, stark veränderte Auflage. Stuttgart 1968, S. 270–271.

76 | Andrea Albrecht kern und auf diese Weise philologisch zufriedenstellend rechtfertigen lassen. Denn oftmals handelt es sich um implizites Wissen, oftmals um stillschweigend vorausgesetzte philosophische Traditions- und zeitgenössisch aktuelle Diskussionsbestände, in denen sich Hamburger wie selbstverständlich und deswegen auch ohne textuelle Markierung und explizite Verweise bewegt. Neben den neukantianischen und geistesgeschichtlichen Kontexten wären etwa existenzphilosophische, phänomenologische oder auch kunstwissenschaftliche Kontexte heranzuziehen. Daher bleibt trotz der angeführten Plausibilitäten unklar, ob das in der Thomas Mann-Monographie entfaltete geistesgeschichtliche Romantikbild wirklich als eine Anpassungsleistung an die Bedingungen der Zeit zu verstehen oder eher der Novalis-Aufsatz Resultat einer Akkommodation ist. Oder hat sich Hamburger doch von Paul Hofmann, ihrem philosophischen Lehrer und späteren Verlobten, zu einer existenzphilosophischen Wende anregen lassen und ihre Wissenschaftsauffassung infolgedessen tatsächlich geändert? Die Frage nach den Gründen für die in den Texten manifesten Veränderungen ist wohl nicht letztgültig zu beantworten. Gerade deshalb sollte man diese Fallstudie aber auch als ein Plädoyer für eine Fortsetzung der kontextsensiblen Rekonstruktionsarbeit verstehen. Denn wer Käte Hamburger stattdessen lieber kategorisch ablehnen oder ausschließlich bewundern, ihre Texte also nur nach Maßgabe der literaturwissenschaftlichen Interessen der jeweils eigenen Gegenwart benutzen will, belässt es bei den abgerissenen Fäden und der toten Tradition.

Matthias Löwe

Existenz, Humanität, Fiktion Über einen Problemkomplex bei Käte Hamburger Abstract: The Logic of Literature was not Käte Hamburger’s first attempt to obtain a university professorship (Habilitation). Rather, in the early 1930s she had envisioned a habilitation project entitled Humanity and Existence (Humanität und Existenz). This postdoctoral thesis was never written. Hamburger’s early thoughts about the relation between ›humanity‹ and ›existence‹ nonetheless have exerted a little-known yet long-term influence on her œuvre. My article demonstrates that Hamburger’s existential philosophical conception of ›humanity‹ is a foundational idea of not only her works on Romanticism and Thomas Mann, but also her contentious concept of fiction. I argue that The Logic of Literature draws on unexpressed existential philosophical assumptions that relate aesthetics to ethics and ascribe a humanizing effect to literary fiction.

Käte Hamburgers akademische Biographie war geprägt von langen Durststrecken, von prekären Anstellungsverhältnissen, von der enormen Schwierigkeit, als Frau und Jüdin im universitären Milieu der Weimarer Republik Fuß zu fassen, und schließlich von den Entbehrungen des Exils. Bekanntermaßen hatten diese widrigen biographischen Umstände zur Folge, dass Hamburger sich erst im fortgeschrittenen Alter habilitieren konnte. Weniger bekannt ist hingegen, dass es sich bei der Logik der Dichtung nicht um ihr erstes Habilitationsprojekt handelt. Bereits 1932, als Mittdreißigerin, war sie mit der Bitte um Betreuung an Rudolf Unger herangetreten, wie ein Brief zeigt, den Gesa Dane im Göttinger Unger-Nachlass entdeckt hat.1 Hamburger stand bereits zuvor mit Unger in Kontakt, denn Unger war Mitherausgeber der Reihe Neue Forschungen, in der sie ihre erste Monographie veröffentlicht hatte, die Studie Thomas Mann und die

|| 1 Gesa Dane: Käte Hamburgers Brief an Rudolf Unger vom 3. Juli 1932, in: Biographisches Erzählen, hg. v. Irmela von der Lühe und Anita Runge. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 6). Stuttgart 2001, S. 166–175. Zudem hatte Hamburger vor ihrer Emigration nicht nur bei Unger angefragt, sondern zeitweilig auch geplant, sich bei Paul Kluckhohn über Novalis zu habilitieren (vgl. Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 60, hier: Anm. 137).

78 | Matthias Löwe Romantik.2 In dem Brief an Unger skizziert sie nun einen Habilitationsplan, der im weiteren Sinn aus ihrer Mann-Monographie hervorgehen soll. Humanität und Existenz lautet der Titel dieses Projekts und im Untertitel: Strukturunterschiede der Humanitätsideen von der Aufklärung bis zur Romantik. Hamburger will zeigen, dass »die moderne Problematik der ›Existentialphilosophie‹ dem Humanitätsproblem latent zugrunde liegt«.3 Wie Unger auf ihre Betreuungsanfrage reagiert hat, ist nicht überliefert. Bald nach dem brieflichen Gesuch war Hamburger gezwungen, ins schwedische Exil zu gehen. Ihr Projekt zu Humanität und Existenz steht daher in der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher. Hamburgers später tatsächlich vorgelegte Habilitation, Die Logik der Dichtung, zählt heute zu den originellsten Beiträgen der Nachkriegsgermanistik. Bei ihrem ersten Habilitationsvorhaben hätte sie sich dagegen auf ein ziemlich intimes ›Rendezvous‹ mit dem Zeitgeist eingelassen: Der Existenz-Begriff, auf den Hamburger sich in dem Brief an Unger beruft, bindet sich nämlich an eine bestimmte Stimmungslage unter Intellektuellen um 1930. Gleichwohl entfalten jene Überlegungen zur Allianz von Humanität und Existenz, um die Hamburgers Denken in dieser Zeit kreist, eine bislang wenig erforschte Langzeitwirkung in ihrem Werk. Kürzlich hat die Dissertation von Claudia Löschner erstmals systematisch auf Kontinuitäten zwischen Hamburgers früher existenzphilosophischer Prägung und ihrem literaturtheoretischen Spätwerk, auf die »existenzphilosophischen Motive in der Logik der Dichtung«4 hingewiesen. Mein Beitrag knüpft daran an: Gezeigt werden soll, dass Hamburgers existenzphilosophisches Humanitäts-Konzept nicht nur in ihren Arbeiten zu Thomas Mann und zur Romantik immer wiederkehrt, sondern dass sich auch ihr kontrovers diskutierter Fiktionsbegriff darauf zurückführen lässt, dass die Logik der Dichtung auf unausgesprochenen Rahmenannahmen fußt, die Ethik und Ästhetik miteinander verschränken.5

|| 2 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik. Eine problemgeschichtliche Studie. Berlin 1932. 3 Zitiert nach Gesa Dane: Käte Hamburgers Brief, S. 170. 4 Claudia Löschner: Denksystem, S. 70. 5 Dass es sich bei Hamburgers Humanitäts-Begriff im Kontext der zeitgenössischen Existenzphilosophie um ein Desiderat handelt, das noch der Erforschung harrt, betont auch Marcel Lepper: »Genau und anders«. Zum Nachlass von Käte Hamburger, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 18 (2008), S. 734–738, hier: S. 737.

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1 Existenzphilosophie und Krisendiagnostik um 1930 Bei dem Begriff ›Existenz‹ handelt es sich um einen Modebegriff, den Intellektuelle in der Spätphase der Weimarer Republik zumeist mit pathetischer Ehrfurcht im Mund führen. Die zeitgeistphilosophische Publizistik der späten Weimarer Republik ist in einem nicht geringen Maße Krisenpublizistik. Als krisenhaft werden dabei zum einen Folgeerscheinungen des Modernisierungsprozesses wahrgenommen, das ist aber nichts Neues: Die Auffassung, dass die Moderne erschöpft sei, dass die Hoffnungen, die man mit Rationalismus, Positivismus, liberalem Fortschrittsglauben etc. verbunden hatte, sich spätestens mit dem Ersten Weltkrieg als trügerisch erwiesen haben, und dass man nun in einer tiefen Kultur- und Wissenschaftskrise stecke, bildet ein zentrales Charakteristikum der intellektuellen Mentalität in der Weimarer Republik.6 Was um 1930, angesichts einer wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilität hinzutritt, ist das Bewusstsein dafür, dass auch die diversen Spielarten der lebensphilosophischen Modernekritik in eine gefährliche Sackgasse führen: Die anti-rationalistische Reduktion des Menschen auf das metaphysische Prinzip vitalen Lebens, aber auch die deterministischen Menschenbilder von Marxismus, Psychoanalyse, Rassentheorie oder Spenglers Kulturmorphologie offenbaren nun ihre Gefährlichkeit im erstarkenden politischen Radikalismus von links und rechts. Wie die neuere Forschung gezeigt hat, wird die intellektuelle Mentalität der späten Weimarer Republik daher keineswegs mehr von der Lebensphilosophie dominiert.7 Stattdessen werden Denkmodelle prominent, die der Existenzphilosophie und der Philosophischen Anthropologie entstammen. Vor allem eine jüngere Intellektuellengeneration verbindet mit dem Begriff ›Existenz‹ eine Strategie zur Krisenbewältigung, denn die Krise wird als »Krise des Menschen selbst«8 wahrgenommen. Die beiden wohl bekanntesten Schriften, die um 1930 eine solche Krise des Menschen proklamieren, sind Ernst Robert Curtius’ Zeitgeistessay Deutscher Geist in Gefahr (1932) und Karl Jaspers’ Schrift Die geistige Situation der Zeit (1931). Vor allem Jaspers’ Schrift, die symbolträchtig im tausendsten Band der Sammlung Göschen erschien, besaß unter || 6 Vgl. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin, New York 2008, S. 11–12. – Für weiterführende Literaturhinweise vgl. ebenda, Anm. 3. 7 Ebenda, S. 13–14. 8 Ludwig Steinecke: Wissenschaft und Weltanschauung, in: Die literarische Welt 7 (1931), H. 2, S. 1 (zit. n. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus, S. 1).

80 | Matthias Löwe jüngeren Intellektuellen der frühen 1930er Jahre beinahe den Status eines Kultbuches. Auch Käte Hamburger kommt in ihrer Thomas Mann-Monographie auf Jaspers zu sprechen: Bei der »Problematik der ›Existenz‹«, die die heutige Philosophie beherrsche, handele es sich um die Unmöglichkeit des Menschen, sein »Selbst« in adäquaten Symbolen zu objektivieren oder objektiviert zu finden. Dieses tiefste »Existenzproblem«, das von dem heutigen, »der Massenhaftigkeit des Daseins« mehr als der Mensch früherer Epochen verfallenen Menschen eben aus diesem Grunde leidend erlebt wird, hat kürzlich Jaspers in seinem Büchlein »Die geistige Situation der Zeit« (1000. Göschenband) zu einem bedeutenden Ausdruck gebracht. […] Ich behalte es einer anderen Untersuchung vor, die Anfänge der modernen Problematik in den spezifischen Begriffen der »Humanität«, wie sie etwa von der Aufklärung bis zur Romantik sich in dem Denken des deutschen Idealismus finden, aufzuzeigen. Es ist zuletzt auch diese Problematik, die dem Denken und Dichten Thomas Manns zugrunde liegt, dessen Wurzeln nicht zufällig im deutschen Idealismus, und vor allem in der Romantik, stecken[.]9

Hamburger kündigt hier nicht nur ihr Habilitationsprojekt an, wie noch an anderen Stellen10 ihrer Studie, sondern markiert auch die Zugehörigkeit ihrer Überlegungen zur existenzphilosophischen Krisendiagnose um 1930. Hamburgers Ausführungen zur ›Problematik der Existenz‹ dokumentieren zudem, welches Krisenbewältigungspotential die Existenzphilosophie für bestimmte Intellektuelle offenbar bereithielt: Existenzphilosophen betonen die Offenheit und Unbestimmbarkeit des Menschen, dessen Wesen sich nicht auf seine Ratio, aber auch nicht auf seine Natur oder Vitalität reduzieren lasse, sondern fordern eine Hinwendung zur Existenz. Die Aufgabe von Existenzphilosophie sei es, so Jaspers, »den Menschen an sich selbst zu erinnern«.11 Zugleich soll Existenz aber etwas sein, das man nicht bestimmen könne: »Existenzphilosophie würde sogleich verloren sein, wenn sie wieder zu wissen glaubt, was der Mensch ist.«12 Wie man bereits an diesen wenigen Formulierungen sieht, verstrickt sich die Existenzphilosophie offenkundig in innere Paradoxien, da sie zwar von der Unbestimmtheit des Menschen ausgeht, zugleich aber mit einer für wahr gehaltenen Norm authentischen Menschseins operiert: Als eigentliches Sein des Menschen gilt Heidegger, Jaspers und anderen bekanntermaßen das ›Sein zum Tode‹. Nur wer sich mithilfe existenzphilosophischer Denktechniken die menschliche Zeitlichkeit und Endlichkeit permanent bewusst macht, werde erst

|| 9 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 25–26, hier: Anm. 23. 10 Ebenda, S. 15, hier: Anm. 1, und S. 86, hier: Anm. 8. 11 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Berlin, Leipzig 1931, S. 191. 12 Ebenda, S. 146.

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zum Menschen. Um zur ›Existenz‹ zu gelangen, bedarf es eines aufklärenden Durchbruchs, einer ›Existenzerhellung‹.13 Wem diese gelingt, der wechselt vom Modus der ›Uneigentlichkeit‹, in dem die breite Masse verhaftet sei, in den der ›Eigentlichkeit‹.

2 Hamburgers existenzphilosophisches Konzept ›romantischer Humanität‹ Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Hamburger mit dem Begriff ›Humanität‹ einerseits die Romantik existenzphilosophisch umdeutet und andererseits Thomas Mann zu einem existenzphilosophischen Romantiker deklariert. Erst diese Umdeutungsoperationen ermöglichen es ihr, Manns literarische Texte – auch nach 1945 – als sinnstiftende Orientierungsangebote auszulegen. In einem zweiten Schritt möchte ich klären, welche Aspekte der Romantik und welche Aspekte von Thomas Manns Ästhetik Hamburger dabei ausblendet und inwiefern darin auch ein Grund für Manns nicht zu übersehende Reserviertheit gegenüber der Literaturwissenschaftlerin zu suchen ist. Hamburger hat die Studie Thomas Mann und die Romantik als Vorarbeit für ihre Habilitation über den Humanitätsbegriff betrachtet und tatsächlich gewinnt man an diesem Buch einen guten Eindruck davon, wie die Thesen ihres Habilitationsprojekts ausgesehen hätten. Die Arbeit ist, wie bereits der Untertitel Eine problemgeschichtliche Studie verrät, der Ungerschen Problemgeschichte verpflichtet: Dem Einwand, dass mit Thomas Mann und der Romantik »Nichtzusammengehöriges […] gewaltsam aneinandergepaßt«14 werde, begegnet sie mit der Unterscheidung zwischen ›Problemerlebnis‹ und ›Problemsymbol‹, also mit der Annahme, dass »[g]leiche Erlebnisse und zumal gleiche Urerlebnisse […] in verschiedenen Zeiten verschiedenen Ausdruck«15 finden. Wie Unger geht Hamburger also von der Existenz ewiger Universalprobleme oder ›Urerlebnisse‹ aus, auf die die kulturelle Semantik immer wieder neu reagiert.16 Jenes ›Urerlebnis‹, das Thomas Mann mit der Romantik teilt, sei »das Geheimnis des Lebens, das zuletzt das Geheimnis des Ichsagens ist« und das »niemals dem auf || 13 So lautet der Titel des zweiten Bandes von Jaspers’ dreibändiger Philosophie (1932). 14 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 1. 15 Ebenda, S. 2. 16 Zu Rudolf Ungers Konzept einer ›Problemgeschichte‹ vgl. Dirk Werle: Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 478–498, hier: S. 489–495.

82 | Matthias Löwe Objekte gerichteten, erkennenden Geist sich erschließt«.17 Mit dem ›Problem der Existenz‹ meint Hamburger demnach das »Problem der Objektivation des Subjektiven«,18 das Problem also, »daß der Mensch sich selbst nur als […] Objekt, aber nicht als Subjekt erleben kann«.19 Diese mystagogische Rede vom Geheimnis des Lebens dokumentiert zum einen das existenzphilosophische Fundament von Hamburgers Romantikdeutung, denn Kern der anti-rationalistischen und anti-vitalistischen Existenzphilosophie ist der Topos von der Unbestimmbarkeit, Offenheit und Rätselhaftigkeit des Menschen. Zum anderen trifft sie damit aber tatsächlich auch den nervus rerum frühromantischen Philosophierens, wie insbesondere die Romantik-Arbeiten von Manfred Frank gezeigt haben.20 Das ›Geheimnis des Lebens‹ oder das ›Problem der Existenz‹ meint offenbar das philosophische Problem, dass man seine Subjektivität nicht darstellen kann, dass das Ich als Subjekt dem Verstand nicht zugänglich ist, weil das Ich sich selbst als Objekt gegenübertreten muss, um sich zu erkennen, damit seine Subjektivität aber eigentlich immer wieder verfehlt. In diesem Sinne teilen Romantik und Existenzphilosophie tatsächlich dasselbe ›Problemerlebnis‹. Hamburger lässt sich von diesem Befund jedoch dazu hinreißen, das von ihr diagnostizierte ›Problem der Existenz‹ zum ›Urerlebnis‹ allen Menschseins zu hypostasieren. Ein Blick auf die Philosophiegeschichte zeigt indes, dass es sich dabei weniger um ein Universalproblem, sondern eher um ein philosophisches Spezialproblem handelt, das in einer bestimmten philosophiegeschichtlichen Konstellation aufgeworfen wird, nämlich in der Debatte der nachkantischen Philosophie über die Begründung von Selbstbewusstsein. Seit Kants Kritik der reinen Vernunft stellt sich das Problem, dass man sich nicht einfach reflektieren kann, dass sich die Substanz des eigenen Ichs nicht als theoretisches Wissen erkennen lässt. Selbsterfahrung erfolgt bei Kant im Modus des ›inneren Sinns‹, der aber ist an die Kategorie der Zeit gebunden. Daher liefert auch der ›innere Sinn‹ »keine Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine. Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein [sic] Erkenntnis seiner selbst«.21 Für die Romantiker, die von Kant ausgehen, ist das Ich oder das Selbst mithin nur eine regulative Idee, || 17 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 29. 18 Ebenda, S. 86. 19 Ebenda, S. 45. 20 Vgl. Manfred Frank: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 21998. 21 Immanuel Kant: Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974–1977, Bd. 3 (1974), S. 153 (= B 158).

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die für das empirische Ich nicht zur Erfahrungstatsache wird, sondern sich ihm immer wieder entzieht. Hamburgers ›Problem der Existenz‹ bedarf mithin der philosophiegeschichtlichen Kontextualisierung: Es handelt sich dabei weniger um ein ewiges Urproblem allen Menschseins, sondern um ein Problem bestimmter Intellektueller, das sich etwa einem Philosophen wie Descartes in dieser Schärfe noch nicht gestellt hat. Bei der Suche nach einem festen Halt im eigenen Ich können Romantiker im Unterschied zu Descartes nicht sagen ›cogito ergo sum‹, sie können also nicht darauf hoffen, durch Selbstreflexion auf verbindliche Normen und Gewissheiten zu stoßen, sie können andererseits aber auch nicht wie Vertreter der Empfindsamkeit darauf vertrauen, fühlend einen Zugang zum Kern des Selbst zu bahnen. Stattdessen entwickeln sie Kommunikationsformen, die eine Verständigung über Normen wie über die Substanz des eigenen Ichs zwar als unverzichtbare Aufgabe, aber auch als unlösbares Problem zeigen, als nicht endende intersubjektive Suche nach einer subjektiv geglaubten Wahrheit, die sich einer Repräsentation immer wieder entzieht. Die Substanz des Ichs offenbart sich einem Romantiker nur negativ, nämlich indem er sie permanent verfehlt: »Ich bedeutet jenes negativ zu erkennende Absolute – was nach aller Abstraction übrig bleibt – Was nur durch Handeln erkannt werden kann und was sich durch ewigen Mangel realisirt.«22 Im Sinne eines regulativen Postulats halten die Romantiker zwar an der Idee eines absoluten, freihandelnden Selbst fest, sie gehen jedoch mit Kant davon aus, dass das empirische Ich nicht der Erfahrungsort der Freiheit ist.23 Kontrafaktische Ideen wie Gott, Totalität, Freiheit oder das absolute Ich sind für das empirische Ich immer nur indirekt, als deren ewiges Verfehlen erfahrbar: »Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.«24 In diesem Sinne lässt sich literarische Romantik als eine ästhetische Formensprache beschreiben, die dem unendlichen Mangel und der Sehnsucht nach einem sich immer wieder entziehenden Absoluten Ausdruck gibt.25 || 22 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 31977ff., Bd. 2 (1981), S. 270. 23 Vgl. Ludwig Stockinger: Das ›Selbst‹ und das ›selbst‹. Zur Deutung von »Kenne dich Selbst« im Lichte der neu aufgefundenen Handschrift, in: Novalis. Das Werk und seine Editoren, hg. v. Gabriele Rommel. Wiederstedt 2001, S. 87–101, hier: S. 96–99. 24 Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 412. 25 Zum hier zugrundeliegenden Romantik-Begriff vgl. Matthias Löwe: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert. Berlin, Boston 2012, S. 261–297; sowie ders.: Romantische Skepsis bei Novalis, E.T.A. Hoffmann und Eichendorff, in: »Wir sind keine Skeptiker, denn wir wissen«. Skeptische und antiskeptizistische Diskurse der Revolutionsepoche 1770–1850, hg. v. Cornelia Ilbrig und Sikander Singh. Hannover 2013, S. 263–284.

84 | Matthias Löwe Bei Hamburgers existenzphilosophischer Umdeutung der Romantik tritt dieser Aspekt des ewigen Mangels beziehungsweise der reflexiv nicht einholbaren Subjektivität jedoch gänzlich in den Hintergrund und wird ersetzt durch die existenzphilosophische Rede von der ›Existenzerhellung‹, dem Durchbruch zum Selbst, dem Sprung in die ›eigentliche Existenz‹. Das hat auch Auswirkungen auf ihr Bild von Thomas Mann: Für Hamburger ist ›Existenzerhellung‹, in der das Ich sich als Subjekt erfährt, eine Art therapeutisches Angebot, das der Romantik und dem Werk Thomas Manns eingeschrieben sei. Das dabei zu erreichende Therapieziel einer authentischen Existenz, das »Zusichkommen der Seele«,26 nennt sie »neue[] Humanität«27 bzw. »romantische Humanität«,28 die von der ›aufklärerischen Humanität‹ abgegrenzt wird. Die Übergänge zwischen diesen beiden Humanitätskonzepten sollte zwar erst ihr geplantes Habilitationsprojekt untersuchen, aber auch schon in der Thomas Mann-Studie ist davon die Rede: »[D]as Humanitätsideal der Aufklärung schloß einseitig das ›vernünftige‹, das Geistwesen des Menschen in sich ein und schloß aus die natürlichsinnliche Komponente der menschlichen Existenz.«29 Von diesem zeittypischen, auf Rationalismus reduzierten Aufklärungsbegriff grenzt Hamburger die goethezeitliche und romantische Humanitätsidee ab. Romantische Humanität sei der Versuch, »den Menschen als Synthese von Vernunft- und Sinnenwesen, von Geist und Natur, Freiheit und Notwendigkeit […] zu verstehen«.30 Hamburgers Verschränkung von Romantik und Existenzphilosophie beruht vor allem darauf, dass sie die Todesmystik zum Kern von Romantik erklärt, insbesondere diejenige im Werk von Novalis: Der Tod ist Symbol für das Zusichkommen der Seele, Symbol für den geistigen Sinn des menschlichen Lebens. […] Daß die Seele frei wird durch den Tod – dies ist der eine Gedanke, der in der Todesmystik des Novalis enthalten ist.31

Wenn man sich bei der Existenzphilosophie nicht in Einzelheiten und Binnendifferenzierungen verliert, dann kann man die Bedeutung, die der Topos ›Tod‹ für Intellektuelle wie Heidegger, Jaspers und auch für Käte Hamburger besitzt, vereinfachend so beschreiben:32 Während man im Zustand der ›Uneigentlichkeit‹ fremdbestimmt ist durch vorgeprägte Handlungsmuster und An|| 26 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 78, hier: Anm. 85. 27 Ebenda, S. 79. 28 Ebenda, S. 90. 29 Ebenda, S. 81. 30 Ebenda, S. 80. 31 Ebenda, S. 56. 32 Vgl. dazu auch Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus, S. 37–43.

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schauungen, die Heidegger das »Man«33 nennt, gelangt man erst durch eine Bestimmung von Menschsein als ›Sein zum Tode‹ oder als ›Vorlaufen zum Tod‹ in den Zustand der eigentlichen Existenz, denn dem Tod entgeht man nicht durch vorgefertigte Anschauungen. Daher, so glauben Existenzphilosophen, befreie eine neue Deutung des Daseins als ein ›Sein zum Tode‹ den Menschen aus seiner Fremdbestimmung durch soziale, ökonomische, politische und ›vitale‹ Mächte und es gelinge ihm sein ›Selbst‹ zu ergreifen, seine Existenz zu erhellen, sich aus den Fesseln des ›Man‹ zu lösen: »Das Vorlaufen [zum Tod] enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, […] es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.«34 Die vom Faktum des Todes hervorgerufene Stimmung der Angst vereinzelt den Menschen und lässt ihn das Unwiederbringliche jedes Daseinsmomentes erfahren. Es ist dieser Zustand authentischer Existenz, den Hamburger ›neue Humanität‹ oder ›romantische Humanität‹ nennt: »Sie wird erreicht auf dem Wege über den Tod, der für alle Romantik das Erlöser-Symbol der Seele, […] der Ichhaftigkeit des Ich ist«,35 so Hamburger im letzten Satz ihrer Studie. Ihre Romantik-Deutung speist sich mithin auch aus dem Reservoir existenzphilosophischer Kulturkritik, etwa wenn sie von der »Massenhaftigkeit des Daseins« spricht (vgl. Anm. 9).36 Die normativen Untertöne der Existenzphilosophie sind bei solchen Formulierungen ebenso unüberhörbar wie der existenzphilosophische Avantgarde-Habitus, der sich aus der Entgegensetzung

|| 33 »In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ›der Anderen‹ auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor. […] Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. […] Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden« (Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 192006, § 27, S. 126–129). 34 Ebenda, § 53, S. 266. 35 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 104. 36 Zu kulturkritischen Motiven in der Existenzphilosophie vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 236–238.

86 | Matthias Löwe zwischen ›Eigentlichkeit‹ und ›Uneigentlichkeit‹ ergibt: Während die Masse im Modus der ›Uneigentlichkeit‹ verharrt, sich an Gewissheiten klammert, löst der Tod bei existenzphilosophisch imprägnierten Intellektuellen Angst und Erwarten aus. Wer sich dieser Angst stellt, bricht zur ›neuen Humanität‹ durch, bezeugt die ›Eigentlichkeit‹ seiner Existenz. Wer das Sein als ›Vorlaufen zum Tod‹, als zeitlichen Prozess versteht, reduziert den Menschen nicht auf seine körperliche Gegenwart und bloße Objekthaftigkeit, nicht auf bloße Biologie, Natur und Materie, sondern bestimmt sich selbst als Subjekt mit Vergangenheit und Zukunft. Hamburgers existenzphilosophische Humanitätsidee besitzt damit eine ganz bestimmte Funktion, die markante Parallelen zu ihrem Zeitgenossen Hermann August Korff und dessen Konzept von Geistesgeschichte erkennen lässt, auf das sie sich auch mehrfach beruft:37 Ähnlich wie Goethe bei Korff wird auch Thomas Mann bei Hamburger zum empirischen Exempel und herausragenden Exponenten einer ›neuen Humanität‹ stilisiert. Bei dieser Indienstnahme der ›großen Männer‹ Goethe und Thomas Mann geht es offenbar um die »Rettung einer auf der Unterscheidung von Geist und Materie beruhenden Moral, die zwar auf der Basis einer Anerkennung der Wirklichkeit des ›Lebens‹ aufruht, den unumkehrbaren Geltungsverlust des Christentums berücksichtigt, aber die inhumane Konsequenz von nur naturalistischen bzw. biologistischen Maximen des Handelns vermeidet«.38 Mit dem Konzept einer ›neuen Humanität‹ soll also eine post-christliche Moral gegen die Bedrohung durch einen lebensphilosophischen, nietzscheanischen Monismus in Stellung gebracht werden, der den Menschen zum »Homo natura«39 degradiert. Wie viele Intellektuelle um 1930 sieht auch Hamburger offenbar einen Zusammenhang zwischen jenen deterministischen Menschenbildern, auf denen der populäre zeitgenössische Psychologismus, Biologismus und Soziologismus fußt, und der politischen Radikalisierung in der Spätphase der Weimarer Republik. In einem um 1930 entstandenen Artikel für die deutsch-jüdische Kulturzeitschrift Der Morgen deklariert sie, unter Berufung auf Thomas Mann, daher auch nicht radikale Parteien, sondern die

|| 37 Vgl. Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 9–10, 11, hier: Anm. 19, S. 80, hier: Anm. 2, S. 86, hier: Anm. 8. 38 Ludwig Stockinger: Hermann August Korff. Geistesgeschichte in drei politischen Systemen, in: Leipziger Germanistik. Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Günther Öhlschläger, Hans Ulrich Schmid, Ludwig Stockinger und Dirk Werle. Berlin, Boston 2013, S. 193–232, hier: S. 217. 39 Vgl. Wolfgang Riedel: »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin, New York 1996.

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gemäßigte Sozialdemokratie zum »Erbe[n] der Humanitätsidee«:40 »Als Ausdruck des Humanitätssinnes, also einer überpolitischen Idee verstanden, kann die Demokratie, und auch die Sozialdemokratie Trägerin der deutschen Kulturidee werden.«41 Auch Thomas Manns literarisches Œuvre hat Hamburger mithilfe ihrer These von romantischer Humanität als Therapie für die Krise des Menschen gedeutet. Sie geht zum Beispiel davon aus, dass Hans Castorp im Zauberberg eine fundamentale Wandlung vollzieht, die sie mit dem dramatisierenden Vokabular der Existenzphilosophie beschreibt: »In einer entscheidenden Stunde seines inneren Lebens«42 gelinge Castorp eine ›Existenzerhellung‹, ein Sprung in den Modus der ›Eigentlichkeit‹. Wenn Castorp im Schneetraum und später in Schuberts Lindenbaumlied jene geheimnisvollen und dem Verstande niemals erfaßbaren »Beziehungen zum Tode« erlebt, so hat der Sohn der Romantik in seiner in ihm tief verankerten Sympathie mit dem Tode den Durchbruch der Seele erfahren, so darf er sein langes Verweilen im Reiche des Todes als den Weg und das Mittel betrachten, durch das seine Seele »heim«, d. i. zu sich selbst gelangen konnte, durch das er, mit anderen Worten, zum Sinne des Lebens vorgedrungen ist, nach dem er lange gesucht.43

Der Unterschied zwischen einer existenzphilosophisch umgedeuteten Romantik, wie sie bei Hamburger zugrunde liegt, und dem Bild von der Romantik, das die aktuelle Forschung zeichnet, lässt sich hier noch einmal mit aller Deutlichkeit benennen: Existenzphilosophen sprechen von Durchbruch, Erhellung, Entschlossenheit und von der entscheidenden Situation, an der sich der Wechsel von der ›Uneigentlichkeit‹ in die ›Eigentlichkeit‹, von der ›Massenhaftigkeit des Daseins‹ in den Modus einer ›neuen Humanität‹ vollzieht. Existenzphilosophen glauben also an ein eigentliches Wesen des Menschen, das immer schon da ist und zu dem man ›durchbrechen‹ müsse. Auch jeder Novalis-Leser wird sich durch die Rede von einem ›Durchbruch‹ zum Selbst wohl an eines der berühmtesten Blüthenstaub-Fragmente erinnert fühlen: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die

|| 40 Käte Hamburger: Romantische Politik bei Thomas Mann, in: Der Morgen 8 (1932), H. 2, S. 106–115, hier: S. 114. 41 Ebenda, S. 115. 42 Käte Hamburger: Thomas Mann und die Romantik, S. 72. 43 Ebenda, S. 74 (Hervh. i.O. gesperrt).

88 | Matthias Löwe Vergangenheit und Zukunft.«44 Im Unterschied zur Existenzphilosophie wird hier allerdings nicht behauptet, dass das Weltall, eine alles verbindende Totalität, in uns sei oder dass es einen Nukleus im Ich gibt, sondern es wird danach gefragt. Hier wird Selbstfindung nicht als Allheilmittel propagiert, sondern es werden die damit verbundenen Schwierigkeiten artikuliert: Das Ich kennt die in ihm verborgenen Tiefen nicht. Die Reise ins ›innere Reich‹ scheitert immer wieder an den schlechten Sichtverhältnissen, der ›Weg nach Innen‹ verbirgt sich unter dem Nebel eines Geheimnisses. Das ›Selbst‹, die Ich-Einheit, entzieht sich dem empirischen Ich immer wieder, sie lässt sich allenfalls als unendlicher zeitlicher Prozess zwischen Vergangenheit und Zukunft erfahren. Romantiker, das sieht man an diesem Beispiel, glauben zwar auch an ein eigentliches ›Selbst‹, an das nicht mehr fremdbestimmte Ich, das ist für sie jedoch nur eine regulative Idee (vgl. Anm. 22): Beim Umgang mit solchen regulativen Ideen legt die Romantik den Akzent daher auch nicht auf Durchbruch, sondern auf ewigen Mangel und unendliche Sehnsucht. Ein romantischer Weltzugang basiert auf einer geradezu paradoxen Münchhausen-Operation: Romantiker verständigen sich über regulative Ideen wie das absolute ›eigentliche‹ Ich nämlich zumeist mit unendlich-inversen Symbolen, die in etwa folgenden Sachverhalt ausdrücken: Ein Romantiker strebt nach einem absoluten Ich, das eigentlich nur durch sein Streben entsteht. In Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1795) wird diese Grundfigur romantischen Denkens besonders prägnant formuliert: »Wir müssen das sein, wofür wir uns theoretisch ausgeben wollen, daß wir es aber seien, davon kann uns nichts, als unser Streben, es zu werden, überzeugen. […] Wir müssen uns selbst da hinauf gearbeitet haben, von wo wir ausgehen wollen[.]«45 In diesem Sinne spricht auch Novalis davon, dass der Geist einen »ewigen Selbstbeweis«46 führt.

3 »Dichter der Humanität«: Hamburgers rissiges Thomas-Mann-Bild Wie hat Mann auf Hamburgers existenzphilosophische Deutung der Romantik und seines eigenen Werks reagiert? Hamburgers Monographie von 1932 hat ihm

|| 44 Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 417 und S. 419. 45 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. I.3, hg. v. Hartmut Buchner, Wilhelm G. Jacobs und Annemarie Pieper. Stuttgart 1982, S. 75–76 (= 6. Brief). 46 Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 412.

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geschmeichelt, so dass er rasch Briefkontakt mit der zwanzig Jahre jüngeren Literaturwissenschaftlerin aufnimmt. Während der gesamten 1930er und frühen 1940er Jahre korrespondieren beide dann vor allem über Manns Joseph-Roman, dessen einzelne Bände in dieser Zeit erscheinen. Hamburger begleitet die Entstehung der Tetralogie mit großer Anteilnahme und widmet dem Joseph-Roman 1945, zu Manns siebzigstem Geburtstag, sogar eine eigene Monographie. Darin stilisiert sie Mann zum »Bewahrer […] und Neubeseeler der aus dem ›Geiste der Goethezeit‹ hervorgegangenen Humanitätsidee«47 und nennt den Joseph-Roman den »Berggipfel«48 seines literarischen Schaffens, denn »erst dieses große, vielschichtige und in jedem Sinne des Wortes ›bedeutende‹ Werk macht es sichtbar, in welchem Umfang und in welcher Tiefe Thomas Mann der Dichter der Humanität genannt werden muß«.49 Hamburger erblickt im Joseph-Roman ein Orientierungsangebot für ein Leben in der »einer ›neuen Humanität‹ hochbedürftigen Zeit«50 der vierziger Jahre. Sie reaktiviert also ihre existenzphilosophisch unterfütterte Humanitätsidee, die sie auf Manns Werk projiziert, auch nach dem Zweiten Weltkrieg als Mittel zur Bewältigung der Krise, die sie – wie viele andere Intellektuelle – wiederum als Krise des Menschseins versteht.51 Thomas Mann hat sich mit unterkühlter Anerkennung zu Hamburgers Deutung geäußert. In einem Brief vom 26. Dezember 1944 lobt er ausdrücklich, aber doch mit spürbarer Distanz, ihre Joseph-Monographie. Hamburgers Studie sei »klug und schoen und reich, ein ganzer Wildbach, ein Wasserfall von intelligenter und sympathievoller Interpretation«.52 Von einer amerikanischen Ausgabe ihrer Studie, die Hamburger ins Auge gefasst hatte, rät er jedoch ab: »Der Stil, so ausgesprochen deutsch geisteswissenschaftliche Sprache, eignet sich so gar nicht dazu, und ich bin fast sicher, dass sich das Ganze auf Englisch, jedenfalls in den Augen unseres Publikums und unserer Kritik hier, schwerfaellig und ueberphilosophisch ausgenommen haette.«53 Schon einige Tage zuvor hatte er im Tagebuch deutliche Worte gefunden: »Dann das Joseph-Manuskript der

|| 47 Käte Hamburger: Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder. Eine Einführung. Stockholm 1945, S. 9. 48 Ebenda, S. 11. 49 Ebenda. 50 Ebenda, S. 140. 51 Zur Kontinuität existenzphilosophischer Krisenrhetorik zwischen 1930 und 1950 vgl. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. 52 Thomas Mann – Käte Hamburger: Briefwechsel 1932–1955, hg. v. Hubert Brunträger. Frankfurt a. M. 1999, S. 91 (Thomas Mann an Käte Hamburger, 26.12.1944). 53 Ebenda.

90 | Matthias Löwe Hamburger, ein etwas langweiliger Päon.«54 Was Thomas Mann an Hamburgers »deutsch geisteswissenschaftlicher« Interpretationen offenbar stört, ist die Tatsache, dass sie seinen Text zum bloßen ›Träger‹ ihrer Humanitätsidee degradiert und jene Offenheit ausblendet, die gerade durch die erzählerische Vermittlung erzeugt wird. Manns Unbehagen an Hamburgers Deutung besitzt durchaus einige Berechtigung: Vor allem Joseph, den titelgebenden Protagonisten von Manns Tetralogie, stilisiert Hamburger zum paradigmatischen Repräsentanten ihres Humanitätsideals: »Joseph ist der, in dessen Gestalt und Geschichte die Idee der Humanität in einem besonders vollendeten oder doch ausgeprägten Maße sichtbar wird.«55 Schon nach der Lektüre des zweiten Bandes, Der junge Joseph (1934), hatte sie sich in ihrer existenzphilosophisch inspirierten Deutung von Manns Gesamtwerk bestätigt gefühlt. Den Brunnen, in den Joseph von seinen Brüdern geworfen wird, versteht sie als Grab, also als Todeserfahrung, dank derer Joseph den ›Sprung‹ in die ›eigentliche‹ Existenz vollziehe: So »ist« der Brunnen das Grab der Auferstehung und Erlösung. »Aus dem stillsten Tode wird sich das höchste Leben hervortun« (Novalis). Dass nun aber die christliche Lehre und das Jesus-Mysterium auch nur eine – wenn auch sehr gereinigte und vollendete – Form des ewigen Urproblems des Menschseins, nämlich des Körper- und Geist-Seins, ist – das ist es, was in Ihrem grossen Werke in wunderbar deutender, die »durchsichtige« Tiefe der Zeit und der Probleme durchschauender Dichtung gestaltet worden ist, und weshalb sie zu den ganz grossen der Weltliteratur gehören wird.56

Der berufstätige Joseph des vierten Bandes schließlich löst in Hamburgers Perspektive gleichsam das ›Urproblem des Menschseins‹, ihm gelinge eine Synthese zwischen Geist und Natur, Moral und Biologie: [V]on dem jungen Hamburger Ingenieur Hans Castorp geht die Linie zu Joseph, dessen »rasche Anpassung an die sonnige Unterwelt Ägyptens« (IV) wohl an die ähnlich rasche Anpassung Hans Castorps an die sonnige Toten- und Krankenwelt des Hochgebirgssanatoriums gemahnt. Josephs Weg war durch eine symbolische Unterwelt, ein Reich der Auflösung, des Geschlechts und des Todes gegangen, und seine »Auferstehung« aus ihr war zuletzt die Gewinnung eines Lebens im Zeichen einer Humanität, die das Wissen um die dunklen Wurzelgründe der menschlichen Existenz in sich aufgenommen hat.57

|| 54 Thomas Mann: Tagebücher 1944–1.4.1946, hg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 21986, S. 136– 137 (19.12.1944). 55 Käte Hamburger: Thomas Manns Roman, S. 130. 56 Thomas Mann – Käte Hamburger: Briefwechsel, S. 31 (Käte Hamburger an Thomas Mann, 26.4.1934). 57 Käte Hamburger: Thomas Manns Roman, S. 142.

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Das ist nicht ganz falsch: Außer Acht bleibt bei Hamburger jedoch die Art und Weise, wie diese humanistische Syntheseidee in Manns Text erzählerisch vermittelt wird. In einem Vortrag über seinen Roman hat Mann betont, dass es sich bei Josephs Aufstieg und seinem gelungenen Leben im vierten Band um ein ›Märchen‹ handelt.58 Auch die narrative Anlage des Romans selbst kehrt den Märchencharakter dieser »schöne[n] Geschichte«59 hervor, wenn der Erzähler sein Publikum schon im Vorspiel bittet, ihn auf der »Höllenfahrt«60 in den tiefen »Brunnen der Vergangenheit«61 zu begleiten, also in eine Märchen-Welt, wie man sie aus Frau Holle kennt. Zu den Märchenanspielungen gehört auch der Umstand, dass Erzählen im Joseph als orales Erzählen inszeniert wird: Immer wieder suggeriert der Erzähler, vor körperlich anwesenden Hörern zu sprechen. Nach fast 1700 Druckseiten mahnt er sein Publikum sogar, nicht vorzeitig nach Hause zu gehen und bis zum Ende durchzuhalten. 62 Schon die Vorrede bezeichnet diese Simulation einer archaisch-rituellen Erzählsituation als »Fest der Erzählung«,63 bei dem man dabei gewesen sein muss. Nur durch die Teilnahme an diesem märchenhaften Ritual könne man das Erzählte als Vergegenwärtigung eines mythischen Urgeschehens erleben, während es sich, von außen betrachtet, um eine (bloße) Wiederholung schon bekannter Bibel-Geschichten handelt.64 Aber nicht nur auf der Darstellungs-, sondern auch auf der Handlungsebene werden Vorbehalte gegenüber jenem Humanitätsideal formuliert, das Joseph repräsentiert. Sein märchenhafter Aufstieg in Ägypten und seine humanistische Syntheseleistungen bleiben nämlich ohne Fortsetzung. In der weiteren Ge-

|| 58 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 21974, Bd. 11, S. 667. 59 Ebenda, Bd. 5, S. 1822. 60 Ebenda, Bd. 4, S. 9. 61 Ebenda. 62 »Nehmt guten Rat an und bleibt hübsch beisammen! […] Wer jetzt nach Hause geht, der möge nachher die anderen fragen, die zu Ende hörten, ob es aufregend war oder nicht. Dann mag die Reue ihn ankommen, und all seiner Lebtage wird er sich im Nachteil fühlen, weil er nicht dabei war […]. ›Wir wissen’s eh schon!‹ Das ist ganz töricht gesprochen. Die Geschichte kennen kann jeder. Dabei gewesen zu sein, das ist’s. – Aber es scheint, die Einschärfung war unnötig, denn keiner rührt sich vom Fleck« (ebenda, Bd. 5, S. 1691). 63 Ebenda, Bd. 4, S. 54. 64 Vgl. Thorsten Wilhelmy: Legitimitätsstrategien der Mythosrezeption. Thomas Mann, Christa Wolf, John Barth, Christoph Ransmayr, John Banville. Würzburg 2004, S. 138–145. – Zu Hamburgers Erzähltheorie und Thomas Manns mythisierender Ästhetik im Joseph-Roman vgl. auch Matthias Löwe: ›Fest der Erzählung‹. Käte Hamburgers ›episches Präteritum‹ und ihre Deutung von Thomas Manns Joseph-Roman, in: Poetische Welt(en). Ludwig Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet, hg. v. Martin Blawid und Katrin Henzel. Leipzig 2011, S. 279–292.

92 | Matthias Löwe schichte von Jaakobs und Josephs Stamm und auch – so kann man den Roman hier verstehen – in der Menschheitsgeschichte behält die unvermittelte Zerrissenheit zwischen rationalem Bewusstsein und dem Reich des blinden Willens die Oberhand. Jaakob gibt am Schluss seinen Familiensegen nämlich nicht an Joseph weiter, sondern an seinen vierten Sohn Juda, ausgerechnet also an den Zerrissensten der zwölf Brüder. Juda, der im Thamar-Kapitel ausführlich porträtiert wird, hat sich den Monotheismus seines Vaters am stärksten zu eigen gemacht und dies führt bei ihm zu einem ausgeprägten »Hochmut des Gewissens«, zu einem »Durst nach Reinheit«, und zur Dämonisierung seiner Sexualität, die ihm als mythische »Geschlechtshölle« erscheint, denn er leidet zugleich an einer regelrechten Sex-Sucht.65 In der Empirie setzt sich also nicht das Modell Joseph, sondern pathogene Zerrissenheit fort. Mit solchen ästhetisch inszenierten Vorbehalten markiert Mann, dass es sich bei seinem Humanitätskonzept um eine regulative Idee handelt, die in der Erfahrungswirklichkeit immer wieder verfehlt wird.66 Ähnlich wie im Falle von Hermann August Korffs Faust- und GoetheDeutung gelingt es jedoch auch Käte Hamburger nicht, Thomas Manns Romane in diesem Sinne als Exempel moderner Poesie zu verstehen, die »einen Diskussionsraum für ungelöste und unlösbare Probleme«67 bietet. Stattdessen ist für Korff wie für Hamburger offenbar »große Literatur eine privilegierte Möglichkeit für die Formulierung von Problemlösungen sowie von Angeboten der Handlungsorientierung«.68 Das geht sogar soweit, dass Hamburger versucht, Einfluss || 65 Thomas Mann: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 1547–1548. 66 In diesem Sinne ließe sich tatsächlich eine Parallele zwischen der Romantik und Thomas Mann ziehen (vgl. dazu Matthias Löwe: ›Romantik‹ bei Thomas Mann: Leitbegriff, Rezeptionsobjekt, Strukturphänomen, in: »Im Schatten des Lindenbaums«. Thomas Mann und die Romantik, hg. v. Regine Zeller, Jens Ewen und Tim Lörke. [Erscheint Würzburg 2015]). Die Homologie zwischen der romantischen Ästhetik und derjenigen Thomas Manns gründet dann aber nicht, wie in Hamburgers Perspektive, auf dem beiderseitigen Interesse an der Todesmystik oder der Ästhetisierung einer ›neuen Humanität‹ und eines ›Durchbruchs zur Seele‹, sondern der Darstellungsakzent bei den Romantikern wie bei Thomas Mann liegt auf dem ewigen Verfehlen regulativer Ideen: Die Humanitätsidee oder die Idee eines absoluten, moralisch freihandelnden Ichs werden zwar ästhetisch profiliert, zugleich aber auch problematisiert, was Mann vor allem über die ironische Strukturierung auf der Ebene des Textganzen erzielt, »denn in ironischer Rede wird das Offenhalten von Gegensätzen sprachlogisch realisiert, werden Geltungsansprüche zugleich erhoben und in Frage gestellt« (Jens Ewen: Moderne ohne Tempo. Zur literaturgeschichtlichen Kategorisierung Thomas Manns – am Beispiel von Der Zauberberg und Unordnung und frühes Leid, in: Wortkunst ohne Zweifel? Aspekte der Sprache bei Thomas Mann, hg. v. Katrin Max. Würzburg 2013, S. 77–99, hier: S. 94). 67 Ludwig Stockinger: Hermann August Korff, S. 229. 68 Ebenda, S. 208–209.

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auf die Entstehung der Joseph-Tetralogie zu nehmen und Mann subtil dazu auffordert, seine Texte auch wirklich zum Trägermedium ihrer Humanitätsidee zu gestalten. Als sie 1934 die ersten beiden erschienen Bände gelesen hat, berichtet sie Mann von ihrer »ungeheure[n] Neugierde auf ›Joseph in Ägypten‹«69 und fragt den Autor suggestiv: »Wird Joseph zum ›Menschensohn‹ sich entwickeln? Denn was bedeutet dies: ›der Menschensohn‹? Bedeutet es nicht den Inbegriff des humanitären Menschen, d. i. des eigentlich und spezifisch Menschlichen.«70 Und zum Schluss ihres Briefes verkündet sie: »Was mich ganz persönlich so sehr beglückt, das ist die Bestätigung meiner Auffassung Ihres Gesamtwerkes.«71 Als diese Bestätigung dann im Falle des Doktor Faustus aber ausbleibt, als es Hamburger nicht mehr gelingt, ihre Humanitätsidee aus dem Text herauszufiltern, da verweigert sie Mann die Gefolgschaft: In ihrer Rezension des Romans vom 27. November 1947 bemängelt sie, dass Mann im Doktor Faustus der »Humor vergangen«72 sei, dass der Text zur Langeweile73 tendiere und die Beschreibungen fiktiver Musikstücke »ermüden«.74 Vor allem aber die Erzählkonstruktion, die Einführung des Ich-Erzählers Serenus Zeitblom, wird kritisiert: [M]an kann nicht umhin, sich zu wundern, dass der grosse Menschengestalter und Erzähler Thomas Mann sich diesmal einer solchen Darstellungsform bedient hat. Denn man muss zugeben, dass Serenus Zeitblom ein etwas langweiliger Herr (und auch als solcher gemeint) ist. Das aber bewirkt, dass die von ihm geschilderten Personen viel von dem Reiz entbehren, der von den Buddenbrooks bis zum Joseph jede einzelne der Thomas Mannschen Gestalten umwebt und sie mit unvergänglichem Leben erfüllt.75

Nur wenn, wie im Teufelsgespräch, »Zeitbloms Erzählerstimme schweigt und Adrian Leverkühn sich selbst darstellt«, dann »erreicht der Roman seine künstlerischen Höhepunkte«.76 Dass Thomas Mann seine Romane nutzte, um bestimmte Probleme in ihrer Unlösbarkeit zu reflektieren, das wollte Hamburger offenbar nicht sehen. Dazu gehört bei ihm aber auch, dass er Erzählinstanzen erfindet, mit denen er seinen öffentlichen Autorschaftshabitus zum Gegenstand || 69 Thomas Mann – Käte Hamburger: Briefwechsel, S. 30 (Käte Hamburger an Thomas Mann, 26.4.1934). 70 Ebenda. 71 Ebenda, S. 31. 72 Käte Hamburger: Thomas Manns Faustroman, in: Thomas Mann – Käte Hamburger: Briefwechsel, S. 133–138, hier: S. 133. 73 Ebenda, S. 134. 74 Ebenda, S. 135. 75 Ebenda, S. 134. 76 Ebenda, S. 137.

94 | Matthias Löwe einer ironischen Selbstdistanzierung macht: So zum Beispiel, wenn er einer in ihrer Urteilsfähigkeit fragwürdigen und vom nationalsozialistischen Sprachgebrauch kontaminierten Erzählinstanz wie Serenus Zeitblom Positionen in den Mund legt, die er zum Teil selbst vertritt. Das Medium Literatur dient bei Mann immer auch dazu, den Zweifel an den eigenen humanistischen Normen und die Komik seiner öffentlichen Rolle als »Wanderredner der Demokratie«77 auszustellen, etwa im Gewand des humanistischen Studienrats Zeitblom, der isoliert im vom Bombenkrieg verschonten Freising lebt und sich angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen als einigermaßen hilflos erweist. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Tragik, dass Hamburger mit der Logik der Dichtung zwar ein Grundbuch der Erzähltheorie geschrieben hat, sich aber dann als relativ blind für die Bedeutung narrativer Vermittlung erweist, wenn sie einen Autor wie Thomas Mann interpretiert, in dessen Texten gerade die Erzählform schon eine wesentliche Aussage darstellt.

4 Humanität und Fiktion: Existenzphilosophische Spuren in der Logik der Dichtung In Hamburgers Vorbehalten gegenüber der Erzählkonstruktion des Doktor Faustus kündigt sich schon die Argumentation der Logik der Dichtung an, wo behauptet wird, die Ich-Erzählung gehöre nicht zu den fiktionalen Gattungen, weil hier keine »Mimesis handelnder Menschen«78 stattfindet, weil Figuren nur in der objektivierenden Perspektive des Ich-Erzählers vermittelt werden. Die ›ErErzählung‹ dagegen könne Figuren »in der ›Subjektivität‹ ihrer Existenz« (LdD93) erzählend hervorbringen. Dass hier und an anderen Stellen ohne weitere Erklärung von ›Subjektivität‹ und ›Existenz‹ die Rede ist, gehört zu jenen konzeptionellen Eigenheiten von Hamburgers Logik der Dichtung, denen sich kürzlich Claudia Löschner gewidmet hat. Sie konnte zeigen, »dass Hamburger sich auf eine Reihe von Begriffen und Überzeugungen stützt, die für Rezipienten in den 1960er Jahren – nicht weniger gilt dies für heutige Leser – nicht mehr geläufig oder selbstverständlich waren«.79 Zu solchen »stillschweigenden

|| 77 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 21974, Bd. 10, S. 397 (Der Künstler und die Gesellschaft). 78 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 44. Im Nachfolgenden zitiert mit der Sigle LdD. 79 Claudia Löschner: Denksystem, S. 10.

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›Selbstverständlichkeiten‹«80 und »Verständnisschwellen«81 der Logik der Dichtung rechnet Löschner vor allem jene Begriffe von ›Existenz‹ und ›Subjektivität‹, die sich auf Hamburgers philosophische Prägung in den zwanziger und dreißiger Jahren zurückführen lassen. Zu den existenzphilosophischen Motiven in der Logik der Dichtung gehört darüber hinaus in gewisser Weise auch Hamburgers Entscheidung, das Phänomen fiktionaler Rede über eine Aussagetheorie der Sprache zu erklären und eben nicht, wie später der Sprechakttheoretiker John R. Searle, über eine Mitteilungstheorie.82 Während Searle fiktionale Rede als soziales Phänomen beschreibt, das sich erst durch einen Kommunikationsakt zwischen einem Produzenten und einem Rezipienten konstituiert, ist Hamburger auf die SubjektObjekt-Struktur von Sprache fokussiert.83 Pragmatische Aspekte hat sie kaum im Blick, von Interesse ist der Aussagecharakter von Sprache, nicht ihr Mitteilungscharakter. Dies erinnert durchaus an die Attitüde der Existenzphilosophie, die sich weniger mit dem Menschen als sozialem Wesen beschäftigt, sondern mit dem Einzelnen und seinem Existenzproblem.84 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch Hamburgers Fiktionstheorie eine »existenzielle Pointe«,85 denn das ›Problem der Existenz‹, von dem in der Studie über Thomas Mann und die Romantik die Rede ist, jenes Problem des ›Ichsagens‹, der ›Objektivation des Subjektiven‹, hat, wenn man ihrer Argumentation folgt, seine Ursache in der logischen Struktur der Wirklichkeitsaussage selbst, in ihrer Subjekt-Objekt-Polarität. Weil alle Wirklichkeitsaussage sprachliche Bezugnahme eines Aussagesubjekts auf ein Aussageobjekt ist, kann sich der Mensch auf sich selbst nur als Objekt, nicht als Subjekt beziehen. Bei diesem von der Struktur der Wirklichkeitsaussage erzeugten Existenzproblem handelt es sich nun, wie erwähnt, um jenes kardinale Problem der nachkantischen Phi|| 80 Ebenda. 81 Ebenda, S. 12. 82 Vgl. jene Abgrenzung ihrer Aussagetheorie der Sprache von einer Mitteilungstheorie, die Hamburger ab der zweiten, stark veränderten Auflage von 1968 vornimmt: Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 41994, S. 34–35. 83 Vgl. dazu auch Claudia Löschner: Denksystem, S. 121–135. 84 So etwa Karl Jaspers im zweiten Band seiner dreibändigen Philosophie (1932): »So erobere ich mein eigenes Sein in der absoluten Einsamkeit, wo ich bei der Fragwürdigkeit des in der Welt Vorkommenden, im Versinken von allem und auch meines eigenen Daseins, außer der Welt doch noch vor mir so stehe, als wäre ich eine sichere Insel im Ozean, von der aus ich ohne Ziel in die Welt blicke wie in eine wogende Atmosphäre, die sich ins Grenzenlose verliert« (Karl Jaspers: Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung. München 1994, S. 204). – Zu dieser »Metaphorisierung der Existenz als Insel« vgl. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus, S. 41–43. 85 Claudia Löschner: Denksystem, S. 30.

96 | Matthias Löwe losophie, mit dem sich Frühromantiker wie Novalis intensiv auseinandersetzen und von dem man auch die frühromantische Ästhetik ableiten kann, nämlich das Problem einer philosophischen Begründung von Selbstbewusstsein.86 Mit Kant gehen die Romantiker davon aus, dass Subjektivität, das absolute Selbst, die Identität des Ich, sich nicht repräsentieren lassen, ohne sie zugleich zu verfehlen, denn »[w]ir verlassen das Identische um es darzustellen«,87 wie es am Beginn von Friedrich von Hardenbergs Fichte-Studien heißt. Beim Umgang mit dem ›Problem des Ichsagens‹, also der Darstellung von Subjektivität, trauen die Romantiker aber gerade der ›Poesie‹ eine besondere Leistungsfähigkeit zu: »Die Poësie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.«88 Mit Hamburger könnte man auch sagen: Die ›Poësie‹ heilt die Wunden, die das Aussagesystem der Sprache, ihre Subjekt-Objekt-Polarität, erzeugt. Allerdings vollzieht sich dieses Heilungsgeschehen aus romantischer Sicht nicht dadurch, dass ›Poësie‹ dem »beleidigenden Irrthum«89 der unvermeidbaren, trennenden Wirklichkeitsaussagen eine wahre poetische Darstellung von Subjektivität entgegensetzt, sondern durch eine »angenehme[] Täuschung«.90 Unter epistemischen Gesichtspunkten muss also in der Wirklichkeitsaussage wie in der Fiktion der Versuch, Subjektivität darzustellen, gleichermaßen scheitern. Romantiker schreiben der

|| 86 Eine besonders plastische Beschreibung dieses Problems findet sich in Kants Nachwort zu Samuel Thomas Soemmerrings Schrift Über das Organ der Seele (1796): »[W]enn ich den Ort meiner Seele, d. i. meines absoluten Selbsts, irgendwo im Raume anschaulich machen soll, so muß ich mich selbst durch eben denselben Sinn wahrnehmen, wodurch ich auch die mich zunächst umgebende Materie wahrnehme; so wie dieses geschieht, wenn ich meinen Ort in der Welt als Mensch bestimmen will, nämlich daß ich meinen Körper in Verhältnis auf andere Körper außer mir betrachten muß. – Nun kann die Seele sich nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (es sei inwendig oder äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht. – Die verlangte Auflösung also der Aufgabe vom Sitz der Seele, die der Metaphysik zugemutet wird, führt auf eine unmögliche Größe […]; und man kann dem, der sie unternimmt, mit Terenz zurufen: nihilo plus agas, quam si des operam, ut cum ratione insanias [du dürftest nicht mehr ausrichten, als wenn du dir Mühe gibst, mit Vernunft unvernünftig zu sein; Übersetzung: Wilhelm Weischedel]« (Immanuel Kant: Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974–1977, Bd. 11 [1977], S. 259). 87 Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 104. 88 Ebenda, Bd. 3, S. 653. 89 Ebenda. 90 Ebenda.

Existenz, Humanität, Fiktion | 97

›Poësie‹ aber die Funktion zu, »deren trennende Auswirkungen zu mildern«,91 und verstehen ›Poësie‹ als eine »Medizin, mit der die chronische Krankheit, die immer neuen Wunden der Trennung und des Verfehlens wahrer Individualität, erträglich gemacht werden«.92 Man sieht an diesen Bemerkungen, dass Hamburgers Logik der Dichtung und ihr Fiktionsbegriff zwar durchaus von einem ›romantischen‹ Impuls getragen werden, allerdings traut sie der »Wunderkraft der Fiction«93 dabei mehr zu als die Romantiker selbst. Für Hamburger ist die epische Fiktion »der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann« (LdD40). Im Unterschied zur romantischen Funktion von ›Poësie‹, der zufolge Subjektivität nur als ›angenehme Täuschung‹ repräsentiert werden kann, besitzt die epische Fiktion bei Hamburger gegenüber der Wirklichkeitsaussage also tatsächlich ein »Darstellungsprivileg[ ]«.94 In der Logik der Dichtung zieht sie eine scharfe Grenze zwischen ihrer Rede über literarische Fiktionen und einer Rede über dieses Phänomen, die sich an Hans Vaihingers Philosophie des Als-ob (1911) und Roman Ingardens Begriff des ›Quasi-Urteils‹ orientiert (vgl. LdD14–17).95 Hamburger insistiert darauf, dass literarische Fiktionen Wirklichkeit nicht ›nachahmen‹, indem sie so tun als ob, was sie der Täuschung verdächtig machen würde, sondern dass sie autonome Welten ›darstellen‹.96 Die epische Fiktion besitze im allgemeinen Sprachsystem einen »singulären Ort«,97 denn hier werde jene Polarität zwischen Aussagesubjekt und Aussageobjekt suspendiert, von der die Wirklichkeitsaussage bestimmt sei, und daher gelinge es tatsächlich, Figuren »als Subjekt« (LdD58) zu gestalten. Löschner weist darauf hin, dass Hamburger sogar Kants Begriff des ›inneren Sinns‹ reaktiviert, um jenes Konzept von Sub|| 91 Ludwig Stockinger: »Die Poësie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.« Novalis’ Poesiebegriff im begriffs- und literaturgeschichtlichen Kontext, in: Novalis. Poesie und Poetik, hg. v. Herbert Uerlings. Tübingen 2004, S. 63–79, hier: S. 71. 92 Ebenda, S. 72. 93 Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 421. 94 Claudia Löschner: Denksystem, S. 116. 95 Ab der zweiten, stark veränderten Auflage von 1968 erhält die Auseinandersetzung mit Ingarden und Vaihinger noch mehr Gewicht: Käte Hamburger: Logik, 4. Aufl., S. 24–28 und S. 54–55. – Zur Kontroverse zwischen Roman Ingarden und Käte Hamburger vgl. auch den Beitrag von Jørgen Sneis in diesem Band. 96 Vgl. Michael Scheffel: Käte Hamburgers Logik der Dichtung – ein ›Grundbuch‹ der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauenund Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 140–155, hier: S. 141–142. 97 Ebenda, S. 144.

98 | Matthias Löwe jektivität zu beschreiben, das nur mittels fiktionaler Rede und nicht in Form der Wirklichkeitsaussage hervorgebracht werden könne.98 Die fiktionale Darstellung von Figuren in der ›Subjektivität ihrer Existenz‹ ist für Hamburger »gleichbedeutend mit dem Erzählen eines inneren Sinns«.99 Genau hier liegt der Unterschied zwischen einer Darstellung von Subjektivität aus romantischer Sicht und aus der Sicht Käte Hamburgers. Wie oben gezeigt, erfolgt Selbsterfahrung bei Kant im Modus des ›inneren Sinns‹. Da dieser aber an die Kategorie der Zeit gebunden ist, verfehlt auch der ›innere Sinn‹ eine Erkenntnis wahrer Subjektivität immer wieder, denn diese offenbart sich nicht absolut, sondern nur als zeitlicher Prozess. Bei Kant liefert der ›innere Sinn‹ »keine Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine« (vgl. Anm. 21). In romantischer Dichtung wird daher auch der Anspruch auf eine ästhetische Vermittlung von wahrer Subjektivität immer mit Signalen kombiniert, die das ewige Verfehlen, das notwendige Scheitern eines solchen Darstellungsversuchs kommunizieren. Hamburger dagegen zeigt sich mit ihrer These von der epischen Fiktion als ›Durchbruch‹ zur Subjektivität weniger als Nachfahrin der Romantik, sondern eher als Existenzphilosophin mit allenfalls dezenter romantischer ›Färbung‹. Aus romantischer Sicht entsteht wahre Subjektivität paradoxerweise nur durch den ewig scheiternden Versuch, sie zu finden.100 Im Rahmen der Existenzphilosophie bezeugt dagegen das Bewusstsein für die Zeitlichkeit der Existenz gerade deren ›Eigentlichkeit‹ und nicht deren Verfehlen. Als Existenzphilosoph kann man daher die fiktionale Darstellung eines ›inneren Sinns‹ – einer inneren, an die Kategorie Zeit gebundenen Selbsterfahrung – tatsächlich als Hervorbringung einer Figur ›in der Subjektivität ihrer Existenz‹ verstehen. Aus romantischer Sicht handelt es sich dabei indes nur um eine ›angenehme Täuschung‹, die Subjekt-Objekt-Polarität der Sprache und des Denkens ist für Romantiker unhintergehbar. Hamburgers Überlegungen liegt also nicht der vom Gedanken ewigen Verfehlens flankierte romantische Subjekt-Begriff zugrunde, sondern der emphatische SubjektBegriff der Existenzphilosophie, wie auch folgende Passage zeigt: Der moderne Begriff der Existenz ersetzt recht glücklich den des Subjekts und des Subjektiven […]. Er erweitert die rein logisch-erkenntnistheoretische Angabe sozusagen zu dem

|| 98 Claudia Löschner: Denksystem, S. 111–116. 99 Ebenda, S. 115. 100 »Das höchste uns mögliche Bewußtsein ist das Bewußtsein von in der autonomen Praxis gefühlter Verweigerung der Autonomie« (Manfred Frank: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. Paderborn u. a. 21990, S. 221).

Existenz, Humanität, Fiktion | 99 Kraftfeld, das sich um den Subjektpol der (formulierten oder unformulierten) Aussage bilden kann, und während der Begriff des Subjekts seinen logisch polaren Gegensatz in dem des Objekts hat, gibt es für den Begriff der Existenz keinen Gegenbegriff auf der Objektseite (LdD169).101

Obwohl diese Anbindung an die Existenzphilosophie in der Logik der Dichtung erst spät offen zugestanden wird, zeigen diese Ausführungen dennoch, dass es sich beim Existenz-Begriff um einen »Grundbegriff«102 nicht nur von Hamburgers geisteswissenschaftlichen Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre, sondern auch von ihrer Fiktionstheorie der Nachkriegszeit handelt. Dies wiederum erlaubt es, so meine ich, auch ihr Konzept einer ›neuen Humanität‹ mit ihrer Fiktionstheorie in Beziehung zu setzen, obwohl in der Logik der Dichtung nicht von Humanität die Rede ist. Wenn Humanität für Hamburger jedoch darin besteht, sich selbst und das Gegenüber nicht als Objekt, sondern als Subjekt zu erfahren, dann besitzt Hamburgers Fiktionskonzept offensichtlich auch eine humanisierende Funktion:103 Indem die epische Fiktion in die Wahrnehmung fremder Subjektivität einübt, macht sie gleichsam human. Diese unausgesprochene Korrespondenz zwischen Fiktion und ›neuer Humanität‹, zwischen Ethik und Ästhetik, ist allerdings nur begründbar im Rahmen jener weltanschaulichen Entscheidungen, die Hamburger während der philosophisch prägenden zwanziger und dreißiger Jahre getroffen hat. Ihr existenzphilosophisch fundiertes Romantik-Konzept, das sich in dieser Zeit formiert hat, entfaltet dann aber eine folgenreiche Langzeitwirkung in ihrem Œuvre: Es steuert nicht nur ihre Deutung literarischer Texte, sondern bildet auch das nur mühsam identifizierbare Wurzelgeflecht, aus dem die Logik der Dichtung erwächst. Gerade diese verborgenen »Präsumtionen Hamburgers«104 machen die Logik der Dichtung zu einem der originellsten, zugleich jedoch besonders unzeitgemäßen Beiträge der Nachkriegsgermanistik. Immerhin aber kann man an diesem Text und seinen Rahmenannahmen noch heute studieren, wo die Aporien und Fallstricke lauern, über die man bei dem Versuch stolpert, ästhetischen Phänomenen ethische Potentiale zuzuschreiben.

|| 101 Vgl. dazu Claudia Löschner: Denksystem, S. 75–81. 102 Ebenda, S. 76. 103 Auf die »humanitätsbefördernde Leistung des fiktionalen Erzählens« bei Hamburger weist auch Claudia Löschner hin (ebenda, S. 49–50). 104 Ebenda, S. 10.

Dirk Werle

Käte Hamburger und die frühe Erzähltheorie Abstract: Käte Hamburger’s narrative theory is built on discussions and theories developed in German literary studies during the 1920s and 1930s. Hamburger’s unique contribution to narrative theory consists less in exceeding prewar research, and more in integrating the individual results of pre-war debates and investigations into a theoretical system that claims coherence and consistency. The nuance of Hamburger’s contribution can be best understood through the example of the subjects of ›erlebte Rede‹ and ›I-narration‹. Concerning the theorem of the ›Erzählfunktion‹, however, what makes Hamburger’s statements truly innovative is the degree to which her reading of and relationship to Thomas Mann shaped her work.

Einleitung: Was ist neu? Es gehört zu den Gemeinplätzen über Käte Hamburgers Buch Die Logik der Dichtung, dass die darin entwickelten Thesen bei seinem Erscheinen 1957 etwas unerhört Neues gewesen seien.1 Worin genau die Neuigkeit bestand, darüber herrscht jedoch eine gewisse Uneinigkeit. Insbesondere ist ungeklärt, ob Hamburger mit ihrem Buch bloß neue Antworten auf alte Fragen gegeben hat oder ob die Art ihrer Fragen selbst neu gewesen ist. Aus der Rückschau gilt Hamburger zusammen mit Wolfgang Kayser, Eberhard Lämmert und Franz K. Stanzel als Protagonistin der sich in den 1950er Jahren im deutschsprachigen Raum breit etablierenden Erzähltheorie. Erzähltheorie hat es der Sache nach in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft schon vor den 1950er Jahren gegeben; || 1 Vgl. Barbara Hahn: Erratischer Block oder von der Schwierigkeit, Käte Hamburgers Logik der Dichtung zu lesen, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 129–139, hier: S. 129 sowie 132–133, und Michael Scheffel: Käte Hamburgers Logik der Dichtung – ein ›Grundbuch‹ der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Relektüre, ebenda, S. 140–155, hier: S. 145. Ferner Horst Turk: (Wieder)Gelesen – Neu Gelesen. Käte Hamburger, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 100 (2008), S. 17–24, hier: S. 17, sowie Ulrike Weymann: Interdisziplinäre Grenzgänge bei Käte Hamburger: Zum Briefnachlass der Literaturwissenschaftlerin. Mit einem Brief von Roman Ingarden, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38 (2008), H. 149, S. 148–163, hier: S. 156. – Für weiterführende Hinweise bei der Abfassung dieses Artikels danke ich HansHarald Müller (Hamburg).

102 | Dirk Werle sie wurde allerdings meist nicht so genannt und galt eher als Randbereich literaturwissenschaftlicher Forschung. Gleichwohl stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Hamburgers Überlegungen zu der germanistischen Erzähltheorie der 1920er und 1930er Jahre stehen. Claudia Löschner hat in ihrer Studie Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger gezeigt, dass Hamburgers Logik der Dichtung konzeptionell in Debatten der 1910er bis 1930er Jahre wurzelt, der Zeit also, in der die Autorin wissenschaftlich sozialisiert wurde, und dass man erst vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis die zentrale Zielsetzung ihrer Theorie versteht: Hamburger möchte in letzter Instanz nicht auf eine Theorie der Literatur hinaus, sondern auf eine »übergreifende[] Denktheorie«.2 Dass man das als Leser der Nachkriegszeit nicht ohne Weiteres erkennen konnte und als Leser des 21. Jahrhunderts erst recht nicht ohne Weiteres erkennen kann, liegt daran, dass Hamburger sich auf die in Frage stehenden Debatten großenteils stillschweigend bezieht, dass sie also die Hintergründe und Frontstellungen ihrer Argumentation nicht in allen Fälle transparent macht.3 Im Folgenden möchte ich prüfen, inwiefern man auch in der germanistischen Erzähltheorie der 1920er und 1930er Jahre auf Debatten und Positionen stößt, die für Die Logik der Dichtung einen Referenzrahmen bilden. Wenn man die erzähltheoretisch einschlägigen Kapitel »Die epische Fiktion« und »Die Icherzählung« in Hamburgers Buch studiert, stellt man fest, dass sie bei ihren Referenzen die deutschsprachige, literaturwissenschaftliche Forschung der Vorkriegszeit weitgehend ausspart.4 Sie referiert auf deutschsprachige literaturwissenschaftliche Beiträge ihrer Gegenwart, der 1950er Jahre (Franz K. Stanzel, Wolfgang Kayser);5 aus der Vorkriegszeit bezieht sie einerseits deutschsprachige sprachwissenschaftliche (Christian August Heyse, Karl Brugmann, Karl Bühler, Herbert Seidler)6 und philosophische (Paul Hofmann),7 andererseits nichtdeutschsprachige literaturtheoretische (John R. Frey) und philosophische (Susanne Langer) Forschungen ein.8 Darüber hinaus tritt sie mit dem Gestus

|| 2 Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 12. 3 Vgl. ebenda, S. 8. 4 Ausnahmen bilden Käte Friedemann mit ihrer bahnbrechenden Abhandlung: Die Rolle des Erzählers in der Epik. Leipzig 1910, gegen deren These einer Ubiquität der Kategorie des Erzählers in fiktionalen Erzähltexten Hamburger ihre Theorie ausrichtet, sowie Julius Petersen, gegen dessen Weiterführung der Friedemann’schen These sie polemisiert. Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 77–79. 5 Vgl. ebenda, S. 34, 113. 6 Vgl. ebenda, S. 29–30, 60, 67–70. 7 Vgl. ebenda, S. 75. 8 Vgl. ebenda, S. 42–43, 55, 77.

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auf, ein völlig neues wissenschaftliches Teilgebiet erschließen zu wollen. Es wird sich jedoch zeigen, dass es erhellend ist, Hamburgers Ausführungen zur Erzähltheorie vor dem Hintergrund der deutschsprachigen, literaturwissenschaftlichen Forschungen der Vorkriegszeit zu beurteilen. Dadurch wird nämlich deutlich, dass Hamburger mit ihrer Erzähltheorie in der Logik der Dichtung durchaus etwas Neues präsentiert, aber nicht indem sie ganz neue Fragen stellt, sondern indem sie zum Teil neue Antworten auf alte Fragen gibt. Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte beleuchten, die in Hamburgers Buch eine wichtige Rolle spielen, und einige der theoriehistorischen Hintergründe rekonstruieren, vor denen Hamburgers Ausführungen zu diesen Aspekten gesehen werden müssen, damit man besser versteht, inwiefern sie diesen Aspekten eine neue Deutung gibt: das Phänomen der erlebten Rede (2) sowie die Textsorte Icherzählung (3). Zuvor sei in Kürze ein Aspekt von Hamburgers Erzähltheorie angesprochen, der in der deutschsprachigen Erzähltheorie der Vorkriegszeit nicht ausführlich diskutiert wurde, und die Vermutung artikuliert, dass Hamburger ihre Deutung dieses Aspekts vornehmlich der Auseinandersetzung mit nicht literaturwissenschaftlichen, sondern mit literarischen Prätexten verdankt:9 die These von der Erzählfunktion (1).

1 Erzählfunktion und Geist der Erzählung Manchmal wird behauptet, Wolfgang Kayser habe in seinem zuerst 1957 erschienenen Aufsatz »Wer erzählt den Roman?« als erster für Erzähltexte die konsequente Unterscheidung von Autor und Erzähler postuliert. Das trifft wohl nicht zu; darüber hinaus aber ist festzuhalten, dass Kayser in seinem Aufsatz unterschiedliche erzähltheoretische Konzepte kombiniert. Ob er hier eklektisch auf vorliegende Entwürfe zurückgreift oder ›genial‹ verschiedene Denkmöglichkeiten synthetisiert, dabei aber vielleicht nicht immer mit der gebotenen Klarheit zu Werke geht, ist eine bislang ungeklärte Frage. Jedenfalls findet sich in Kaysers Text erstens die Vorstellung, »in allen Werken der Erzählkunst« sei ein Erzähler vorhanden im Sinne einer »gedichtete[n] Person, in die sich der Autor

|| 9 Vgl. auch die These von Claudia Löschner: Denksystem, S. 163, dass Hamburger mit der Logik der Dichtung die Ideen prominenter Autorenpoetiken, unter anderem auch Thomas Manns, formalisieren und logisch begründen möchte, gegen den Trend, sie als bloß übertragene Redeweise aufzufassen.

104 | Dirk Werle verwandelt hat«.10 Zweitens artikuliert Kayser aber die Behauptung, der Erzähler des Romans sei weder der Autor noch »die gedichtete Gestalt, die uns oft so vertraut entgegentritt. Hinter dieser Maske steht der Roman, der sich selber erzählt, steht der Geist dieses Romans, der allwissende, überall gegenwärtige und schaffende Geist dieser Welt«.11 Diese zweistufige Konzeption, nach der man trennen sollte zwischen der Erzählerfigur und dem vorgängigen, unpersönlichen Erzählakt, ist in der Narratologie der folgenden Jahrzehnte ein wenig in Vergessenheit geraten und wird erst in letzter Zeit wieder diskutiert.12 Als Paten der Konzeption eines Geistes der Erzählung als Personifikation des unpersönlichen Erzählakts, der allenfalls eine Erzählerfigur generiert, zitiert Kayser Thomas Mann mit seinem 1951 erschienenen Roman Der Erwählte. Manches spricht dafür, Mann in dieser Hinsicht als Stichwortgeber der Erzähltheorie der 1950er Jahre zu verstehen, von dessen Theorem einer Unterscheidung von Erzählakt und Erzähler Kayser abhängig ist.13 Nun formuliert Hamburger in der ebenfalls 1957 erschienenen Logik der Dichtung eine Theorie des Erzählens als Erzählfunktion, die man zunächst abgelöst vom Akt eines anthropomorph verstandenen Erzählers auffassen sollte.14 Diese Theorie veranschaulicht sie wie Kayser unter Rückgriff auf Manns Modell eines Geists der Erzählung, das sie zur Erläuterung von Johann Wolfgang Goethes Charakterisierung der Erzählung als imaginierter Vorlesung eines Rhapsoden hinter einem Vorhang heranzieht. Diese Charakterisierung Goethes war unter Erzähltheoretikern der Vorkriegszeit eine beliebte autoritative Referenz gewesen;15 Hamburger hebt hier das

|| 10 Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? [1957], in: ders.: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern 1958, S. 82–101, die Zitate S. 90–91. 11 Ebenda, S. 98. 12 Für eine Erzähltheorie, die den fiktionalen Erzähler nicht als allgegenwärtigen, sondern als optionalen Bestandteil fiktionaler Erzähltexte auffasst, argumentieren unter anderen Tilmann Köppe und Jan Stühring: Against pan-narrator theories, in: Journal of Literary Semantics 40 (2011), S. 59–80. Kayser weisen sie dabei am Rande als Anhänger einer ›pan-narrator theory‹ aus. Das scheint mir nicht zuzutreffen; sowohl Kayser als auch, wie im Folgenden ansatzweise deutlich werden sollte, Hamburger und Thomas Mann wären treffender als frühe Beispiele beziehungsweise Vorläufer von ›optional-narrator theories‹ zu beschreiben. Allerdings ist vor diesem Hintergrund, wie gesagt, zuzugestehen, dass Kayser in seinem Aufsatz keine durchgängig konsistente erzähltheoretische Position entwickelt. 13 Vgl. ausführlich zu den in diesem Abschnitt beschriebenen Zusammenhängen Dirk Werle: Thomas Manns Erwählter und die Erzähltheorie der 1950er Jahre, in: Euphorion 106 (2012), S. 439–464. 14 Vgl. Käte Hamburger: Logik, S. 74. 15 Vgl. etwa Oskar Walzel: Objektive Erzählung [1915], in: ders.: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Leipzig 1926, S. 182–206, hier: S. 187; Erich Everth: Die Kunst der Erzäh-

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Bildelement des Vorhangs gegenüber dem Rhapsoden und seiner Stimme hervor, um die Ansicht zu veranschaulichen, dass man das Modell der epischen Erzählung nicht analog zu der Vorstellung etwa eines Geschichtenerzählers auf einem orientalischen Marktplatz oder eines Märchenerzählers im Kindertheater konzipieren, sondern das Erzählen als »Gestaltungsfunktion« verstehen sollte, »von der man ebensogut sagen kann, daß sie neben anderen Gestaltungsfunktionen wie Dialog, Monolog, erlebte Rede, eingesetzt ist«.16 Da Hamburger ihre Logik der Dichtung bereits seit Ende der 1930er Jahre konzipierte und bereits vor 1951 mit Mann in engem Austausch stand, wird man in ihrem Fall nicht wie im Falle Kaysers behaupten können, sie sei mit ihrer Theorie der Erzählfunktion von Mann abhängig. Stattdessen darf man aber vermuten, dass diese Theorie, die dann Hamburger und Mann in unterschiedlicher Weise in ihren Werken exponieren, ein Resultat des engen Austauschs der beiden Autoren gewesen ist. Entsprechend kann man für Kaysers Referenz auf den Erwählten im Kontext erzähltheoretischer Überlegungen Hamburger als Vermittlerin und Vorbild vermuten. Kayser kannte 1957 bereits die gerade erschienene Logik der Dichtung, wie seine Erwähnung in einer Anmerkung im Kontext einer Kritik von Hamburgers Theorem des epischen Präteritums zeigt.17 Und der Verweis auf Manns ›Geist der Erzählung‹ erfolgt bei Hamburger noch ein zweites Mal ausführlicher und an herausgehobener Stelle, nämlich am Schluss des Kapitels »Die Icherzählung«, wo Hamburger den ›Geist der Erzählung‹ nochmals ausführlicher mit ihrem Konzept der Erzählfunktion analogisiert.18 Diese knappen Hinweise sollten einen Ausnahmefall beschreiben, dass nämlich Hamburgers Ausführungen hinsichtlich eines bestimmten Bausteins ihrer Erzähltheorie, des Theorems der Erzählfunktion, tatsächlich insofern ›unerhört neu‹ gewesen sind, als sie sich in diesem Punkt affirmativ nicht in erster Linie auf bereits vorhandene literaturwissenschaftliche Diskussionszusammenhänge bezieht, sondern ihre Erkenntnisse vermutlich vornehmlich der Beschäf-

|| lung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (1925), S. 215–243, hier: S. 239. 16 Käte Hamburger: Logik, S. 104. 17 Wolfgang Kayser: Roman, S. 96, Anm. 1. 18 Käte Hamburger: Logik, S. 241–242. Allerdings scheint die Vorstellung einer unpersönlichen Erzählfunktion in der Metapher vom Geist, allerdings in hegelianisierender Perspektive, bereits bei Robert Petsch: Der epische Dialog, in: Euphorion 32 (1931), S. 187–205, hier: S. 205 auf: »Was die dichterische Erzählung vom bloßen Tatsachenbericht unterscheidet, ist nicht zuletzt die stete geheime Zwiesprache, womit der Dichter um unsre Seele wirbt und uns gleichsam zu Vertrauten des Weltgeists macht, der durch seine Stimme zu uns sprechen will.«

106 | Dirk Werle tigung mit Literatur und insbesondere dem Austausch mit dem Dichter Thomas Mann verdankt. Wie innovativ Hamburgers Anregung ist, bei Diskussionen um eine Theorie fiktionalen Erzählens von der Vorstellung eines anthropomorphen Erzählers zunächst abzusehen, erhellt ein Vergleich mit einem Entwurf wie Erich Everths 1925 in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft erschienenem Beitrag »Die Kunst der Erzählung«. Everth verknüpft die Analogie des Erzählers fiktionaler Texte zur Imago des mündlich vortragenden Märchenerzählers mit psychologisierenden und anthropologisierenden Spekulationen zur mit dem ›Epischen‹ verbundenen »innere[n] Haltung zu Leben und Welt«, zum »Typus des epischen Menschen«, zu »epischen Zeitalter[n]«, zum ›weiblichen‹ Charakter des Erzählens gegenüber dem ›männlichen‹ Charakter des Dramas, zu einem ›epischen‹ »Lebensrhythmus«, zum Erzählen als »Urphänomen der Menschheit« und Ähnlichem.19 Von solchen Deutungen des Erzählens ist Hamburgers Theorie weit entfernt; allenfalls ist vorstellbar, dass sie ihre Position in kritischer Auseinandersetzung mit derlei Vorläuferentwürfen gewonnen hat. Dabei leistet sie einen Beitrag zur Entwicklung einer avancierten Konzeption von Autorschaft, die es, wie die Lektüre von Beiträgen zur Literaturtheorie der Vorkriegszeit wie dem Everths besonders deutlich zeigt, noch nicht gab. Als Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung mit Konzeptionen wie denen Everths lassen sich möglicher Weise zum Teil auch Hamburgers Ausführungen zur ›erlebten Rede‹ verstehen. Als Teil der indirekten Rede erklärt Everth diese aus der ›epischen Mentalität‹. Solch eine Idee hätte Hamburger vermutlich scharf zurückgewiesen; allerdings lassen sich ihre eigenen Ausführungen zur erlebten Rede auch als affirmative Weiterentwicklung von alternativen Positionen der Erzähltheorie der Vorkriegszeit verstehen.

2 Erlebte Rede Hamburgers Unterscheidung der mimetischen Gattungen Epik, Drama und Film einerseits sowie der existenziellen Gattung Lyrik andererseits mit den Sonderformen Ballade und Icherzählung läuft der spätestens seit Goethe etablierten und kanonisierten Dreiteilung der Makrogattungen Epik, Dramatik und Lyrik zuwider und wurde dementsprechend häufig und heftig kritisiert. Löschners Explorationen legen nun ein Verständnis von Hamburgers Ausführungen nahe, das die Erkenntnis einschließt, dass die gattungssystematisch motivierte Kritik || 19 Erich Everth: Die Kunst der Erzählung, S. 217–218, 222, 224–225, 228 (Hervorhebungen als Sperrung im Original).

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an Hamburger vielleicht fehlgeht. Zweifelsohne tritt die Logik der Dichtung schon durch ihren Aufbau als gattungssystematische Studie auf, aber diese Gattungssystematik dient nach Löschner einem anderen, dahinter sichtbar werdenden Erkenntnisinteresse, nämlich dem Interesse an Möglichkeiten sprachlichen Aussagens und dadurch erkennbaren Strukturen des Denkens. Wenn man diese Deutung nachvollzieht, dann wird auch eine Merkwürdigkeit an Hamburgers erzähltheoretischen Ausführungen verständlich: Ein ›ordentlicher‹ Gattungssystematiker müsste ja in einer Theorie der Erzählliteratur, wenn er diese von anderen Gattungen abhebt, alle möglichen Formen von Erzählliteratur im Blick haben und sich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Formen in Abgrenzung zu anderen Gattungen machen. Hamburger dagegen geht anders vor. Sie postuliert bei ihren Darlegungen zu der Frage, was das Typische an der ›epischen Fiktion‹ sei, ein sehr enges Konzept fiktionalen Erzählens. Fiktionales Erzählen im eigentlichen Sinne ist für Hamburger eine Ausprägungsform, die üblicher Weise bloß als ein bestimmter Typ fiktionalen Erzählens gehandelt wird: das heterodiegetische Erzählen mit interner Fokalisierung, seit Stanzel landläufig personales Erzählen genannt.20 Die Darstellung von Innensicht einer anderen Person ist für Hamburger etwas, das nur der fiktionale Erzähltext kann; er bietet dementsprechend ihrer Ansicht nach Anschauungsmaterial für eine ganz bestimmte, einzigartige Möglichkeit des Aussagens und Denkens.21 Dementsprechend ist für Hamburger die erlebte Rede der vorzügliche Modellfall fiktionalen Erzählens. Mit dem Phänomen der erlebten Rede hat es freilich eine merkwürdige Bewandtnis. Es handelt sich hier um einen zumindest für einen Leser des 21. Jahrhunderts relativ unauffälligen Modus der »Erzählung

|| 20 Nach J. Alexander Bareis ist eine ›echte Fiktion‹ für Hamburger eine Erzählung, in der ein »heterodiegetischer, extradiegetischer Erzähler mit Nullfokalisation« die Geschichte erzählt (J. Alexander Bareis: Käte Hamburgers Logik der Dichtung, die Frage nach dem Erzähler und deren Konsequenz für die Erzähl- und Fiktionstheorie, in: Text im Kontext 6. Beiträge zur sechsten Arbeitstagung schwedischer Germanisten in Göteborg, 23.–24. April 2004, hg. v. J. Alexander Bareis und Izabela Karhiano. Göteborg 2005, S. 75–83, das Zitat S. 79). Das stimmt, aber dieser Erzähltypus ist für Hamburger nicht der Modellfall fiktionalen Erzählens. 21 Ähnlich beschreibt es aus psychologischer Perspektive und anscheinend weitgehend unbeeinflusst von zeitgenössischen literaturtheoretischen Debatten bereits Eduard Spranger: Der psychologische Perspektivismus im Roman. Eine Skizze zur Theorie des Romans erläutert an Goethes Hauptwerken, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1930, S. 70–90. Spranger entwickelt der Sache nach bereits eine Typologie von erzählerischen Fokalisierungsformen; allerdings zeigen sich bei der skizzenhaften Beispielanalyse Goethe’scher Erzähltexte gewisse Schwierigkeiten mit der ›Anwendung‹ der theoretischen Erkenntnisse.

108 | Dirk Werle von Worten«22 beziehungsweise Gedanken; als solcher fällt er in der Regel kaum als besonders bemerkenswert ins Auge. So gesehen müsste man sagen, dass Hamburger sich als Modellfall eine besonders unauffällige Form fiktionalen Erzählens ausgesucht hat und in diesem Sinne einem Programm der Entselbstverständlichung des scheinbar Selbstverständlichen folgte. Ein Blick auf erzähltheoretische Diskussionen der 1920er und 1930er Jahre zeigt jedoch, dass die ›erlebte Rede‹, die erst Anfang der 1920er Jahre terminologisiert wurde, zu dieser Zeit als ein genuin modernes Phänomen galt, als ein Phänomen modernen Erzählens, ähnlich wie der innere Monolog.23 Unter den ›epischen Grundformen‹, die etwa Robert Petsch im gleichnamigen Aufsatz 1928 auflistet, tauchen denn auch sowohl erlebte Rede als auch verwandte Formen der Darstellung von Innensicht (noch) gar nicht auf.24 So gesehen, sollte man vielleicht eher sagen, dass Hamburger mit ihrer Etablierung der erlebten Rede als Modellfall fiktionalen Erzählens einer Argumentationsstrategie folgt, nach der man die modernsten, avanciertesten Varianten eines Phänomens erklären können muss, um etwas theoretisch Valides über das Phänomen auszusagen. Es geht Hamburger um die Erfassung eines Makrophänomens durch die Erklärung einer scheinbar marginalen und unauffälligen, aber gleichzeitig extremen Spielform. Sie geht damit ähnlich vor wie später Arthur Danto, der das Wesen von Kunst dadurch zu erfassen sucht, dass er das Wesen der scheinbar marginalen und unauffälligen, aber gleichzeitig extremen Spielform bildender Kunst erklärt, die sich in Andy Warhols Brillo Boxes konkretisiert.25 In Hamburgers Argumentation dient das Phänomen der erlebten Rede als Beleg ihrer These, dass das epische Präteritum, das sie als »Schlüsselproblem

|| 22 Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 72007, S. 51–53. 23 Inwieweit erzähltheoretische Debatten vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch von der Betroffenheit durch die literaturkritische Frage tingiert waren, welches eine angemessene Form modernen Erzählens wäre, lässt etwa die Lektüre von Walzel: Objektive Erzählung erahnen. 24 Robert Petsch: Epische Grundformen, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 16 (1928), S. 379–399. Petsch sieht den Bericht als Hauptdarstellungsform der ›Epik‹; er werde gelegentlich unterbrochen durch Formen wie ›Betrachtung‹, ›Beschreibung‹, ›Darstellung‹, ›Gespräch‹, ›Bild‹ und ›Szene‹. Damit markiert Petsch eine von Hamburgers späteren Überlegungen maximal entfernte Position. In dem die Überlegungen von 1928 weiterführenden, 1931 erschienenen Aufsatz über den epischen Dialog geht Petsch dann auch auf die erlebte Rede ein und analysiert sie als inneren Dialog einer dargestellten »Seele« mit sich selbst (ders.: Dialog, S. 205). 25 Vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst [1981]. Frankfurt a. M. 1991.

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der gesamten Logik der Dichtung« versteht,26 nicht Vergangenheit, sondern Fiktionalität anzeige. Mit dieser These tritt sie der in der Erzähltheorie der Vorkriegszeit dominanten Auffassung entgegen, das Präteritum der fiktionalen Erzählung verweise darauf, dass sie, in den Worten Petschs, in eine »phantasiemäßig gestaltete Vergangenheit« versetze.27 In der Fiktion werde, so dagegen Hamburger, »eine reale Ich-Origo durch fiktive Ich-Origines ersetzt«, und das Präteritum zeige ein »fiktives Jetzt und Hier« an.28 Die erlebte Rede sei »unter Beibehaltung der epischen Berichtform und damit des Präteritums das adäquateste […] Mittel […], die Gestalten in ihrer Ich-Originität zur Darstellung zu bringen«.29 Darüber hinaus beweise die erlebte Rede die Hamburger’sche Hauptthese, dass das fiktionale Erzählen eine Funktion und nicht eine Art von Aussage sei, »weil sie [die erlebte Rede, D. W.] eben die äußerste Konsequenz ist, die das fiktionale Erzählen sozusagen aus sich selbst zu ziehen imstande ist und zu der die Wirklichkeitsaussage wesensmäßig nie gelangen kann«.30 Im Zusammenhang mit ihren Überlegungen zur erlebten Rede weist Hamburger darauf hin, dass »[g]erade die Imperfektform« der erlebten Rede als der »Wiedergabe des unformulierten Bewußtseinsstroms in der dritten Person« der »Sprach- und Literaturtheorie« zum Problem geworden, dessen Auflösung aber nicht gelungen sei.31 Dass sich hinter den angesprochenen Problemlösungsversuchen ›der‹ Sprach- und Literaturtheorie eine in den 1910er und 1920er Jahren geführte Debatte zur Erklärung des Phänomens der erlebten Rede verbirgt, dokumentiert Hamburger nur in Ansätzen, indem sie auf vereinzelte Beiträge zu der Debatte verweist.32 Genauere Hinweise finden sich allerdings in der Vorstudie zur Logik der Dichtung, die 1953 unter dem Titel »Das epische Präteritum« in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte erschienen ist. Darin kritisiert Hamburger unter anderem Oskar Walzels in seinem 1924 zuerst erschienenen und 1926 in dem Band Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung wieder abgedruckten Aufsatz »Von ›erlebter‹ Rede« getroffe|| 26 Käte Hamburger: Logik, Vorwort [unpaginiert]. 27 Robert Petsch: Grundformen, S. 381: »Während das Drama in einer idealen Gegenwart sich vor uns abspielt, versetzt uns das Epos (auch wo es Gegenwärtiges darstellen will) in eine phantasiemäßig gestaltete Vergangenheit; die Erstreckung der Welt erfolgt dort in den imaginären Raum, hier in die dichterische Zeit hinein, die gegebene sprachliche Grundform der Darstellung ist das ›Präteritum‹: ›Es war einmal‹.« 28 Käte Hamburger: Logik, S. 41. 29 Ebenda, S. 44. 30 Ebenda, S. 99–100. 31 Ebenda, S. 41. 32 Vgl. ebenda den Hinweis auf einen zur Zeit des Erscheinens der Logik der Dichtung aktuellen Beitrag von Gerhard Storz von 1955.

110 | Dirk Werle ne beiläufige Feststellung, die erlebte Rede sei keine »natürliche Weise des Ausdrucks«,33 als »töricht[]«.34 Walzel rekapituliert in seinem Aufsatz die Geschichte des Ausdrucks ›erlebte Rede‹, des damit bezeichneten Phänomens und seiner Erforschung. Den Ursprung des Terminus situiert Walzel in Etienne Lorcks Abhandlung Die ›erlebte Rede‹. Eine sprachgeschichtliche Untersuchung von 1921;35 den Ursprung der Erforschung des Phänomens lokalisiert er in der deutschen Romanistik des 19. Jahrhunderts;36 die Entstehung des Phänomens selbst rekonstruiert Walzel für die deutsche Literaturgeschichte als mehrstufigen Prozess, der sich im Verlauf vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ereignet habe.37 Walzel hebt einerseits hervor, dass die erlebte Rede »an altgewohnte Ausdrucksweise heranreicht«,38 dass sie andererseits nicht ohne Grund im Zusammenhang mit moderner »Eindruckskunst« zu voller Entfaltung gekommen sei, insofern hier der Wunsch realisiert werde, einen »Vorgang wie eine Spiegelung erscheinen zu lassen, die sich dem einzelnen Menschen der Erzählung ergibt«.39 Bereits Walzel weist darauf hin, dass in der erlebten Rede des fiktionalen Erzähltexts Sätze vorkommen können, die in einem nichtfiktionalen Text sprachlogisch Unsinn wären, nämlich Sätze wie: »Morgen würde es natürlich in aller Munde sein.«40 Sätze dieses Typs dienen Hamburger später bekanntlich als Indiz dafür, dass das epische Präteritum anderen sprachlogischen Gesetzmäßigkeiten folgt als das normale Präteritum. Und schon Walzel macht deutlich, dass »die Erzählung […] den Gesichtspunkt des Erzählers« aufgibt, was er mit einem »Streben nach Objektivität« erklärt.41 Hier ist also bereits die Einsicht ausgesprochen, dass ein Erzähler in der Erzählung nicht durchgängig präsent sein muss, eine Einsicht, die Hamburger später nur noch zu verallgemeinern braucht. Allerdings kehrt sie auch den Blickwinkel um: Wo Walzel davon ausgeht, dass der stets, wenn auch nur im Hintergrund, präsente Erzähler seine Stimme gelegentlich an die Figuren abtritt, geht Ham-

|| 33 Oskar Walzel: Von ›erlebter‹ Rede [1924], in: ders.: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Leipzig 1926, S. 207–230, hier: S. 222. 34 Käte Hamburger: Das epische Präteritum, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), H. 3, S. 329–357, hier: S. 346. 35 Oskar Walzel: Von ›erlebter‹ Rede, S. 208. 36 Ebenda, S. 207. 37 Ebenda, S. 208–212. 38 Ebenda, S. 220. 39 Ebenda, S. 224. 40 Ebenda, S. 214. 41 Ebenda, S. 228–229.

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burger umgekehrt davon aus, dass primär das Erzählen da ist und die Figur des Erzählers nachträglich hinzutreten kann. Leo Spitzer bezieht sich in einem 1928 in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift erschienenen ›Kleinen Beitrag‹ »Zur Entstehung der sog. ›erlebten Rede‹« unter anderem auf Walzels Aufsatz, wenn er dafür argumentiert, die erlebte Rede als »Nachahmung des Tonfalles eines Sprechers« zu verstehen.42 Spitzer greift Walzels Formulierung auf, erlebte Rede sei häufig ein Resultat des Versuchs, »nur durch Darstellung, also möglichst mimisch und bloß eindruckhaft zu wirken«,43 und bestimmt die erlebte Rede als »Mittelding zwischen Rede und Bericht«44 dergestalt, dass der schriftliche Bericht die mündliche beziehungsweise gedankliche Rede mimisch nachahme. Auch diese Bestimmung der erlebten Rede als Nachahmung braucht Hamburger später nur noch zu verallgemeinern, um zu ihrem Konzept der Fiktion als Mimesis von Wirklichkeit zu gelangen. Im selben Jahrgang der Germanisch-Romanischen Monatsschrift, in dem Spitzers Beitrag erscheint, findet sich auch ein Aufsatz von Eugen Lerch, wie Spitzer Romanist, mit dem Titel »Ursprung und Bedeutung der sog. ›Erlebten Rede‹ (›Rede als Tatsache‹)«, in dem er die erlebte Rede mit dem Phänomen identifiziert, das er, Lerch, selbst bereits 1914 mit dem Terminus »Rede als Tatsache« bezeichnet hatte.45 Sie beruhe, so Lerch, auf einer »Einfühlung des Autors in sein Geschöpf«;46 es handle sich um die Darstellung einer »Tatsache, || 42 Leo Spitzer: Zur Entstehung der sog. ›erlebten Rede‹, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 16 (1928), S. 327–332, hier: S. 328. Christian Winkler: Erzählerhaltung und Anteilnahme, in: Zeitschrift für Deutsche Bildung 8 (1932), S. 548–556 unterscheidet, ohne explizit auf die Diskussionen um erlebte Rede Bezug zu nehmen, verschiedene Formen der »Anteilnahme«, die ein Erzähler bei der Wiedergabe von Worten und/oder Gedanken seiner Figuren zum Ausdruck bringen kann. Winkler unterscheidet »Färbung«, »Abtönung« und »Abschattung« (ebenda, S. 553–554). Er argumentiert vom Modell des mündlichen Erzählers aus, das nach dem Muster des antiken Rhetors gestaltet zu sein scheint und das Hamburger, aber auch Kayser später explizit ablehnen. Entsprechend leitet Winkler die Formen der »Anteilnahme« des Erzählers von der nahegelegten Deklamationshaltung ab. 43 Oskar Walzel: Von ›erlebter‹ Rede, S. 227. 44 Leo Spitzer: Entstehung, S. 328. 45 Eugen Lerch: Ursprung und Bedeutung der sog. ›Erlebten Rede‹ (›Rede als Tatsache‹), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 16 (1928), S. 459–478. Bereits Walzel hatte in seinem Aufsatz die Ansicht geäußert, dass das von Lerch beschriebene Phänomen dasselbe sei wie erlebte Rede. Vgl. Oskar Walzel: Von ›erlebter‹ Rede, S. 208. Hamburger verweist auf Lerchs thematisch ebenfalls einschlägigen Aufsatz Die stilistische Bedeutung des Imperfekts der Rede, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 6 (1914), S. 470–481. Vgl. Käte Hamburger: Logik, S. 99. 46 Eugen Lerch: Ursprung, S. 465.

112 | Dirk Werle gesehen durch die sie erlebende Person«.47 Lerch behauptet, das Phänomen trete zuerst bei Gustave Flaubert auf, und wie Walzel identifiziert er es als »Kennzeichen des impressionistischen Stils« in der modernen Literatur.48 Erlebte Rede wähle ein Autor immer dann, wenn er »auf eine Stellungnahme verzichten« wolle; es handle sich um die »Selbstausschaltung des Autors«.49 Diese Beschreibung wird, wie schon angedeutet, Hamburger später umkehren: Für sie ist erlebte Rede nicht ein erzählerisches Mittel unter vielen, und zwar eines, mit dem sich der Autor-Erzähler selbst ausschalten kann, sondern sie ist die basale Form fiktionalen Erzählens, die sichtbar werden lässt, dass der Autor-Erzähler im Grunde immer schon ausgeschaltet ist. Lerch teilt Spitzers Ansicht, die erlebte Rede sei kein genuin literarisches Phänomen, sondern habe ihren Ursprung in der »umgangssprachlichen Verwendung«.50 Im Zusammenhang mit der Erläuterung dieser These diskutiert Lerch auch eine für Hamburgers spätere Theorie des epischen Präteritums relevante Frage, nämlich die, ob »nur die Literatur die Umsetzung [der erlebten Rede, D. W.] ins Präteritum« kenne.51 Lerch zeigt, »daß die Umgangssprache die Erlebte Rede genau so mit dem Präteritum gebrauchen kann wie mit dem Präsens«.52 Allerdings konzediert er Spitzer, dass das Präteritum der erlebten Rede vorwiegend in literarischen Texten vorkomme; als Ursache vermutet er stilistische und grammatische Besonderheiten, ohne sich hier präziser zu äußern.53 Damit ist der Punkt bezeichnet, an dem Hamburger später ihre theoretische Begründung einsetzt – allerdings unter Vernachlässigung der Tatsache, dass die erlebte Rede in der Umgangssprache ebenso im Präsens wie im Präteritum auftreten kann. Die vorstehende Rekonstruktion eines Teils der erzähltheoretischen Debatte um das Phänomen der erlebten Rede in der deutschen Literaturwissenschaft der 1920er Jahre zeigt, dass Hamburgers Erläuterung der Besonderheiten fiktionalen Erzählens unter argumentativem Rückgriff auf das Phänomen der erlebten Rede der Sache nach auf vorgängigen literaturtheoretischen Entwicklungen fußt, die an vielen Punkten bereits so weit getrieben waren, dass Hamburger nur noch einen letzten, entscheidenden Schritt hinzufügen musste, um zu ihrer

|| 47 Ebenda, S. 466. 48 Ebenda, S. 468. 49 Ebenda, S. 471. 50 Ebenda, S. 473. 51 Ebenda. 52 Ebenda. 53 Ebenda, S. 474.

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Theorie zu gelangen: die Systematisierung der Theorie der erlebten Rede im größeren Rahmen ihrer Erzähltheorie.54

3 Die Icherzählung In ihren Ausführungen zum Phänomen der Icherzählung charakterisiert Hamburger diese als Sonderform der Dichtung, als Form, die man weder als Wirklichkeitsaussage noch als Fiktion im Sinne von »Nicht-Wirklichkeit« auffassen könne.55 Letzteres verbiete sich, da die Icherzählung sich selbst »als NichtFiktion, nämlich als historisches Dokument« setze.56 Es handle sich stattdessen bei der Icherzählung um eine »fingierte[] Wirklichkeitsaussage«.57 Diese Art fingierter Wirklichkeitsaussage besitze in dem ›Ich‹ sagenden Redesubjekt, anders als die fiktionale Ererzählung, durchaus auch einen Erzähler.58 Entsprechend sei »das Präteritum des Ichromans kein episches Präteritum«; es bezeichne »die Vergangenheit des Icherzählers«, wogegen das epische Präteritum der fiktionalen Ererzählung »die fiktive Gegenwart der Romanperson« bedeute.59 Die Frage, ob eine Icherzählung fingiert oder referentiell ist, lässt sich nach Hamburger nicht anhand einer an der Textoberfläche ablesbaren logischen Aussagestruktur beantworten, sondern muss durch textexterne Hinweise oder wenigstens durch kontingente, nicht-notwendige Aspekte des Texts geklärt werden. Im Punkt der Icherzählung ähnelt Hamburgers Theorie pragmatischen Fiktionstheorien etwa John Searles oder Kendall Waltons, die davon ausgehen, dass der ontologische Status eines Texts nicht anhand von Textmerkmalen, || 54 Ähnlich stellt es bereits Franz Karl Stanzel: Begegnungen mit Erlebter Rede 1950–1990, in: Erlebte Rede und impressionistischer Stil. Europäische Erzählprosa im Vergleich mit ihren deutschen Übersetzungen, hg. v. Dorothea Kullmann. Göttingen 1995, S. 15–27, vor allem S. 19– 20, dar. Stanzel weist in seinem Beitrag auch bereits auf die für die Theorie der erlebten Rede relevanten Aufsätze von Walzel, Spitzer und Lerch hin (ebenda, S. 16 und S. 19). Darüber hinaus gibt er eine die wissenschaftsgeschichtliche These des vorliegenden Beitrags, dass Hamburgers Erzähltheorie einschlägige Ergebnisse der Vorkriegszeit vergessen gemacht hat, stützende Zeitzeugenauskunft: Er habe während seines Studiums nie etwas von ›erlebter Rede‹ gehört; seine erste Bekanntschaft mit dem Begriff beziehungsweise mit einer theoretischen Beschreibung des Phänomens gehe auf die Lektüre von Hamburgers Arbeiten der 1950er Jahre zurück (ebenda, S. 15). 55 Käte Hamburger: Logik, S. 222. 56 Ebenda. 57 Ebenda, S. 224. 58 Ebenda, S. 225. 59 Ebenda, S. 226–227.

114 | Dirk Werle sondern anhand der Bestimmung seiner Rolle in einem Sprachspiel geklärt wird. Auch für die Theorie der Icherzählung gab es in der Literaturtheorie der Vorkriegszeit einen bedeutenden Referenztext, nämlich Kurt Forstreuters Abhandlung Die deutsche Icherzählung. Eine Studie zu ihrer Geschichte und Technik von 1924.60 Forstreuter definiert die Icherzählung als »sprachliche Dichtung, in welcher der Erzähler eigene Erlebnisse vorträgt«.61 Bereits Forstreuter postuliert mit Blick auf die Icherzählung eine konsequente Trennung von Autor und Erzähler. Diese konsequente Trennung sieht er, anders als später Hamburger, als notwendige methodologische Maxime für das Verständnis aller Erzähltexte. Die konsequente Trennung von Autor und Erzähler ist, wie bereits angedeutet, keine Erkenntnis der Nachkriegszeit; sie ist, im Anschluss an Käte Friedemanns 1910 erschienene Studie zur Rolle des Erzählers in der Epik, bereits in den 1920er Jahren etabliert.62 Hamburgers These von der unpersönlich zu denkenden Erzählfunktion in fiktionaler Ererzählung stellt eine Abweichung vom terminologisch-theoretischen common sense der Zeit dar, den Forstreuter mit Blick auf die Icherzählung repräsentiert. Trotz der unterschiedlichen theoretischen Basisannahmen stimmen Hamburgers und Forstreuters Überlegungen zur Icherzählung jedoch über weite Strecken überein: Schon Forstreuter macht darauf aufmerksam, dass die Unterscheidung von fingiert und real im Falle der Icherzählung nicht im Sinne einer distinkten Dichotomie, sondern im Sinne einer Skala zu denken ist, auf der sich unterschiedliche Texte anordnen lassen.63 Zwar ist Forstreuter auch in dieser Hinsicht Vertreter eines common sense, an dem sich Hamburger später abarbeitet, dass auch er die Gattung der Epik mit dem Tempus der Vergangenheit assoziiert und in diesem Zusammenhang die Rolle des Erzählers bestimmt: »Um das Vergangene zum Leben zu erwecken, ist ein Medium, der Erzähler, nötig.«64 Aber mit Blick auf die Icherzählung kehren sich die Positionen beinahe um: Wo Hamburger ins Feld führt, dass gerade die Icherzählung tatsächlich erkennbar Vergangenes berichte, da behauptet Forstreuter zwar nicht gerade, die Icherzählung beziehe sich auf Gegenwärtiges, aber eine Tendenz in dieser Richtung im Sinne gegenwärtiger Vermittlung von Wirklichkeitsillusion durch ein Zurücktreten des Erzählers findet sich in Forstreuters

|| 60 Kurt Forstreuter: Die deutsche Icherzählung. Eine Studie zu ihrer Geschichte und Technik. Berlin 1924. 61 Ebenda, S. 40. 62 Vgl. jedoch die differenzierenden Bemerkungen von Claudia Löschner: Denksystem, S. 25. 63 Kurt Forstreuter: Icherzählung, S. 41. 64 Ebenda, S. 48.

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Argumentation durchaus.65 Auf diesem Weg gelangt Forstreuter, das Verhältnis von Fiktionalität und Icherzählung betreffend, zu einer ähnlichen These wie später Hamburger: »Letzten Endes liegt die Wirklichkeitsillusion des Icherzählers darin, daß der geheimnisvolle Vorgang des Dichtens, der hinter jeder Dichtung steht, hinweggetäuscht wird, indem man die Dichtung scheinbar als Autobiographie des Erzählers entstehen sieht.« Diese »fingierte Autobiographie« trete, so Forstreuter, in verschiedenen Formen auf.66 Entsprechend dieser Position, die grundsätzliche Unterschiede zwischen Ich- und Ererzählung impliziert, kommt Forstreuter zu einer These, die bereits den Weg zu Hamburgers Unterscheidung von Erzählfunktion der Ererzählung einerseits und Erzählerfigur der Icherzählung andererseits andeutet: »Der Ererzähler kommt, wie der Gott des Pantheismus, nur in der Tätigkeit selbst, dem Erzählen, zum Vorschein. Der Icherzähler aber ist der persönliche vermenschlichte Gott, der Schöpfer der Erzählung.«67 Bemerkenswert ist hier die Analogie von Erzähler und Gott, die später Kayser in seinem Aufsatz aufgreifen wird, aber nicht im Anschluss an Forstreuter, sondern an Manns Erwählten.68 Wenn Hamburger hingegen auf den Erwählten referiert, dann spielt für sie die Analogie keine Rolle; gleichwohl entspricht ihre Sichtweise in diesem Punkt der Sache nach im Wesentlichen der Forstreuters.69

4 Fazit: Die Entstehung des Neuen Die vorangegangenen Explorationen zeigen, dass Käte Hamburgers Erzähltheorie der Sache nach auf Diskussionen und Theorien aufbaut, die in der deutschsprachigen literaturtheoretischen Diskussion der 1920er und 1930er Jahre geführt beziehungsweise entwickelt wurden. Wenn sie auf die einschlägigen Forschungsbeiträge in ihrer Logik der Dichtung nicht explizit verweist, dann ist || 65 »Die Wirklichkeitsillusion betreffend, ist der Vorzug der Ichform vor der Erform nun dieser: in der Ichform sieht man den Erzähler selbst in Szene, während der Ererzähler als Person hinter der Szene bleibt« (ebenda, S. 49). 66 Ebenda, S. 50. 67 Ebenda, S. 57. 68 Vgl. auch Eduard Spranger: Perspektivismus, S. 71: »[Der Dichter, D. W.] ist ein kleiner Gott, mag er auch nur ewige Weltgesetze nachschaffend befolgen, wo er uns ganz original zu schaffen scheint.« 69 Vgl. Kurt Forstreuter: Icherzählung, S. 67: »Unmittelbar gegenwärtig ist nur das Erzählen, und das Erzählen charakterisiert nur den Erzähler. Ein persönlicher, also menschlich charakterisierbarer Erzähler ist nur in der Ichform vorhanden.«

116 | Dirk Werle das nicht etwa ein Zeichen wissenschaftlicher Unredlichkeit. Es hat möglicherweise mit dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht seltenen Bewusstsein zu tun, durch den soeben erlebten Kultur- und Zivilisationsbruch von der Zeit vor 1933 durch einen unüberbrückbaren Graben getrennt zu sein, ein Bewusstsein, das auch Hamburger in einem Brief an Joseph Körner zum Ausdruck bringt: »Wenn ich Schriften von vor 1933 lese, ist es wie eine ferne Vergangenheit.«70 Es entsprach darüber hinaus nicht unbedingt den zeitgenössischen Erwartungen an literaturwissenschaftliche Abhandlungen, Referenztexte und -autoren penibel und in extensiver Form nachzuweisen. Umfangreiche Fußnotenapparate, wie sie in heutigen literaturtheoretischen Monographien üblich sind, hätten in der Literaturwissenschaft der 1950er, aber auch der 1920er und 1930er Jahre eher als unelegant gegolten. Das trifft insbesondere für Texte zu, die allgemeine Fragen der Literaturwissenschaft behandelten. Dass es in den 1920er und 1930er Jahren Beiträge und Debatten zum Thema Erzähltheorie nicht gegeben hätte, kann man nicht sagen. Sie sind womöglich rückblickend nicht leicht als solche identifizierbar, weil sie nicht als Beiträge zur Erzähltheorie, sondern zur Gattungstheorie, nämlich zur Bestimmung und Beschreibung der Makrogattung ›Epik‹ und ihrer Subgenres, klassifiziert wurden. Das kann man etwa erkennen, wenn man in der zeitgenössischen Bibliographie zur germanistischen Literaturwissenschaft, in den Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte, die einschlägigen Forschungsbeiträge recherchiert: Sie sind hier als allgemeine Beiträge zur Makrogattung Epik (neben Lyrik und Dramatik) erfasst; eine differenziertere Rubrik zu Fragen der Literatur- oder gar der Erzähloder auch Fiktionstheorie kennen die Jahresberichte nicht.71 Das Verhältnis von Hamburgers Logik der Dichtung zu erzähltheoretischen Vorläuferbeiträgen lässt sich auf der Basis der angestellten theoriehistorischen Explorationen allgemein so charakterisieren, dass sie mit ihren Überlegungen zur Erzähltheorie eng an den Forschungsstand der Vorkriegszeit anschließt. Ihre Leistung besteht weniger darin, weit über diesen Forschungsstand hinauszugehen, sondern die Einzelergebnisse der Vorkriegsdebatten und -untersuchungen in ein dem Anspruch nach kohärentes und konsistentes theoreti|| 70 Käte Hamburger an Joseph Körner, 12.5.1946, zitiert nach Petra Boden: Es geht ums Ganze! Vergleichende Beobachtungen zur germanistischen Literaturwissenschaft in beiden deutschen Staaten 1945–1989, in: Euphorion 91 (1997), H. 2, S. 247–275, hier: S. 247. 71 Die These, dass die deutschsprachige Erzähltheorie der Nachkriegszeit aus der Romantheorie der Vorkriegszeit hervorgegangen ist, machen Anja Cornils und Wilhelm Schernus: On the Relationship between the Theory of the Novel, Narrative Theory, and Narratology, in: What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory, hg. v. Tom Kindt und Hans-Harald Müller. Berlin, New York 2003, S. 137–174, plausibel.

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sches System einzupassen. Dass dabei die entscheidenden Impulse, so wie Hamburger sie explizit macht, nicht disziplinintern von der deutschen germanistischen Literaturwissenschaft ausgingen, sondern von der transdisziplinären Auseinandersetzung mit Beiträgen zur Sprachwissenschaft und Philosophie sowie mit zeitgenössischer Literatur, ändert nichts an der Tatsache, dass aus der Perspektive der Entwicklungslogik der wissenschaftlichen Subdisziplin ›germanistische Literaturwissenschaft/Literaturtheorie‹ die durch die Logik der Dichtung bewirkte Innovation nicht etwa als ›Paradigmenwechsel‹ zu beschreiben ist, sondern als Anschlussforschung im Rahmen existierender Paradigmen.

Claudia Löschner

»Ein sehr großer Dichter und schwacher Mensch« Käte Hamburgers Herleitung des Lyrikbegriffs am Beispiel Rilkes Abstract: Käte Hamburger developed her analysis of the work of Rainer Maria Rilke over several decades. The article demonstrates that her theory of fiction as outlined in The Logic of Literature is closely intertwined with her interpretation of Rilke’s ›Dingdichtung‹. In her reading of Rilke, Hamburger particularly emphasizes the continuity of a form of perception which she recognizes as the concept of Husserl’s ›Wesensanschauung‹ and which leads to her well-known notion of the »Phänomenologischen Struktur der Dichtung Rilkes«. According Hamburger, Rilke’s poetics is based on a sensibility, which in relation to Husserl explores and grasps the innermost essence of animated things – an idea that is compatible to recent debates on the ›subjectivity‹ and ›agency‹ of things. In Rilke’s poems the structure that Hamburger considers the basic structure of poetry is pushed to an extreme. The lyric subject surpasses itself: the subject no longer expresses its own feelings, but ultimately starts to provide information about the external emotions of animated things. For Hamburger, Rilke’s poetry almost reaches the specific »structure of the fictional discourse«: the transformation of Rilke’s poetry into the epic form of fiction, which for her is a superior mode of writing, seems only a stone’s throw away.

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe)? Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) Bin dein Gewand und dein Gewerbe, mit mir verlierst du deinen Sinn.1

Das klingt doch eigenartig, »im religiösen Sinn nahezu blasphemisch« (R52), so scheint es Käte Hamburger, auf der Suche nach Gott überhebt sich ein lyrisches || 1 Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch / enthaltend die drei Bücher / Vom mönchischen Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armuth und vom Tode (1899–1903) [ersch. 1905], in: ders.: Werke. Frankfurt a. M. 1955, Bd. 2, S. 249–366, hier: S. 275. Zitiert von Käte Hamburger in: dies.: Rilke. Eine Einführung. Stuttgart 1976, S. 52 (im Nachfolgenden zitiert mit der Sigle R).

120 | Claudia Löschner Ich in Rilkes Stunden-Buch (das doch immerhin Titel eines mittelalterlichen Gebetsbuches trägt). Dieses lyrische Ich übertritt die Grenzen seiner Rolle, »man darf sagen, versteigt sich« (R54). Es beginnt, die Erkenntnisrelation umzukehren, so dass Gott schließlich »nur noch als Denk- oder Sinnerzeugnis des Ich Existenz zu haben scheint« (R52). Im »dahinflutenden Strom der Gedichte« (R46) des formal ganz uneinheitlich gestalteten Stunden-Buchs ist vor allem von der Suche eines russischen Mönchs, von der Suche dieses ›Beter-Ichs‹ nach Gott die Rede. Dabei maßt es sich die Rolle als Gott-Erschaffendes jedoch nicht durchgehend an: Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein grosser Gesang. (R47)2

Seine Gottsuche ist, so deutet es sich hier an, im selben Maße eine Suche nach dem Selbst, »das Ich ist sich seines eigenen Wesens und Standorts noch nicht klar bewußt« (R47). Beide Seiten dieser Bet-Relation – der, der hier betet und sein Gegenstand – stehen noch längst nicht fest. Der Beter benutzt »[z]ahllose Bilder, Verkleidungen, und zwar bizarrster Art, keine direkten, durch biblische Vorstellungen eingegebenen Darstellungen Gottes […], sondern Metaphern, von denen an sich keine auf Gott passt« (R49). Die erstaunlichen Zuschreibungen an Gott lauten etwa: »du Ängstlicher« (R51), »Du bist der raunende Verrußte, / auf allen Öfen schläfst du breit. […] Du bist der Schlichte, welcher sparte, / du bist der Bauer mit dem Barte« (R48–49) und andere mehr. Die Anreden Gottes im Stunden-Buch sind also nicht allein anmaßend und selbst-übersteigernd, sondern häufig schlicht verwirrend – »übersteigerte[], bizarre[], nahezu abstruse[] Vorstellungen« (R61). Doch schließlich, so sehr sich das Ich in einem Teil der Gedichte eigenartig gebärdet, so schwingt es im nächsten Augenblick zurück und wählt – annähernd – den Ton, der herkömmlicherweise von einem ›Gebet‹ erwartet wird: Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin, wenn ich mich nur in deine Nähe stelle. Du bist so dunkel; meine kleine Helle an deinem Saum hat keinen Sinn. (R51)3

|| 2 Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch, S. 254. 3 Ebenda, S. 269.

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Das Ich reduziert sich plötzlich selbst zum Beinahe-Nichts, es schwingt zurück in eine Geste von Devotion und Anbetung. Doch um das Beten geht es, Hamburger zufolge, in den Gedichten des Stunden-Buchs eigentlich überhaupt nicht. »Das Umkreisen [Gottes] ist Bild für Erkennenwollen« (R47), genauer: Rilkes Lyrik liefere Bilder für das erkennende, erkennenwollende Verhalten des Ich, ja für die elementare Polarität von Ich und Sein, logisch gesprochen von Subjekt und Objekt. Die Gebete wogen vom Seinspol zum Ichpol hin und her, verlagern sich bald auf den ersteren, für den Gott als Name eingesetzt ist und vor dem das Ich sich auszulöschen scheint, bald auf den letzteren, auf das sich behauptende Ich, das als notwendige Bedingung des Seinsgottes weiß, nämlich als ihn Nennender und damit sogar ihn erst Erschaffender, bis zu der äußersten, extremen Position, wo der Seinsgott nur noch als Denk- oder Sinnerzeugnis des Ich Existenz zu haben scheint. (R51–52)

Sehr deutlich klingen hier die Sprache und der Gestus der Logik der Dichtung an, wo Hamburger – wenn auch etwas indirekt – die beiden »Pole«, »Subjektpol« und »Objektpol« als Bestandteile der durch die Subjekt-Objekt-Struktur geprägten Erkenntnisrelation herleitet.4 In ihrer Analyse des Stunden-Buches geht es damit um das zuletzt säkulare und allgemeine Thema der Erkenntnis, und insofern nach Hamburger sogleich um ein doppeltes Erkenntnisproblem. Nicht allein um die Frage nach der Erkenntnis des Seienden überhaupt – als dessen Inbegriff Rilke Gott setzt –,5 sondern um die Erkenntnis des Selbst, und noch eigentlicher um die Erkenntnis der Natur sowie der Stellung des Menschen im Universum.6 Im Zentrum steht seine doppelte Situation, die Situation des Ich, das als Erkenntnissubjekt das Seiende erkennt und gleichzeitig selbst ein Seiendes ist. Die Problematik, »daß der Mensch sich sowohl im Sein, wie auch gegenüber dem Sein erfährt, als ein anderes, als dasjenige einzige Wesen unter den Seienden Dingen, das das Sein weiß, es erkennen und benennen kann« (R52). Diese doppelte Stellung bereitet Selbstfindungs- und PositionierungsSchwierigkeiten, mal sieht das Ich sich überlegen und herausgehoben, da es || 4 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 169 (im Nachfolgenden zitiert mit der Sigle LdD und Seitenzahl); Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 40, 83–84, 124–133. 5 Nach Hamburgers Lesart ist der Kern des Stunden-Buches die »Gottes- oder Seinsthematik« (R57), »und das heißt nichts anderes als die des Seinserlebnisses« (R50): »Die Gruppe der Ichbin-Gebete ist von hier aus zu interpretieren. Im ständigen Hin- und Her wechseln sie mit den Du-bist-Gebeten ab, und eben dieser Wechsel ist als das Gefüge des Werkes zu verstehen, durch welches das Verhältnis von Ich und Sein sich ausdrückt« (R50). 6 Zu dieser zeitgenössischen Problematik und Frage nach dem menschlichen Selbstbewusstsein vgl. den Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band.

122 | Claudia Löschner den Seinselementen und dem Seinsgott erkennend gegenübersteht und da es im Unterschied zu Ding und Tier Bewusstsein vom eigenen Sein besitzt. Mal dringt ihm seine, davon unabhängig geltende, eigene Endlichkeit und Begrenztheit ins Bewusstsein und Gott und Universum geraten ihm wieder zur Übermacht. So hilft dem menschlichen Subjekt sein besonderes Vermögen zur Erkenntnis letztlich nichts. Geistig mag zwar das Ich seine körperliche Existenz transzendieren können, doch immer wieder wird es zurückgeworfen auf seine körperlichen und zeitlichen Grenzen. Nur durch eine bestimmte Einseitigkeit des Blickes verliert das menschliche Subjekt das ihm angemessene Maß, so lautet der Sinnphilosophie Paul Hofmanns7 zufolge die Begründung dieser Erkenntnisproblematik. Nur durch einseitiges Hinsehen auf sein Erkenntnisvermögen kann dem Subjekt die Idee einer Abhängigkeit Gottes von ihm, ja die Vorstellung einer unweigerlichen Vernichtung Gottes zugleich mit seinem eigenen Ende in den Sinn kommen. Es handelt sich nach Hofmann um einen Denkfehler, den ihm die Ebene seines Erlebens nahelegt. Das Ich kann die Welt nicht ohne sich selbst erleben und denken. Mit dem Bewusstsein seiner eigenen Endlichkeit drängt sich ihm die (irrige) Vorstellung eines gleichzeitigen Endes allen Seins auf – was nach Hamburger in der Zeile anklingt: «Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?« (R52). Diese Aporie, die Tatsache der »Erlebensunmöglichkeit« der Welt ohne das eigene Ich, der in einem frühen Aufsatz Käte Hamburgers als Aspekt des »Todesproblem[s] bei Jean Paul« herausgearbeitet wird,8 hatte Paul Hofmann zum Ausgangspunkt seines Denkens gewählt. Hofmann nennt die Subjekt- und Sinnvergessenheit, das Absehen von der unausweichlichen Subjektivität jeden Welterlebens, den eigentlichen Grund für die »Krise des Abendlandes« – einem zur selben Zeit, das heißt in den 1920er bis 1930er Jahren bekanntlich viel bemühten Schlagwort. Nach Hofmann gründet diese Krise in einer Überbetonung der objektivistischen Weltsicht, die mit der Kultur der griechischen Antike ein|| 7 Der Berliner Ordinarius für Philosophie Paul Hofmann (geb. 1880) war der Verlobte Käte Hamburgers, er verstarb bereits 1947. Insgesamt existiert bislang sehr wenig Forschung über Hofmann vgl. Gunter Wirth: Paul Hofmann, die Berliner Universität und seine neue Humanitätsphilosophie, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61.4 (2009), S. 356–371; Claudia Löschner: Denksystem, S. 95, Anm. 235, bes. zu Hamburgers Bezugnahme auf Hofmann S. 105–118. 8 Zu Hamburgers Kommentierung Jean Pauls nach Maßstäben Paul Hofmanns: Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 446–474, hier: insb. S. 457 (wiederabgedruckt in: Jean Paul, hg. v. Uwe Schweikert. Darmstadt 1974, S. 74–105, hier: insb S. 97. Hamburger erläutert Hofmanns Subjektphilosophie (als Bezugnahme auf Karl Jaspers) in: Käte Hamburger: Vorwort, in: Paul Hofmann: Problem und Probleme einer Sinn-erforschenden Philosophie, hg. v. Käte Hamburger. Stuttgart 1980, S. 10.

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gesetzt habe.9 Er analysiert die objektivistische Tendenz als »Sinnkrise«, dem seine Sinnphilosophie Abhilfe schaffen soll.

1 Rilke und Husserl: »Wenn Husserl Gedichte zu lesen verstanden hätte…« 10 Hamburgers Bezugnahme auf Rilke zieht sich über viele Jahrzehnte.11 Publikatorisch beginnt sie 1943 mit dem kleinen Aufsatz »Rainer Maria Rilkes schwedische Reise«.12 Es folgen 1949 eine schwedische Monographie über Rilke bei Berman-Fischer in Stockholm und, die zweifellos bekannteste Veröffentlichung Hamburgers über Rilke, der recht umfangreiche, zudem mehrfach erweiterte Aufsatz »Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes«, der zuerst 1966 als schmales Buch erschienen und mehrmals wiederveröffentlicht und auch übersetzt worden ist.13 Außerdem erschienen der Sammelband Rilke in neuer Sicht (1971) unter Hamburgers Herausgeberschaft sowie der Band Rilke, eine Einführung (1976), der aus einer Stuttgarter Rilke-Vorlesung Hamburgers ent-

|| 9 Zum weitgreifenden zeitgenössischen Krisenempfinden, auf das sich Hamburger (wie Hofmann) bezogen vgl. den Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band. 10 »Wenn Husserl Gedichte zu lesen verstanden hätte, so hätte er in der lyrischen ›Methode‹ der Neuen Gedichte eine erstaunliche Entsprechung der phänomenologischen Schauensmethode entdecken können.« Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 10 (1965), S. 217–234, hier: S. 227. 11 Hamburgers Rilke-Deutung erfährt auch in der neueren Sekundärliteratur noch Berücksichtigung: »Rilke auch als religiösen Dichter ernst[nehmen], ohne ihn zugleich affirmativ zu vereinnahmen« stellt Wolfgang Braungart als Besonderheit und Verdienst ihrer Deutung dar. Wolfgang Braungart: Das Stunden-Buch, in: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Manfred Engel. Stuttgart, Weimar 2004, S. 216–227, hier: S. 226. 12 Käte Hamburger: Rilkes schwedische Reise, in: Der kleine Bund (Bern) 24 (8.8.1943). Nr. 32, S. 249–255; schwedischsprachige Ausgabe: Rainer Maria Rilkes svenska resa, in: Bonniers litterära magasin 13 (1944). Nr. 7, S. 605–613. 13 Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, S. 217–234; jeweils erweitert wiederabgedruckt in: Rilke in neuer Sicht, hg. v. Käte Hamburger. Stuttgart 1971, S. 83–159; sowie in dies.: Philosophie der Dichter. Stuttgart 1976, S. 179–275; französische Übersetzung: Käte Hamburger: La structure phénoménologique de la poésie de Rilke, in: Poésie 127 (2009), S. 69–92.

124 | Claudia Löschner stand. Daneben publizierte Hamburger einige kleinere, spezialisierte RilkeAufsätze.14 Hamburgers Blick auf Rilke wurde teilweise als zu sehr verengt kritisiert. So kam der amerikanische Germanist (und Freund Käte Hamburgers) Egon Schwarz zu dem Urteil, Hamburger deute mit einer einzigen These den ›ganzen Rilke‹.15 In Analogie zu Schwarz’ These, so soll im Folgenden gezeigt werden, ergibt sich bei gleichzeitigem Blick auf die Logik der Dichtung der Eindruck, mit dieser einzigen These über Rilke verweise Hamburger auf ihr ganzes in der Logik der Dichtung entwickeltes »System der Literatur«. Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst ein wenig auszuholen. Im Herbst 1957 erschien Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung, sie löste in den 1960er und 1970er Jahren bekanntlich einigen Wirbel aus, erfuhr viel Beachtung – wenn freilich auch nicht nur beifällige.16 Wie es scheint, machte sie der sich in dieser Phase »verwissenschaftlichenden«, rational-ernüchterten und zunehmend linguistisierten Literaturwissenschaft mit ihrem Versprechen, es lasse sich auf der Grundlage rein »sprachlogischer« Überlegungen trennscharf bestimmen,17 was Fiktion von Wirklichkeitsaussage unterscheide, ein teils faszinierendes, teils provozierendes Angebot. Neben dieser im Rezeptionsverlauf an erster Stelle beachteten Frage nach der differentia specifica der Sprache der || 14 Käte Hamburger: Die Geschichte des verlorenen Sohnes bei Rilke, in: Dietrich Rössler, Gottfried Voigt und Friedrich Wintzer: Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne. Göttingen 1970, S. 126–143 (wiederabgedruckt in: Kleine Schriften (1976), S. 213–230); dies.: »Rühmen, das ist’s!«. Zur Eröffnung der Rainer Maria Rilke-Ausstellung in Marbach a. N. am 10. Mai 1975, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 19 (1975), S. 501–509; dies.: »…und die Zeit ist Raum«: Zu Rilkes Anschauungsform, in: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, hg. v. Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini und Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1984, S. 423–439; dies.: Die Kategorie des Raums in Rilkes Lyrik, in: Rilke und Kassner, hg. v. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Blätter der RilkeGesellschaft 15 (1988), S. 35–42. 15 Egon Schwarz: [Rev.] Käte Hamburger: Rilke. Eine Einführung, in: Colloquia Germanica 11 (1978), S. 364–367. 16 Zur Kontroversengeschichte um die Logik der Dichtung: Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroversen um Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247, sowie zur exemplarischen Vertiefung (der Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden) vgl. den entsprechenden Beitrag von Jørgen Sneis in diesem Band. 17 Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller: Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ansprüche, Strategien, Resultate, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10.1 (1979), S. 162–191. Zum fachgeschichtlichen Kontext der Logik der Dichtung vgl. außerdem den Beitrag von Jörg Schönert in diesem Band.

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fiktionalen Dichtung stellt Käte Hamburger in der Logik der Dichtung auch Überlegungen in einer die Gattungen, Künste sowie Medien vergleichenden Perspektive an. Diese sind in ihrem systematischen Anspruch und hohen Ausarbeitungsgrad bisher nicht wahrgenommen worden, ebenso wie Hamburgers Nähe zum ebenfalls mit kunstsystematischen Fragen befassten Kreis um Max Dessoir, also zur Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in den 1920er bis vor Kurzem nicht bekannt war.18 Diese Überlegungen Hamburgers zielen auf ein allgemeines und umfassendes »System der Künste«, das sie ausführlich erst in einem späteren Aufsatz, in »Drei Gemälde. Unmaßgebliche Gedanken zu einem System der Künste« (1978) entfaltet.19 Hamburger präsentiert hier eine »Ordnung der Künste […], die sich nicht mehr unmittelbar nach dem Material, Farbe, Stein, Wort und Ton, orientiert«.20 Statt Materialien, Medien und Techniken sind bei Hamburger spezifische »Funktionen des Geistes«, die beim Hervorbringen der Kunst jeweils wirksam sind, Klassifikationsgrundlage. Eine sinnvolle, gewissermaßen ›naturgegebene‹ Ordnung der Künste (wie auch bereits der Dichtungsgattungen) sei aus diesen grundlegenden geistigen Funktionen allein abzuleiten. In diesem Sinne geht Hamburger davon aus, in der »gestaltenschaffenden« (LdD145) Leistung das entscheidende Kriterium für Fiktion und somit einen transmedialen Fiktionalitätsbegriff gefunden zu haben. Im Gestalten-Erzeugen nämlich sieht Hamburger die »Nahtstelle, an der die Künste zusammenhängen«.21 Das heißt: alle Arten darstellender Kunst, darunter die fiktionale Dichtung, versteht Hamburger als Gestaltungen des Menschen. Diese postulierte Gemeinsamkeit bildet die Grundlage für die Ableitung eines systematischen Zusammenhangs. Dabei identifiziert Hamburger die Darstellung der menschlichen Gestalt überhaupt mit der Kunstkategorie »bildende Kunst«. Auf der Grundlage dieser Begriffs-Ausweitung postuliert sie eine medienübergreifende Groß-Klasse der »bildenden Künste«. Ihr gehören neben Malerei und

|| 18 Claudia Löschner: Denksystem, S. 10, Anm. 8, S. 17–18. 19 Käte Hamburger: Drei Gemälde: unmaßgebliche Gedanken zu einem System der Künste, in: Wechselrede. Festschrift für Josef Breitbach, hg. v. Hellmuth Freund und Wolfgang Mettmann. Frankfurt a. M. 1978, S. 283–297. Hamburger nennt diesen Beitrag im Schlusspassus einen »Appendix« zur Logik der Dichtung (S. 263). 20 Ebenda, S. 261. 21 Ebenda, S. 260. Weitere Ausführungen zu diesem Kriterium des Gestaltenerzeugens, in denen Hamburger eine Unterscheidung zwischen »innerer« und »äußerer Menschengestaltung« postuliert in: dies.: Schillers Fragment »Der Menschenfeind« und die Idee der Kalokagathie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 30 (1956), S. 367–400.

126 | Claudia Löschner Bildhauerei auch die fiktionalen Formen der Dichtung an – Epik, Drama und Film. In ihnen wird »gemacht« im Sinne des Gestaltens, des Bildens und Nachbildens, hier ist die gestaltenschaffende Werkstatt des Poietes oder des Mimetes, der sich der Sprache als Material und Instrument der Gestaltung bedient, wie der Maler der Farben, der Bildhauer des Steins. Die Dichtung steht hier ganz im Raume der bildenden Kunst, die den Schein der Wirklichkeit erschafft. (LdD145)

Wie steht es nun in dieser medial nicht gebundenen Klassifikation der Künste um die Lyrik? Die Lyrik liegt – dies ist bekannt (Hamburger entfaltet es in einem eigenen Lyrik-Kapitel in der Logik der Dichtung) – nach Hamburger außerhalb der Fiktion und damit auch außerhalb der Klasse der »bildenden Künste«, ebenso wie die Icherzählung, wie Musik und Architektur. Diese Formen, die laut Hamburger zwar Kunst (respektive im Fall der Lyrik Dichtkunst) sind, unterscheiden sich von den »bildenden Künsten« insofern sie in ihrer Materialität nie eine »Verwandlung«22 erfahren, während die darstellenden Künste – so Hamburger – ihr materielles Sein überwinden, in einen davon gelösten, rein ideellen Sinn übergehen (z. B. das Sein der Skulptur in eine scheinbar belebte Gestalt). Die Lyrik bleibt stets Sprache, sie ist Sprachkunst, die Fiktion dagegen ist ›Vorstellungskunst‹. Fiktion erschafft – um das Konzept Vorstellungskunst zu verdeutlichen – ein ideelles Gebilde, Sprache hat hier nicht die Funktion des Aussagens, sondern wirkt hier in einer anderen, der »erzeugenden Funktion«: »das eigentliche Material der [fiktionalen] Dichtung« ist nicht die Sprache als Bezug, sondern »die geistige Vorstellung und Anschauung« (LdD11). Hamburger postuliert, das System der Sprache bestehe aus zwei funktional entgegengesetzten ›Hälften‹, dem Gebiet des »Aussagen« und dem der »Fiktion«, »dem Erzeugen«. Dabei handelt es sich um ein und dieselbe Basis-Unterscheidung, die Hamburger einerseits im Bereich der Dichtung zur Grenzziehung zwischen Wirklichkeit und Fiktion anlegt, die sie andererseits auch als Ordnungsprinzip für ihr umfassendes System der Künste wählt. Die beiden Funktionen der Sprache – hierin liegt nun eine entscheidende und durchaus hochschwellige Vorannahme Hamburgers – sind zugleich Funktionen des Denkens und führen zu Hamburgers Zentralvokabel »Denksystem«.23 Dieses System basiert auf der Annahme einer || 22 Besonders explizit formuliert sie diese Auffassung in Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Stuttgart 1979, S. 15: »Das stofflich-reale Material Stein, Farbe, Ton, Wort verliert den Charakter seiner Materialität, indem es zur Kunstgestalt geworden, in diese aufgesogen oder verwandelt ist.« 23 Nach Hamburger bildet die Sprache »das System des Denkens selbst« (LdD2) ab, expliziter das »System, in dem und durch das sich der Aufbau der geistigen Welt, d. h. die Erkenntnis der

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Kongruenz von Sprache und Denken, damit einhergehend setzt sie zudem »Denken«, »Erleben« und »Leben« gleich. So sind nach Hamburger alle Bewusstseinsprozesse – wie immer abstrakt sie sein mögen – »Leben«, dessen Schein, wie Hamburger wiederholt betont,24 die Fiktion erzeuge. Auf die Wirklichkeitsaussage zurückgewendet folgt daraus: Aussage als äußeres Zeichen eines Urteils (hierbei bezieht sich Hamburger auf den Logiker Christoph von Sigwart25) ist immer Ausdruck von »Leben«. Die Sprache – ganz generell, zunächst gleichgültig in welcher Text- und Äußerungsart – erhält damit bei Hamburger eine »existentielle Pointe«.26 Das heißt: Bei jedem denkbaren Satz geht Hamburger von einer automatischen Bezogenheit auf ein reales Aussagesubjekt aus. Dies gilt in jedem Fall, ganz gleichgültig, ob es formal oder aus dem Kontext der Äußerung als eine bestimmte Person identifiziert werden kann. Frei flottierende, unverbindliche Sätze, die ihrem Äußerungskontext enthoben und damit in ihrem Wahrheitsanspruch nicht überprüfbar sind, gibt es also Hamburgers Definition zufolge in der Normalsprache nicht. Soll eine Aussage nicht in einem Wirklichkeitszusammenhang verstanden werden, mithin keinen Geltungsanspruch in der Wirklichkeit haben, so bedarf es einer ausdrücklichen formalen Markierung durch die grammatischen Signale der Fiktion, durch Aktivierung einer anderen, der fiktionalen »Sprachfunktion«. Durch diese Markierung findet gewissermaßen eine ›Umbeseelung‹ statt. Oder anders gesagt: Der in der Sprache mitgegebene ›Lebensgehalt‹, die nach Hamburger stets in ihr enthaltene Position eines erlebenden Subjekts, muss in jedem Fall einen Träger haben. Besteht also nicht die Absicht, im Sprecher-Namen verantwortlich zu berichten, so kommt es notwendig zu einer Übertragung des artikulierten Erlebens – sozusagen einer Verlagerung der ›Aussagelast‹ auf einem nichtwirklichen Träger, nämlich der fiktiven Figur. Diese Umbeseelung erfüllt sprachstrukturell den Fall der Fiktion. Hamburger, so könnte man die existentielle Pointe zuspitzen, ordnet eine grundsätzlich immer geltende Wahrheitsfähigkeit der Sprache an, indem sie die »Aussage« mit einem realen Subjekt fest verbindet und so gewissermaßen an einem Stück Wirklichkeit fest verankert. Aufgrund dieser Festlegung ist Sprache bei Hamburger nicht definiert als Medium der || gegenständlichen und geschichtlichen Wirklichkeit so gut wie der Entwurf idealer Bildungen, überhaupt vollzieht« (ebenda). 24 LdD43, LdD82 und passim. 25 »Aussage ist stets Aussage eines Subjekts über ein Objekt« (LdD19) lautet die zunächst sehr einfach klingende Grundformel. Nach Christoph Sigwart: Logik. Die Lehre vom Urteil, vom Begriff und vom Schluss. Erster Bd. Tübingen 1921, S. 29. Vgl. hierzu auch Claudia Löschner: Denksystem, S. 84. 26 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 30, 80 sowie v. a. S. 123–138.

128 | Claudia Löschner Kommunikation, sondern als Medium der Erkenntnis, als ›Lebensraum‹ des erkennenden und erlebenden Bewusstseins. Die damit angesprochene Verknüpfung von Sprache und Erkenntnis ist weitreichend, Hamburger verfolgt in der Logik der Dichtung eine Strukturtheorie des Geistes, als eine Metatheorie des Denkens und sie rekategorisiert die Formen der Dichtung, indem sie das »System der Sprache« mit einem »Denksystem« überdacht (nimmt also einen enorm großen argumentativen Umweg auf sich).27 Die einzelnen literarischen Gattungen und nichtliterarischen Aussagearten werden als »feste Formen« (LdD3) aus diesem »Denksystem« abgeleitet. Ihre logische Ordnung, mithin die Logik der Dichtung, ergibt sich daraus, dass sie als Äußerungsformen epistemologischer Grundhaltungen in einem genetisch-morphologischen Verhältnis zur Struktur des Geistes und damit auch miteinander in Beziehung stehen. Hamburgers System der Sprache lässt sich an zwei Abbildungen vor Augen führen. Auf der linken Seite der Abbildung 1 herrscht ein und dieselbe zweipolige Struktur, die der Wirklichkeitserkenntnis und -aussage mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen (dargestellt als Dreiecke). Rechts besonders hervorgehoben die Lyrik (unterlegtes Dreieck), bei der die Aussage sich »von ihrem Objektpol ab- und dem Subjektpol zuwende[]« (LdD169).28 Dies bedeutet nicht, wie nahe zu liegen scheint, dass Hamburger einen Begriff der Lyrik als bloßer Erlebnislyrik verträte (dies wird noch näher dargelegt werden). Nach Hamburgers Auffassung besteht zwischen allen Aussageformen ein Übergangsverhältnis, in dieser Anordnung bewegen sie sich in bestimmter Hinsicht auf die Seite der Fiktion zu, sie steigern sich bis zur Grenze der Fiktion. Wie an dieser Abfolge abzulesen ist: die Lyrik ist die ›letzte Haltestelle‹ vor dem Erreichen der Fiktion. Abbildung 2 zeigt die Aufeinanderfolge von drei Stadien (dargestellt von oben nach unten) den nach Hamburger außergewöhnlichen Fall eines Umspringens von Wirklichkeitsaussage in Fiktion, wie er sich in der Sonderform des Bildgedichts (etwa Rilkes) ereignen könne. Die erste Reihe der Darstellung gibt den Normalfall der Wirklichkeitsaussage nach Hamburger wieder. Die zweite Reihe zeigt, wie unvermittelt ein zweiter Subjektpol auftritt; das bedeutet: der vorherige Objektpol hat sich verwandelt.

|| 27 Claudia Löschner, Denksystem, S. 24 28 Da Subjekt »bleibt der Bezugspunkt auch der lyrischen Aussage, aber nun nicht um seines Eigenwertes willen, sondern als der Kern, der die Entstehung des Sinnzusammenhangs erzeugt. Dies aber ist nur eine andere Beschreibung des lyrischen Phänomens, als wenn wir sagen, daß sich die Aussage aus dem Wirklichkeitszusammenhang löst und sich in sich selbst, d. h. auf den Subjektpol zurückwendet« (LdD180).

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Abb. 1: Das Sprach- und Denksystem nach Käte Hamburger: vier sprachlogische Grundformen ungleich verteilt (3:1) auf zwei streng voneinander getrennte Felder, denen die beiden Funktionen der Sprache, Wahrheitsaussage und Fiktion entsprechen. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ripperger & Kremers, Berlin)

130 | Claudia Löschner

Abb. 2: Die Darstellung veranschaulicht den Vorgang eines Übergangs von Wirklichkeitsaussage in Fiktion der »entgleisenden Beschreibung«, die sich laut Hamburger im Falle der Sonderform des Bildgedichts ereignen kann. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ripperger & Kremers, Berlin)

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2 Zum Stellenwert Rilkes für Hamburgers »Denk- und Aussagesystem« Wie verbindet sich diese ›Kartierung‹ der Aussagearten nach Hamburger nun mit ihrer Kommentierung Rilkes? Trotz ihrer kritischen Einwände gegen diese »chaotische, ja in vieler Hinsicht sogar manierierte Dichtung« weist Hamburger Rilkes Stunden-Buch einen bedeutsamen, entscheidenden Stellenwert in der Werkentwicklung Rilkes zu: Aus der Überschau über das Gesamtwerk wird erkennbar, dass das Stundenbuch in der Produktion Rilkes einen Ansatz markiert, von dem die Linie über die Dingdichtung hinaus und hinüber zu den Duineser Elegien führt und dabei auch noch den Malte berührt. Erst über das Stundenbuch dringen wir vor in die Tiefe und Breite des sich entfaltenden Rilkes. (R44)

Damit wird deutlich: Hamburger betont in ihrer Lektüre Rilkes vor allem die Kontinuität eines einzelnen, für sie zentralen Aspekts, einer spezifischen »Anschauungsform«, in der sie – das ist die bekannt gewordene These von der »Phänomenologischen Struktur der Dichtung Rilkes« – im Sinne einer reinen Parallele die Wesensanschauung nach Husserl wiedererkennt.29 Die Werkent|| 29 Hamburgers These zur phänomenologischen Struktur lautet, dass die Wesensanschauung nach Husserl, die häufig in unkritischer Weise auf die Dichtung, insbesondere die expressionistische angewandt werde, auf Rilkes lyrisches Verfahren »nun in einer auffallend genauen Weise zutrifft« (Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, in: Rilke in neuer Sicht. Stuttgart 1971, S. 83–158, hier: S. 96). Hamburger geht hierbei von einer Parallelität, nicht von einem Einfluss Husserls auf Rilke aus, sie sieht nicht »auch nur den schwächsten Faden einer Verbindung« (S. 96): »Es ist nun eine hinzunehmende, als solche nicht kausal erklärbare Tatsache, dass die Ausformung der phänomenologischen Erkenntnistheorie gleichzeitig mit der Entstehens- und Erscheinenszeit der Neuen Gedichte ist. […] Zu konstatieren ist nichts als die Tatsache, dass im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts der Begriff des Schauens bei diesem einen Philosophen und diesem einen Dichter konstituierend war und im Zusammenhang damit, Dingbeschreibung bei jenem philosophische, bei diesem lyrische Thematik wurde« (S. 96). Insofern kommt Hamburger zu dem Schluss, dass Rilke nicht Philosophie ›verdichte‹, sondern dass »von der klassischen Ideenlyrik unterschieden« bei Rilke »eine Lyrik statt einer Philosophie da ist« (ebenda S. 83). Das Gedicht Blaue Hortensie nennt Hamburger als Beispiel einer in einem Gedicht Rilkes ausgemachten phänomenologischen Reduktion: »Die artikellose Titelbezeichnung, nicht zufällig an Gemäldetitel erinnernd, gibt bereits den Hinweise, dass es das Blau der Hortensie ist, das in dem Sonett thematisch ist; ›ein Blau‹, um dessen Nuancen sich die Beschreibung bemüht und als letztlich unbeschreibbar ausweist. Direkte näher-bestimmende Begriffe, die zur Kennzeichnung von Blaunuancen etwa zur Verfügung stünden, wie blaßblau, zartblau, rötlichblau usw., erscheinen nicht. Sondern

132 | Claudia Löschner wicklung Rilkes (bei der Hamburger allerdings beiläufig die Chronologie verkehrt!) liest sie als eine geglückte Suche eines Ichs nach einem Ort in der Welt. Die »manieristische«, »chaotische« Phase, der das Stunden-Buch angehört, wie die ›unzufrieden-weinerliche‹ Phase des Malte sind Etappen, Zwischenstände dieser Entwicklung. Und die Anbetung, so wurde festgestellt, ist funktionalisiert, es geht im Stunden-Buch um Selbstvergewisserung, in den Duineser Elegien dann, so Hamburger, um ein gefundenes, souveränes, in sich ruhendes Ich, um »eine nicht mehr schwierige, sondern geglückte Existenz« (R133), »nicht mehr im Gefühl der Nichtigkeit und Flüchtigkeit des Menschen sondern seines sich behauptenden Eigenwertes« (R142). So präsentieren sich im Stunden-Buch nach Hamburger gewiss Schwächen, doch menschliche und überdies transitorische. Die heikle Frage, ob der große Dichter Rilke auch ein »großer Mensch« gewesen ist, die beispielsweise im Jahr 1946 Steffen Steffensen in einer Sammelrezension zur Diskussion stellt und die Josef Körner im Briefwechsel mit Käte Hamburger eindeutig zuungunsten des Dichters entscheidet,30 ist für Hamburger nicht bedeutsam. Rilke befindet sich auf der Suche, er steckt in einem zutiefst menschlichen Problem. Pointiert gesagt: Er, Rilke, ist ein Mensch – das genügt. Zumindest für einen Lyriker ist – freilich etwas provozierend – hinzuzufügen, womit auf Hamburgers Konzept der epischen Fiktion und die daran geknüpften normativen Erwartungen an den Epiker hingedeutet ist. Die Lyrik ist nach Hamburger kein exakt konträrer Widerpart der Fiktion. Sie ist auch nicht die ›Gattung der Subjektivität‹ im Sinne reiner Erlebnislyrik,31 wie vielfach aus der Ästhetik Hegels abgeleitet worden ist. Vielmehr umfasst sie einen Spielraum zwischen Ich und Ding, subjektiver Willkür und auf Objektivität gerichteter Sachtreue, innerhalb dessen die Lyrik »[h]in- und [h]erwogen[]« || ein indirektes, ein Verfahren phänomenologischer Reduktion setzt sich durch, dass das erschaute Blau isoliert, es abtrennt von der Blume, den ›Blütendolden‹ selbst, ›Momente abscheidend‹, wie Husserl sagt, die für dieses Blau unwesentlich sind« (S. 228). Hamburger legt die Betonung auf die ›Rationalität‹ dieser im Gedicht im Husserlschen Sinne umgesetzten Wesensschau (S. 227). 30 Zu Rilke »[n]ur dies: nicht Rußland, Spanien, Italien, Schweden etc. haben diesen intravertierten großen Dichter (und sehr schwachen Menschen) bereichert, erweitert, sondern bloß Begegnungen mit noch unbekannten Gegenden im weiten Land seiner Seele erleichtert oder beschleunigt« (Brief an Käte Hamburger vom 20.05.1946, in: Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe. Göttingen 2001, S. 207–215, hier: S. 210). 31 Insgesamt ist die Frage nach dem Stellenwert von Subjektivität in der Lyrik-Konzeption Hamburgers bislang kaum und ungenau beachtet worden. Recht neu ist der Vorschlag einer Einbettung in der Lyrikdiskussion der Zeit »als ein theoretisches Pendant zu den transformativen Poetiken der frühen 1950er Jahre« von Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne: Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960. Berlin 2013, S. 54.

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(R47) und Grenzen ausloten kann. Das Hin- und Herverlagern zwischen zwei Polen ist aus dem Rahmen der Logik der Dichtung vor allem als Beschreibung des gesamten Aussagefeldes, des Spektrums möglicher Aussagen bekannt (s. Abbildung 1). Hamburger beschreibt damit die Bandbreite der Wirklichkeitsaussagen, »ganz rechts« steht eigentlich die Lyrik, als jene Aussagehaltung, die sich »von ihrem Objektpol ab- und dem Subjektpol zuwende[]« (LdD169). Eine Aussage ist nach Hamburger als »Aussage eines Subjekts über ein Objekt« immer strukturiert durch eine polare Relation, sie bewegt sich in ihrem Gehalt stets auf einer Skala zwischen dem Subjektpol und dem Objektpol, den beiden »Relationspole[n] der Aussage« (LdD75). In ihrem Gehalt ist sie damit stets durch ein ›Mischverhältnis‹ zu charakterisieren, die Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis ist in dieses Modell differenzierend eingearbeitet. Bei Hamburger handelt es sich bei der Polarität um ein auch ›äußeres‹, doch vor allem ein ›inneres‹ Modell. Eine entsprechende Polarität (wie als äußere Skala in der Abbildung 1 verdeutlicht) befindet sich nach Hamburger gleichzeitig als eine Binnenstruktur im Innern der Aussage. Als innere ist die Skala Aussage-Innenraum. Bei jeder Aussageart herrscht in diesem Innenraum eine spezifische interne Schwerpunktsetzung, die – damit ist die äußere Skala thematisiert – ihren jeweiligen »Ort im allgemeinen Aussagesystem« (LdD146) bedingt.32 Da Hamburger die Fiktion durch das Verschwinden des Aussagesubjekts definiert, kann ›logischerweise‹ in der Struktur der epischen Fiktion auch kein Objekt enthalten sein, denn mit dem Verschwinden eines Pols der Polarität implodiert gewissermaßen ihre Struktur. Wie steht es aber nun um Rilke? Bei Rilke geht es zuletzt nicht nur um eine Schwerpunktverlagerung zum Subjektpol des Sprechers hin (Abbildung), die im Falle der verschiedenen Wirklichkeitsaussagen eintreten kann, sondern deutlicher noch (bereits) um ein ›Zusammenrutschen‹ der Polarität, eine gegenseitige Annäherung der Pole. Das heißt: In Rilkes Lyrik kommt nach Hamburger nicht in erster Linie die Subjektivität eines Dichters zum Ausdruck, vielmehr spielt angeblich die »Subjektivität« der Dinge in seiner Dingdichtung die entscheidende Rolle. Rilke ist als Dichter ein Schauender, ein »nicht um-sichBesorgter«,33 der sich selbst zu einem Prozess des reinen Schauens auflöst.34 || 32 Claudia Löschner: Denksystem, S. 124. 33 Nicht zufällig treten bei Hamburger, trotz ihrer kritischen Distanz zu Heidegger (vgl. den Beitrag von J. Alexander Bareis in diesem Band), Heideggersche Begriffe auf. Ausführliche Auseinandersetzung mit Heidegger erfolgt in der kleinen Studie Hofmanns, an der Hamburger mitarbeitete (Hamburger wird darin als für Namen- und Sachregister (S. 64–66) Verantwortliche genannt) und auf die sie immer wieder verweist: Paul Hofmann: Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft? Gedanken zur Neugründung der Philosophie im Hinblick auf Hei-

134 | Claudia Löschner Jene Aufwertung der Dinge, die Zentrierung auf Dinge jenseits von den mit ihnen verbundenen menschlichen Erlebnisqualitäten, im Sinne einer Autonomisierung (anstelle einer dienenden Funktion), kann mit Tendenzen der neueren Dingtheorie in Verbindung gebracht werden, in der »mittlerweile die Dinge selbst in Subjektstellung figurieren«.35 Zusammengefasst: Die Struktur der Lyrik Rilkes radikalisiert die Grundstruktur der Lyrik nach Käte Hamburger, indem das Ich im Beschreiben »entgleist«, statt über eigenes Empfinden, Aussagen über fremde Subjektivität zu treffen beginnt (insbesondere in den Skulpturen- und Bildgedichten). Dies ist nach Hamburger eigentlich das Privileg der Fiktion, die dieses kann, weil sie »erzeugt und eben nicht beschreibt«. Die Selbstüberhebung, das Übertreten des durch ein Aussagesubjekt Sagbaren und Wissbaren bahnt also die ›Implosion‹ und Aufhebung der Aussagestruktur an. Die Lyrik Rilkes befindet sich insofern auf einer Gratwanderung, nicht allein die Lyrik Rilkes, dies beschreibt Hamburger wiederholt an Bildgedichten (z. B. Goethes).36 In seinem Rodin-Aufsatz von 1902 interessiert sich Rilke, der zeitweise Sekretär Rodins gewesen ist, insbesondere für die Übernahme von Figuren der Dichtung in die Bildhauerkunst,

|| deggers »Sein u. Zeit«. Berlin 1929. Hier weist sie mit einem Sternchen (*) auf die »spezifisch Heideggerschen Termini hin«, so auch auf Heideggers »Sorge« (S. 65), dem Hofmann das Kapitel 17 widmet (S. 56–57). Weitere Verweise auf Heidegger finden sich in: Käte Hamburger: Vorwort, in: Paul Hofmann: Problem und Probleme einer Sinn-erforschenden Philosophie, S. 9 und S. 20. 34 Das Ding ist »der Gegenpol des lyrischen Ich, an den dieses sich selbst sozusagen auslöschend hingibt« (R21); Zum Beleg dient Rilkes Brief an die Fürstin von Thurn und Taxis vom 13. November 1912, den Hamburger zitiert: »Ich […] wünsche mir soviel Fassung in mein Herz, solchen Gegenständen gegenüber dazusein, still, aufmerksam, als ein Seiendes, Schauendes, Um-sich nicht-Besorgtes […].« Hamburger sieht dadurch die »dem gewaltigen Werk zugrunde liegende, seine Struktur formende Haltung bestimmt. Das Ich ist eliminiert, ›um sich nicht besorgt‹. Das Ich wird nicht als Erlebnisquell, als Gestimmtheit, Ursprung einer Stimmung gefaßt, welche die geschauten Gegenstände in sich hineinzieht, sie mit sich erfüllt, sondern als ein selbst nur Seiendes dessen einzige Funktion das Schauen, das Von-sich-selbst-wegsehen ist, das zum Korrelat das Gegenüber hat« (R16). 35 Rilkes Dinggedichte wurden unter diesem Blickwinckel bereits behandelt, während Käte Hamburger in diesem Zusammenhang bislang nicht rezipiert wird. Uwe C. Steiner: Inständigkeit und Agency. Zur Problemgeschichte des Dinggedichts von der Emblematik bis Rilke und darüberhinaus, in: Das lyrische Bild, hg. v. Ralf Simon, Nina Herres und Csongor Lörincz. München 2010, S. 299–320, hier: S. 307. Es geht um die Vorstellung einer Selbstreferenz, das Dinggedicht referiert nicht auf einen Gegenstand, es lässt den Gegenstand als Subjekt sich präsentieren: »Das Dinggedicht lässt Dinge als subjekt- und weltbildende Entitäten begegnen« (ebenda, S. 304). 36 Claudia Löschner: Denksystem, S. 172.

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Rodin »fühlte dunkel, dass diese Kunst, wo sie jäh aufhörte, an den Anfang einer anderen stieß und dass sie sich nach dieser anderen gesehnt hatte«.37 Diese Deutung Rilkes fügt sich zur These Hamburgers, es gäbe ein System der Künste, in dem die Kunstarten in einem Verhältnis der Kontinuität aneinanderstoßen, in dem Hamburger zufolge das Erschaffen von menschlichen Gestalten, mithin von »Leben« allein den »bildenden Künsten« zugehöre, darunter fasst sie – ungewohnterweise – zentral die epische Fiktion. Rilke hat sich aus Sicht Hamburger exzeptionell nahe an diese Grenze zur Fiktion heran entwickelt, Rodin habe Rilke »eine intensivere Erfahrung davon vermittelt, wie das Wesen, das Eidos eines Dinges, aus ihm ›herausgeschaut‹ werden kann« (R96). Diese von Hamburger nur angedeuteten Zusammenhänge nachzuvollziehen, gelingt aber erst, wenn man anfügt: In Rilkes Dingdichtung geht es nicht um Dinge im Sinne von »Sachen«, sondern: Was Rilke unter Ding verstand, das waren beseelte, belebte, erlebte, mit dem Leben des Menschen und der Menschheit gewachsene Dinge, nicht aber was der »Zeitgeist« unserer heutigen technischen Welt hervorbringt: Konstruiertes, Erdachtes, aus Kraft und Masse Errechnetes […] schafft der »Zeitgeist«. (R142)

Mit dieser besonderen bei Rilke gefundenen Auffassung des Ding-Begriffs klärt sich, in welchem Sinne gerade die Form des Dinggedichts bei Rilke Hamburgers so außerordentliche Aufmerksamkeit erhält (R21–R43). Eine entscheidende Verständnisbedingung und nicht explizierte Präsumtion der Logik der Dichtung wird hier, beim Blick auf Hamburgers Rilke-Lektüre, ›in der Praxis‹ beobachtbar: Gegenstand der Kunst, lautet diese Präsumtion, ist Hamburger zufolge immer der Mensch und die spezifisch menschliche Wirklichkeit, das heißt »beseelte Dinge und Gestalten«.38 Dies gibt einen Hinweis darauf, wie außerordentlich viel Rilke in der Logik der Dichtung steckt und es liefert einen weiteren Fall für die These, dass Hamburger in der Logik der Dichtung eigentlich eine Zusammenstellung er-/ausgewählter poetologischer Positionen in einer wissenschaftlichen, zu großen Teilen mathematisch-formalen Sprache reformuliert. || 37 Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin (1902), in: ders.: Werke. Bd. 4, hg. v. Manfred Engel u. a., Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 401–484, hier: S. 413. 38 Explizit diskutiert Hamburger diese Frage im Rahmen eines kommentierten Exzerpts aus Alfred Baeumlers Kants Kritik der Urteilskraft, ihre Geschichte und Systematik: Band 1 (1923) (DLA A:Hamburger; 91.4.136 Verschiedenes. Ästhetik, Logik, Sprachtheorie. Vorarbeiten und Materialsammlung). Hier heißt es: »Das kann aber nur so weit gelten als Dichtung Dingliches darstellt. Aber sie stellt weit mehr als Dingliches dar, [ausgestrichen: nicht nur das Indiv.] nämlich Sinnhaftes.« Weiter unten im Exzerpt: »Roman […] ist ein anderer Ausdruck für Bewusstseinsdarstellung.«

136 | Claudia Löschner Dies fiel in der Logik der Dichtung bereits am Beispiel der Grundauffassungen über den Roman nach Thomas Mann, Fontane und Ortega y Gasset auf.39 Nun also auch Rilke. In den Elegien spricht Rilke vom Problem der immer schon »gedeuteten Welt« (R144)40 – Deuten, das ist nach Hamburger der spezifische Blickpunkt der Fiktion.41 Aber nicht allein, betont Hamburger, dass an sich immer gedeutet wird, nur in der Fiktion aber sei dieser Vorgang beobachtbar und objektivierbar und deswegen sei die Dichtungswissenschaft einzig in diesem Bereich Wissenschaft in einem engen, vollständig rationalen Sinne, die Lyrik ist nach Hamburger zwar deutbar, doch niemals ausdeutbar: Eine fiktionale Dichtung kann noch so symboldunkel sein: sie ist dennoch ein durch und durch rationales und darum prinzipiell erkennbares Gebilde. Ein lyrisches Gedicht dagegen ist offen nach dem Erlebnis des Aussage-Ichs hin, und das ist dem letztlich irrationalen Leben, dem Leben des Dichters. (LdD87)

Wenn nun Hamburger zufolge Rilkes Vermögen bereits das Erahnen, das Erspüren fremder Subjektivität umfasst, so ist die spezifische Leistung und das Privileg der Fiktion, die Gestaltung der Subjektivität dritter Personen als dritter Personen,42 bei Rilke nur noch eine Haaresbreite entfernt. Diese Überbrückung zwischen Subjekt und Subjekt, die nach Paul Hofmann im realen Leben nicht nur problematische, sondern an sich unmögliche Vermittlung zwischen den je eigenen, subjektiven Weltwahrnehmungen, ist nach Hamburger die entscheidende, Humanität befördernde Leistung der epischen Fiktion, mit der Isolation und Sinn-Vergessenheit der zeitgenössischen Kultur überwindbar seien.43 || 39 Claudia Löschner: Denksystem, S. 187. 40 Zum Beispiel in der Ersten Duineser Elegie, wo es im Vers 12 f. heißt, »daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt«. Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien [1923], in: ders.: Werke, hg. v. Manfred Engel u. a. Bd. 2. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, I, V.12 f. Hamburger kommentiert das in diesem Vers »wie beiläufig gesetzte Attribut ›gedeutet‹« ausführlich (R104–105). 41 Im Schlussteil der Logik der Dichtung erläutert Käte Hamburger mit Bezug auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) mit einer expliziten Abgrenzung: »Die Kunst aber scheint eine andere Stufe symbolischer Seinsweise zu repräsentieren. Erst hier ist der Prozeß des ›Bedeutens‹ als ein bewußter oder besser gewollter, intentionaler, vollzogen; und erst durch die Kunst wird eben damit der Begriff der symbolischen Form ganz erfüllt« (LdD245). 42 Ausführlicher: Die Fiktion ist nach Hamburger gekennzeichnet als »der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann« (LdD40). 43 Claudia Löschner Denksystem, S. 49.

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3 Kurzes Fazit Im Mai 1946 schreibt Käte Hamburger an Josef Körner: Was Sie von Rilke sagen hat meine tiefste Zustimmung; sowohl dass er ein europäischer Dichter in deutscher Sprache als ein sehr grosser Dichter und schwacher Mensch war. Entkleidet seines Dichtertums muss er im wirklichen Leben ein entsetzlicher Jammerlappen und grässlich affektiert gewesen sein.44

Dies schadet dem Ansehen von Rilkes Lyrik in den Augen Hamburgers, wie bereits angedeutet, jedoch keineswegs. Rilkes Dichtertum fußt, so Hamburger, auf Sensibilität, auf einer – im Sinne Husserls – in das Wesen der (beseelten) Dinge eindringenden Anschauung und auf dessen kunst- und hingebungsvoller Beschreibung. Anderes gilt für die epische Fiktion: sie bildet nicht ab, selbst nicht im noch so elaborierten und wiedererschaffenden Sinne Rilkes, sondern sie schafft neu. Der Epiker schöpft seine Gestalten aus seiner eigenen »großen Humanität«,45 – an den Epiker, das heißt bei Hamburger an Thomas Mann, wendet sich Hamburger mit anderen, weit höher gesteckten Ansprüchen.46 Der Epiker hat ein großer Mensch zu sein – auch ›im wirklichen Leben‹, der Lyriker nur eben ein Mensch, wenn auch ein sensibler. Der Epiker mag sich nun dieses hohen Zutrauens würdig erweisen wollen oder – zu Hamburgers großen Empörung im Falle Thomas Manns –47 eben nicht.

|| 44 Göteborg, den 12.5.1946; A:Hamburger; DLA Marbach 15 Briefe 32 Blatt Durchschl. Mit 1 Beilage 77.147/1-15 45 Vgl. Hamburgers Kommentar in: Käte Hamburger: Der Epiker Thomas Mann, in: Orbis Litterarum 13 (1958), S. 7–14, hier: S. 11. 46 Wie zum Verhältnis zwischen Hamburger und Thomas Mann bereits festgestellt worden ist: Irmela von der Lühe: ›Ueber Joseph haben die Leute noch immer viel von Ihnen zu lernen‹ Käte Hamburger und Thomas Mann, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 83–99; Steffen Martus: Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur: wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933, in: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, hg. v. Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer. Berlin, New York 2009, S. 47–84. 47 Vgl hierzu Hamburgers unversöhnliche Kritik an Thomas Manns ›inhumanem‹ FaustusRoman: Käte Hamburger: Thomas Manns Faustroman, in: Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning vom 27.11.1947 (wörtlich ins Deutsche übersetzte Wiedergabe: Thomas Mann – Käte Hamburger. Briefwechsel 1932–1955, hg. v. Hubert Brunträger. Frankfurt a. M. 1999, S. 133–135.

Sabine Eickenrodt

Symbolische Inkarnation Spuren der Hamann-Lektüre in Käte Hamburgers Konzeption einer »Struktur des epischen Humors« Abstract: Käte Hamburger’s study Don Quijote (1959) appeared as a contribution to the Festschrift for Eduard Berend, the famous philologist and editor of Jean Paul’s works. Her provocative reading of Jean Paul’s usage of humor scandalized the philologists: Hamburger translated the aesthetics of the sublime into a logical structure of humorous narration. The following essay proposes a programmatic reading of Hamburger’s »Vexierspiel« of epic humor. Employing a non-digressive humoristic procedure, she made use of the organological terms of »incarnation« and »symbol«. These terms must be understood in the context of her unpublished study of Hamann’s and Herder’s theories of language. Hamburger’s critical analysis of eighteenth-century theories of the origins of language and her reading of their reception in Rudolf Unger’s studies of Hamann’s works consolidated her concept of epic humor. Read alongside Paul Hofmann’s influential, non-metaphysical philosophy of meaning and humanity, her early work (1928–1934), including this study on Hamann, gains a more definite contour. Hamburger develops a structure of meaning, which is constituted through the process of humoristic narration. The famous example of Don Quijote must, therefore, be considered as a phenomenological attempt to understand humoristic narration by thinking through language.

Käte Hamburgers Schriften sind aus dem Dialog mit dem Berliner Philosophen Paul Hofmann und in Auseinandersetzung mit geistesgeschichtlichen Vorgaben der 1920er und 1930er Jahre entwickelt worden.1 Über diese Einsicht in die Grundlagen ihres Denkens herrscht in Bezug auf die frühen Arbeiten zu Jean Paul und Novalis in der Forschung mittlerweile Konsens, wenngleich bisher zu

|| 1 Vgl. hierzu Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 10–11; die Verf. gibt hier einen Überblick über die zeitgenössischen Kontexte der »ersten Phase von Hamburgers wissenschaftlicher Laufbahn«. – Mein folgender Beitrag hat erste Impulse in einem abgeschlossenen Projekt zu Käte Hamburger an der ZE zur Förderung für Frauen- und Geschlechterforschung der FU Berlin erhalten und wurde 2008 durch ein einmonatiges Forschungsstipendium des Deutschen Literaturarchivs Marbach gefördert.

140 | Sabine Eickenrodt diesen erst wenige Detailanalysen vorgelegt wurden.2 Diese frühen Aufsätze sind unter anderem im Umkreis von (unveröffentlichten) Studien im Nachlass zu lesen, die Hamburger – mit Bezug auf Rudolf Ungers wegweisende Untersuchungen3 und auf ihre frühen Habilitationspläne zum Thema »Existenz und Humanität«4 – Hamanns Sprachdenken gewidmet hat und die, wie im Folgenden zu zeigen ist, in ihren späteren Ansätzen zu einer Konzeption des Humors deutliche Spuren hinterlassen haben. Für die Interpretation der Logik der Dichtung5 – deren Titel wohl nicht zufällig den im Hofmann-Nachlass zu findenden Arbeitstitel »Logik des Glaubens«6 aufnimmt – sind die geistesgeschichtlichen Fundamente im Denken Hamburgers bisher kaum eingehend untersucht worden. Erst Claudia Löschners These, dass Hamburgers im Göteborger Exil entstandene Habilitationsschrift eine »Theorie der Sprache als Theorie des Denkens« entwickelt habe und »demzufolge als Beitrag zum Problem der

|| 2 Eberhard Lämmert hat in seiner Einführung im Rahmen der ersten Käte Hamburger-Tagung zum 10. Todestag der Literaturtheoretikerin und Philosophin an der FU Berlin darauf hingewiesen, dass eine »Textstudie lohnend [sei], die sich vergleichend ihrer frühen Arbeiten und denen ihres philosophischen Lehrers Paul Hofmann annähme, insbesondere dessen Studien zur allgemeinen und historischen Sinngebung, um der früh einsetzenden und anhaltenden Festigung dieser Leitidee ihres Denkens und Handelns gerecht zu werden.« Vgl. ders.: Zur Einführung. Käte Hamburger – Charakterzüge ihrer Wissenschaft, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 15–27, hier: S. 21. 3 Rudolf Unger: Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus in Norden. München 1905; ders.: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bände. (Bd. 1: Text; Bd. 2: Anmerkungen und Beilagen), 2., unveränderte Auflage. Halle a. d. S. 1925; ders.: Hamann und die Romantik. Eine prinzipienwissenschaftliche Skizze (1925), in: ders.: Gesammelte Studien. Erster Band: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte (unveränderter reprogr. Nachdr. der Ausg. Berlin 1929). Darmstadt 1966, S. 196–211; ders.: Hamann und die Empfindsamkeit. Ein Beitrag zur Frage nach der geistesgeschichtlichen Struktur und Entwicklung des neueren deutschen Irrationalismus, in: Euphorion 30 (1929), S. 154–175. 4 Gesa Dane hat auf diese Pläne in ihrem Kommentar zur Veröffentlichung des Briefes hingewiesen: vgl. dies.: Käte Hamburgers Brief an Rudolf Unger vom 3. Juli 1932, in: Biographisches Erzählen, hg. v. Irmela von der Lühe und Anita Runge. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 6). Stuttgart, Weimar 2001, S. 166–175. Vgl: den Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band. 5 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Thomas Mann dargebracht. Stuttgart 1957. 6 Im Nachlass findet sich ein typographisches Blatt mit der Überschrift »Manuskripte von Paul Hofmann«. Die Notiz hat folgenden Wortlaut: (»II. Fortsetzung von Tagebuch I: Zur Logik des Glaubens […]«).

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Erkenntnistheorie«7 zu verstehen sei, schlägt eine neue Richtung in der Forschung ein, rückt nicht in erster Linie die ›Fehler‹ im Denken dieser Literaturtheoretikerin, sondern dessen Kontinuitäten ins Zentrum des Erkenntnisinteresses.

1 Das Beispiel Don Quijote: Hamburgers Abkehr von einer Ästhetik des Humors im Kontext ihrer Hamann- und Herderstudien Auch kürzere Studien wie der 1959 publizierte Beitrag Don Quijote und die Struktur des epischen Humors8 sind im Licht dieser Ergebnisse neu zu lesen: Bisher wurde dieser Text allenfalls als Nebenprodukt gewertet, dessen scheinbar brüchige Argumentation die Forschung im Kontext humortheoretischer Arbeiten zwar registrierte, aber als nicht haltbar zurückweisen zu müssen glaubte. Auch wenn man den prominenten Einwänden gegen Hamburgers dort präsentierte Lektüre der Jean Paulschen Vorschule der Ästhetik nicht zu folgen vermag, so sind doch die Lücken ihrer unvermittelt einsetzenden Argumentation kaum zu übersehen, die scheinbar willkürlich die »Struktur des epischen Humors« auf ein Wort von Thomas Mann zurückführen (116) und auch für dessen JosephTetralogie als legitime Nachfolgerin des Cervantes-Romans in Anspruch nehmen will: Hamburger beruft sich auf den Text Meerfahrt mit Don Quijote (1934), in dem die Tieck-Übersetzung vom Tagebuch-Schreiber mit den Worten gelobt wird, dass sie dem »großhumoristischen Stil des Werkes [diene], der mich wieder einmal verführen möchte, das Humoristische geradehin als das Wesenselement des Epischen auszusprechen […]«.9 Ihre Argumentation gipfelt schließlich in der These, dass in der »Phänomenologie des Humors« ein »wesentliches Moment« nicht fehlen dürfe: dass der »eigentliche Sinn, der noch in seiner uneigentlichen Erscheinungsform lebt, von humaner und nicht von antihumaner || 7 Claudia Löschner: Denksystem, S. 169–170. 8 Käte Hamburger: Don Quijote und die Struktur des epischen Humors, in: Festgabe für Eduard Berend zum 75. Geburtstag am 5. Dezember 1958, hg. v. Hans Werner Seiffert und Bernhard Zeller. Weimar 1959, S. 191–209. Im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text zit. nach: dies.: Kleine Schriften zur Literatur und Geistesgeschichte. 2. erw. Aufl. Stuttgart 1986, S. 115–134. 9 Thomas Mann: Meerfahrt mit Don Quijote (1934), in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. IX: Reden und Aufsätze I. Frankfurt a. M. 1960, S. 427–477, hier: S. 434–435 (Herv., S.E.).

142 | Sabine Eickenrodt Natur ist« (128). Der nicht ganz unberechtigte Argwohn, die Verfasserin wolle mit ihrem Begriff eines auf das Humane verpflichteten Humors alle Bedenken aus dem Weg räumen, die gegenüber einer bürgerlichen Harmlosigkeit des Lachens seit dem 19. Jahrhundert vorgebracht worden sind, wird allerdings zerstreut, wenn man der komplexen Anlage des Beitrags zu folgen bereit ist. Hamburger führt in ihrer Interpretation des Cervantes-Romans, der quasi als Modell-Entwurf humoristischen Erzählens ausgewiesen wird, zugleich eine kühne Neulektüre von Jean Pauls berühmten Humor-Paragraphen 31 ff. in der Vorschule der Ästhetik10 ein. Die dort entwickelten Begriffe des Unendlichen und Endlichen will sie – wohl kaum im Einverständnis mit dem profunden Kenner der Jean Paulschen Werke, mit Eduard Berend, dem dieser Aufsatz gewidmet war –, von ihrem metaphysischen Gehalt befreien (127–128). Sie nimmt dabei in Kauf, deren weltanschauliche Voraussetzungen auszublenden, ja diese geradezu programmatisch zu reduzieren. Es würde zu weit führen, Hamburgers Jean Paul-Rezeption hier in all ihren Facetten zu entfalten. 11 Unerlässlich scheint es jedoch zu sein, zumindest die umstrittenen Entscheidungen in ihrer Lektüre vorzustellen, die zu kennen für das Verständnis der geistesgeschichtlichen und philosophischen Prämissen des Strukturbegriffs dieser Denkerin wichtig ist. Ziel des folgenden Beitrags ist es somit, die thetische – und von ihren Kritikern als unzulässig beurteilte – Argumentation Hamburgers im Don Quijote-Aufsatz mit Hilfe einer Rekonstruktion ihrer Denkvoraussetzungen zu prüfen. Die Verfasserin präsentiert sich gleich zu Beginn ihrer Argumentation mit dem Selbstverständnis einer Übersetzerin: Der Sinn der Jean Paulschen Humordefinition in der Vorschule der Ästhetik werde nicht »vergewaltigt«, so heißt es in der Cervantes-Studie, wenn wir die Begriffe Unendlich-Endlich […] durch die metaphysikfreien des Eigentlichen und Uneigentlichen ersetzen und damit das Inadäquatheitsverhältnis als solches zur Strukturbestimmung des Humors machen. Es wird dadurch ein allgemeineres funktionales Verhältnis zwischen zwei Phänomenen überhaupt statuiert, von denen das eine, also etwa das ›eigentliche‹, nicht durch das Gewicht einer ›unendlichen Idee‹ vor dem anderen ›uneigentlichen‹ ausgezeichnet zu sein braucht. Die Jean Paulschen Begriffe aber nähern sich den unseren, wenn wir die unendliche Idee (die ihn denn leicht zur Vorstellung des ›Überirdischen‹ führte) durch die Bedeutung ›Sinn‹ ersetzen. Denn eben das Verhältnis

|| 10 Die Vorschule der Ästhetik (1804) wird im laufenden Text nach der von Norbert Miller herausgegebenen Hanser-Ausgabe nachgewiesen, unter Angabe von Abteilung/Band (I/5), Seite; hier: S. 124–126. 11 Vgl. hierzu ausführlicher meinen Aufsatz: Vexierspiel des epischen Humors. Käte Hamburgers phänomenologische Radikalisierung der Vorschule der Ästhetik, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 48/49 (2013/14), S. 149–167.

Symbolische Inkarnation | 143 eines (eigentlichen) Sinnes zu seinen Verkörperungen oder Erscheinungsformen, die als solche immer mehr oder weniger uneigentliche sind, ist in der metaphysischen Begriffssprache gemeint, deren Jean Paul sich für die Beschreibung des Humorphänomens bedient. (127–128)

Bisher wurde dieses ›Übersetzungs‹-Verfahren Hamburgers insbesondere von Wolfgang Preisendanz in seinem Buch Der Humor als dichterische Einbildungskraft12 als ein unangemessener Zugang zu den Humor-Paragraphen kritisiert, als eine unstatthafte Herauslösung des Autors aus seinem weltanschaulichen Kontext. Diese Kritik schien dem zeitgenössischen Kenner der Vorschule der Ästhetik nur recht und billig zu sein, da die Interpretin kaum ausführt, welchen Begriff des von ihr geltend gemachten ›Sinns‹ oder des ›Eigentlichen‹ sie ihrer Interpretation unterlegte. Auffällig ist insbesondere, dass sie auf den VorschulParagraphen 28 »Untersuchung des Lächerlichen« (I/5, 109 ff.), der den »Begriff des Humors« (I/5, 124 f.) vorbereitet und auf ein aus der schottischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts übernommenes fingiertes Beispiel aus dem Don Quijote – Sancho Pansa über dem Graben – zurückgreift, überhaupt nicht eingeht. Auf Unkenntnis kann diese Auslassung nicht zurückgeführt werden, denn die Frage des »subjektiven« und »objektiven« Kontrastes, mit der Jean Paul arbeitet, wurde bereits 1952 in einer einschlägigen Studie der ihr bekannten und von ihr geschätzten Literaturwissenschaftlerin Anna Krüger eingehend analysiert.13 Hamburger verzichtet nicht nur darauf, ihr angreifbares Verfahren zu erläutern, sondern sie arbeitet auch im Weiteren mit einer nicht eigens ausgewiesenen Terminologie, deren Unklarheit einen Nachvollzug ihrer Argumentation erheblich erschwert: mit dem Begriff der »Struktur«, dem Bild eines auf das Humanum verpflichteten »Vexierspiels« des Humors (133) – und schließlich mit dem Begriff der »Inkarnation« (118), den sie Americo Castros Don QuijoteStudie14 entnimmt. Dass diese begrifflichen Unschärferelationen auch den Pub-

|| 12 Wolfgang Preisendanz: Der Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. 2., durchges. und mit einem Register vers. Aufl. München 1976 (Habil.-Schrift 1961; 1. Aufl. 1963); vgl. hierzu meinen Aufsatz »Vexierspiel des epischen Humors«, S. 63, 71. 13 Anna Krüger: Der humoristische Roman mit gegensätzlich verschränkter Bauform. Jean Paul, Wilhelm Raabe, Kurt Kluge. Limburg a. d. Lahn 1952, S. 24–26. – Dass Krügers Studie von Hamburger nicht erwähnt wird, mag auch mit der Kritik der Verfasserin an Berends Humorkonzept (S. 15–17) zusammenhängen, die Hamburger zweifellos teilte, aber ihm doch nicht öffentlich präsentieren wollte. Eine Erklärung für die Vermeidung, sich mit den einschlägigen Paragraphen der Vorschule der Ästhetik auseinanderzusetzen, ist dies jedoch nicht. 14 Americo Castro: Incarnation in ›Don Quixote‹, in: Cervantes Across the Centuries. A Quadricentennial Volume, hg. v. Angel Flores und M. J. Benardete. New York 1947, S. 136–178.

144 | Sabine Eickenrodt likationsvoraussetzungen der Studie zuzuschreiben sind, scheint nahe zu liegen, wenngleich diese sie nicht ganz erklären können: Diese war zunächst als Habilitationsvortrag der Verfasserin, dann als Beitrag zur Festschrift für den Herausgeber der historisch-kritischen Jean Paul-Ausgabe, Eduard Berend, an die Öffentlichkeit gelangt. Offenbar glaubte Käte Hamburger, ihre Denkvoraussetzungen, die sie aus der »Sinnerforschende[n] Philosophie« Paul Hofmanns, einer »Humanitätsphilosophie«,15 bezog, im engeren akademischen Kreis der Stuttgarter Universität nicht eigens mehr ausweisen zu müssen. Die in Hamburgers Cervantes-Studie provozierend neu ›übersetzte‹ Stelle aus der Vorschule der Ästhetik ist aber nicht nur in eigener Sache der Theoriebildung höchst voraussetzungsreich, sondern impliziert auch im Rahmen der Jean Paul-Forschung ihrer Zeit eine Herangehensweise, die den Hegelschen Humorbegriff – wie ihn ihr Hauptkritiker Preisendanz gegen sie geltend macht – gerade in Frage zu stellen sucht. Schließlich ist zu bedenken, dass Hamburger sich in ihrem Frühwerk nicht nur mit Jean Paul, sondern in einer unveröffentlichten Studie unter dem Titel Hamanns und Herders Sprachtheorie16 auch mit dem »Magus in Norden« intensiv auseinandergesetzt hatte. Wenn man dieser Spur folgt, so reduzieren sich die Schwierigkeiten des Verstehens zwar noch keineswegs, aber es eröffnet sich ein anderer Zugang: Er bestünde in der Überlegung, ob Hamburger Jean Paul nicht wie ihre Kritiker von Hegel aus, sondern vielmehr Jean Paul von Hamann aus – oder doch auf Hamann hin – gelesen haben könnte. Aber auch diese hypothetische Annahme wäre riskant, denn zumindest in einem Punkt sind die Humorauffassungen Hamanns und Jean Pauls geradezu inkompatibel – dies hat die Hamann-Forscherin Elfriede Büchsel bereits in einer Studie 1966 zu bedenken gegeben: Zu einem zwiespältigen Urteil über Hamanns Humorauffassung »dürfte man gelangen«, so die Verfasserin, wenn man die von Jean Paul aus intimer Kenntnis der Literatur des 18. Jahrhunderts erarbeiteten Kategorien humoristischer Gestaltung auf Hamann anzuwenden versucht, also die Vorschule der Ästhetik heranzieht mit ihren vier Paragraphen: von humoristischer Subjektivität und Totalität, der vernichtenden Idee des Humors und der humoristischen Sinnlichkeit. Das Problematische einer Anwendung auf Hamann erscheint zunächst darin, daß || 15 Einen skizzenhaften Überblick über Hofmanns philosophische Grundlagen gibt Hamburger 1980 in der »Einführung« zur Herausgabe einer Auswahl seiner Schriften. Vgl. Käte Hamburger: Paul Hofmann, Problem und Probleme einer Sinn-erforschenden Philosophie, hg. v. Käte Hamburger. Stuttgart 1980, S. 8–29, hier: S. 15. 16 Käte Hamburger: Hamanns und Herders Sprachtheorie. Unveröffentlichtes Manuskript (36 Seiten): DLA Marbach Hamburger, Prosa, 91.4.17. – (Im Folgenden unter Angabe von Sigle und Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen: H, Seite).

Symbolische Inkarnation | 145 er [Jean Paul; S.E.] – wie Hegel – mit dem idealistischen Gegensatzpaar des Endlichen und Unendlichen arbeitet. Kann man in Hamanns Glauben, als Autor für die unverfügbare Wahrheit Gottes zu zeugen, die Gegenwart der Idee oder des Unendlichen finden?17

Büchsels Skepsis ist berechtigt angesichts der sich am Begriff des Erhabenen abarbeitenden Bestimmungen in der Vorschule der Ästhetik, aber sie kommt schließlich zu der Erkenntnis, dass Hamann und Jean Paul – vermittelt über das humoristische Spiel mit den Autorpositionen – doch nicht so weit voneinander entfernt seien, wie die Begriffe zunächst suggerierten. Sie beruft sich auf die berühmte Stelle in Jean Pauls Humorparagraphen, in der »die vernichtende Idee des Humors, jene Betäubung des Verstandes durch die Vernunft« (Büchsel) aufgerufen wird, ein Humor, der »den Verstand verlässet, um vor der Idee fromm niederzufallen« (I/5, 131). Diese Stelle sei – so die Verfasserin mit Bezug auf Hamanns Schrift Zweifel und Einfälle (1776) – »verwirklicht im Zusammenstoß der ›höheren Logik‹ des Hamannschen Autorbegriffes mit den ›Sänftenträgerbegriffen‹ seiner Kontrahenten in Abigails Argumentation«. Gemeint ist das humoristische Spiel in Hamanns Anti-Rezension gegen Nicolai, der sich seinerseits über den Stil des »Magus« in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek mockiert hatte. Die Antwort in dieser Anti-Rezension erfolgt im Medium der alttestamentarischen Geschichte von Abigail und Nabal (1. Sam. 25),18 die von Hamann zugleich mit der im 18. Jahrhundert neu interpretierten Gestalt des Don Quijote verbunden wird: scheiternd und lächerlich ist diese Figur in ihrer Beschränktheit und Verblendung, aber doch vom Wissen um eine höhere Bestimmung geleitet. Im Zentrum des »2. theologischen Teiles«, so Büchsel, stehe »Hamanns trinitarische Predigt«, und der »theologische Duktus, der zu ihr hinführt«, sei Röm. 1 nachgebildet, »d. h. an der ›Unnatur‹, der die Anhänger der Vernunftreligion verfallen, soll abgelesen werden, daß sie die ursprüngliche, ihnen vorgegebene Wahrheit verkehrt haben. Es geht um die Wahrheit, die gleich unserer Existenz älter sein muß als unsere Vernunft«.19 Büchsel hebt hervor, dass – bei gleichzeitiger Unhintergehbarkeit des christlichen Selbstverständnisses – der spielerische, narrative »›Perspektivismus‹ der Hamannschriften […] ernst genommen werden [müsse], die vorge-

|| 17 Elfriede Büchsel: Don Quixote im Reifrock. Zur Interpretation der Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht der allgemeinen deutschen Bibliothek von J. G. Hamann, in: Euphorion 60 (1966), S. 277–293, hier: S. 290. Vgl. auch im Folgenden ebenda., S. 290–291. 18 Ebenda, S. 286. 19 Ebenda, S. 289–290 (Herv. i. Orig). In Jean Pauls Vorschule der Ästhetik gibt es ein ähnliches Bild der ›Verkehrung‹, das im Kontext des Humors als »umgekehrte[s] Erhabene[s]« (I/5, S. 125) vorgestellt wird.

146 | Sabine Eickenrodt schützten Verfasserangaben als die Rollen, die der Autor erfunden hat […]«.20 Umgekehrt, dies wäre zustimmend zu ergänzen, verliert sich Jean Pauls poetisches Verfahren keineswegs in der absoluten Produktivität eines humoristischen Spiels mit Autorrollen, das ihm Hegel als subjektiven Humor, als »kunterbunteste[s] Durcheinanderwürfeln von Gegenständen«21 vorzuwerfen hatte. Die Forschung hat wiederholt – insbesondere mit Blick auf Jean Pauls überwältigende Rezeption der Zweiweltenlehre und dessen Verbindungen zu Jacobi (bzw. mit Blick auf Hamanns Sprachtheorie) – von einer »ambiguen«22 oder »relativen Autonomie«23 des Ästhetischen gesprochen. Wenn man von diesem (partiell) »unphilosophischen«,24 d. h. theologisch fundierten, Konzept des Humors ausgeht, dann verliert die begriffliche Inkongruenz Jean Pauls und Hamanns zumindest in Bezug auf ihr humoristisches Verfahren an Bedeutung. Aber auch ein dergestalt strategischer Versuch, Hamburgers begriffliche Übersetzung verstehen zu wollen, hat letztlich einzuräumen, dass sich bei ihr eine derartige Annäherung der beiden Autorpositionen nicht finden lässt (nur der Hinweis, dass die Begriffe Jean Pauls ihn leicht zur »Vorstellung des ›Überirdischen‹« (127) geführt hätten). Gleichwohl könnte in diesem Versuch jedoch insofern ein heuristischer Wert liegen, als er die Paradoxie im ›Übersetzungs‹Verfahren des Don Quijote-Beitrags kenntlich macht und dessen argumentative Verwicklungen deutlicher exponiert: Hamburger will – so wäre vorerst zu resümieren – der Vorschule der Ästhetik eine metaphysikfreie Bedeutung abgewinnen, die nicht auf einer Jean Paul-Exegese, somit auch nicht auf einer Auseinandersetzung mit seinen gegen die kritische Philosophie gerichteten Reflexionen zum Lächerlichen und Erhabenen beruht, sondern ihn offenbar einseitig im Kontext der Zweiweltenlehre lesen (den sie zugleich für obsolet hält). Ihr geht es darum, Jean Pauls Begriffe des Humors, die sie ›umformuliert‹, strikt von dessen humoristischem Verfahren zu trennen. Weder scheint sie also mit Jean Paul noch ohne ihn argumentieren zu können: Denn mit Jean Paul hätte sie vor der Schwierigkeit gestanden, dessen ›psychologisch‹ argumentie-

|| 20 Ebenda, S. 287. 21 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, in: ders.: Werke, Bd. 14, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 230. 22 Vgl. Wolfgang Riedel: Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 34 (1999), S. 56–94, hier: S. 93. 23 Vgl. Bernhard Buschendorf in Bezug auf das Kampaner Thal: ›Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt‹. Zur relativen Autonomie des Ästhetischen bei Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 35/36 (2000/01), S. 218–237. 24 Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul. Hamburg 2013.

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rende Ausführungen (zum subjektiven und objektiven Kontrast) mit zu bedenken, die mit der von ihr geteilten Kritik Paul Hofmanns an einer ›Objekt-Logik‹ nicht zu vereinbaren war. Andererseits konnte eine auf die Sprache der Dichtung sich richtende Erkenntnistheorie, die Bestimmung einer Struktur des epischen Humors, hinter Jean Pauls avancierte Ansätze zu einer »Idee der Prosa« (Ralf Simon)25 nicht zurückfallen, vielmehr war der Bezug auf dessen VorschulParagraphen, die den Bruch mit typologisierenden Definitionen des Humors unternommen hatte, unverzichtbar. Hamburger übergeht also ostentativ die Schwierigkeit der Humorparagraphen in der Vorschule, die nicht zuletzt in den Mischungen von formalästhetischen Ansätzen und ›theologischen‹ Konzepten besteht. Jean Paul identifiziert bekanntlich den Humor als Umkehrung und Verkehrung der unendlichen Idee: Dieser gleicht dem »Teufel, als die wahre verkehrte Welt der göttlichen Welt« (I/5, 130) und macht dennoch (so eine Formulierung Götz Müllers) – »in der Verkehrung – das wahre Göttliche erst recht sichtbar«.26 Walther Rehm, einer der wichtigen Orientierungen für Hamburger seit ihrem frühen Aufsatz »Das Todesproblem bei Jean Paul« (1928),27 hat diese Verkehrung augustinisch mit dem Titel experimentum suae medietatis gefasst, der seiner Studie zur »dichterischen Gestaltung des Unglaubens« als Überschrift beigegeben war.28 Will man || 25 Ralf Simon: Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul. München 2013, S. 211–258, hier: S. 257–258. 26 Götz Müller: Jean Pauls ›Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei‹ (1994), in: Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Schriftenverzeichnis, hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1996, S. 104–124, hier: S. 124 (Herv. i. Orig.). 27 Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1928), S. 446–474; Die Studie nimmt ausdrücklich auf Rehms kurz zuvor erschienenes Buch zum Thema Bezug: In Anm. 5 des HamburgerAufsatzes heißt es: »Neuerdings ließ Walter (sic!) Rehm ein nach Reichtum und Tiefe gleich ausgezeichnetes Werk: Der Todesgedanke in der deutschen Literatur vom Mittelalter zur Romantik (Buchreihe dieser Zeitschrift Bd. 14, Halle a. d. S. 1928) erscheinen. In ihm nimmt das 18. Jahrhundert denn auch den breitesten Raum ein, und ich verweise für unseren Zusammenhang ausdrücklich auf die Kapitel Empfindsamkeit und Sturm und Drang und Die Romantik. Andererseits mag unsere Analyse des Todesproblems bei Jean Paul dem Werke Rehms (das mir erst nach Abschluß dieser Arbeit bekannt wurde), in dem Jean Paul nur kurz behandelt wird, zur Ergänzung dienen.« 28 Das Buch war, wie Rehm im Vorwort der Neuauflage von 1962 angibt, 1938/39 niedergeschrieben und »im Sommer 1940« innerhalb des von Ernst Beutler herausgegebenen »Jahrbuchs des Freien Deutschen Hochstifts 1936–40« mit der Überschrift Experimentum suae medietatis veröffentlicht worden. Ich zitiere im Folg. eine Passage aus der Ausgabe von 1962, die sich – mit Bezug auf die Christusrede in Jean Pauls Siebenkäs – auf die Gedankenfigur der ›Verkehrung‹ bezieht: Vgl. ders.: Jean Paul – Dostojewski. Zur dichterischen Gestaltung des

148 | Sabine Eickenrodt diesem Weg einer »lex inversa« (I/5, 129) folgen, so wäre auch der Name Hamanns in Hamburgers Lektüre des Don Quijote je mitzubedenken. Dies legen nicht zuletzt die frühen Studien Hamburgers zur Sprachtheorie Hamanns nahe, dieses »sokratisch[en] Don Quixote[s]«,29 der »das Don-Quixotemotiv bereits in seiner Rezension von Herders Schrift über den Ursprung der Sprache verwendet hatte«.30 In einem neueren Aufsatz (»Hamann als humoristischer Schriftsteller«) bringt Sven-Aage Jørgensen31 darüber hinaus den Aspekt der Kondeszendenz mit dem Stil Hamanns in Verbindung: Die Herablassung des unsichtbaren Schöpfergottes sei »in der ›sichtbaren Schöpfung‹, in der ›Inkarnation des Sohnes in Knechtsgestalt‹ gegeben, und ›in der Schriftstellerei des Heiligen Geistes‹ trage sie den Charakter ›einer paradoxalen Entäußerung und Erniedrigung‹ (Philipp. 2,5–8), die auch dem fleischgewordenen Gott ›komische‹ Züge« verleihe (Jesus vergleiche sich etwa mit einer Henne (Math. 23,37 etc.). Der gefallene Mensch – so kommentiert Jørgensen – könne bei Hamann nur in seiner »gottgewollten Leiblichkeit und Kreatürlichkeit auf eine seiner sinnlichen Natur gemäße Herablassung Gottes hoffen«. Der Verfasser hebt insbesondere die – auf sinnliche Zeichen verwiesene – Autorschaft bei Hamann hervor, die auch vor ihm in der Forschung bereits gesehen wurde: Allein »von der Erkenntnis her, daß es um ›Zeugnis‹« gehe, so heißt es bei Elfriede Büchsel, sei »die Struktur seiner Schriften, das Wie des Sagens, als ›Funktionsgestalt‹ dieses Dienstes [d. i. || Unglaubens. Göttingen 1962, S. 42: »Der Mensch, der im Traum, aber doch eben im Traum das ›experimentum suae medietatis‹ erlebt und in seiner Nichtigkeit erfaßt hat, atmet auf in der Gnade der Umkehr. Er sieht den Vernicht-Glauben vernichtet, er betet Gott in der Natur und im Menschen als in seinen Geschöpfen an«. Hamburger erwähnt in einem Brief 1949 an den Prager Romantikforscher Josef Körner, dass sie dieses Buch vom Autor selbst erhalten habe: »Von Walther Rehm bekam ich sein 1947 erschienenes scheinbar höchst interessantes Buch ›Experimentum mediatatis› (sic!) – ein Augustineischer Ausdruck bezüglich auf die Sichsetzung des Ich anstelle Gottes als Mitte und Mittler – und in dem ersten Titel-Essay angewandt auf den Aufruhr gegen Gott bei Jean Paul (in seinen Träumen) und Dostojewski. Ich bin aber erst bei Jean Paul. Über Gontscharow, Kierkegaard und Jacobsen handeln die anderen Aufsätze – und ich bewundere Rehms weitgedehnte Kenntnis der europäischen Literatur, die sonst bei deutschen Literarhistorikern seltener ist«. DLA Marbach A: Hamburger: Briefe an Josef Körner. 1949, 2. Brief (26.3.1949), 77.150. S. 1–4. 29 Vgl. zu dieser Selbstbezeichnung Hamanns Sven-Aage Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller, in: Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag, hg. v. Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus und Michael Voges. Tübingen 2003, S. 27–36, hier: S. 36. 30 Elfriede Büchsel: Don Quixote im Reifrock, S. 286. 31 Vgl. auch im Folgenden Sven-Aage Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller, S. 34.

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Zeugnis abzulegen, S.E.]«32 zu begreifen. Der Autor muss zeichenhaft sprechen, verweist mit jedem Wort und jedem Satz auf das biblische Zeugnis. Sørensen interpretiert auf der Grundlage dieser Einsichten Hamanns humoristisches Verfahren als Vernunft- und Aufklärungskritik, als »Angriff auf eine hochmütige Anthropologie«,33 und dieser Angriff werde »nicht nur im Namen einer orthodox-lutherischen Christlichkeit geführt, sondern im Namen der durch diese Normen ausgegrenzten Sinnlichkeit, der Hamann einen groben, den Anstand und den guten Geschmack provozierenden Ausdruck geben konnte«. In diesem Sinne wird das Schreiben zu einem ›Predigen in der Wüste‹, die Normen des Luthertums außer Kraft gesetzt im Namen des fernen, aber doch – gleichsam durch menschliches Zeugnis – ›gesicherten‹ Gottes. Wer schreibt, übernimmt die Aufgabe, die Paulus für das Amt des Apostels proklamiert: »[W]ir sind Narren um Christi willen« (1.Kor. 4,9/10).34

2 Sprachsymbol und »formative logos«: Bezüge zu Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts In Bezug auf die Frage nach einer konstitutionellen Verbindung zwischen Humor und ›epischer‹ Narration ist Hamburgers Hinweis im Don Quijote-Aufsatz auf Castros Begriff der »Inkarnation«35 aufschlussreich, denn er rückt die Hintergründe ihrer Argumentation in einen früheren geistesgeschichtlichen und biographischen Kontext. Der Kulturhistoriker Castro hatte in den Jahren 1930/31

|| 32 Elfriede Büchsel: Hamanns Autorschaft bestimmt nach der Absicht (aus Selbstzeugnissen über seine Autorschaft), in: Johann Georg Hamann, hg. v. Reiner Wild. Darmstadt 1978, S. 218– 232, hier: S. 228; vgl. auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Christologische Poesie. Bemerkungen zu Hamanns ›Aesthetica in nuce‹, in: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, hg. v. Claudia Brinker-von der Heyde und Niklaus Largier. Bern 1999, S. 487–508, hier: S. 491–495. 33 Vgl. auch im Folgenden Sven-Aage Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller, S. 35. 34 Hier gibt es Parallelen zu Jean Paul. Vgl. zur Paulus-Rezeption im späten KometenFragment, dem »deutschen Don Quixote«, Sabine Eickenrodt: Horizontale Himmelfahrt oder poetische Ars volandi. Die optische Metaphorik der Unsterblichkeit in Jean Pauls Komet, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 35/36 (2000/01), S. 267–292, hier: S. 292. 35 Americo Castro: Incarnation, S. 136, 139, 142.

150 | Sabine Eickenrodt eine Gastprofessur in Berlin inne und war ebendort 1932 Botschafter der spanischen Republik.36 Es ist zumindest möglich, dass sich beide dort kennengelernt haben, denn Hamburger lebte und arbeitete ab 1928 mit Paul Hofmann in Berlin.37 Castros Argumentation lässt jedenfalls deutlich erkennen, dass er mit der Sinn- und Erlebnisphilosophie dieser Zeit vertraut ist.38 Seine spätere Lektüre des Cervantes entspricht Hamburgers Perspektive und lässt auf einen gemeinsamen – bei beiden ungenannt bleibenden – Bezugspunkt schließen: auf die Sprachursprungsdebatte des 18. Jahrhunderts. Castro geht es – ähnlich wie Hamburger – um die Interpretation des Cervantes-Romans als einer epischen Totalität des Humors: Dem spanischen Dichter sei es um eine völlige »Inkarnation« seiner Intention gegangen, also einer geschlossenen humoristischen Gestaltung, die keine Selbstreflexion des Helden erlaube: »Literary creation is here a closed, absolute world, wholly self-sufficient, and into which the reasoning of the author is not hetereogeneously injected.«39 Ein kurzer Kommentar Hamburgers in einer Fußnote ihres Don Quijote-Aufsatzes bemerkt, dass Castro mit dem Ausdruck Inkarnation »eine solche bewußte Verbindung einer geschilderten Wirklichkeit mit einem ›formative logos‹« gemeint habe (118, Anm. 1). Castros »formative logos«40 beruht seinerseits auf einer sprachtheoretischen Einsicht, die Formative als grammatische Grundeinheiten sieht, als Laut- oder Buchstabenfolgen, die ein Morphem hörbar bzw. lesbar machen. Ausdrücklich bezieht sich Castro auf den religiös-symbolischen Kontext des Fleisch bzw. Gestalt gewordenen Wortes und liest die Wahrnehmung von Büchern (im Don Quijote) als »living, animate and inciting reality« im Kontext von ›orientalischen‹ Sprachauffassungen (»conjunction of Hebrew concepts with neo-Platonic thoughts«).41 Der Sprache wird somit ein ontologischer Status zugesprochen, das Buch habe in der arabischen Literatur, wie Castro schließt, »a humanized entity«. Auch dieser Hinweis bei Castro wird von Hamburger ohne weiteren Kommentar übernommen, und erst in Rücksicht auf ihre Studie zu Hamanns und Herders || 36 Vgl. hierzu Frank-Rutger Hausmann: »Vom Strudel der Ereignisse verschlungen«: Deutsche Romanistik im »Dritten Reich«. Frankfurt a. M. 2008, S. 320. 37 Hamburger hat auch ›praktisch‹ zu den Forschungen Hofmanns beigetragen. So erstellte sie (unter ihrem Namen) das Register zu seiner Heidegger-Monographie: Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft. Gedanken zur Neugründung der Philosophie im Hinblick auf Heideggers »Sein und Zeit«. Berlin 1929, S. 64–65. 38 In der englischen Übersetzung wird dem Begriff »livingness« ausdrücklich in Klammern auf Deutsch der Terminus »Erlebnis« hinzugefügt. Vgl. Americo Castro: Incarnation, S. 159. 39 Ebenda, S. 168. 40 Ebenda, S. 138: »We might say then that the process of life, as conceived by Cervantes, is a dialogue between a life-giving, formative ›logos‹ and an inert passivity ready to receive it.« 41 Vgl. auch im Folgenden Americo Castro: Incarnation, S. 161.

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Sprachtheorie zeigt sich, dass sie als bekannt voraussetzt, was hier unerwähnt bleibt: »Je älter u. ursprünglicher die Sprachen sind«, so heißt es dort referierend in Bezug auf Herders Versuch eines Nachweises vom menschlichen Ursprung der Sprache, »desto mehr durchkreuzen sich die Gefühle in den Wurzeln der Wörter, weshalb wir in ihnen so kühne Wortmetaphern finden, besonders in der hebräischen Sprache« (H, 25 f.); und sie fährt in ihrem paraphrasierenden Referat fort: Je häufiger solche Gefühlsdurchkreuzungen vorkommen, umso reicher ist diese Sprache an Synonymen, je mehr überflüssige Wörter hat sie also. Denn die feinen Unterschiede gehen allmählich verloren. 50 Wörter hat der Araber für den Löwen, 200 für die Schlange, 70 für den Stein u.s.w. Dass Gott einen solchen Wortüberfluss erfunden hätte, ist so unökonomisch, so wenig weise, dass es schlechthin nicht wohl anzunehmen ist. […]. Je älter endlich eine Sprache ist, desto weniger Grammatik ist in ihr. Denn Grammatik ist ein Denken über die Sprache, ist nur eine Methode ihres Gebrauches. Erst allmählich flossen die Teile der Rede auseinander; erst allmählich konnte daher Grammatik entstehen. (H, 26)42

Hamburger übernimmt nun im Don Quijote-Aufsatz Castros Ausdruck der »Inkarnation« und überträgt ihn auf die Struktur des humoristischen Romans – im Sinne einer gestalteten »Verwechselung von Wirklichkeit und Fiktion« (118). Als Hamann- und Herder-Kennerin hält sie es offenbar nicht für nötig, die literaturund philosophiegeschichtlichen Zwischenschritte darzulegen, die gleichwohl mitzudenken sind, wenn man die Tragweite dieser Stelle ermessen will. Der Begriff der Inkarnation ist in dieser Debatte der Sprachursprungstheorien zu verorten, die Käte Hamburger letztlich zugunsten von Herder entscheidet, aber doch über den Weg einer interpretierenden Annäherung beider Kontrahenten. In ihrem frühen Nachlass-Text referiert sie unter dem am Rand notierten Stichwort »Sprachsymbol« (H, 7), dass der Ausgangspunkt in Hamanns »Glauben an den göttlichen Ursprung der Bibel« liege. Im »Worte« – so heißt es dort weiter – »d. i. das Schriftwort offenbart sich Gott. Der mystische Sinn ist in den körperlichen Buchstaben eingesenkt als Hand vom Geiste Gottes« (H, 7). Für Hamann || 42 Hamburger konnte »gar nicht« Hebräisch, wie sie in einem Brief an Josef Körner (in Bezug auf ihre Studien zum Joseph-Roman) erklärt. Vgl. DLA Marbach A: Briefe an Josef Körner, 1946, 6. Brief (Göteborg, 26.4.1946), 17.147/1–15. Zeit ihres Lebens hat sie auf die jüdischen Wurzeln des Christentums hingewiesen, so z. B. in einem Interview mit der Fotografin Herlinde Koelbl: »Das Gebot ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ stammt aus dem Alten Testament, aus dem Pentateuch. In meinem Buch ›Das Mitleid‹, das 1985 erschienen ist, habe ich das dargestellt. Paulus hat dann dieses Gebot in die Evangelien aufgenommen. Das Christentum hat sich aus dem Judentum entwickelt.« Vgl. Interview mit Käte Hamburger (Literaturwissenschaftlerin, Stuttgart, Geb. 1896 in Hamburg), in: Jüdische Portraits. Photographien und Interviews von Herlinde Koelbl. Frankfurt a. M. 1989, S. 108–112, hier: S. 110.

152 | Sabine Eickenrodt erweitere sich »der Begriff von der Offenbarung Gottes in der Bibel zu einer Offenbarung Gottes in der gesamten Erfahrungswelt schlechthin« (H, 5). Das Wort sei für ihn nicht nur das Schriftwort der Bibel, sondern das Wort Gottes sei für ihn »ebenso die Natur u. die Geschichte«. Geschichte sei für Hamann, so zitiert sie aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten, nichts anderes als die Verkörperung eines überirdischen, ethisch-religiösen Sinnes. Ein Symbol dieser mystischen Weltgeschichte aber finden wir in der Geschichte des jüdischen Volkes, wie die Bibel sie darstellt. Wie die Schrift selbst ein Sinnbild, ein Gleichnis höherer Wahrheiten, so ist die jüdische Geschichte ein Sinnbild der allgemeinen Weltgeschichte, u. diese wiederum ein Sinnbild Gottes. Wie Natur u. Geschichte[,] so ist auch der Mensch selbst, der ein Teil der Natur, der Gegenstand der Geschichte ist, nichts als ein Gleichnis Gottes. Gott hat sich Menschen offenbaren wollen. Er hat sich durch Menschen offenbart. Nur so kann der Mensch Gott annähernd erfassen, denn alle endlichen Geschöpfe sind nur imstande, die Wahrheit u. das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu sehen. (H, 6)

Hamburgers Abhandlung nimmt ausdrücklich auf Rudolf Ungers HamannStudien Bezug und ist wahrscheinlich in ihren Berliner Jahren zwischen 1928 und 1930 entstanden, also im Vorfeld ihrer Bemühungen 1932, sich bei Unger in Göttingen zu habilitieren, und zeitgleich mit ihrer frühen Studie »Das Todesproblem bei Jean Paul«. (Zudem kannte sie Ernst Cassirers 1923 erschienene Philosophie der symbolischen Formen, deren erster Teil der Sprache, u. a. auch Hamanns Sprachauffassung gewidmet war).43 Unger stand Hamburger auch in seinem methodischen Selbstverständnis durchaus näher als andere zeitgenössische Vertreter der Zunft: Im Vorwort zu seinem zweibändigen Hamann-Buch verteidigt er die Verbindung von Philologie, Psychologie und Philosophie, die ihm zuvor von Kritikern in Bezug auf seine frühere Schrift Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft (1908)44 angekreidet worden war. Die Datierung von Hamburgers Studie ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass 1925 Ungers zweite unveränderte Auflage des Buches Hamann und die Aufklärung (zuerst 1911) erschienen war, das als eine gründliche Erweiterung der Dissertation Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens (1905) zu gelten hat. Im Jahre 1925 lagen erst wenige Hamann-Ausgaben vor, unter ande|| 43 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (Reprogr. Nachdr. der 2. Aufl. 1953). Darmstadt 1994, S. 93–99. Es ist davon auszugehen, dass – neben Ungers – auch Cassirers Lektüre Hamanns, den er nicht als ›Offenbarungstheologen‹, sondern als Sprachtheoretiker las, die Rezeption Hamburgers maßgeblich beeinflusst hat (ebenda, S. 94). Claudia Löschner (Denksystem) hat den Stellenwert von Cassirers Schriften für Hamburger deutlich gemacht. 44 Vgl. hierzu Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung, S. 18.

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ren die – von Unger im Vorwort zu den »mehr populären Kompilationen«45 gezählte – Ausgabe des 19. Jahrhunderts von Moritz Petri, die Hamburger in ihren Hamann-Exzerpten herangezogen hat.46 Die historisch-kritische Ausgabe Josef Nadlers erschien erst in den Nachkriegsjahren 1949–1957; 1930 publizierte er sein vorbereitendes Findbuch Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug,47 das von Unger noch nicht erwähnt wird; hingegen nennt dieser in Bezug auf die literarischen Verbindungen zu Hamann Eduard Berends 1909 erschienenes Buch über Jean Pauls Ästhetik in der Literaturliste.48 Unger hatte seinerseits kurz zuvor in Euphorion (1929), der von Nadler herausgegebenen Zeitschrift für Literaturgeschichte, einen Aufsatz »Hamann und die Empfindsamkeit« publiziert, in der er auf die Denkfigur einer Theologia crucis, der Rechtfertigung Gottes durch den Glauben, eingeht, auf Hamanns Beeinflussung durch die paulinische Botschaft von einer sich »herabneigende[n] ›Verstellung‹ Gottes in Knechtsgestalt«.49 Gemeint ist die Stelle in den || 45 Ebenda, S 12. 46 Gemeint ist die Ausgabe: Johann Georg Hamann’s Schriften und Briefe. Zu leichterem Verständniß im Zusammenhange seines Lebens erläutert und herausgegeben von Moritz Petri. Vier Theile. Hannover 1872–74. Die Exzerpte aus dieser Ausgabe beziehen sich auf folgende Werke Hamanns: Brocken, Sokratische Denkwürdigkeiten, Kreuzzüge des Philologen, Aesthetica in Nuce sowie auf die Briefe Hamanns; ebenso exzerpiert sie aus Ungers Buch Hamann und die Aufklärung (1911). Vgl. DLA Marbach Hamburger: Verschiedenes: »Zu Gottsched, Herder, Joh.Georg Hamann, Lessing, Dramaturgie. Vorarbeiten und Materialsammlung«, 91.4.183. 47 Josef Nadler: Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1930 mit der Findliste zu Josef Nadlers Hamann-Nachlaß in der Universitätsbibliothek Münster/Westf., hg. v. Sabine Kinder mit einem Vorwort von Bernhard Gajek. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1978. – Zur ungebrochenen Lehr- und Forschungstätigkeit Nadlers an der Universität Wien nach dem Krieg äußert sich Hamburger in einem Brief 1946 an Körner: »Was Sie von den Zuständen an der Wiener Universität schreiben, ist ja empörend. Ich finde, man muss, so weit es nur irgend möglich ist, versuchen, dagegen etwas zu unternehmen. Man kann und darf nicht ruhig zusehen, dass Leute wie Kindermann und Nadler, die ja mit den Rosenberg und Goebbels überhaupt identisch zu erklären sind, ihre Lehrstühle behalten und selbstverständlich missbrauchen werden. […]. Aber Sie haben leider Recht: es ist sehr sehr viel Anlass zu tiefstem Pessimismus vorhanden, nicht nur was Wien betrifft.« Vgl. DLA Marbach A: Hamburger: Briefe an Josef Körner, 1946, 1. Brief (Göteborg, d. 25. Januar 1946, Kungsgatan 5), 77.1147.1–15. Als Ironie des ›Schicksals‹ mag gewertet werden, dass parallel zur Festschrift für den Freund Eduard Berend, der zeitweilig im KZ Sachsenhausen war, bevor er in die Schweiz emigrieren konnte, 1959 auch eine Festschrift zum 75. Geburtstag für den »Univ.Prof. Dr. Josef Nadler in Wien« erschien. 48 Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung, Bd. 2, S. 958; Unger hatte bereits in der frühen Studie (Hamanns Sprachtheorie, S. 239) Jean Paul als den »literarischen Nachfahren« Hamanns bezeichnet. 49 Rudolf Unger: Hamann und die Empfindsamkeit, S. 168–169.

154 | Sabine Eickenrodt Paulusbriefen (1. Kor. 1,21), an der von der Unfähigkeit der Welt gesprochen wird, durch ihre Weisheit (bzw. Vernunft) »Gott in seiner Weisheit« zu erkennen, so dass es Gott schließlich gefallen habe, »durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glaubten«. Was den Vernünftigen also als Torheit erscheinen muss, ist somit für die Glaubenden die Weisheit Gottes. Dieses PaulusWort nimmt in Hamburgers frühem Denken einen zentralen Stellenwert ein: dessen Kenntnis ist durch ihre (handschriftlichen) Exzerpte aus Ungers Buch Hamann und die Aufklärung (1925) zu belegen,50 das sie zur Klärung der »Mythologie«51 des sog. »Magus in Norden« unter Bezugnahme auf die christliche Lichtmetaphorik heranzieht: »Hienieden haben wir die Wahrheit, nach Pauli Wort«, so lautet die entsprechende Passage bei Unger, nur »›durch einen Spiegel im Rätsel dargestellt, gegenwärtig und anschaulich gemacht‹, in den sinnlichen Symbolen der Dinge, also in unzählbaren Spiegelungen und vereinzelten Fragmenten, deren Sinn uns allein das Licht der Offenbarung erhellt: die volle, einheitliche und unverhüllte Wahrheit ist dem Jenseits vorbehalten«. Unger folgert interpretierend, dass die Grundlage des christlichen »Mythus« insbesondere der »Sinnbilder- und Gestaltenkreis der Heiligen Schrift« sei, darüber hinaus aber werde »dem gläubigen Sinn und der erleuchteten Intuition die Welt selbst und all ihr Inhalt zum Gleichnis und Träger göttlichen Sinnes […]«. Dem Hamann-Interpreten kommt es darauf an, darzulegen, dass in den Schriften seines Autors »Transzendenz und Realismus« untrennbar seien und »gleichmäßig zu ihrem Recht zu kommen« scheinen. An diesen Gedanken nun knüpft Hamburger in ihrer Nachlass-Studie Hamanns und Herders Sprachtheorie an: Sie beruft sich auf Unger und versucht, dessen Ergebnisse zugleich über den Lektüreweg einer behutsam deutenden Annäherung der Positionen beider Kontrahenten zu korrigieren. Dass sie die Studie als ein nahe am Text sich bewegendes Referat anlegt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hamburger sehr zielbewusst argumentiert: Nach einem Pflichtreferat der wichtigsten philosophischen Positionen zum Sprachursprung rechtfertigt sie, dass sie Hamanns Ansichten vor denen Herders untersuchen wolle, obgleich sich jener bekanntlich auf dessen Preisschrift Über den Ursprung der Sprache polemisch ja erst bezogen habe, Hamanns Schrift also als Entgegnung zu begreifen sei. Sie begründet diese nichtchronologische Lektüre thetisch: Sie wolle Hamanns »Anschauung doch vor dieser darlegen«, weil »Herder so weit über ihn hinausgeht u. mir gerade da anzufangen scheint, wo Hamann stehen bleibt […]« (H, 3). Sie stellt zunächst Hamanns Prämissen dar: In der || 50 Vgl. Anm. 46. 51 Vgl. auch im Folgenden Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung, S. 257–258.

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»Beschaffenheit des menschlichen Geistes« liege für ihn »der Übergang von der göttlichen Sprache der Bibel zur Sprache des Menschen« (H, 8), zu diesem könne nicht anders geredet werden als in Gleichnissen; als Beleg zieht sie eine Stelle aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten heran – »›Alle endliche Geschöpfe sind nur imstande, die Wahrheit u. das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu sehen [Sokr., I, 88]‹« (H, 8 f.) – und führt diesen Satz affirmierend mit Unger fort, der »den Gedankengang Hamanns folgerichtig« durch das Wort »auszusprechen« (H, 9) ergänzt habe. Diese Versicherung, Ungers Lesart folgen zu können, überführt sie dann jedoch in eine grundlegende Neulektüre Hamanns: Am Beispiel von Des Ritters von Rosenkreuz letzter Willensmeinung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache will sie in den »Kern seiner Sprachtheorie« (H, 12) gehen, in der wir wieder bei dem »doppelten Logosbegriff« (H, 13 f.) stünden, »von dem Hamanns Denken ausgeht u. bei dem es stehenbleibt«. Für Hamann sei nicht nur mit dem Bibelwort, sondern mit dem »Erfassen der Natur […] dem Menschen die Sprachfähigkeit unmittelbar gegeben«, er sei somit für ihn ein »wesentlich empfangendes, passives Geschöpf« (H, 14). Ob jedoch, so fährt Hamburger in ihrem Referat beiläufig fort, »wie Rud. Unger folgert, durch diese Tatsache Hamann jede Entwicklungsmöglichkeit der Sprache, jede Fortbildung dieser Sprachfähigkeit ausschliessen will, darauf möchte ich später noch einmal kurz zurückkommen. Jedenfalls führt er eine irgendwie einsetzende Sprachtätigkeit u. Entwicklung nicht weiter aus« (ebd.). Diese vorsichtig vorgebrachte Skepsis wird im Herder-Teil (vgl. H, 15 ff.) wieder aufgenommen – ausdrücklich mit dem Bestreben, Hamanns und Herders Positionen einander anzunähern. Zunächst arbeitet Hamburger geradezu plakativ: Der grundlegende Unterschied sei darin zu sehen, dass Hamann von Gott, Herder hingegen vom Menschen ausgehe, und dieser Unterschied sei »am klarsten in ihren Anschauungen über die Sprache dargestellt« (H, 16). Während Herder Sprache als ein »lebendiges, organisches, sich entwickelndes Wesen« betrachte, sei sie bei Hamann eine »Hülle, ein Symbol« (H, 16). Diese ›Geschichtlichkeit‹ der Sprache verbindet sich für Hamburger mit seinem Begriff der »Besonnenheit« (H, 22), der Fähigkeit also, dass der Mensch nicht nur über Vernunft verfüge, sondern auch wisse, »dass er erkennt, will u. wirkt« (H, 22), dies sei für Herder die dem Menschen grundlegende, die bestimmende Kraft. Im Weiteren entwickelt Hamburger das Problem des menschlichen Ursprungs der Sprache als Frage, wie der Mensch Sprache dort, wo »das Ohr nicht Lehrmeisterin« war, überhaupt Sprache habe erfinden und wie er die nicht-tönenden Gegenstände in der Natur habe bezeichnen können; und sie hebt hervor, dass Herder die Erklärung »in der Einheit der menschlichen Seele« (H, 24) finde: »Die Eigenschaften der Gegenstände sind blosse sinnliche Empfindungen in uns u. fliessen als solche alle in eins. Denn unsere Seele ist einheitlich. Das, was

156 | Sabine Eickenrodt ihre Einheit bildet, was allen Sinnempfindungen zu grunde liegt, ist das Gefühl« (H, 24). Im Referat des zweiten Teils der Herder-Studie hebt sie erneut hervor, dass es ihm um die Entwicklung der Sprache gehe, die analog zur Entwicklung des Menschen in der Geschichte zu sehen sei, er habe das »Naturgesetz« (H, 28) aufgestellt, dass der Mensch – hier zitiert sie Herder – »›ein freidenkendes, tätiges Wesen [sei], dessen Kräfte in Progression fortwirken; darum sei es ein Geschöpf der Sprache‹« (H, 28), und sie kommentiert, auch diese kausale Anbindung, die die von Herder gebrauchte Konjunktion (›darum‹) ausdrücke, sei letztlich »auch jetzt noch lose u. nicht ganz logisch angeknüpft« (H, 28). Erst die Tatsache, dass sich neben dem »Gesetz der Entwickelung« auch ein soziologisches Gesetz geltend mache, führe ins Zentrum seines Denkens, dass »Sprache sich fortpflanze u. bilde mit dem menschlichen Geschlecht« (H, 31). Hamburger würdigt Herder als einen Denker im »Gegensatz zur Aufklärung« (H, 32), der das »Werden der Dinge« (H, 32) verkündet habe, sich zweifellos darin von Hamann, »dem Verkünder der göttlichen Offenbarung, des Gnadengeschenkes der Sprache« (H, 32) unterscheide. An dieser Stelle wird jedoch die Tendenz ihrer Argumentation deutlich: Letztlich geht es ihr um die Differenzen ihrer Auffassung gegenüber Ungers Hamanninterpretation. Dieser habe behauptet, dass Hamann »jede eigene Tätigkeit der Menschen an der Bildung der Sprache anschliessen« (H, 33) wolle, die ihm als Gnadengeschenk Gottes gegeben sei, und die er also nur als »passives, empfangendes Geschöpf« (H, 33) zu gebrauchen lerne, und Hamburger hält dagegen: »Kann aber in diesem Lernen nicht die Möglichkeit einer Fortbildung u. Aufwärtsentwicklung der Sprache von seiten des Menschen liegen? Hamann selbst scheint es uns so gemeint zu haben«, so reflektiert die Referentin, um aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten zitierend fortzufahren: »Alles Göttliche ist aber auch menschlich, weil der Mensch mehr wirken und leiden kann als nach ›der Analogie seiner Natur‹« (H, 33). Weitere einschlägige Hamann-Zitate werden angeführt, um sie schließlich in eine Nähe zur Auffassung Herders zu bringen, indem sie beide Positionen relativiert, sie in die jeweils andere des Kontrahenten zu treiben sucht: Ich glaube doch, dass Hamann mit solchen Sätzen angedeutet haben will, dass, nachdem der Mensch durch Anschauen, Erfassen u. Benennenwollen der göttlichen Dinge zum Bewusstsein seiner Sprachfähigkeit gekommen war, er diese Fähigkeit menschlich weiter schuf u. ausbildete, wie es seiner Natur gemäss war. Aber es ist richtig, Hamann deutet diese Tätigkeit nur an wie er immer nur andeutet. Das Schwergewicht legt er zweifellos auf die Göttlichkeit der Sprache […]. Aber es ist, wie ich glaube, nicht ganz auszuschließen, dass er nicht weiter gedacht habe oder nicht weiter habe denken wollen. Wie Herder nun gerade hier einsetzt u. die sprachschaffende Tätigkeit des Menschen entwickelt, haben wir gesehen. Was aber war für Herder der Mensch? ›Ein Wesen‹, heißt

Symbolische Inkarnation | 157 es, ›aus den Händen der Natur im frischesten Zustande seiner Kräfte u. Säfte u. mit der Anlage sich zu entwickeln, hervorgegangen.‹ Ob es Natur oder Gott heisst, ist kein Unterschied u. war auch für Herder keiner. Den letzten Ursprung der Dinge, des Menschen u. seiner Sprachfähigkeit sieht aber auch Herder in Gott. In der oben behandelten Schrift deutet er ihn nur an u. legt das Hauptgewicht auf die Menschlichkeit des Menschen, wie Hamann diese nur andeutet. (H, 33 f.; Herv. i. Orig.)

Hamburger geht es offenbar darum, noch in Hamanns Kritik an Herder die Nähe in den Auffassungen beider zu sehen, somit den Gedanken der göttlichen Abkunft des Menschen mit seinem Selbstbewusstsein (»Besonnenheit«) und mit der Geschichte der Menschheit (und menschlichen Sprache) als einer organischen Einheit zu interpretieren. In der Schlusspassage ihrer Schrift wird dies noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht – mit Bezug auf Herders spätere, der Sprachursprungsschrift scheinbar zu widersprechende Älteste Urkunde des Menschengeschlechts: Nicht sich zu widersprechen, nur zu ergänzen scheint mir Herder, was er in der Abhandlung über die Sprache nicht genügend betont hatte: das letzten Endes der Mensch göttlich ist, wie die ganze Natur, die er anschaute u. benennen wollte. Hier scheint uns der Berührungspunkt zwischen Hamann u. Herder zu liegen. So sehe ich das Verhältnis der beiden zueinander: was Hamann andeutete, führt Herder aus. Wo Hamann aufhört, setzt Herder ein. Dass sich im Laufe der Entwickelung für beide daraus ein verschiedenes Bild ergeben muss, ist natürlich. Aber der Boden, auf dem sie erwuchsen, ist so gänzlich anders geartet nicht. (H, 35)

Diese den Konsens der beiden Aufklärungskritiker betonende Argumentation, die Anstrengung, den Gedanken der organischen Einheit an den Prozess der Geschichte zu binden, ist paradigmatisch für das Denken auch des Beitrags von 1959, an dessen Ende Hamburger die großen Humoristen der Weltliteratur als »Epiker« ausweist, die im Zeichen des Cervantes stünden: Die aus der Sprachtheorie des 18. Jahrhunderts gewonnene Auffassung eines an ›Besonnenheit‹ gebundenen »Werdens«, das durch göttlichen Ursprung auf Einheit abonniert ist, überträgt sie gewissermaßen auf die narrative Struktur eines humoristischen Verfahrens. Diese Voraussetzungen müssen in ihrer Argumentation stets mitgedacht werden: Sie sind sowohl für das Verständnis ihrer ›Übersetzung‹ der Vorschul-Paragraphen erhellend als auch für ihr Beharren, deren Begriffe durch ›metaphysikfreie‹ ersetzen zu wollen. Verständlich wird dieses programmatische Verfahren erst, wenn man die frühe Hamann- und Herder-Lektüre in Hamburgers Argumentation mit bedenkt. Diese kann zumindest als Rezeptionsvoraussetzung Geltung beanspruchen: Die Interpretin des Don Quijote stellt sich in die Tradition der Sprachtheorie, wenn sie schließlich die von Hofmann entwi-

158 | Sabine Eickenrodt ckelte Humanitätsphilosophie auf das humoristische Darstellungsverfahren, auf eine von ihr geltend gemachte Dichtungslogik überträgt.

3 Von Hamann zu Husserl: Phänomenologische Fundierung einer »Struktur des epischen Humors« Für Hamburger ist der spanische Roman der Romane das Paradigma eines »epischen Humors«, weil »die Humor erzeugende Erzählfunktion hier nicht in die ›subjektive‹ humoristische Rede des Erzählers mehr oder weniger arabesk ausschweift, sondern mit sozusagen ernsthafter Objektivität ›bei der Sache‹ bleibt« (134). Hamburgers Rückgriff auf den Cervantes-Roman ist erkennbar dem Versuch geschuldet, das Humanum in der Strukturlogik eines humoristischen Verfahrens selbst phänomenologisch zu erfassen und auf diese Weise sichtbar zu machen. Kühn war dieses Unterfangen nicht nur in Bezug auf die Tatsache, dass es weder mit Berends Auffassung von Jean Pauls Ästhetik vereinbar war, die sie aus den Arbeiten und Gesprächen mit dem langjährigen Freund und Jubilar kannte, noch mit seinen eigenen zunächst als Habilitationsschrift geplanten (unveröffentlichten) Beiträgen zur Geschichte des humoristischen Romans (1920)52 und erst recht nicht mit Kommerells 1957 in der dritten Auflage erschienenem Buch zu Jean Pauls Humor, das bei ihr unerwähnt bleibt.53 Ungewöhnlich ist vor allem ihr Versuch, das Darstellungsgefüge im humoristischen Roman erkenntnistheoretisch zu fundieren: Sie rekurriert in der terminologischen Grundlegung ihres Denkens – ohne dies eigens auszuweisen – auf Fragen der »Abstraction und Repräsentation« in Husserls Logischen Untersuchungen,54 indem sie zunächst eine Definition dessen gibt, was sie das »phänomenologische Strukturelement des Humors« (125) nennt. Dieses sei »das Element des Inadäquaten, worin enthalten ist, daß eine Erscheinung nicht dem entspricht, was sie eigentlich sein, eigentlich repräsentieren will oder soll, d. h., daß etwas Eigentliches eine in irgendeiner Form uneigentliche Erscheinungsform erhalten hat« (125; Herv. i. Orig.). Diese Formel fügt sich in die Auseinan|| 52 Eduard Berend: Beiträge zur Geschichte des humoristischen Romans (1920). Unveröff. Nachl.-Typoskript. DLA Marbach A: Berend (90). 53 Max Kommerell: Jean Paul. 3. unveränderte Aufl. Frankfurt a. M. 1957. 54 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Theil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Halle 1901.

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dersetzung mit der Kategorie der Anschauung (bzw. des Anschaulichen), die Hamburgers Gesamtwerk – inkl. der Briefe und der Vorarbeiten im Nachlass – durchzieht:55 Sie kulminiert in der mehrfach von ihr wieder aufgegriffenen Zeile aus ihrem Husserl-Exzerpt, dass »anschaulich« nur das sei, »was nicht angeschaut« ist,56 somit in der Unterscheidung von einer »inadäquate[n] Evidenz der Dinge, die immer ›abgeschattet‹ (fragmentarisch) gegeben« seien, und der »adäquaten Evidenz der inneren Erfahrung, wo wir ja nichts Sichabschattendes vorfinden, sondern immer nur die Erlebnisse, die ›Phänomene‹ ganz als sie selbst«. Diese ›Formel‹ geht in die Argumentation des Cervantes-Aufsatzes insofern ein, als die Verfasserin diese auf die humoristische Struktur des Romans selbst zu übertragen sucht. Mit dem Begriff des »Vexierspiels«57 – in Abwandlung von Jean Pauls »Vexierbild« (I/5, 192)58 – erfasst sie schließlich die so bestimmte Humor erzeugende Gestaltungskraft der Sprache in einem Prozess universaler Fiktionalisierung, einer erzählerisch produzierten Inadäquanz von Aussagen (bzw. Vorstellungen). Käte Hamburger versucht somit Ende der fünfziger Jahre, die Ästhetik des Humors in eine Strukturbestimmung der Narration zu überführen, und sie spricht gleichsam programmatisch von der »epischen Struktur« als einer objektivierenden »Inkarnation« (118–119). Interessant ist diese Argumentation in mehrfacher Hinsicht, deren Einzelaspekte zunächst voneinander abzugrenzen sind, um sie in ihrem Zusammenhang verstehen zu können. Erstens arbeitet sie mit einem Denkmuster, das ihre Begriffe der Erlebnisphilosophie Hofmanns entnimmt. Dieser hatte 1925 in einer Studie Das religiöse Erlebnis. Seine Struktur, seine Typen und sein Wahrheitsanspruch ein metaphysikfreies59 Verständnis von Religiosität entwickelt, das auf einer hermeneutisch konnotierten »Struktur der Seele« beruhe. Das religiöse Erlebnis bedeutet für ihn – in Auseinandersetzung mit Diltheys Bestimmungen des »Verstehens«60 – »einen geschlossenen Zusammenhang, dessen Teile oder Momente wieder durch Notwendigkeit miteinander verbunden sind: durch eine || 55 Entsprechende Stellen finden sich im Briefwechsel mit Josef Körner in Prag, in Vorarbeiten zur Rilke-Arbeit bis hin zum Briefwechsel mit Klaus Schröter über Thomas Mann. 56 Im Nachlass befindet sich eine Unterscheidung von »Anschauung« und »anschaulich«; vgl. auch im Folgenden DLA Marbach A: Hamburger, Husserl, Vorarbeiten und Materialsammlung, 91.4.151; das Notat bezieht sich auf Husserls Logische Untersuchungen II, 2, Kap. 4. 57 Vgl. Sabine Eickenrodt: Vexierspiel; den Terminus »Vexierspiel« gebraucht Götz Müller (Jean Pauls »Rede des todten Christus«, S. 123) für Jean Paul, aber ohne Bezug auf Hamburger, deren Aufsatz ihm wahrscheinlich nicht bekannt war. 58 Vgl. Sabine Eickenrodt: Vexierspiel, S. 153. 59 Paul Hofmann: Das religiöse Erlebnis. Seine Struktur, seine Typen und sein Wahrheitsanspruch. Berlin 1925, S. 9. 60 Ebenda, S. 6, Anm. 1.

160 | Sabine Eickenrodt Notwendigkeit, welche selbst letztlich auf die gesetzliche Struktur der Seele zurückgeht«.61 Die bei Hofmann als »›Gedankenexperiment‹ der verstehenden Phantasie«62 ausgewiesene »Notwendigkeit« in der Evidenz stellt sich für ihn als eine »virtuelle Allgemeingültigkeit eines als ›frei‹ erlebten Reagierens« dar, deren Annahme nicht physikalisch überprüfbar ist, sondern »mit dem einzelnen Erlebnis selbst sich verbindet und an ihm erkannt wird«.63 Diese Vorgaben werden bei Hamburger auf die Gegebenheiten des Denkens bzw. die Struktur des ›epischen‹ Humors zumindest dort übertragen, wo die Sprache selbst, gleichsam »subjektunabhängig«, als »Akteurin« – wie es Claudia Löschner in Bezug auf die Logik der Dichtung formuliert hat –64 auftrete, die den logischen Gesetzen gehorche. Hamburgers Ablehnung der subjektiven Ich-Einmischungen und Digressionen des Erzählers in Jean Pauls Romanen ist deshalb kaum nur der Idiosynkrasie einer strengen Kritikerin zuzuschreiben, sondern muss im Zusammenhang mit ihren Konnotationen dieses Strukturbegriffs gelesen werden: In ihrer Einleitung zu ihrem Buch Der Humor bei Thomas Mann unterscheidet sie 1965 dann ausdrücklich zwischen »Symbolstruktur« und »Humorstruktur«: Ein Lungensanatorium sei »nicht die uneigentliche Erscheinungsform eines Totenreichs, sondern dieses wird, als ein Anderes, in jenem ›wiedererkannt‹. Und auf der anderen Seite sind die uneigentlichen Erscheinungsformen in den humoristischen Romanen nicht die Symbole des Eigentlichen, das in ihnen lebt«.65 Humor stellt sich für Hamburger erst »durch diese Schichten, das aber heißt die Substanz der weitausholenden Erzählung«, im Prozess der Darstellung also, »im Licht des gesamten Beziehungsgefüges« her. Noch deutlicher heißt es in ihrem Buch zum Joseph-Roman, dass sich die Humorstruktur des »Uneigentlich-Eigentlichen« als das »höchst kunstvolle erzählmethodische Mittel« erweise, »den Symbolsinn sichtbar zu machen«. Dass Hamburger sich der literarhistorischen (sowie der theologischen) Prämissen ihres Versuchs der Erfassung einer phänomenologischen Struktur humoristischen Erzählens deutlich bewusst ist, zeigen ihre wiederholt formulierten zustimmenden Äußerungen zum »Sinn«-Verstehen in Paul Hofmanns Philosophie, und nicht selten nimmt sie die Rolle einer Vermittlerin ein, die dessen Grundgedanken zu erklären und fortzuführen weiß. Im Briefwechsel mit Josef Körner differenziert sie ausdrücklich die Unterschiede zwischen dessen || 61 Ebenda, S. 8. 62 Ebenda, S. 7, Anm. 1. 63 Ebenda (Herv. i. Orig.). 64 Claudia Löschner: Denksystem, S. 169–170. 65 Vgl. auch im Folgenden Käte Hamburger: Der Humor bei Thomas Mann. Zum JosephRoman. München 1965, S. 50–52 (Herv., S.E.).

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»Sinn«-Begriff und Hofmanns philosophischem Entwurf. Dies zeigt ihr Göteborger Brief an den Prager Romantikforscher vom 3. März 1946, ein Jahr vor Hofmanns Tod: Ein ›metaphysikfreier Sinnbegriff‹, auf den es auch Ihnen ankommt, ist genau genommen ein tautologischer Ausdruck im Sinne der Philosophie Hofmanns. Denn »Sinn« bedeutet ihm den Gegenpol aller Objektivität, ja geradezu des »Sinnes« der Objektivität. Es bedeutet ihm »Erleben«, die (innerlich unendliche und nie ohne Rest objektivierbare) Subjektivität des Subjekts. Sie scheinen mir den Begriff des Sinnes mehr in seinen metaphysischen Hypostasierungen oder Objektivationen und darum als theologischen resp. idealistisch säkularisierten Atavismus aufzufassen, wodurch ein Widerspruch entsteht, wenn man ihn in ein »anthropologisches« Denken hinübernimmt, weil er dort, seiner objektiven Allgemeingültigkeit beraubt »nur« subjektive Wertbedeutung hätte. Bei Hofmann beruht aber gerade die Eliminierung des Solipsismus auf der Erkenntnis von der subjektiven, »interindividuellen« Allgemeingültigkeit des Sinnes: die Erlebensstruktur ist für alle ich-sagenden Wesen die gleiche, worauf die Möglichkeit des Verstehens, des Ich-Du-Verhältnisses beruht. Dies in sehr kurzen und unzulänglichen Worten eine Andeutung von Hofmanns Versuch einer Auflösung des objektivistischen Denkens […].66

Gerade diese klare Abgrenzung von einem »theologischen resp. idealistisch säkularisierten Atavismus« verweist ex negativo auf die Spur einer Auseinandersetzung mit theologischen Konzepten, die nicht nur für Hofmanns Philosophie, sondern auch für ihre eigene frühe Lektüre von Hamanns und Herders Schriften wichtig war. Diese beiden Denklinien sind jeweils mitzuverfolgen, wenn man Hamburgers Neuansatz einer (sprachtheoretisch basierten) Beschreibung des humoristischen Verfahrens als eines spezifisch »epischen« verstehen will. Aus der oben zitierten Passage wird deutlich, wie ernst es Hamburger damit ist, einen metaphysikfreien ›Begriff‹ des humoristischen Verfahrens || 66 DLA A: Hamburger: Briefe an Josef Körner, 1946, 3. Brief (Göteborg, d. 3. März 1946, Kungsgatan 5), 17.147/1–15 (Herv., S.E.). Bei Hofmann (Sinn und Geschichte, S. 4 f.) lautet die entsprechende Stelle in der Einleitung: »Das Ich-sagen bedeutet das Sinngebende, welches dem Ich-bezeichneten den Sinn gibt ›Subjekt‹ zu sein: die ›Subjektivität des Subjekts‹. Dieser Sinn – und das heißt: ›Sinn‹ überhaupt – ist nur an dem einzigen Ich-Objekt als dessen (verspürte) Beseeltheit unmittelbar zugänglich. Die Objektivität der Objekte dagegen, ihr Einanderes-sein gegenüber dem Ich, wird verstanden als das ihnen zugedachte Seiend-sein oder ›Sein‹./ Diese Korrelation von Ich und Gegenstand (Objekt) oder von Sinn und Sein ist innerlich unendlich; denn in der Erlebensrichtung auf Objektivität, im wahrnehmend-denkenden, Objekte-erkennenden Erleben, kann das stets gespürte Subjekt (der Sinn) ›selbst‹ nie völlig zum Objekt gemacht werden, da es in keinem möglichen d. i. vorstellbaren Objekt ›ohne Rest‹ aufgeht. Dies wird für die Struktur des Sinnes in folgender Weise wichtig. Sinn wird gewußt und erkannt in der ›Selbstbesinnung‹«. Bisher liegen nur die Briefe Körners an Käte Hamburger gedruckt vor: Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe, hg. v. Ralf Klausnitzer mit einem Vorwort von Hans Eichner. Göttingen 2001, S. 187–189.

162 | Sabine Eickenrodt zu gewinnen. Bereits ihre frühe Hamann-Lektüre belegt ja, dass sie dessen Sprachdenken nicht als Ausdruck von Offenbarungstheologie sehen wollte, sondern es vielmehr mit Herders Entwicklungs- und Geschichtsdenken argumentativ zu verknüpfen suchte. Dass sie damit einer späteren Hamannforschung vorarbeitete, wird deutlich, wenn man neuere Vorbehalte gegenüber Rudolf Ungers maßgeblichen Arbeiten liest.67 Nicht nur die oben referierte frühe Studie zur Sprachtheorie Hamanns und Herders, sondern auch Hamburgers ausführliche Exzerpte der Schriften und Briefe Hamanns (an Jacobi) verweisen auf ihren späteren Argumentationsgang.

4 Paulinische Denkfiguren: Rekurs auf Paul Hofmanns metaphysikfreie »Sinn- und Humanitätsphilosophie« Diese Vorarbeiten fügen sich ein in das Mosaik der Impulse, die das Fundament von Hamburgers Strukturbegriff eines Humors gelegt zu haben scheinen, in dem 1959 schließlich Jean Pauls zentrale Begriffe des Unendlichen und Endlichen (in der Vorschule der Ästhetik) programmatisch durch die »metaphysikfreien des Eigentlichen und Uneigentlichen« (127) ersetzt werden sollen. Die Zwischenschritte zu dieser rigorosen Argumentationslinie Hamburgers sind – im Umkreis ihrer Hamann-Studien – offenbar auch hier vor allem aus ihrem Dialog mit Paul Hofmann zu erklären: Für einen solchen Zusammenhang spricht, dass dieser sich in einem auf den 5. Februar 1940 datierten und handschriftlich überlieferten Text ausdrücklich mit diesen Fragen beschäftigt hat. Gleich der erste Satz dieses Textes – mit dem Titel Paulus Rechtfertigung durch || 67 Das Christliche des Hamannschen Denkens sei nicht, »wie Unger und Korff meinten, Begrenzung und Fessel«, die eine »›eigentliche Sachlichkeit des Denkens und damit wesentlich neue Ideen kaum aufkommen ließen‹«, so gibt Georg Baudler zu bedenken, dessen Monographie als erster größerer Versuch betrachtet werden kann, sich nach Ungers maßgeblicher Arbeit 1905 mit Hamanns Sprachauffassung auseinanderzusetzen: Vgl. Georg Baudler: ›Im Worte sehen‹. Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns. Bonn 1970, S. 10. Die zitierte UngerStelle wurde entnommen aus: Rudolf Unger: Sprachtheorie, S. 41. – Auch Josef Simon hatte bereits in seiner Einleitung zu einer Sammlung von Hamanns Schriften zur Sprache auf Ungers mangelnde philosophische Orientierung hingewiesen, die zu Fehldeutungen des Verfahrens von Hamann als »›unlogisch, ja antilogisch‹« geführt habe. Josef Simon: Johann Georg Hamann: Schriften zur Sprache. Einleitung und Anmerkungen von Josef Simon. Frankfurt a. M. 1967, S. 7–80, hier: S. 77.

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den Glauben als Symbol verstanden – präsentiert die Absicht einer Neuinterpretation: »Wenn man die Paulinischen Gedanken der Römerbriefe, die für die christliche Dogmatik grundlegend geworden sind, ihrer massiven Metaphysik entkleidet«, so lautet dieser Anfangssatz, »so werden sie zu sinnbildlichen Ausdrücken der tiefen Wendung des Sich-selbst-verstehens […]«.68 Als Nachlassdokument ist der Wert dieses Satzes für Hamburgers spätere Argumentation nur zu begreifen, wenn man sich zugleich der Möglichkeit nicht verschließen will, dass Hamann als Stichwortgeber für Hofmanns 1933 abgeschlossenes und 1937 erschienenes Hauptwerk Sinn und Geschichte. Historisch-systematische Einführung in die sinn-erforschende Philosophie69 fungiert haben könnte. Zumindest liegt es nahe, dass Hofmanns Titel auf eine zentrale Passage aus einem Brief Hamanns an Jacobi vom 14. November 1784 anspielt, den Käte Hamburger ihrerseits ausführlich in ihren Studien exzerpiert hat70 und in dessen Zentrum die

|| 68 Paul Hofmann: Paulus Rechtfertigung durch den Glauben als Symbol verstanden, S. 1 (Herv., S.E.). Die handschriftliche Abhandlung im Umfang von sieben Seiten befindet sich im Teilnachlass Hofmanns, der in Hamburgers Nachlass integriert ist: DLA A: Hofmann (Teilnachlass in A: Hamburger). Auf dem Manuskript ist das (möglicherweise später hinzugefügte) Datum »5.2.40« vermerkt. – Eine neuere Studie zum Thema hat in Bezug auf Hamann Elfriede Büchsel vorgelegt: Paulinische Denkfiguren in Hamanns Aufklärungskritik. Hermeneutische Beobachtungen zu exemplarischen Texten und Problemstellungen, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 30 (1988), S. 269–284. 69 Paul Hofmann: Sinn und Geschichte. Historisch-systematische Einleitung in die Sinnerforschende Philosophie. München 1937. Dem Buch sind zwei Motti aus Goethes Westöstlichem Diwan vorangestellt, die man als chiffrierte Widmungen für die seit 1934 im Göteborger Exil lebende Käte Hamburger verstehen kann: Das erste Motto ist den »Noten und Abhandlungen« unter der Überschrift »Israel in der Wüste« entnommen: »Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschheitsgeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens«. Der Anfang und Kontext dieses Abschnitts war für die Goethe-Kennerin unschwer zu erschließen: »Da kommt ein König aus Ägypten«, so beginnt der Abschnitt, »der wußte nichts von Joseph«. Der sich direkt an die von Hofmann zitierte Zeile anschließende Satz lautet bei Goethe: »Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt.« – Das zweite Motto ist dem »Buch Suleika« entnommen und lautet bei Hofmann: »Denn das Leben ist die Liebe / Und des Lebens Leben Geist«. Auch dieser Kontext war Hamburger zweifellos bekannt, die ausgesparten Zeilen lauten: »Nimmer will ich dich verlieren! Liebe gibt der Liebe Kraft«. 70 Käte Hamburgers Exzerpt dieses Briefes findet sich im Nachlass. Vgl. DLA Marbach Hamburger, »Verschiedenes« (wie Anm. 46), Brief Hamanns an Jacobi vom 14. November 1784. Dieser Brief wurde – wie auch die folgenden hier zitierten – aus der von Moritz Petri herausge-

164 | Sabine Eickenrodt Formulierung »Sinn und Geschichte« zu finden ist. Obgleich Hamann in Hofmanns Buch nicht genannt wird, sind die geistesgeschichtlichen Bezüge – insbesondere in seinem Kapitel »Der Sinn des hypostasierten Gottessymbols«71 – nicht zu übersehen. Ich zitiere diese Brief-Passage nach der (von Hamburger zugrunde gelegten) Petri-Ausgabe: Erfahrung und Offenbarung sind einerlei, und unentbehrliche Flügel oder Krücken unserer Vernunft, wenn sie nicht lahm bleiben und kriechen soll. Sinn und Geschichte [sic!] ist das Fundament und der Boden, – jene mögen noch so trügen, und diese noch so einfältig sein: so zieh ich sie allen Luftschlössern vor […] – nur reine geläuterte und abgezogene und leere Wörter – die scheue ich wie tiefe stille Wasser und glattes Eis. Alle die Varianten in Buchstaben, Syntax etc. fechten mich nicht an. Kein Exemplar und noch weniger Oncle Toby besteht aus lauter Varianten. Auch im Wissen herrscht eine leidige Plusmacherei. Ein Kind, das nichts weiß, ist deswegen kein Narr, noch Thier, sondern bleibt immer ein Mensch in spe. Ich weiß genug, indem ich mich im Empfinden übe – und bei wenigem Wissen kann man desto mehr thun. Wissen bläht auf, aber die Liebe bessert [Anm.: 1.Cor. 8,1]. Alles ist eitel! – nichts neues unter der Sonne! [Anm.: Pred.1, 2,9] – ist das Ende aller Metaphysik und Weltweisheit, bei der uns nichts übrig bleibt, als der Wunsch, die Hoffnung und der Vorschmack eines neuen Himmels und einer neuen Erde †) – in schönen und lieblichen, aber ebenso vergänglichen und flüchtigen Augenblicken, wie die Liebe in Wollüsten.72

Hamanns Brief, der in einem Nebensatz auf Laurence Sternes Tristram Shandy anspielt, ist im Rahmen einer Korrespondenz mit Jacobi entstanden, die Vernunft an Sprache knüpft. Ein weiterer – von Hamburger exzerpierter – Brief an Jacobi vom 2. November 1783 zeigt ihr ausgeprägtes Interesse an diesem Zusammenhang: Doch Sie wissen es schon, daß ich ebenso von der Vernunft denke, wie St. Paulus vom ganzen Gesetz und seiner Schulgerechtigkeit – ihr nichts als Erkenntniß des Irrthums zutraue, aber sie für keinen Weg zur Wahrheit und zum Leben halte. Der letzte Zweck des Forschers ist, nach Ihrem eigenen Geständnisse, was sich nicht erklären, nicht in deutliche Begriffe zwingen läßt – und folglich nicht zum Ressort der Vernunft gehört. – Ich habe aber diese Untersuchung ganz aufgegeben, wegen ihrer Schwierigkeit, und halte mich jetzo an das sichtbare Element, an dem Organo oder Criterio – ich meine die Sprache. Ohne Wort keine Vernunft, – keine Welt. Hier ist die Quelle der Schöpfung und

|| gebenen Hamann-Ausgabe (vierter Theil, Hannover 1874, S. 198–204) exzerpiert. Die Abschrift Hamburgers setzt ab S. 200 ein. 71 Paul Hofmann: Sinn und Geschichte, S. 542–546; vgl. auch die folgenden Paragraphen des Kapitels. 72 Käte Hamburgers Exzerpt dieses Briefes (wie Anm. 46) bezieht sich auf die Petri-Ausgabe (vierter Theil, Hannover 1874), S. 198–204, hier: S. 201–202.

Symbolische Inkarnation | 165 Regierung! Was man in morgenländischen Sisternen sucht, liegt im senu communi des Sprachgebrauches […].73

Wie sehr Hamburgers Hamann- und Jacobi-Lektüre der hermeneutischen Sinnphilosophie Hofmanns verbunden ist, zeigt noch ihre Erläuterung in einem von Uwe Schweikert 1974 im Rahmen der Reihe Wege der Forschung herausgegebenen Band, der ihren frühen Aufsatz »Das Todesproblem bei Jean Paul« unverändert wieder abdruckte. Hamburger wollte Jean Paul 1929 mit Blick auf die Frage nach dessen Unsterblichkeitsglauben, nach dessen Problematik einer »Erlebensunmöglichkeit des Todes«,74 als christlichen Autor lesen, und sie macht nun in einer dem Wiederabdruck beigefügten Fußnote ohne weitere Distanzierung vom frühen Text deutlich, dass sie die »Einsicht in die Möglichkeit des Erlebens überhaupt der Sinnanalyse und Verstehenstheorie Paul Hofmanns«75 verdanke. Dieser habe, »die transzendentale Deduktion Kants zu Ende denkend, die Subjekt-Objekt-Korrelation dahin vertieft, daß das Ich nichts anderes bedeutet als das erlebende Korrelat der Gegenständlichkeit, das innerlich unendliche Sich-Selbsterleben des Erlebens, das aber ist der Sinn«. Sie fährt dann erläuternd fort, dass sich auf den Sinn »in der Weise des Innewerdens das Verstehen [richte] – nicht ein Denken und nicht ein Anschauen, die von dem Verstehen darum grundsätzlich unterschieden sind, weil sie auf Objektives, nicht auf Subjektives, erkennend gerichtet sind.« Dieser Bemerkung wird schließlich von der Verfasserin der Hinweis hinzugefügt, dass das im frühen Aufsatz von ihr herangezogene Werk Hofmanns – Das Verstehen und seine Allgemeingültigkeit (1929) – eine »Vorstudie zu dem späteren großen Werk ›Sinn und Geschichte‹« gewesen sei. Hofmanns Denken wird von Hamburger auch im Jahre 1974 noch als Fundament der eigenen Arbeit insofern akzeptiert, als sie dessen Prämissen zustimmend referiert. In dem bei Hofmann zu findenden Abschnitt »Gott als Symbol«76 wird die Herkunft des christlichen Gottesbegriffs entwickelt und in die ›Formel‹ gefasst, dass dieser »ein hypostasiertes Symbol des Ich-sagens« sei: »Gott ist das Sinnbild des Ich«, und der Verfasser setzt dieses gerade ab von einem Wunschbild etwa (der »reproduktiven Einbildungskraft«), das er als ein »Objekt über den Wolken erdichtet« bezeichnet. Es gehe vielmehr um ein »Sinnbild, in dem das || 73 Hamburgers Exzerpt dieses Briefes (wie Anm. 46) bezieht sich auf die Petri-Ausgabe, Bd. 2, S. 163–165, hier: S. 164–165 (Herv. i. Orig.). 74 Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, in: Jean Paul, hg. v. Uwe Schweikert. Darmstadt 1974, S. 74–105, hier: S. 80. 75 Vgl. auch im Folgenden ebenda, Fußnote 12, 81 (Herv., S.E.). 76 Vgl. auch im Folgenden Paul Hofmann: Sinn und Geschichte, S. 545–546 (Herv. i. Orig.).

166 | Sabine Eickenrodt Urgeheimnis des Ich-Sagens, d. i. des Sinnes meines Lebens, mit Hilfe der von Kant so genannten produktiven Einbildungskraft sich auszulegen und dadurch sich selbst zu verstehen sucht«. Hofmann entwirft das »Sinnbild der Möglichkeit introszendenter Selbstbesinnung«, das der »Allgemeingültigkeit« nicht entbehrt, sondern im Gegenteil: Gerade im Prozess dieser »Selbstbesinnung« ist für ihn auch die auf Freiheit ausgehende »Selbstverwirklichung« gegeben.77 Er sieht diesen Prozess der Selbstbesinnung keineswegs also als ein Abarbeiten an den widerständigen Objekten eines äußeren Lebens an, das – wie peinigend auch immer – letztlich befreiend wirken könnte. Im Gegenteil: »[…] die Strukturen, die wir Sinn-erkennend erkennen, stellen selbst geradezu die Struktur der Freiheit (des Wissens oder Wollens) dar.«78 Es geht somit um die Auffassung, dass über den Prozess der »introszendente[n] Selbstbesinnung«79 – notwendig, allgemeingültig – Geschichte als ›Sinn‹ sich ereigne: Auch unter dem »Schleier des Mißverständnisses, auch als hypostasierte Vorstellung« – so erläutert Hofmann vergangene Phasen der abendländischen Geschichte – haben somit »dieses Symbol [Gott] und die ihm verwandten eine gewaltige geschichtliche Aufgabe erfüllt«. Es sei der »Kristallisationspunkt von Gedanken und Tendenzen« gewesen, die »dem Ich ermöglichten, in der Tiefe und Weite seines inneren Universums heimisch zu werden«. Es ist deutlich, dass Hofmann seine Herkunft aus der geschichtsphilosophischen Tradition des 18. Jahrhunderts nicht verleugnet. Vielmehr versucht er, die Denklinien u. a. von Herders geschichtsphilosophischen Ansätzen und zugleich deren Ungenügen, deren historische Beschränkungen aufzuweisen. Hofmanns Begriff der »Selbstbesinnung« gibt sich hier als ein Terminus zu erkennen, der seine Impulse von Herders »Besonnenheit« erhalten hat. Herder wird die Leistung zuerkannt, das »Phaenomen des verstehend nacherlebenden Erkennens herausgearbeitet«80 zu haben: Hofmann belegt Herders ›Programm‹ der Einfühlung mit dem von ihm geltend zu machenden Terminus der »Sinn-Erkenntnis«, um die historischen Fundamente seines eigenen Denkens kenntlich zu machen, die er zugleich zu erschüttern sucht: »Das ›Phaenomen‹ der Sinn-Erkenntnis«, so wendet er kritisch gegen || 77 Ein Beispiel für diese – gleichsam notwendig sich über den Weg der Selbstbesinnung herstellende – sittliche Menschwerdung findet er in Tolstois Anna Karenina. (Hamburger hat in ihrem 1945 in Stockholm erschienenen Tolstoi-Buch hier angeknüpft, ihn in Bezug auf die in Hofmanns Sinn und Geschichte entwickelte Liebesethik hin gelesen). Hierzu ausführlich: Angela Martini: Von der Liebe. Käte Hamburger zu Lev Tolstoj, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, S. 100–114. 78 Paul Hofmann: Sinn und Geschichte, S. 548 (Herv., S.E.). 79 Vgl. auch im Folgenden ebenda, S. 546 (Herv., S.E.). 80 Vgl. auch im Folgenden ebenda, S. 171 (Herv. i. Orig.).

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Herders Verfahren ein, »wird so zur Methodik einer nacherlebenden SachErkenntnis alles Seienden. Diese Erkenntnis des Seienden wird gedeutet als ein künstlerisch geniales Reproduzieren, welches die unbewußten Produktionen des eigentlich Seienden, welches an sich Geist ist, mit Bewußtsein in sich wiederholt«. Kritisch resümierend fährt er fort, dass es der »metaphysisch mystischen Tendenz des deutschen Idealismus« entspreche, »daß auch in der Selbstauffassung dieser nacherlebenden Methode die Grenze des Objektes und des erkennenden Subjekts sich in dem Gedanken der Identität beider verwischt; […]«. Gerade diese Grenzverwischung sucht Hofmann außer Kraft zu setzen: Ihm geht es um den (unendlichen) ›Weg nach Innen‹, wenn er das Problem der Selbstbesinnung formuliert: Diese arbeite »beständig daran, das gespürte Ich (auslegend) als Objekt vorzustellen […]«,81 somit dieses Objekt wiederum als Ich zu ›bezeichnen‹, und er bedient sich in der Darstellung dieses Problems erkennbar des bei Jacobi entlehnten »Sprungs«, dessen Transzendenzversprechen er radikal in das der »Introszendenz« verkehrt: Das eigentliche, ›erlebende‹ (Ich-sagende) Ich ›springt‹ beim Versuche der objektivierenden Erfassung seiner selbst ›zurück‹, es verlegt den Standpunkt seines Erlebens weiter nach innen, das je zuvor gespürte und dabei als Ich oder Subjekt Angesprochene aber wird (in diesem sich ›iterierenden‹ Zurückspringen) jedesmal ›umgedeutet‹ in ein relatives Objekt. – So sieht sich der Drang zum Erkennen des (eigentlichsten oder ›reinen‹) Ich von Schritt zu Schritt weiter ›nach innen‹ verwiesen.82

Die in Sinn und Geschichte zum Ausdruck kommende tiefe Überzeugung, einer »objektivistischen« Kultur auf philosophischem Wege entgegentreten zu müssen, kann auch den thetischen Duktus Hamburgers erklären, die ihm darin weitgehend folgt. Hofmann ist von der Notwendigkeit einer grundlegenden ›Revolutionierung‹ eines Denkens überzeugt, die er als seine Lebensaufgabe betrachtet: Er glaube daran, so lautet das Credo zu Beginn seines Buches (1933), »daß immer noch eine organische Fortentwicklung möglich ist. Nur greift die kritisch einschneidende Neugründung, die notwendig ist, tiefer hinab in die letzten Gründe des Lebens als je zuvor in der Geschichte des Abendlandes«.83

|| 81 Ebenda, S. 5 (Herv. i. Orig.). 82 Ebenda (Herv. i. Orig.). – Auf die zahlreichen Anspielungen, die Hofmanns Text hinsichtlich der Auseinandersetzungen zwischen Jacobi und Fichte enthält, kann hier nur hingewiesen werden. 83 Paul Hofmann: Sinn und Geschichte, S. 10.

168 | Sabine Eickenrodt

5 Inadäquate Erscheinungen, ›verhüllendes Sagen‹: Neubestimmung des humoristischen Darstellungsverfahrens Claudia Löschner hat in Bezug auf Käte Hamburgers Begriff der »Erzählfunktion« gefolgert, dass die Literaturtheoretikerin die von Paul Hofmann konstatierte und von ihr als Prämisse akzeptierte »angeblich aporetisch[e] Situation«84 – einer Unmöglichkeit des Menschen, sein Selbst in adäquaten Symbolen zu objektivieren – einen Ausweg mit Mitteln der (grammatikalisch gesicherten) epischen Fiktion gesucht habe. Sie argumentiert mit der ›Antwort‹ Hamburgers, dass im fiktionalen Modus »menschliches Sinnerleben in der Form eines ›als Subjekt‹-Erlebens« dargestellt werden könne, »wie es in keiner anderen Sprachform« möglich sei. Hamburger geht es um die Übertragbarkeit der philosophischen Prämissen Hofmanns auf die Dichtung – und es kommt ihr darauf an, die von Hofmann deutlich gemachten ›Aporien‹ auch für die Dichtung zu erweisen. Dieser setzt ein sich über den sinnphilosophischen Prozess herstellendes intersubjektives Verstehen voraus, somit dessen Allgemeingültigkeit; diese ist für ihn nicht über »Sach-Logik« zu vermitteln, ist also nicht Objekt der Anschauung, sondern wird doch stets schon als ein wie immer auch inadäquater Ausdruck des Humanen gewusst (bzw. gespürt). Hamburger überträgt die philosophischen Resultate Hofmanns auf den Bereich der Narration, die von Hofmann geltend gemachte metaphysikfreie Sinn- und Humanitätsphilosophie auf eine – über die Erzählstruktur sich herstellende und zugleich sich darstellende, sich sichtbar machende – »Logik der Dichtung«. Diese wird als Struktur eines epischen Humors, eines mit narrativen Techniken erzeugten Sich-Selbst-Verstehens, ›erfasst‹, das die grundsätzlich humane – im paulinischen Sinne: törichte – Rede der Don Quijoterie nicht verlassen kann, selbst dann nicht, wenn sie zur endgültigen ›Besinnung‹ – etwa im Angesicht des Todes dieses Ritters von der traurigen Gestalt – gekommen zu sein scheint. So gelesen erweist sich der Beitrag über den Don Quijote des Cervantes nicht als Überwindung des dreißig Jahre zuvor erschienenen Aufsatzes Das Todesproblem bei Jean Paul, sondern muss vielmehr in dessen Kontinuität, als dessen Fortentwicklung gelesen werden. In diesem hatte Hamburger den Grund für die »Erlebensunmöglichkeit des Todes« – eigenwillig an Kants Anthropologie in

|| 84 Vgl. auch im Folgenden Claudia Löschner: Denksystem, S. 49.

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pragmatischer Hinsicht85 anknüpfend – »aus der Einsicht in den Sinn des Ich, des Bewußseins«86 gewinnen wollen, »aus dessen Lebendigkeit wir niemals heraustreten können, solange wir Lebende und Erlebende sind«. Jean Paul, so heißt es dort weiter, habe erkannt, dass der Mensch sich »selbst nur als einen unendlich Lebenden erleben kann und daß auch der Glaube an seine Unsterblichkeit aus dieser Erlebensstruktur des Ich letztlich erwächst«. Da sein eigenes Ende niemals von einem Lebenden erlebt werden könne, müsse sich der Sinn des Endes wiederum in den des Anfangs verkehren, so dass die andere dem Tod inhärente Paradoxie gerade darin bestünde, dass, »wenn wir nicht Sterbliche wären, wir auch nicht Unsterbliche wären«. Zwar argumentiert Hamburger 1929 in erster Linie noch biographisch, wenn sie schlussfolgert, dass aus der »Erlebensunmöglichkeit des Todes« sich »tröstend also auch für Jean Paul die Überzeugung von der Kontinuität des Lebens und aus ihr die Idee der Unsterblichkeit« erhebe, die nun »ihrerseits und zu ihrer eigenen Beglaubigung die Existenz Gottes fordert«.87 Im Don Quijote-Aufsatz wird diese zuvor noch mit Glaubenspostulaten argumentierende paradoxe Erlebensstruktur auf die Struktur des »epischen Humors« übertragen, also ›formallogisch‹ einzulösen versucht. Auch in dieser Hinsicht war ihr Anna Krüger vorangegangen, die zu dem Schluss gelangt, dass Jean Paul unsere Aufmerksamkeit in den Humorparagraphen »auch auf die Eigenart der Form gelenkt«88 habe. In ihrer luciden Studie macht Krüger deutlich, dass sie die »landläufige Auffassung« in Bezug auf die humoristische Subjektivität Jean Pauls nicht teile, nach der es sich »nur um das Hervortreten des Dichters aus seinem Werk« handele. Sie identifiziert am Beispiel der humoristischen Romanliteratur graduelle Abstufungen der Verflechtungen des humoristischen Erzähler-Ichs mit dem »Gehalt seiner Dichtungen«, und auch Krüger nennt schließlich vor allem Cervantes als Meister »objektiver Erzählkunst«, da das Ich des Dichters »hinter der reinen Darstellung verborgen« bleibe – und doch, so führt sie fort, »haben wir es fraglos mit großer, wenn nicht größter humoristischer Kunst zu tun«. Krüger überträgt ihre Lesart vom Konzept einer »gegensätzlich verschränkte[n] Bauform«89 des humoristischen Romans auf die Verkehrungen von Schein und Wirklichkeit – auch darin unterscheidet sie sich nicht grundlegend von Hamburgers Ansatz. Im Anspruch, Kommerells Satz von || 85 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798; 2. Aufl. 1800), in: Werke in sechs Bänden , Bd. 6, hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, S. 395–690, hier: S. 465. 86 Vgl. auch im Folgenden Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, S. 94–96. 87 Ebenda, S. 97. 88 Vgl. auch im Folgenden Anna Krüger: Der humoristische Roman, S. 20. 89 Ebenda, S. 23–25.

170 | Sabine Eickenrodt der Verteilung der Rollen des Weisen und des Narren weiterzudenken, bringt sie ihre Auffassung auf den Punkt: »Spricht er es doch eindeutig aus«, so zitiert ihn Krüger, »daß die Person, die die Unendlichkeit im humoristischen Werk vorstellt, nach Jean Pauls eigener Ansicht von der Endlichkeit nur als Narr angesehen wird, obgleich sie, aus ewigen Kräften lebend, wahrhaft weise ist«.90 Im Rekurs auf diese »lex inversa« (Jean Paul) pointiert sie schließlich die von ihr erkannte humoristische (d. i. ›paulinische‹) Struktur: Jeder humoristische Roman ist außerdem so angelegt, daß der verhüllende Nebelstreif sich für den Tieferblickenden langsam in Nichts auflöst und der Narrweise in seiner wirklichen Größe, wenn auch umzittert von komischen Lichtern, vor uns in seiner wahren Gestalt auftaucht. Auch dies ist für den Helden bezeichnend, er muß ein klein wenig ein närrisches Wesen bleiben.91

Wenngleich die Nähe zu Hamburgers Humorkonzeption unübersehbar ist, so kann doch ebenso wenig verborgen bleiben, dass diese über ein zwar strukturell begründetes, so doch letztlich charakterologisches Modell des Humors im Don Quijote-Aufsatz weit hinausgeht. Das humoristische Verfahren Hamburgers ist vielmehr im Kontext einer Sprachtheorie der Dichtung zu lesen und aufs engste auf die Struktur der Narration selbst verwiesen. Zwar hat die rigorose Herauslösung des Humor-Begriffs aus der Tradition des Erhabenen, somit aus der Ästhetik um 1800, zum Unverständnis ihrer Schriften beigetragen, deren Verfasserin es nicht scheute, sich zum ›Skandalon‹ der Jean Paul-Forschung machen zu lassen. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass sie sich über diesen Weg der Reduktion eine sprachtheoretische Dimension der Vorschule eröffnete, deren Traditionslinie von Hamanns und Herders Sprachauffassung Hamburger mit Paul Hofmanns Sinn- und Humanitätsphilosophie überblendet. Mit der Änderung des bei Jean Paul im Kontext von Wortspielen gebrauchten Begriffs des »Vexierbild[s]« (I/5, 192) in den des »Vexierspiel[s]« ist der Schritt sichtbar gemacht, den Hamburgers Argumentation vollzieht. Nicht nur wird von ihr der Humor am poetischen Verfahren selbst, der narrativen Dynamik, abzulesen versucht, sondern zugleich auch in selbstreferentiellen, sich potenzierenden Fiktionalisierungen erkannt. Wohl deshalb beharrt Hamburger in ihrer Interpretation am Ende des Don Quijote-Aufsatzes darauf, dass, wenn der Ritter von der traurigen Gestalt am Ende vor seinem Tode die Versicherung abgebe, dass er zur Vernunft gekommen sei, man gerade dies als »äußerste Durchführung des großen Vexierspiels« || 90 Ebenda, S. 29. 91 Ebenda.

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(133) zu verstehen habe. Käte Hamburger sieht in Don Quijotes über sich selbst urteilender Rede, er habe nur die Ritterromane ad absurdum führen wollen, in diesem seltsamen Vergessen seiner Torheit also, gerade die »Bestätigung, daß er närrisch gewesen, und das bedeutet, seine Verrücktheit wird in ihrer vollen Inkarnation belassen« (132; Herv., S.E.). Sie beharrt darauf, dass diese ›Inkarnation‹ ausschließlich erzählerisch realisiert werden könne und dass in der Berufung auf einen vom Erzähler erfundenen Autor (d. i. Cide Hamete Benengeli) »die eigentliche strukturelle Ursache des verwickelten Fiktionsspiels und damit der Humorstruktur des Romans« (122) zu finden sei. Hamburger nimmt keine expliziten Abgrenzungen – etwa gegenüber der romantischen Ironie92 – vor, was die Nachvollziehbarkeit ihres Argumentationsgangs erheblich erschwert.93 Insbesondere der Clou im Don Quijote-Aufsatz, dass bei Cervantes »die äußerste Durchführung des großen Vexierspiels« zu finden sei, »das in diesem Roman nicht nur mit Fiktion und Wirklichkeit, sondern auch mit dem (eigentlichen oder uneigentlichen) Sinne von Fiktion und Wirklichkeit getrieben« (133; Herv. i. Orig.) werde, kommt dem von Schlegel im 116. Athenäums-Fragment gefundenen Bild einer die Reflexion potenzierenden und »wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln« vervielfachenden Poesie sehr nahe. (Das Notat eines Nachlasstextes Hamburgers [»Don Quichote«] scheint dieses Bild zunächst zu bestätigen: »Für den Humor ist angesichts der unendlichen Strecke, die Sinn und Erscheinungsform trennt, die eine Erscheinungsform nicht weiter vom Sinn entfernt als die andere.«)94 Aber es ist doch zu bedenken, dass Hamburger nicht von einer »progressiven Universalpoesie«, von einer romantischen Mischung der Gattungen ausgeht, sondern ausdrücklich von deren Trennung, und dass sie dem Roman in der Hierarchie eine herausgehobene Position zuweist. Schlegels Auffassung, dass der Roman zur Parekbase tendiere, »welche fortgesezt etwas humoristisches hat«,95 wäre im Rahmen ihrer Interpretation zurückzuweisen, da es für sie gerade nicht um Fragen der Desillusionierung im Sinne

|| 92 Der Briefwechsel mit Ingrid Strohschneider-Kohrs setzt erst 1960 ein. 93 Claudia Löschner (Denksystem, S. 140–141.; Anm. 331) hat auf die Präsenz der »Fichtesche[n] Denkfiguren« bei Hamburger hingewiesen, ebenso auf die zunächst an Fichte anschließende – und sich von diesem später distanzierende – Argumentation Hofmanns. 94 DLA Marbach Hamburger: Zu Einzelwerken, allgemeine Gesichtspunkte, Humor, Komik, Vorarbeiten, Materialsammlung, 91.4.182. 95 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke. Begründet und hg. v. Ernst Behler. Unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, fortgeführt von Ulrich Breuer, Bd. 16, Abt. 2 (= Schriften aus dem Nachlaß: Fragmente zur Poesie und Literatur I, mit Einleitung und Kommentar, hg. v. Hans Eichner). München, Paderborn, Wien, Zürich 1981, S. 96 [137].

172 | Sabine Eickenrodt eines Heraustretens aus der fiktionalen Welt in die der wirklichen geht, sondern überhaupt um die Verabschiedung des Illusionsbegriffs als eines Begriffs der ›Täuschung‹. In diesem Sinne ist das Beharren Hamburgers zu verstehen, dass die »Inkarnation […] nicht aufgelöst« (131), das »Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit nicht entwirrt« werde, und eben dies bewirke, »daß der hintergründige humoristische Aspekt in voller Dichtigkeit und zugleich einem gewissen Geheimnis erhalten bleibt und nicht, wie etwa bei Jean Paul, in Rede aufgelöst, ja ›zerredet‹ wird« (131). Auch wäre es ein Missverständnis, in dem von ihr evozierten »Geheimnis« einen unvermuteten Einbruch des Raunens in eine sonst auf Klarheit bedachte Argumentation vermuten zu wollen. Vielmehr muss auch dieser Bezug als Hinweis auf das Fundament ihres – ausdrücklich nicht metaphysischen – Entwurfs einer Struktur des epischen Humors verstanden werden, den sie mit paulinischen Anspielungen auf die Rede von der »heimlichen, verborgenen Weisheit Gottes« (1. Kor. 2,7) bezieht. Hamburger kennt diesen Zusammenhang durch ihre Hamannlektüre: »Wundervoll sagt es Hamann«, so schreibt sie in ihrer frühen Studie zur Sprachtheorie: »Jede Erscheinung der Natur war ein Wort – das Zeichen, Sinnbild u. Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigeren Vereinigung, Mitteilung u. Gemeinschaft göttlicher Lehren« (H, 13; Herv., S.E.). Bestätigt wird diese ferne Herkunft von einer solchen auf den Logos bezogenen Lesart am Ende von Hamburgers Don Quijote-Aufsatz, in der sie das »Vexierspiel, das die Humorstruktur des ›Don Quijote‹ als eine spezifische epische konstituiert« (133), noch einmal ins Bild zu fassen sucht: »Denn es ist deutlich«, so beginnt der Folgesatz, »daß erst und gerade das verhüllende Sagen, als das die Erzählform dieses Romans sich, genau besehen, darstellt, diese Struktur sichtbar machen kann« (133; Herv., S.E.); und sie wiederholt diese Formulierung auch am Schluss des Beitrag noch einmal: Da die »Rede des Erzählers« nicht ausschweife, sondern »mit sozusagen ernsthafter Objektivität ›bei der Sache bleibt‹«, werde die »verborgene humoristische Struktur dieser ›Sache‹ sichtbar […]« (134; Herv., S.E.). Das dieser Formulierung zugrunde liegende organologische Modell ist kaum mit neueren Humortheorien vereinbar, die sich in aller Regel an Jean Pauls digressivem Verfahren orientieren. Hamburger hingegen verknüpft die Vorstellung eines geschlossenen strukturellen Werkaufbaus, in der »auch in den Einzelheiten der Erzählform die Humorstruktur des Inadäquatheitsverhältnisses sich durchsetzt« (133), mit einer Lektüre, die auf die Entzifferung der je an die Oberfläche tretenden unendlich variablen sichtbar werdenden Erscheinungen angewiesen ist, um der Struktur inne zu werden. Cervantes Don QuijoteRoman, der sich als ein hochkomplexes Geflecht von fingiertem Erzähler und der aus dieser Erzählerfiktion sich entwickelnden potenzierten romaninternen Lektüren erweist, ist für eine Lesart, die auf Geschlossenheit aus ist, ein gerade-

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zu ideales Beispiel. Andererseits stellt sich erneut die Frage, warum Hamburger in der Inadäquatheits-Struktur des Humors nicht nur das Humane schlechthin, sondern auch das »Wesenselement« des Epischen verkörpert sehen will. Bereits Schelling hatte in der Philosophie der Kunst (1802/03) am Don Quijote zeigen wollen, dass sich der Roman dem Epos durch die Form der Darstellung tendenziell anzunähern habe. Er legt Wert darauf, den »Rhythmus der Prosa«96 auf eine absichtsvolle Erzeugung des Ungezwungenen zurückzuführen und spricht schließlich der Dramatik die Krone der Gattungen zu, da sie als Vereinigung der Antithesen zu einem Ganzen aufzufassen sei, in dem die »höchste Erscheinung des An-sich und des Wesens aller Kunst«97 liege. Es ist davon auszugehen, dass Hamburger, die Schelling sehr genau gelesen hat, auf diese Formulierung anspielt und – diese verkehrend – nun für das ›Epische‹ in Anspruch nimmt. Bereits in ihrer Vorstudie zur Logik der Dichtung hatte sie die »epische Formel« aufgestellt, dass anders als im Drama in der epischen Dichtung nicht das »Wort im Medium der Gestalt«, sondern vielmehr »die Gestalt im Medium des Wortes«98 stehe. Die Analyse der dem Don Quijote zugrundeliegenden sprachtheoretisch fundierten Struktur des Humors prüft die Richtigkeit dieser Formel auf dem geschlossenen Gebiet eines »innere[n] Gesetz[es] der Fiktion« (Löschner),99 das seinen anspruchsvollsten Test in den Fiktionalisierungsverfahren humoristischer Romane zu bestehen hat. Letztlich geht es Hamburger in diesen ›selbstreferentiellsten‹ Formen von Dichtung weder um eine Gattungspoetik noch um eine Ästhetik des Humors, sondern vielmehr um die Grundlegung einer ›Logik‹ der Prosa. Ihr Aufsatz über die »Struktur des epischen Humors« ist als ein wei-

|| 96 F. W. J. Schelling: Ausgewählte Schriften in 6 Bänden, Bd. 2 (= Schriften 1801–1803), hg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985, S. 181–565, hier: S. 502. 97 F. W. J. Schelling: Philosophie der Kunst, S. 515. In der deutschen Übersetzung Croces, der diese Schelling-Stelle zitiert, heißt es abweichend: »die höchste Inkarnation des Wesens und des Dinges-an-sich einer jeden Kunst« (Herv., S.E.). Vgl. Benedetto Croce: Gesammelte Philosophische Schriften, 7 Bände in zwei Reihen, I. Reihe: 1. Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft, nach der 6. erw. ital. Aufl. übertragen und hg. v. Hans Feist. Tübingen 1930, S. 467. Croces Ansatz wird in der Logik der Dichtung von Hamburger scharf kritisiert, da dieser – »verdächtigerweise« am Beispiel der dramatischen Dichtung eine »Expressionsästhetik« einführen wolle, die letztlich die Existenz einer »Dichtungswissenschaft« verhindere bzw. die Möglichkeit außer Kraft setze, den »dichterischen ›Ausdruck‹ von außer-dichterischem zu unterscheiden«. Die »Struktur der Dichtung« sei somit nicht mehr erkennbar. Vgl. Käte Hamburger: Logik der Dichtung, S. 12–13. 98 Käte Hamburger: Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), S. 1–26, hier: S. 18. 99 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 185.

174 | Sabine Eickenrodt terer Versuch zu verstehen, nicht auf signitive Repräsentationsmodelle, sondern auf phänomenologische Denkansätze zurückzugreifen. Das dieser Studie zugrunde liegende Strukturmodell leitet sich – in Rückgriff auf Hofmanns organologisch argumentierendes Sinn-Konzept – aus der Beschreibung eines ›erlebenden‹ unendlichen Selbstverstehensprozesses her. Epischer Humor ist für Hamburger die ›Durchquerung‹ aller sich potenzierenden ›inadäquaten‹ Erscheinungen, er inkarniert sich »erst im Licht des gesamten Beziehungsgefüges«.100 Sie nimmt auch darin die Prämisse auf, dass nicht bloße Anschauung – und sei es auch die einer »göttlichen Allerschauung« (Husserl), die alle möglichen Einzelphänomene in sich fassen würde – das Ziel wahrer Erkenntnis sei, sondern »adäquate«, dem Denken sich »vollkommen anmessende Anschauung« oder umgekehrt »aus der Anschauung Evidenz schöpfendes Denken«.101 Interessant ist nun, dass sie – in Übertragung dieses phänomenologischen ›Grundsatzes‹ auf die Welt der Prosa – eine solche sich aus unendlichen Möglichkeiten ergebende symbolische ›Selbstgegenwart‹ ausschließlich in einer geschlossenen fiktionalen Welt zu finden meint, die in der humoristischen Erzählweise eine Potenzierung erfährt, weil »sie das Problem des fiktionalen Erzählens selbst als Problem in sich aufnimmt«.102 Zwar erfüllen Jean Pauls Romane für Hamburger durchaus die Grundvoraussetzungen des humoristischen Erzählens, können jedoch nicht die »systematischen Verhältnisse« konkret verdeutlichen, um die es der Verfasserin geht und die sie am Beispiel des Don Quijote am Ende des Kapitels über die »epische Fiktion« (in der Logik der Dichtung) auf die folgende ›Formel‹ bringt: Denn die logische Struktur der Dichtung ist keine Abstraktion von den Erscheinungen der Dichtung, sondern kann nur an diesen selbst abgelesen werden. Umgekehrt dienen die gefundenen Gesetze der Erhellung ihrer Erscheinungen. Der humoristische Roman erschließt sich in seiner Struktur einerseits durch die Unterscheidung zwischen Wirklichkeitsaussage und fiktionalem Erzählen, und umgekehrt liefert er das deutlichste Erkenntnismaterial zu dieser Unterscheidung, damit aber zur exakten Deskription des fiktionalen Erzählens, der epischen Fiktion selbst.103

Diese von der »Offenheit der Lebenswirklichkeit abgesperrte Struktur«104 einer fiktionalen Welt ist somit als ein äußerst dynamisiertes »Vexierspiel« zu denken, das zweifellos auch für Jean Pauls Romane Geltung beanspruchen kann, || 100 Käte Hamburger: Der Humor bei Thomas Mann, S. 52. 101 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen II, S. 167. 102 Vgl. auch im Folgenden Käte Hamburger: Logik der Dichtung, S. 89–90. 103 Ebenda, S. 89–90. 104 Ebenda, S. 250.

Symbolische Inkarnation | 175

insofern in diesen die subjektiven Ich-Einmischungen als Teil des fiktionalen Textes, als »Spiel der Erzählfunktion mit sich selbst«105 zu verstehen sind (ihnen also nicht ›existentielle‹ Bedeutung zukomme). Es gibt so gesehen für Hamburger kein ›subjektiveres‹ oder ›objektiveres‹ Erzählen, aber doch graduelle Unterschiede im Rahmen der humoristischen Narration selbst, die sich auf binnenfiktionale Merkmale der Ich-Einmischungen beziehen: Je weniger Digressionen ein humoristischer Roman aufzuweisen hat, je ›dichter‹ also das Geflecht der Bezüge in der Darstellung geknüpft ist, desto höher scheint er ihr als Beispiel epischer ›Inkarnation‹ gelten zu können: In »größerem Maßstab als bei Jean Paul und seinen unmittelbaren Mustern, den englischen Humoristen«, so heißt es in der Logik der Dichtung über die »epische Fiktion«, trete dieses »Vexierspiel« bei Cervantes und wieder »in einem modernen ›großhumoristischen‹ Werk wie Thomas Manns Josephroman hervor«.

|| 105 Vgl. auch im Folgenden ebenda, S. 87.

Jørgen Sneis

Als ob – comme si – quasi Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden Abstract: In The Logic of Literature (Die Logik der Dichtung, 1957) Käte Hamburger criticized Roman Ingarden’s concept of quasi-judgments that he developed in The Literary Work of Art (Das literarische Kunstwerk, 1931). The criticism initiated a controversy between Hamburger and Ingarden, which was played out in letters as well as in later works. In reconstructing this controversy, I explain how the two opponents are arguing at cross purposes and, ultimately, fail to find a common ground due to their differing theoretical frameworks and diverging guiding questions. This specific analysis of Hamburger’s concept of fiction and Ingarden’s concept of quasi-judgments points to the larger field of sociology of (scholarly) knowledge.

Der Nachlass Käte Hamburgers zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem polnischen Philosophen Roman Ingarden. So befinden sich etwa in einer der Nachlass-Mappen im Deutschen Literaturarchiv Marbach 29 handgeschriebene Seiten mit Exzerpten und Notizen zu Ingardens 1931 erschienener Monographie Das literarische Kunstwerk.1 Rote Unterstreichungen in den sonst mit blauer und schwarzer Tinte verfassten Aufzeichnungen deuten dabei auf mehrere Arbeitsschritte hin. Die Blätter sind meist einseitig beschriftet, doch an einigen Stellen finden sich Anmerkungen auf der Rückseite, die einerseits wie Gedächtnisstützen anmuten und andererseits auf den Stellenwert bestimmter Begriffe schließen lassen. So heißt es an einer Stelle: »Quasi-Urteil: kein guter Term. Das epische Ich urteilt nicht, sondern produziert«. An anderer Stelle liest man: »Das Problem der Fiktion ist anvisiert.« An einer weiteren Stelle heißt es: »Dies alles durch meinen Fiktionsbegriff geklärt. Die Unterscheidung von Urteilen, Quasi-Urteilen, Aussagen trägt nichts zur Erhellung der Dichtung bei […].«

|| 1 DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.157. Notizen zu und vereinzelte Hinweise auf Ingarden gibt es darüber hinaus an mehreren Stellen; vgl. etwa DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.174 (ebenfalls Notizen zu Das literarische Kunstwerk).

178 | Jørgen Sneis Und einmal heißt es: »Reiner Aussagesatz kein guter Term. Gerade die Aussage ist objektbezogen. Hierauf muss ich mich beziehen.«2 Hamburgers Ingarden-Lektüre schlägt sich vor allem in der 1957 erschienenen, zunächst als Habilitationsschrift eingereichten Studie Die Logik der Dichtung nieder.3 Im Kapitel »Die logischen Grundlagen«, also an einer Stelle, an der Hamburger noch im Begriff ist, ihre Fragestellung zu entwickeln, geht sie auf Das literarische Kunstwerk ein. Sie lobt zwar, dass Ingardens Überlegungen »aus einer genauen Beobachtung der Sprachfunktionen«4 hervorgegangen seien, geht aber insgesamt mit seinem Ansatz hart ins Gericht. Problematisch ist für Hamburger nicht zuletzt der Begriff des Quasi-Urteils, mit dem Ingarden – Hamburger zufolge – das Phänomen und das Erlebnis der Nicht-Wirklichkeit habe nachweisen wollen.5 Dabei ist sie der Ansicht, dass Ingardens Theorie letztlich »falsch und auf eine Scheinproblematik gegründet«6 sei. Ingarden wird im Juli 1958 auf Die Logik der Dichtung aufmerksam und wendet sich am 9. August mit einem Brief an Hamburger. Die Kontroverse um die Quasi-Urteile wird nun zunächst in einem Briefwechsel und dann in diversen Publikationen ausgetragen. In der 1960 erschienenen zweiten Auflage von Das literarische Kunstwerk geht Ingarden in einem eigens dafür eingerichteten Paragraphen systematisch auf Hamburgers Kritikpunkte ein.7 Dieser Replik widmet Hamburger 1968 eine lange Fußnote in der zweiten Auflage ihrer Logik der Dichtung.8 Im selben Jahr erscheint Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Ingardens zweite umfangreiche Monographie zur Literatur, in der er mehrfach auf Hamburger Bezug nimmt. Dass Die Logik der Dichtung ein kontroverses Buch war, das vielfach und von unterschiedlicher Warte aus angegriffen wurde, ist in der Hamburger|| 2 DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.157 (alle vier Zitate). 3 Hamburger war zwar bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1951 auf Ingarden eingegangen; siehe Käte Hamburger: Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), S. 1–26, hier: S. 4–6. Dieser Aufsatz gehört jedoch zu den Publikationen, die Hamburger selbst als »Vorstudien« zu ihrer Logik der Dichtung bezeichnet; siehe Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, Vorwort [ohne Paginierung]. 4 Ebenda, S. 14. 5 Vgl. ebenda. 6 Ebenda, S. 16. 7 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Mit einem Anhang: Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. Tübingen 1960, S. 184–192. 8 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite, stark veränderte Auflage. Stuttgart 1968, S. 27–28.

Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 179

Forschung bereits mehrmals betont worden.9 Auch die Kontroverse zwischen Hamburger und Ingarden ist wiederholt konstatiert und kommentiert worden.10 Wenn ich im Folgenden erneut auf diese Kontroverse eingehe und sie zu rekonstruieren versuche, dann sind zwei Aspekte von vornherein festzuhalten: Zum einen betrachte ich die Kontroverse nicht einfach als eine Auseinandersetzung, sondern als ein epistemisches Genre.11 In diesem Zusammenhang ist vor allem (wie es in anderen Zusammenhängen schon gemacht worden ist) nach der erkenntnistheoretischen Funktion der Kontroverse zu fragen: Dient die Kontroverse etwa lediglich als ein strategisch eingesetztes Mittel zur Konturierung und Durchsetzung bestimmter Wissensansprüche oder kommt ihr womöglich durch den erhöhten Rechtfertigungsdruck eine produktive Funktion zu? Ist also der Streit dazu imstande, den Kontrahenten Erkenntnisse zu vermitteln, die ohne ihn nicht hätten erzielt werden können?12 Zum anderen gehe ich mit einer wissenssoziologisch geprägten Grundannahme davon aus, dass Wissensansprüche – in diesem Fall Wissensansprüche der philosophisch-literaturwissenschaftlichen Theoriebildung – von den (im weitesten Sinne) sozialen Bedingungen ihrer Generierung und Vermittlung nicht ohne weiteres getrennt werden kön-

|| 9 Verwiesen sei vor allem auf Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroverse um Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247. 10 Vgl. neben dem genannten Aufsatz von Julia Mansour vor allem Ulrike Weymann: Interdisziplinäre Grenzgänge bei Käte Hamburger. Zum Briefnachlass der Literaturwissenschaftlerin. Mit einem Brief von Roman Ingarden, in: LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38 (2008), H. 149, S. 148–163, bes. S. 150 und 157–162; Elisabeth Ströker: Fiktive Welt im literarischen Kunstwerk. Zu einer Kontroverse zwischen Roman Ingarden und Käte Hamburger, in: Kunst und Ontologie. Für Roman Ingarden zum 100. Geburtstag, hg. v. Włodzimierz Galewicz, Władysław Strożewski und Elisabeth Ströker. Amsterdam, Atlanta (GA) 1994, S. 141–165; Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975, S. 52–63; Norbert Krenzlin: Das Werk ›rein für sich‹. Zur Geschichte des Verhältnisses von Phänomenologie, Ästhetik und Literaturwissenschaft. Berlin 1979, S. 145–157. 11 Vgl. hierzu Carlos Spoerhase: Kontroversen. Zur Formenlehre eines epistemischen Genres, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 49–92. 12 Vgl. hierzu Frank Grunert: »Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio«. Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger, in: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Teil 1, hg. v. Ursula Goldenbaum. Berlin 2004, S. 119–174, hier: S. 166. Vgl. ferner Carlos Spoerhase: Wissenschaftsgeschichte als Konfliktgeschichte. Am Beispiel von Kontroversen in der Literaturtheorie, in: Geschichte der Germanistik 29/30 (2006), S. 17–24, bes. S. 19–20; Carlos Spoerhase: Kontroversen, bes. S. 61.

180 | Jørgen Sneis nen. Somit können Konzepte wie ›akademische Sozialisierung‹ und ›philosophische Schule‹ als heuristische Konzepte verwendet werden, mit denen die zum Teil implizit bleibende Kommunikationsgrundlage in der Kontroverse zwischen Hamburger und Ingarden rekonstruiert und die jeweiligen Argumente plausibilisiert werden können.13 In diesem Sinne werde ich im Folgenden zunächst auf Ingardens Begriff des Quasi-Urteils (1) und Hamburgers Begriff der Fiktion (2) eingehen, um sie dann mit Blick auf die Kontroverse zueinander ins Verhältnis zu setzen (3). Hierauf folgt eine kurze Schlussbemerkung (4).

1 Ingardens Begriff des Quasi-Urteils Ingardens Begriff des Quasi-Urteils, der wohl demjenigen am nächsten kommt, was man in der Literaturwissenschaft gemeinhin unter Fiktion bzw. Fiktionalität versteht, ist in eine umfassende Literaturtheorie eingebettet, die sich wiederum aus einer philosophischen Fragestellung und bestimmten philosophischen Vorannahmen speist. So heißt es in Das literarische Kunstwerk: Sosehr […] meine Untersuchungen das literarische Werk bzw. Kunstwerk zum Hauptthema haben, sind die letzten Motive, die mich zu der Bearbeitung dieses Themas bewogen haben, rein philosophischer Natur und gehen über dieses spezielle Thema weit hinaus. Sie stehen mit dem Problem Idealismus-Realismus, das mich seit Jahren beschäftigt, im engen Zusammenhang.14

Man könnte also von einer Art philosophisch-literaturwissenschaftlicher Doppelausrichtung des Buches sprechen.15 Jene »letzten Motive« dürften dabei mit Ingardens kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie Edmund Husserls

|| 13 Vgl. Ralf Klausnitzer: Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff, in: Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), hg. v. Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner und Ralf Klausnitzer. Frankfurt a. M. 2005, S. 31–64, bes. S. 63– 64. 14 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle a. d. S. 1931, S. VI. 15 Ulrich Steltner spricht von einer »Doppelstrategie«; siehe Ulrich Steltner: Roman Ingardens logische Bestimmung des Verhältnisses von Sprache, Literatur und Ästhetik, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. v. Alexander Löck und Jan Urbich. Berlin, New York 2010, S. 371–388, hier: S. 372.

Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 181

zusammenhängen, bei dem er studiert und promoviert hatte16 und von dessen phänomenologischer Methode er stark beeinflusst war. Denn im Hinblick auf das philosophische Idealismus-Realismus-Problem verweist Ingarden just auf Husserl, der mit seinem transzendentalen Idealismus – so Ingarden – den Versuch unternommen habe, »die reale Welt und deren Elemente als rein intentionale Gegenständlichkeiten aufzufassen, die in den Tiefen des konstituierenden reinen Bewußtseins ihren Seins- und Bestimmungsgrund haben«.17 Um dazu überhaupt Stellung nehmen zu können, fährt Ingarden fort, ist es u. a. nötig, die Wesensstruktur und die Seinsweise des rein intentionalen Gegenstandes herauszustellen, um nachher nachzusehen, ob die realen Gegenständlichkeiten ihrem eigenen Wesen nach dieselbe Struktur und Seinsweise haben können. Zu diesem Zwecke suchte ich einen Gegenstand, dessen reine Intentionalität außer jedem Zweifel stünde und an welchem man die wesensmäßigen Strukturen und die Seinsweise des rein intentionalen Gegenstandes studieren könnte, ohne den Suggestionen zu unterliegen, die sich aus dem Hinblicken auf die realen Gegenständlichkeiten ergeben. Und da erschien mir das literarische Werk als ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt für diesen Zweck.18

Ingarden geht es also nicht zuletzt um eine vergleichende Analyse von rein intentionalen und realen Gegenständen,19 wobei diese Analyse wiederum nur als eine Art vorbereitende Studie im Hinblick auf ein nicht näher spezifiziertes »metaphysische[s] Hauptproblem«20 deklariert wird. Hier wird das literarische Werk zum Stellvertreter aller rein intentionalen Gegenstände erhoben. Diesem Erkenntnisinteresse entsprechend sucht Ingarden »die Grundstruktur und die || 16 Eine biographisch-bibliographische Skizze findet sich bei Jeff Mitscherling: Roman Ingarden’s Ontology and Aesthetics. Ottawa 1997, S. 9–40. 17 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. VI. 18 Ebenda, S. VI–VII. 19 Vgl. auch Ingardens Vorwort zum ersten Band seines philosophischen Hauptwerks Der Streit um die Existenz der Welt: Existentialontologie [Polnisch 1947]. Tübingen 1964, S. VIII: »Obwohl vordergründig nur der Erarbeitung der philosophischen Grundlagen einer Theorie des literarischen Kunstwerks gewidmet, bildete das Buch [Das literarische Kunstwerk – J.S.] tatsächlich den ersten Schritt zu einer Gegenüberstellung realer und rein intentionaler Gegenständlichkeiten […].« 20 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. VI. Ingarden verweist in diesem Zusammenhang auf einen 1929 erschienenen Aufsatz, in dem er einige Probleme herausstellen wollte, deren Lösung zu einer endgültigen Klärung der Idealismus-RealismusProblematik beitragen sollte. Roman Ingarden: Bemerkungen zum Problem ›IdealismusRealismus‹, in: Festschrift Edmund Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet. Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Halle a. d. S. 1929, S. 159– 190.

182 | Jørgen Sneis Seinsweise des literarischen Werkes«21 herauszuarbeiten, aber – um die Einheitlichkeit des Buches nicht zu gefährden – ohne die aus dieser »Wesensanatomie«22 sich ergebenden philosophisch »sehr wichtigen Konsequenzen«23 zu besprechen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Ingardens Husserl-Kritik und philosophische Position im Einzelnen nachzuzeichnen.24 Auch die Frage, inwieweit Ingarden den transzendentalen Idealismus im Sinne Husserls interpretiert hat oder nicht,25 muss unerörtert bleiben. Um den Begriff des QuasiUrteils und die Argumente in der daran sich entzündenden Kontroverse mit Hamburger richtig einschätzen zu können, ist es allerdings notwendig, auf den Ort und den Stellenwert der Quasi-Urteile innerhalb Ingardens Theorie sowie auf die phänomenologische Terminologie einzugehen. Die Quasi-Urteile werden im Rahmen des Stratifikationsmodells in Das literarische Kunstwerk eingeführt, Ingardens »Querschnitt«26 durch das literarische Werk.27 Ingarden zufolge liegt die »wesensmäßige Struktur« des Werkes darin, »daß es ein aus mehreren heterogenen Schichten aufgebautes Gebilde ist«.28 Insgesamt handelt es sich um vier Schichten: erstens die Schicht der Lautgebilde, zweitens die Schicht der Bedeutungseinheiten, drittens die Schicht der dargestellten (bzw. vorgestellten) Gegenstände und viertens die Schicht der soge-

|| 21 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. V. 22 Ebenda, S. 2 (im Original in Anführungszeichen). 23 Ebenda, S. VII. 24 Dazu liegt eine verhältnismäßig breite Forschung vor. Verwiesen sei hier lediglich auf eine Monographie neueren Datums, in der die Idealismus-Realismus-Problematik behandelt wird und auch weitere Literaturhinweise zu finden sind. Kazimierz Rynkiewicz: Zwischen Realismus und Idealismus. Ingardens Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls. Frankfurt a. M. 2008. 25 Vgl. Husserls Brief an Ingarden vom 19. August 1932: »Versuchen Sie zu verstehen, warum ich immerfort sagen kann, daß Sie den tieferen Sinn der const[itutiven] Ph[änomenologie] nicht verstanden haben […].« Edmund Husserl: Briefe an Roman Ingarden. Mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl, hg. v. Roman Ingarden. Den Haag 1968, S. 80. Vgl. ferner zu diesem Themenkomplex Ingrid M. Wallner: In Defence of Husserl’s Transcendental Idealism. Roman Ingarden’s critique re-examined, in: Husserl Studies 4 (1987), S. 3–43; Gregor Haefliger: Ingarden und Husserls transzendentaler Idealismus, in: Husserl Studies 7 (1990), S. 103–121. 26 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 315 (im Original in Anführungszeichen). 27 Die folgende Darstellung von Ingardens Schichtenmodell folgt meinem Aufsatz: Rekonstruktion als Interpretation. Überlegungen zu Roman Ingardens Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft, in: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, hg. v. Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase. Berlin, Boston 2015, S. 459–479. 28 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 24.

Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 183

nannten schematisierten Ansichten. Die Heterogenität dieser Schichten steht für Ingarden in keinem Widerspruch zur »phänomenalen Einheit«29 des Ganzen. Damit stellt sich die Frage nach ihrer Eigenart und internen Ordnung. Diese Frage wird allmählich durch aufeinander aufbauende Analysen beantwortet. So umfasst die Darlegung der einzelnen Schichten und deren Verhältnis zueinander knappe 300 Seiten. An folgender Stelle wird aber relativ klar ausgesprochen, wie die ersten drei Schichten zusammenhängen, die auch in Bezug auf die Quasi-Urteile die entscheidenden sind: [W]ird ein bestimmter Wortlaut durch ein psychisches Subjekt erfaßt, so führt diese Erfassung unmittelbar zu dem Vollzug eines intentionalen Aktes, in welchem der Gehalt einer bestimmten Bedeutung vermeint wird. Dabei wird diese Bedeutung nicht selbst gegenständlich gegeben, sondern sie wird in Funktion gesetzt und ihr In-Funktion-Treten führt seinerseits dazu, daß die entsprechende, zu der Wortbedeutung oder zu dem Satzsinne gehörige Gegenständlichkeit vermeint wird, womit die weiteren Schichten des literarischen Werkes zur Enthüllung gelangen.30

Festzuhalten ist zunächst, dass Ingarden im Sinne Husserls – und letztlich Franz Brentanos – von der Intentionalität des Bewusstseins ausgeht.31 Dieser Intentionalitätsbegriff bezeichnet – allgemein gesprochen – das Gerichtetsein des Bewusstseins auf einen Sachverhalt bzw. die wesentliche Eigenschaft des Bewusstseins, immer Bewusstsein von etwas zu sein. Beim Erfassen eines Wortes (d. h. einer Bedeutungseinheit) geschieht demnach zweierlei: Einerseits wird der Wortlaut als solcher, d. h. als Wort-Laut, dem konkreten Lautmaterial, also dem schlechthin individuellen Schall – oder analog dazu: den Schriftzeichen – »oktroyiert«.32 [W]enn der Wortlaut die Bedeutung überhaupt trägt, so ist dies nur dadurch möglich, daß ihm diese Funktion sozusagen von außen her aufgezwungen, verliehen wird. Und diese Verleihung kann nur durch einen subjektiven Bewußtseinsakt zustandekommen. […] Die Intentionalität des Wortes ist eine von dem entsprechenden Akte geliehene Intentionalität.33

Andererseits ist das Erfassen des Wortes damit verbunden, dass man sich im Vollzug des Bewusstseinsaktes eo ipso auf einen dem Bedeutungsgehalt des || 29 Ebenda, S. 25. 30 Ebenda, S. 57–58. Auf dieses »In-Funktion-Treten« wird in Bezug auf Käte Hamburger zurückzukommen sein. 31 Vgl. ebenda, S. 120, Anm. 32 Ebenda, S. 34 (im Original in Anführungszeichen). 33 Ebenda, S. 101.

184 | Jørgen Sneis Wortes entsprechenden Gegenstand bezieht.34 Damit ist nur gesagt, dass die geliehene Intentionalität des Wortes im Bewusstsein mit einer Vorstellung korrelativ verbunden ist. Ob es auch einen entsprechenden Gegenstand in der realen Welt gibt, auf den man sich gegebenenfalls referentiell beziehen kann, ist eine andere Frage. Damit ist bereits angedeutet, was Ingarden vor Augen hat, wenn er von ›rein intentionalen‹ Gegenständen spricht (wofür das literarische Werk ja ein besonders gutes Beispiel sein soll). Dass ein Werk der Literatur ein rein intentionaler Gegenstand ist, setzt er von Anfang an als selbstverständlich voraus. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der phänomenologische Gegenstandsbegriff extrem weit ist. Wie Dan Zahavi mit Blick auf Husserl bemerkt: »[L]etztlich ist alles, wovon etwas prädiziert werden kann, ein Gegenstand«.35 Den rein intentionalen Gegenstand definiert Ingarden folgendermaßen: Unter einer rein intentionalen Gegenständlichkeit verstehen wir eine Gegenständlichkeit, welche durch einen Bewußtseinsakt bzw. eine Mannigfaltigkeit von Akten oder endlich durch ein Gebilde (z. B. Wortbedeutung, Satz), das die verliehene Intentionalität in sich birgt, ausschließlich vermöge der ihnen immanenten ursprünglichen oder nur verliehenen Intentionalität in einem übertragenen Sinne »geschaffen« wird und in den genannten Gegenständlichkeiten den Ursprung ihres Seins und ihres gesamten Soseins hat. […] Vorläufig soll die eben gegebene Bestimmung nur dazu dienen, die rein intentionale Gegenständlichkeit der Idee nach von den dem Bewußtsein gegenüber seinsautonomen Gegenständlichkeiten zu unterscheiden, für welche es durchaus zufällig ist (falls sie überhaupt existieren), daß sie zum Treffpunkt eines Bewußtseinsaktes und dadurch in einer sekundären Weise zu »auch intentionalen« Gegenständlichkeiten werden.36

Es sei daran erinnert, dass Ingarden Husserl die Absicht zuschreibt, »die reale Welt und deren Elemente als rein intentionale Gegenständlichkeiten aufzufassen, die in den Tiefen des konstituierenden reinen Bewußtseins ihren Seinsund Bestimmungsgrund haben«.37 Ingarden, der eine realistische Philosophie vertritt, wendet sich gegen einen derartigen Konstitutionsbegriff und besteht auf einer ontologischen Differenz zwischen dem Gegenstand als intendiert und dem Gegenstand, der intendiert ist. In diesem Sinne ist die ontologische Unterscheidung zwischen ›rein intentionalen‹ und ›auch intentionalen‹ Gegenständen zu verstehen. Der rein intentionale Gegenstand, d. h. der Gegenstand, wie || 34 Vgl. auch Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968, S. 36. 35 Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie. Tübingen 2009, S. 36. Vgl. zum Gegenstandsbegriff auch Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 221. 36 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 119. 37 Siehe oben (Anm. 17).

Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 185

er intendiert ist (sozusagen als mentale Repräsentation des realen, extramental existierenden Gegenstandes), geht auf die Bewusstseinsakte eines Subjekts zurück. Dagegen ist der reale Gegenstand insofern ›seinsautonom‹, als er unabhängig von den Bewusstseinsakten des Subjekts existiert. Dabei kann er, sofern er zufällig zum »Treffpunkt eines Bewusstseinsaktes« wird, nur »in einer sekundären Weise« als intentional gelten und wird so zu einem ›auch intentionalen‹ Gegenstand. Die »reine Intentionalität« des literarischen Werkes steht für Ingarden wohl deshalb »außer jedem Zweifel«, weil es kein Korrelat in der realen Welt hat (bzw. haben muss), wie es etwa in der Dingwahrnehmung der Fall ist. Ferner nimmt Ingarden eine Binnendifferenzierung vor und unterscheidet zwischen ›ursprünglich rein intentionalen‹ und ›abgeleitet rein intentionalen‹ Gegenständen. Während erstere »den Ursprung ihres Seins und Soseins direkt in den durch ein Ich vollzogenen konkreten Bewußtseinsakten« haben, verdanken letztere »ihr Sein und Sosein«38 der geliehenen Intentionalität von Bedeutungseinheiten, also Sprachgebilden. Es findet dabei in der sprachlichen Repräsentation – oder in ›phänomenologischer‹ Terminologie: in der signitiven Gegebenheit – eines Gegenstandes eine »Ablösung von den konkreten, in der ursprünglichen Lebendigkeit und Fülle vollzogenen Bewußtseinsakten« statt.39 Anders als die ursprünglich rein intentionalen Gegenstände, die »in dem Sinne ›subjektive‹ Gebilde« sind, dass sie »in ihrer Ursprünglichkeit nur dem einen Bewußtseinssubjekt unmittelbar zugänglich sind, welches die sie schaffenden Akte vollzogen hat«,40 besitzen die abgeleitet rein intentionalen Gegenstände den »Vorzug«,41 als Korrelate von Bedeutungseinheiten »intersubjektiv«42 zu sein. Ingarden kann dies aufgrund seiner Bedeutungskonzeption behaupten. Er unterscheidet nämlich zwischen Begriffen auf der einen Seite, verstanden als ›Ideen‹, und Bedeutungen auf der anderen Seite, verstanden als die Aktualisierung eines Teils des idealen Gehalts, der im Begriff enthalten ist. Nur im Hinblick auf die Sinngehalte der idealen Begriffe vermag der Leser eines literarischen Textes den Sinngehalt eines Satzes, der dem letzteren durch den Autor gegeben wurde, auf identische Weise zu reaktualisieren. Gäbe es keine idealen Begriffe und weiterhin auch keine idealen Qualitäten (Wesenheiten) und Ideen, so wären nicht bloß die

|| 38 Ebenda, S. 120. 39 Ebenda, S. 129. 40 Ebenda, S. 128–129. 41 Ebenda, S. 128. 42 Ebenda, S. 129 (im Original in Anführungszeichen).

186 | Jørgen Sneis Sätze […] unmöglich, sondern es wäre zugleich unmöglich, eine echte sprachliche Verständigung zwischen zwei Bewußtseinssubjekten, in welcher von beiden Seiten der identische Sinngehalt des Satzes erfaßt wird, zu erlangen.43

Die Bedeutungseinheiten – und mit ihnen die abgeleitet rein intentionalen Gegenstände – haben zwar ihren »letzten Seinsursprung«44 in der verliehenen Intentionalität von schlechthin subjektiven Bewusstseinsakten, aber gleichzeitig auch eine »intersubjektive Identität«45 durch ihre Teilhabe an idealen Begriffen. Somit verweist das nach Ingarden ›seinsheteronome‹ literarische Werk auf ein doppeltes ontisches Fundament außerhalb seiner selbst zurück: zum einen auf die »Intentionsakte[] des schöpferischen Bewußtseinssubjekts«,46 also letztlich auf den Autor, dem das Werk sein Entstehen verdankt (Seinsfundament), und zum anderen auf die idealen Begriffe, denen das Werk sein Bestehen verdankt (Existenzfundament).47 Die Literatur bietet sich nun für Ingarden in besonderer Weise als Untersuchungsgegenstand an, weil man die Intentionalität nicht an solchen Sätzen analysieren dürfe, die Anspruch auf Wahrheit erheben und somit einen ganz besonderen Bezug auf seiende […] Gegenständlichkeiten haben. Denn da könnte man leicht manches für eine Wesenseigentümlichkeit des Satzes halten, was allein für das Urteil Geltung hat.48

Hier kommen die Quasi-Urteile ins Spiel. Die Auffassung, dass literarischen Texten ein Sonderstatus im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt und Wahrheitsanspruch zukommt, ist natürlich nicht neu; sie zieht sich – mit unterschiedlicher Bewertung – durch die gesamte Geschichte der Poetik und Literaturtheorie.49 Mit dem Begriff des Quasi-Urteils will Ingarden darauf verweisen, dass die Aussagesätze in einem literarischen Werk den »äußeren Habitus von Urteilssät-

|| 43 Ebenda, S. 378–379. 44 Ebenda, S. 120. 45 Ebenda, S. 374. 46 Ebenda, S. 375. 47 Vgl. ebenda. Im Hinblick auf die Frage, ob auch die Schriftzeichen (analog zum Lautmaterial in der ersten Schicht), durch die und in denen das Werk fixiert ist, sozusagen als ›hyletische Unterlage‹ ein »dritte[s], wenn auch mittelbare[s], ontische[s] Fundament« (ebenda, S. 382) ausmachen, bezieht Ingarden in seinen verschiedenen Publikationen keine eindeutige Position. 48 Ebenda, S. 112. 49 Vgl. Achim Barsch: Fiktion/Fiktionalität, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 42008, S. 201–202, hier: S. 201.

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zen haben, aber trotzdem keine echten Urteilssätze sind noch sein wollen«.50 Es geht ihm mit anderen Worten darum, dass Urteile und Quasi-Urteile »trotz derselben Form«51 sich wesentlich voneinander unterscheiden. Ingardens Terminologie mag etwas befremdlich wirken. So hat Wolfgang Iser – mit Verweis auf Käte Hamburger – einst lakonisch bemerkt: »Kein Wunder, daß man sich an dieser Kennzeichnung festgebissen hat, wie es die Auseinandersetzung um den Begriff des Quasi-Urteils zeigt.«52 Will man dem Begriff auf den Grund gehen und herausarbeiten, was er tatsächlich besagt, dann sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: zum einen die Intentionalität des Wortes und zum anderen die Charakteristik des Satzes. Ingarden sieht die geliehene Intentionalität des Wortes durch fünf, auf apriorischen Gesetzmäßigkeiten beruhende Merkmale gekennzeichnet,53 und zwar erstens durch den »intentionale[n] Richtungsfaktor«, der auch ›doppelstrahlig‹, wie etwa im Fall metaphorischer Sprachverwendung, oder ›mehrstrahlig‹ sein kann,54 zweitens durch den »materiale[n] Inhalt«, d. h. durch diejenigen Momente der Wortbedeutung, die den intentionalen Gegenstand »hinsichtlich seiner qualitativen Beschaffenheit« bestimmen, drittens durch den »formale[n] Inhalt«, womit die aus ontologischer Sicht formale Struktur des intentionalen Gegenstandes gemeint ist, viertens durch »das Moment der existentialen Charakterisierung« und fünftens durch »das Moment der existentialen Position«.55 Besonders wichtig sind im Hinblick auf die Quasi-Urteile das erste und die letzten beiden der fünf Merkmale. Das Moment der existentialen Charakterisierung bezieht sich auf den ›Seinsmodus‹ des intentionalen Gegenstandes: Gehört es zu seinem Wesen, in der Zeit zu existieren, also irgendwann zu entstehen, sich gegebenenfalls zu verändern und irgendwann zu vergehen, dann ist der Gegenstand real; dagegen sind ›zeitlose‹ Gegenstände wie etwa

|| 50 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 175. 51 Ebenda, S. 167. 52 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976]. München 21984, S. 102–103. Diese Bezeichnung kommt einem vielleicht weniger abwegig vor, wenn man bedenkt, dass sich der Fiktionsbegriff als spezifisch literaturwissenschaftlicher Grundbegriff erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert; vgl. hierzu Gottfried Gabriel: Fiktion, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 594–598, hier: S. 596. So spricht beispielsweise Ivor Armstrong Richards in seinem 1926 erschienenen Buch Science and Poetry von ›pseudo-statements‹. 53 Streng genommen handelt es sich hier um die Intentionalität einer besonderen Gruppe von Wörtern; vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 61. 54 Vgl. hierzu auch Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 69–70. 55 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 61–70.

188 | Jørgen Sneis mathematische Gebilde ideal.56 Dabei ist das Moment der existentialen Charakterisierung mit dem Moment der existentialen Position nicht zu verwechseln: So meint z. B. der Name »Hamlet« (im Sinne der Gestalt des Shakespeareschen Dramas) zwar einen Gegenstand, der nie realiter existierte bzw. existieren wird, der aber, falls er existierte, zu den Gegenständlichkeiten des existentialen Modus »Realität« gehören würde. Es gibt somit in der vollen Bedeutung dieses Namens ein existentiales Charakterisierungsmoment, die real-existentiale Position fehlt aber in ihm durchaus. Der Ausdruck »Hauptstadt Polens« kann dagegen so verwendet werden, daß in ihrer Bedeutung neben dem existentialen Charakterisierungsmoment auch die real-existentiale Position auftritt. Sein Gegenstand wird dann nicht bloß als ein seinem Seinsmodus nach realer, sondern zugleich als ein tatsächlich realiter existierender vermeint. Aber auch der Ausdruck »Hamlet« kann so verwendet werden, daß in ihm neben dem existentialen Charakterisierungsmoment noch das Moment einer eigentümlichen existentialen Position enthalten ist, das den zugehörigen Gegenstand zwar nicht in der faktisch existierenden raum-zeitlichen Realität, aber doch in der fiktiven, durch den Sinngehalt des Shakespeareschen Dramas geschaffenen »Wirklichkeit« setzt.57

Fiktion scheint für Ingarden also nicht zuletzt – und ist man mit der Terminologie und der phänomenologisch-ontologischen Perspektive einmal vertraut, kommt es einem fast trivial vor – im ›Vermeinen‹ einer »eigentümlichen existentialen Position« zu bestehen. Das Fiktive wird im Sinne des Intentionalitätsbegriffs schlicht als fiktiv intendiert.58 Nun bildet aber für Ingarden nicht das einzelne Wort, sondern vielmehr der Satz das »wahrhaft selbständige«59 Sprachgebilde. Dieser ist keine bloße Wortmannigfaltigkeit, sondern vielmehr eine neue Bedeutungseinheit höherer Stufe, in der sich die Wortbedeutungen untereinander verbinden und gegenseitig modifizieren. Dabei gibt es gute Gründe anzunehmen (auch wenn Ingarden dies nicht explizit sagt), dass dasjenige, was für die Intentionalität des Wortes gilt, auch für die Intentionalität der Bedeutungseinheiten höherer Stufe gelten soll. Jeder Satz ist für Ingarden »das Resultat einer subjektiven satzbildenden Operation«,60 die er aufgrund eines bedeutungskonstituierenden Vorrangs des Satzes || 56 Ingarden übernimmt diese Unterscheidung von Husserl (vgl. dazu Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie, S. 8), grenzt sich aber gleichzeitig von Husserl ab. So will er unter anderem zeigen, dass die »Scheidung aller Gegenstände in reale und ideale« ontologisch zu ungenau ist; Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 5. Zum Begriff des Seinsmodus vgl. Roman Ingarden: Bemerkungen zum Problem ›Idealismus-Realismus‹, bes. S. 159– 170. 57 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 69. 58 Vgl. hierzu Elisabeth Ströker: Fiktive Welt im literarischen Kunstwerk, S. 146. 59 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 42. 60 Ebenda, S. 112.

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vor dem Einzelwort als die »ursprüngliche sprachbildende Operation«61 bezeichnet. Diese satzbildende Operation steht ihrerseits gewöhnlich »im Dienste anderer Operationen«62 und bildet meist, wie etwa im Fall eines literarischen Werkes, »nur eine relativ unselbständige Phase einer umfangreicheren subjektiven Operation, aus welcher nicht mehr einzelne zusammenhangslose Sätze, sondern ganze Satzzusammenhänge […] entspringen«.63 Dabei drücken die Sätze Sachverhalte aus, die sich wiederum zu komplexen Gegenständlichkeiten zusammensetzen. Ein solcher Zusammenhang, auf den man natürlich mehr oder weniger bewusst eingestellt sein kann, liegt nun Ingarden zufolge vor, wenn es wirklich gelungen ist, ein Bedeutungselement des einen Satzes an den Sinngehalt des anderen Satzes (bzw. an ein Bedeutungselement dieses Satzes) anzuknüpfen und wenn infolgedessen auch die zugehörigen rein intentionalen Korrelate in eine vollzogene Verbindung miteinander eingehen. Ja, der Zusammenhang zwischen zwei Sätzen ist nichts anderes als eine derartig gelungene Anknüpfung eines Satzsinngehaltes an einen anderen.64

Diese gelungene Anknüpfung, die vollzogene Verbindung – sprich: die Kohärenz des Textes – ist dabei nicht unbedingt auf rein sprachlicher Ebene zu finden (Kohäsion), sondern besteht vielmehr in einem »sachliche[n] Seinszusammenhang«65 der Satzkorrelate, d. h. der rein intentionalen Gegenstände. Diese liegen somit »nicht isoliert und fremd nebeneinander, sondern schließen sich […] zu einer einheitlichen Seinssphäre zusammen« und bilden dabei »immer einen Ausschnitt aus einer nicht näher bestimmten, aber ihrem Seins- und Soseinstypus nach festgelegten Welt«.66 Festzuhalten ist also, dass die satzbildenden Operationen im Dienste anderer Bewusstseinsoperationen stehen. Entscheidend ist hierbei, dass Ingarden das Urteilen als eine solche Bewusstseinsoperation betrachtet.67 Folglich ist der Satz qua Sprachgebilde vom Urteil qua Erkenntnisoperation sorgfältig zu unterscheiden. Was die ›echten‹ Urteile betrifft, wird »das rein intentionale Korrelat des Satzes […] intentional in die Realität hinausversetzt und nicht bloß mit einem real bestehenden Sachverhalt identifiziert, sondern zugleich mit ihm als || 61 Ebenda, S. 102. 62 Ebenda, S. 112. 63 Ebenda, S. 104–105. 64 Ebenda, S. 155. 65 Ebenda, S. 163. 66 Ebenda, S. 220. 67 Vgl. ebenda, S. 112–113 und 167–168.

190 | Jørgen Sneis real-seiend gesetzt«,68 womit der Satz den Anspruch erhebt, wahr zu sein (und gegebenenfalls auch Wahrheitswert besitzt), womit er zum Urteil im logischen Sinne wird. Der Wahrheitsanspruch echter Urteile besteht mithin in einem »besonderen intentionalen Moment«69 und hängt zum einen mit dem ›intentionalen Richtungsfaktor‹ (intentionale Hinausversetzung) und zum anderen mit der ›existentialen Position‹ (existentiale Setzung) zusammen.70 Was Ingarden hier in phänomenologischer Terminologie umschreibt, ist im Grunde genommen nichts anderes als die klassische Korrespondenztheorie (veritas est adaequatio intellectus et rei), der zufolge – vereinfacht gesagt – etwa die Proposition »Der Apfel ist rot« wahr ist, wenn der Apfel rot ist.71 Die Quasi-Urteile unterscheiden sich von den echten Urteilen darin, dass sie »nicht in dem Modus des vollen Ernstes«, sondern vielmehr in einer »eigentümlichen, diesen Ernst nur vortäuschenden Weise« vollzogen werden.72 Gleichzeitig betont aber Ingarden, dass im literarischen Werk doch zweifelsohne etwas behauptet wird. Die Sätze sind also nicht jeglicher Behauptung bar. Mithin wäre es »falsch zu behaupten, daß die dargestellten Gegenstände überhaupt keinen Realitätscharakter besäßen oder etwa den Charakter eines anderen Seinsmodus […] annähmen«.73 Die Sätze des literarischen Werkes seien zwar keine Urteile, aber auch keine ›reinen Aussagesätze‹, d. h. solche Sätze, die keinerlei Wahrheitsanspruch erheben, indem es zu keiner intentionalen Hinausversetzung des Satzkorrelats und somit auch zu keiner existentialen Setzung des intentionalen Gegenstandes als realiter seiend kommt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Ingarden sich einerseits das echte Urteil und andererseits den reinen Aussagesatz als Pole einer kontinuierlichen Achse vorstellt, auf der sich verschiedene literarische Werke verorten lassen, und zwar je nachdem, ob sie »die Illusion der Realität in niedrigerem

|| 68 Ebenda, S. 112. 69 Ebenda. 70 Im Hinblick auf den Sonderstatus der Sätze eines literarischen Werks entwickelt Ingarden seine Argumentation anhand eines paradigmatischen Falls, nämlich der Behauptungssätze. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass er hier den fehlenden Wahrheitsanspruch der QuasiUrteile gegenüber echten Urteilen am einfachsten demonstrieren kann. Dabei unterliegen alle anderen Arten von Sätzen im literarischen Werk einer analogen Modifikation (als QuasiBefehle, Quasi-Fragen etc.). Vgl. ebenda, S. 180–185. 71 Vgl. ebenda, S. 311: »Unter ›Wahrheit‹ im strengen Sinne verstehen wir eine bestimmte Beziehung zwischen einem echten Urteilssatze und dem durch seinen Sinngehalt ausgewählten objektiv bestehenden Sachverhalte.« 72 Ebenda, S. 176. 73 Ebenda, S. 223.

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oder höherem Grade«74 hervorrufen. Mit dieser graduellen Abstufung der QuasiUrteile sucht er dem Umstand gerecht zu werden, dass es »in verschiedenen Typen von literarischen Werken verschiedene […] Modifikationen gibt, von denen die einen den Behauptungssatz mehr dem Urteilssatze, die anderen dagegen mehr dem reinen Aussagesatze annähern«.75 So zeichnet sich etwa ein historischer Roman nach Ingarden durch eine Nähe zum echten Urteil aus, indem eine Referenz auf die außerliterarische Realität vorliegt. Hier werden die Satzkorrelate zwar intentional hinausversetzt, bilden aber »eine Welt für sich«,76 wobei es nicht zum ernsten Vollzug des Wahrheitsanspruchs kommt. Käme es jedoch zum ernsthaften Vollzug, dann hätte man es nicht mehr mit QuasiUrteilen, sondern mit echten Urteilen zu tun. Der Fiktionsbegriff hat in der Literaturwissenschaft bekanntlich immer wieder für Diskussion gesorgt. Grundsätzlich lassen sich zwei Argumentationsrichtungen ausmachen: Den spezifischen Status fiktionaler Rede hat man entweder mit der Ontologie der dargestellten Welt oder mit der Pragmatik des darstellenden Diskurses zu bestimmen versucht.77 Bei Ingarden spielen gewissermaßen beide Aspekte eine Rolle. Ihm geht es im Ganzen – dies wurde oben dargelegt – primär um eine ontologische Untersuchung. Jener Modus des nicht vollen Ernstes, der für das Konzept des Quasi-Urteils bestimmend ist, hängt aber letztlich von einer bestimmten Einstellung bzw. »Absicht«78 des Bewusstseinssubjekts ab, womit die Quasi-Urteile den ›pragmatischen‹ Fiktionstheorien relativ nahe kommen.79 Der fehlende Wahrheitsanspruch literarischer Texte, der als selbstverständlich vorausgesetzt und an keiner Stelle in Frage gestellt wird, ist zwar einer der Gründe, warum Ingarden sich überhaupt mit Literatur beschäftigt. Dabei ergibt sich aber der Begriff des Quasi-Urteils direkt aus seinem Intentionalitätsbegriff sowie aus der Gesamtanlage der Untersuchung. Die Ontologie der dargestellten (und realen) Welt wird wiederum im Hinblick auf die Quasi-Urteile erst dann wichtig, wenn es darum geht, literarische Werke zu typologisieren.

|| 74 Ebenda, S. 180. 75 Ebenda, S. 175. 76 Ebenda, S. 176. 77 Vgl. Lutz Rühling: Fiktionalität und Poetizität, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hg. v. Heinz Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 25–51, bes. S. 27–38; vgl. ferner Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin, New York 22008, S. 26–41, bes. S. 29–30. 78 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 177. 79 Vgl. etwa John Rogers Searle: The Logical Status of Fictional Discourse, in: New Literary History 6.2 (1975), S. 319–332, hier: S. 325: »[T]he author of a work of fiction pretends to perform a series of illocutionary acts, normally of the representative type.«

192 | Jørgen Sneis

2 Hamburgers Begriff der Fiktion Ähnlich wie bei Ingarden in Das literarische Kunstwerk ist auch bei Käte Hamburger in Die Logik der Dichtung eine Art philosophisch-literaturwissenschaftliche Doppelausrichtung zu beobachten. Einerseits sucht sie »das spezifisch logische System der Dichtung«80 herauszuarbeiten und »die Struktur der Dichtung von der Struktur des allgemeinen Sprach- und damit Denksystems ab[zu]scheiden«.81 Dies ist erkenntnistheoretisch relevant aufgrund der »Teilhabe der Dichtung am allgemeinen Denksystem«.82 In der Gegenüberstellung von Dichtung und Wirklichkeit, deren Begriffsbildung das »Grundthema der Logik der Dichtung« sei,83 soll nicht nur die Dichtung, sondern auch die Wirklichkeit genauer erfasst werden. Denn Hamburger geht davon aus, dass »gerade in der exakten Bestimmung dieses Unterschiedes sich das Phänomen Wirklichkeit jenseits aller wissenschaftstheoretischen Definition besonders prägnant hervorkonturiert«.84 Andererseits soll sich in der Aufdeckung der logischen Struktur der Dichtung zeigen, dass »das zentrale Problem der Poetik, das der Gattungen, sich unter einem anderen […] Ordnungsprinzip darstellt«.85 Bekanntlich gibt es Hamburger zufolge den Gesetzmäßigkeiten der Sprache nach nicht drei, sondern nur zwei Gattungen – ein Umstand, der Konsequenzen für die Interpretation literarischer Texte hat (oder zumindest haben sollte).86 Wie es in einem Brief an Roman Ingarden unmissverständlich heißt: Meine Arbeit ist eine Polemik gegen die traditionelle Gattungspoetik von den drei Gattungen, die merkwürdigerweise zu so entscheidenden Fehlern geführt hat, vor allem zu den geradezu unsinnigen Theorien von dem »Erzähler«. Diese rein logischen Fehler haben weit in die Interpretationen der einzelnen Dichtungen hineingewirkt.87

Vor dem Hintergrund dieser Doppelausrichtung stellt sich – ähnlich wie bei Ingarden – die Frage, welche Rolle die Fiktion innerhalb des gesamten Sprach-

|| 80 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 1. 81 Ebenda, S. 20. 82 Ebenda, S. 2. 83 Ebenda, S. 6. 84 Ebenda, S. 6, Anm. Vgl. auch S. 7 und 17. 85 Ebenda, S. 2. 86 Vgl. ebenda, S. 1, 5, 233 und 244. 87 Käte Hamburger: Brief an Roman Ingarden vom 19. August 1958. DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.321.

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bzw. Denksystems eigentlich spielt und auf welchen Annahmen das System letztlich beruht.88 Signifikant ist nicht zuletzt der Ort der Dichtung an der Schnittstelle zweier Subsysteme des allgemeinen Denksystems. Sofern die Kunst, erläutert Hamburger, »Gegenstand der Ästhetik und nicht der Logik, Gebiet des Gestaltens und nicht des Denkens ist, könnte die Rede von einer Logik der Dichtung als überflüssig, ja geradezu als verwirrend erscheinen«.89 Es sei aber »in der Sonderstellung der Dichtung im System der Kunst«90 begründet, dass es eine Logik der Dichtung überhaupt gibt. Hamburger ordnet einerseits die Dichtung der Logik und andererseits die Logik dem Denken zu. Ihr Logikbegriff, der trotz seiner Zentralstellung nicht wirklich expliziert wird, scheint somit eher auf eine Lehre vom Denken (und nicht von der Dichtung) abzuzielen.91 Dabei kommt der Sprache offensichtlich ein ganz besonderer Status zu. Denn die »Sonderstellung der Dichtung im System der Kunst« besteht für Hamburger darin, dass die Sprache als das »Gestaltungsmaterial«92 der Dichtung – anders als der Stein des Bildhauers, die Farbe des Malers etc. – »bereits sinngeprägt« ist, und dadurch sei die Dichtung auch Teil des Systems, in dem und durch das sich der Aufbau der geistigen Welt, d. h. die Erkenntnis der gegenständlichen und geschichtlichen Wirklichkeit so gut wie der Entwurf idealer Bildungen, überhaupt vollzieht: des Systems des Denken selbst.93

Der Ort der Dichtung im System der Kunst sei also bedingt »durch ihren Ort im System der Sprache und damit des Denkens«.94 So ist – jenseits des Logikbegriffs – eine Brücke zwischen mehreren Schlüsselbegriffen geschlagen: Dichtung und Sprache, Sprache und Denken, Denken und Wirklichkeit. || 88 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die grundlegende Studie von Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, die eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion der Logik der Dichtung unternimmt und den »stillschweigenden Voraussetzungen« (S. 8) Hamburgers nachgeht. Auch Löschner geht davon aus, dass die erkenntnistheoretischen Aspekte der Logik der Dichtung von zentraler Bedeutung sind: »Hamburger setzt […] eine Metatheorie des Denkens ins Werk, die auf eine historische Gemengelage, auf die pluralistische Situation der Philosophie während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts reagiert. Die Logik der Dichtung ist demzufolge als Beitrag zum Problem der Erkenntnistheorie konzipiert […]« (S. 169). 89 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 1. 90 Ebenda. 91 Zu Hamburgers Logikbegriff vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 15–24, 77 und 119. 92 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 1. 93 Ebenda, S. 2. 94 Ebenda, S. 5.

194 | Jørgen Sneis Durch das Gebiet der Dichtung verläuft nun in Hamburgers Ansatz eine Grenze, welche die epische und (die von der epischen abgeleitete) dramatische Fiktion auf der einen Seite von der Lyrik und der Ich-Erzählung auf der anderen Seite trennt. Diese Grenze wird ›aussagentheoretisch‹ begründet. Bemerkenswert ist dabei, wie Hamburger zunächst in einem argumentativen Zwischenschritt Aristoteles als »großen Kronzeugen«95 für die eigene Theorie heranzieht. Denn bevor sie überhaupt ihren eigenen Standpunkt entwickelt, will sie aufzeigen, dass alle wichtigen Aspekte ihrer Dichtungslogik bereits im aristotelischen Mimesis-Begriff enthalten sind. Damit kann Hamburger nicht nur eine unangefochtene literaturtheoretische Autorität für sich beanspruchen, um dann immer wieder auf sie zu verweisen (so schließt etwa Die Logik der Dichtung mit einem Verweis auf Aristoteles), sondern auch die dem Leser gewiss vertraute aristotelische Terminologie als Anschlussstelle für die eigenen Konzepte verwenden, die sich ihrerseits aus ganz anderen Traditionen speisen. In diesem Sinne betont etwa Hamburger, dass Aristoteles »den Begriff der ποίησις durch den der μίμησις definiert« und dass »ποίησις und μίμησις daher bedeutungsidentisch für ihn sind«.96 Außerdem hebt sie mit Verweis auf Erich Auerbach hervor, dass μίμησις nicht als Nachahmung (imitatio), sondern vielmehr als Darstellung (wie auch als Herstellung im Sinne von ποίησις) zu verstehen sei, wobei die μίμησις bei Aristoteles als μίμησις πράξεως handelnde Personen und somit menschliche Wirklichkeit zum Gegenstand habe. Da für Hamburger die Dichtung als μίμησις sowohl dargestellte als auch hervorgebrachte Wirklichkeit ist, hat sie mit ihrer Aristoteles-Exegese im Grunde genommen schon den Boden bereitet für ihr Konzept der subjektlosen Erzählfunktion. Auch für das notwendige Vorhandensein fiktiver Personen in der literarischen Fiktion ist der Leser damit sensibilisiert. Freilich bildet der Aristoteles-Bezug nur einen »Auftakt«.97 Das Kernstück von Hamburgers eigenen Untersuchungen bildet jene ›aussagentheoretische‹ Grenze, d. h. die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeitsaussage. Zum Begriff der Aussage bemerkt Hamburger mit Verweis auf die Logik Christoph Sigwarts: Obwohl die Begriffe Urteil und Aussage nicht völlig bedeutungsidentisch sind, können wir den letzteren dennoch für den ersteren einsetzen. Denn im Begriffe der Aussage verbinden sich die beiden Sinnmomente Urteil und (grammatischer) Satz zu einer Bedeutungseinheit, wie denn Sigwart den Satz als das sinnliche Zeichen des Urteils bezeichnet

|| 95 Ebenda, S. 7. 96 Ebenda. 97 Ebenda.

Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 195 und den Urteilsvorgang dahin definiert, daß ich etwas von etwas aussage. Der Begriff Aussage bedeutet hier und im Folgenden: Aussage eines Subjekts über ein Objekt bzw. einen Sachverhalt. Der Inhalt der Aussage ist also ihr Objekt.98

Ob das Aussagesubjekt grammatisch in der ersten Person manifest wird oder nicht, ist Hamburger zufolge gleichgültig: Ein aussagendes Ich, also eine Instanz, der das Ausgesagte zuzuschreiben ist, sei immer vorhanden. In diesem Sinne hält Hamburger zum »Wesen der Wirklichkeitsaussage« fest, dass das Ausgesagte das Erlebnisfeld des Aussagesubjekts ist, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Aussage eine polare Beziehung besteht, deren existentiellste Grundkomponente der zeitliche Bezug ist.99

Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen besagt dieser »zeitliche Bezug«, dass die Frage nach dem Wann des Ausgesagten (relativ zum aussagenden Subjekt) möglich ist, da Subjekt und Objekt ein und demselben Zeitkontinuum – und das heißt wiederum: Wirklichkeitssystem – angehören.100 Die systematische Pointe daran besteht nun darin, dass ein Verb im Präteritum in einer Wirklichkeitsaussage immer in die Vergangenheit verweist, was für das epische Präteritum der literarischen Fiktion nicht der Fall ist. Zum anderen schließt die Aussage mit ihrer Subjekt-Objekt-Polarität stets Subjekt und Objekt gleichermaßen ein. Das gilt auch im Hinblick auf das Unwirkliche: »Das Unwirkliche ist nicht der kontradiktorische Gegensatz, sondern nur ein graduell abgestuftes Privativum des Wirklichen.«101 An anderer Stelle heißt es: »Unwirklichkeit […] ist kein kontradiktorischer Gegensatz zu Wirklichkeit […]. Der kontradiktorische Gegensatz zu Wirklichkeit ist ihre Aufhebung, Nicht-Wirklichkeit oder Fiktion […].«102 Dies ist wohl dahingehend zu verstehen, dass es an der Struktur der Aussage nichts ändert, ob oder in welchem Maß das Ausgesagte Tatsachen entspricht. In diesem Sinne ist die Subjekt-Objekt-Polarität der Aussage für das gesamte System der Sprache gültig – außer für das Nicht-Wirkliche, d. h. die Fiktion. Denn in der Fiktion ist die Subjekt-Objekt-Polarität der Aussage aufgebrochen, indem das Ausgesagte nicht auf ein Aussagesubjekt (und dessen Erlebnisfeld), sondern vielmehr auf fiktive Personen (und deren Erlebnisfeld) bezogen

|| 98 Ebenda, S. 18–19 99 Ebenda, S. 25. 100 Vgl. ebenda, S. 29. 101 Ebenda, S. 24. 102 Käte Hamburger: Noch einmal: Vom Erzählen. Versuch einer Antwort und Klärung, in: Euphorion 59 (1965), S. 46–71, hier: S. 59.

196 | Jørgen Sneis wird.103 Dieses Phänomen findet nach Hamburger seinen »grammatischsemantischen Ausdruck«104 darin, dass das Präteritum die Funktion verliert, Vergangenheit anzuzeigen (episches Präteritum). Der »stringente erkenntnistheoretische Beweis«105 für diesen Verlust sieht aber Hamburger in den Verben innerer Vorgänge bzw. in der Möglichkeit echter Introspektion: »Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann.«106 Oder wie es an anderer Stelle heißt: »Dritte Personen als Subjekte zu gestalten, das ist allein dem fiktionalen Erzählen vorbehalten […].«107 Fiktionales Erzählen ist also immer heterodiegetisches Erzählen; sonst läge ein homogenes Erlebnisfeld, mithin eine (temporal) intakte Aussagestruktur vor: »Nur die Er-Erzählung ist eine epische Fiktion, oder eine Mimesis, im strengen literaturtheoretischen Sinne dieses Begriffes.«108 Damit wäre man gewissermaßen schon beim nächsten Punkt. Denn durch die Gleichschaltung von Mimesis und Fiktion lässt sich ein weiterer wichtiger Aspekt von Hamburgers Fiktionsbegriff genauer fassen: die subjektlose Erzählfunktion. »Das Erzählen«, schreibt Hamburger, ist eine Funktion, durch die das Erzählte erzeugt wird, die Erzählfunktion, die der erzählende Dichter handhabt wie etwa der Maler Farbe und Pinsel. Das heißt, der erzählende Dichter ist kein Aussagesubjekt, er erzählt nicht von Personen und Dingen, sondern er erzählt die Personen und Dinge; die Romanpersonen sind erzählte Personen so wie die Figuren eines Gemäldes gemalte Figuren sind. Zwischen dem Erzählten und dem Erzählen besteht kein Relations- und das heißt Aussageverhältnis, sondern ein Funktionszusammenhang. Dies ist die logische Struktur der epischen Fiktion, die sie kategorial von der logischen Struktur der Wirklichkeitsaussage unterscheidet.109

Hamburger bedient sich hier – wie Claudia Löschner bemerkt – eines mathematischen, an die Erkenntnistheorie des Marburger Neukantianismus angelehnten Funktionsbegriffs, der insofern ohne einen Akteur auskommt, d. h. subjektlos ist, als er eine Zuordnung bzw. eine Abbildung zwischen zwei Mengen bezeich-

|| 103 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 34. 104 Ebenda, S. 26. 105 Ebenda, S. 40. 106 Ebenda. 107 Ebenda, S. 76. 108 Ebenda, S. 22. Streng genommen ist es nicht ganz richtig, von einem heterodiegetischen Erzählen zu sprechen, da es doch Hamburger zufolge den Erzähler gar nicht gibt. Wenn es keinen Erzähler gibt, kann er auch nicht heterodiegetisch sein. 109 Ebenda, S. 74.

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net.110 Das Erzeugende an der Funktion ist wohl im Sinne einer generatio nach Art Hermann Cohens zu verstehen.111 Bemerkenswerterweise wird diese Begriffsverwendung von Hamburger an keiner Stelle expliziert.112 Dafür knüpft der Funktionsbegriff an die Bestimmung der Fiktion als μίμησις an, die insofern auch ein Hervorbringen ist, als sie ποίησις umfasst. Hamburger spricht ausdrücklich vom »funktional erzeugende[n], mimetische[n] Charakter«113 des Erzählens. In Die Logik der Dichtung sucht Hamburger – wie sie in der Einleitung sagt – die Sprache nicht im Sinne eines »Wortkunstwerks« (dieses Wort setzt sie in distanzierende einfache Anführungszeichen), sondern vielmehr als »dichtende Sprache« zu untersuchen, d. h. im Hinblick auf »die logischen Funktionen, die sie lenken, wenn sie die Formen der Dichtung hervorbringt«.114 Im Fall der literarischen Fiktion ist für Hamburger also die Sprache selbst diejenige Instanz, die »ein Fiktions- und kein Wirklichkeitserlebnis erzeugt«115 – und zwar unwillkürlich kraft einer bestimmten logischen Struktur.116

3 Zur Kontroverse In der Logik der Dichtung umreißt Hamburger ihren Untersuchungsgegenstand im Anschluss an Aristoteles und Hegel. In diesem Zusammenhang wird auch Ingarden eingeführt, allerdings nur damit sich Hamburger gleich wieder von ihm abgrenzen kann. Denn die Ingarden-Kritik trägt eigentlich nichts zur Konstitution der Fragestellung bei; dafür hat sie sehr wohl eine regulative Funktion. So wird Ingarden zunächst in die Nähe des eigenen Vorhabens gerückt, indem hervorgehoben wird, dass sein Ansatz »aus einer genauen Beobachtung der Sprachfunktionen«117 hervorgegangen sei. Gemeint ist wohl an dieser Stelle noch nicht die mathematisch konnotierte Erzählfunktion, sondern eher die || 110 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 25–55, bes. S. 31, 34–36 und 50–55. 111 Vgl. hierzu den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band. 112 Claudia Löschner (Denksystem, bes. S. 31) vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass zahlreiche Missverständnisse in der Rezeption der Logik der Dichtung auf den Funktionsbegriff (und die fehlende Explikation dieses Begriffs) zurückzuführen sind. 113 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 113. Vgl. auch S. 145. 114 Ebenda, S. 5. 115 Ebenda, S. 27. 116 Vgl. Julia Mansour (»Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«, S. 239–240), die von einer kausalen Verbindung zwischen der sprachlichen Struktur und dem Leseerlebnis spricht. 117 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 14.

198 | Jørgen Sneis Funktionsweise von und das Verhältnis zwischen Sprache und Bewusstsein überhaupt.118 Bei der darauffolgenden Kritik an Ingarden, die – wie bereits erwähnt – in dem vernichtenden Urteil kulminiert, dass seine Theorie »letztlich falsch und auf einer Scheinproblematik gegründet« sei, könnte es sich um eine Abstandnahme von dessen phänomenologisch-ontologischer Methode handeln, zumal Hamburger selbst von einer (ganz anders gedachten) »Phänomenologie der Dichtung«119 spricht. Wichtiger – wiewohl damit zusammenhängend – dürfte für Hamburger jedoch der Sachgehalt der Kritik sein. Dabei scheint sie freilich die Begriffe und Konzepte Ingardens in das eigene System einzuspeisen und mit einer entsprechenden Bedeutung aufzuladen, um sie dann vor diesem Hintergrund zu kritisieren. So wird etwa Ingarden die Absicht zugesprochen, »auf der Basis der Husserlschen Urteilslehre […] die Seinsweise der Dichtung von der ›Prosa‹ der Wirklichkeitssausage zu scheiden«.120 In diesem Zusammenhang präsentiert Hamburger seinen Begriff des echten Urteils als die »phänomenologische Definition« dessen, was sie selbst Wirklichkeitsaussage nennt, während sie im Begriff des Quasi-Urteils einen »Nachweis des Phänomens und des Erlebnisses der ›Nicht-Wirklichkeit‹«121 sieht, womit die Quasi-Urteile mit dem eigenen Begriff der Fiktion in systematischer Hinsicht gleichgesetzt werden.122 Hamburger erhebt aber den Einwand, dass Ingarden über eine »Etikettierung der hier vorlie|| 118 So hebt Hamburger – Hegel zitierend – hervor, dass »die Dichtung darum in Gefahr ist, sich selbst als Kunst […] aufzulösen, weil sie dem allgemeinen Vorstellungs- und Denksystem angehört, [weil] ›das Vorstellen auch außerhalb der Kunst die geläufigste Weise des Bewußtseins ist‹« (ebenda, S. 11). Dabei sei »das eigentliche Material der Dichtung nicht die Sprache als Bezug, sondern ›die geistige Vorstellung und Anschauung‹« (ebenda). In der Tat lässt sich hier eine gewisse Parallele zu Ingarden feststellen, dem zufolge – wie oben bereits erörtert – Bedeutungseinheiten im Vollzug eines intentionalen Aktes in Funktion treten und mit Vorstellungen (rein intentionalen Gegenständen) korrelieren, was an und für sich aber keine Bezugnahme auf etwas Reales (auch intentionale Gegenstände) impliziert. Auf die etwas inkonsistente Verwendung des Funktionsbegriffs bei Hamburger verweist Claudia Löschner: Denksystem, S. 87, Anm. 119 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 4. 120 Ebenda, S. 14. 121 Ebenda. 122 Mit Blick auf Hamburger bemerkt Claudia Löschner: Denksystem, S. 28: »Die fiktionale Wirklichkeit entsteht als rein gedankliche aus den mit sprachlichen Ausdrücken verbundenen Vorstellungen. Sie sind das geistige Material, aus dem der Dichter das Erzählte in ›rein symbolischer Seinsweise‹ [Löschner zitiert hier Hamburger – J.S.] erzeugt. Daher ist die fiktionale Dichtung für Hamburger […] nicht im engeren Sinne Sprachkunst, sondern vielmehr Vorstellungskunst«. In diesem Sinne ist es durchaus verständlich, wie Hamburger Ingardens Begriff des Quasi-Urteils mit dem eigenen Begriff der Fiktion identifizieren kann.

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genden Denk- und Sprachphänomene«123 letztlich nicht hinausgekommen sei. Diese seien nämlich nicht befriedigend erklärt; vielmehr stelle Ingardens Konzept einen »Zirkel« dar: Die Sätze oder Aussagen eines Romans werden als ›Quasi-Aussagen‹ erst dadurch konstituiert, daß sie in einem Roman stehen. […] Die Bezeichnung der Sätze eines Romans oder Dramas als Quasi-Urteile besagt aber nichts anderes als die tautologische Tatsache, daß wir, wenn wir einen Roman oder ein Drama lesen, wissen, daß wir einen Roman oder ein Drama lesen, d. h. uns nicht in einem Wirklichkeitszusammenhang befinden.124

Die »Nichtwirklichkeit der Romanwelt« wird dabei nach Hamburger »durch ganz andere Funktionen der Sprache erzeugt, nämlich eben durch echte Funktionen, die die Ursache der Phänomene sind«.125 Es geht also um Ursachen, um Erklärung und nicht um Beschreibung. Es ist anzunehmen, dass Hamburger jene mathematisch konnotierte, erzeugende Erzählfunktion im Blick hat, wenn von den »echte[n] Funktionen der Sprache« die Rede ist. Denn an dieser Stelle wird Aristoteles gegen Ingarden ausgespielt. Ingarden habe nämlich »an dem entscheidenden Faktor vorbeigesehen, […] den Aristoteles als die Mimesis handelnder Menschen bestimmt hat«.126 Dieses »Mißverständnis«127 werde wiederum in Ingardens Bestimmung des historischen Romans besonders offenkundig: Sie macht […] besonders deutlich, daß mit dem Begriffe des Quasi-Urteils keineswegs die sprachlich-literarische Struktur und spezifische Erscheinungsform des Romans beschrieben ist, sondern nichts anderes als eine unbestimmte psychologische Haltung des Autors und entsprechend des Lesers: die Modi des vollen resp. nicht vollen Ernstes, d. i. die Einstellung, die dem historischen Roman […] gegenüber eine andere ist als dem historischen Bericht gegenüber. Erst die Untersuchung der Sprachfunktionen wird zeigen, daß zwischen einem historischen Roman und einem historischen Wirklichkeitsbericht niemals ein Übergang stattfindet kann […].128

Die Fiktion ist für Hamburger nie und nimmer graduell: Das Ausgesagte ist entweder auf das Aussagesubjekt oder auf fiktive Personen bezogen. Ingardens graduelle Abstufung der Quasi-Urteile auf einer Skala zwischen ›echten Urteilen‹ und ›reinen Aussagesätzen‹ liefert dementsprechend das entscheidende Argument dafür, dass er die Sprache »nur scheinbar in ihrer dichtungskonstitu-

|| 123 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 14. 124 Ebenda, S. 15. 125 Ebenda. 126 Ebenda. 127 Ebenda. 128 Ebenda, S. 16.

200 | Jørgen Sneis ierenden Beschaffenheit erfaßt und beschrieben«129 habe. Für Hamburger, die den Fiktionsbegriff nach Vorbild der Naturwissenschaften130 als einen »exakten literaturtheoretischen Methodenbegriff«131 zu bestimmen sucht, ist es nicht zulässig, dass man – »wie es Ingardens Theorie von den Quasi-Urteilen zugrunde liegt«132 – Sätzen mal den einen, mal den anderen Status beimisst. Die mit den Quasi-Urteilen verbundenen Probleme markieren somit einen »Angelpunkt der […] echten Logik der Dichtung«.133 Hamburgers Kritik an Ingarden in Die Logik der Dichtung, welche die Kontroverse zwischen den beiden auslöst, lässt sich daher wohl in erster Linie als ein strategisch eingesetztes Mittel zur Konturierung der eigenen Position beschreiben. Oder anders formuliert: Mit seinem »bekannten Buche«134 wird Ingarden gleichsam zu einem Sprungbrett (unter anderen) für die eigene Agenda, indem das zu lösende Problem gewissermaßen ex negativo eingekreist wird. Gleichzeitig wird ein aus Hamburgers Sicht konkurrierendes Lösungsangebot von vornherein ausgeschlossen. Dass dies nur mittels einer Gleichschaltung von Begriffen und Konzepten geschieht, die in ihrem Ursprungskontext auf ganz unterschiedlichen Vorannahmen fußen, wird im Verlauf der Kontroverse immer deutlicher. Ingarden nimmt Die Logik der Dichtung im Juli 1958 zur Kenntnis und wendet sich am 9. August mit einem Brief an Hamburger – freilich ohne, wie er auch offen zugibt, ihr Buch zu Ende gelesen zu haben.135 Wenn man den Wortlaut ihrer Kritik bedenkt, wäre vielleicht ein etwas schärferer Ton in diesem Brief zu erwarten gewesen. Eine Verstimmung ist aber nicht wirklich herauszulesen. Überhaupt zeugt der Briefwechsel – wenn man ihn so nennen darf (er umfasst nur drei Briefe) – von gegenseitiger Achtung und einem aufrichtigen Bemühen, Behauptungen zu begründen und Theoreme argumentativ zu rechtfertigen.136 Zu einer sachlichen Einigung – oder gar Verständigung – kommt es aber nicht. || 129 Ebenda. 130 Vgl. ebenda, S. 4. 131 Käte Hamburger: Der Begriff der literarischen Fiktion, in: Akten des IV. internationalen Kongresses für Ästhetik. Athen 1960, S. 360–363, hier: S. 360. 132 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 21. 133 Ebenda, S. 26. 134 Ebenda, S. 14. 135 Vgl. Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 9. August 1958. DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.712. Dieser Brief ist ediert und kommentiert worden von Ulrike Weymann: Interdisziplinäre Grenzgänge bei Käte Hamburger, S. 158–162. 136 So auch Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«, S. 244. Anderer Meinung ist Barbara Hahn: Erratischer Block oder von der Schwierigkeit, Käte Hamburgers Logik der Dichtung zu lesen, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johan-

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Ingarden teilt Hamburger mit, er sei »nicht überzeugt«, dass sie »mit Recht« seine Auffassungen zurückgewiesen hat.137 »Übrigens«, fährt er fort, Sie weisen sie bloss zurück ohne wirkliche Gegenargumente beigebracht zu haben. Ausserdem glaube ich, dass Sie den Begriff des Quasi-Urteils doch nicht in dem Sinne genommen haben, wie er bei mir gedacht wird. Ein Quasi-Urteil in meinem Sinne ist ein Satz, genauer ein modifizierter Behauptungssatz, also ein Sprachgebilde und hat als Element des literarischen Werkes mit dem »Urteilen« als einer subjektiven Erkenntnisoperation nichts gemein, höchstens nur dies, dass dieser Satz in gewissen Fällen das Ergebnis dieser Operation ist. Meine Quasi-Urteile knüpfen natürlich nicht an Sigwarth [sic!], sondern an die Pfändersche Logik und die von ihm abgeschiedene »Behauptungsfunktion« der logisch verstandenen »Urteile«. […] Auf die Idee einer solchen Modifikation aber bin ich gekommen in einer gewissen Opposition gegen Husserl, nach welchem auf dem Gebiet des Ästhetischen nur neutralisierte – also nichtthetische Akte bzw. ihnen entsprechende Gebilde vorhanden sind […].138

Ingarden fühlt sich offensichtlich missverstanden, zumindest nicht nach Maßgabe seiner eigenen Prämissen kritisiert – und dem sollen Hinweise auf den theoretischen Kontext abhelfen. So habe er »natürlich nicht« (wie Hamburger) an Christoph Sigwart angeknüpft, der – wie es in der zweiten Auflage von Das literarische Kunstwerk heißt – »bekanntlich die Blüte des Psychologismus in der Logik darstellt«.139 Was ist hier mit Psychologismus gemeint? In den 1900 erschienenen Prolegomena zur reinen Logik, dem ersten Teil der Logischen Untersuchungen, die als eine Art ›Gründungsschrift‹ der Phänomenologie gelten können,140 hatte sich Edmund Husserl eine »Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie«141 zum Ziel gesetzt. Dabei sind die Prolegomena nicht zuletzt als Psychologismus-Kritik konzipiert.142 Husserl wendet sich hier gegen die Auffassung, dass || na Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 129–139, hier: S. 134–136. 137 Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 9. August 1958. 138 Ebenda. Nebenbei sei angemerkt, dass die Bestimmung des Quasi-Urteils in diesem Brief etwas missverständlich ist (siehe dazu oben, bes. S. 189–190). 139 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 186. 140 Im Vorwort zur zweiten Auflage bezeichnet zumindest Husserl selbst die Logischen Untersuchungen als ein »Werk des Durchbruchs« im Hinblick auf die phänomenologische Methode. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik [1900]. Zweite, umgearbeitete Auflage. Halle a.d.S. 1913, S. VIII. 141 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Teil. Prolegomena zur reinen Logik. Halle a. d. S. 1900, S. VII (im Original durch gesperrten Druck hervorgehoben). 142 Zu Husserls Psychologismus-Kritik vgl. hier und im Folgenden Dan Zahavi: Husserls Phänomenologie, bes. S. 6–12.

202 | Jørgen Sneis die Psychologie letztlich die theoretische Grundlage der Erkenntnistheorie und Logik bildet.143 Für Husserl sind logische Gesetze keineswegs psychologische Gesetzmäßigkeiten, da die Logik (wie etwa auch die Mathematik) im Gegensatz zur Psychologie keine empirische Wissenschaft ist, sich also nicht mit realexistierenden Gegenständen befasst. Vielmehr sind logische (wie auch mathematische) Gebilde durch Idealität, Apodiktizität und apriorische Gültigkeit gekennzeichnet. Husserl zufolge unterscheidet der Psychologismus nicht klar zwischen dem Akt des Erkennens, dessen realer Inhalt streng genommen nur die Intentionalität ist, und dem Gegenstand der Erkenntnis, der real wie auch ideal sein kann und in jedem Fall dem Akt als solchem transzendent ist. An Husserl knüpft wiederum Alexander Pfänder an. Seine 1921 erschienene Logik, die Husserl zum 60. Geburtstag gewidmet war, beginnt mit folgenden Worten: Nach einer alten und auch heute noch weitverbreiteten Definition ist die Logik die Lehre vom Denken. Diese Definition ist zwar nicht total falsch; denn der Gegenstand der Logik liegt allerdings im Denken. Aber sie ist doch nicht genau und zum mindesten schief, denn nicht das Denken selbst, dieser seelische Vorgang oder dieses geistige Tun, sondern vielmehr etwas, das in dem Denken liegt, ist der eigentliche Gegenstand der Logik. Die Unzulänglichkeit jener alten Definition trat deutlich zutage, als man sie im 19. Jahrhundert beim Wort nahm und nun die Logik wirklich zu einer Lehre vom Denken machen wollte. Man geriet nämlich dadurch in das Gebiet der Psychologie hinein […].144

Pfänder, auf den Ingarden nicht nur in der oben zitierten Briefstelle, sondern auch wiederholt in Das literarische Kunstwerk verweist, will dabei unter anderem zeigen, dass die Logik […] der phänomenologischen Ergänzung bedarf. Wenn nämlich aufgeklärt werden soll, in welchem Verhältnis die Gedanken, speziell die Urteile, die Begriffe und die Schlüsse, zu den verschiedenen Arten von Denkakten und zu den intentionalen Gegenständen stehen, dann sind dazu eben solche Untersuchungen nötig, die dem Gebiete der Phänomenologie angehören.145

In Ingardens Das literarische Kunstwerk wird der Psychologismus bereits im Vorwort zum Gegner erklärt. In der zweiten Auflage heißt es in demjenigen Paragraphen, der eingeführt wird, um Hamburgers Kritik zu widerlegen:

|| 143 So lässt sich der Psychologismus allgemein definieren. Dieser Begriff wurde um 1900 jedoch keineswegs einheitlich verwendet; vgl. etwa Martin Kusch: Psychologism. A Case Study in the Sociology of Philosophical Knowledge. London, New York 1995. 144 Alexander Pfänder: Logik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 4 (1921), S. 139–494, hier: S. 139. 145 Ebenda, S. 169.

Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden | 203 Ich fühle mich in meinem Verfahren wohl Husserl und Pfänder nahe und leugne auch diese Verwandtschaft nicht. Aber sowohl Husserl als Pfänder sind mir in ihrer Verfahrensweise noch nicht rein genug, wenn es darum geht, sich von dem Psychologismus zu befreien.146

Der entscheidende Punkt besteht nun darin, dass Hamburgers Aussagebegriff durch eine Subjekt-Objekt-Polarität gekennzeichnet ist und dass das Objekt, also der Inhalt der Aussage, zum Erlebnisfeld eines Subjekts gehört. Dabei betrachtet sie wiederum die Subjekt-Objekt-Struktur der Aussage als die sprachlich fixierte Erkenntnisstruktur.147 Ihr System beruht aber somit auf einer Annahme, die mit der ›phänomenologischen‹ Forderung nach einer strikten Trennung von Bewusstseinsakt und Erkenntnisgegenstand nicht vereinbar ist. Denn nach Husserl, Pfänder und Ingarden gibt es durchaus Gegenstände, die mit dem (temporal strukturierten) Erlebnisfeld eines Subjekts schlicht nichts zu tun haben – etwa »alle mathematischen Sätze«, wie Ingarden in seiner Replik auf Hamburger bemerkt.148 Für Ingarden ist es in der Tat ganz »natürlich«, sich nicht auf Sigwart zu beziehen, der doch in Husserls Prolegomena zur reinen Logik ausdrücklich – und sogar in zwei ihm eigens gewidmeten Paragraphen (§ 29 und § 39) – als Psychologist kritisiert worden war. Für ihn ist es auch widersinnig, dass Hamburger ausgerechnet ihm, der gegen den Psychologismus argumentiert, eine – es sei an die oben zitierte Stelle erinnert – »unbestimmte psychologische Haltung« vorwirft, zumal sie selbst mit Sigwart und dessen Logik die Begriffe psychologistisch auflädt.149 Es ist daher nicht uninteressant, dass Ingarden in seinem Brief post scriptum hinzufügt: »Ich würde mich übrigens sehr freuen, wenn Sie mir schreiben wollten, wessen Schülerin Sie sind und wie Sie auf die Probleme der ›Logik der Dichtung‹ gekommen sind«.150 Die Probleme – und damit wohl auch die Lösung – werden also mit der schulischen Herkunft assoziiert.

|| 146 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 187. 147 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), S. 35–36 und 41. 148 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 189, Anm. Dem würde Hamburger wohl nur bedingt widersprechen, denn in der mathematischen Aussage tendiert das Vorhandensein des Aussagesubjekts gewissermaßen (man ist geneigt zu sagen: im Sinne eines Grenzwertes) gegen null; vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 151–152. Dennoch besteht sie darauf, dass es »falsch« wäre, »vom Nichtvorhandensein des Aussagesubjekts zu sprechen, so allgemeingültig objektiv der mathematische Satz auch ist« (ebenda, S. 151). 149 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 186–187. 150 Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 9. August 1958.

204 | Jørgen Sneis In diesem Sinne weist Ingarden – wissenschaftstheoretisch gesprochen – explizit auf den Begründungszusammenhang, aber auch auf den Entdeckungszusammenhang seines Theorems hin: Er sei in Auseinandersetzung mit Husserl auf die Idee gekommen, dass eine Modifikation der Behauptungsfunktion der Sätze vorliegt. In Das literarische Kunstwerk findet sich zwar ein Hinweis auf die »›Neutralitätsmodifikation‹ im Sinne E. Husserls«,151 aber dieser Hinweis ist äußerst knapp und deutet nicht unbedingt auf eine Zentralstellung hin. Die »Husserlsche Auffassung«, erläutert Ingarden im Brief, »ist eine Transformation bzw. eine Deutung der Kantischen Auffassung des ›interesselosen Gefallens‹«.152 Allerdings sei diese Deutung »falsch«153 (denn Ingarden geht ja davon aus, dass die Quasi-Urteile eben nicht zu reinen Aussagesätzen ›neutralisiert‹ werden, d. h. dass sie nicht jeglicher Behauptungsfunktion beraubt sind). Dabei setzt Ingarden die »Neutralitätsmodifikation« auch in Beziehung zu Alexius Meinongs Begriff der Annahme.154 Zu beobachten ist also ein Angebot nach dem anderen, den Begriff des Quasi-Urteils in seinem Sinne zu verstehen.155 || 151 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 223. Ingarden bezieht sich auf Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1 (1913), S. 1– 323, hier: S. 222–226 (§§ 109–111). 152 Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 9. August 1958. 153 Ebenda. 154 Meinongs Begriff geht ebenfalls von Beobachtungen auf dem Gebiet des Spiels und der Kunst aus; vgl. Alexius Meinong: Ueber Annahmen. Ergänzungsband zur Zeitschrift für Psychologie und Psychologie der Sinnesorgane. Leipzig 1902, S. VII. Der Meinong-Herausgeber Rudolf Haller scheint dabei (ohne Ingarden ausdrücklich zu erwähnen) Annahmen und QuasiUrteile mehr oder weniger gleichzusetzen: »Annahmen sind nach Meinongs expliziter Definition Urteile ohne Überzeugung, gewissermaßen Quasi-Urteile, denen nicht, oder nicht notwendig zukommt, geglaubt oder gar gewußt zu werden« (Rudolf Haller: Vorwort zur Neuausgabe, in: Alexius Meinong: Gesamtausgabe. Bd. IV: Über Annahmen, hg. v. Rudolf Haller. Graz 1977, S. IX–XIV, hier: S. IX). Aus Ingardens Sicht ist wohl Meinong – wie Husserl mit seiner Neutralisierungsmodifikation – sozusagen einen Schritt zu weit gegangen. Zu den ›Fiktionstheorien‹ Ingardens und Meinongs sei verwiesen auf Barry Smith: Ingarden vs. Meinong on the Logic of Fiction, in: Philosophy and Phenomenological Research 41 (1980), S. 93–105. 155 Anzumerken ist übrigens, dass Ingarden noch folgenden Kritikpunkt vorbringt: »Ich fürchte […], dass Ihre Analysen mit den Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache und insbesondere mit den verschiedenen Funktionen des deutschen Verbums eng zusammenhängen und auf andere Sprache [sic!] nicht ohne weiteres übertragbar sind. Ich weiss z. B. nicht, ob all dies, was Sie sagen, sich auf das Polnische anwenden liesse« (Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 9. August 1958). Auf diesen Einwand geht Hamburger in ihrer Antwort nicht ein. Später sollte Harald Weinrich – wie Ulrike Weymann (Interdisziplinäre Grenzgänge bei Käte Hamburger, S. 160, Anm.) bemerkt – an Beispielen aus dem Englischen, Französischen und Italienischen belegen, dass fehlende Kongruenz von Erzähltempus und Zeit nicht etwas für

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In ihrem Antwortschreiben vom 19. August 1958 bemerkt Hamburger, dass sie »immer mehr zu der kritisch-transzendentalen Richtung als zu der phänomenologischen« geneigt habe, und setzt hinzu: »Ich erinnere mich als junge Studentin bei Pfänder in München schon mich gegen die ›Wesensshau‹ [sic!] aufgelehnt zu haben.«156 Was ihre Kritik betrifft, zeigt sie sich unbeirrt: Es ist natürlich möglich, daß ich Ihre Theorie von den Quasi-Urteilen nicht völlig Ihren Intentionen gemäß interpretiert habe. Doch glaube ich, daß ich meine Kritik daran begründet und gezeigt habe, warum nach meiner Ansicht mit Begriff und Phänomen der QuasiUrteile die Eigentümlichkeiten der fiktionalen Dichtung […] nicht erhellt und erklärt werden kann. […] So weit ich sehe und verstehe setzt die Definition eines Satzes als QuasiUrteils das voraus, was durch sie bewiesen werden soll; daß das quasi-Urteil ein Romansatz ist. Ja, ich wage zu behaupten, daß das Quasi-Urteil nichts als eben eine Definition ist, die auf Romansätze angewandt wird, aber nicht aufzeigt, was […] mein Ziel ist: daß epische und dramatische Dichtung fiktionalen oder mimetischen Charakters ist, und zwar in kategorialem Unterschied zur lyrischen. Ich versuchte nachzuweisen, daß die »Darstellung« der fiktiven Personen in der epischen Dichtung das Erzählen womit sie erzeugt oder erschaffen werden zu einer anderen Sprachform macht als jeden anderen Bericht: d. h. es verliert den Charakter der »Aussage«, die die logische Subjekt-Objektstruktur hat.157

Das Erzählen sei eben »eine Funktion, wie die Farbe es für den Maler ist, durch die er sein Bild erzeugt«.158 Hamburger zeigt sich also weiterhin von ihrem Ansatz überzeugt.159 In klarer Diktion präzisiert sie ihre Position, wiederholt sie Argumente. Unerwähnt bleibt aber merkwürdigerweise, dass sie das Quasi in ihrer Dichtungslogik für die fingierte Wirklichkeitsaussage der Ich-Erzählung reserviert. Sie unterscheidet nämlich scharf zwischen dem Fiktiven und dem Fingierten, wobei das Fingierte im Unterschied zur Nicht-Wirklichkeit der Fiktion eine »Quasi- oder Als ob-Wirklichkeit«160 bezeichnet. Hamburger setzt also

|| fiktionale Literatur Spezifisches ist; vgl. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964, S. 17–23. Auch zwischen Hamburger und Weinrich gab es eine Kontroverse; vgl. Käte Hamburger: Noch einmal: Vom Erzählen, bes. S. 47–51, und Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), S. 91, Anm., sowie Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«, S. 236–237. 156 Käte Hamburger: Brief an Roman Ingarden vom 19. August 1958. Dieser Brief, von dem zwei Seiten vorliegen, ist unvollständig erhalten. 157 Ebenda. 158 Ebenda. 159 Dieses völlige Überzeugtsein vom eigenen Ansatz ist für Hamburger durchaus typisch. Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 8 und 13. Vgl. auch Dorrit Cohn: [Book Review] Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, in: Germanic Review 45.1 (1970), S. 65–67. 160 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1. Auflage (1957), S. 238.

206 | Jørgen Sneis das Quasi mit einem Als-ob und die beiden wiederum mit dem Fingierten gleich. Das Quasi oder das Fingiertsein also, das der definierende Terminus für die Icherzählung ist, unterscheidet sich vom Fiktiven dadurch, daß es der Graduierung fähig ist. Es gibt ein mehr oder weniger Quasi, aber kein mehr oder weniger fiktiv. Ein hoher Grad von Fingiertheit bedeutet in den meisten Fällen auch Erfundensein. Aber Erfundensein ist nicht dasselbe wie Fiktivsein.161

Wenn das Quasi (d. h. der Als-ob-Charakter bzw. das Fingiertsein) der IchErzählung gleich Null ist, dann hat man es Hamburger zufolge mit einem echten autobiographischen Bericht zu tun. Der autobiographische Bericht kann aber vom Aussagesubjekt vorgetäuscht werden, wie es in einer Ich-Erzählung der Fall ist. Dabei kann der Bericht unterschiedlich stark fingiert sein. Dennoch handelt es sich nicht um etwas Unwirkliches als »ein graduell abgestuftes Privatum des Wirklichen«, denn vorgetäuscht wird nach Hamburger die Wirklichkeitsaussage als solche. Aufgrund der Subjekt-Objekt-Polarität der Aussage ist damit auch das Aussagesubjekt ein – mehr oder weniger – vorgetäuschtes, woraus sich die größere oder geringere Nähe zum realen Autor erklärt. Kein Wunder also, dass Hamburger den Begriff des Quasi-Urteils für ein »wenig kräftig[es]«162 Erkenntnisinstrument hält: Weder das Quasi (qua graduell und fingiert) noch das Urteil (qua Aussage) hat etwas mit Fiktion in ihrem Sinne zu tun. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der Unterschied zwischen dem Fiktiven und dem Fingierten in Hamburgers Publikationen der sechziger Jahre immer mehr in den Vordergrund tritt. In einem Vortrag auf der internationalen Ästhetik-Konferenz in Athen legt sie den Begriff der Fiktion nicht mit der Struktur der Aussage dar, sondern ausschließlich mit der Differenz zwischen dem Fiktiven und dem Fingierten. Hier findet sich der äußerst aufschlussreiche Satz: »Seit Vaihingers Philosophie des Als ob (1911) pflegt man die Fiktion durch die Form des Als ob (comme si, quasi) zu erklären.«163 Man rechnet – so Hamburger weiter – in der Mathematik mit raumlosen Punkten, in der Physik mit dem leeren Raum, als ob es diese Gebilde tatsächlich gäbe. Solche wissenschaftliche Fiktionen im Sinne Vaihingers164 scheint Hamburger jedoch für legitim zu || 161 Ebenda, S. 239–240. 162 Ebenda, S. 14. 163 Käte Hamburger: Der Begriff der literarischen Fiktion, S. 360. 164 Vaihinger schreibt: »So sei denn auch hier gleich zum Eingang die Frage klar und scharf formuliert, welche in diesem Buche aufgeworfen wird: Wie kommt es, dass wir mit bewusstfalschen Vorstellungen doch richtiges erreichen? Wir operieren mit ›Atomen‹, obgleich wir wissen, dass unser Atombegriff willkürlich und falsch ist, und […] wir operieren glücklich und

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halten. Ihr Anliegen ist die ästhetische Fiktion im Allgemeinen und die literarische Fiktion im Besonderen. Hier sucht sie sich offenbar von Vaihinger abzugrenzen, indem sie den Begriff der Fiktion als exakten Terminus in Opposition zu dem Als-ob bzw. Quasi entwickeln will. Dabei wurde aber Vaihinger in der ersten Auflage der Logik der Dichtung mit keinem Wort erwähnt. Es wäre vorstellbar, dass Hamburger zunächst nicht explizit auf Vaihinger zu sprechen kam, weil er als Bezugspunkt nur allzu selbstverständlich war. Hamburgers akademische Sozialisierung findet in den zwanziger Jahren statt, vor allem in neukantianischen Kreisen.165 Vaihingers Philosophie des Als ob war dabei die Fiktionstheorie schlechthin.166 Ganz in diesem Sinne räumt auch Hamburger in einem 1965 erschienenen Aufsatz – in dem sie ebenfalls mit Vaihinger argumentiert – ein, sie habe den Begriff der Fiktion in der Logik der Dichtung als zu »selbstverständlich vorausgesetzt«, wiewohl »mit besserem Rechte freilich als den der Aussage, weil in der literaturtheoretischen Diskussion mit dem Begriff der Fiktion und des Fiktiven immer schon gearbeitet worden« sei.167 In der zweiten Auflage der Logik der Dichtung ist den Ausführungen zur fiktionalen Gattung ein Abschnitt vorgeschaltet, in dem die Fiktion vom Als-ob im Sinne Vaihingers abgegrenzt wird.168 Ist es möglich, dass Hamburger Ingardens Quasi-Urteile mit Vaihingers Philosophie des Als-ob identifiziert? Wenn ja, dann aus guten Gründen. In seinen Ausführungen zum historischen Roman bzw. zum historischen Drama schreibt nämlich Ingarden: || erfolgreich mit diesem falschen Begriff. […] Und so erkennt man denn auch, dass ein gemeinsames Band die Differentiale der Mathematik, die Atome der Naturwissenschaft, die Ideen der Philosophie und sogar die Dogmen der Religion umschlingt – die Einsicht in die Notwendigkeit bewusster Fiktionen als unentbehrlicher Grundlagen unseres wissenschaftlichen Forschens, unseres ästhetischen Geniessens, unseres praktischen Handelns.« Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus [1911]. Leipzig 7/81922, S. XII und XIX. 165 Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Hamburger, die 1920 der Kant-Gesellschaft beigetreten war, mit der Philosophie Hans Vaihingers, der 1904 die Kant-Gesellschaft gegründet und bereits 1896 die Kant-Studien ins Leben gerufen hatte, schon länger vertraut war. Auf den Beitritt in die Kant-Gesellschaft verweist Claudia Löschner: Denksystem, S. 10, Anm. Zu Hamburgers Biographie und akademischem Werdegang vgl. außerdem Gesa Dane: Käte Hamburger (1896–1992), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. v. Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 189–198. 166 Die enorme Verbreitung der Philosophie des Als ob lässt sich allein an den Auflagen ablesen. Das Buch war 1911 erschienen; bereits 1918 lag die dritte, 1920 die sechste und 1927 die zehnte Auflage vor. 167 Käte Hamburger: Noch einmal: Vom Erzählen, S. 61. 168 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), S. 53–56.

208 | Jørgen Sneis Wird z. B. in »Wallensteins Tod« die Ermordung Wallensteins dargestellt, so sollen die rein intentional entworfenen Ereignisse – und zwar gerade als diese bestimmten individuellen Ereignisse – jenen einst tatsächlich in der Geschichte vorgekommenen Ereignissen so angepaßt sein, daß die ersteren den letzteren vollkommen ähnlich wären, so ähnlich, als ob sie »dieselben« wären.169

Das Als-ob ist hier nicht nur durch gesperrten Druck hervorgehoben, sondern ebenfalls mit einer Fußnote versehen: »Was dieses ›als ob‹ betrifft, vgl. im Kap. VII.«170 Im siebten Kapitel, in dem die Schicht der dargestellten Gegenstände behandelt wird, finden sich keine expliziten Hinweise auf Vaihinger. Dass Ingarden die Philosophie des Als ob zumindest in den sechziger Jahren kannte, belegt eine Anmerkung in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks.171 Im Vorwort zur stark veränderten zweiten Auflage der Logik der Dichtung schreibt Hamburger: »Es bedarf der Erwähnung nicht, dass die Neuauflage von Diskussion und Kritik […] profitiert hat. Denn sie nötigten mich, manches Problem und manche Begriffsbildung neu zu durchdenken und klarer herauszuarbeiten […].«172 Dabei ist die Ingarden-Kritik bemerkenswerterweise nahezu unverändert abgedruckt. Abgesehen von kleineren Korrekturen rein sprachlicher Natur ist nur eine Änderung zu verzeichnen: Rhetorisch mildert Hamburger ihre Kritik insofern ab, als sie Ingarden nicht mehr explizit vorwirft, dass seine Theorie »falsch und auf eine Scheinproblematik gegründet« sei. Dafür kommt eine || 169 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 1. Auflage (1931), S. 179. 170 Ebenda, Anm. 171 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 222, Anm. Siehe hierzu Michael Scheffel: Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung – ein ›Grundbuch‹ der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 140–155, hier: S. 141: »Käte Hamburger entwickelt ihre Position bekanntlich in scharfer Auseinandersetzung mit Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911) und Roman Ingardens Begriff des ›Quasi-Urteils‹ […]. Im Unterschied zu Vaihinger und seinen Nachfolgern hält Hamburger es für falsch, das Phänomen der literarischen Fiktion mit der Form des ›Als Ob‹ zu erklären, weil diese Form die Idee einer Täuschung impliziert.« Es ist fraglich, ob Scheffel hier tatsächlich Ingarden für einen Nachfolger Vaihingers hält. Siehe auch Michael Scheffel: Käte Hamburger, in: Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, hg. v. Matías Martínez und Michael Scheffel. München 2010, S. 148–167, hier: S. 152: »Was genau bedeutet aber ›Fiktion‹? Hamburger beantwortet diese Frage, indem sie in scharfer Abgrenzung zu Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911) und Roman Ingardens Begriff des ›Quasi-Urteils‹ […] ihre eigene Position entwickelt.« Auch hier ist es nicht ganz klar, ob die beiden Abgrenzungen – von Vaihinger einerseits und von Ingarden andererseits – als zusammengehörig oder als unabhängig voneinander zu verstehen sind. 172 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), Vorwort [ohne Paginierung].

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lange Fußnote hinzu, in der Hamburger – mit Erläuterungen, aber ohne nachzugeben – die Replik in der zweiten Auflage von Das literarische Kunstwerk erwidert. Inwieweit Ingarden damit sozusagen indirekt zugebilligt wird, ein ›wirkliches‹ Problem zu haben, ist schwer zu sagen. Denn auf seine Argumente lässt sich Hamburger nicht wirklich ein. So spricht sie etwa die für Ingarden so zentrale Psychologismus-Frage nicht an. Hatte sie Ingardens Anti-Psychologismus – trotz ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Husserls Philosophie173 – einfach nicht richtig erkannt? Oder hielt sie vielleicht das Ganze letztlich doch für eine »Scheinproblematik«? Hamburger sah sich offenbar weder durch den Briefwechsel noch durch das öffentliche Austragen der Kontroverse dazu veranlasst, ihre Kritik zu modifizieren oder auch die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen zu diskutieren. Vielleicht betrachtete sie Ingardens Begriff des Quasi-Urteils als eine phänomenologische Spielart von Vaihingers Als-ob, die Kritik daher als sachgemäß und berechtigt? Aus Ingardens Sicht muss dies jedoch unbefriedigend gewesen sein. In seiner Replik hatte er angemerkt, dass »die Uneinheitlichkeit der Offensive« klar zeige, dass Hamburger nicht recht wisse, wogegen sie eigentlich kämpft und was sie ihm eigentlich vorwirft.174 Daran konnten seine nachgelieferten Argumente offensichtlich nichts ändern. Was Ingarden betrifft, so wird insgesamt deutlich, dass er seinerseits Hamburgers Kritik – trotz der Aristoteles-Exegese, trotz der Analogie zwischen Dichter und Maler etc. – wohl auch nicht ganz im Sinne ihrer logisch-strukturellen Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeitsaussage verstanden hat. Anstatt hier die Argumente und Gegenargumente einzeln zu referieren, sei lediglich auf einen Aspekt hingewiesen, der dies verdeutlicht. »Die Einführung des Begriffes des Quasiurteils«, hält Ingarden Hamburger entgegen, »soll nichts im Werke ›erklären‹, sondern nur den Sinn und die Funktion der Aussagesätze in einem literarischen Kunstwerk […] klären«.175 Wie man nun die Quasi-Urteile erkennen und von echten Urteilen unterscheiden kann, ist für Ingarden ein separates Problem. Er erläutert: Anders als beim Vorlesen, wo man den quasiurteilsmäßigen Charakter meist an der Intonation bzw. Deklamation erkennen könne, komme das Quasi im gedruckten Text nicht äußerlich zur Ausprägung. || 173 Vgl. dazu die umfangreichen Husserl-Notizen in Hamburgers Nachlass, etwa die 105 Seiten in der Mappe »Husserl« (DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.151). Die Husserl-Lektüre findet auch Niederschlag in Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 10 (1965), S. 217–234, bes. S. 222–227. 174 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 185. 175 Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 6. Oktober 1958. DLA Marbach, A: Hamburger, Zugangsnummer 91.4.712.

210 | Jørgen Sneis In der formalen Logik habe Bertrand Russell das Assertationszeichen eingeführt, um Urteile von prädikativen Gebilden ohne Behauptungsfunktion zu unterscheiden. Eine entsprechende Notation, die eine Quasi-Behauptungsfunktion kenntlich machen könnte, gebe es aber im literarischen Kunstwerk nicht.176 Ingarden hält also weiter daran fest, dass sich der Form nach Urteile und Quasi-Urteile voneinander nicht unterscheiden. »Woher kann ich […] wissen«, fragt er rhetorisch, »dass ich mit einem literarischen Kunstwerk zu tun habe?«177 Seine Antwort lautet: Darüber informiert uns der Titel oder Untertitel.178 Außerdem bringe die künstlerische Gestaltung der Sprache den Leser von der normalen Einstellung ab, prädikative Sätze als Urteile zu lesen, und zwinge ihn stattdessen dazu, eine andere Einstellung anzunehmen.179 So bestehen Ingardens Quasi-Urteile letztlich in einer pragmatischen Zuschreibung, die von paratextuellen Fiktionalitätsindikatoren und literarischen Konventionen gesteuert wird.180 Ingarden hält es für wichtig, »dass man in den Gestaltungen der Sprache selbst nach dem suchen muss, was […] zunächst eine blosse Feststellung der Quasi-Modifikation ist«.181 Dabei ist allerdings ausdrücklich von der Gestaltung der Sprache die Rede. Aus Hamburgers Sicht befindet man sich damit auf ästhetischem und nicht auf logischem Terrain. Überhaupt scheint Ingarden das Spezifische an Hamburgers Kritik nicht richtig zu fassen, ihren Einwänden nicht präzise begegnen zu können. So heißt es etwa in der zweiten Auflage von Das literarische Kunstwerk: »Wenn wir von vornherein wissen, daß wir es mit einer Dichtung zu tun haben, wissen wir auch – wenn ich recht habe –, daß wir es auch mit lauter Quasi-Urteilen zu tun haben«.182 Damit ist aber Hamburgers Tautologie-Vorwurf natürlich nicht widerlegt; vielmehr wird dem || 176 Vgl. ebenda sowie Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 189– 190. Ingarden hat hier den von Frege in der Begriffsschrift (1879) eingeführten Urteilsstrich vor Augen, den Russell und Whitehead später übernehmen; vgl. Bertrand Russell und Alfred North Whitehead: Principia Mathematica. Bd. 1 [1910]. Cambridge 1963, S. 92, Anm.: »We have adopted both the idea and the symbol of assertion from Frege.« Der Urteilsstrich steht bei Frege für den Akt des Urteilens selbst (im Sinne eines assertorischen Urteils); vgl. hierzu Gottfried Gabriel: Urteilsstrich, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar 1996, Bd. 4, S. 455. 177 Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 6. Oktober 1958. 178 Vgl. ebenda sowie Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 190. 179 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 190 sowie Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 64–65. 180 Dabei ist auch das Assertionszeichen (im Sinne Freges) letztlich kein semantisches, sondern ein pragmatisches Symbol; vgl. Gottfried Gabriel: Urteilsstrich, S. 455. 181 Roman Ingarden: Brief an Käte Hamburger vom 9. August 1958. 182 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 2. Auflage (1960), S. 189.

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Vorwurf Vorschub geleistet, was sich Hamburger in der zweiten Auflage der Logik der Dichtung auch nicht entgehen lässt.183 Was bleibt also unter dem Strich? Kann man im Sinne der eingangs gestellten Fragen von einem Erkenntnisgewinn durch die Kontroverse sprechen? Im Grunde genommen kommt es zu keiner gemeinsamen Problembeschreibung, geschweige denn zu einer Vermittlung der beiden Positionen. Es fehlen sowohl Ingarden als auch Hamburger, trotz beidseitiger Bemühungen um Klärung, bestimmte geteilte Rahmenannahmen, die eine fruchtbare Diskussion erst entstehen lassen könnten. Wenn Ingarden fragt, wessen Schülerin Hamburger sei und wie sie auf die Probleme der Logik der Dichtung gekommen sei, spürt er womöglich, dass er nicht über alle notwendigen Informationen verfügt, um ihre Kritik richtig einschätzen zu können. Letztlich gelingt es Hamburger und Ingarden nicht, eine programm- und deutungsneutrale Beschreibung des Problems herauszuarbeiten, um vor diesem Hintergrund klar zu benennen, ob und gegebenenfalls wo ihre Meinungen divergieren. Im Verlauf der Kontroverse wird nicht einmal klar, ob sie überhaupt ein gemeinsames Problem haben. Dementsprechend läuft die Kontroverse gewissermaßen ins Leere.184

4 Coda In seiner 1975 erschienenen Studie Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur sucht Gottfried Gabriel jenseits der spezifischen Terminologie den »rationalen Kern«185 der Theorien Ingardens und Hamburgers herauszuarbeiten. Dies wird damit begründet, dass sich »[z]umindest die deutsche Litera-

|| 183 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), S. 27, Anm. 184 Vgl. Elisabeth Ströker: Fiktive Welt im literarischen Kunstwerk, S. 160: »Nach der begründeten Abwehr des Tautologie-Einwandes führt Ingarden seine Gegendarstellung mit einer Präzisierung seines Begriffs des Quasi-Urteils fort, wohl in der Meinung, daß Käte Hamburger diesen Begriff mißverstanden habe. Eher scheint es jedoch, daß die entscheidenden Differenzen woanders liegen und daß zwei sich kreuzende Mißverständnisse unaufgeklärt geblieben sind. Gewiß hätte Ingardens Akribie der logischen Analyse des Urteils […] auch Käte Hamburger überzeugen können, wäre nur die einer solchen Analyse zugrundeliegende Fragestellung […] auch die ihre gewesen.« Es ist Ströker zuzustimmen, dass die Kontroverse »letztlich offen geblieben« (S. 142) sei. Ich teile allerdings nicht ihre Ansicht, dass die Kontroverse »auf dem Boden gemeinsamer Voraussetzungen« (ebenda) erwachsen sei. Vielmehr habe ich plausibel zu machen versucht, dass nicht lediglich die Fragestellungen, sondern auch die theoretischen Voraussetzungen der beiden Kontrahenten divergieren. 185 Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 53.

212 | Jørgen Sneis turwissenschaft« meist entweder an Ingarden oder an Hamburger orientiert habe, »wenn es um eine philosophisch-sprachtheoretische Fundierung der Theorie der Literatur geht«.186 Auch im vorliegenden Aufsatz wurde der Versuch unternommen, den »rationalen Kern« der beiden Theorien zu erfassen – jedoch nicht um einen eigenen theoretischen Entwurf dagegenzuhalten,187 sondern aus einer fachgeschichtlichen Perspektive. Die vielen Kontroversen um Die Logik der Dichtung sind – so könnte man vorsichtig behaupten – gewissermaßen symptomatisch für einen Abschnitt der Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Sie ließen sich als späte Folge einer Divergenz und Spezialisierung philosophischer Denkkollektive und Schulen im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisieren, zwischen denen in den fünfziger und sechziger Jahren keine problemorientierte Dialogisierung mehr stattfindet. Oder anders formuliert: An Diskussionen, die in den zehner, zwanziger und noch in den dreißiger Jahren geführt werden, gibt es nach dem Krieg – und gegebenenfalls nach der Rückkehr aus dem Exil – keinen Anschluss mehr. So hat es jedenfalls Käte Hamburger empfunden, wie folgende Briefstelle eindrucksvoll zeigt: Hat es Sinn, sich überhaupt mit diesen oder jenen Spezialproblemen einer Wissenschaft oder sogenannten Wissenschaft zu befassen, deren gesamter Betrieb, deren ganze Tradition an Kultur so zusammengebrochen ist wie die deutsche Geisteswissenschaft? Wenn ich Schriften von vor 1933 lese, ist es wie eine ferne Vergangenheit. Damals hatte die Gegenwart, und so auch die damals gegenwärtige Wissenschaft, noch ihren Zusammenhang mit der deutschen Geisteskultur. Jetzt ist es wie ein gähnender Abgrund oder wie lauter abgerissene Fäden, und sinnlos erscheint es mir oft, in der toten Tradition mich zu bewegen. Ob sie wieder lebendig werden kann? In anderer Weise vielleicht?188

Der »gähnende[] Abgrund«, von dem Hamburger spricht, verweist hier wohl nicht zuletzt auf eine durch den Nationalsozialismus forcierte Diskontinuität, die auch nach 1945 Folgen für die Verständnismöglichkeiten hatte. In diesem Aufsatz wurde indessen exemplarisch zu zeigen versucht, dass Missverständnisse wie auch eine Gegenläufigkeit der Argumente, die durch unterschiedliche, zum Teil implizit bleibende Basisannahmen erzeugt wird, nicht unbedingt auf eine epistemische Diskontinuität zurückgeführt werden müssen. Denn Hamburger und Ingarden gehören sozusagen derselben Zeit an; sie befinden sich nicht diesseits oder jenseits eines Paradigmenwechsels und führen beide ihre || 186 Ebenda, S. 52. 187 Vgl. ebenda, S. 53. 188 Käte Hamburger: Brief an Josef Körner vom 12. Mai 1946. Zit. nach Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe, hg. v. Ralf Klausnitzer. Göttingen 2001, S. 216.

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Überlegungen in den Jahren des Exils bzw. Krieges und in der Nachkriegszeit unmittelbar und kontinuierlich weiter.189 Und dennoch reden sie aneinander vorbei. Meines Erachtens ist dies in der Kontroverse zwischen Hamburger und Ingarden das eigentlich erklärungsbedürftige Faktum. Sofern man die ausbleibende Klärung nicht auf Kontingenz, mangelnde kognitive Fähigkeiten oder auch auf ein ungenügendes wissenschaftliches Ethos zurückführen will, sieht man sich auf die divergierenden Basisannahmen der Problemkonstitution zurückgeworfen, die nicht diskutiert bzw. hinreichend expliziert werden.

|| 189 Vgl. Roman Ingarden: Der Streit um die Existenz der Welt. Bd. 1: Existentialontologie, S. VII: »Ich habe viele Jahre gearbeitet, um mich zur Abfassung dieses Buches vorzubereiten, und zwar im Grunde die ganze Zeit, seit ich im Jahre 1918 zu der Überzeugung kam, daß ich den transzendentalen Idealismus Husserls bezüglich der Existenz der realen Welt nicht teilen kann.« Gregor Haefliger (Ingarden und Husserls transzendentaler Idealismus, bes. S. 107) hat darauf hingewiesen, dass Ingarden sich noch im Jahre 1967, also drei Jahre vor seinem Tod, mit ähnlichen Fragen wie in seinem Frühwerk beschäftigte. Zur Kontinuität im Denken Hamburgers sei verwiesen auf die wissenschaftshistorische Rekonstruktion Claudia Löschners (Denksystem).

Jørgen Sneis

Theoriedesign Randbemerkung zu einem Verweis auf Nicolai Hartmann in der zweiten Auflage von Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung* Abstract: In the second revised edition of The Logic of Literature (Die Logik der Dichtung) Käte Hamburger draws on the philosophy of Nicolai Hartmann to explain her notion of utterance (Aussage). This may, however, strike one as odd insofar as key concepts of Hamburger’s literary theory originate in the Marburg school of Neo-Kantianism, while Hartmann, on the other hand, vehemently opposed this particular school of philosophy. In this article, I raise the question as to whether the reference to both Neo-Kantianism and Hartmann gives rise to inconsistencies in Hamburger’s own argument.

1968 erschien die zweite, zum Teil stark überarbeitete Auflage von Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung. In den elf Jahren, die seit der Erstpublikation vergangen waren, war Hamburgers Studie immer wieder diskutiert und zum Teil auch heftig kritisiert worden.1 Die vielen Veränderungen in der zweiten Auflage dürften nicht zuletzt eine Reaktion auf diese Kritik sein. In diesem Sinne heißt es auch im Vorwort: Es bedarf der Erwähnung nicht, daß die Neuauflage von Diskussion und Kritik […] profitiert hat. Denn sie nötigten mich, manches Problem und manche Begriffsbildung neu zu durchdenken und klarer herauszuarbeiten, als es bei der ersten Konzeption […] geschehen war.2

Überarbeitet ist in der zweiten Auflage unter anderem die Explikation des Aussagebegriffs bzw. die »Theorie der Aussage«, die nun »breiter und schärfer«

|| * Dieser Aufsatz ist im Umfeld meines Dissertationsprojekts entstanden, das durch die Gerda Henkel Stiftung gefördert wird. 1 Vgl. Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroverse um Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247. 2 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite, stark veränderte Auflage. Stuttgart 1968, Vorwort [ohne Paginierung].

216 | Jørgen Sneis dargelegt werden soll.3 Hierbei rekurriert Hamburger unter anderem auf den Philosophen Nicolai Hartmann: »Die Subjekt-Objekt-Beziehung der Aussage, die sie als Wirklichkeitsaussage begründet, findet eine gewisse Entsprechung und Bestätigung in der Ontologie und ontologischen Erkenntnistheorie Nicolai Hartmanns […].«4 Dieser Verweis auf Hartmann mag einen jedoch etwas stutzig machen, denn während zentrale Theoreme in Hamburgers Literaturtheorie – in erster Linie sei ihr Funktionsbegriff genannt – dem Marburger Neukantianismus entstammen,5 wendet sich Hartmanns Ontologie wie auch Erkenntnistheorie vehement gegen dessen Grundannahmen. Hartmann war 1907 von Hermann Cohen und Paul Natorp an der Universität Marburg promoviert worden. Die Habilitation, ebenfalls in Marburg, erfolgte zwei Jahre später. Seine frühen Arbeiten, vornehmlich zur antiken Philosophie, standen ganz im Zeichen des Neukantianismus. In den 1910er Jahren wandte er sich aber zunehmend gegen die Philosophie Cohens und Natorps; schließlich entwickelte er in scharfer Abgrenzung gegen den Marburger Neukantianismus eine sogenannte ›neue Ontologie‹ auf Grundlage eines ›kritischen Realismus‹.6 Deutet somit der Verweis auf Hartmann bei Hamburger womöglich auf ein Konsistenzproblem in ihrem ›Denksystem‹7 hin? Lassen sich – mit anderen Worten – die Theoreme, von denen sie Gebrauch macht, widerspruchslos zusammenführen, wenn die Theorien, aus denen sie stammen, auf sich gegenseitig ausschließenden Grundannahmen beruhen und somit in direktem Konflikt miteinander stehen? Oder anders gefragt: Wie ist eigentlich die Tatsache zu bewerten, dass sich Hamburger nun ausgerechnet auf Nicolai Hartmann bezieht? || 3 Ebenda. 4 Ebenda, S. 48. Zu Hamburgers Aussage- wie auch Fiktionsbegriff vgl. im Folgenden meinen Aufsatz zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden in diesem Band; dort finden sich weitere Nachweise und Literaturhinweise. 5 Vgl. hierzu Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 25–55, bes. S. 31, 34–36 und 50–55. Zum Einfluss des Marburger Neukantianismus auf Käte Hamburger vgl. auch den Aufsatz von Andrea Albrecht in diesem Band. 6 Eugene Kelly spricht in Bezug auf Hartmanns Ethik sogar von einer »negative over-reaction« (Material ethics of value. Max Scheler and Nicolai Hartmann. Dordrecht u. a. 2011, S. 6). Zu Hartmanns philosophischem Werdegang vgl. seine Selbstdarstellung in: Philosophen-Lexikon. Handwörterbuch der Philosophie nach Personen, hg. v. Werner Ziegenfuß. Berlin 1949, S. 454– 470. Einen Überblick über Hartmanns Gesamtwerk mit Fokus auf die Ontologie und die realistische Grundposition bietet Martin Morgenstern: Nicolai Hartmann zur Einführung. Hamburg 1997. Zu Hartmanns Verhältnis zum Neukantianismus siehe vor allem Reinhold Breil: Kritik und System. Die Grundproblematik der Ontologie Nicolai Hartmanns in transzendentalphilosophischer Sicht. Würzburg 1996. 7 Zu Hamburgers ›Denksystem‹ sei verwiesen auf die bereits genannte Studie von Claudia Löschner.

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Direkt auf der ersten Seite seiner 1921 erschienenen Monographie Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, in der er seinen ›kritischen Realismus‹ begründet, hält Hartmann fest, dass Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenstandes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will, sondern ein Erfassen von etwas, was auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist.8

Unschwer ist hier die Stoßrichtung zu erkennen; gemeint dürfte nicht zuletzt das Erzeugungstheorem à la Hermann Cohen sein. Dessen scheint sich Käte Hamburger durchaus bewusst zu sein. Jedenfalls bemerkt sie, Hartmann habe sich »bekanntlich gegen die idealistische Erkenntnistheorie gerichtet«.9 Ohne Hartmanns Erkenntnistheorie hier im Einzelnen nachzuzeichnen, lässt sich festhalten, dass sein Erkenntnisbegriff – der realistischen Position entsprechend – jegliche Konstitution des Erkenntnisgegenstandes durch das erkennende Subjekt ausschließt. Vielmehr wird Hartmann zufolge ein Seiendes bzw. ein Gegenstand, der dagegen indifferent ist, ob er von einem Subjekt erfasst wird oder nicht, dadurch zum Erkenntnisgegenstand, dass man in einem entsprechenden Bewusstseinsakt auf ihn gerichtet ist, also dass er zum Objekt der Erkenntnis gemacht wird. In einer solchen »Objektwerdung des Seienden«10 sieht Hamburger eine Parallele zum eigenen Aussagebegriff bzw. zur Struktur der Aussage qua Wirklichkeitsaussage. Die Unabhängigkeit des Aussageobjekts vom Ausgesagtwerden steht für Hamburger außer Frage. Da aber jede Aussage eines Aussagesubjekts notwendigerweise ein Ausgesagtes enthält, liegt nach Hamburger – im Sinne einer ›Objektwerdung‹ – eo ipso eine intakte SubjektObjekt-Polarität in jeder Wirklichkeitsaussage vor. Dabei ist die eingangs aufgeworfene Frage, ob das Zusammenführen von Cohen und Hartmann theoretische Inkonsistenzen nach sich ziehen könnte, mit Blick auf Die Logik der Dichtung wohl zu verneinen. Denn Hamburger greift nur im Hinblick auf die Fiktion auf jenen neukantianischen Funktionsbegriff zurück, wobei in ihrer Dichtungslogik eine unüberschreitbare Grenze zwischen der literarischen Fiktion und der Wirklichkeitsaussage verläuft. In der Fiktion ist Hamburger zufolge jene polare Subjekt-Objekt-Relation der Wirklichkeitsaussage aufgebrochen. Der erzählende Dichter ist kein Aussagesubjekt; das Ausgesagte wird nicht auf ihn, sondern auf fiktive Personen bezogen. Dabei ist || 8 Nicolai Hartmann: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. Berlin, Leipzig 1921, S. 1. 9 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), S. 48. 10 Nicolai Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie. Berlin, Leipzig 1935, S. 18. Diese Formulierung zitiert auch Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Auflage (1968), S. 49.

218 | Jørgen Sneis das Erzählen eine Funktion (im Sinne Cohens), die das Erzählte hervorbringt bzw. durch die das Erzählte erzeugt wird. Eine ›Objektwerdung‹ im oben dargelegten Sinne liegt also in der Fiktion keineswegs vor. In Hamburgers ›Denksystem‹ bilden Fiktion und Wirklichkeit kontradiktorische Gegensätze. So stellt es für ihre Dichtungslogik kein unmittelbares Problem dar, die literarische Fiktion mit Hilfe von Cohen und die Subjekt-Objekt-Polarität der Wirklichkeitsaussage mit Hilfe von Hartmann zu erklären. Ergibt sich also auf der einen Seite ein stimmiges Bild, so bleibt doch auf der anderen Seite die eine oder andere Frage offen. Welche argumentative Funktion kommt dem Hartmann-Bezug zu und was hieße es eigentlich, jene »gewisse Entsprechung und Bestätigung« des Aussagebegriffs in Hartmanns Philosophie ernst zu nehmen? Mit Blick auf das neukantianische Erzeugungstheorem gibt es sehr wohl eine gewisse systematische Entsprechung zwischen den Ansätzen Hartmanns und Hamburgers. Denn wie bei Hartmann der Ästhetik innerhalb der Philosophie eine Sonderstellung zukommt, so hat bei Hamburger – auf anderer Ebene – die Fiktion eine Sonderstellung im System der Sprache. Hartmann zufolge konstituiert sich der ästhetische Gegenstand (anders als der Erkenntnisgegenstand) erst mit einer bestimmten Bewusstseinshaltung des Subjekts: »Ohne das Zutun des Schauenden gibt es […] den ästhetischen Gegenstand nicht.«11 Damit bildet die Ästhetik den einzigen Bereich, in dem das ›idealistische‹ Erzeugungstheorem Geltung hat. Hartmann kritisiert den transzendentalen Idealismus dafür, unterschiedslos die Subjektbedingtheit aller Gegenstände anzunehmen; ihm zufolge ist allein der ästhetische Gegenstand ›erzeugt‹ bzw. durch ein Subjekt bedingt.12 Aber welche Erklärungskraft hat Hartmanns Ansatz im Hinblick auf Hamburgers Dichtungslogik? Hamburger geht auf Hartmanns Ästhetik bzw. auf dessen Systematik der philosophischen Disziplinen nicht ein. Die hier skizzierte Parallele lässt sich also ohne anderwärtig erworbene Hartmann-Kenntnisse nicht feststellen (und führt womöglich

|| 11 Nicolai Hartmann: Ästhetik. Berlin 1953, S. 96. 12 Vgl. ebenda, S. 29. Es ist anzumerken, dass Hartmanns Kritik – zumindest aus neukantianischer Sicht – wohl ein wenig an der Sache vorbeigeht. Es stellt sich die Frage, ob Hartmann nicht ontologische und erkenntnistheoretische Argumente durcheinanderbringt. So leugnet etwa Cohen keineswegs das Vorhandensein von Dingen »ausserhalb der menschlichen Gehirne in selbsteigener Gegebenheit ihres Daseins« (Werke, Bd. 5: Das Princip der InfinitesimalMethode und seine Geschichte [1883], Hildesheim 52005, S. 126). Die erkenntnistheoretische Pointe des Erzeugungstheorems ist eine andere. Hartmanns Angriff auf den Idealismus bzw. Neukantianismus diskutiert Ernst Cassirer in seinem Aufsatz: Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, in: Jahrbücher für Philosophie 3 (1927), S. 31–92, bes. S. 79–91.

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ohnehin, wenn man sie überstrapaziert, in die Irre). Es wäre denkbar, dass Hartmann – ohne allzu große Verbindlichkeit13 – als Anschlussstelle verwendet wird, weil er Ende der sechziger Jahre zumindest der älteren Lesergeneration ganz gewiss ein Begriff war.14 Geht man aber davon aus, dass mit dem Hartmann-Rekurs auch dessen Philosophie mitsamt ihren spezifischen Grundannahmen in Hamburgers ›Denksystem‹ implementiert wird (schließlich sieht Hamburger darin nicht nur eine Entsprechung, sondern auch eine Bestätigung), dann ergeben sich neue Fragen, auf die man in der Logik der Dichtung vergeblich eine Antwort sucht. Man mag sich dann etwa wundern, warum Hamburger nicht auf Hartmanns Konzept der ›Entwirklichung‹15 eingeht und mit ihrer eigenen Unterscheidung von Wirklichkeit/Unwirklichkeit und Nicht-Wirklich-keit in Verbindung bringt. Dass sie dies nicht tut, spricht für eine eher selektive Hartmann-Rezeption. Ferner stellt sich die Frage nach Hamburgers Erkenntnisbegriff: Wie die ›ästhetische Schau‹ bei Hartmann aufgrund der Art und Weise, wie sich der ästhetische Gegenstand konstituiert, zu keiner Erkenntnis im oben dargelegten Sinne führen kann, so wäre auch die Fiktion im Sinne Hamburgers – von Hartmann aus gesehen – zur Erkenntnis nicht fähig. Insofern ist es auch nur folgerichtig, dass es Hamburger zufolge so etwas wie ästhetische Wahrheit nicht gibt.16 Aber gleichzeitig wird etwa betont, dass die Fiktion »der einzige erkenntnistheoretische Ort« sei, »wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann«.17 Wenn nun der Erkenntnisbegriff mit Blick auf die Fiktion tatsächlich außer Kraft gesetzt ist, dann fragt sich, wodurch dieser erkenntnistheoretische Ort eigentlich gekennzeichnet || 13 In diesem Sinne bemerkt Claudia Löschner (Denksystem, S. 35–36), dass Hamburgers ›Erzählfunktion‹ lediglich in Analogie zu einem mathematischen Funktionsbegriff neukantianischer Prägung gedacht ist. 14 Hartmann wurde zu Lebzeiten stark rezipiert. Nach seinem Tod brach allerdings das Interesse an seiner Philosophie bald ab. Mit einer – in der Hartmann-Forschung immer wieder zitierten – Formulierung Herbert Schnädelbachs (Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a. M. 1983, S. 259): Hartmann habe »seine Epoche bestimmt, aber nicht – wie Heidegger – Epoche gemacht«. In der ersten Auflage der Logik der Dichtung gab es mit Blick auf den Aussagebegriff keinen Hinweis auf Hartmann. Das muss allerdings nicht viel bedeuten. So wurde etwa Hans Vaihinger in der Erstauflage nicht erwähnt. Dennoch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass Hamburger ihren Fiktionsbegriff in direkter Auseinandersetzung mit Vaihingers Philosophie des Als-ob entwickelt hat. In der gekürzten dritten Auflage der Logik der Dichtung ist der Verweis auf Hartmann beibehalten; hier kommt etwa Ernst Cassirer nicht mehr vor. 15 Siehe dazu Nicolai Hartmann: Ästhetik, S. 37–38 u. ö. 16 Vgl. Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Stuttgart 1979. 17 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 40. Diese Formulierung ist in der zweiten Auflage (dort S. 73) wortwörtlich übernommen und zudem kursiv hervorgehoben.

220 | Jørgen Sneis ist oder wie sich Darstellung (bzw. μίμησις) und Erkenntnis zueinander verhalten. Erwähnt sei noch, dass sich bei Hamburger neben Cohen und Hartmann eine Reihe von Einflüssen ausmachen lassen.18 An dieser Gegenüberstellung wird aber – zumal es sich um Schlüsselbegriffe handelt – etwas sichtbar, was bei Hamburger generell im Auge zu behalten ist: Es wird eben viel synthetisiert. Das muss natürlich nicht auf Inkonsistenz hinauslaufen, erfordert aber womöglich zusätzlichen Erklärungsaufwand. Entsprechende Erklärungen scheint Hamburger indessen oftmals nicht für nötig zu halten.

|| 18 Claudia Löschner (Denksystem, S. 10–11) hebt fünf Kontexte hervor: den Marburger Neukantianismus (Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Paul Natorp), die Existenz- bzw. Sinnphilosophie (Karl Jaspers, Paul Hofmann), die Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (um Max Dessoir), die Denkpsychologie der Würzburger Schule sowie die Gestaltpsychologie der Berliner Schule (Oskar Külpe, Karl Bühler) und die literaturwissenschaftliche Romantikforschung (Fritz Strich, Josef Körner).

Jörg Schönert

Käte Hamburger im fachgeschichtlichen Kontext des Zeitraums 1955–1975 Abstract: The following article examines how Käte Hamburger’s theoretical concepts relate to her practice as literary scholar, around the time of the initial publication of Die Logik der Dichtung. Contextualizing examples from her publications within the history of the discipline shows how Hamburger’s theoretical innovations were not as far-reaching as they have been commonly understood, especially in their reception until the 1980s. In her interpretations of texts and her literary historic comments, Hamburger largely follows the philological conventions of the 1950s and does not reflect her approach in relation to her own theoretical innovations.

Mit meinem Beitrag will ich Aspekte zum disziplininternen Kontext von Käte Hamburgers literaturwissenschaftlicher Tätigkeit im zeitlichen Umfeld der Erstpublikation von Die Logik der Dichtung1 erschließen und danach fragen, wie die philologischen Rollen der Literaturtheoretikerin zum einen, zum anderen der Textinterpretin und Kommentatorin von literaturgeschichtlichen Prozessen aufeinander zu beziehen sind.2 Eine solche ›fachinterne Kontextualität‹ ist nicht nur für die akademische Biographie von Käte Hamburger von Bedeutung, sie hat auch Relevanz für die Disziplingeschichte der Philologien angesichts der Tatsache, dass der Stuttgarter Professorin der Anspruch zugewiesen werden kann, bereits in den 1950er Jahren für eine theoretisierend begründete Szientifizierung der Literaturwissenschaft eingetreten zu sein.3 Die Denomination ›All|| 1 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957. Im Nachfolgenden zitiert unter der Sigle LdD. 2 Ich bedanke mich bei Claudia Löschner für hilfreiche Hinweise zu meiner Auseinandersetzung mit Die Logik der Dichtung und bei Wilhelm Schernus für seine Kommentare zu meinen Ausführungen sowie für das Überlassen von Materialien zur Forschungsdiskussion. – Kurzfristig verfügte Verpflichtungen zu zeitraubenden Umzugsaktionen im Hamburger Institut für Germanistik in den letzten Monaten des Jahres 2013 haben mich leider daran gehindert, die von den Veranstalterinnen des Stuttgarter Kolloquiums »Käte Hamburger im Kontext« großzügig bemessene Bearbeitungszeit zur Publikation der Referate für meinen Vortrag durch vertiefende Lektüre der Bezugstexte für die geplante Erweiterung der Argumentation zu nutzen; ich belasse es bei einem Aufriss des Problemhorizonts und ersten Ergebnissen. 3 Vgl. zum manifesten Beginn eines solchen Prozesses seit Mitte der 1960er Jahre Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller: Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ansprüche,

222 | Jörg Schönert gemeine und vergleichende Literaturwissenschaft‹, mit der Käte Hamburger 1959 ihre außerplanmäßige Professur an der TH Stuttgart zugewiesen wurde, war seinerzeit für die Universitäten der Bundesrepublik Deutschland als eine vergleichsweise neue fachliche Orientierung anzusehen;4 es waren insbesondere die von akademischen Traditionen weniger geprägten Technischen Hochschulen oder die neu gegründeten Universitäten, die seit den 1950er Jahren einer solchen transnationalen literaturwissenschaftlichen Orientierung und zudem der modernen Linguistik Lehr- und Forschungsperspektiven eröffneten. Diese Öffnung ist methodologisch vielfach mit Hinwendung zum Strukturalismus verbunden – im Sinne eines Proto- oder Praestrukturalismus. Dafür nahm Eberhard Lämmert nach 19965 und 20036 erneut 2010 auch Käte Hamburger mit ihrer Logik der Dichtung in Anspruch.7 Ich will mich nicht mit den Hypothesen, Verfahrensweisen und Ergebnissen dieser sprach-, fiktions- und gattungstheoretischen Schrift8 sowie ihrer zeitnahen Rezeption befassen.9 Dazu sind hinreichende Diskussionen geführt worden, || Strategien, Resultate, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10 (1979), H. 1, S. 162– 191. 4 Vgl. Eberhard Lämmert: Strukturale Typologien in der Literaturwissenschaft zwischen 1945 und 1960, in: Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975, hg. v. Hans-Harald Müller, Marcel Lepper und Andreas Gardt. Göttingen 2010, S. 229–272, hier: S. 230: verwiesen wird auf begründende Leistungen von Robert Petsch in den 1930er und 1940er Jahren. 5 Eberhard Lämmert: Ein Weg ins Freie. Versuch eines Rückblicks auf die Germanistik vor und nach 1945, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hg. v. Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt a. M. 1996, S. 411–417, hier: S. 415–416. 6 Vgl. Eberhard Lämmert: Käte Hamburger – Charakterzüge ihrer Wissenschaft, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 15– 27, hier: S. 22: Von ›Praestrukturalismus‹ sprechen könne man bereits in Bezug auf Käte Hamburgers Zeitschriften-Beitrag »Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung« (in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 [1951], H.1, S. 1–26). 7 Vgl. Eberhard Lämmert: Strukturale Typologien, S. 233 und S. 246–251. 8 Dazu Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013; auch Marija Z. Vasić Daki: Käte Hamburgers Theorie der Dichtungsgattungen. Phil. Diss. Siegen 2000 (als Buchpublikation: Käte Hamburgers Theorie der Dichtungsgattungen. Die theoretischen Grundlagen der »Logik der Dichtung«. Stuttgart 2005). 9 Vgl. etwa Karl A. Ott: Über eine ›logische‹ Interpretation der Dichtung, in: GermanischRomanische Monatsschrift NF 11 (1961), S. 210–218. – Aufzuarbeiten wäre noch die Spätrezeption in der französischen Narratologie bei Gérard Genette (vgl. sein Vorwort 1986 zur Übersetzung von Die Logik der Dichtung) und Jean M. Schaeffer: Fiction, feinte et narration, in: Critique 481/482 (1987), S. 555–576.

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die sich in den zurückliegenden 15 Jahren deutlich mehr der Partei der Kritiker als den (neudeutsch gesagt) ›followers‹ zugewandt haben. 10 Bereits 1974 formulierte Klaus Weimar zu Die Logik der Dichtung entschieden »Kritische Bemerkungen« zum »Auseinanderklaffen von Anspruch und Geltung« theoretischer Annahmen, zum »äquivoken Gebrauch« von Begriffen oder gar zu »Denkfehlern«.11 Eine in der Entschiedenheit vergleichbare »Destruktion« des Theoriegebäudes12 hat 1998 Kai Luehrs vollzogen;13 dagegen wurde aus feministischer Sicht in entsprechenden Beiträgen des Querelles-Bandes von 2003 eine unnötige Immunisierung der Literaturtheoretikerin gegen Kritik gestiftet.14 Ich erörtere auch nicht die Revisionen, die Käte Hamburger für die 2. »stark veränderte« Auflage ihres Theoriewerks 1968 vollzogen hat.15 Verfolgt man ihre explizite und zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Kritikern in ihrem Zeitschriften-Beitrag »Noch einmal: Vom Erzählen« aus dem Jahr 1965,16 wird deutlich, dass die Literaturtheoretikerin stets die wichtigsten ihrer Positionen verteidigt und lediglich in Einzelaspekten Korrekturen vornimmt oder Festlegungen aufgibt. So sehe ich mich in meinem Vorgehen gerechtfertigt, nur mit Bezug auf die Publikation von 1957 zu prüfen,17 wie sich im Zeitraum von Anfang der

|| 10 Vgl. Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroverse um Käte Hamburgers »Die Logik der Dichtung«, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247. 11 Klaus Weimar: Kritische Bemerkungen zur Logik der Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), H.1, S. 10–25, hier: S. 12, 17 und 13. 12 Ebenda, S. 22. 13 Kai Luehrs: Ontologie der Dichtung. Käte Hamburgers Theorie der epischen Fiktion, in: Orbis Litterarum 53 (1998), S. 145–170. 14 Vgl. insbesondere Barbara Hahn: Erratischer Block oder von der Schwierigkeit, Käte Hamburgers Logik der Dichtung zu lesen, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 129–139; Hahn konzentriert sich auf die Frührezeption von Die Logik der Dichtung und die Probleme, die der Autorin als einer sich habilitierenden Frau entstehen. 15 Ihr folgen unverändert die 3. Auflage von 1977 und die 4. von 1994. 16 Käte Hamburger: Noch einmal: Vom Erzählen. Versuch einer Antwort und Klärung, in: Euphorion 59 (1965), S. 46–71, dort: S. 46: Käte Hamburger nennt ihre Kritiker und deren Einwände, die sich im Wesentlichen gegen Hamburgers Konzeptualisierung von Fiktion, die Einschätzung des Epischen Präteritums und die Einordnung der Ich-Erzählung richten. 17 Die Abhandlung wurde 1956 als Habilitationsschrift bei der Fakultät für Natur- und Geisteswissenschaften der Technischen Hochschule Stuttgart eingereicht, vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 9.

224 | Jörg Schönert 1950er Jahre bis zur Mitte der 1970er Jahre im philologischen Alltagsgeschäft der Vorträge und Beiträge Käte Hamburgers für wissenschaftliche Zeitschriften und Sammelwerke die theoretischen Konzepte und die literaturwissenschaftliche Praxis zueinander verhalten. Das Ergebnis meiner Erkundungen sei vorab formuliert: Käte Hamburgers literaturwissenschaftliche Praxis verdeutlicht, was in Die Logik der Dichtung auf den ersten Blick weniger offensichtlich erscheint: Ihre Innovationen sind nicht so weittragend und durchgreifend, wie sie – ungeachtet der kritischen Stimmen – in der zeitnahen Rezeption bis in die 1980er Jahre zumeist eingeschätzt wurden. Käte Hamburger folgt in ihren Textinterpretationen den (in den 1950er Jahren) geltenden philologischen Konventionen, ohne dieses Vorgehen reflektierend in Bezug zu ihren theoretischen Neuerungen zu setzen. So werden Leitbegriffe des linguistischen Strukturalismus wie ›Struktur‹, ›Funktion‹ und ›System‹ weithin unspezifisch gebraucht; sie signalisieren vor allem die Abkehr von der Terminologie einer »Wortkunstwerk«-Ästhetik (LdD5), der Käte Hamburger jedoch in stilistischen Details ihrer Abhandlungen durchaus folgt. Auch dieser Umstand trägt zur spannungsreichen Verbindung differenter Elemente in Die Logik der Dichtung bei und erklärt Irritationen beim Nachvollzug der Begriffsbildungen und Argumentationen. Als Beispiel für meine Behauptung verweise ich auf den fiktionstheoretisch fundierten Schlüsselbegriff der »Erzählfunktion«,18 die folgendermaßen gekennzeichnet wird: Das Erzählen, so kann man auch sagen, ist eine Funktion, durch die das Erzählte erzeugt wird, die Erzählfunktion, die der erzählende Dichter handhabt wie etwa der Maler Farbe und Pinsel. […]. Zwischen dem Erzählten und dem Erzählen besteht kein Relations- und das heißt Aussageverhältnis, sondern ein Funktionszusammenhang. Dies ist die logische Struktur der epischen Fiktion, die sie kategorial von der logischen Struktur der Wirklichkeitsaussage unterscheidet. (LdD74)

Begriffe wie »Funktionszusammenhang« und »logische Struktur« können den Anschein ›theoriegesättigter Bedeutung‹ erwecken, mir galten sie in diesem Diktum eher als Leerformeln.19 || 18 Dazu Claudia Löschner: Denksystem, S. 25–58: Käte Hamburger setze diesen Neologismus gegen das »personifizierende« Verständnis vom Erzähler (S. 27); der Zusatz »Funktion« sei als Terminus der mathematischen Funktionentheorie anzusehen. 19 Meine Einschätzung geht in dieselbe Richtung wie ein Einwand von Claudia Löschner zu den »mathemarischen Sprechweisen in Hamburgers Definition der Erzählfunktion« (Denksystem, S. 50): »es handele sich lediglich um nicht wirklich ernst zu nehmende, sondern bloß metaphorisierende Redeweisen ohne weiterführende Implikationen«.

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Der kaum explizierte Begriffsgebrauch im literaturtheoretischen und textanalytischen Vorgehen von Käte Hamburger wird besonders dann deutlich, wenn die Termini semantisch variiert werden: »System« und »Funktionszusammenhang« werden beispielsweise ersetzt durch »Gewebe«; »im Gewebe einer erzählten Fiktion« fließen »Gestaltungsfunktionen wie Dialog, Monolog, erlebte Rede« zusammen« (LdD104).20 In Anlehnung an Karl Bühler werden Sprachfunktionen für ein »Erlebnisfeld«21 ausgewiesen. Der ausgiebige Gebrauch von Begriffen wie »Struktur«,22 »Funktion« oder »System« mag für die philologische Praxis als Signal für die Notwendigkeit einer strengen Wissenschaftssprache in protostrukturalistischer Orientierung (mit Anspruch auf eine »begrifflich präzise« Redeweise)23 verstanden werden, doch vermittelt Käte Hamburger ihr »Denksystem« (im Sinne von Claudia Löschner) passagenweise in der bildgetränkten Anmutungssprache der Germanistik der 1950er Jahre.24 Dieser stilistische Befund setzt noch nicht Hamburgers Vorhaben außer Kraft, eine Theorie der Dichtung in der Denk- und Argumentationsschule der Logik zu erarbeiten. Verständnisprobleme im Nachvollzug der Begriffsbildungen und Argumentationen, auf die sich Die Logik der Dichtung gründet, resultieren – so Claudia Löschner – vor allem aus den »hochschwelligen« Vorannahmen aus unterschiedlichen Philosophie-Konzepten der Jahrzehnte vor 1940,25 die von Käte Hamburger »stillschweigend« in einer spannungsreichen Verbindung zusammengeführt werden. || 20 Vgl. auch »Erzählen und Erzähltes« schmelzen zusammen (LdD100); in der »ästhetischen Gestalt« einer fiktiven Erzählung sind unterschiedliche Vermittlungsformen (»Bericht- und Dialogpartie«) »zusammengeflossen, verschmolzen« (LdD106). 21 Dazu ausführlicher Claudia Löschner: Denksystem, S. 67–69. – Vgl. auch Kai Luehrs: Ontologie, S. 149: Luehrs kritisiert, dass Käte Hamburger für Die Logik der Dichtung nicht die ihr eigentlich verfügbare neuere angelsächsische Sprachtheorie rezipiert habe. 22 Vgl. etwa: Das erzählende Ich (der Protagonist der Ich-Erzählung) sei »ein struktureller Fremdling im epischen Raum« (LdD220). 23 Claudia Löschner: Denksystem, S. 7. 24 Auch in ihren textinterpretierenden Beiträgen (s. hier weiter unten) wählt Käte Hamburger häufig anschaulich-bildliche Bezeichnungen und Formulierungen, die im Widerspruch zu ihrer Szientifizierungsabsicht stehen. 25 Claudia Löschner weist bereits in der »Einleitung« ihrer wichtigen Studie zur Logik der Dichtung zusammenfassend darauf hin (Denksystem, S. 10–12), dass Käte Hamburger die konzeptionellen Voraussetzungen insbesondere aus Philosophie, Denkpsychologie, Gestaltpsychologie, Sprachtheorie, Allgemeiner Kunstwissenschaft und Ästhetik der 1910er bis 1930er Jahre gewonnen hatte, ohne jedoch diese »hochschwelligen« theoretischen Vorannahmen ihren Lesern zum expliziten Mitvollzug zu vermitteln; Löschner belegt diese These in eingehender und überzeugender Weise in den Folgekapiteln. Ihre Untersuchungsergebnisse schwächen den Käte Hamburger zugeschriebenen Status einer »Proto-/Praestrukturalistin«.

226 | Jörg Schönert Kai Luehrs bezeichnet 1998 Die Logik der Dichtung als Suche nach dem Wesen der Dichtung, als »eine verwissenschaftlichte Ontologie der Dichtung«,26 und Eberhard Lämmert hat in seinem Hamburger-Beitrag von 2010 nochmals herausgestellt, dass sich die Literaturtheoretikerin im methodologischen Begründungsdilemma zwischen Ontologie und Phänomenologie der Dichtung, zwischen Ästhetik und Sprachlogik (bzw. Sprachtheorie) bewegt.27 Und weiterhin: wenn sich Käte Hamburger in innovativer Weise zum Erklären von Status und Wirkung der Dichtung auf ›den Leser‹, auf Literaturrezeption bezieht, dann wird nicht auf empirische Erhebungen oder eine systematisch zu entwickelnde Rezeptionsästhetik rekurriert, sondern auf das aus der Textinterpretation gewonnene »Leseerlebnis« (LdD3, 110–112)28 – im Hinblick auf eine Psychologie des Lesens, die allerdings ein wissenschaftlich gesichertes Fundament entbehrt. In ihrer Analyse der Kontroversen um Die Logik der Dichtung konstatiert Julia Mansour 2007, dass eine solche (hermeneutisch gestützte) »Phänomenologie des Lesens« bei Käte Hamburger in unreflektierter Ambivalenz zu ihrem Anspruch auf »sprachstrukturelle« Analyse steht.29 Meine kritischen Einlassungen kann ich hier nur mit wenigen Verweisen auf die Darstellungsweise in Die Logik der Dichtung belegen. In dem Einleitungskapitel »Problem und Aufgabe einer Logik der Dichtung« (LdD1–5) deklariert die Autorin ihren Versuch, »das spezifisch logische System der Dichtung« zu erarbeiten (LdD1),30 als sprachlogisch bzw. sprachtheoretisch basierten Gegenentwurf zur bis dahin dominierenden ästhetischen Begründung.31 Doch soll für den praktisch-philologischen Umgang mit Dichtung keine strikte Opposition zwischen logischem und ästhetischem Vorgehen erwachsen. Auch der »Logiker der Dichtung« könne zur Interpretation von Dichtung beitragen, er kann dabei allerdings Grenzen erreichen, die nur der »Ästhetiker der Dichtung« zu überschreiten vermag. Und ebenso muss dem Ästhetiker der Dichtung in bestimmten Konstellationen mit dem Logiker der Dichtung aufgeholfen werden: es han|| 26 Vgl. Kai Luehrs: Ontologie, S. 147 (Herv. i. Orig.). 27 Eberhard Lämmert: Strukturale Typologien, S. 250–251: Lämmert weist zudem darauf hin, dass 1968 in der Überarbeitung von Die Logik der Dichtung der Bezugsbereich von ›Logik‹ zumeist durch ›Sprachtheorie‹ ersetzt wird. 28 Dazu Claudia Löschner: Denksystem, S. 155–164. 29 Julia Mansour, »Fehdehandschuh«, S. 239. 30 Dieses System gelte es »aus dem Gebiete der allgemeinen Dichtungsästhetik [...] herauszusondern« (S. 1). Mit »heraussondern« wird allerdings die (strukturalistisch) streng zu verstehende Opposition ›Ästhetik‹ vs. ›Logik‹ aufgebrochen. 31 Eberhard Lämmert: Käte Hamburger, S. 24: Käte Hamburger stützt ihre sprachlogisch entwickelte Konzeption primär auf die sprachliche Materialität der Dichtung, nicht auf ihre Kunstform, die von der Ästhetik erschlossen wird.

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dele sich um »verschiedene Möglichkeiten des interpretierenden Verhaltens« (LdD1). Wann welches Verfahren einzusetzen ist, soll – so Hamburger – im Fortgang ihrer Erörterungen deutlich werden. Ich gestehe, dass es mir weder in Die Logik der Dichtung noch in der textinterpretierenden und literaturgeschichtlichen Praxis Käte Hamburgers deutlich geworden ist.32 Wie auch immer: die sprachtheoretischen Analysen zu dem (von Käte Hamburger postulierten) kategorialen Sonderstatus der Dichtungssprache (im Gegensatz zur Aussageform der Alltagssprache) und die damit zusammenhängenden Begründungen zum Status von ›non-fiction‹ und ›fiction‹ sowie die neuartigen, jedoch kaum haltbaren gattungstheoretischen Festlegungen für Lyrik und Ich-Erzählung sind als Gegenentwürfe zu verstehen zu den von Ästhetik und Stilistik bestimmten dichtungstheorischen Konzepten in Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik (1946)33 und Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk (1948).34 Besonders deutlich wird die hybridisierende Überlagerung von traditionellen Konzeptionen von ›Dichtung‹ mit den Innovationsversuchen Hamburgers in der Kennzeichnung von Lyrik als nicht-mimetische ›existenzielle‹ Gattung, die auf »Erlebnis von Wirklichkeit« angelegt ist (LdD149), das lyrische Gedicht – so Hamburger – repräsentiere »das Erlebnisfeld des Aussagesubjekts« (LdD208); ›Erlebnislyrik‹ ist – so wissen wir – jedoch nur ein Segment im breiten Spektrum der lyrischen Repräsentationsformen von Literatur.35 Wo Käte Hamburger in Die Logik der Dichtung mit ihren zahlreichen Textbeispielen beispielsweise auf Figurenverhalten oder Handlungsabläufe eingeht, unterscheiden sich ihre Beschreibungen und Interpretationen zwar in der Begriffssprache und der Anwendung der von ihr entwickelten textanalytischen Kategorien, nicht aber im hermeneutischen Zuschnitt von Kaysers Umgang mit Textbeispielen in Das sprachliche Kunstwerk; das gilt ebenso für ihre auf litera-

|| 32 Claudia Löschner: Denksystem, S. 16–19, markiert dieses Rezeptionsproblem; es wird dadurch verursacht, dass Käte Hamburger mit ihrem dichtungslogischen Konzept den Geltungsanspruch des dichtungsästhetischen Programms einschränken, aber nicht außer Kraft setzen will. 33 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. 34 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948. – Besondere Beachtung im Hinblick auf die Ausarbeitung strukturalistischer Argumentationsverfahren verdient Hamburgers »Versuch zur Typologie des Dramas« von 1967, in: dies.: Kleine Schriften. Stuttgart 1976, S. 19–28 (im nachfolgenden unter der Sigle KS zitiert). 35 Allerdings räumt Käte Hamburger ein, dass in Gedichten der ›Erlebnisgehalt‹ weitgehend reduziert werden kann, damit ist jedoch die Priorisierung des Zugangs über das Erlebnisfeld nicht außer Kraft gesetzt; vgl. zu einer anderen Einschätzung dieses gattungstheoretischen Zugangs der Autorin Claudia Löschner: Denksystem, S. 150, Fn. 346.

228 | Jörg Schönert rische Texte und literaturgeschichtliche Entwicklungen bezogenen Arbeiten.36 Ich verzichte hier auf Nachweise, wer in Die Logik der Dichtung neben Emil Staiger, Wolfgang Kayser und Karl Bühler (mit seiner Sprachtheorie37) zu der Autorengruppe der Literatur- und Sprachwissenschaftler zählt,38 die wiederholt zu Abgrenzung oder Bestätigung in Hamburgers Argumentation zitiert werden. Einzugehen wäre dabei vor allem auf Hamburgers Auseinandersetzung (insbesondere LdD14–17) mit Roman Ingardens Das literarische Kunstwerk39 sowie Ingardens Replik von 1960 in der 2. und veränderten Auflage seiner Studie von 1931 (§ 25a).40 René Welleks und Austin Warrens The Theory of Literature (1949)41 wird nur beiläufig erwähnt (z. B. LdD183); die eingehende Rezeption der beiden Autoren in der Germanistik begann erst mit der deutschen Übersetzung von 1959.42 In Die Logik der Dichtung werden die Argumente zum Aufbau des Theoriegebäudes und zum Abweisen möglicher Einreden induktiv aus ausführlichen Textbeispielen nicht nur der deutschsprachigen Belletristik entwickelt.43 Eberhard Lämmert rühmt in seinem Beitrag »Käte Hamburger – Charakterzüge ihrer Wissenschaft« aus dem Jahr 2003 »die Schärfe ihrer analytischen Beobachtun-

|| 36 Vgl. zur Kennzeichnung von Hamburgers Praxis der Textinterpretation das hermeneutische Bekenntnis zum ›Entschlüsseln‹ von Verborgenem und Geheimem (LdD5). 37 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934. 38 Für die Bezüge auf das philosophische und gestaltpsychologische Schrifttum verweise ich auf die material- und erkenntnisreichen Einflussanalysen in Claudia Löschners Studie Denksystem. 39 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle 1931. Vgl. auch den Brief von Ingarden an Hamburger vom 9. August 1958 zu seiner Lektüre der ersten 50 Seiten der Logik der Dichtung – dazu Ulrike Weymann: Interdisziplinäre Grenzgänge bei Käte Hamburger. Zum Briefnachlass der Literaturwissenschaftlerin, in: LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38 (2008), H. 149, S. 148–163. 40 Ausführlich dazu der Beitrag »Als ob – comme si – quasi. Zur Kontroverse zwischen Käte Hamburger und Roman Ingarden« von Jørgen Sneis in diesem Band. 41 René Wellek und Austin Warren: Theory of Literature. New York 1949; (dt.: Theorie der Literatur. Bad Homburg 1959). 42 1973, in »Das Wort ›Dichtung‹« (in: dies.: Kleine Schriften, S. 3–17), bezieht sich Käte Hamburger sowohl auf Roman Ingarden als auch auf René Wellek und Austin Warren. 43 Vgl. Michael Scheffel: Käte Hamburgers Logik der Dichtung – ein ›Grundbuch‹ der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 140–155, hier: S. 140: Scheffel verweist auf das induktive Vorgehen von Käte Hamburger; aus der Betrachtung einzelner literarischer Werke entwickele sie die ›differentia specifica‹ von Dichtung.

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gen« und die »Strenge ihrer theoretischen Folgerungen«.44 Hamburgers terminologischer Umgang mit den von ihr eingeführten Theorie-Komponenten überzeugt jedoch weniger als ihre Argumentationshaltung, die sich stets offen für mögliche Einwände zeigt, diese aufgreift und zu entkräften versucht. Wenn literaturwissenschaftlich wenig geläufige Termini eingeführt werden, wirken sie oft metaphorisiert wie im Falle von ›Erlebnisfeld‹ (angelehnt an Bühlers ›Zeigfeld‹)45 oder von ›Aussageraum‹; textinterpretierende Literaturwissenschaftler können mit Einsichten in die logische Struktur von Dichtung »Schlüssel zu manchen verborgenen Türen« erhalten und die »Geheimnisse des dichterischen Schaffensprozesses« ergründen (LdD5). Allerdings nehmen sich solche kritischen Zitate angesichts des mutigen theoretisierenden Vorgehens von Käte Hamburger wie eine kleinliche Stilblütenlese aus. Mir sind sie wichtig als Indices für das die Autorin kennzeichnende Hybrid aus konventionellen Beschreibungs- und Darstellungsformen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft in den 1950er Jahren mit einer szientifischem Revision, der Möglichkeit einer »vollständigen ›Verwissenschaftlichung‹ der Dichtungswissenschaft«.46 Wenn ich für meine abschließenden Erkundungen Käte Hamburgers Arbeitsgebiet der Gegenstandstheorie verlasse und mich ihren Erschließungen literarischer Texte und Textkorpora zuwende, ist vorab festzuhalten, dass sie erzähltheoretische Kategorien und Begriffe erarbeitet, aber keine systematischumfassende Narratologie – wie es etwa Franz Stanzel versuchte, auf dessen Typische Erzählsituationen im Roman (1955)47 sie sich in den Fußnoten von Die Logik der Dichtung bezieht.48 Zudem ist der Musterung von Hamburgers unselbständigen Publikationen der Befund vorauszuschicken, dass sich aus ihrer Fiktionalitäts- und Gattungstheorie zwar begriffliche, aber keine distinkten methodologischen Folgen für ihre Textinterpretationen ergeben. In den entsprechenden Beiträgen, die in die erste Auflage der Kleinen Schriften von 1976 (zweite erweiterte Auflage: 1986) aufgenommen wurden,49 konnte ich nicht erkennen, || 44 Eberhard Lämmert: Käte Hamburger, S. 21. 45 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 67: Als Termini wurden ›Erlebnisfeld‹ und ›Wahrnehmungsfeld‹ in der zeitgenössischen Gestaltpsychologie geprägt. 46 So die Einschätzung der Intentionen Käte Hamburgers bei Claudia Löschner: Denksystem, S. 58. 47 Franz Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an »Tom Jones«, »Moby Dick«, »The Ambassadors«, »Ulysses« u. a. Wien und Stuttgart 1955. 48 Die Logik der Dichtung ist Literatur- und Fiktionalitätstheorie sowie Gattungspoetik, nur in Ansätzen jedoch Narratologie. Vgl. zu diesem Problemkomplex den Beitrag von Dirk Werle in diesem Band. 49 Nicht aufgenommen sind die folgenden Beiträge, die im Vorwort zu Die Logik der Dichtung (1957) als Vorstudien ausgewiesen werden: Zum Strukturproblem der epischen und dramati-

230 | Jörg Schönert dass Käte Hamburger kennzeichnet, wo die Grenze verläuft »zwischen der logischen und der ästhetischen Betrachtung der Dichtung« (LdD114) – eine Grenze, die zu beachten sie fordert (vgl. ebenda). Im Folgenden vernachlässige ich die frühen Studien »Beobachtungen über den urepischen [auch grundepischen] Stil« von 194850 (darin wird Homers Epik gattungspoetologisch noch in Nähe zu Staigers Grundbegriffen erörtert) und »Zur Erzählerhaltung im Nibelungenlied« von 1952.51 Meine Bezugstexte sind »Der Epiker Thomas Mann« (KS231–238), erstmals 1958 veröffentlicht in Orbis Litterarum, sowie »Don Quijote und die Struktur des epischen Humors« (KS75– 94), 1959 in der Festgabe für Eduard Berend erschienen; nachgeordnet ist »My uncle Toby« (KS95–109), der Aufsatz wurde verfasst für Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin von 1976.52 Zu Thomas Manns literarischem Gesamtwerk im Zeichen eines »symbolischen Realismus« (KS237) heißt es zusammenfassend (KS238): es konnte »nur erzählend aufgebaut werden […], weil in mimetischer Dichtung nur die Funktion des Erzählens es ist, die die Weite, Breite und Tiefe der Substanz bereiten kann, in der die ›Bezüge‹ hin[-] und hergehen zwischen dem Sein und dem Sinn, aus der die realen Symbolgestalten sich herausmeißeln lassen« (KS238). Einen ›Bildhauer‹ (»Plastiker« [KS233]) der Figurengestaltung, der für seine Erzählkunst einen »ziselierenden Sprachmeißel« führt (KS235), nennt Käte Hamburger den Prosaisten Thomas Mann. Kennzeichnend für Hamburgers literaturwissenschaftliche Praxis sind hier Schlüsselbegriffe aus Die Logik der Dichtung – wie ›mimetisch‹, ›Fiktion‹ und ›Erzählfunktion‹; sie sind eingebunden in eine zeittypische Wissenschaftsprosa, die als ›tiefsinnig‹ und ›schön‹ zugleich aufgezäumt wird und mehr dem ›Raunen‹ als einer logisch kontrollierten Argumentation zuarbeitet. Wie bereits eingeräumt: eine solche Blütenlese wirkt leichtfertig. Doch erscheint es mir als bedenklich, wenn ein Begriff wie ›Erzählfunktion‹, der bereits in Käte Hamburgers theoretischem Konzept der Logik der Dich|| schen Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), H. 1, S. 1–26; Das epische Präteritum, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), H. 3, S. 329–357; Die Zeitlosigkeit der Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), H. 2, S. 413–426 – als Auseinandersetzung mit Herbert Seidlers »Zum Stilwert des deutschen Präteritums« (in: Wirkendes Wort 3 [1952/53], S. 271–279) als Kritik an Käte Hamburgers oben genanntem Beitrag von 1951. 50 KS29–57; zuerst in: Trivium 61 (1948), S. 89–122. 51 KS59–73; die ca. 1952 entstandene Studie ist offenbar in den Kleinen Schriften erstmals erschienen. 52 Herkommen und Erneuerung: Essays für Oskar Seidlin, hg. v. Gerald Gillespie und Edgar Lohner. Tübingen 1976, S-78–92.

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tung nicht von notwendigen Erläuterungen begleitet ist, hier in »Weite, Breite und Tiefe« völlig untergeht. Der zweite kurz zu musternde Beitrag ist Eduard Berend, dem Editor Jean Pauls gewidmet. Komik, Satire und Humor in Jean Pauls Erzählwerk (und darüber hinaus im humoristischen Roman) stellen mit zahlreichen Textzitaten einen wichtigen Bezugsbereich für differenzierende Argumentation in Die Logik der Dichtung dar. Don Quijote gilt Käte Hamburger als ein Gegentypus zu »Jean Pauls humoristischer Subjektivität«. Die für das Erzählen von Cervantes charakteristische »Humorstruktur« (KS93) will Hamburger gestützt auf ihre fiktionstheoretischen Vorgaben herausarbeiten und das in diesem Roman »gewaltige Erzählgewebe« (KS89) von Fiktion und Wirklichkeit zerlegen. Die Humorstruktur sei vom Autor als eine spezifisch epische Struktur durch »das verhüllende Sagen« seines »Vexierspiels« (KS93) sichtbar gemacht worden. In solchen Argumenten erscheint ›Struktur› als ein Allerweltsbegriff; in Korrespondenz zu ›Gewebe‹ könnte er auch durch ›Machart‹ ersetzt werden. Ich belasse es bei diesem ersten und allgemeinen Befund und verweise auf den Beitrag von Sabine Eickenrodt in diesem Band. Knapp 20 Jahre nach dem Erscheinen von Die Logik der Dichtung konzentriert sich Käte Hamburger in ihrem Aufsatz »My uncle Toby« zu Sternes Tristram Shandy mit einer »Analyse der Erzählstruktur« auf den »Erzählwitz dieser Ich-Erzählung«, die sie als einen »Memoirenroman« bezeichnet (KS95). In ihrem Beitrag zeigen sich Veränderungen:53 die Begriffe, die Brücken zu den theoretischen Ausarbeitungen in Die Logik der Dichtung herstellen können, sind befreit von bildlichen Doppelungen und Verbindungen mit Wissenschaftsprosa im Stile der 1950er Jahre; die Textbeschreibungen und daraus abgeleitete Argumentationen sind sprachwissenschaftlich begründet. Allerdings werden die aus den beschriebenen Sprachverwendungen hergeleiteten Wirkungen auf die Leser des Romans mitunter mit wenig präzisen Formulierungen zu verdeutlichen gesucht. So heißt es beispielsweise für Buch VII–IX des Tristram Shandy: Es verliere sich »nunmehr der humoristische Effekt; und in einem gewissen, vielleicht mehr gespürten als begründbaren Zusammenhang damit erscheint die das nicht anwesende Memoiren-Ich ersetzende Funktion des Possessivpronomens [my] weniger markant, der Ausdruck ›my uncle Toby‹ um eine Schattierung stereotyper« (KS108). || 53 Vgl. für diese Periode im wissenschaftlichen Werk von Käte Hamburger die Beiträge von Claudia Löschner und Alexander Bareis in diesem Band. – Auch ich sehe in dem fiktionstheoretischen und kunsttheoretischen Engagement von Käte Hamburger in den späten 1960er sowie in den 1970er Jahren mehr Konsistenz als in der spannungsreichen, Ambivalentes integrierenden Logik der Dichtung.

232 | Jörg Schönert Die Kritik an Formulierungen dieser Art betrifft allerdings nicht mehr das Problem, das ich für die Jahre um 1960 zu skizzieren versucht habe: dass Käte Hamburgers theoretisierende Unternehmungen zu einer Szientifizierung der Literaturwissenschaft in einem zeittypischen fachwissenschaftlichen Kontext vollzogen wurden, dessen Dominanz sich Hamburgers Entwürfe und die damit verbundene literaturwissenschaftliche Praxis nicht entzogen haben; diese einflussstarken kontextuellen Bedingungen gelten für die Ausarbeitungen der avancierten literaturtheoretischen Programmatik und – noch mehr – für die eher konventionelle Praxis der Textinterpretation bis zur Mitte der 1960er Jahre. Danach hatte dieser Kontext seine Wirkungsmacht eingebüßt und war zum Objekt der Fachgeschichte geworden. In welchen anderen Kontexten sich Käte Hamburger seit dem Ausgang der 1960er Jahre definieren und behaupten wollte, kann den darauf bezogenen Beiträgen dieses Bandes entnommen werden.

Peggy Bockwinkel

Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung und die Rezeption der Deixis Abstract: Käte Hamburger’s Die Logik der Dichtung (The Logic of Literature) deals with temporal deixis, one chapter referring exclusively to local deixis. The number of scholars adopting Hamburger’s concept of deixis, however, has remained small as neither literary scholars nor linguists have displayed much interest. Even within the research of indexicals and deixis itself, the Logik der Dichtung is referred to only concerning the tense problem. The article reconstructs the history of this particular case of adoption and analyzes the deficiencies in different processes of adoption, distinguishing between inexact, selective, and complete adoption. This leads to an identification of the correlation of the communication between linguistics and literary studies as well as to assumptions on adoption processes across disciplines in general.

Die Logik der Dichtung kann als Sprach- und Fiktionstheorie gelesen werden, ebenso als Tempus- und Deixistheorie. Die möglichen Lesarten machen das Werk für verschiedene Bereiche der Geisteswissenschaften interessant: für die Philosophie wie für die Sprach- und Literaturwissenschaft.1 Es fällt auf, dass das Phänomen der Deixis von allen diesen Wissenschaften untersucht wurde, Käte Hamburgers Überlegungen dabei aber in der Regel keine Beachtung finden, obgleich sie sich in der Logik der Dichtung intensiv mit der Deixis auseinandersetzt: Den »Raumdeiktika« ist ein eigenes Kapitel gewidmet, und sie rezipiert ausführlich den ›Vater der Deixis‹ Karl Bühler.2 Umso erstaunlicher ist es, dass selbst in der Deixisforschung ausschließlich Hamburgers Tempustheorie im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Eine umfassende Deixisrezeption, bei der sich der Rezipient tatsächlich auf den Text einlässt und ein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn damit einhergeht, stellt die Ausnahme dar.

|| 1 Die verschiedenen Lesarten einer wissenschaftlichen Theorie bezeichnet Jürgen Mittelstraß als »Perspektivität des Wissens«, in: Transdisziplinarität. Wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanz 2003, hier: S. 21 2 Im Folgenden wird aus der zweiten Ausgabe zitiert: Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite, stark veränderte Auflage. Stuttgart 1968. Das »Raumdeiktika«-Kapitel ist identisch mit der ersten Auflage. Auch die anderen deixislastigen Passagen sind weitestgehend unverändert geblieben.

234 | Peggy Bockwinkel Diese Auffälligkeiten sind erklärungsbedürftig. Im Folgenden gehe ich im Rahmen einer Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte von Hamburgers Deixisbegriff einigen Erklärungshypothesen nach. Sie lassen Rückschlüsse auf das Werk selbst zu, bieten aber auch die Gelegenheit, Besonderheiten der bidisziplinären Kommunikation zwischen Literaturwissenschaft auf der einen, Sprachwissenschaft auf der anderen Seite herauszuarbeiten.3 Ziel des Aufsatzes ist es, die Auffälligkeiten der Rezeption aufzuzeigen und in Beziehung zueinander zu setzen, um auf diese Weise auf der Grundlage der Fallstudie zur Logik der Dichtung erste Vermutungen über disziplinübergreifende Rezeptionsprozesse im Allgemeinen zu formulieren.4 Die erste und größte Hürde in der Rezeption von Hamburgers Deixisbegriff besteht darin, die Logik der Dichtung überhaupt als potentielle Bereicherung für die Deixisforschung wahrzunehmen und hinsichtlich des Deixisbegriffs zu verstehen. Wird rezipiert, dann handelt es sich häufig um ungenaue oder in Teilen fehlerhafte Rezeptionen. Schließlich finden sich oftmals Formen einer zwar genauen, aber nur selektiven Rezeption, d. h. es wird auf eine bestimmte Fragestellung hin rezipiert. Einzelne Punkte in Hamburgers Argumentation werden

|| 3 Von der Deixistheorie her gesehen wird die philologisch-sprachwissenschaftliche und die sprachpsychologische Tradition beispielhaft abgedeckt und der sprachphilosophische Bereich ausgeklammert. Stellvertretend für die sprachphilosophische Rezeption der Logik der Dichtung sei Paul Ricœur genannt, der sich intensiv mit Hamburgers Tempusbegriff auseinander gesetzt hat in: Paul Riœur: Zeit und literarische Erzählung. Band 2. München 1989. 4 Wie kann eine solche Verallgemeinerung aussehen, was sollte sie berücksichtigen? 1. Der allgemeinste Zugang ist über die Wissenschaftstheorie in Verbindung mit Einzelstudien zu (interdisziplinärer) Wissenschaftsgeschichte möglich. Ansätze dazu finden sich z. B. im Tagungsband zum Symposium »Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung«: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hg. v. Jörg Schönert. Stuttgart 2000. 2. Zur gegenseitigen Wahrnehmung von Linguistik und Literaturwissenschaft vgl. den Sammelband von Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, hg. v. Ulrike Haß und Christoph König. Göttingen 2003. 3. Wie vielschichtig Rezeptionsprozesse ablaufen können – zwar transnational, jedoch innerhalb einer Disziplin – und wie komplex deren Untersuchung sein kann, zeigt z. B. Klaas-Hinrich Ehlers anhand der Rezeption des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft. Ehlers setzt sich dafür ein, dass ein umfangreicher wissenschaftstheoretischer Rezeptionsprozess nicht nur die wissenschaftshistorische Rezeption, sondern auch politische und institutionelle Prozesse berücksichtigt. Vgl. Klaas-Hinrich Ehlers: Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft. Die Rezeption der Prager Schule zwischen 1926 und 1945. Berlin 2005. Zum Konzept von »Fallstudien«, was sie leisten können und was nicht, vgl. Ralf Klausnitzer: Fallstudien als Instrument der interdisziplinären Wissenschaftsforschung. Am Beispiel der disziplinübergreifenden Rezeption des ›Gestalt‹-Konzepts in den 1930er/1940er Jahren, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hg. v. Jörg Schönert. Stuttgart 2000, S. 209–256.

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gezielt herausgegriffen, um den Standpunkt der eigenen Arbeit zu stützen. Auffällig ist daran, dass selbst Experten auf dem Gebiet der Deixis in Erzähltexten Hamburgers Auseinandersetzung mit der Deixis zum Beispiel im »Raumdeiktika«-Kapitel vollständig auslassen und sich stattdessen ausschließlich auf Hamburgers Tempustheorie beziehen. Genaue und vollständige Rezeptionszeugnisse liegen kaum vor. Wie aber stellt man sich die Rezeption von wissenschaftlichen Texten im Idealfall vor? Allgemein formuliert, regt der Text den Rezipienten dazu an, intensiver in die vorgeschlagene Richtung zu denken und weitere Argumente zur Unterstützung der Textaussage zu finden. Oder der Rezipient wendet sich, ebenfalls angeregt durch den Text, von seinen Aussagen ab und entwickelt Überlegungen in eine andere, womöglich auch in eine entgegengesetzte Richtung. In beiden Fällen erweist sich der rezipierte Text als wissenschaftlich fruchtbar. Idealiter kommt es so über Korrekturen, Ergänzungen, Erweiterungen etc. zu einem kumulativen Erkenntnisfortschritt.

1 Nicht-Rezeption Für die mangelnde Rezeption von Hamburgers Deixisbegriff lassen sich prima facie zwei Gründe ausmachen: Erstens wurde und wird Käte Hamburgers Logik der Dichtung hinsichtlich der Deixistheorie nicht wahrgenommen. Der Text ist folglich entweder nicht bekannt oder aber bekannt und nicht erwähnt oder bewusst verschwiegen.5 Der Rezeptionsprozess scheitert somit bereits in der Prä-Rezeptionsphase. Zweitens spielen textimmanente Gründe der Logik der Dichtung eine Rolle: Der Text behindert durch seine schwere Verständlichkeit die Rezeption;6 er ist zwar dem Titel nach bekannt, wird aber dennoch nicht rezipiert. Wie lassen sich die Schwierigkeiten erklären, Hamburgers Überlegungen zur Deixis zu verstehen? Zum einen kann der Deixisbegriff Hamburgers nicht isoliert betrachtet werden; er ist nur im Gesamtzusammenhang der Logik der Dichtung zu verstehen und ausschließlich in diesem Hamburger’schen Uni|| 5 Zur Nicht-Rezeption als Teil des Rezeptionsprozesses vgl. die Ausführungen von Hans-Dieter Dräxler: Johann Gottlieb Cunradi und die Rezeption der Ideologen in Deutschland, in: Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der »idéologie«, hg. v. Brigitte Schlieben-Lange. Münster 1992, S. 203–222, hier: S. 203–204. 6 Claudia Löschner weist auf »Verständnisschwellen« bzw. »Rezeptionsschwellen« in der Logik der Dichtung hin: Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, hier: S. 11–12 und S. 20–21.

236 | Peggy Bockwinkel versum stimmig. Zum anderen gibt es ein Definitionsproblem: Hamburgers Definition von Deixis ist sehr weit gefasst und entspricht nicht dem gängigen linguistischen Verständnis. Die von Hamburger als Raumdeiktika bezeichneten Ausdrücke sind keine Deiktika im engeren Sinn.7 Hamburgers Argumentation ist hinfällig, wenn sie die eigentlichen deiktischen Ausdrücke aus ihrer Argumentation ausschließt und stattdessen durch Ausdrücke ersetzt, die nicht als deiktische Ausdrücke angesehen werden.8 Damit ist das Beispiel, mit dem Hamburger Bühlers Argumentation ad absurdum führen und ihre eigene Argumentation untermauern möchte, nicht überzeugend. Erschwerend kommen gerade im »Raumdeiktika«-Kapitel wieder »Verständnisschwellen« hinzu: Raumdeiktika seien aufgrund ihrer einfachen Struktur nicht in der Lage, die Fiktionsstruktur im grammatisch-logischen Sinn aufzuzeigen. Es gäbe keine grammatischen Unterschiede zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Ihre Argumentation ist wenig eingänglich, wenn sie schließlich den »logischen Charakter ihrer NichtWirklichkeit« anhand von Raumdeiktika aufzuzeigen versucht.9 Für den ersten Grund der Nicht-Rezeption – die mangelnde Wahrnehmung des Deixisbegriffs in der Logik der Dichtung – gibt es sehr vielfältige Erklärungen. Erstens ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich, auf die Logik der Dichtung im Zusammenhang mit dem Schlagwort »Deixis« bei einer Literaturrecherche aufmerksam zu werden. Weder in fachspezifischen Datenbanken wie der MLA für die Linguistik oder der BDSL für die Germanistik, noch über die fachübergreifende Suchmaschine »base-net« ist der Titel mit diesem Schlagwort »Deixis« verbunden.10 Der Titel selbst lässt ebenfalls keine Rückschlüsse auf einen Deixis-Bezug zu. Zweitens war in den 1950er Jahren nicht erwartbar, dass sich ausgerechnet eine Literaturwissenschaftlerin mit dem Thema Deixis auseinander setzt:11 In der Linguistik erhält die Deixis erst in den 1960er Jahren Aufmerksamkeit, als sich die Pragmatik als eigenständiger Bereich etabliert. In der Literaturwissen-

|| 7 Zur Definition von Deixis und den damit verbundenen Schwierigkeiten in der Deixisforschung vgl. Konrad Ehlich: Deixis (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache), in: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln, Bd. 2. Berlin 2006, S. 169–171, hier: S. 170. 8 Hamburger schließt den prototypischen deiktischen Ausdruck hier als »abgenützt« aus. Sie ersetzt ihn u. a. durch links und rechts, also durch Ausdrücke, die aus linguistischer Sicht als intrinsisch und nicht als deiktisch zu bezeichnen sind. Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, S. 108. 9 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. ²1968, S. 105–106. 10 Auch das Thema »Tempus« gewinnt erst später an Aufmerksamkeit. 11 Dass die 2. Auflage von Bühlers Sprachtheorie 1965 erscheint, ist folglich mit einem verstärkten Interesse der Pragmatik an den bühlerschen Themen wie z. B. der Deixis zu erklären.

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schaft ist Deixis ein Randthema, das zwar immer wieder erwähnt und angeregt, jedoch selten umfangreich untersucht wurde.12 Drittens wird der Name »Käte Hamburger« und die Logik der Dichtung nicht mit einer Auseinandersetzung der Deixis, sondern mit einer Tempustheorie und deren Aussagen zum epischen Präteritum assoziiert – der Deixisbegriff wird damit marginalisiert. Das lässt sich im Allgemeinen sowohl für die Literatur- als auch für die Sprachwissenschaft zeigen13 und im Speziellen für die Deixisforschung selbst. In der Linguistik wurde bereits in den 1960er Jahren die Aufmerksamkeit z. B. durch Harald Weinrich oder Rolf Thieroff auf Hamburgers Tempustheorie gerichtet.14 Das Augenmerk auf das epische Präteritum wurde von der Deixisforschung beibehalten.15 Als Folge hat sich – wenn überhaupt – auch dort der Name »Käte Hamburger« stellvertretend für ihre Tempustheorie eingeprägt. Als beispielhaft für diese Wahrnehmung kann ein Übersichtsartikel zur Textdeixis herangezogen werden: Nicht Hamburgers Deixiskonzept wird dort erwähnt, sondern Gisa Rauhs Auseinandersetzung mit Hamburgers Tem|| 12 Franz Stanzel regte z. B. die Untersuchung der Deixis an in: Theorie des Erzählens. Göttingen 82008, S. 97, S. 127 und S. 239. In der Literaturwissenschaft erwähnt wird die Deixis am häufigsten im Zusammenhang mit der erlebten Rede. Die wenigen ausführlichen Arbeiten zur Deixis in Erzähltexten sind schnell aufgezählt: Dietrich Krusche: Zeigen im Text. Würzburg 2001; Simone Schiedermair: ›Lyrisches Ich‹ und sprachliches ›ich‹. München 2004; Ursula Renate Riedner: Sprachliche Felder und literarische Wirkung: exemplarische Analysen an Brigitte Kronauers Roman Rita Münster. München 1996; für die englischsprachige Literatur: Monika Fludernik: The fictions of language and the languages of fiction: the linguistic representation of speech and consciousness. London 1993. Stellvertretend für die Mediävistik sei der folgende Sammelband genannt: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Imagination und Deixis - Stimulation und Lenkung von Wahrnehmung in mittelalterlichen Texten und Bildern. Berlin, 29.09.–01.10.2005. hg. v. Kathryn Starkey und Horst Wenzel. Stuttgart 2007. Es sei außerdem auf einen interdisziplinär angelegten Sammelband zur »deictic shift theory« hingewiesen, der größere Beachtung erfahren hat: Deixis in narrative. A cognitive science perspective, hg. v. Judith F. Duchan, Gail A. Bruder und Lynne E. Hewitt. Hillsdale 1995. 13 Einen Überblick über die Rezeption in der Literaturwissenschaft gibt Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroverse um Käte Hamburgers »Die Logik der Dichtung«, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247. 14 Vgl. Harald Weinrich: Tempus: Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964; Rolf Thieroff: Das finite Verb im Deutschen: Tempus – Modus – Distanz. Tübingen 1992. 15 Z. B. von den Linguistinnen Gisa Rauh und Ann Banfield: Deixis und Deixis in Erzähltexten war lange einer der Forschungsschwerpunkte Gisa Rauhs (Literaturhinweise dazu in Anmerkung 6); Ann Banfield ist vor allem für ihre Auseinandersetzung mit modernen Erzähltexten in Unspeakable Sentences bekannt (Ann Banfield: Unspeakable Sentences. Boston 1982). Weiter unten werden ihre Hamburger-Rezeptionen näher beleuchtet.

238 | Peggy Bockwinkel poraldeixis.16 Rauh widmet sich in ihrer Untersuchung ausschließlich dem epischen Präteritum; Hamburgers Ausführungen zur Raumdeixis, die ihre Deixistheorie vervollständigen, werden vollständig ausgeschlossen. Abschließend betrachtet mag die Logik der Dichtung zwar als Titel geläufig sein, allerdings hat dieser Bekannheitsgrad nicht dazu geführt, dass Hamburger häufiger gelesen und rezipiert wird. Hamburgers Deixiskonzept der Logik der Dichtung ist – bis auf wenige Ausnahmen – als blinder Fleck in der sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschung anzusehen. Die vierte und letzte Erklärung für die geringe Wahrnehmung und damit der Nicht-Rezeption des Deixisbegriffs Hamburgers liegt in disziplinären Eigenheiten begründet. Es ist zu bedenken, dass der ›Graben‹ zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr tief gewesen ist.17 Noch 2009 schlussfolgerte Hans-Martin Gauger in der Besprechung einer gemeinsamen Tagung von Freiburger Sprach- und Literaturwissenschaftlern: »man arbeitet Rücken an Rücken«.18 Die Offenheit, sich auf das Terrain des anderen Fachs zu wagen, scheint eher die Ausnahme als die Regel. Verschiedene Rechercheinstrumente, verschiedene Fachzeitschriften sowie verschiedene Fragestellungen und Methoden haben diese Trennung zusätzlich begünstigt und die wechselseitige Wahrnehmung behindert, sodass die bidisziplinären Aspekte in Hamburgers Werk nicht in gemeinsamer Anstrengung erschlossen wurden. Die Einbettung Hamburgers in den wissenschaftshistorischen Kontext der Deixisforschung beider Disziplinen ermöglicht ein Verständnis für einzelne Entwicklungen und für die Bildung von bidisziplinären Netzwerken. Es lassen sich daraus Rückschlüsse für die mangelnde Wahrnehmung Hamburgers und des Hamburger’schen Deixisbegriffs ziehen: Mit der Etablierung der Pragmatik als eigenständiger Disziplin innerhalb der Linguistik ab den 1970er Jahren lässt sich ein Anstieg an Veröffentlichungen zur Deixis verzeichnen, dann wieder vermehrt in den 1990er Jahren.19 Zu den bekanntesten Vertretern der Forschung an deutschsprachigen Erzähltexten gehören Gisa Rauh und Konrad Ehlich. Rauh hat Ende der 1970er und in den 1980er Jahren Hamburgers Kernaussagen zum epischen Präteritum in mehreren Veröfffentlichungen auf|| 16 Vgl. Angelika Redder: Textdeixis, in: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch, hg. v. Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager. Berlin 2000, S. 283–294, hier: S. 290. 17 Vgl. dazu z. B. Bernd Spillner: Linguistik und Literaturwissenschaft: Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik. Stuttgart 1974. 18 Vgl. Hans-Martin Gauger: Sprache und schöne Sprache, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.07.2009), Nr. 167, S. N4. 19 Über die MLA lässt sich der Höhepunkt in den 1990er Jahren quantifizieren.

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gegriffen. Ehlichs Veröffentlichungen zur Deixis fallen in den gleichen Zeitraum. Umso auffallender ist die mangelnde Rezeption Hamburgers im Werk von Konrad Ehlich. Seine Theorie der Deixis als sprachlicher Prozess innerhalb einer handlungsorientierten Pragmatik in Erweiterung von Karl Bühlers Feldertheorie ist neben den semiotischen Ansätzen mit zu den wichtigsten Ansätzen in der Deixisforschung zu zählen.20 In den Aufsätzen, in denen er sich mit Erzähltexten oder Lyrik auseinandersetzt, fordert er immer wieder eine engere Zusammenarbeit von Linguistik und Literaturwissenschaft.21 Hamburger erwähnt er genau ein Mal,22 rezipiert sie jedoch nicht. Für einen Akteur mit den genannten bidisziplinären Forderungen ist das ein überraschendes Ergebnis. Es bleibt die Frage, ob bei den Vertretern anderer Ansätze ein vergleichbares Ergebnis zu finden ist. Roland Harweg – Vertreter des semiotischen Ansatzes – interessiert sich stark für den Grenzbereich zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft.23 Aber auch er setzt sich nicht mit Hamburgerauseinander.24 Die Liste ließe sich – unabhängig von den unterschiedlichen Schulen – fortführen: Die Anzahl der Deixistheoretiker, die Hamburgers Ausführungen zur Deixis nicht rezipieren, ist deutlich länger als derer, die sie rezipieren. Erwähnt wird allenfalls Hamburgers Tempustheorie; mehrheitlich geht die Erwähnung nicht über einen Satz hinaus. Bewegt man sich außerhalb des deutschsprachigen Raums, zeigt sich ein ähnliches Bild. Es gibt auch hier wenige Linguisten, die sich explizit mit dem Phänomen der Deixis in Erzähltexten beschäftigen. Passiert es dennoch, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie sich mit Hamburger auseinandersetzen.25 Ann Banfield und Monika Fludernik gehören zu den wenigen Ausnahmen.26 || 20 Vgl. Angelika Redder: Textdeixis, S. 283. 21 Vgl. Konrad Ehlich: Deixis und Dichtung. Linguistische Überlegungen, in: Gesprochen – geschrieben – gedichtet. Variation und Transformation von Sprache, hg. v. Monika Dannerer, Peter Mauser, Hannes Scheutz, Andreas Weiss und Anne Betten. Berlin 2009, S. 67–79, hier: S. 67, und Konrad Ehlich: Sehen und Zeigen. Zu einigen sprachlichen Verfahren bei Goethe und Eichendorff, in: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Berlin 2007, Bd. 2, S. 323– 368, hier: S324. 22 Vgl. Konrad Ehlich: Deixis und Dichtung, S. 67–79, hier: S. 67. 23 Vgl. dazu z. B. Roland Harweg: Fiktion und doppelte Wirklichkeit. Studien zur Doppelexistenz von Roman- und Novellenorten am Beispiel des Frühwerks, insbesondere der Buddenbrooks, von Thomas Mann. Berlin 2012. 24 Harwegs Schüler Georg Sitta gehört zu den wenigen Ausnahmen. Er beschäftigt sich allerdings verstärkt mit Hamburgers Logik der Dichtung, vgl. Georg Sitta: Deixis am Phantasma. Versuch einer Neubestimmung. Bochum 1991. 25 Dieser Umstand ist außerdem der mangelnden Bekanntheit der Logik der Dichtung im anglophonen Raum zu schulden, vgl. dazu auch Dorrit Cohn: The distinction of fiction. Bal-

240 | Peggy Bockwinkel Man könnte vermuten, dass Hamburger und ihr Deixisbegriff in der Literaturwissenschaft eher Gehör gefunden haben, denn in der Literaturwissenschaft gilt die Logik der Dichtung als Standardwerk. Die Wahrnehmung der Deixisproblematik müsste folglich größer sein. Tatsächlich aber ist es auch in der Literaturwissenschaft die Ausnahme, dass Hamburger hinsichtlich ihres Deixisbegriffs wahrgenommen wird: Die Anzahl der literaturwissenschaftlichen Publikationen zur Deixis waren und sind nicht sonderlich hoch. Deixis ist ein Randthema, auf das zwar Stanzel bereits 1979 aufmerksam gemacht hat,27 rein literaturwissenschaftliche Reaktionen in Form von Veröffentlichungen sind jedoch ausgeblieben. Erst in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts nehmen die Veröffentlichungen zur Deixis zu.28 Während in der Linguistik die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Deixis einen reinen Selbstzweck darstellt, steht sie in der Literaturwissenschaft in einem interpretativen, narratologischen oder literaturtheoretischen Zusammenhang. Für Hamburger stützen Beobachtungen zur Deixis ihren Vorschlag der Dichotomisierung von »Dichtung« und »allgemeinem Sprachsystem«. Unter anderem durch ihre Ausführungen zum epischen Präteritum wird die Deixis am häufigsten im Zusammenhang mit Untersuchungen zur erlebten Rede hinzugezogen.29 Geht man auch hier über den deutschsprachigen Raum hinaus, stößt man wieder auf Dorrit Cohn, die sich Hamburgers Fiktionstheorie anschloss,30 Hamburgers Vorschläge zur Deixis

|| timore 1999, S. 23. Für Cohn ist Hamburgers strikte Trennung von Er- und Ich-Form der Grund, warum Hamburger im anglophonen Raum nicht rezipiert wurde. 26 Vgl. Anmerkung 15 zu Banfield und Anmerkung 12 zu Fludernik. 27 Vgl. Anmerkung 12. 28 Dietrich Krusche: Zeigen im Text. 2001; Simone Schiedermair: ›Lyrisches Ich‹ und sprachliches ›ich‹. München 2004; Visualisierungen. Textualität, Deixis, Lektüre, hg. v. Renate Brosch. Trier 2007; Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, hg. v. Heike Gfrereis und Marcel Lepper. Göttingen 2007; Imagination und Deixis, hg. v. Kathryn Starkey und Horst Wenzel. Stuttgart 2007; Deixis und Evidenz, hg. v. Horst Wenzel. Freiburg i. Br. 2008. 29 Z. B. bei Lucia Salvato: Polyphones Erzählen. Zum Phänomen der erlebten Rede in deutschen Romanen der Jahrhundertwende. Bern 2005; Anna Socka: Sprachliche Merkmale der erlebten Rede im Deutschen und Polnischen: Tübingen 2004; Günter Steinberg: Erlebte Rede. Ihre Eigenart und ihre Formen in neuerer deutscher, französischer und englischer Erzählliteratur. Göppingen 1971. 30 Vgl. Dorrit Cohn: The distinction of fiction. Baltimore 1999, S. viii. In vielen ihrer Arbeiten verweist Cohn auf Hamburger, so z. B. in Erlebte Rede im Ich-Roman (1969), Signposts of fictionality (1990), aber auch in ihren Monographien The distinction of fiction (1999) und Transparent minds (1978). 1970 schrieb sie eine Rezension zur 2., stark veränderten Auflage der Logik der Dichtung. Cohns Auseinandersetzung mit Hamburger wird ausführlich von Fludernik besprochen, vgl. Monika Fludernik: The fictions of language. London 1993. Zur Rezeption von Ham-

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jedoch nicht aufgegriffen hat. Wie Cohn versucht auch Günter Steinberg zu zeigen, dass – anders als Hamburger behauptet – die erlebte Rede in der IchErzählung möglich ist und vorkommt. Ausführlichere Gedanken zur Deixis sind jedoch auch hier nicht zu finden.31 Sehr selten steht die Deixis allein im Mittelpunkt einer umfangreichen Arbeit. Das Interesse der Literaturwissenschaft an Hamburgers Überlegungen zur Deixis ist demzufolge ebenso gering wie in der Linguistik. Das fällt vor allem hinsichtlich ihres »Raumdeiktika«-Kapitels auf.32 Auch hier ist die Liste der Nicht-Rezeptionen deutlich länger als die Liste derer, die sich letztlich – positiv oder negativ – von Hamburgers Deixiskonzept haben anregen lassen. Erstaunlich ist das bei Simone Schiedermair, die ihre Dissertation zur literarischen Funktion der Deixis in der Lyrik verfasst hat. Sie erwähnt Hamburger zwar – jedoch ausschließlich im Hinblick auf deren Haltung zum lyrischen Ich.33 Dieser Umstand ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass das Wortfeld »Deixis« bis zum Ende des ersten Kapitels regelmäßig in der Logik der Dichtung erwähnt wird.34 Eigentlich sollte ein Leser mit sprachwissenschaftlichem Interesse am Phänomen der Deixis selbst beim Querlesen der Logik der Dichtung auf das Deixis-Wortfeld aufmerksam werden. Welche Gründe für die Nicht-Rezeption von Hamburgers Überlegungen zur Deixis gibt es also? Mit den oben gemachten Ausführungen lässt sich zeigen, dass Hamburgers Logik der Dichtung zu jenen (Standard-)Werken gehört, die zwar erwähnt, jedoch nicht gelesen und deswegen nicht rezipiert werden. Daneben spielen die bereits angesprochenen textimmanenten Gründe eine Rolle. Welche Faktoren im Einzelnen die Rezeption verhindert haben, muss offen bleiben.

2 Ungenaue Rezeption Wird die Logik der Dichtung von der Deixisforschung wahrgenommen und rezipiert, ergeben sich die beiden genannten Varianten der Rezeption: die der selektiven und die der ungenauen Rezeption. Wird Hamburger sehr gezielt, teilweise auch sehr oberflächlich, auf eine eng gefasste Fragestellung hin rezipiert, lässt || burgers Fiktionstheorie siehe auch Julia Mansours Aufsatz: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«, S. 235–247. 31 Vgl. Günter Steinberg: Erlebte Rede. Ihre Eigenart und ihre Formen in neuerer deutscher, französischer und englischer Erzählliteratur. Göppingen 1971. 32 Ausnahmen stellen Monika Fludernik und Katrin Zuschlag dar. 33 Vgl. Simone Schiedermair: ›Lyrisches Ich‹ und sprachliches ›ich‹, S. 33. 34 Besonders häufig ist das Wortfeld »Deixis« auf den Seiten 65–66, 80–81 und 104–110 vertreten.

242 | Peggy Bockwinkel sich von einer selektiven Rezeption sprechen. Die Gefahr einer ungenauen oder sogar fehlerhaften Rezeption besteht vor allen Dingen dann, wenn ausführlich rezipiert wird. Es werden nun zuerst drei Beispiele vorgestellt, um im zweiten Schritt die Gründe für diese Art der Rezeption herausarbeiten zu können.35 1. Die Linguistin Ann Banfield rezipiert Hamburger in Unspeakable sentences, indem sie die Parallelen zu Benvenistes Sprachtheorie hervorhebt.36 Obwohl Banfield sich intensiv mit deiktischen Ausdrücken und dem Phänomen der Deixis in (Erzähl-)Tempora auseinandersetzt, geht sie nicht auf Hamburgers »Raumdeiktika«-Kapitel ein, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit Hamburgers Tempustheorie. Während Hamburger davon ausgeht, dass sich das epische Präteritum atemporal verhält, spricht Banfield ausschließlich von Kotemporalität.37 Sie erklärt Hamburgers episches Präteritum folgendermaßen: »This contemporality of PAST and NOW is also the defining feature of the tense which […] [s]he calls […]›the epic preterite‹«.38 Banfield interpretiert damit das von Hamburger als »atemporal« bezeichnete epische Präteritum als »cotemporal«.39 Wenige Sätze weiter zitiert Banfield die Stelle aus der Logik der Dichtung, in der Hamburger auf den Vergangenheitsverlust des epischen Präteritums eingeht: Hamburger defines this tense semantically in terms of a ›change in meaning‹ where ›the preterite loses its grammatical function of designating what is past‹ (p. 66) (Hamburger’s italics) and syntactically by what she calls ›the objective grammatical symptom which in all its inconspicuousness provides decisive proof that the past tense of fictional narration is no statement of past-ness: the fact their deictic temporal adverbs can occur conjointly with the past tense‹. (71)40

|| 35 Nachlässigkeit oder Absicht werden als Gründe ausgeschlossen. 36 Neben Banfields Monographie Unspeakable Sentences ist Hamburgers Sprachtheorie auch in zwei ihrer Aufsätze relevant, vgl. Ann Banfield: The formal coherence of represented speech and thought, in: PTL: A Journal for Descriptive Poetics and Theory of Literature 3 (1978), S. 289–314, und Ann Banfield: The nature of evidence in a falsifiable literary theory, in: The Concept of Style. 2. Auflage, hg. v. Leonard B. Meyer und Berel Lang. New York 1987, S. 245– 278. 37 Bereits in ihrem erstmals 1979 erschienenen Aufsatz erwähnt Banfield die Kotemporalität im Zusammenhang mit Hamburgers epischem Präteritum, vgl. Ann Banfield: The nature of evidence, S 45–278, hier: S. 278. 38 Ann Banfield: Unspeakable Sentences. S. 154, PAST steht für vorzeitig von PRESENT, d. h. »present tense« und NOW für Zeitdeiktika von »present« und »future tense«. 39 Von »atemporal« spricht Hamburger z. B. auf den Seiten 75, 92, 94. 40 Ann Banfield: Unspeakable Sentences, S. 154.

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Es ist anzunehmen, dass Banfield den Gedanken der Kotemporalität deshalb mit Hamburger verknüpft, weil Hamburger auf das gleichzeitige Auftreten von Vergangenheitstempus und in die Gegenwart oder Zukunft verweisenden deiktischem Adverb hinweist. Banfield schließt daraus: »Although the appearance of shifted pasts uniquely in narration has long been noted – and, in particular, for the French imparfait –, Hamburger was the first to locate the source of their ›anomalous‹ readings in the contemporality of PAST and NOW.«41 Banfield definiert kotemporal nicht explizit, sie geht jedoch davon aus, dass sich PRESENT und NOW im Diskurs nicht ohne deiktische Funktion sind, sondern sich kotemporal verhalten.42 Der Unterschied von atemporal und kotemporal in Erzähltexten lässt sich an dem bekannten Beispielsatz »Morgen war Weihnachten« zeigen: Für Hamburger verliert das Verbtempus seine temporale Funktion – und ist damit atemporal; nur noch das deiktische Adverb »morgen« behält seine deiktische Funktion und verweist in die Zukunft. Banfield geht davon aus, dass das Verbtempus sich dem deiktischen Adverb angleiche: sowohl »morgen« als auch das Verbtempus »war« verweisen in die Zukunft. Damit haben »morgen« und »war« die gleiche temporale, sprich deiktische Funktion in die Zukunft zu verweisen. 2. Es gibt in der Hamburger-Rezeption der Narratologin Monika Fludernik viele Punkte, die sich mit der Rezeption Banfields überschneiden.43 Fludernik greift nicht nur Banfields Hamburger-Rezeption auf, sondern setzt sich auch mit einigen wichtigen Kritikpunkten des epischen Präteritums auseinander.44 Das Besondere an Fluderniks Hamburger-Rezeption liegt jedoch in ihrer ausführlichen Analyse des Landschaftszimmer-Beispiels aus dem »Raumdeiktika«-Kapitel der Logik der Dichtung. Hamburger verwendet die Beschreibung des Landschaftszimmers in Thomas Manns Buddenbrooks, um den Unterschied zwischen Realbeschreibung und Fiktion zu verdeutlichen: Durch eine Glastür, den Fenstern gegenüber, blickte man in das Halbdunkel einer Säulenhalle hinaus, während sich linker Hand vom Eintretenden die hohe weiße Flügeltür zum Speisesaale befand. An der anderen Wand aber knisterte… der Ofen.45

|| 41 Ann Banfield: Unspeakable Sentences, S. 155. 42 Vgl. Ann Banfield: Unspeakable Sentences, S. 57–58. 43 Z. B. der Vergleich von Hamburgers und Benvenistes Fiktionstheorie, die Kritik Stanzels an Hamburger, vgl. Monika Fludernik: The fictions of language, S. 47. 44 Z. B. Raschs Feststellung zum epischen Präteritum. Laut Fludernik geht Rasch davon aus, dass das epische Präteritum das Erzählsubjekt in den Vordergrund setzt, z. B. die Erfahrung des Protagonisten, vgl. Monika Fludernik: The fictions of language, S. 47. 45 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite Auflag 1968, S. 109.

244 | Peggy Bockwinkel Für Hamburger dient dieser Satz als Beispiel für eine Realbeschreibung: Diese Beschreibung ist, obwohl sie in einem Roman steht, der sich durch das Auftreten der Romangestalten bereits als solcher ausgewiesen hat, eine Realbeschreibung […]. Thomas Mann hat, […] die Verhältnisangabe, die als solche real ist, auf eine reale IchOrigo bezogen und für einen Augenblick damit sozusagen den Raum der Fiktion verlassen.46

Indem Hamburger schließlich den »Eintretenden« durch die fiktive Figur »Konsulin Buddenbrooks« ersetzt, verdeutlicht sie diesen Unterschied nochmals. Fludernik interpretiert die Landschaftszimmerpassage jedoch wie folgt: »The phenomenon […] cannot be justified as a purely literary one, much less as a phenomenon of direct correlation with the epic preterite.«47 Es hat den Anschein, als würde sie gegen Hamburger argumentieren wollen, weil sie meint, Hamburger würde das epische Präteritum mit der Landschaftszimmer-Beschreibung in Zusammenhang bringen. Im Anschluss liefert Fludernik Beispiele, die Hamburgers eigentliche Argumentation unterstützen: Fludernik kann das Phänomen als intrinsische Perspektive identifizieren.48 Sie argumentiert weiter: »Hamburger’s example is also inadequat as evidence for the epic preterite because the same kind of orientational deixis occurs regularly in guidebook texts: When you get to St Peter’s, you turn right for the Vatican Museum.«49 Genau das meint Hamburger, wenn sie angibt, die Beschreibung des Landschaftszimmers könne man so auch als »Bädekerangabe« finden.50 Fluderniks Argumentation gegen Hamburger läuft an dieser Stelle ins Leere. 3. Auch in einem von Gisa Rauhs Aufsätzen zur Deixis in Erzähltexten zeigt sich eine Ungenauigkeit in einer problematischen Auslegung der Hamburger’schen »Erzählfunktion« zum einen und zum anderen in einer verkürzten Zitierweise: Rauh argumentiert mehrfach, warum Hamburgers Autor-/Erzählerkonzept nicht stimmen kann. Sie schließt sich Stanzels Erzählerkonzept an und zitiert Hamburger wie folgt: »Einen fiktiven Erzähler (…) als ›eine vom Autor geschaffene Gestalt‹ gibt es nicht (…). Es gibt nur den erzählenden Dichter und sein Erzählen.«51 Das Original sieht ungekürzt wie folgt aus: || 46 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite Auflage 1968, S. 109–110. 47 Monika Fludernik: The fictions of language, S. 49. 48 Ebenda, S. 49. 49 Ebenda, S. 49–50 (i. Orig. kursiv). 50 Vgl. Käte Hamburger: Das epische Präteritum, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (27) 1953, S. 329–357, hier: S. 342. 51 Käte Hamburger, zitiert nach Gisa Rauh: Deiktische Funktion des epischen Präteritums. 1983, S. 41.

Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung und die Rezeption der Deixis | 245 Einen fiktiven Erzähler, der, wie es offenbar vorgestellt wird, als eine Projektion des Autors aufzufassen wäre, ja als »eine vom Autor geschaffene Gestalt« (F. Stanzel), gibt es nicht, gibt es auch in den Fällen nicht, wo durch eingestreute Ich-Floskeln wie ich, wir, unser Held u. a. dieser Anschein erweckt wird, wie wir im folgenden eingehend erörtern werden. Es gibt nur den erzählenden Dichter und sein Erzählen.52

Hamburger greift hier auf eine Definition Stanzels zurück, die Rauh zwar im Zitat übernimmt, jedoch den Verweis darauf auslässt. Es ist davon auszugehen, dass Rauh aus Gründen der besseren Lesbarkeit diese Zuordnung weggelassen hat. Folgende Informationen gehen jedoch ebenso verloren: Hamburger hat sich gegen Stanzels Erzählerdefinition geäußert, Rauh greift genau diese Stelle auf und stellt in ihrer eigenen Arbeit nicht nur Stanzels Typenkreis, sondern auch seine Erzählerdefinition vor und übernimmt sie.53 Rauhs Interpretation von Hamburgers »Erzählfunktion« soll hier nur verkürzt wiedergegeben werden. Löschner konnte bereits zeigen, welche »Denkvoraussetzungen« notwendig sind, um den Begriff der Erzählfunktion im Sinne Hamburgers zu verstehen:54 Rauh geht davon aus, für Hamburger sei der Autor der Kodierer, d. h. derjenige, bei dem die Ich-Origo angesiedelt ist.55 Mit Hamburgers Aussage, der Autor einer erzählenden Dichtung sei nicht das Aussagesubjekt des Erzählten, kann dieser Kritikpunkt jedoch entschärft werden.56 Wie lässt es sich erklären, dass drei Wissenschaftlerinnen, die sich intensiv mit Hamburgers Texten auseinander gesetzt haben, dennoch in Ansätzen ungenau oder fehlerhaft rezipieren? Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass eine fehlerhafte Rezeption weitere fehlerhafte Rezeptionen nach sich zieht, da nicht jeder die Primärquelle vollumfänglich erschließt bzw. beurteilen kann, welche Aussage richtig und relevant ist. Das ist jedoch bei Banfield und Fludernik nicht der Fall. Die Fehler, die sich dort eingeschlichen haben, sind unabhängig voneinander entstanden. Im Fall von Banfield ist vermutlich davon auszugehen, dass Hamburger sie bereits vor der Rezeption in Unspeakable sentences auf die Idee der Kotemporalität gebracht hat.57 Damit hat Banfield den Begriff der Kotemporalität direkt mit || 52 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite Auflage 1968, S. 115 (i. Orig. kursiv). 53 Vgl. Gisa Rauh: Deiktische Funktion des epischen Präteritums, S. 47–48, und auch in ihrem Aufsatz »Tempus und Erzähltheorie« rezipiert sie Stanzel ausführlich. 54 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 11, S. 30–31, und das Kapitel »Was ist eine »Funktion«, was eine »Erzählfunktion«? 55 Vgl. Gisa Rauh: Deiktische Funktion des epischen Präteritums, S. 38 und 40. 56 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite Auflage 1968, S. 115. 57 Vgl. die Anmerkungen 36 und 37, in der die Aufsätze erwähnt sind, in denen Banfield Hamburger zitiert.

246 | Peggy Bockwinkel Hamburger verknüpft, sodass ihr der Unterschied selbst beim Zitieren Hamburgers nicht mehr notwendigerweise aufgefallen ist. Es gibt aber – wie bei der Nicht-Rezeption auch – Gründe, die in der Logik der Dichtung und noch weiter gefasst, im »Denksystem«58 Hamburgers begründet liegen. Neben den üblichen textimmanenten Gründen, wie z. B. einem anspruchsvollen Stil des rezipierten Werkes oder terminologischen Hürden bei fachübergreifenden Werken, geht Claudia Löschner davon aus, dass in Hamburgers Werk »Rezeptionsschwellen« zu finden sind. Für einen Leser mit einem anderen Hintergrundwissen als dem Hamburgers ist es schwierig, bestimmte Begriffe innerhalb ihres Denksystems zu verstehen.59 Löschner erklärt damit auch die vielfältige Kritik nach Erscheinen des Werkes. Ansätze, die auf textimmanente Schwierigkeiten innerhalb der Logik der Dichtung hinweisen, gibt es schon bei Barbara Hahn und Julia Mansour.60 Es ist davon auszugehen, dass diese »Rezeptionsschwellen« auch Banfields und Fluderniks Rezeptionsprozess erschwert haben. In Bezug auf die Deixis bestätigt sich das außerdem insofern, als Hamburgers Vorstellung von Deixis in Erzähltexten nur im Gesamtzusammenhang der Logik der Dichtung stimmig ist. Betrachtet man das Kapitel der »Raumdeiktika« isoliert und im Vergleich zu anderen linguistischen Deixistheorien, z. B. derjenigen von Rauh, ist Hamburgers Deixisbegriff sehr sperrig und nicht leicht zugänglich. Dies beginnt bereits bei Hamburgers Entscheidung, welche Ausdrücke als deiktisch betrachtet werden sollten61 und endet bei einem

|| 58 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 21968, S. 21. Claudia Löschner greift diesen Begriff auf und weist auf die Zentralstellung dieses Ausdrucks als Voraussetzung für die Logik der Dichtung hin: Claudia Löschner: Denksystem. 59 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 20–21, vgl. auch Anmerkung 6. 60 Vgl. Barbara Hahn: Erratischer Block oder von der Schwierigkeit, Käte Hamburgers Logik der Dichtung zu lesen, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 129–139; Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«, S. 235–247. 61 Zur Lokaldeixis gehören laut Hamburger Ausdrücke wie oben, unten, vor, hinter, rechts, links, hier, dort, (nach) Westen, (nach) Osten (Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite Auflage 1968, S. 104–105. und S. 108). Das prototypisch deiktische Adverb hier schließt sie aus ihren Überlegungen aus, da es im Sprachgebrauch abgenützt worden sei (vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Zweite Auflage 1968, S. 108). Allerdings sind die anderen von ihr als deiktisch erwähnten Begriffe nicht deiktisch, sondern entweder intrinsische – vor, hinter, rechts, links – oder absolute Begriffe wie Westen und Osten. Außer hier und dort ist keiner dieser Ausdrücke im engen Sinne deiktisch. Vgl. Konrad Ehlich: Deixis, S. 170. Auch Fludernik weist auf Hamburgers mangelnde Unterscheidung hin, vgl. Monika Fludernik: The fictions of language, S. 50.

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scheinbaren Widerspruch zwischen der deiktischen Funktion von Tempus und deiktischen Adverbien.62

3 Selektive Rezeption In der Regel wird mit der Rezeption ein bestimmtes Interesse verfolgt: Aus der Infragestellung, Korrektur, Zustimmung und der Erweiterung von Theorien/ Thesen ergibt sich die eigene Arbeit. Die Rezeption erfolgt gezielt und wird selektiv vorgenommen, d. h. auf bestimmte, dem eigenen Ziel dienliche Textinhalte beschränkt. Grundsätzlich ist die selektive Rezeption ein Beispiel für eine gelungene Rezeption. Sie stellt dann eine ideale Folie dar, wenn sich ein wissenschaftlicher Mehrwert feststellen lässt. Auch hier kann es jedoch zu Ungenauigkeiten oder Fehlern kommen. Das ist entweder der Kürze der Rezeption zuzuschreiben, oder den oben beschriebenen textimmanenten Schwierigkeiten, z. B. »Rezeptionsschwellen«, geschuldet. Ein Beispiel für eine gelungene selektive Rezeption, bei der Hamburgers Tempustheorie erweitert wird, findet sich mit Harald Weinrichs Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Die Rezeption der Tempustheorie Hamburgers erfolgt kurz und knapp, indem Weinrich sie paraphrasiert.63 Allerdings beschreibt Weinrich die Kritik an der Theorie und schließlich seine Lektüre der Logik der Dichtung sehr detailliert.64 Damit gibt er wertvolle Einblicke in seinen eigenen Rezeptionsprozess und spiegelt ebenso die allgemeine Rezeption der These des epischen Präteritums. Schließlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß Käte Hamburger nicht etwa, wie die anderen Kritiker meinten, zu weit gegangen ist, sondern daß sie im Gegenteil nicht weit genug gegangen ist.65

|| 62 Einerseits spricht Hamburger davon, dass deiktische Adverbien ihre Zeigefunktion verlieren, andererseits spricht sie z. B. im Fall der erlebten Rede davon, dass das Tempus seine deiktische Funktion verliert und nur noch das Adverb temporal zeigen kann. Obwohl deiktische Adverbien ihre Zeigefunktion verlieren, hätten sie dennoch eine Signalfunktion. Bei morgen lässt sich damit nicht genau bestimmen, welches »kalendarisch« der nächste Tag ist; es ist jedoch eindeutig, dass es sich um den nächsten Tag in der fiktiven Welt handelt. 63 Vgl. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964, S. 38–39. 64 Vgl. ebenda, S. 39–40. 65 Ebenda, S. 27.

248 | Peggy Bockwinkel Dass die selektive Rezeption auch in die andere Richtung möglich ist, d. h. die eigene Arbeit sich durch Ablehnung der rezipierten Theorie ergibt und ebenso eine gelungene Rezeption darstellt, kann mit Gisa Rauhs Beiträgen zur Deixisforschung in Erzähltexten gezeigt werden.66 Rauh nutzt Hamburgers Theorie von der Zeitlosigkeit der Fiktion, um sie zu widerlegen und ein Grammatikmodell in der Tradition von Chomskys Generativer (Transformations-) Grammatik zu entwickeln, in dem deiktisch komplexe Ausdrücke in ihrer syntaktischen Tiefenstruktur abgebildet werden können.67 Einfache Aussagen und die indirekte Rede stellen einfache deiktische Ausdrücke dar, während innere Monologe, erlebte Rede und direkte Rede in Erzähltexten eine komplexe deiktische Struktur abbilden.68 In ihrer Dissertation beschränkt sich Rauh in ihrer Rezeption nicht nur inhaltlich, sondern auch quantitativ im Vergleich zum Gesamtumfang ihrer Arbeit: Die eigentliche Rezeption, im Wesentlichen untergebracht im ersten Kapitel der Dissertation, ist im Verhältnis zur Relevanz für Rauhs These mit weniger als 600 Wörtern kurz gehalten. Die Rezeption von Hamburgers Tempustheorie ist wie bei Weinrich als Mittel zum Zweck zu verstehen. Es ist davon auszugehen, dass Rauhs Dissertation in dieser Art nie entstanden wäre, ohne die Logik der Dichtung und die heftige Kritik daran. Die Gründe für eine selektive Rezeption sind offensichtlich: Die Aufmerksamkeit des Lesers soll in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Es ist nicht notwendig und auch nicht erwünscht, umfassend zu rezipieren. Der Blick ist auf das Wesentliche gelenkt, d. h. auf den Teil der rezipierten Arbeit, der für die eigene Arbeit wichtig ist und zu dem man selbst etwas hinzuzufügen hat.

4 Umfassende Rezeption Tendenziell ist es wahrscheinlich, dass umfassende Rezeptionen quantitativ weniger häufig zu finden sind. Sie tauchen nämlich prototypischerweise in || 66 In folgenden Arbeiten setzt sich Rauh mit Deixis in Erzähltexten auseinander: Gisa Rauh: Linguistische Beschreibung deiktischer Komplexität in narrativen Texten. Tübingen 1978; dies.: Über die deiktische Funktion des epischen Präteritum: Die Reintegration einer scheinbaren Sonderform in ihren theoretischen Kontext, in: Indogermanische Forschungen 87 (1982), S. 22–55, und dies. in: Indogermanische Forschungen 88 (1983), S. 33–53; dies.: Tempus und Erzähltheorie, in: Tempus, Zeit und Text, hg. v. Werner Hüllen und Rainer Schulze. Heidelberg 1985, S. 63–81. 67 Vgl. Gisa Rauh: Linguistische Beschreibung deiktischer Komplexität in narrativen Texten. Tübingen 1978. 68 Vgl. ebenda, S. 334–335.

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Form von Forschungsberichten als Teil von Dissertationen auf, um ein möglichst umfassendes Bild des Forschungsgegenstandes zu geben. Das folgende Beispiel einer umfassenden Rezeption der Logik der Dichtung unter Berücksichtigung des »Raumdeiktika«-Kapitels soll abschließend herangezogen werden. Es lassen sich daraus Rückschlüsse ziehen, warum diese Rezeption gelungen ist; viele andere zuvor genannte Beispiele jedoch nicht. Katrin Zuschlag rezipiert in ihrer Untersuchung Narrativik und literarisches Übersetzen zuerst kurz, aber dennoch nahezu vollständig Hamburgers Dichtungstheorie und geht die einzelnen Belege des fiktionalen Erzählens durch: das epische Präteritum, die Verben der inneren Vorgänge, die erlebte Rede, die Zeitlosigkeit der Fiktion, das historische Präsens, das Zeitproblem im historischen Roman, stilistische Aspekte und die Raumdeiktika.69 Sie ist eine der wenigen, die sich in ihrer Rezeption mit dem »Raumdeiktika«-Kapitel Hamburgers auseinandersetzt. Indem sie die französische Version von Hamburgers Buddenbrooks-Zitat widergibt, bestätigt sie indirekt Stanzel, der diese Textstelle als aperspektivisch interpretiert, denn im französischen Pendant sind alle Hinweise auf eine mögliche Perspektive getilgt.70 Zuschlag vergleicht Hamburgers Textbeispiele mit Übersetzungen und zeigt damit, dass eine Fiktionstheorie, wie Hamburger sie angestrebt hat, nicht als universell im Sinne Chomskys gelten kann, da Hamburger sich zu sehr auf die Betrachtung einer Einzelsprache beschränkt hatte. Zuschlag wertet das als ein nicht akzeptables Unterfangen.71 Wie geht Zuschlag also vor? Nach der umfassenden Rezeption überprüft sie zunächst Hamburgers Hypothesen im Detail, z. B. zur Raumdeixis. Nachdem sich Hamburgers Hypothese nicht für die französische Übersetzung bestätigt, schränkt Zuschlag als Konsequenz den Geltungsbereich der Theorie ein. Sie korrigiert und präzisiert damit Hamburger, die in ihren Überlegungen keine einzelsprachlichen Unterscheidungen vorgenommen hatte. Mit ihrem Beitrag zur Deixistheorie fasst Zuschlag aber auch einige wichtige Positionen der Deixisforschung zusammen: Sie zeigt sehr deutlich, welche Konsequenzen verschiedene Grundannahmen zur Deixis hinsichtlich einer Fiktionstheorie haben,

|| 69 Vgl. Katrin Zuschlag: Narrativik und literarisches Übersetzen. Erzähltechnische Merkmale als Invariante der Übersetzung. Tübingen 2002, S. 90–99. 70 Vgl. das Buddenbrooks-Beispiel weiter oben und die Passage in der französischen Übersetzung: »Par une porte vitrée, face aux fenêtres, on pouvait deviner, dans la pénombre, une galerie à colonnes, tandis qu’à gauche de l’entrée s’ouvrait la haute porte blanche à deux battants de la salle à manger«, in: Katrin Zuschlag: Narrativik und literarisches Übersetzen, S. 95; und Franz Stanzel zur Aperspektive: Theorie des Erzählens, S. 164. 71 Vgl. Katrin Zuschlag: Narrativik und literarisches Übersetzen, S. 99.

250 | Peggy Bockwinkel z. B. die Kategorisierung der direkten Figurenrede. Damit lässt sich ein wissenschaftlicher Mehrwert durch die Rezeption Hamburgers feststellen. Warum gelingt bei Katrin Zuschlag die Rezeption der Logik der Dichtung und im Speziellen der Deixis? Weder ist Zuschlag Literaturwissenschaftlerin, noch ist sie Linguistin. Sie ist promovierte Diplom-Übersetzerin für Französisch und Englisch. Germanistik hat sie als Nebenfach studiert. Auf Käte Hamburger ist Zuschlag erst während ihrer Promotion aufmerksam geworden.72 Es ist auffällig, dass gerade eine Akteurin mit einem anderen Schwerpunkt als Literaturoder Sprachwissenschaft die Logik der Dichtung inklusive der Raumdeiktika rezipiert. Eventuell ist dieser »fachfremde« Blick neutraler und vielleicht auch genauer als bei Wissenschaftlern, die bereits mit einem umfangreichen Vorwissen lesen und schließlich rezipieren. Ein zweiter wichtiger Faktor für eine gelungene Rezeption ist die Zeit, die seit dem ersten Erscheinen der Logik der Dichtung vergangen ist. Die erste Auflage der Logik der Dichtung liegt nun über 50 Jahre zurück; die Phase der polemischen Rezeption ist vorbei. Auf Hamburgers Theorien wird inzwischen sowohl in Standardwerken der Erzähltheorie als auch in Standardlexika hingewiesen.73 Der zeitliche Abstand ermöglicht einen neutralen Blick und damit eine objektivere Sichtweise auf Hamburgers Theorien. Nicht zuletzt zeigt sich das an neueren Arbeiten zu Hamburger, die einen weiteren Zugang zu ihren Werken über die Einbettung in den historischen Kontext gewinnen möchten.

Ausblick Ein enges Forschungsgebiet wie das der Deixis in literarischen Texten ermöglicht es, die Verbreitung – und Nicht-Verbreitung – von Wissen über mehrere Forschergenerationen nachzuvollziehen. Einerseits spielt der Einfluss von bidisziplinär arbeitenden Wissenschaftlern wie Konrad Ehlich und Dietrich Krusche eine erhebliche Rolle für die Begeisterung von Randthemen, wie sich anhand von Simone Schiedermairs Dissertation zur Deixis in der Lyrik zeigen lässt: Schiedermair erwähnt in ihrer Danksagung zu ihrer Dissertation bekannte deixisaffine Wissenschaftler. Alle diese Wissenschaftler stehen diziplinübergrei|| 72 Herzlichen Dank an Katrin Zuschlag für die umfangreichen Auskünfte per E-mail. 73 Vgl. z. B. Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, und die Einträge erlebte Rede, Erzähler, Fiktion und Tempus in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Klaus Weimar u. a. 3 Bde. Berlin, New York 2007.

Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung und die Rezeption der Deixis | 251

fend miteinander in der wissenschaftlichen Diskussion.74 Ehlichs Schaffen hat also weitere Forschungsarbeiten zur Deixis in literarischen Texten nach sich gezogen. Findet ein disziplinübergreifender Austausch statt, kann davon ausgegangen werden, dass wie im Fall von Ehlich linguistische Veröffentlichungen zeitversetzt auch literaturwissenschaftliche Arbeiten nach sich ziehen. Es bleibt zu überprüfen, ob ein ähnlicher Einfluss der Literaturwissenschaft auf die Linguistik nachvollziehbar ist und gleichzeitig zu spekulieren, ob die Rezeption des hamburgerschen Deixiskonzepts weitere Rezeptionen nach sich ziehen würde. 75 Andererseits bleibt es auffällig, dass die oben vorgestellte umfassende Deixisrezeption nicht im Umfeld Ehlichs und Krusches, sondern in einem linguistischen Umfeld entstanden ist. Grundsätzlich lässt sich deshalb für bidisziplinär angelegte Theorien festhalten, dass ein offener und sensibler Umgang mit der anderen Disziplin die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die daraus resultierende Rezeption auch einen Mehrwert für die Einzelwissenschaften darstellt.76 Das konnte sowohl im Abschnitt zur Nicht-Rezeption wie auch als Positivbeispiel im Abschnitt zur umfassenden Rezeption gezeigt werden. Dennoch ist durch die vorangegangenen Ausführungen klar geworden, wie viele und welch überra-

|| 74 Krusche und Ehlich kennen sich, ebenso Redder und Ehlich, vgl.: Exkursionen in die Fremde. Eine Festschrift für Dietrich Krusche, hg. v. Konrad Ehlich. München 2010; Diskurse und Texte. Festschrift für Konrad Ehlich zum 65. Geburtstag, hg. v. Angelika Redder. Tübingen 2007. Schiedermair lernte Riedner in einem Kolloquium kennen, das Ehlich an der Münchner Universität gehalten hat; Krusche und später Redder betreuten Schiedermairs Dissertation. Vgl. Simone Schiedermair: ›Lyrisches Ich‹ und sprachliches ›ich‹, S. 7. Auch Riedner hat bei Krusche und Redder promoviert. 75 Was die allgemeine bidisziplinäre Wahrnehmung von Linguistik und Literaturwissenschaft angeht, scheint es gegenwärtig eine vorsichtige Tendenz weg von der reinen »Vernunftehe« zu geben, vgl. Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, hg. v. Ulrike Haß und Christoph König. Göttingen 2003, hier vor allem die Einleitung von Haß und König, S. 10 und S. 12, sowie den Aufsatz von Ernest W. B. Hess-Lüttich und Gesine Lenore Schiewer, S. 245–255, vor allem S. 254–255. Wie ambivalent die Meinungen dennoch sind, bescheinigen konkrete Beispiele aus diesem Sammelband: z. B. geht Ulla Fix bei ihren Ausführungen zur Stilistik davon aus: »Die Sprach- und Literaturwissenschaftler […] nehmen sich in vielen Fällen gegenseitig nicht wahr oder nicht ernst«, S. 224. Man arbeite »Rücken an Rücken« meint Hans-Martin Gauger 2009, vgl. Anmerkung 18. 76 In allgemeinen Untersuchungen zu disziplinübergreifenden Kooperationen wird davon ausgegangen, dass nicht der institutionalisierte Austausch zwischen zwei Disziplinen für eine fruchtbare Zusammenarbeit ausschlaggebend ist, sondern der informelle Kontakt. Vgl. z. B. Inter-Disziplinieren. Erfolgsbedingungen von Forschungskooperationen, hg. v. Martina Röbbecke u. a.. Berlin 2004. Es sei aber auch festgehalten, dass die weniger durchlässige Disziplin als »prestigehöhere« gilt, vgl. Ralf Klausnitzer: Fallstudien als Instrument der interdisziplinären Wissenschaftsforschung, S. 221. Auch an dieser Stelle bieten sich Anschlussfragen an.

252 | Peggy Bockwinkel schend hohe Hürden im Fall der Rezeption von Käte Hamburgers Deixiskonzept überwunden werden müssen, bis ein Wissensfortschritt distribuiert und stabilisiert worden ist.

Lutz Danneberg

Kritik am Kompositionalismus Zu Vorstellungen fiktional-faktual gemischter Texte, zu Semifiktionalität und zu Gradationen der Fiktionalität Abstract: The article develops an alternative, hermeneutically justified argument for Käte Hamburger’s rejection of compositionalism in her theory of fiction. While it contradicts Hamburger’s assumption that fictional texts can be distinguished from non-fictional texts by internal text attributes, it supports her rigorous separation of real propositions (Wirklichkeitsaussage) and fictional propositions about non-reality (fiktionale Aussage über die Nicht-Wirklichkeit). The hermeneutic approach that conceptualizes the property »fictional« as a macro property of representation amounts to a series of basic assumptions about fictional representations as they compare to the world designated as real, which include: the ontologically circumscribed nature of fictional representations; the univial (unidirectional) accessibility of fictional worlds; the different relevance and association of text attributes to the fictional versus the real world.

In ihrer Logik der Dichtung (1957) schreibt Käte Hamburger: Es gibt keinen Gradunterschied stärkerer oder schwächerer Fiktivität. Und es wurde gezeigt, daß nicht etwa die fingierende Einmischung des Erzählers als Verfasserperson, zu meist humoristischen Zwecken, das Fiktionsphänomen beeinträchtigt.1

Hamburgers Auffassung lässt sich in einer gegenwärtigen Sprache als eine Zurückweisung der Vorstellung eines Kompositionalismus betrachten, also der Ansicht, literarische Texte könnten sowohl fiktionale als auch faktuale Bestandteile enthalten. Ich werde nicht zu rekonstruieren versuchen, welche Annahmen bei Käte Hamburger diese Ansicht begründen, sondern einen alternativen Zugang für die Zurückweisung des Kompositionalismus2 wählen. Es ist die Perspektive der Interpretation literarischer Texte, also eine hermeneutische Perspektive. Auch wenn ich Hamburger damit in einem entscheidenden Punkt || 1 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1957, S. 223. 2 Vgl. zur Position des Kompositionalismus in der Fiktionstheorie u. a. Peter Blume: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin 2004.

254 | Lutz Danneberg widerspreche, nämlich ihrer Annahme, man könne fiktionale Texte mittels textinterner Merkmale von nicht-fiktionalen unterscheiden,3 wird doch eine ihrer Intuitionen bestätigt: ihre rigorose Trennung von Wirklichkeitsaussage und fiktionaler Aussage über die Nicht-Wirklichkeit.4 Beginnen will ich mit einer ersten Annahme. Es handelt sich dabei um eine Es-gibt-nicht-Annahme und sie betrifft die Unerkennbarkeit des fiktionalen Status von Darstellungen, zumindest in bestimmter Weise. Diese Annahme besagt: Bei den Merkmalen, die bei Darstellungen als gegeben gelten, gibt es keine festen Verbindungen, die eine Vermutung ihres fiktionalen oder nichtfiktionalen Status begründen oder anzeigen können. Der Kernausdruck bei dieser Annahme ist der der ›festen Verbindung‹. Solche ›festen Verbindungen‹ erscheinen als erforderlich, sollen Fiktionalität oder Nichtfiktionalität als eine Art intrinsischer Eigenschaft aufgefasst werden. Mit ›festen Verbindungen‹ meine ich, dass die Feststellbarkeit des Status einer Darstellung nicht situationsunabhängig ist, und mit ›situationsunabhängig‹ meine ich Verbindungen, bei denen für das Erkennen der Verknüpfungen nicht auf ein jeweils spezielles KontextWissen zurückgegriffen zu werden braucht. Was das nun wiederum heißt, wird an einer Konsequenz der Annahme deutlich: Zwei in ihrer materialen, also makrophysikalischen Gestalt vollkommen übereinstimmende darstellende Gebilde können nicht nur unterschiedliche Bedeutung besitzen, sondern auch ungleich klassifiziert werden hinsichtlich ihres Status als fiktional oder nichtfiktional. || 3 Es gibt, auch im Anschluss an Hamburger, immer wieder Versuche, solche Unterscheidungen auf der Ebene von Texteigenschaften im engeren Sinn zu begründen, die m. E. durchweg scheitern. Ein Beispiel sind die Untersuchungen von Dorrit Cohn: Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective, in: Poetics Today 11.4 (1990), S. 733–804, sowie dies.: Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität, in: Sprachkunst 26 (1995), S. 105–112, wo es etwa heißt (S. 108), dass sich der Unterschied bereits »an der diskursiven Oberfläche einer geschichtlichen Darstellung: in den mehr oder weniger expliziten Hinweisen auf dokumentarische Quellen« zeige. Das, was Cohn eigentlich zu zeigen versucht (und unter diesem Gesichtspunkt ließen sich ihre drei ›Thesen‹ erörtern), ist, wie sich eine (angemessene) Unterscheidung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Darstellungen ziehen lässt, aber nicht, wie man sie allein an einer gegebenen Darstellung erkennt. Deutlich wird das auch bei der zweiten ›These‹ Cohns, nach der bestimmte Erzählsituationen (etwa eines ›allwissenden Erzählers‹), die für fiktionale Darstellung als ›normal‹ gelten, bei »Geschichtstexten« als »abnormal« gesehen werden. Das setzt offenkundig ein zusätzliches Wissen über die (zu einer bestimmten Zeit) geltenden Normen der Produktion fiktionaler oder nichtfiktionaler Darstellungen voraus oder besteht letztlich in der Festlegung solcher Normen. 4 Auf einige Aspekte der Problematik bin ich ausführlicher eingegangen in Lutz Danneberg: Weder Tränen noch Logik: Über die Zugänglichkeit fiktionaler Welten, in: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Einladung zu disziplinexternen Perspektiven auf Literatur, hg. v. Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger. Paderborn 2006, S. 35–83.

Kritik am Kompositionalismus | 255

Es gibt nicht wenige Beispiele, die die Vermutung stützen können, dass jedes textuelle Glaubwürdigkeitssignal, jedes in einer bestimmten Zeit als für nichtfiktionale Darstellungen charakteristisch erachtete Merkmal, sich ›simulieren‹ lässt. Vielleicht erscheint es als trivial, dass erst ein bestimmter Umgang mit einer Darstellung aus ihr eine fiktionale oder nichtfiktionale macht. Eine aufgrund eines bestimmten Wissens als nichtfiktional klassifizierte Darstellung lässt sich grundsätzlich (bei verändertem Wissen) auch wie eine fiktionale behandeln – und umgekehrt. Die Verwendung anscheinend etwa ›poetischer‹ oder bestimmter ›narrativer‹ Darstellungsverfahren in einer nichtfiktionalen Darstellung muss an ihrem Status als Nonfiction überhaupt nichts ändern – und das gilt auch umgekehrt. Meine erste Annahme erscheint zwar extrem relativistisch, doch das täuscht. Denn die Annahme einer Ununterscheidbarkeit schließt gerade nicht aus, dass sich in gegebenen Situationen die Unterscheidung zwischen fiktional und nichtfiktional bei Darstellungen mit aller in solchen Bereichen überhaupt möglichen Sicherheit fällen lässt.5 Allein vom zusätzlichen Wissen und seiner Güte hängt es ab, ob sich Darstellungen einer bestimmten RaumZeit-Spanne in dieser Weise erfolgreich sortieren lassen. Noch weniger bedeutet die Annahme, dass der Umgang, der eine Darstellung zu einer fiktionalen oder nichtfiktionalen macht, beliebig sein muss. Wenn man so will, dann verlagert sich die Beliebigkeit der Objektklassifikation in die Nichtbeliebigkeit des Umgangs mit den Objekten, wenn sie beständig die Merkmale aufweisen sollen, nach denen sie klassifiziert wurden. Zu betonen bleibt dabei, dass es hier um eine Charakterisierung des Umgangs geht und nicht um Überlegungen zu den (kontextuellen) Eigenschaften, die man (als gegeben) annimmt, wenn man mit einer Darstellung als einer fiktionalen oder als einer nichtfiktionalen umgeht. Die Bestimmung des ›Fiktionalen‹ als eines bestimmten Umgangs mit einer Darstellung ist mithin von der Frage zu trennen, was eine solche Darstellung zu einer ›literarischen‹ macht, oder der nach ihren etwaigen ›ästhetischen‹ Makroeigenschaften. Für meine Kritik am Kompositionalismus möchte ich zunächst zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks ›fiktional‹ unterscheiden: zum einen als Bezeichnung einer Makroeigenschaft einer darstellenden Gesamtheit; zum anderen als Bezeichnung, die Bestandteile einer solchen Gesamtheit klassifiziert. Es gibt Ausdrücke, die sich ohne Probleme und gleichbedeutend sowohl auf ein

|| 5 Vgl. z. B. auch Peter McCormick: Philosophical Discourses and Fictional Texts, in: Literature and the Question of Philosophy, hg. v. Anthony J. Cascardi. Baltimore, London 1987, S. 54–74, hier: S. 56: »[...] the fact that someone may take any text as fictional does not entail that a community of educated readers in a culture may take any text as fictional.«

256 | Lutz Danneberg Ganzes als auch auf seine Teile beziehen lassen und dabei jedem der unterscheidbaren Bestandteile eines Ganzen gleichermaßen zukommen. Ich versuche zu zeigen, weshalb ›fiktional‹ allein eine solche Makroeigenschaft von Darstellungsgesamtheiten bezeichnet, die auch jedem ihrer Bestandteile zukommt. Also: Wenn eine Darstellung als fiktional klassifiziert wird, dann gilt das auch für jeden ihrer (sinnvollen) Bestandteile, oder anders formuliert: Es gibt keine Formen von ›Semifiktionalität‹. Die Klassifikation ist mithin homogen, und es gibt nach ihr keine fiktional / nichtfiktional gemischte Rede, zumindest nicht im Rahmen einer als fiktional behandelten Gesamtheit einer Darstellung. Fiktionale wie nichtfiktionale Gesamtheiten gehören dann zu solchen Ganzheiten, bei denen sich eine Eigenschaft des Ganzen auf jeden seiner (sinnvoll abtrennbaren) Teile vererbt. Aus dieser zweiten Annahme folgt auch die Zurückweisung der Vorstellung von Graden der Fiktionalität6 oder eines komparativen Begriffs von fiktional.7 Das schließt nicht aus, dass sich fiktionale Darstellungen (und Welten) vergleichen lassen und dass auf eine Vergleichsbasis bezogen sich grundsätzlich verschiedene komparative Begriffe bilden ließen – etwa ›realistischer als‹; nur eben nicht beim Begriff der Fiktionalität. Dies unterscheiden zu können, sehe ich als einen Vorteil meiner Auffassung an. Keine Frage ist allerdings, dass die zweite Annahme mit dem historischen wie dem gegenwärtigen Sprachgebrauch konfligiert. Hier begnüge ich mich mit der Behauptung: Will man den Ausdruck ›fiktional‹ in eine Sprache zur Rekonstruktion oder Beschreibung der interpretatorischen Praxis einführen, mit der sich bestimmte Intuitionen einer Unterscheidung von ›fiktional‹ und ›nichtfiktional‹ bewahren lassen und ohne dass bei seiner Einführung bestimmte gegenwärtige Wissensansprüche suspendiert oder entproblematisiert werden müssen, so scheint mir die Bewahrung des Sprachgebrauchs nicht erforderlich zu sein. Die nachfolgenden hermeneutischen Grundannahmen streben danach, bestimmte Züge einer vorfindbaren Interpretationspraxis zu bewahren und sie durch ihre Deutung zu plausibilisieren. Meine Annahme des homogenen Charakters von Fiktionen schließt nicht aus, dass sich Darstellungsgesamtheiten in der Weise zerlegen lassen, dass die dabei entstehenden (sinnvollen) Bestandteile den Bezug zum ursprünglichen Ganzen verlieren. Sie sind dann durch diese Gesamtheit auch nicht mehr bestimmt und lassen sich allein genommen als fiktional oder nichtfiktional klassi-

|| 6 So bei Jens Ihwe und Hannes Rieser: Normative and Descriptive Theory of Fiction. Some Contemporary Issues, in: Poetics 8 (1979), S. 63–84. 7 Vgl. z. B. Klaus W. Hempfer: Zu einigen Problemen der Fiktionalitätstheorie, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), S. 109–137.

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fizieren. Sie werden mithin als neugebildete Gesamtheiten aufgefasst, die die Merkmale der Gesamtheit ihrer Herkunft verloren haben. Der Ausdruck ›Makroeigenschaften‹ ist mit Bedacht gewählt, um eine Sperre für vorschnelle Identifikationen mit ganzheitlichen, organischen, holistischen Auffassungen zu errichten. Unabhängig davon scheint es Phänomene zu geben, die es naheliegend erscheinen lassen, die Klassifikation als nichtfiktional nicht als homogen aufzufassen. Das sind beispielsweise Formen kontrafaktischen Imaginierens oder Argumentierens in nichtfiktionalen Darstellungen, auch beispielsweise eine bestimmte Art des Gedankenexperiments. Sie könnte man als genuin fiktionale Bestandteile nichtfiktionaler Darstellungen ansehen. An anderen Stellen habe ich mich mit diesem nicht seltenen Phänomen ausgiebig beschäftigt und will darauf hier nicht erneut eingehen,8 sondern nur bemerken, dass es kein Gegenbeispiel ist oder sein muss. Das führt mich zu einem weiteren Einwand scheinbarer Unplausibilität. Ebenso wie sich die Bestandteile einer als nichtfiktional geltenden Darstellung intern unterschiedlich klassifizieren lassen, sei eingeräumt, dass das auch bei als fiktional angesehenen Darstellungen der Fall sein kann. Zudem sei konzediert, dass solche Bestandteile, bezieht man sie auf eine als real ausgezeichnete Welt, wahr sein können. Wäre es dann nicht naheliegend, sie als nichtfiktionale Bestandteile einer fiktionalen Darstellung zu klassifizieren? Der Grund, weshalb eine solche Klassifikation im Rahmen einer als fiktional aufgefassten Darstellung aus meiner Sicht nicht zulässig ist, liegt darin, dass in diesem Fall das epistemische Prädikat wahr in einem speziellen Sinn gebraucht wird – am Ende werde ich ein Beispiel erörtern, bei dem es für die (intendierte) Rezeption als zentral erscheint, dass zumindest eine Aussage einer fiktionalen Darstellung wahr in der als real angesehenen Welt ist. Ich räume zunächst ein – das Beispiel mag mich zu mehr zwingen –, dass es angesichts des Umgangs mit fiktionalen Darstellungen einen gravierenden Mangel für jede Auffassung von Fiktion dar|| 8 Lutz Danneberg: Überlegungen zu kontrafaktischen Imaginationen in argumentativen Kontexten und zu Beispielen ihrer Funktion in der Denkgeschichte, in: Imagination und Innovation, hg. v. Toni Bernhart und Philipp Mehne. Berlin 2006, S. 73–100; ders.: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, in: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte, hg. v. Lutz Raphael und Heinz-Elmar Tenorth. München 2006, S. 193–221; ders.: Kontrafaktische Imaginationen in der Hermeneutik und in der Lehre des Testimoniums, in: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in der Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Lutz Danneberg et al. (Wolfenbütteler Forschungen 120). Wiesbaden 2009, S. 287–449; ders. (gemeinsam mit Andrea Albrecht): First Steps Toward an Explication of Counterfactual Imagination, in: Counterfactual Thinking/Counterfactual Writing, hg. v. Dorothee Birke, Michael Butter und Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011, S. 12–29.

258 | Lutz Danneberg stellt, den Unterschied zwischen Sätzen zu nivellieren, die im Blick auf eine als real ausgezeichnete Welt als wahr erscheinen auf der einen, und solchen, die bezogen auf die als real angesehene Welt nicht referenzialisieren, also etwa Pegasus. Doch genau diesen Unterschied will ich mit meiner Auffassung bewahren und ihm eine leicht veränderte prozedurale Deutung geben. Angenommen, man liest einen umfangreichen Roman mit zahlreichen Einzelheiten über die handelnden Personen. Zudem sei angenommen, man würde feststellen, dass alles das, was sich in diesem Roman über den Helden und über anderes gesagt findet, in der vom Leser ausgezeichneten realen Welt seine Entsprechungen besitzt – sogar unter den gleichen Namen, also in diesem Sinn wahr ist. Reicht das aus für den Schluss, dieser Roman referenzialisiere in bestimmter Weise auf die vom Leser als real ausgezeichnete Welt? Meine Antwort ist Nein. Allein eine solche Auszeichnung als wahr, bezogen auf eine als real ausgezeichnete Welt, garantiert keinen bestimmten Referenzbezug auf diese Welt. Fasst man die ganze Darstellung in dieser Weise als referenzialisierend auf, so klassifiziert man sie nicht mehr als eine fiktionale Darstellung; doch keine Übereinstimmung der Darstellungsgesamtheit mit der als real ausgezeichneten Welt ist für die Klassifikation als nichtfiktional hinreichend. A fortiori kann das auch nicht für irgendeinen sinnvollen Bestandteil einer als fiktional klassifizierten Darstellungsgesamtheit gelten. Wenn bei einer (nichtfiktionalen) Autobiographie die Referenz dann gegeben ist, wenn Autor, Erzähler und ›Charakter‹ als identisch gelten, verliert die Darstellung ihren Charakter als Autobiographie nicht bereits dadurch, dass nichts von dem, was sie berichtet, in der als real ausgezeichneten Welt wahr ist. Demgegenüber ist eine Darstellung, soll sie als Biographie einer bestimmten Person gelten, abhängig von der (hinlänglichen) Wahrheit ihrer Beschreibungen. Damit ist freilich noch nicht dem Nivellierungseinwand begegnet. Die Überlegungen zeigen zunächst nur, dass die erste Annahme zur Unterscheidung fiktionaler und nichtfiktionaler Darstellungen im Zuge des Klassifizierens realisierbar ist und gefordert ist, dass im Rahmen dieser Auffassung von fiktional und nichtfiktional sich zeigen lässt, welche Relevanz dem Umstand zukommt, dass einige Sätze einer fiktionalen Darstellung angesichts der als real ausgezeichneten Welt als wahr gelten können. Der Grundgedanke der Unterscheidung von fiktional und nichtfiktional angesichts des Umgangs ist der der Zugänglichkeit des Dargelegten. Dem Einwand des Nivellierens möchte ich mit der folgenden Deutung der vermeintlich nichtfiktionalen Bestandteile einer fiktionalen Darstellung begegnen: Die mit der als real ausgezeichneten Welt korrespondierenden Bestandteile einer fiktionalen Darstellung sind als bestimmte Weisen des Nahelegens potentiell relevanter Informationen über die reale Welt für die Interpretation (das Verstehen) der

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fiktionalen Darstellung aufzufassen – und nicht als mehr. An dieser Stelle greifen die hermeneutischen Überlegungen, indem ich zu zeigen versuche, dass bestimmte Maximen des Interpretierens fiktionaler Texte inakzeptable Konsequenzen für die hermeneutische Praxis besitzen. Im Besonderen ist es die Maxime, dass der in einer als fiktional angesehenen Darstellung nicht ausgeführte Teil ihrer fiktionalen Welt durch die Gegenstücke der realen Welt immer in widerspruchsfreier Weise ausgefüllt werden könne; diese Maxime ist als das sogenannte reality principle in die theoretische Diskussion eingegangen.9 Diese Maxime führt bei jeder ihrer Varianten zu inakzeptablen Konsequenzen – und das gilt auch dann, wenn sich dieses Vervollständigen nur an einem Minimalprinzip (›the principle of minimal departure‹10) orientiert. Nur angemerkt sei: Mir geht es nicht um das Imaginieren von irgendwelchen Welten aus Anlass einer fiktionalen Darstellung, sondern um das professionelle Interpretieren, das wiederum als in nichtfiktionalen Darstellungen niedergelegt gedacht wird. Das Imaginieren von Welten mag einem minimalen Unvollständigkeitsprinzip folgen, also sich an der Phantasie der ›Auffüllung von Lücken‹ erfreuen, doch für das professionelle Interpretieren lässt sich vorab weder die minimale noch die maximale Unvollständigkeit als Maxime bei fiktionalen Darstellungen annehmen. Der erste Einwand besagt, dass durch ein unbesehenes Befolgen eine Maxime des ›Auffüllens‹ schon deshalb als unangemessen erscheint, weil solche ›Unvollständigkeiten‹ ihr eigenes ›Gesicht‹ haben können – das heißt: Sie können etwa stilistische Eigenarten exemplifizieren. Das schlichte Komplettieren würde genau solche Eigenschaften tilgen. Freilich heißt das nicht, dass solche ›Unvollständigkeiten‹ per se exemplifizieren.11 Das generelle Exemplifizieren des Nichtvorhandenen, der ›Lücken‹, würde jede noch so banale Darstellung zum Träger ›abweichendster‹, ›subversivster‹ und ›erstaunlichster‹ Theorien, sei es des Raums, der Zeit, der Sprache oder zahlloser anderer mehr machen. Wenn in einer fiktionalen Darstellung der Ausdruck Stuttgart auftritt, dann muss man möglicherweise viel über Stuttgart in der als real ausgezeichneten Welt wissen, um den fiktionalen Text zu ›verstehen‹; er spricht deshalb aber noch nicht wie ein faktualer Text über Stuttgart. Ähnlich, wenn auch etwas || 9 So Rudolf Haller: Wirkliche und fiktive Gegenstände, in: ders.: Facta und Ficta. Stuttgart 1986, S. 57–93, hier: S. 85, auch S. 89, nach der der explizite Nichtausschluss, »beliebig viele Folgerungen aus materialen Gegenstücken [der als real ausgezeichneten Welt] [...] für die Rekonstruktion der Geschichte zu verwenden« erlaube. 10 Vgl. Marie-Laure Ryan: Fiction, Non-Factuals and the Principle of Minimal Departure, in: Poetics 9 (1980), S. 403–422. 11 Vgl. auch Thomas Pavel: Incomplete Worlds, Ritual Emotions, in: Philosophy and Literature 7 (1983), S. 48–58, insb. S. 65 sowie S. 51–53.

260 | Lutz Danneberg anders verhält es sich mit dem Ausdruck Pegasus. Die Informationen über Pegasus, wenn sie für die Interpretation überhaupt als relevant erachtet werden, müssen in der Hinsicht aus der als real ausgezeichneten Welt entlehnt werden, indem sie bestimmten fiktionalen oder nichtfiktionalen Darstellungen entnommen sind, die selbst als Teile dieser als real ausgezeichneten Welt gelten. Pegasus mag in diesem Sinn auf die Pegasus-Darstellungen in der als real angenommenen Welt verweisen und so für die Interpretation relevante Informationen nahe legen, ohne dass deshalb irgendetwas, was in den Darstellungen der realen Welt fiktional wahr ist, auch in der fiktionalen Darstellung, in der der als verweisend aufgefasste Pegasus-Ausdruck vorkommt, fiktional wahr ist. Die durch fiktionale Darstellungen erzeugten fiktionalen Welten gehören der als real ausgezeichneten Welt nicht an,12 sondern ihr gehört nur das Wissen über solche fiktionalen Welten an. Wie noch zu sehen sein wird, erweist sich der Unterschied zwischen ›Wahrheit‹ und ›Referenz‹ im Blick auf fiktionale Darstellungen als wesentlich dafür, wie man mit solchen Relevanznahmen bei fiktionalen Darstellungen umgeht beziehungsweise umzugehen hat im Unterschied zum Umgang mit nichtfiktionalen Darstellungen. Bevor ich auf die Verwendung von Informationen über eine als real ausgezeichnete Welt beim Aufbau der fiktionalen Welt und dem Zugang zu ihr eingehe, will ich meine erste Grundannahme für die Zugänglichkeit einer fiktionalen Welt einführen, zu der es dann eine zweite, ähnliche, zur Relevanz des Interpretationswissens geben wird. Diese erste handlungsanleitende Grundannahme hält zur ontologischen Ausstattung einer fiktionalen Welt im Unterschied zur nichtfiktionalen fest, dass jene im Blick auf diese in spezifischer Weise immer unvollständig, immer limitiert ist.13 Aus der zweiten Annahme, also der Homogenität einer Darstellung hinsichtlich ihres fiktionalen Charakters, folgt, dass es hinsichtlich der Vollständigkeit keinen Unterschied

|| 12 Vgl. zu Hamburgers ähnlichen Überlegungen im Hinblick auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, S. 137–167. 13 Obwohl ich nicht mit allen Ausführungen einverstanden bin, heißt es bei John Heintz: Reference and Inference in Fiction, in: Poetics 8 (1979), S. 85–99, hier: S. 92: »What they [scil. authors] fail to tell us, either explicitly or by implication, simply does not exist.« David Lewis: Truth in Fiction, in: American Philosophical Quarterly 15 (1978), S. 37–46, hier: S. 43, Anm. 11, versteht das angesprochene Problem nicht: »I do not know what to make of an indeterminate world, unless I regard it as a superposition of all possible ways of resolving the indeterminacy – or, in plainer language, as a set of determinate worlds that differ in the respects in question.«

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macht, ob sich ein vollständiges Gegenstück in der als real angenommenen Welt konstruieren lässt oder nicht.14 Es gibt zwei zu unterscheidende Unvollständigkeitsbehauptungen, auf die sich meine erste Grundannahme zur Zugänglichkeit fiktionaler Welten beziehen kann: Wenn man eine nichtfiktionale Darstellung über Stuttgart hat, dann kann zu einer Beurteilung, inwieweit sich ihr eine epistemische Eigenschaft wie wahr zusprechen lässt, grundsätzlich alles Wissen über das Stuttgart in der als real ausgezeichneten Welt relevant sein. Für bestimmte Formen des Umgangs mit nichtfiktionalen Darstellungen stellt die Vollständigkeitsbehauptung nicht mehr dar als eine sanktionierbare Forderung beim wissenschaftlichen Umgang mit solchen Darstellungen. Während sich bei der Unvollständigkeitsbehauptung hinsichtlich der Informationen, die zur Interpretation einer fiktionalen Darstellungen dem Wissen über die als real angenommene Welt entnommen werden, unterschiedliche Ausprägungen unterscheiden lassen – ich komme darauf zurück –, ist das bei der Unvollständigkeitsannahme nicht der Fall, bei der es um die ontologische Mächtigkeit dessen geht, was eine als fiktional angesehene Darstellung als fiktionale Welt beherbergt. Wenn man fiktionale wie nichtfiktionale Darstellungen liest, dann wird in ihnen explizit nicht alles das gesagt, worüber sie angesichts ihrer jeweiligen Welt (als Darstellungen) sprechen. Zwei Menschen sitzen in einem Restaurant an einem Tisch, ohne dass erwähnt wird, dass beide im nichtmetaphorischen Sinn ein Herz haben. In bestimmter Hinsicht ist jede fiktionale wie nichtfiktionale Darstellung immer unbestimmt. Angenommen, es liegen zwei Darstellungen vor, in denen in dieser Hinsicht Vergleichbares gesagt wird. Man behandelt die eine als eine fiktionale, die andere als eine nichtfiktionale, und angenommen, für beide Behandlungsweisen verfügte man über ein Wissen, nach dem es einem Lebewesen ohne Herz körperlich nicht sonderlich gut geht; freilich gilt das nicht unbedingt, wenn ihm metaphorisch das Herz fehlt. Bei der einen Darstellung kann man aus dem Wohlbefinden einer Person schließen, dass sie über ein Herz verfügt, in der anderen auf der Grundlage desselben Wissens nicht unbedingt. In diesem Fall, also der fiktionalen Darstellung, kann es zudem die explizite Aussage geben, dass jemand kein Herz hat, und das kann hier wörtlich sein, dem aber die gleiche Bedeutung zukommt, wie in der ande-

|| 14 Anderer Ansicht hinsichtlich möglicher realweltlicher complete counterparts scheint Ruth Ronen: Completing the Incompleteness of Fictional Entities, in: Poetics Today 9.3 (1988), S. 497–514, zu sein, vgl. auch dies.: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, insb. S. 108–143.

262 | Lutz Danneberg ren, also der nichtfiktionalen Darstellung, die metaphorische Negierung des Besitzes eines Herzens. Wie ist nun diese erste Grundannahme für den Umgang mit fiktionalen und nichtfiktionalen Darstellungen zu verstehen, dass nämlich die fiktionale Welt selbst da, wo sich die Gegenstücke zu einer als real ausgezeichneten Welt bilden lassen, immer von geringerer ontologischer Mächtigkeit ist, als die als real ausgezeichnete Welt? Bekannt ist die wohl ironisch intendierte Frage eines englischen Literaturkritikers nach der Anzahl der Kinder von Lady Macbeth.15 Welche Absichten dieser Kritiker mit seiner Frage auch im einzelnen verfolgt haben mag, ausdrücken wollte er damit, dass es zu einer fiktionalen Darstellung formulierbare Fragen gibt, die angesichts einer ihr zugeordneten fiktionalen Welt sinnlos sind, weil sie sich grundsätzlich angesichts dieser Welt nicht beantworten lassen. Nun ist es mit Ausdrücken wie ›grundsätzlich‹ so eine Sache. Man müsste schon den einen oder anderen Grund angeben können, weshalb bestimmte Fragen angesichts der ontologischen Ausstattung fiktionaler Welten und der ihr zugeordneten Darstellung sinnlos, weil prinzipiell unbeantwortbar sind, wohingegen sie für die makrophysikalischen realweltlichen Gegenstücke grundsätzlich beantwortbar wären. Zur Verdeutlichung des Problems soll ein Beispiel dienen, und zwar die Frage, ob Don Quijote ein Marrano ist, also ein zwangsweise getaufter Jude, der insgeheim noch seinem alten Glauben anhängt. Der Text bietet so gut wie keine impliziten Hinweise, die sich überhaupt in einen thematischen Bezug zu dieser Frage stellen ließen, geschweige denn explizite. Dass von Toledo beiläufig in Cervantes’ Text als von einer Stadt gesprochen wird, in der die heiligen drei Sprachen gepflegt worden seien, ist zwar eine klare Anspielung – aber worauf?16 Die Frage erscheint somit als sinnlos. Dennoch: Don Quijote lässt seinen || 15 Vgl. Lionel Charles Knights: How Many Children Had Lady Macbeth? An Essay in the Theory and Practice of Shakespeare Criticism [1933], in: ders.: Explorations. Essays in Criticism Mainly on the Literature of the Seventeenth Century. London (1946) 21951, S.1–39. 16 Zum historischen Hintergrund und mit weiteren Hinweisen auf die Forschungsliteratur Gabriel Théry: Tolède, grande ville de la renaissance médiévale, point de jonction entre les cultures musulmane et chrétienne. Oran 1944; Tolède aux XIIe–XIIIe siècles: Muselmans, chrétiens et juifs. Le savoir et la tolérance, hg. v. Louis Cardaillac. Paris 1992; Linda Martz: Relations Between Conversos and Old Christians in Early Modern Toledo: Some Different Perspectives, in: Christians, Muslims, and Jews in Medieval and Early Modern Spain: Interaction and Cultural Change, hg. v. Mark D. Meyerson und Edward D. English. Notre Dame 1999, S. 220–240. Zu Toledo als Übersetzungsmetropole u. a. Manuel Alonso: Notas sobre los traductores toledanos Domino Gundisalvo y Juan Hispano, in: Al-Andalus 8 (1943), S. 155–188; ders: Traducciones del árabe al latín por Juan Hispano (Ibn Dāwūd), in: Al-Andalus 17 (1952), S. 129– 151; Mariano Brasa Díez: Traducciones y traductores toledanos, in: Estudios filosóficos 23

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Esstisch sonntags regelmäßig so stellen, dass er just unter den Augen seiner Nachbarn speist. Das, was er isst, hat einen metaphorischen Namen, der im gegenwärtigen Spanischen nicht mehr verständlich ist – duelos y quebrantos, Leiden und (Herz)Zerbrechen. Ich mache die Geschichte kurz. Die philologische Forschung konnte zeigen, dass Antón de Montoro, ein in der Zeit populärer spanischer Dichter und Neuchrist jüdischer Herkunft, in einem Gedicht eine Auflösung bietet: In diesem Gedicht gibt der Ausdruck duelos y quebrantos das Gefühl wieder, das einen vom Glauben seiner Vorfahren innerlich noch nicht gelösten Juden erfasst, wenn er bestimmte, nicht koschere Nahrung zu sich nimmt; die er gleichwohl isst, um seine christlichen Nachbarn von seinem neuen Glauben zu überzeugen.17 Daraus ließe sich für den Roman viel machen. Mir geht es nur um einen Punkt: Das Beispiel zeigt, dass eine vermeintlich sinnlose Frage – also, ob Don Quijote in der fiktionalen Welt ein Marrano ist – diesen Charakter durch ein kleines Wissens-Atom über die reale Welt verlieren kann.18 || (1974), S. 129–137; ders.: Las traducciones toledanas como encuentro de culturas, in: Actas del V Congreso Internacional de Filosofia Medieval, hg. v. Jorge M. Ayala. Madrid 1979, Bd. 1, S. 589–596; Douglas M. Dunlop: The Work of Translation at Toledo, in: Babel 6 (1960), S. 55– 59; José S. Gil: La Escuela de Traductores de Toledo y sus colaboradores judíos. Toledo 1985; Tolède (1085–1985): Des traductions médiévales au mythe littéraire, hg. v. Jacques Huré. Paris 1985; Serafín Vegas González: La Escuela de Traductores de Toledo en la historia del pensamiento. Toledo 1998. 17 Vgl. Bruce W. Wardropper: Duelos y quebrantos, Once Again, in: Romance Notes 20 (1979/80), S. 413–416; auch ders.: An Apology for Philology, in: MLN: Modern Language Notes 102 (1987), S. 176–190, hier: S. 187–188. – Die Frage nach einem verborgenen jüdischen Bedeutungsgehalt des Don Quijote ist schon früher gestellt worden, so bei Dominique Aubier: Don Quichotte, prophète d’Israël. Paris 1966; ferner Leandro Rodríguez: Don Miguel, judío de Cervantes. Santander 1978 (dazu weitere Schriften dieses Juristen); Ruth Reichelberg: Don Quichotte ou le roman d’un Juif masqué. Paris 1999; José Faur: Don Quichotte: un talmudiste au passé souillé, in: Le Juif caché: marranisme et modernité, hg. v. Shmuel Trigano. Paris 2000, S. 159–168. Freilich finden sich etwa für eine so kühne These, dass Cervantes’ Werk ein Kommentar des Zohar sei, nicht mehr als allegorische Ausdeutungen oder etymologische Lautähnlichkeiten zum Hebräischen. Unklar ist zudem, aus welchen Quellen der wohl nicht des Lateins, geschweige denn des Hebräischen oder Aramäischen hinlänglich mächtige Cervantes geschöpft haben könnte. Die Vermutung, er selbst sei ein cristiano nuevo gewesen, ließ sich bislang nicht hinlänglich erhärten. Das duelos-y-quebrantos-Beispiel, philologisch wohl der stärkste Beleg, scheint – wenn ich es richtig sehe – keine Rolle in den genannten Interpretationen zu spielen. 18 Das Beispiel dürfte auch einem Kriterium der Grenze dessen widerstreiten, worüber eine fiktionale Darstellung spricht, wie es Rudolf Haller (implizit) anzunehmen scheint, wenn es bei ihm heißt, vgl. ders.: Wirkliche und fiktive Gegenstände, S. 76: »[...] Ob Eduard – in der Geschichte, die Goethe erzählt – an jenem Aprilnachmittag, von dem am Beginn der Wahlverwandtschaften die Rede ist, ein grünes Halstuch getragen hat oder nicht, wissen wir nicht und

264 | Lutz Danneberg Sinnlose Frage sind solche, zu deren Beantwortung man über kein in irgendeiner Hinsicht relevantes Wissen verfügt. Davon zu unterscheiden sind irrelevante Antworten. Irrelevant ist die Antwort auf eine sinnlose, aber auch sinnvolle Frage, wenn sie interpretationsneutral ist. Nicht alle sinnvollen und nicht alle Fragen, die sich angesichts einer fiktionalen Welt beantworten lassen, müssen als Antworten für die Interpretation der fiktionalen Darstellung relevant sein. Obwohl der Verfasser einer fiktionalen Darstellung zugleich der Schöpfer ihrer fiktionalen Welt ist, obwohl er also seinen Leser an seinem privilegierten Zugang teilnehmen lassen kann und man daher über eine fiktionale Welt ein Wissen erlangen kann, das einem im Blick auf die als real angenommenen Welt unter Umständen verwehrt bleibt, besagt meine erste Grundannahme: Die ontologische Welt einer fiktionalen Darstellung besitzt immer geringere Mächtigkeit als die als real ausgezeichnete Welt. Wichtiger aber ist, dass anhand des DonQuijote-Beispiel zugleich gezeigt wird, dass der Grenzverlauf dieses ›Mangels‹ ein Resultat des Entdeckens in der fiktionalen Welt ist, genauer gesagt: Es gibt immer Fragen, womöglich unbegrenzt viele, die hinsichtlich einer fiktionalen Welt zu stellen sinnlos sind. Sie lassen sich aber nicht direkt benennen, sondern nur einkreisen, indem man entdeckt, wie man den Kreis der sinnvollen Fragen und relevanten Antworten ausweitet – und das erscheint als das Geschäft der Philologie. Ein zweites Beispiel: Angenommen, man hat eine fiktionale Nero-Erzählung; ferner sei angenommen, es fehlt jegliche Überlieferung in der als real angesehenen Welt, ob Kaiser Nero ein Muttermal in der Gestalt einer züngelnden Flamme auf seinem Rücken gehabt hat – und für bestimmte Erklärungen nichtkausalen Typs seines Handelns könnte das sogar wichtig sein. Zudem sei angenommen, dass die Mikrobiologie sich so entwickelt habe, dass aus wenigen, aber sicher zuschreibbaren Gen-Spuren Neros sich diese Frage beantworten lässt – natürlich im Sinn meines Beispiels mit einem Ja. Hat dann in der erzählten fiktionalen Welt der Nero, der einen Gegenpart in der realen Welt besitzt, ebenfalls dieses flammende Muttermal? Wenn die Antwort allein aus einem Wissen über die reale Welt gewonnen ist, dann besitzt der Nero der fiktionalen Darstellung das Muttermal nicht. Mein drittes Beispiel macht die Pointe vielleicht noch deutlicher. Angenommen, in einer älteren Erzählung tritt ein Mathematiker auf, von dem es heißt,

|| können wir nicht wissen, weil im Text von keinem Halstuch die Rede ist.« Oder Thomas Pavel: The Borders of Fiction, in: Poetics Today 4.1 (1983), S. 83–88, hier: S. 83: »This question [scil. die nach der Anzahl der Kinder von Lady Macbeth] is impossible to answer; radically impossible, since no progress of science would ever clarify the situation.«

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ihm sei ein (gültiger) Beweis des Fermat’schen Theorems gelungen. Freilich wird kaum jemand überrascht sein, in dieser Erzählung nichts oder nur wenig über den Beweis selbst zu erfahren. Die fiktionale Welt besteht in der Tat aus einem Mathematiker, der einen Beweis für das Fermat’sche Theorem gefunden hat, aber dieser Beweis selbst ist kein Bestandteil der fiktionalen Welt. Für den Nichtmathematiker (aber wohl auch für nicht wenige Mathematiker) ist dieser Beweis zwar Teil ihrer realen Welt, aber nicht deshalb, weil sie ihn nachvollziehen könnten, sondern weil sie einem entsprechenden Es-gibt-Satz mit guten Gründen in der realen Welt zustimmen können. Die fiktionale Ontologie mit diesem Beweis zu bestücken, hieße, mit ihr wie mit einer realen umzugehen. Fiktionale Welten sind löchrige Welten, aber deshalb nicht unbedingt fragile Gebilde. Mithin: Jede fiktionale Welt ist im Blick auf eine beliebige als real ausgezeichnete Welt unvollständig. Meine zweite Grundannahme für die Zugänglichkeit fiktionaler Welten besagt, dass nicht alles Wissen, über das man hinsichtlich der als real ausgezeichneten Welt verfügt, für die Zugänglichkeit einer fiktionalen Welt relevant sein kann. Die beiden ersten Grundannahmen hängen wie folgt miteinander zusammen: Während die erste nur sagt, es gibt bezogen auf eine fiktionale Welt Fragen, die ihrer ontologischen Ausstattung wegen zu stellen sinnlos sind (auch wenn wir nicht sicher wissen, wo die Grenzen verlaufen), sagt die zweite, dass das selbst dann der Fall sein kann, wenn sich diese Fragen auf Gegenstände oder Konstellationen beziehen, die nicht nur ihre Gegenstücke in der als real ausgezeichneten Welt besitzen, sondern sich sogar die entsprechenden Fragen für die reale Welt mittels unseres Wissens beantworten lassen. Anders als bei der ersten Grundannahme und dem in ihr festgehaltenen, immer vorhandenen, aber nicht direkt bestimmbaren ontologischen Mangel fiktionaler Welten lässt sich bei der zweiten mehr über das Wissen sagen, das als irrelevant anzusehen ist, indem sich bei den relevanten Informationen eher die Grenze bestimmen lässt als bei der ontologischen Unvollständigkeit. Der Grund erhellt sich anhand meiner dritten Grundannahme zur Zugänglichkeit fiktionaler Welten und zum Umgang mit fiktionalen wie nichtfiktionalen Darstellungen, die gewissermaßen das Herzstück bildet. Es gibt verschiedene intuitive Zugänge zu dieser Grundannahme, aber ich will das abkürzen und gleich zur Kritik an einer bestimmten Intuition kommen, vor der sich dann die dritte Grundannahme als angemessener darstellt. Der Gedanke, der meine dritte Grundannahme inspiriert, ist der der Autodeterminiertheit des Zugangs zur fiktionalen Welt, und zwar allein durch die als fiktional angesehene Darstellung. Es gibt eine Reihe von Versuchen, diesen Gedanken schärfer zu fassen; durchweg kann ich mich mit diesen Versuchen nicht anfreunden. Eines dieser Beispiele ist, dass man die Sätze in einer als fiktional angesehenen Darstellung

266 | Lutz Danneberg als quasi-analytische Sätze auffasst, die als wahr gesetzt behandelt werden und die so die fiktionale Welt konstituieren.19 Nun ist es offenkundig naiv zu meinen, in einem fiktionalen Text könnten selbst alle (explizit) auftretenden Sätze eines primären Erzählers im Blick auf die autodeterminierte fiktionale Welt als fiktional wahr behandelt werden. Eine Theorie der Zugänglichkeit fiktionaler Welten, die die Möglichkeit eines unzuverlässigen Erzählers ignoriert, ist sicherlich nicht besonders attraktiv. Den Gedanken der Autodeterminiertheit der fiktionalen Welt durch die als fiktional aufgefasste Darstellung möchte ich so verstehen: Zu fiktionalen Welten gibt es immer nur einen einzigen Zugang, nämlich über die Interpretation der als fiktional angesehenen Darstellungsgesamtheit – oder anders formuliert: Jede Darstellung, die wir als nichtfiktional, also als reale Welt auffassen, ist multivial, hat also mindestens zwei Zugänge. Ich resümiere: Zwei Annahmen habe ich vorausgesetzt: Die spezifische Unerkennbarkeit des fiktionalen Status von Darstellungen sowie die Eigenschaft ›fiktional‹ als eine Makroeigenschaft von Darstellungsgesamtheiten. Vier Grundannahmen habe ich aus dem hermeneutischen Zugang für den Umgang mit fiktionalen Darstellungen gewonnen: Erstens: Die ontologische Welt einer fiktionalen Darstellung ist im Vergleich zur als real ausgezeichneten Welt immer begrenzt, ohne dass sich die Grenze vorab ziehen lässt. Zweitens: Nicht jedes Wissen, über das man hinsichtlich der als real ausgezeichneten Welt verfügt, kann für die Zugänglichkeit einer fiktionalen Welt relevant sein. Drittens: Zu fiktionalen Welten gibt es immer nur einen einzigen Zugang, nämlich über die Interpretation der als fiktional angesehenen Darstellungsgesamtheit – oder anders formuliert: Jede Welt, die wir als nichtfiktional, also als reale Welt auffassen, ist multivial. Viertens: Einerseits sind nicht alle an einer fiktionalen Darstellung zu entdeckenden Eigenschaften relevant für den Zugang zur dargestellten fiktionalen Welt; andererseits sind nicht alle Beobachtungen, die man in einer fiktionalen Welt machen kann, Teil dieser fiktionalen Welt. Enden möchte ich mit der Skizze für die Bedingungen der Widerlegung meiner Kritik am Kompositionalismus. Als Widerlegung könnten solche fiktionalen Texte gelten, die zumindest eine Wahrheit über die als real angesehene || 19 Eine hiermit vergleichbare Auffassung findet sich bei Robert M. Martin und Peter K. Schotch: The Meaning of Fictional Names, in: Philosophical Studies 26 (1974), S. 377–388, u. a. S. 386: »One of the surprising results of our analysis is that everything [...] said about Hamlet truly, is an analytic truth. [...] Hamlet, then amounts to a collection [...] of stipulative definitions.«

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Welt enthalten, die – und jetzt kommen die einschränkenden Bedingungen – intendiert, die konkret ist und die für die Interpretation relevant ist. Inwieweit etwa Rolf Hochhuths Der Stellvertreter hinsichtlich des Verhaltens von Papst Pius XII. angesichts der nationalsozialistischen Massenvernichtung diese Bedingungen erfüllt, wäre Thema eines neuen Aufsatzes.

J. Alexander Bareis

Käte Hamburgers Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit Abstract: The following article discusses the second major theoretical work by Käte Hamburger, Truth and Aesthetic Truth (Wahrheit und ästhetische Wahrheit) from 1979, which deals with the concept of truth in relation to literature. The article provides a reconstruction of Hamburger’s primary line of argument: the concept of truth has no bearing on the concept of (fictional) literature. The following analysis shows the relationship between Hamburger’s understanding of the concept of truth and her underlying concept of fictionality, as developed in The Logic of Literature (Die Logik der Dichtung). Hamburger’s strict refusal to afford the concept of truth any bearing on the realm of literature is contrasted with two different suggestions for how to make use of the concept of truth in relation to literature in a meaningful fashion: the concept of ›fictional truth‹ as used within analytical philosophy, which is a way to provide truthful statements about literature, and the concept of receiving truth and knowledge through literature.

Einleitung Käte Hamburgers Monographie mit dem prägnanten Titel Wahrheit und ästhetische Wahrheit erschien im Jahr 1979 in Stuttgart bei Klett-Cotta.1 Es ist nach der Logik der Dichtung die zweite, großangelegte systematische Auseinandersetzung Hamburgers mit den Grundlagen ihrer Disziplin. Nach dem Fiktionsproblem folgte das damit nicht gänzlich unverwandte und ebenfalls notorisch diskutierte Wahrheitsproblem. Es lässt sich vieles darüber sagen, in welchem Verhältnis diese beiden Monographien zueinander stehen, angefangen mit einer Reihe von Gemeinsamkeiten – zunächst einmal der gewohnt sachliche, um größte Genauigkeit bemühte Ton der sprachlichen Darstellung; das Bemühen, den grundlegendsten Fragen der Disziplin eine Antwort zu geben; oder auch die ausgesprochen trocken und pointiert formulierte Kritik an gedanklichen Inkonsequenzen anderer Theoretiker. Gleichwohl lassen sich auch eine Reihe von gewichtigen Unterschieden erkennen: Die Logik der Dichtung ist, || 1 Direkte Zitate aus Wahrheit und ästhetische Wahrheit werden im Folgenden unter der Sigle WäW direkt im Text in Klammern unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.

270 | J. Alexander Bareis scheint es mir, die Untersuchung mit dem größeren systematischen Anspruch, sie ist wohl auch mit einem höheren theoretischen Aufwand betrieben und sicherlich in mancher Hinsicht sehr viel radikaler in ihren Schlussfolgerungen als die über zwanzig Jahre später erschienene Monographie zur Wahrheit. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass die Logik der Dichtung die Studie Wahrheit und ästhetische Wahrheit in ihrem Bekanntheitsgrad bei weitem übertrifft. Aber ein Vergleich dieser beiden Arbeiten Hamburgers zu Grundfragen der Theorie der Literatur, so fruchtbar diese Aufgabe sicherlich sein mag, ist nicht die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Vielmehr soll es im Weiteren darum gehen, zunächst eine genaue Rekonstruktion der Argumentationsweise zum Wahrheitsbegriff in der Literatur zu erarbeiten. Auf welche Weise untersucht Hamburger die Frage nach der Wahrheit, und was exakt beinhaltet die Frage nach einem Begriff der ästhetischen Wahrheit für Hamburger? Um dies zu beantworten, werden in der folgenden Rekonstruktion auch die theoriegeschichtlichen und systematischen Kontexte berücksichtigt, in denen Wahrheit und ästhetische Wahrheit zu verorten ist.

1 Wahrheit Ein partieller Vergleich mit der Logik der Dichtung wird dabei allerdings auch in der folgenden Auseinandersetzung mit Wahrheit und ästhetische Wahrheit unumgänglich bleiben, denn die Diskussion des Wahrheitsbegriffs Hamburgers muss naheliegender Weise auf die theoretische Grundlegung, auf Hamburgers grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Logik der Dichtung rückbezogen werden. Die spätere Monographie zum Wahrheitsbegriff ist ausdrücklich keine neue Auseinandersetzung mit oder gar Revision der grundlegenden literaturtheoretischen Arbeiten der Autorin, sondern baut in vielerlei Hinsicht auf das Fundament der Logik der Dichtung auf – und zwar deutlicher, aber stellenweise auch auf eine andere Art und Weise, als dies in der Forschung zu Wahrheit und ästhetische Wahrheit bisher dargestellt wurde. Deshalb soll auch der Vergleich der beiden Monographien noch einmal als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen dienen: 1957, als die erste Ausgabe der Logik der Dichtung erschien, aber auch schon in den hierzu vorläufigen Aufsätzen seit 1951,2 war die

|| 2 Vgl. Käte Hamburger: Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), H. 1, S. 1–26; Das epische Präteritum, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und

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theoretische Herangehensweise Hamburgers sicherlich von größerer Exklusivität, das heißt von einer – und ich meine das gänzlich positiv – Andersartigkeit im Vergleich zur herrschenden Praxis des Faches, die für den Band Wahrheit und ästhetische Wahrheit von 1979 kaum in gleicher Weise in Anspruch genommen werden kann – was ebenfalls nicht als Kritik missverstanden werden soll. Denn einerseits ist die Herangehensweise auch in Wahrheit und ästhetische Wahrheit nicht ohne Originalität, andererseits fiel der Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht wie im Falle der Logik in einen Zeitraum, in dem das darin ausgedrückte »Denksystem« so große Aufmerksamkeit erregen konnte, wie dies in den 1950er und auch noch 1960er Jahren der Fall war, als Hamburgers Logik der Dichtung in erster und zweiter Auflage erschien.3 Denn als Käte Hamburger ihre Wahrheits-Studie Ende der 1970er Jahre publizierte, verfügte die zeitgenössische Philosophie bereits über ein ausgesprochen weit ausgearbeitetes Feld unterschiedlicher Wahrheitstheorien, die von Hamburger auch zur Kenntnis genommen wurden, wie beispielsweise im folgenden Zitat sichtbar wird, wenn sie auf die »heute vor allem gültigen Korrespondenz- oder Übereinstimmungstheorie[n]« (WäW16, Hervorhebung im Original) verweist und in der Fußnote auf die Arbeiten der Philosophen Joseph Möller, Wahrheit als Problem von 1971, des Theologen und Heidegger-Schülers Lorenz Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie aus dem Jahre 1978, oder die Suhrkamp-Anthologie des norwegischen Philosophen Gunnar Skirbekk, Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert aus dem Jahr 1977, hinweist.4 Hamburgers Monographie von 1979 befindet sich also auf dem Stand der damaligen Forschung und beschäftigt sich mit einem Thema, das in den späten 1970ern ein besonderes Interesse erfuhr. So wird die Suhrkamp-Anthologie von || Geistesgeschichte 27 (1953), H. 3, S. 330–357, sowie Die Zeitlosigkeit der Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), H. 2, S. 413–426. 3 Hamburgers Wahrheit und ästhetische Wahrheit wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu dem die »Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft« insbesondere durch linguistische Ansätze intensiv vorangetrieben wurde, vgl. Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller: Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ansprüche, Strategien, Resultate, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10 (1979), H. 1, S. 162–191. Zu den gänzlich andersartigen Voraussetzungen zur Zeit der Veröffentlichung der Logik der Dichtung vgl. die breit angelegte Untersuchung von Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013, die gerade die auch für die damalige Zeit extreme Hochschwelligkeit der begrifflichen Vorannahmen von Hamburgers Logik minutiös herausarbeitet. 4 Joseph Möller: Wahrheit als Problem. Traditionen – Theorien – Aporien. München, Freiburg 1971; Lorenz Bruno Puntel: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritischsystematische Darstellung, Darmstadt 1978; Gunnar Skirbekk: Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1977.

272 | J. Alexander Bareis Hamburger fortlaufend noch herangezogen, zum Beispiel in der direkt anschließenden Diskussion von Tarskis Wahrheitstheorie, die Hamburger zunächst explizit in die Nähe des Aristoteles rückt und dann als semantische Theorie der Wahrheit bezeichnet. Was in Skirbekks Anthologie übrigens fehlt, ist der grundlegende Aufsatz von Jürgen Habermas mit dem Titel Wahrheitstheorien, der bereits 1973 erschienen war, der allerdings in der Anthologie deshalb nicht enthalten ist, weil er für eine spätere Folge vorgesehen war.5 Den Namen Habermas und eine Auseinandersetzung mit einer Konsenstheorie der Wahrheit sucht man demzufolge vergeblich im Register von Hamburgers Monographie. Nur kurz erwähnt Hamburger direkt im Anschluss an die Diskussion von Tarskis Kohärenztheorie – und auch nur in Bezug auf die Kritik, die bereits im Wiener Kreis an ihr geübt wurde –, dass »ein solches Kohärenzkriterium der Wahrheit ebenso gut für ein erdichtetes Märchen gelten könne« (WäW17). Als Ausgangspunkt für ihr weiteres Unterfangen sieht Hamburger die »Korrespondenztheorie, die auch noch der semantisierten Tarskis zugrunde liegt, fruchtbarer als die Kohärenztheorie, die im Grunde keinen sinnvollen Begriff von Wahrheit mehr definiert« (WäW18). Dies ist in Kürze das Hauptanliegen des ersten Teils des Buches und deckt die Frage nach dem ersten Teil des Titels ab: Was ist zunächst einmal genau mit dem Begriff »Wahrheit« gemeint? Dies soll nicht ausschließlich in Bezug auf philosophische Verwendungsweisen geschehen, sondern auch die Frage klären, wie man sich einer Bestimmung des Wahrheitsbegriffs induktiv annähern könne, also unter Bezugnahme auf sowohl philosophische als auch alltagssprachliche Verwendungsweisen.6 Hierzu liefert Hamburger neben der Diskussion des philosophischen Wahrheitsbegriffs im ersten Teil ihrer Abhandlung auch eine Fülle von Beispielen der Verwendung des Wahrheitsbegriffs in gänzlich anderen Zusammenhängen. In Beispielen aus der Stuttgarter Zeitung und der Wochenzeitung Die Zeit – aus dem »kaum erwähnenswerten Grund«, dass sie eben just jene Zeitungen lese – untersucht sie auch Beispiele des Wahrheitsbegriffs in der Alltagssprache. Ihre Methode sei deshalb induktiv, weil sie »der Beobachtung des Vorkommens, des Gebrauchs der Begriffe der Wahrheit und des Wahrseins sowohl in den philosophischen Theorien als auch, und nicht zuletzt, im Alltagsgebrauch unseres Sprechens und Lebens« (WäW11) nachgehe, um dem Phänomen der Wahrheit || 5 Skirbekks Anthologie erschien im Herbst 2012 in mittlerweile 11. Auflage – der Beitrag von Habermas ist aber nach wie vor darin nicht enthalten, ebenso wenig ist ein weiterer Band erschienen. 6 Kritisch zu Hamburgers induktiver Vorgehensweise stellt sich Karl-Heinz Finken: Die Wahrheit der Literatur. Studien zur Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts. New York u. a 1993. Auf seine Einwände wird weiter unten noch einmal eingegangen.

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näher zu kommen. Man könnte deshalb also methodologisch von einer induktiven Phänomenologie sprechen. Gleichzeitig, hierin unterscheidet sich Wahrheit und ästhetische Wahrheit von der Logik der Dichtung, ist die Bezugnahme auf die Phänomenologie im späteren Werk explizit auf Husserl ausgerichtet, während die Logik, wie Claudia Löschner in ihrer umfassenden Arbeit zum Denksystem der Logik der Dichtung überzeugend zeigt, eine Phänomenologie im ausdrücklich nicht Husserlschen Verständnis darstellt.7 Noch gravierender im Vergleich zur Logik der Dichtung ist aber sicherlich die Hinwendung zur Induktion, die für die Logik praktisch keine Rolle spielt. Vielmehr handelt sich bei der Logik um ein kohärentes Denksystem, das zwar hin und wieder auch die Phänomenologie der Dichtung und alltägliche Redeweisen darüber anspricht, sie aber keinesfalls zum Ausgangspunkt oder als Mittel der Eingrenzung des Untersuchungsbereichs heranzieht. Wahrheit, so schließt Hamburger den ersten Teil ihrer Untersuchung ab, ist eine Kategorie der Realität. Sowohl in den alltagssprachlichen Verwendungsweisen wie auch in ihrer ersten Diskussion unterschiedlicher philosophischer Wahrheitstheorien scheint ihr ein solcher Wahrheitsbegriff der einzig sinnvolle, der »die Identität von Wahrheit mit einem der-Fall-sein« definiert und Wahrheit als eine Kategorie der Realität begreift, wobei Realität »hier im weitesten Sinne verstanden werde, der auch die höhere, die Glaubensrealität umfaßt« (WäW45). Dass Hamburger in Bezug auf den Glauben dennoch von Realität spricht, mag erstaunen; es ergibt sich aus der Sichtweise der Logik der Dichtung, in der Wirklichkeit in erster Linie als ein »Bewusstseinsphänomen« betrachtet wird.8 Wirklichkeit ist demzufolge nicht über den Wahrheitsgehalt einer Aussage definiert, sondern dadurch, dass es sich um eine Aussage handelt. Man muss die Grundannahmen der Logik der Dichtung hinzuziehen, um diese Sichtweise verständlich zu machen. Eine Aussage impliziert Hamburger zufolge stets ein empirisches, erlebendes Aussagesubjekt; dieses wiederum bedingt einen Wirklichkeitsbezug. Auch wenn dadurch nicht zwingend Wahrheit hergestellt wird, so ergibt sich aus dem Wirklichkeitsbezug zumindest Wahrheitsfähigkeit. Damit ist allerdings noch nichts über die Sachrichtigkeit der Wirklichkeitsaussage gesagt, denn ein wirkliches Aussagesubjekt kann selbstverständlich einen subjektiv verzerrten Wirklichkeitsbezug aufweisen.9 Wahrheitsfähigkeit bedeutet eben nicht notwendigerweise auch Wahrheit. Nur durch ein nicht-wirkliches

|| 7 Claudia Löschner: Denksystem, S. 151. 8 Ebenda, S. 189. Aus diesem Grund greift auch die Kritik von Karl-Heinz Finken (Die Wahrheit der Literatur) zu kurz. 9 Vgl. Claudia Löschner: Denksystem, S. 143.

274 | J. Alexander Bareis Subjekt wie im Bereich der Fiktion kann ein nicht-wirklicher Objektbezug entstehen. Dies wiederum betrifft die Wahrheitsfähigkeit, die dem Bereich der Fiktion deshalb notwendigerweise versagt bleiben muss. Wahrheit ist für Hamburger demzufolge identisch mit dem »der-Fall-sein«, und Wahrheitsfähigkeit ist eine Eigenschaft, die nur der Wirklichkeitsaussage zukommen kann. Mit dem Maßstab eines solchen Wahrheitsbegriffs, der in seinen Prämissen auf die Logik der Dichtung aufbaut, diese in Wahrheit und ästhetische Wahrheit allerdings nicht deklariert, unternimmt Hamburger daran anschließend die eigentliche Untersuchung, die sich nun nicht mehr dem ersten Teil des Titels widmet, der Wahrheit allgemein, sondern dem zweiten Teil, dem Begriff der ästhetischen Wahrheit.

2 Ästhetische Wahrheit Den Begriff der ästhetischen Wahrheit untersucht Hamburger in einem zweiten Schritt mittels einer genauen Befragung der Konzeptionen von Wahrheit in ausgewählten ästhetischen Theorien, und zwar bei drei Denkern der Kunstphilosophie: Hegel, Heidegger und Adorno. Eine ausdrückliche Motivation der Auswahl gerade dieser drei Ästhetiker findet sich nicht. Neben dem bereits erwähnten Beitrag von Habermas wäre wahrscheinlich Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode der dringlichste Kandidat für eine eingehende Auseinandersetzung gewesen. Hamburger diskutiert Gadamer zwar, allerdings nur in begrenztem Ausmaß und allein in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Adorno. Eine ausführliche Diskussion mit Gadamers ästhetischer Philosophie bleibt also aus. Über die Gründe hierfür ließe sich bestenfalls spekulieren. Hamburger widmet also ihre hauptsächliche Aufmerksamkeit den kunstphilosophischen Schriften Hegels, Heideggers und Adornos, die alle drei an zentralen Stellen in ihren Schriften einen ästhetischen Wahrheitsbegriff verwendet haben. Ihre Untersuchung dieser Schriften, man muss dies so direkt konstatieren, ist der trocken-pointierte, stellenweise elegante, bisweilen allerdings auch zu kurz geführte Nachweis, dass bei diesen drei Kunstphilosophen ein Begriff der ästhetischen Wahrheit Verwendung finde, der in höchstem Maße unklar sei. Burghard Damerau zufolge weist Hamburger den drei »Meisterdenkern [...] konzeptionelle Mängel bis ins Absurde nach«.10 Damerau, der selber

|| 10 Burghard Damerau: Pro und Contra. Zu Käte Hamburgers Kritik der ästhetischen Wahrheit, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika

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eine über 500 Seiten starke Habilitationsschrift über das Thema Die Wahrheit der Literatur vorgelegt hat,11 die allerdings im Gegensatz zu Hamburger zu einem positiven Ergebnis in der Frage nach einem sinnvollen ästhetischen Wahrheitsbegriff kommt, charakterisiert Hamburgers Befunde wie folgt: »Hegel mag also einen Begriff der Wahrheit haben, aber er sei irrelevant für den interpretierenden Umgang mit Kunstwerken. Einen brauchbaren Begriff von spezifisch ästhetischer Wahrheit hat er demnach nicht.«12 Dies entspricht auch voll und ganz dem Eindruck, den man heute bei einer Re-Lektüre von Hamburgers Untersuchung und Auseinandersetzung mit der Kunstphilosophie Hegels gewinnt. Hamburger erteilt Hegels ästhetischem Wahrheitsbegriff eine eindeutige Absage. Zu befragen und zu rekonstruieren wäre allerdings, worauf genau dieser Befund beruht. Hamburger untersucht zunächst das Hegelsche Verständnis der Wahrheit in ihrem Verhältnis zum Schönen, das sich, wie Hamburger herausarbeitet, durch eine »etwas gewaltsame Gleichsetzung von wahr und schön« (WäW51) und unter Berufung auf Platons Gedanken der Wahrheit der Idee manifestiert. Hierbei ist für Hamburger in erster Linie von Bedeutung, »daß – mehr als wie« (WäW52) diese Gleichsetzung bei Hegel zustande kommt. Gleichwohl zeichnet Hamburger diesen Weg ein gutes Stück weit nach und schreibt Hegel den Befund zu, dass Wahrheit als höchste Instanz noch vor die Schönheit zu setzen sei, und zwar weil sie eine göttliche Wahrheit sei: »Wahrheit verschwebt damit zu einer Idee von nicht einmal mehr ontischer Qualität«, denn die »ihr zugesprochene Göttlichkeit wird als ein inneres, subjektives Wissen« bestimmt (WäW54). Aber auch andere Verwendungsweisen des Wahrheitsbegriffs, die Hamburger aus den ästhetischen Schriften Hegels exzerpiert, genügen nicht ihren Ansprüchen an einen sinnvollen und haltbar definierten Wahrheitsbegriff. Deutlich wird hierbei auch, wie Hamburgers Deutung der Quellentexte durch das eigene Begriffsverständnis geprägt ist. Erkennbar wird dies etwa an der Schlussfolgerung, dass ein von Hegel diskutiertes Verständnis einer höheren, möglicherweise ästhetischen Wahrheit Hamburger zufolge gleich das »Gegenteil« (WäW60) ihres eigenen Wahrheitsbegriffs bedeuten muss: Nichtübereinstimmung von Realität und Begriff. Anstatt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass »mit der Beschreibung von großen Taten und Ereignissen, die ein wahrhaft künstlerischer Geschichtsschreiber liefert, welcher uns ein viel höhe|| Schaser. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Band 8). Göttingen 2003, S. 115–128, hier: S. 116. 11 Burkhard Damerau: Die Wahrheit der Literatur. Glanz und Elend der Konzepte. Würzburg 2003. 12 Burkhard Damerau: Pro und Contra, S. 117.

276 | J. Alexander Bareis res, wahreres Bild desselben entwirft, als dasjenige sein würde, das wir aus eigener Anschauung gewinnen«, etwas zustande kommt, das als eine Form von Wahrheit bezeichnet werden könnte, muss ein solches Verständnis notwendigerweise gleich das Gegenteil von Wahrheit sein, und nicht etwa eine andere Art von Wahrheit, die sich möglicherweise sinnvoll als ein ästhetischer Wahrheitsbegriff bestimmen ließe.13 Denn darin, argumentiert Hamburger, besteht das große Problem. Die Verwendung des Wahrheitsbegriffs in diesen Fällen ist durchweg »ungenau, unspezifisch« – sie zeichnet sich durch »mangelnde Bezeichnungskraft« aus (WäW61) und entspräche somit nicht Hamburgers wissenschaftlichen Ansprüchen. Fraglich bleibt allerdings, ob eine Verwendungsweise, die nicht der exakt eigenen Begriffsverwendung entspricht, notwendigerweise dadurch gleich das Gegenteil des eigenen Begriffs bezeichnet. An Stellen wie diesen deutet sich an, dass die Positionen anderer Denker von Hamburger nicht immer angemessen erfasst und gemäß einem principle of charity beurteilt werden. In einem nächsten Schritt diskutiert Hamburger den Ansatz des Kunstphilosophen Conrad Fiedler, dessen Rede von Wahrheit und Wirklichkeit erzeugender Kunst ebenfalls als »willkürliche Verschiebung und Umdeutung der Begriffe« (WäW67) charakterisiert wird. Zwar erkennt Hamburger in Fiedlers Formulierungen einen wichtigen Denker für die Arbeit an der Logik der Dichtung wieder, nämlich den neukantianischen Erkenntnistheoretiker Hermann Cohen,14 doch sieht sie in Fiedlers vergleichbarer Vorgehensweise, erkennendes Denken als Erzeugen auch und gerade von Realität aufzufassen, für den Bereich der Kunst als grundlegend fehlgeleitet an. Was bei Fiedler fehle, und dies habe er mit den meisten anderen Denkern gemeinsam, die der Kunst die Funktion, Wahrheit kundzutun, zuschreiben, sei das Fehlen einer konkreten Demonstration dieser Funktion an einem Kunstwerk selbst: »Denn in solchen Fällen heißt es sozusagen Farbe bekennen, heißt es, das Was solcher Wahrheit festzustellen und zu benennen« (WäW68). Ein solch seltener Fall des Farbebekennens sei der berühmte Vortrag Heideggers »Der Ursprung des Kunstwerks« von 1933, in dem Heidegger das Gemälde Souliers aux lacets (Schuhe mit Schnürsenkeln) von Vin-

|| 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, Kapitel III. »Das System der einzelnen Künste«, III. »Die romantischen Künste«, 2. »Die besondere Bestimmtheit der Malerei«, 2c »Die künstlerische Konzeption, Komposition und Charakterisierung«, zitiert nach Hamburger WäW61. 14 Zur Bedeutung von Cohen als »entscheidender Einfluss für Käte Hamburgers Denkentwicklung«, vgl. Claudia Löschner: Denksystem, hier: S. 105, sowie den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band.

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cent van Gogh als »Geschehnis der Wahrheit« bezeichnet. Hamburger konstatiert: Der auf das Bild, die gemalten Schuhe, angewandte Wahrheitsbegriff ist durch die Verallgemeinerung ja Verabsolutierung der angewendeten Kategorien Zeug, Seiendes, Sein des Seienden so weit von der Sache selbst entfernt worden, daß auch er keine Bezeichnungsfunktion mehr hat. Gemalte Schuhe können höchstens ein Seiendes ›eröffnen‹, nämlich das Sosein dieser Schuhe. Doch ist es ein falscher Anspruch der Philosophie, einem einzelnen Kunstwerk die Funktion zuzuerkennen, ›die Unverborgenheit des Seienden‹ zu eröffnen oder, auf den Künstler bezogen, ›im Schaffen‹ hervorzubringen (59) und damit die Wahrheit ins Werk zu setzen, die bei Heidegger ein mit der Unverborgenheit des Seienden identischer Begriff oder Ausdruck ist. In einem weiteren Sinne ist auch diese dem gedeuteten Kunstwerk zugeschriebene Wahrheit ein subjektives Urteil [...]. (WäW74, Herv. i. Orig.)

Es sei hinzugefügt, dass Hamburger diesen Eindruck der subjektiven Interpretation Heideggers dadurch verstärkt, dass sie Heideggers Ausführungen recht umfassend zitiert – wohl nicht nur der heutige Leser kann sich dabei des von Hamburger sicherlich beabsichtigten Resultates nicht erwehren, sondern wahrscheinlich bereits auch der Leser Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre: Heideggers Interpretation des van-Gogh-Bildes ist in der Tat in höchstem Maße subjektiv und sein Weg zur ästhetischen Wahrheit sein gänzlich privater. Mehr noch, so Hamburger, sei es ein »falscher Anspruch der Philosophie«, den Heidegger stellt; demzufolge sei auch der Begriff der Wahrheit bei Heidegger ein Begriff, der seine »Bezeichnungsfunktion« (WäW74) verloren habe. Es wird also einmal mehr deutlich, dass Hamburgers Kritik sich auf die aus ihrer Sichtweise falsche Verwendungsweise des Wahrheitsbegriffs bezieht, und dass dieser Hamburgersche Wahrheitsbegriff ein solcher ist, der Wahrheitsfähigkeit allein der Aussage, die immer eine Wirklichkeitsaussage sein muss, vorbehält. Wahrheit bleibt für Hamburger eine Kategorie der Realität, die Kunst hingegen sei Schein. Die Axiome der Logik der Dichtung behalten ihre Gültigkeit. Höchst pointiert weist Hamburger darauf hin, dass die elaborierte Auslegung des Gemäldes van Goghs ihrer Meinung nach genauso gut bezogen auf »ein reales Paar solcher Schuhe« durchgeführt hätte werden können – eine Auslegung – »sollte es dem Philosophen wirklich entgangen sein«? –, die sie schlicht als »Erschleichung« bezeichnet (WäW71). Was Hamburger allerdings nicht in diesem Zusammenhang aufgreift, ist die Fortführung der Diskussion bei Heidegger anhand eines griechischen Tempels, die Heidegger gerade dazu nutzt, um einen solchen Einwand abzuwehren: Aber meinen wir denn, jenes Gemälde van Goghs male ein vorhandenes Paar Bauernschuhe ab und sei deshalb ein Werk, weil ihm dies gelinge? Meinen wir, das Gemälde entnehme dem Wirklichen ein Abbild und versetze dies in ein Produkt der künstlerischen [...]

278 | J. Alexander Bareis Produktion? Keineswegs. [...] Mit welchem Wesen welchen Dinges soll denn ein griechischer Tempel übereinstimmen?«15

Mit anderen Worten: Heideggers nächstes Beispiel, der griechische Tempel, kann gerade nicht durch den wirklichen Gegenstand ersetzt werden, wie Hamburger es für das Gemälde der Schuhe behauptet. Sollte dies Hamburger wirklich entgangen sein? Wohl kaum. Fast wäre man versucht, von einer ›Erschleichung‹ zu sprechen. Eine Beurteilung des Heideggerschen Ansatzes strebe ich hier nicht an; Hamburgers Kritik mag im Ganzen stichhaltig sein, doch die Darstellung der Position Heideggers, dies ist deutlich geworden, erweist sich hier als unzulässig verkürzt. Einmal mehr kann man konstatieren, dass Hamburgers Darstellungen des Ansatzes von Heidegger nicht dem principle of charity folgt. Betrachten wir nun Hamburgers Befund zur ästhetischen Wahrheit im Falle des dritten Philosophen: Theodor Adorno. Hamburger beginnt damit, die »kryptische Ausdrucksform Adornos«, die »parataktische, d. h. weniger argumentierend herleitende als konstatierende, in hohem Maße sentenzenhafte Darstellungsweise« (WäW77) von Adornos ästhetischer Theorie hervorzuheben, die geprägt sei von Absolutsetzungen der Begriffe ›Kunstwerk‹ und ›Wahrheit‹. Einen größeren Kontrast zu ihrer eigenen Darstellungsweise könnte Hamburger kaum formuliert haben. Sowohl die Charakterisierung der Wissenschaftsprosa als auch die herausgearbeitete Definition des Wahrheitsbegriffs in Adornos ästhetischer Theorie ist, da bestehen wohl kaum Zweifel, zutreffend. In den Worten eines eher empathischen Adorno-Exegeten wurde dieser Befund jüngst einmal mehr bestätigt: »Adorno führt [...] den ästhetischen Wahrheitsbegriff ad absurdum. Der Begriff der ästhetischen Wahrheit ist aporetisch.«16 Hamburger konstatiert in ihrer seitenlangen und sehr detaillierten Analyse der ästhetischen Theorie Adornos, in der sie sehr genau eine Vielzahl unterschiedlicher Verwendungsweisen des Wahrheitsbegriffs nachzeichnet, auf die ihr eigene, lapidare Weise, dass die »nahezu tautologische Aussage, daß der Wahrheitsgehalt der Werke über ihr Wahr- oder Falschsein an sich entscheidet, den Begriff der Wahrheit in das Offene des Nichtfaßbaren, ja Sinnentleerten [entläßt]. In der Ästhetik Adornos erweist sich Wahrheit als ein zwar heuristischer, aber leerer Begriff« (WäW89). Sie fasst ihren Befund zu Hegel und Heidegger wie folgt zusammen:

|| 15 Martin Heidegger: Holzwege. Frankfurt a. M. (1950) 82003, S. 22. 16 Thilo Hagendorff: Ästhetische Wahrheitstheorien nach Rorty, in: Critica. Zeitschrift für Philosophie und Kunsttheorie 2 (2011), S. 2–24, hier: S. 19.

Käte Hamburgers Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit | 279 Bei Hegel wird die Definition von Wahrheit als einer Ideenkonstellation ausschließlich im philosophischen Bereich vorgenommen und findet keine rechte Anwendung mehr in der praktischen Kunstbetrachtung. In Heideggers Kunstphilosophie dient ein bestimmt definierter, ontologisch fundierter Wahrheitsbegriff zur Bezeichnung eines bestimmten, von dem Philosophen herausgelesenen Bedeutungsgehalts am Beispiel eines Gemäldes und wird zum Geschehnis der Wahrheit am Kunstwerk verallgemeinert. (WäW88)

Nun könnte man in Anschluss an Hamburgers eigene Formulierung zu Heidegger und unter Berufung auf frühere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Hamburgers Wahrheit und ästhetische Wahrheit die Frage stellen, ob es sich bei ihrem eigenen Wahrheitsbegriff ebenfalls um einen ontologischen handelt. Wie bereits Burghard Damerau bemerkt hat, wurde ihr unter anderen von Georg Bollenbeck ein »statischer, quasi ontologischer Wahrheitsbegriff«17 zugesprochen, während Damerau selbst diesen Sachverhalt als einen wechselnden charakterisiert: »Hamburger schreibt also in ihrem changierenden ontologischen Wahrheitsbegriff den Tatsachen selbst das Attribut des Wahrseins zu, während sich diese Tatsachen nur in Aussagen fassen lassen.«18 Doch gerade dies scheint mir das entscheidende Problem bei der Einschätzung der Hamburgerschen Position als einem ontologischen Wahrheitsbegriff zu sein: Wohl ist es die Aussage, der allein es möglich ist, auf Wirklichkeit Bezug zu nehmen, doch entscheidend ist das Subjekt, »das über den Grad der Wirklichkeit des Objekts, d. i. die Objektivität der Aussage entscheidet«.19 Damerau bringt es, wie mir scheint, ein wenig zu drastisch auf den Punkt: »Prinzipiell ist also der Begriff der ästhetischen Wahrheit bei Hegel wie bei Heidegger, bei Adorno wie bei Benjamin, bei Hartung wie bei allen anderen, mit einem Wort: Unsinn.«20 Dies entspricht kaum der subtilen und trockenen Argumentationsweise Hamburgers, ist aber zumindest insofern eine korrekte Einschätzung Dameraus, als damit ausschließlich eine analytisch relevante Verwendung des Begriffs der ästhetischen Wahrheit gemeint ist. In dieser Hinsicht findet Hamburger keinerlei sinnvolle Verwendungsweisen – bei keinem der angeführten Denker. Aber der Eindruck, der dabei leicht entstehen könnte, dass Hamburger die Modelle dieser Denker damit im Ganzen als Unsinn bezeichnet, oder eben auch nur die Verwendung des ästhetischen Wahrheitsbegriffs explizit || 17 Georg Bollenbeck: Anmerkungen zu Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, in: Grenzüberschreitungen. Friedenspädagogik, Geschlechter-Diskurs, Literatur – Sprache – Didaktik. Festschrift für Wolfgang Popp zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerhard Härle. Essen 1995, S. 55–61, hier: S. 58. 18 Burkhard Damerau: Pro und Contra, S. 121. 19 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 73. 20 Burkhard Damerau: Pro und Contra, S. 119.

280 | J. Alexander Bareis als Unsinn bezeichnen würde, dieser Eindruck trifft allerdings nicht zu – auch wenn aus dem für Hamburger typischen »spröde-nüchterne[n] Darstellungsgestus« stellenweise »hervorbrechende[r] Furor« herausgelesen werden kann, wie Löschner in Bezug auf den Stil in der Logik der Dichtung formuliert.21 Wir sind damit noch nicht am Ende der Rekonstruktion der Gedankengänge, die Hamburger bezüglich des Phänomens der Wahrheit und der Bedeutung eines Begriffs der ›ästhetischen Wahrheit‹ anstellt. Nach dem negativen Befund eines fundierten Begriffs der ästhetischen Wahrheit in der Kunstphilosophie geht Hamburger nun der Frage nach der ästhetischen Wahrheit in gerade dem Bereich der Kunst nach, der ihr hierfür besonders prädestiniert scheint: der Dichtung, die für Hamburger eine Sonderstellung in Bezug auf den Wahrheitsbegriff einnimmt. Hier kommen ganz offensichtlich die Einsichten Hamburgers zur klassischen Gattungstrias und ihren Befunden in der Logik der Dichtung zum Tragen: Wahrscheinlichkeit im Sinne von »als wahr und wirklich erscheinen« kann ein ästhetisches Problem nur im Bereiche der Fiktivität – das aber ist der literarischen Fiktion – werden, nicht in dem der bildenden Kunst. Der Begriff der Fiktion als ästhetischer Begriff enthält den Sinn, Fiktion d. i. Schein von Leben zu sein und wird allein von der erzählenden und dramatischen Dichtung, d. h. von der Figurendichtung erfüllt. Denn der Schein des Lebens wird in der Kunst allein durch die Person als einer lebenden, denkenden, sprechenden Ichperson erzeugt. (WäW99)

Doch auch hier erweist sich der Begriff der ästhetischen Wahrheit als ein leerer bzw. funktionsloser, wie sie anhand von Walter Benjamins Interpretation der Wahlverwandtschaften deutlich werden lässt. Einzig den Bereich der »modernen Sprachphilosophie, Linguistik und Semantik (vorwiegend angelsächsischer Provenienz)« (WäW113) misst Hamburger zumindest ein gewisses Geltungspotential zu. Aber trotz dieses ersten, vorsichtig positiven Befunds fällt das Urteil am Ende auch hier nicht gnädig aus. Searles Sprechakttheorie kritisiert sie anhand eines Beispielsatzes als »primitiv genug, um leicht widerlegt werden zu können« (WäW116). Schwierig wird es auch in der daran folgenden Schussfolgerung in Bezug auf die Referenz von Eigennamen, Ortsangaben und anderen potentiell wahrheitsfähigen Bezugnahmen in fiktionalen Texten. Denn auch hier, so Hamburger, lässt sich nichts sinnvoll als wahr bezeichnen: Denn sobald diese Sätze in der Fiktion stehen, sei es im erzählenden Bericht, oder gar in der Rede der fiktiven Personen, sind sie jeglichen Erkenntniswertes entkleidet, haben sie mit Freges Ausdruck keine »Bedeutung«, sind sie nicht-»referentiell« und damit nichtbe|| 21 Claudia Löschner: Denksystem, S. 188.

Käte Hamburgers Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit | 281 hauptend. Das besagt: sie können zum Zwecke historischer oder geographischer oder auch biographischer Erkenntnis und Information nicht benutzt werden. Die noch so geschichtstreue Schilderung der Schlacht von Waterloo in »Les Misérables«, in der keine fiktive Person auftritt, kann nicht als Information für eine historische Darstellung dienen. Deshalb nicht, weil sie, als Teil des Romans, eine bestimmte Funktion allein für die Romanhandlung und Romanwelt hat und in dieser Funktion an diese und keine andere Stelle des Romans gesetzt ist. (WäW117)

Diese kategorische Ablehnung fußt selbstverständlich auf den Einsichten aus der Logik der Dichtung, in der die Trennung zwischen Wirklichkeit und NichtWirklichkeit und somit zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion ebenso kategorisch eingeführt und begründet wird. Doch lässt sich natürlich einwenden, dass Rezipienten geschichtstreuen Schilderungen wirklicher Ereignisse im Rahmen eines Romans eine ›referentielle Bedeutung‹ beimessen können.22 Der Rezensent Bernd W. Seiler merkt dann auch an, dass dieser Standpunkt nicht unproblematisch ist – möglichweise sollte man die Frage nach der Wahrheit der geschilderten Sachverhalte in einem Roman nicht stellen, man kann es allerdings ganz bestimmt, denn sonst wäre es ja zunächst gar nicht möglich, von einer »noch so geschichtstreuen Schilderung« zu sprechen. Und ebenso gut möglich ist gerade auch eine Intention der Autoren, Wahres über Wirkliches zu sagen. Diese Intention kann dann auch Gültigkeit im Rahmen einer Interpretation beanspruchen – zumindest soweit sie sich einem hypothetischen Intentionalismus verpflichtet fühlt. Exemplifizieren ließe sich dies mit einem Zitat aus einem Gespräch zwischen Sinn und Form-Redakteur Sebastian Kleinschmidt und Autor Daniel Kehlmann: sk/ [Sebastian Kleinschmidt] Glauben Sie, daß man einen historischen Roman auf Wahrheit und Irrtum, Wahrheit und Lüge befragen kann, einen Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt, aber nicht? dk/ [Daniel Kehlmann] Ja, richtig. Weil der ›normale‹ historische Roman vorgibt zu wissen, wie es gewesen ist, kann man ihn fragen, ob das, was er beschreibt, wirklich so war. Während der anspruchsvolle Gegenwartsroman eben ein ästhetisches Werk ist und nichts anderes sein will.23

|| 22 Vgl. dazu auch den Beitrag von Lutz Danneberg in diesem Band. 23 Daniel Kehlmann und Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch. Reinbek 2010, S. 72. Der an dieses Zitat anschließende Satz ist allerdings rätselhaft angesichts des zuvor ausgedrückten Standpunktes: »Die Frage nach der Wahrheit ist eine außerästhetische Frage.« Würde dies nicht notwendigerweise bedeuten, dass der historische Roman keine Ästhetik besitzt?

282 | J. Alexander Bareis Die Frage nach der Wahrheit lässt sich also ohne Zweifel stellen, fraglich ist allerdings, ob es sich hierbei um eine Frage nach der ästhetischen Wahrheit handelt. Eine folgerichtige Konsequenz der Verneinung wäre allerdings, dass jeglicher Form politisch engagierter Literatur ästhetischer Wert abgesprochen werden müsste. Ein derartig verkürztes Verständnis von engagierter Literatur scheint mir allerdings höchst fragwürdig. Nach Hamburgers Kritik an Searle folgt eine ebenso kritische Auseinandersetzung mit der Gegenüberstellung unterschiedlicher Satzarten durch Monroe C. Beardsley und eine mehrseitige Auseinandersetzung mit Gottfried Gabriels Studie Fiktion und Wahrheit, die 1975 ebenfalls in Stuttgart erschienen war. Völlig zurecht, dies wird von Gabriel in seiner englischsprachigen Replik in der Zeitschrift Poetics 1982 auch explizit eingeräumt,24 kritisiert Hamburger die fälschliche Unterscheidung von Autor und primärem Sprecher in dessen Studie – der primäre Sprecher existiere ja nur als Romantext und könne ja gerade nicht für seine Aufrichtigkeit in Bezug auf Aussagen oder Reflexionen, denen Gabriel Wahrheitswert zugesteht, geradestehen. Wie Gabriel konzediert, könne man allenfalls noch von Wahrheitsangeboten sprechen, da Sprechakte nur von wirklichen Sprechern durchgeführt werden könnten. Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass sowohl Gabriel als auch Seiler in ihren jeweiligen kritischen Anmerkungen zu Hamburgers Kritik den sachlichen Ton ihrer Kontrahentin leider nicht durchgehend beibehalten. In beiden Fällen kommt es, wie bereits von anderen Wissenschaftlern in Bezug auf die Reaktionen zur Logik der Dichtung herausgearbeitet, zu rhetorischen Entgleisungen.25 In seiner negativen Besprechung sucht Seiler beispielsweise die Gründe für Hamburgers »Scheitern« in ihrer Biographie: »Es mag mit der wissenschaftlichen Biographie der Vf. zu tun haben, daß sie hier an Normen festhalten zu müssen glaubt, die sich doch an ihrer eigenen Argumentation so unübersehbar in Frage stellen.«26 Und so spricht Gabriel beispielsweise von einer »fixation on the concept ›truth‹«, ihre Haltung wird als dem Positivismus vergleichbar kritisiert, und Gabriels Beurteilung gipfelt schließlich in der Aussage, ihre »sympathy towards emotivism,

|| 24 Gottfried Gabriel: Fiction and Truth, Reconsidered, in: Poetics 11 (1982), H. 4–6, S. 541–551, hier: S. 544. 25 Vgl. Julia Mansour: »Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroversen um Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247. 26 Bernd W. Seiler [Rez.]: Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, in: Poetica 13 (1981), S. 149–155, hier: S. 155.

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though not stated explicitly, is evident«.27 Die entsprechende Stelle, an welcher nach Gabriel dieser »emotivism« offensichtlich sein soll, sticht allerdings keineswegs durch eine unbestreitbar auffallend affektive Qualität hervor.28 Positivistische Gefühlshuberei ist also ein Vorwurf, der schlechterdings auf den Anklagenden selbst zurückfällt. Doch zurück zu Käte Hamburgers Untersuchung und ihrem Befund bezüglich der ästhetischen Wahrheit, insbesondere für den Fall der Dichtung. Ihr Buch gipfelt – dies fügt sich zu den bisherigen Betrachtungen – in einer grundlegenden und absoluten Absage an ein wie auch immer denkbares Konzept einer ästhetischen Wahrheit mit der Feststellung: »Der Bereich der Kunst und der Bereich der Wahrheit [sind] voneinander getrennte Bereiche« (WäW143).

3 Schluss Ich möchte meine Auseinandersetzung mit Hamburgers Monographie Wahrheit und ästhetische Wahrheit damit abschließen, die kategorische Ablehnung eines jeglichen Wahrheitsbegriffes in Bezug auf die Ästhetik kurz kritisch zu hinterfragen und aufzuzeigen, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, auf sinnvolle Weise die Rede von einer ästhetischen Wahrheit zu begründen. Allein die Tatsache, dass auch heute noch in der Wissenschaft von ästhetischer Wahrheit gesprochen wird, scheint mir Anlass genug, zumindest einige Möglichkeiten einer sinnvollen Verwendung des Begriffs kurz zu skizzieren.29 Es ist auf mindestens || 27 Gottfried Gabriel: Fiction, S. 548. 28 Gabriel verweist auf Seite 139 in Hamburgers Wahrheit und ästhetische Wahrheit, wo Edgar Alan Poe und Gottfried Benn ausführlich mit rigorosen Absagen an einen Wahrheitsbegriff in der Literatur zitiert werden. Eine besonders emotionale Argumentationsweise seitens Hamburgers ist – zumindest mir – weder an dieser noch an anderer Stelle aufgefallen. Burkhard Damerau: Pro und Contra, S. 119, verortet die Stelle, an der Hamburger »selbst besonders engagiert war«, stattdessen bei der Absage der saloppen Bemerkung Rudolf Hartungs, der Rilke »viel Unwahres in sich« unterstellt hat (WäW127). Hamburger wird an dieser Stelle besonders explizit und nennt dies eine »emotionale, geschmäcklerische Anwendung des Wahrheitsbegriffs« (WäW127). 29 Weitere Beispiele für die Verwendung des Begriffs einer ästhetischen Wahrheit finden sich in Fülle, vgl. zuletzt Anne Eusterschulte: Mimesis oder ›ästhetische Wahrheit‹. Berlin, New York 2013; Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers, in: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, hg. v. Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2005, S. 365–402; Raúl Fornet-Ponse: Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Untersuchungen zu Hans Georg Gadamer. Aachen 2000.

284 | J. Alexander Bareis zweierlei Art möglich, auch im Bereich der Ästhetik sinnvoll von Wahrheit zu sprechen. Erstens mittels des Begriffs der fiktionalen Wahrheit, der vielleicht auf den ersten Blick wie eine contradictio in adjecto anmutet, aber beispielsweise in der ästhetischen Philosophie und der Fiktionstheorie anglo-amerikanischer Provenienz eine zentrale Rolle spielt.30 Es ist möglich und zweifellos einsichtig, gewissen Aussagen wie beispielsweise »Sherlock Holmes ist Pfeifenraucher« einen Wahrheitswert (in der Fiktion) zuzusprechen. Ebenso ist es sinnvoll und einsichtig, der Aussage »Sherlock Holmes ist Fan des VfB Stuttgart« einen Wahrheitswert (in Bezug auf die Fiktion) abzusprechen. Aber die hier vorgeschlagene Verwendungsweise eines Begriffs der fiktionalen Wahrheit ist eine uneigentliche Verwendung des Wahrheitsbegriffs, wenn man diesen als Wahrheit über die Wirklichkeit verstehen möchte, wie Hamburger dies tut. Fiktionalen Sätzen eine Wahrheitsfähigkeit über Wirklichkeit abzusprechen ist sicherlich gerechtfertigt, wenn man wie Hamburger von einer Definition des Wahrheitsbegriffs ausgeht, die von einem »der-Fall-sein« in der Wirklichkeit ausgeht. Gleichzeitig ist eine Verwendung des Wahrheitsbegriffs in Bezug auf Fiktion nicht völlig leer und nutzlos, wie der Begriff der fiktionalen Wahrheit sehr wohl zeigt. Was von Hamburger in keiner Weise in Betracht gezogen wird, und dies ist die zweite sinnvolle Art, über ästhetische Wahrheit zu sprechen, ist die Möglichkeit, anhand fiktionaler Sätze wahre Überzeugungen zu erwerben. Mir scheint, dass ein Großteil der Beispiele, die von Hamburger induktiv wie systematisch aus gewöhnlicher Rede ebenso wie aus wissenschaftlich-ästhetischer Rede extrahiert und diskutiert werden, eine solche Beziehung zur Wahrheit haben könnten, die nun anhand der Diskussion des Wahrheitsbegriffs in Tilmann Köppes Literatur und Erkenntnis aufgezeigt werden soll.31 Köppe stimmt einerseits (wenn auch ohne explizite Bezugnahme) mit Hamburger überein, dass fiktionale Sätze in Bezug auf die Wirklichkeit nicht wahrheitsfähig seien. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass man deshalb nicht aus Literatur lernen könne – nicht zuletzt auch etwas Wahres über die Wirklichkeit: »Auch fiktionale Rede kann gebraucht werden, um etwas über die Wirklichkeit zu verstehen zu geben, und zwar ohne dass ein Autor nicht-fiktionale singuläre Terme verwenden müsste, oder, allgemeiner gesprochen, ohne dass er den Modus der fiktio-

|| 30 Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge 1990; Peter Lamarque and Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994. 31 Tilmann Köppe: Literatur und Erkenntnis. Studien zur Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. Paderborn 2008.

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nalen Rede in irgendeiner Weise aufgeben müsste.«32 Dabei würde es aber zu kurz greifen, wenn man diese Möglichkeit allein darauf beschränkte, dass etwaige fiktionale Rede nur dann etwas Wahres über Wirklichkeit ausdrücken könnte, wenn es sich um fiktionale Sätze handelt, die gleichlautend sind mit nichtfiktionalen Sätzen: Der Satz »Köln liegt am Rhein« in einem Roman ist eine Aussage über das fiktionale Köln des Werkes, nicht aber über das wirkliche Köln. In Köppes formalisierter Sprechweise: In manchen Fällen enthält das Werk fiktionale Sätze, die als Beschreibungen der Wirklichkeit wahr wären. Nennen wir, der Kürze halber, solche fiktionalen Sätze ›p‹ und die entsprechenden Sachverhalte in der Wirklichkeit ›X‹. Oft liegt es nahe zu sagen, dass p und ein Satz pw, der nicht fiktional ist und X zutreffend beschreibt, homophon sind. Die Sätze ›klingen‹ gleich bzw. bestehen aus demselben Sprachmaterial (denselben Wörtern), aber sie bringen unterschiedliche propositionale Gehalte zum Ausdruck, weil die Wörter zur Bezugnahme auf unterschiedliche (fiktive bzw. wirkliche) Gegenstände und Sachverhalte verwendet werden. In einem solchen Fall ist also nicht p wahr über die Wirklichkeit sondern vielmehr der (gleich lautende) Satz pw.33

Es sind also gerade nicht solche mehr oder wenig zufällig homophonen Sätze relevant für das Aneignen von Wahrheit über Wirklichkeit qua Fiktion, sondern gerade auch solche Sätze, die als nicht-wahrheitsfähig (über die Wirklichkeit) herangezogen werden, d. h. derartige fiktionale Reden, die weder als homophon zu nicht-fiktionaler Rede noch als wahr (in Bezug auf die Wirklichkeit) betrachtet werden, die aber dennoch in weiterem Sinne zur Bildung eines wahren Wissens über die Wirklichkeit herangezogen werden können. Dies klingt zunächst einmal sinnwidrig, leuchtet bei näherem Hinsehen doch ein: Köppe zufolge basiert die »irrige Auffassung, von der Wahrheit (oder Wahrheitswertfähigkeit) fiktionaler Sätze hinge ab, ob man aus fiktionaler Literatur etwas über die Welt lernen kann«, auf zwei Missverständnissen: Man geht entweder vom Modell der nicht-fiktionalen Sachtexte aus, für die ein klares Korrespondenzverhältnis gilt, das aber so nicht einfach auf die fiktionale Literatur übertragen werden kann. Der zweite Irrtum Köppe zufolge ist die Annahme, die Frage des Wirklichkeitsbezugs fiktionaler literarischer Werke sei beschränkt auf die Wahrheitswertfähigkeit. Man könne, so Köppe, eine Menge über die Welt zu verstehen geben, ohne einen einzigen wahren oder wahrheitswertfähigen Satz gesprochen zu haben – sinnfälliges Beispiel sei die Ironie.34 Und in diesem Sinne scheint es mir ohne weiteres einleuchtend, der fiktionalen Literatur zumindest nicht katego|| 32 Ebenda, S. 102. 33 Ebenda, S. 101. 34 Ebenda, S. 102

286 | J. Alexander Bareis risch jegliche Möglichkeit des Nahelegens von Wahrheit von vornherein abzusprechen, wie dies schließlich der Standpunkt Hamburgers ist. Fiktionale Literatur kann uns dabei helfen, Wahres zu erfahren, und ein derartiger Begriff der ästhetischen Wahrheit scheint mir, unter der Bedingung entsprechend genauer Restriktionen, in der Tat sinnvoll. Ob fiktionale Rede, also Literatur, sich besonders gut dazu eignet, wahre Annahmen über die Wirklichkeit nahezulegen, ist dagegen eine weit problematischere und aufgrund der Diversität der Literatur nicht pauschal beantwortbare Frage. Davon einmal abgesehen, so meine ich, ist Käte Hamburgers Wahrheit und ästhetische Wahrheit ein großes Buch einer großen Denkerin, die einmal mehr, wie bereits in der Logik der Dichtung, mit ungemein analytischem Scharfsinn eine Reihe von grundlegenden Beobachtungen und Schlussfolgerungen dargelegt hat, die für die Theorie der Literatur und die Entwicklung des Fachs von zentraler Bedeutung gewesen sind und es auch heute, wenn auch mit Einschränkungen, immer noch sind. Deutlich geworden ist auch, dass Hamburgers Argumentation bezüglich des Wahrheitsbegriffes fest verankert ist in den Grundlagen, die sie Jahrzehnte zuvor mit der Logik der Dichtung geschaffen hatte. Insbesondere die Verankerung des Wahrheitsbegriffs im Wirklichkeitsbegriff führt die Wahrheitsfähigkeit der Aussage in das Zentrum der weiteren Überlegungen. Das Subjekt der Wirklichkeitsaussage ist es nämlich, das letztlich erst die Wahrheitsfähigkeit der Aussage garantiert. Mit Bezug auf die Logik der Dichtung formuliert Löschner dies wie folgt: »Hamburger, so könnte man dies zuspitzen, verdonnert die Sprache zur Wahrheitsfähigkeit, indem sie sie automatisch an ein reales Subjekt anbindet und so gewissermaßen ›in ein Stück Wirklichkeit eingipst‹.«35 Die Fiktion stellt nach Hamburger den Sonderfall einer subjektlosen Sprache dar, folglich bleibt ihr die Wahrheitsfähigkeit notwendigerweise versagt und der Begriff der ästhetischen Wahrheit ein für Hamburger nicht aufzulösender Widerspruch.

|| 35 Claudia Löschner: Denksystem, S. 134.

Claudia Löschner

Glossar

Die Einträge des Glossars erläutern zum einen Kernbegriffe, die Hamburger teils geprägt, in jedem Fall zentral genutzt hat, zum anderen Kontexte, die für ein wissenschaftshistorisch sensibles Verständnis von Hamburgers Arbeiten relevant sind. Die Erläuterungen dieser Begriffe beruhen auf den Ergebnissen meiner wissenschaftshistorisch kontextualisierenden Dissertation (Freie Universität Berlin 2012)1 und weiteren Recherchen, unter anderem im Käte-HamburgerNachlass des DLA Marbach. Zur Vertiefung wird verwiesen auf Ausführungen der bisherigen Käte-Hamburger-Forschung sowie auf die Beiträge dieses Bandes. Der Schwerpunkt der Auswertung liegt auf der Begrifflichkeit, die Käte Hamburger in der Logik der Dichtung mit systematischem Anspruch verwendet.

Ästhetik Ä. wird in der Logik der Dichtung aus der um 1920 einflussreichen → Kunstwissenschaft des Kreises um Max Dessoir heraus verstanden: Das Ästhetische wird im nachidealistischen Zeitalter von der Kunst entkoppelt und als ein alle Alltagsbereiche durchdringendes Phänomen betrachtet. Zugleich wird der Kunstbegriff universalisiert, die Kunst aller Kulturen und Epochen soll gleichrangig untersucht werden – ein bewusster Gegenakzent zur Tradition der an Wertung und Kanon orientierten und historische Unterschiede herausarbeitenden Kunstgeschichte. Methodisch strebt Dessoir eine Empirisierung bzw. Verwissenschaftlichung (mit Mitteln der experimentellen Psychologie) an (Max Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, in den Grundzügen. Stuttgart 1923). Die Logik der Dichtung spezifiziert dieses Programm für die Literatur. Dem entspricht der Anspruch, historische Epochen übergreifend Aussagen über Dichtung aller Wertstufen treffen zu können. Universell gültige Regeln sollen aufgestellt werden, denen auch das »Liebesgedicht eines Primaners« (LdD203) unterliegt. Diese Regeln werden in eine umfassende → Sprachlogik eingeordnet. Sie setzt eine in den Phänomenen selbst liegende, am Material der Sprache objektiv aufzeigbare Eigenart von Dichtung ins Verhältnis zum allgemeinen Sprachgebrauch (→ Wirklichkeitsaussage). Hamburger will »aus dem Gebiete der allgemeinen Dichtungsästhetik eine Logik der Dichtung heraus[]sondern« (LdD1). Dies ist als Eingriff von außerhalb zu verstehen, eine Leistung des »Logiker[s] der Dichtung, [der] nachdem er das seine getan, zurücktreten und die

|| 1 Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger. Berlin 2013.

288 | Claudia Löschner weitere Arbeit der Dichtungserhellung dem Ästhetiker überlassen muss«. Der Logiker verändert die Disziplin, was »der Ästhetiker […] nicht außer acht lassen darf, will er zu adäquater, die Phänomene erfassender ästhetischer Beurteilung kommen« (LdD1). Anschaulichkeit Der Begriff A. profiliert ein Konzept der Dichtung als Sprachkunst, die auf (unanschauliche), reine Begrifflichkeit setzen muss. Diese Auffassung ist wiederkehrender Referenzpunkt in der Logik der Dichtung. Die Dichtung braucht aus Hamburgers Perspektive den bildhaft gestaltenden Künsten nicht nachzueifern, vielmehr verschafft die Begrifflichkeit der literarischen Fiktion Überlegenheit. Bei der Erzeugung eines → »Scheins von Leben« ist sie im Vorteil, durch die Darstellung des sprachlich strukturierten »inneren Sinns« der Gestalten vermag sie ein »anschaulicheres Jetzt« (LdD66) zu vermitteln. Demnach übertragt die Begrifflichkeit der Sprache Ideen direkt, wohingegen dieselben durch Anschauung nur exemplarisch, nur vermittelt zu Bewusstsein gebracht werden können. Die Begrifflichkeit der Fiktion ermöglicht → »intensive«, d. h. bloße Einzelanschauung übersteigende Erkenntnis zu vermitteln. Aussage A. bedeutet in der Logik der Dichtung stets → Wirklichkeitsaussage. Die Gleichsetzung von A. und Wirklichkeitsaussage sowie überhaupt die Grundunterscheidung zwischen Wirklichkeitsaussage und → Fiktion rekonstruiert Julia Mansour als Hauptschwierigkeit für die Rezeption (»Fehdehandschuh des kritischen Freundesgeistes«. Die Kontroversen um Käte Hamburgers »Die Logik der Dichtung«, in: Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007, S. 235–247). Aussagehaltung Es gibt zwei grundlegende A.en entsprechend den zwei Funktionen der Sprache: → Aussagen und → Erzeugen. Aus ihnen wiederum leitet Hamburger kombinatorisch vier Grundmodi ab, drei von ihnen sind Grundmodi der Wirklichkeitsaussage, die durch drei spezifische »Haltungen« des Aussagesubjekts bedingt sind: das »lyrische«, das »historische« und das »epische Ich« (LdD19). Als vierten Sprach- und Denkmodus wird die »erzeugende Funktion« (die Fiktion) gesetzt. Es manifestieren sich darin sehr konkrete Annahmen über ein → Denksystem, das wahrscheinlich unter anderem Anregungen aus der → Denkpsychologie um Oswald Külpe erhalten hat. Aussagesubjekt Bei jeder Sprachverwendung, die in einem Wirklichkeitszusammenhang steht, ist nach Hamburgers Begriff der → Wirklichkeitsaussage ein reales A. vorhanden.

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Aussagerelation Der Begriff A. drückt aus, dass zwischen einem Sprachgebilde und seinem Verursacher ein angebbares raum-zeitliches Verhältnis besteht. Dies ist nur der Fall in der Wirklichkeitsaussage, in der Fiktion besteht dagegen »keine Aussagerelation« (LdD83), sondern eine »Nicht-Relation« (LdD29) – aufzufassen als eine »erzeugende Funktion« (LdD78 und passim). Aussagestruktur A. meint die Struktur der Wirklichkeitsaussage, die Subjektund Objektpol enthält und diese miteinander verbindet. Das Modell greift ein allgemein bekanntes, das von Karl Jaspers präzisierte »Problem der SubjektObjekt-Spaltung der Erkenntnis« auf: »Das, was wir denken, von dem wir sprechen, ist stets ein anderes als wir, ist das, worauf wir, die Subjekte, als auf ein gegenüberstehendes, die Objekte, gerichtet sind. […] Wir nennen diesen Grundbefund unseres denkenden Daseins die Subjekt-Objekt-Spaltung. Ständig sind wir in ihr, wenn wir wachen und bewußt sind« (Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. München 1959, S. 24–25). Aussagesystem Das A. umfasst eine Bandbreite an Sprachverwendungsmöglichkeiten, die die → Wirklichkeitaussage zulässt. Zugrunde liegt die Aufteilung in »zwei völlig verschiedene, verschiedene Zwecke verfolgende Funktionen« der Sprache: → Aussagen und → Erzeugen. »[D]ie erzählende Dichtung, und in ihrem sozusagen systematischen Gefolge die dramatische, [werden] aus dem Aussagesystem der Sprache ausgeschieden.« In räumlicher Metaphorik ist auch die Rede vom »Aussagegebiet« (LdD148) und vom »Ort«, den eine Aussage darin einnimmt. Gemeint ist eine Skala, auf welcher Äußerungen nach ihrer Sach-/ Objekt- oder Subjektorientierung anzuordnen sind. »Der allzu räumliche Begriff des Gebietes (und allzu abstrakte des Systems) ist daher zu transponieren in den zunächst bloß logischen der Aussage selbst, die definitorisch als Aussage eines Subjekts über ein Objekt (bzw. Sachverhalt), graphisch als eine zwischen diesen beiden Polen sich erstreckende Skala dargestellt werden kann« (LdD148). Ballade Die Ballade in ihrer Eigenschaft als erzählendes Gedicht wird als eine der → Sonderformen der Dichtung klassifiziert. Diese werden in der Logik der Dichtung in einem separaten Kapitel abgehandelt, da in ihnen ein möglicher Einwand gegen die neue Gattungseinteilung (→ Gattung / Gattungssystem) besteht. So handelt es sich bei der B. um eine Mischform zwischen Epik und Lyrik, insofern scheint sie zunächst dem Ansatz einer strikten Trennung dieser beiden Gattungen zu unterlaufen. Diese Belastung wird umgelenkt, die Sonderformen als Überkreuzungen eingeordnet, die sich in Hamburgers System zwar beschreiben lassen, jedoch als Ausdruck eines »mangelnden Kunstbewusst-

290 | Claudia Löschner sein[s]« (LdD218) abgewertet werden. (Zum Umgang mit den herausfordernden Gattungskreuzungen allgemein siehe auch → Sonderformen.) Dem Problem der B. steht das → Bildgedicht nahe. Begriffssymbole B. sind bestimmte sprachliche Elemente, die in der Fiktion bedeutungsverändert auftreten, sie »verblassen« (LdD72), insofern sie nur noch ihre rein semantische Bedeutung tragen, die ihnen im → Symbolfeld der Sprache zukommt. Dies trifft im Besonderen auf kontextbezogene Ausdrücke zu, etwa Angaben zu zeitlichen und räumlichen Beziehungen. Die Einteilung in kontextbezogene und semantische Bedeutungskomponenten folgt Karl Bühlers Aufteilung in verschiedene »Felder« der Sprache, nach der das »Zeigfeld« die Bedeutung der deiktischen Ausdrücke regelt, während das »Symbolfeld« die semantisch eindeutig bestimmten »Nennwörter« umfasst (vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie: die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934, S. 153, die ausführlich in der Logik der Dichtung zitiert wird, u. a. S. 67–69). Beseelung / Umbeseelung Die Konzepte B. und U. basieren auf der Grundannahme, dass jede sprachliche Äußerung von dem Äußerungsträger beseelt, das heißt auf sein Erleben bezogen ist und erst durch Hinzunahme seiner Person interpretiert werden kann. Beim Übertritt von der Wirklichkeitsaussage in die Fiktion erfolge eine ›Umbeseelung‹: Das Gesagte bezieht sich nicht mehr auf einen real Aussagenden, sondern findet Verankerung in der Seele einer fiktiven Figur, die wiederum durch das sprachliche Gebilde indirekt erzeugt werde. Notwendig müssten daher in fiktionalen Texten »der Beseelung fähige[]« (LdD209). Gestalten auftreten – ohne menschliche Figuren ist ein Text also Hamburger zufolge niemals fiktional. Bewusstseinshaltung Die B. des Sprachnutzers entscheidet über den Status eines Textgebildes als Fiktion oder als bestimmter Typ einer → Wirklichkeitsaussage. Mit B. ist keine emotionale Verfasstheit, sondern eine (unter vier möglichen) bewusst eingenommene → Aussagehaltung gemeint. Bildgedicht Das Genre des B.s, verstanden nicht im Sinne eines Ideogramms, sondern im Sinne eines lyrischen Texts, der ein Werk der Bildenden Kunst thematisiert (LdD210), hat eine besondere Stellung im Gattungssystem, das in der Logik der Dichtung entfaltet wird. Das B. markiert den Übergang von der (lyrischen) Wirklichkeitsaussage in die Selbstdarstellung der Gestalten, d. i. ihre (fiktionale) Erzeugung. Sobald das reine Beschreiben des Kunstwerks ins Hinzudichten hinüberwechselt, hat sich die sprachlogische Struktur grundlegend verwandelt: von der Aussagestruktur springt sie in die fiktionale Erzeugung um,

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womit der Begriff »notwendigerweise seinen Charakter als B. verliert, weil die Figuren sich selbst darstellen« (LdD214). Das Aussagesubjekt ist verschwunden, der Sprecher nutzt die Sprache nun wie ein Werkzeug zur Erzeugung einer fiktionalen Welt. Das Bildgedicht eignet sich für diesen Umschwung (→ »entgleisende Beschreibung«) in besonderem Maße, da hier häufig »gestalthafte« Sujets (→ Gestalt) vorkommen. Tritt eine Gestalt »als Kunstgebilde im Raume der Lyrik auf, entsteht ein einzigartiges Phänomen im Gesamtsystem der Kunst, das Bildgedicht« (LdD210). Charaktergestalt Das Konzept der C. basiert auf der Annahme, es gebe zweierlei Arten menschlicher Gestalt, deren Nachahmung Gegenstand der »bildenden Künste« werden könne: C. und Körpergestalt. Diese Voraussetzung wird im Aufsatz »Schillers Fragment ›Der Menschenfeind‹ und die Idee der Kalokagathie« entwickelt (in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 30 [1956], S. 367–400, hier: S. 387). »Bildende Künste« umfasst hier nicht allein Skulptur und Malerei, welche die äußere Gestalt (Körpergestalt) nachahmen, sondern zudem wird die epische Fiktion, in der die C. zur Darstellung kommt, als eine weitere Klasse der »bildenden Kunst« (→ System der Künste) kategorisiert. Darstellung als Objekt / als Subjekt In der Kontrastierung der »Darstellung als Objekt« gegenüber der »Darstellung als Subjekt« (LdD58) erschließt sich das Darstellungsprivileg, das der Fiktion zuerkannt wird: die einzig umfassende Darstellung der menschlichen → Gestalt. Die Fiktion ist »der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann« (LdD40). Im Gegensatz dazu sind Wirklichkeitsdarstellungen wie die der bildlichen Künste auf die ausschließliche »Darstellung als Objekt«, d. h. als Körpergestalt beschränkt (→ Charaktergestalt, → Figurendichtung; vgl. zu einer Einordnung: Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 92012, S. 64). Deixis In der Logik der Dichtung wird keine eigentliche D.-Theorie entwickelt, doch spielt die Beobachtung, dass deiktische Sprachelemente in großer Zahl in einem Fall ›zerdehnter‹ Kommunikation, in schriftlichen Erzähltexten auftreten, eine zentrale Rolle. Die Beobachtungen zu grammatischen Signalen der Fiktion (wie dem »epischen Präteritum«, also der Verbindung präteritiver Verbformen mit Deiktika der Zeit und des Raumes) beziehen sich sämtlich auf deiktische Sprachelemente und führen zu einer Differenzierung der Bühler’schen D.Auffassung. Obwohl deiktische Ausdrücke im fiktionalen Text auftreten, gelten sie dort gleichsam nicht: Im → »Fiktionsfeld« (LdD38) sind sie nur scheinhafte

292 | Claudia Löschner und blinde Verweisungen. Es handelt sich um eine ›gekappte Deixis‹, in der die deiktischen Sprachelemente ihre Verweisungsqualität verlieren, lediglich »Substratcharakter« (LdD61) haben (→ Begriffssymbole). Denkpsychologie Die Bewusstseinsanalyse, die die Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die Sonderart der logischen, begrifflich-abstrakten Denkprozesse richtet, trägt deutliche Züge des denkpsychologischen Ansatzes der Würzburger Schule (begründet von Oswald Külpe (1862–1915), weitergeführt u. a. von Karl Bühler (1879–1963)), die sich hauptsächlich der Erforschung komplexer Denkvorgänge zuwandte. Hamburger nutzt die Vorlage von Psychophysik und experimenteller Psychologie zur Darstellung und Konturierung der sprachstrukturellen Verhältnisse, die sie aufzeigen möchte. Explizite Verweise auf die D. finden sich nur gelegentlich, etwa bei der Erwähnung der der D. zuzuordnenden Gestaltpsychologie (LdD106). Denksystem In der Logik der Dichtung manifestieren sich sehr konkrete Vorstellungen von den »allgemeinen Denk- und Vorstellungsvorgängen« (LdD2). Demnach bildet die Sprache »das System des Denkens selbst«, also das »System, in dem und durch das sich der Aufbau der geistigen Welt, d. h. die Erkenntnis der gegenständlichen und geschichtlichen Wirklichkeit so gut wie der Entwurf idealer Bildungen, überhaupt vollzieht« (LdD2). Hinsichtlich der Herkunft dieses Wissens(anspruchs) lässt sich rekonstruieren, dass es sich um Grundannahmen der zeitgenössischen → Denkpsychologie der Würzburger Schule handelt. Entscheidend für den Zusammenhang der Logik der Dichtung ist, dass verschiedene Grundhaltungen (→ Aussagehaltung, → Bewusstseinshaltung) angenommen werden, die der Sprechende einnehmen kann und muss, um seinen »Aussagewillen« (LdD162 u. a.) hinsichtlich subjektiver oder objektiver Geltungsansprüche zu klären. Dichtung D. tritt in der Logik der Dichtung in zweierlei Bedeutung auf: Stellenweise wird der umfassende Bereich aller Arten literarischer Texte als D. bezeichnet, in der Mehrheit der Fälle wird die Lyrik aufgrund ihrer sprachlogischen Struktur (→ Sprachlogik) aus der D. ausgeschieden, die dann das ›Erdichtete‹, die epische und dramatische Fiktion umfasst. Hierzu wird auf Aristoteles verwiesen, mit der Herausstellung, dass »gerade das, was wir als lyrische Dichtung, und sogar als ›Poesie‹ im eigentlichen Sinne bezeichnen, für Aristoteles keine ›Dichtung‹ […] war, sondern einem anderen Gebiete von ›Sprachwerken‹ angehört« (LdD7). Die tieferen Gründe hierfür sollen in der → Sprachlogik liegen, aus ihr ist abzuleiten, »daß ein Roman oder Drama und ein

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lyrisches Gedicht nur auf gewissermaßen künstliche Weise unter den Oberbegriff Dichtung zusammengeordnet werden können« (LdD10). Differential Als Terminus wird der aus der Mathematik übertragene Ausdruck D. eingesetzt, um die »Existenz« – hier als unmittelbarer Augenblick des Erlebens verstanden – als Schnittpunkt von Subjekt, Wirklichkeit und Leben zu erfassen. Das subjektive Bewusstsein ist das »D. der unendlich großen, und das Integral der unendlich kleinen Natur«, wie in der frühen Studie über die mathematischen Fragmente des Novalis formuliert wird (Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik, in: RomantikForschungen, hg. v. Betty Heimann, Käte Hamburger und Josef Körner. Halle a. d. Saale 1929, S. 113–185). Diese Zugangsweise basiert auf zeitgenössischen mathematikphilosophischen Akzentuierungen des Marburger → Neukantianismus. Drama Eine eigene Gattung des D.s ist in der Logik der Dichtung aufgehoben. Der Gattungskonvention folgend kommt darin zwar ein D.-Kapitel (LdD114–133) vor, sein Titel »Die dramatische Fiktion« aber signalisiert bereits die Neukategorisierung: Drama und Epik werden als erzeugende, »fiktionale Gattung« in eins gefasst (→ Erzeugen). Von Beginn an signalisiert in der Logik der Dichtung der Ausdruck »erzählende und dramatische Dichtung« die intendierte Neuordnung. Damit einher geht eine Abwertung gegenüber dem Roman, das D. wird, Thomas Manns Bewertung beipflichtend, als längst überholte Darstellungsform beurteilt (am deutlichsten in: Der Epiker Thomas Mann, in: Orbis Litterarum 13 [1958], S. 7–14). »Entgleisung« / »Entgleisende Beschreibung« Eine »e. B.« ist eine Verletzung der → Sprachlogik, sie durchbricht die Scheidelinie zwischen → Aussagen und → Erzeugen. Für diesen strukturellen Übergang wird ein konkretes Szenario angenommen, eine ›Urszene‹, die der mythischen Idee vom Einhauchen des Lebens in eine künstlerisch geschaffene Skulptur gleicht. Ein solcher Übergang in die Fiktion, der eine Verlebendigung und → Beseelung impliziert, wird möglich, wenn es sich beim Objekt der Beschreibung um ein Sujet »gestalthafter Art« (LdD209, → Gestalt) handelt. Hierbei liegt ein Übergang in fabulierende Erfindung und Beseelung des Objekts nahe. Wo die »e. B.« unkontrolliert geschieht, ist sie Ausdruck einer »ungeschiedene[n] Bewußtseinshaltung altertümlicher Volkstümlichkeit« (LdD218) – und damit aus der Perspektive einer souverän aufgeklärten Bewusstseinshaltung unhaltbar. Im Falle der Rilke’schen Bildgedichte ist dagegen von einer gekonnten Gratwanderung die Rede (vgl. →

294 | Claudia Löschner Bildgedicht, → Sonderformen; sowie den Beitrag von Claudia Löschner in diesem Band). Erkenntnis, intensive In der frühen Novalis-Studie (→ Differential) wird ein Bezug zum (neu-)Kantischen Konzept der intensiven Realität hergestellt. Es folgt dem Zweiten Grundsatz Kants, dem Prinzip der »Antizipation der Wahrnehmung«: »In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, das ist einen Grad« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787, B 208). Fiktionale Dichtung kann kein erschöpfendes Detailwissen über die erzählte Nicht-Wirklichkeit vermitteln, stattdessen lässt sie ein Baugesetz erahnen, eine → ›innere Form‹ dieser erzeugten Realität und insofern eine »i. E.« (→ Integral). Erlebnisfeld Der Ausdruck tritt zeitgenössisch in verschiedenen Zusammenhängen auf. In der Logik der Dichtung (LdD57 und passim) zeigt er deutliche Ähnlichkeit zu Bühlers Ausdruck »Zeigfeld«. Bei Bühler ist dieses jedoch auf die äußere Umwelt eines Subjekts beschränkt, während im E. immer auch das innere Erleben eines (Aussage-)Subjekts enthalten ist. Dagegen hat das → »Fiktionsfeld« – eine analoge Prägung in der Logik der Dichtung (LdD57) – keine Verankerung in einem realen Aussagesubjekt und ist nicht zwingend auf eine einzige fiktive Figur bezogen. Erzählfunktion, fluktuierende Der Text einer Erzählung gehört durchgängig zur E. Der Zusatz »fluktuierende« hebt die mögliche Vielgestalt dieses Sprachgebildes hervor, die markierte Erzählerrede, Figurenrede oder Textpassagen ohne uneindeutige Zuordnung einbegreifen kann. Sie ermöglicht Figuren umfassend zu gestalten, hierzu »fluktuiert« die »Erzählfunktion« zwischen Innen und Außen, zwischen dem Selbstdarstellen der Figur (in direkter und innerer Rede) und ihrer äußeren Darstellung in Form eines Berichts. Da eine völlig einstimmige und monoperspektivische Erzählhaltung real praktisch nicht vorkommt, ist der Zusatz »fluktuierend« immer zutreffend. Erzeugen / erzeugende Funktion Das E. ist eine von zwei grundsätzlichen Möglichkeiten des geistigen Verhaltens, die dem modernen Menschen zur Verfügung stehen, nämlich sich entweder auf Wirklichkeit zu beziehen und im weitesten Sinne etwas über sie auszusagen oder Gegenstände, auf die er sich bezieht, im Bewusstsein zu erzeugen. Das Auftreten der erzeugenden Funktion des Geistes gehört einem entwicklungsgeschichtlich späteren Stadium an, ist bedeutende Wegmarke in der Entfaltung und »Selbstbefreiung des Geistes« (eine von Ernst Cassirer übernommene Wendung: Zur Logik der Kulturwissen-

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schaften: fünf Studien. Göteborg 1942, S. 25; vgl. LdD2). Der Wechsel zwischen → Aussagen und → Erzeugen markiert die beiden daraus abgeleiteten, grundlegenden Sprachverwendungsweisen von → Wirklichkeitsaussage und → Fiktion. Existenz / Existenzphilosophie Die Logik der Dichtung erweist sich als wesentlich von der E. – am deutlichsten der existenzorientierten → Sinnphilosophie Paul Hofmanns – geprägt. Lyrik wird als »existentielle Gattung« definiert, die aufgrund der »irrationale[n] Offenheit der Existenz, und das bedeutet prägnant: der Existenz ihres Dichters« (LdD250) unabschließbar bleibt und daher nie vollständig gedeutet werden kann. »Existenz« ist definiert als das → Differential des Bewusstseins, also als → »Jetzt-und-Hier-Erleben« eines Subjekts. Der eigentliche → »Schein des Lebens«, den die epische Dichtung erzeuge, bestehe in der Vergegenwärtigung eines solchen → Gegenwartsstroms. E. wird damit zum Stellvertreter für das subjektive Sinnerleben (→ Sinnphilosophie). »Der moderne Begriff der E. ersetzt recht glücklich den des Subjekts und des Subjektiven in diesen Zusammenhängen. Er erweitert die rein logischerkenntnistheoretische Angabe sozusagen zu dem Kraftfeld, das sich um den Subjektpol der (formulierten oder unformulierten) Aussage bilden kann, und während der Begriff des Subjekts seinen logisch polaren Gegensatz in dem des Objekts hat, gibt es für den Begriff der Existenz keinen Gegenbegriff auf der Objektseite« (LdD169). Figurendichtung Fiktionale Dichtung ist immer F., die epischen Figuren und der Blick in ihre Innenwelten wird zum Merkmal und Unterscheidungskritierium der Fiktion. Betont wird damit, dass Menschen resp. »Figuren« in der Dichtung nicht als bloße Objekte darstellbar sind (→ Gestalt, → Charaktergestalt). Vielmehr ist erforderlich, dass sie sich präsentieren als »aus sich selbst lebende Gestalten« (LdD72). Durch das ›Leben‹ der Figuren verselbständigt sich die Darstellung, dies bedingt den Übertritt in die Fiktion (→ System der Künste, → »entgleisende Beschreibung«). »Daß dieser Schein, das Gesetz der Fiktion in der Dichtung erst wirksam wird, wenn fiktive Personen erschaffen werden, während eine gemalte Landschaft sich auch ohne Figuren als Mimesis ausweist – dies hat seine Ursache eben in dem besonderen Material der Dichtung, der Sprache, die außer im fiktionalen Bereiche das Medium des Sagens (in allen seinen Modifikationen) ist« (LdD145). Fiktion, fiktionale Texte Als f. T. werden in der Logik der Dichtung Spracherzeugnisse definiert, die erkenntnistheoretisch nicht an ihren Urheber bzw. Sprecher gebunden sind. Sie beziehen sich nicht auf (s)ein reales → Erlebnisfeld, sondern erzeugen ein → »Fiktionsfeld«, das Inhalt und Welt des Romans

296 | Claudia Löschner ausmacht. F. ist nicht medial gebunden, auch im erzählenden Film wird im selben Sinne »erzeugt« (→ System der Künste, → Erzeugen), doch allein an der sprachlichen Form der F. lassen sich die logischen Verhältnisse der Form ablesen. (Zu einer Einbettung in die Fiktionsforschung: vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 92012 S. 64–65; Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin 2008, S. 31–33.) Fiktionalisierung Als »Fiktionalisierung« wird in der Logik der Dichtung die Gesamtheit der sprachlichen Formen bezeichnet, die im Erleben des Lesers den Übergang zum Schein-Erlebnis und zur unmittelbaren Vergegenwärtigung des Figuren-Erlebens bewirken. Der Ausdruck soll nicht auf eine Gradation des Status von Fiktionalität hindeuten, vertreten wird eine Entweder-oder-Position. Mit »Fiktionalisierung« ist also nicht der ontologische Status des Erzählten gemeint, vielmehr wird ein ästhetisches Verfahren beschrieben – dasjenige des → Erzeugens von → »Schein von Leben«. Fiktionalitätssignale In der Logik der Dichtung werden erstmals textinterne Merkmale genannt, die den Status eines Textes als → Fiktion eindeutig signalisieren sollen, so z. B. das → »epische Präteritum«, das an Verbindungen präteritiver Verbformen mit Deiktika der Zeit und des Raumes offensichtlich werden soll: »Morgen war Weihnachten« (LdD33). Diese F. sind heute als prototypische, jedoch nicht zwingend notwendige noch unbedingt hinreichende Merkmale anerkannt (zu einer Diskussion vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München. 92012, S. 16; Michael Scheffel: Käte Hamburgers »Logik der Dichtung« – ein »Grundbuch« der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. Göttingen 2003, S. 140–155, hier: S. 150–151). Fiktionsfeld Da in der sprachlichen Struktur immer die Position eines erlebenden Subjektes (→ Aussagesubjekt, → Wirklichkeitaussage) mitenthalten ist, ist auch ein → Erlebnisfeld impliziert. Dieses kann in der → Fiktion kein reales sein, sondern wird zum F. (LdD38), das der/den Figur/en des Romans zugehört und das in Umkehrung die Figuren wie die Welt des Romans evoziert. Fingiertsein »Fingiert« ist in der Logik der Dichtung ein Kontrastbegriff zu »fiktional«. Den »fundamentalen phänomenologischen Unterschied von Fingiert- und Fiktivsein« klärt das Kapitel über die Icherzählung: »Der Begriff des Fingierten bedeutet ein Vorgegebenes, Uneigentliches, Imitiertes, Unechtes, der des Fiktiven dagegen die Seinsweise dessen, was nicht-wirklich ist: der Illusion,

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des Scheins, des Traums, des Spiels. […] Die Setzung der Fiktion ist eine völlig andere → Bewußtseinshaltung als die des F.s.« (LdD223). Fingiertes erfüllt die Struktur der → Wirklichkeitsaussage und ist daher wahrheitsfähig. Fluktuieren

→ Erzählfunktion, fluktuierende

Form, symbolische (Ernst Cassirer) Ernst Cassirer (1874–1945) gilt als einer der wichtigsten akademischen Lehrer Käte Hamburgers. In seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) charakterisiert er alle Bereiche menschlicher Kulturtätigkeit (Sprache, Wissenschaft, Religion, Kunst) als verschiedene s. F.en, in denen sich immer eine »Tat des Geistes« und damit die Form des Bewusstseins objektiviere. Hamburger geht von seinem Begriff der s. F. aus, übernimmt jedoch eine wesentliche Änderung, die die Philosophin Susanne K. Langer vorgeschlagen hat: Die Form der Kunst wird von allen anderen Formen symbolischer Bewältigung als eine bewusste Symbolbildung hervorgehoben. (Susanne K. Langer: Feeling and Form. A Theory of Art. Developed from Philology in a New Way. New York 1953; zitiert von Hamburger: LdD245). Funktion Der Begriff der »Erzählfunktion« spielt gezielt auf den mathematischen Begriff der F. an, also auf eine Abbildungsvorschrift, die erlaubt, aus einer Gleichung unendlich viele zugehörige Werte zu erzeugen. Diese Anspielung basiert auf einer generalisierten Sichtweise von F., die Hamburger 1929 in der Novalis-Studie (s. a. → Differential) im Rückgriff auf die Forschung der Marburger Neukantianer Hermann Cohen und Ernst Cassirer zur Entstehung und philosophischen Ausdeutung der mathematischen Analysis kommentiert und in der Deutung der mathematischen Fragmente des Novalis anwendet. In der Logik der Dichtung drückt der »Funktionszusammenhang« (LdD74), der zwischen dem Erzählen und dem Erzählten besteht, aus, dass Figuren und Romanwelt indirekt durch das Erzählen entstehen, dass nicht »von ihnen erzählt« werden kann, da sie außerhalb des Erzählens nicht existieren. Im Konzept einer Erzeugungsvorschrift schwingt eine Durchschaubarkeit mit: die »restlose rationale Auflösbarkeit« der erzeugten Welt (LdD251). Gattung / Gattungssystem Im Unterschied zur kanonisch gewordenen Goethe’schen Auffassung von den drei »Naturformen der Dichtung« – Lyrik, Epik, Dramatik – wird in der Logik der Dichtung eine G.-Binarität postuliert, die auf den beiden Grundfunktionen der Sprache, → Aussagen und → Erzeugen, beruht. Die Aussagestruktur liege im Fall der Icherzählung sowie der Lyrik vor, das → Erzeugen kennzeichnet demgegenüber die Fiktion (die hier Erzählung und Drama umfasst). Gattungen sind in einem gewissen Sinne auch hier »Na-

298 | Claudia Löschner turformen« (LdD3), denn sie leiten sich aus der Struktur des → Denksystems ab, daher sind sie nicht weiter ausdeutbar: »G.en [sind] feste Formen, die als solche zuletzt jeder Deutung, jeder Sinninterpretation widerstehen« (LdD3). Gestalt G., insbesondere der Teilbereich der → Charaktergestalt, ist ein Zentralbegriff für das → »System der Künste«. »Der Begriff der Gestalt gehört in den Bereich der Kunst, nicht in den der Natur oder des menschlichen Lebens. Und er meint in seinem spezifischen Sinne die menschliche Gestalt. Im Gebiete der Kunst wird sie gebildet einerseits von der bildenden Kunst, anderseits von der fiktionalen Dichtung« (LdD209–210). Keine klare Abgrenzung gibt es zu »Figur« (→ Figurendichtung). Gegenwartsstrom William James prägte den Ausdruck »stream of consciousness«, der in der Erzähl- bzw. Romantheorie bis heute als ein Grundbegriff geläufig ist. In der Logik der Dichtung ist dieser Begriff als »existentielle[r] Gegenwartsstrom des Lebens« (LdD231) bereits präsent und von zentraler Bedeutung. Eine Aussage wird als eine unmittelbar frei werdende Sicht in das Bewusstsein gewertet, in den »existentiellen Gegenwartsstrom des Lebens« (LdD231), d. h. den inneren Sinn des Erlebenden. Ein ästhetischer Schein entsteht in der fiktionalen Dichtung nur in Bezug auf das »innere Dasein« der Figuren; nachgeahmt wird die Form ihres Bewusstseins, d. i. ihr »existenzielle[r] Gegenwartsstrom« (ebenda). Grammatik G. firmiert in der Logik der Dichtung nicht als losgelöst zu betrachtendes Wissensgebiet, vielmehr wird eine Übereinstimmung zwischen den grammatischen Strukturen und den logischen Verhältnissen der Sprache vorausgesetzt, die nicht in jedem Falle sofort sichtbar ist, doch durch Analysen bewiesen werden soll. Wenn also grammatische Merkmale hervorgehoben werden, die Nicht-Wirklichkeit von Wirklichkeit unterscheiden, so ist damit die Vorstellung verbunden, dass sich das Ausgangserlebnis des erzeugenden Bewusstseins im Text strukturell dokumentiert. Da die Interaktion zwischen Bewusstsein und Sprache unwillkürlich vor sich geht, soll sich der logische Status des Gesagten, ob eine als wirklich oder fiktiv gemeinte Erzählung vorliegt, unmittelbar in den grammatischen Strukturen der entstehenden Sätze niederschlagen. Humor, epischer Der e. H. lässt »das Wesen der epischen Erzählfunktion besonders deutlich hervortreten«, von seinen wichtigsten Vertretern (Jean Paul, Henry Fielding) wurde er daher »als Eigentümlichkeit des fiktionalen Erzählens, im Unterschied zum historischen, verstanden«. Gemeint sind »humoristische

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Illusionsstörung[en]« (LdD88), verschiedene Verfahren, durch die in einem Roman auf sein Erzähltsein verwiesen wird, etwa durch eine Vermischung der Erzählebenen (nach Gérard Genette: narrative Metalepsen), so im Falle der »IchEinmischung« (LdD89) bei Jean Paul (vgl. auch den Beitrag von Sabine Eickenrodt in diesem Band). Humanität Eine dezidierte Selbsterklärung als ›Neu-Idealistin‹ findet sich im Briefwechsel mit Thomas Mann. Orientierungspunkt ist die »geisteswissenschaftlich-ethisch-religiöse Richtung […] die sich ›Humanism‹« nennt (Irving Babbit, Paul Elmer More in Princeton). (Thomas Mann und Käte Hamburger: Briefwechsel, S. 26; vgl zum Humanitäs-Begriff auch: Irmela von der Lühe: ›Ueber Joseph haben die Leute noch immer viel von Ihnen zu lernen‹. Käte Hamburger und Thomas Mann, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. Göttingen 2003. S. 83– 99; Herbert Lehnert: Nebenfiguren in der Biographie Thomas Manns, in: Orbis litterarum 63 [2008], S. 335–353; Matthias Löwe: »Fest der Erzählung«: Käte Hamburgers »episches Präteritum« und ihre Deutung von Thomas Manns »Joseph«-Roman, in: Poetische Welt[en]. Zum 65. Geburtstag von Ludwig Stockinger, hg. v. Martin Blawid und Katrin Henzel. Leipzig 2011, S. 279–292; siehe auch → Sinnphilosophie sowie den Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band). Icherzählung Die I. ist keine Fiktion, selbst da, wo es sich um seit jeher als fiktional gelesene Romane in der Ich-Erzählhaltung handelt. Stattdessen handelt es sich um Nachahmung im Sinne eines nachgeahmten Erzählakts. Die Icherzählung »ist eine Mimesis der Wirklichkeitsaussage – was, wohlverstanden, etwas anderes ist als Mimesis der Wirklichkeit selbst, durch die die fiktionale Gattung entsteht« (LdD235). Die Fiktion aber ist aristotelisch als »eine Mimesis handelnder Menschen« bestimmt (LdD44 und passim). Die I. ist eine fingierte Wirklichkeitsaussage, vgl. die Unterscheidung zwischen → fingiert und fiktiv. Ich-Origo Die Rede vom »Koordinatensystem der Wirklichkeit« (LdD24) ergänzt das Konzept der I. Es spannt sich um das jeweils erlebende Ich auf. I. »bezeichnet den durch das Ich (das Erlebnis- oder Aussage-Ich) besetzten Nullpunkt, die Origo des raumzeitlichen Koordinatensystems, der zusammenfällt oder identisch ist mit Jetzt und Hier. Die ›Origo des Jetzt-Hier-Ich-Systems‹, welche Bezeichnung wir also zu I. verkürzen, wird von Brugmann und Bühler zur Beschreibung der Funktionen der deiktischen Pronomina in der Rede benutzt« (LdD31). Wirklichkeit stellt sich demnach jedem Subjekt anders dar, jedes Ich wird als Mittelpunkt seiner je eigenen Wirklichkeit aufgefasst. Die

300 | Claudia Löschner Unmittelbarkeit seines Erlebens wird zum Maßstab für den erzählerischen → »Schein von Leben« erhoben. Um den lebendigen Erzähleffekt eines »Jetzt-und Hier-Erlebnisses« (LdD72) zu erreichen, darf es keinerlei Markierung der Zeit geben, da Zeitangaben die Unmittelbarkeit des Erlebens einschränken (→ »Jetztund-Hier-Erleben«, → Zeitlosigkeit). Ich-Sagen Die Hervorhebung, dass der Mensch nicht nur Objekt ist, sondern auch Subjekt »im ontologischen Sinne eines ich-sagenden Wesens« (LdD75), stammt von Paul Hofmann (Paul Hofmann: Problem und Probleme einer Sinnerforschenden Philosophie, hg. v. Käte Hamburger. Stuttgart 1980; siehe auch → Darstellung als Objekt / Subjekt, → Sinnphilosophie). Integral Der Begriffsgebrauch des »Integrierens« in der Logik der Dichtung (LdD121, 139, 189, 229, 247, 249) ist Teil einer mathematisierenden Sprechweise, genauer: einer Übertragung von Begriffen der Infinitesimalrechnung auf eine Modellierung von Bewusstseinsprozessen (in der Tradition von Leibniz, Kant, Lambert, Herbart, Fichte, Maimon, Novalis, Wundt und Cohen). Es ist unmöglich, die geschichtliche Wirklichkeit vollständig zu durchschauen und »zur Ganzheit [zu] integrieren«, die schiere Übermacht der Einzelheiten verunmögliche es. Eine vollständige Interpretation eines Ganzen ist in der Fiktion dagegen möglich, da sie in sich abgeschlossen ist und ihre ›Logik‹ im Sinne eines inneren Gesetzes, ihrer »ursächlichen Struktur« (LdD141) erfasst werden kann. »Jetzt-und-Hier-Erleben« Die Fiktion vermittelt ein → Leseerlebnis, das in dieser Unmittelbarkeit durch keine andere Form des Erzählens erreicht werden kann. »Das Jetzt- und Hier-Erlebnis, das uns die Fiktion (die epische und, wie wir sehen werden, ebenso auch die dramatische und filmische) vermittelt, ist das Erlebnis der Mimesis handelnder Menschen, d. h. der fiktiven, aus sich selbst lebenden Gestalten, die eben als fiktive nicht in der Zeit und im Raume sind« (LdD72). Das J. ist ein ästhetischer Aspekt der → Zeitlosigkeit der Dichtung (siehe auch → Existenz, → Differential, → Ich-Origo). Körpergestalt

→ Charaktergestalt

Koordinatensystem Kunst, bildende

→ Ich-Origo

→ System der Künste

Kunstwissenschaft Hamburger hat den kunstwissenschaftlichen Kreis um Max Dessoir und die Zeitschrift Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft ein-

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gehend wahrgenommen, in der mehrere ihrer wichtigsten Bezugspersonen wie Paul Hofmann und Ernst Cassirer publizierten. Zudem bestand eine personelle und organisatorische Verknüpfung mit der Kant-Gesellschaft, der sie 1920 beitrat [→ Neukantianismus]. Diskutiert wurden insbesondere Forschungsinteressen und -methoden der experimentellen Psychologie, besonders der → Denkpsychologie der Würzburger Schule. Konkrete Nennungen der K. kommen – vermutlich aufgrund des erheblichen historischen Abstandes – in der Logik der Dichtung dennoch nicht vor. Wirksam wird dieser Kontext der K. vor allem in Gestalt des in der Logik der Dichtung implizit entfalteten → »Systems der Künste«. Leseerlebnis Das L. soll jedes paratextuelle Kontextwissen verzichtbar machen, ein Rezipient benötigt demnach kein Zusatzwissen über den Äußerungsträger und seine Sprechsituation, um die »Richtung der Aussage« (LdD88), d. h. ihren Status als Wirklichkeitsaussage oder Fiktion korrekt zu erkennen. Rekurriert wird auf die Selbstbeobachtung eines entsprechende Eindeutigkeit stiftenden »L.«: »Wir erfahren es unmittelbar, wenn wir ein Gedicht, einen Roman oder ein Drama lesen. Es mag der Roman uns noch so lyrisch anmuten, das Drama eine noch so ›episch‹ breite Handlung haben, das lyrische Gedicht noch so ›unlyrisch‹ sein – es ist jeweils dennoch eine erzählende Dichtung, ein Drama, ein Gedicht, das unser Leseerlebnis lenkt und prägt« (LdD3). Logik L. wird als Bedürfnis und Vermögen in der menschlichen Natur verankert gedacht; es äußere sich unter anderem in einem menschlichen »Bedürfnis nach Grammatik« (Erfahrungen im Deutschunterricht an unvorgebildete Erwachsene, in: Moderna språk 33–34 [1939], S. 81–90, hier: S. 86). Aus der Logik der Dichtung lässt sich ein L.-Begriff in dreifacher Hinsicht rekonstruieren: Erstens leistet Die Logik der Dichtung den Aufweis einer ›Doch-L. der Fiktion‹ im Sinn der »allgemeinen Grammatik« Hjelmslevs (LdD63): Die sprachlichen Phänomene der Fiktion, vermeintliche Abweichungen vom anerkannten ›System Sprache‹, werden in ihrer Systemkonformität aufgewiesen und rekategorisiert. Zweitens besteht die »L.« der Dichtung in der rein logisch-begrifflichen Sprache der Fiktion, in der alle nicht rein logischen Bedeutungsbestandteile (etwa die deiktischen) als unwirksam entfallen (vgl. → Begriffssymbole, → Symbolfeld, sowie das Konzept eines »reinen Denkens« im → Neukantianismus): Sprache ist hier »Vorstellung«, nicht »Bezug« (LdD3). Drittens meint die »L.« der Dichtung restlose Erkennbarkeit: Bei der Deutung der Fiktion ist eine andere Erkenntnisqualität erreichbar als in der Deutung der historischen Wirklichkeit(saussage), eine intensive (logisch-begriffliche) Erkenntnis. Als ein gemachtes, damit »durch und durch rationales und darum prinzipiell erkennbares Gebilde«

302 | Claudia Löschner (LdD87) ist die Fiktion in ihrer »ursächlichen Struktur« (LdD141), in ihrem inneren Gesetz durchschaubar. Lyrik L. wird sprachlogisch als »Wirklichkeitsaussage« klassifiziert. Damit soll nichts über die Realitätstreue lyrischen Sprechens ausgesagt, sondern die Auffassung ausgedrückt sein, dass lyrische Rede stets auf ein reales Aussagesubjekt bezogen sei und bleibe, mag sie sich auch noch so weit von Referentialität, dem äußeren Leben des Autors und von Wirklichkeitsähnlichkeit entfernen. Im Unterschied zur Fiktion sind lyrische Texte unausdeutbar, sie bleiben stets offen: »Ein lyrisches Gedicht […] ist offen nach dem Erlebnis des Aussage-Ichs hin, und das ist dem letztlich irrationalen Leben, dem Leben des Dichters« (LdD187). Im hervorgehobenen Begriffsverständnis von → Dichtung als erdichtete Welt ist L. nicht enthalten. Malerei Die M. spielt in der Logik der Dichtung als Vergleichsfolie zur Hervorhebung der besonderen Funktionsweise von Sprache in der Fiktion eine Rolle. Der Vergleich dient zur Verdeutlichung des erzeugenden Charakters der Fiktion (→ Erzeugen) als einer Sprachverwendungsweise, in der kein reales → AussageIch spricht: »Das Erzählen […] ist eine Funktion, durch die das Erzählte erzeugt wird, die Erzählfunktion, die der erzählende Dichter handhabt wie etwa der Maler Farbe und Pinsel. Das heißt, der erzählende Dichter ist kein Aussagesubjekt, er erzählt nicht von Personen und Dingen, sondern er erzählt die Personen und Dinge; […] Zwischen dem Erzählten und dem Erzählen besteht kein Relations- und das heißt Aussageverhältnis, sondern ein »Funktionszusammenhang« (LdD74). Die Rolle der präteritiven Verbformen vergleicht Hamburger mit einer »Leinwand« (→ Präteritum, episches). Monolog, innerer Das Aufkommen des Erzählverfahrens des i. M. wird einer extremen Tendenz zur Subjektivierung des Erzählens in der Moderne zugeordnet: »Gespräch und innerer Monolog (die sog. erlebte Rede) wurden immer virtuoser ausgestaltet, [so] dass der Roman durch möglichst totale Auflösung in Rede dem Drama so weit es ging angenähert werden sollte.« (Der Epiker Thomas Mann, in: Orbis Litterarum 13 [1958], S. 7–14; hier: S. 10). Allerdings zieht diese Subjektivierung des Erzählens Fragmentierung und Verunsicherung nach sich: Halten vielfältige Einzelperspektiven Einzug in die Erzählung, so entsteht kein deutliches und schlüssiges Gesamtbild. Dies wird als »Kehrseite dieser Technik: Auflösung der epischen Weltgestaltung in Einzelfiguren oder Figurengruppen und in Einzelsituationen« (ebenda) angeführt. Im Konzept einer → fluktuierenden Erzählfunktion einen sich die subjektiven Perspektiven eines Romans zur dennoch objektiven Aussage-Ganzheit.

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Neukantianismus, Marburger Eine deutlich neukantianische Prägung durch die Marburger Hermann Cohen und Ernst Cassirer manifestiert sich in Hamburgers frühem Novalis-Aufsatz (→ Differential). Bereits 1920, noch als Studentin war sie der Kant-Gesellschaft beigetreten. In den kommenden Jahrzehnten gewinnen andere philosophische Richtungen (bes. → Existenz / Existenzphilosophie) an Einfluss, der M. N. verliert insgesamt an Boden und tritt auch in Texten Hamburgers in den Hintergrund. Bis in die Logik der Dichtung lassen sich dennoch entscheidende neukantianische Grundannahmen nachweisen, so die Vorstellung eines »reinen Denkens«, das die Neukantianer aus der Kantischen Bestimmung der Mathematik übernommen und zum Begriff der Erkenntnis überhaupt generalisiert hatten. In diesem Zuge strebte Cohen nach einer Überwindung der Zweistämmigkeit der Kantischen Erkenntnislehre (die auf Sinnlichkeit und Begrifflichkeit basiert). Hamburger schränkt diesen Anspruch ein: »Ausschließlich denkerzeugte[n] Inhalt« hält sie nur in der Fiktion für möglich, nirgendwo sonst im Wissenschafts- oder Alltagsdenken. Diese Einschätzung bedingt ihr Postulat einer vollkommenen Objektivität der Fiktion: »[Es] ergibt sich als eine methodische Richtschnur der Interpretation, daß prinzipiell jede Fiktion restlos deutbar ist, weil sie eine geschlossene, d. h. von der Offenheit der Lebenswirklichkeit abgesperrte Struktur ist« (LdD250; vgl. auch → Logik; sowie den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band). Nicht-Wirklichkeit Das Konzept einer N. ist nicht mit »Unwirklichkeit« gleichzusetzen, die ebenso wie → »Wirklichkeit« nur ein Maßstab für Wirklichkeitsaussagen sein kann (→ Aussage, → Ich-Origo). N. ist dagegen der Modus der → Fiktion und sagt nichts über den ontologischen Status in Bezug auf die raumzeitliche »Wirklichkeit des menschlichen Lebens« (LdD6, Anm. 4) aus. In der Definition der Wirklichkeitsaussage wird eine Abstufung der Beteiligung des Subjekts in Form einer Skala konzipiert, die von der Ausrichtung um den Objektpol – größtmögliche Sachgerichtetheit einer Aussage – bis zur entgegengesetzten Ausrichtung am Subjektpol – größtmögliche Sinngerichtetheit – reicht (→ Sachgerichtetheit / Sinngerichtetheit, → Subjektpol / Objektpol). Origo

→ Ich-Origo

Objektpol

→ Subjektpol / Objektpol

Personalismus Hamburger nennt den »P.« als zeitgenössische ethischphilosophische Richtung, die für die Philosophie Paul Hofmanns, zu der sie sich lange Zeit bekennt, entscheidende Grundlage war. Einen Hinweis auf den ge-

304 | Claudia Löschner meinten Person-Begriff gibt in der Logik der Dichtung die nicht näher erläuterte Feststellung, dass »nur der Mensch eine Person, d. h. nicht bloß ein Objekt, sondern auch ein Subjekt ist« (LdD75). Dieser Person-Begriff lässt sich im Wesentlichen auf Kant zurückführen und ist grundsätzlich charakterisiert durch eine Doppelstruktur: »Person« meint äußeres und inneres Dasein (vgl. → Form, innere) des Menschen. Phänomenologie Der Ausdruck P. wird in der Logik der Dichtung ausdrücklich in einem Goethe’schen Sinne gebraucht und explizit von einer Hegel’schen wie Husserl‘schen Bedeutung abgegrenzt: »Die Logik der Dichtung ist damit auch die Phänomenologie der Dichtung. Dieser Begriff ist hier und in dem ganzen Gang unserer Untersuchungen weder mit der besonderen Bedeutung der Hegelschen noch der der Husserl’schen Phänomenologie belastet. Er bezeichnet nichts als die Beschreibung der Phänomene selbst – doch wiederum nicht im Sinne einer deskriptiven, sondern im Sinne einer symptomatischen Beschreibungsmethode, d. i. im Sinne der Lehre, die, nach dem Worte Goethes, die Phänomene sind« (LdD4). Auf Hamburger scheinen v. a. die frühen Ausprägungen der Phänomenologie gewirkt zu haben. Gleichwohl wurde ihr Ansatz als im Husserl‘schen Sinne »phänomenologisch« interpretiert (Caroline Domenghino: Käte Hamburger’s »Logik der Dichtung« in contemporary narrative theory, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 100 [2008], S. 25–32). Zu ihrem Verhältnis zur phänomenologischen Literaturwissenschaft [im Besonderen Ingardens] vgl. den Beitrag von Jørgen Sneis in diesem Band). Präteritum, episches Die Beobachtung, dass in der fiktionalen Dichtung präteritive Verbformen in Verbindung mit Deiktika des Jetzt und Hier auftreten können, die in jeder anderen Sprachverwendungsweise ungrammatisch seien (wie z. B. »morgen war Weihnachten« [LdD66, zitiert aus Alice Berend]), wird in der Logik der Dichtung als Hinweis darauf gedeutet, dass dieses Präteritum in der Fiktion die Funktion Vergangenes zu bezeichnen einbüße. Dies führt zu der umstrittenen These, die erstmals in einer ›Vorstudie‹ (Die Zeitlosigkeit der Dichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 [1955], S. 413–426) publiziert und in der Logik der Dichtung weiter entfaltet wird. Bei diesem Verlust der temporalen Bedeutung spricht Hamburger von einem → »grammatischen Schein« (LdD71): Im Grunde wäre gleichgültig, welche Form des flektierten Verbs in der Fiktion verwendet wird, denn es wirkt allein die rein semantische Bedeutung des Verbs. Das fiktionale Erzählen bedürfe schlicht irgendeines »Substrats« (LdD56), auf das sie wie ein »Maler« auf einer »Leinwand« (ebenda) gestalten könne: »Wie ein Gemälde nicht in die Luft gemalt werden kann, sondern ein Substrat haben muß, eine Wand oder eine

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Leinwand, so muß das Erzählen der erzählenden Dichtung in einer finiten Verbform vor sich gehen« (LdD56). Realismus In der Logik der Dichtung wird das Konzept der Fiktion bzw. NichtWirklichkeit als ein Bewusstseinsphänomen gefasst, das sich von einem zweiten Bewusstseinsphänomen – Wirklichkeit – markant unterscheide. Dieses Erlebnisphänomen allein, nicht aber die Frage nach einem mehr oder weniger realistischen Sujet einer Erzählung, ist Erkennungskriterium für fiktionale Texte. Die Wirklichkeits-Analogie ist zudem anderer Art, als es im Verständnis der Possible-Worlds-Theory der Fall ist. Das »principle of minimal departure« bzw. »reality principle«, nach denen der Leser die entworfenen Welten gemäß den Gegebenheiten des R. ergänzen dürfe und müsse, um das Erzählte zu verstehen, gelten nicht für Hamburgers Nicht-Wirklichkeit (vgl. den Beitrag von Lutz Danneberg in diesem Band). Romanfeld

→ Fiktionsfeld

Romantik Nach ihrer Dissertation zu Schiller beteiligte sich Hamburger mit mehreren Beiträgen zu Novalis, Jean Paul und auch Thomas Mann an der R.Forschung, die in den Jahren der Weimarer Republik zu einem wichtigen Brennpunkt allgemeiner literatur- und geisteswissenschaftlicher Debatten wurde. Hamburger hebt R. als Typenbegriff, weniger als Epochenbegriff hervor (so in: Thomas Mann und die Romantik – eine problemgeschichtliche Studie. Berlin 1932). Im Vordergrund steht die Bemühung um ein Rationalismus-nahes Bild der R. Hamburgers Aufwertung der R., deren Deutung als Vollendung der Aufklärung, widerstreitet eine wachsende Skepsis hinsichtlich der Berechtigung und Haltbarkeit ihrer weltanschaulichen Fundamente (vgl. den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band). Sachgerichtetheit / Sinngerichtetheit Nach Hamburger gibt es grundsätzlich zwei mögliche Ausrichtungen einer Wirklichkeitsaussage (LdD152–157). Zum einen eine Ausrichtung um den Objektpol, diese steht für einen dominierenden Sach-, »Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt« einer Aussage (LdD187). Zum anderen eine Ausrichtung um den Subjektpol, eine Subjekt-Orientierung, die auf eine Betonung des Sinnerlebens (→ Sinnphilosophie) des Aussage-Ichs hinausläuft. In jeder Aussage sind Objekt- und Subjektpol enthalten, es ist ausgeschlossen, dass einer der beiden Pole ausfällt. So ist auch in sehr sachlichen Texten ein geringer Subjektbezug noch vorhanden, insofern es stets ein reales Aussagesubjekt gibt, wie durch die »polare« (LdD23 und passim) Struktur der Wirklichkeitsaussage vorgegeben. Maximale Sachgerichtetheit spricht Hambur-

306 | Claudia Löschner ger der Sprache der Wissenschaft und Mathematik zu, der Subjektbezug werde hier ›infinitesimal gering‹. Umgekehrt habe auch ein maximal sinngerichteter Text stets wenigstens minimalen Objektbezug – dies gewährleiste die raumzeitliche Verankerung des Aussagesubjekts in der Realität. Schein, grammatischer Die Tatsache, dass das epische Erzählen praktisch immer in der Form des Präteritums vor sich geht, obgleich das Erzählte »zeitlos« sei, wird in der Logik der Dichtung damit erklärt, dass fiktionales Erzählen irgendeines »Substrats« (LdD56) bedarf, eines an sich selbst bedeutungslosen, jedoch die Verbbedeutung tragenden Grundstoffs, einer »Leinwand«, auf die der Autor die Erzählung »aufträgt« (LdD56). Für diese Leinwand-Funktion ist das Präteritum am besten geeignet, da es die am wenigsten ambivalente Tempusform ist: Es signalisiere (scheinhaft) Wirklichkeitsaussage und sei so für die Fiktion die am wenigsten ›scheinstörende‹ Verbform. »[W]ir empfinden das Präteritum als adäquater, ästhetisch wohltuender als ein historisches Präsens, das […] leicht in allzu aufdringlicher Weise darauf aufmerksam macht, daß wir es mit fiktiven Verhältnissen zu tun haben, und eben dadurch die Illusion, den Schein, den zu erzeugen das Wesen des fiktionalen Erzählens ist, stört« (LdD61). »Schein von Leben« Hamburger hebt einerseits die Begrifflichkeit bzw. Sprachlichkeit der Dichtung hervor, während sie zugleich davon ausgeht, dass es sich beim Lesen um ein Erleben, eine Lebensähnlichkeit handele (vgl. z. B. die Formulierung, dass wir als Leser »einen Romanschauplatz betreten« [LdD25] und in der dargestellten Welt leben wie in einer Wirklichkeit [LdD28, 37, 49]). Dies stellt sie vor die Frage, in welchem Sinne das Erzählen einen solchen Schein erzeugen könne (mit Aristoteles geht sie davon aus: Kunst erzeuge stets einen »S. v. L.«, d. h. von handelnden Menschen). Doch »[a]ls Schein kann nur etwas gestaltet werden, was als solches konkret, ein Gegenstand, oder ein sich irgendwie an Gegenständlichem (Personen, Dingen) manifestierender Vollzug ist« (LdD43). Für Hamburger liegt die Lösung in der Auffassung, dass die Dichtung allein das innere Leben des Menschen, seinen »inneren Sinn« (→ Gegenwartsstrom) nachahme und so den »S. v. L.« erzeuge. Sinn, innerer Der »i. S.« des Menschen spielt in der Logik der Dichtung eine zentrale Rolle: Er wird zur entscheidenden Herausforderung für künstlerische, fiktionale Menschengestaltung erhoben. Der Kantischen Vorgabe folgend wird beim Begriff der Person ein innerer von einem äußeren Bestandteil unterschieden, wobei der innere Teil eine deutliche Bevorzugung erfährt (→ Personalismus, → Sinnphilosophie, → Körpergestalt, → Charaktergestalt). Dieser Hervor-

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hebung entspricht die Unterscheidung von → »Darstellung als Objekt« und → »Darstellung als Subjekt«. Eine direkte Gestaltung des i. S.es ist allerdings unmöglich, denn man kann die »Zeit, die ›Anschauungsform‹ des ›inneren Sinnes‹, nicht wahrnehmen und vorstellen, sondern nur wissen, d. h. sie nur in begrifflicher Weise zum Bewußtsein bringen« (LdD68); vgl. Kant: »Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschaut, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird« (Kritik der reinen Vernunft transzendentale Ästhetik § 2 [I 78—Rc 95]). Stattdessen lässt sich der i. S. indirekt als Bewusstseinsphänomen, als das zeitlich strukturierte Nacheinander der erlebten Momente gestalten. Die indirekte Gestaltung des i. S. entspricht also näherungsweise dem → »stream of consciousness«/ → Gegenwartstrom. Sinn, konzipierender Im letzten Kapitel der Logik der Dichtung tritt unvermittelt der »konzipierende Sinn« (LdD252) der Fiktion auf. Er verweist auf den Autor als Verursacher der erzeugten Wirklichkeit; darin enthalten ist ein Moment von Willkür und Gottähnlichkeit, es handelt sich insofern um die Reaktualisierung eines Autor-Begriffs als einem gezielt agierenden und machtvollen Akteur. Hamburgers Betonung der vollkommenen Abgeschlossenheit der Fiktion, die nicht mit Rekurs auf die Biographie des Autors interpretiert werden dürfe, steht dem nur vermeintlich entgegen. Die Erzählung darf ihr zufolge nicht auf das äußere und seelische Leben des Autors bezogen, sehr wohl aber als eine bewusste Stellungnahme aufgefasst werden. Sinnphilosophie (Paul Hofmann) Die Sinnphilosophie Paul Hofmanns (1880–1947) ist für die Logik der Dichtung ein wesentlicher philosophischer Kontext. Hofmann macht den Ich-Begriff zum Fundament einer Gegenwelt, einer dem Objektivismus der Sachwelt entgegengesetzten Welt des Sinns: Nicht das Nichts ist, so Hofmann, das Gegenteil von Sein, sondern das Ich, der Sinn. Das menschliche Bewusstsein in seiner Subjekthaftigkeit wird von Hamburger mit großer Selbstverständlichkeit in ein an sich durch mathematische Begriffe geprägtes Bewusstseinsmodell übernommen. Damit erhält die Logik der Dichtung eine sinn-/existenzphilosophische Prägung, die nicht sofort hervorsticht. (Zum Stellenwert von Hofmanns S. für Hamburger vgl. Angela Martini: Von der Liebe: Käte Hamburger zu Lev Tolstoj, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinande und Angelika Schaser. Göttingen 2003, S. 100–114).

308 | Claudia Löschner Sonderformen Den so genannten S. ist in der Logik der Dichtung (S. 209–242) ein eigenes Kapitel gewidmet. Zu ihnen zählen Rollengedicht, → Bildgedicht, → Ballade und → Icherzählung – Formen, die sich der Einordnung in die GattungsBinarität zu widersetzen scheinen. Dennoch handelt es sich bei den S. nicht um eine systemsprengende Restkategorie. Vielmehr definiert Hamburger sie als zwar unstatthafte, doch präzise bestimmbare Überkreuzungen der Kategorien: »Ist diese [die Ballade] ein struktureller Fremdling im lyrischen Raum, so ist die Icherzählung ein struktureller Fremdling im episch-fiktionalen Raum« (LdD 220). Sprachlogik Hamburgers von ihr selbst als »sprachlogisch« (LdD61) charakterisierter Ansatz zielt nicht auf eine Sonderlogik der Sprache. Auf der Grundlage eines weiten, aber klar umrissenen Logikbegriffs geht es ihr vor allem darum, ein Übereinstimmen von epistemischen Verhältnissen und sprachlichen Strukturen zu beweisen, Sprache als eine Verkörperung von → Logik aufzuweisen. Stream of consciousness Hamburger kennt den von William James geprägten Ausdruck und nutzt ihn vergleichsweise früh, zumeist unter dem deutschen Pendant → Gegenwartsstrom. Struktur, phänomenologische Hamburger beschreibt Ähnlichkeiten zwischen dem Rilke’schen »Schauen« und der Phänomenologischen Reduktion nach Husserl im Sinne einer Gleichzeitigkeit der Auffassungen, behauptet aber keinen Einfluss Husserls: »Es ist nun eine hinzunehmende, als solche nicht kausal erklärbare Tatsache, dass die Ausformung der phänomenologischen Erkenntnistheorie gleichzeitig mit der Entstehens- und Erscheinenszeit der Neuen Gedichte ist« (Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, in: Rilke in neuer Sicht. Stuttgart 1971, S. 83–158, hier: S. 96). Diese Beobachtung führt sie zur These der »p. S. der Dichtung Rilkes«, wobei sie hervorhebt, dass Rilke nicht Philosophie ›verdichte‹, sondern dass »von der klassischen Ideenlyrik unterschieden« bei Rilke »eine Lyrik statt einer Philosophie da ist« (ebenda S. 83; vgl. den Beitrag von Claudia Löschner in diesem Band). Subjektpol / Objektpol Hamburger geht von einer zweipoligen Struktur der Wirklichkeitsaussage aus. Dies bedeutet, dass immer in seiner Aussage neben einem O. oder Objektgehalt in einer Aussage sprachlogisch auch ein S. enthalten sei – auch dann, wenn der jeweils Sprechende nicht »ich« sagt. Ein realer Sprechender kann seine Aussage niemals ausschließlich auf ein Objekt richten, wenigstens in einem sehr geringen Grad ist jede Wirklichkeitsaussage nach

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Hamburger zugleich auf das → Jetzt-und-Hier des Erlebens des jeweiligen → Aussagesubjekts bezogen. Symbolfeld Der Ausdruck »Symbolfeld« geht auf Karl Bühlers »Felderlehre der Sprache« zurück, der zufolge einerseits das »Zeigfeld« die Bedeutung der deiktischen Ausdrücke regelt, während andererseits das »Symbolfeld« die semantisch eindeutig bestimmten »Nennwörter« umfasst. Hamburger nutzt ein in wesentlichen Zügen übereinstimmendes Modell und hebt hervor, dass die reine Symbol-Bedeutung der Sprache nur in der welt- und subjektlosgelösten Fiktion, nie in der Wirklichkeitsaussage wirksam werden könne. System der Künste Hamburgers frühe Auseinandersetzung mit der Allgemeinen → Kunstwissenschaft um Max Dessoir vermag aufzuklären, in welchem Sinne sie wiederholt auf »das S. d. K.« (LdD1, 2, 247) rekurriert. Sie entwickelt es in dem späteren Aufsatz »Drei Gemälde: unmaßgebliche Gedanken zu einem System der Künste« (in: Wechselrede. Joseph Breitbach zum 75. Geburtstag, hg. v. Joseph Breitbach und Hellmut J. Freund. Frankfurt a. M. 1978, S. 238–262; auch in dies.: Kleine Schriften zur Literatur und Geistesgeschichte. Stuttgart 1986, S. 83–97). Hier postuliert sie ein S. d. K., das auf der Idee einer medial nicht gebundenen Definition der Fiktion gründet. Diese transmediale Perspektive führt zu einer von Textform und Sprachlichkeit abgelösten Definition des Literarischen als »bewegte« Darstellung (LdD136). Es handelt sich um eine mehr als nur die sprachlichen Künste umfassende Klasse, die innerhalb einer Großklasse der »bildenden Künste« stehen soll. (Die Bezeichnung »bildende Künste« verwendet Hamburger wechselnd mit »erzeugende« und »mimetische Künste«: LdD138, LdD145, teilweise ist die Rede von »bildhaften Künsten«, L145, L190 L204, L209, L247). Urteil

Bei Hamburger ist Urteil ein Synonym für → Wirklichkeitsaussage.

Vergegenwärtigung Vergegenwärtigtes tritt in der Logik der Dichtung im Sinne von »als gegenwärtig erlebbar / erlebt« auf. Die Unterscheidung »in der Zeit stehend« vs. »zeitlos« spielt eine zentrale Rolle in Hamburgers Theorie. Da in der Fiktion die Anbindung an ein reales Aussage-Ich fehle, gebe es hier keine Verankerung in Raum und Zeit, ganz gleichgültig ob deiktische oder konkrete Zeitangaben in ihr auftreten. Die Erzeugung des (für die Lebendigkeit der Fiktion gewünschten) → Jetzt-und-Hier-Erlebens gelingt am besten ohne jede Angabe von Zeitverhältnissen: Durch die Nichtmarkierung von Zeit entstehe ein »anschaulicheres Jetzt« (LdD66).

310 | Claudia Löschner Verlebendigung V. gehört dem Effekt der → Fiktionalisierung zu, ebenso wie das → »Jetzt-und-Hier-Erlebnis«, das → Zeitlosigkeit und → Vergegenwärtigung beim epischen Erzählen bedinge. Vorstellungskunst Nicht Worte sind nach Hamburger das »Material« der epischen Dichtung, sondern Vorstellungen (LdD2). Bei der Fiktion handelt es sich nicht im Wortsinn um ein Sprachgebilde, sondern um ein Vorstellungsgebilde. Nach Hamburger ist also die Fiktion eine V., während die anderen Dichtungsarten (→ Lyrik, → Icherzählung) »Sprachkünste« im engeren Sinn sind. Wahrheit, ästhetische In Wahrheit und ästhetische Wahrheit (Stuttgart 1979) analysiert Hamburger mögliche Auffassungsweisen dieses Ausdrucks und erklärt zuletzt jeden Begriff einer »ä. W.« für sinnlos. Im engen Anschluss an Vorannahmen, die bereits in der Logik der Dichtung gelten, konstatiert sie hier: »Wir befinden uns nicht im Kategoriensystem der Realität, wenn wir auf diese oder jene Weise ein Kunstgebilde erleben. Das stofflich-reale Material Stein, Farbe, Ton, Wort verliert den Charakter seiner Materialität, indem es zur Kunstgestalt geworden, in diese aufgesogen oder verwandelt ist« (S. 15). Die Annahme, es handle sich bei der Fiktion um eine Raum und Zeit enthobene »Nichtwirklichkeit«, für die ein Kriterium von Wahrheit nicht anwendbar sei, bildet also die Grundlage dieser Ablehnung (vgl. auch Georg Bollenbeck: Anmerkungen zu Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, in: Grenzüberschreitungen. Festschrift für Wolfgang Popp zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerhard Härle. Essen 1995, S. 55–61; Burghard Damerau: Pro und contra: zu Käte Hamburgers Kritik der ästhetischen Wahrheit, in: Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hg. v. Johanna Bossinade und Angelika Schaser. Göttingen 2003, S. 115–128; sowie den Beitrag von Alexander Bareis in diesem Band). Wirklichkeit Hamburgers Begriff der W. ist an einem jeweiligen Bezugsrahmen orientiert, d. h. an einem Subjekt mit dessen Verankerung in Raum und Zeit. An diesem Bezugsrahmen allein wird der Wirklichkeitsgehalt einer Aussage beurteilbar. Ein Subjekt bildet gewissermaßen den Nullpunkt in einem je eigenen »Koordinatensystem der Wirklichkeit« (LdD24). Wirklichkeitsaussage Nach Hamburger ist – auf der psychologistischen Logik Christoph von Sigwarts basierend – der Aussagesatz als äußeres Zeichen eines Urteils aufzufassen. Es bildet die Beziehung eines Erlebenden zum Erlebten ab. Die Aussagestruktur (dies meint eine »logische«, keine grammatische Struktur) umfasst stets zwei Pole (→ Subjektpol / Objektpol), wobei eine

Glossar | 311

Schwerpunktsetzung zwischen den beiden Polen verschiedene Aussagearten differenziert (→ Sachgerichtetheit / Sinngerichtetheit). Zeigfeld

→ Erlebnisfeld

Zeigwörter Symbolfeld.

nach Karl Bühler im Unterschied zu den Nennwörtern → Deixis, →

Zeitlosigkeit Hamburger schlussfolgert aus ihren Beobachtungen zum → epischen Präteritum, dass die epische Fiktion »zeitlos« ist, das heißt außerhalb des Wirklichkeitssystems des menschlichen Lebens steht. (Eine Zusammenfassung von Hamburgers Argumentation liefern Matías Martínez und Michae Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 92012, S. 72).

Index Adorno, Theodor W. 274, 278–279 Alewyn, Richard 6 Andersen, Hans Christian 4

Cassirer, Ernst 20, 23–24, 29, 36, 39–40, 47, 55, 59, 66–67, 69–70, 72, 75, 136, 152, 218–220, 297, 301, 303

Arendt, Hannah 14, 67–71

Castro, Americo 143, 149–151

Aristoteles 57, 194, 197, 199, 272, 306

Cervantes, Miguel de 150, 157, 168–169,

Auerbach, Erich 194

171–172, 175, 231, 262–263 Chomsky, Noam 248–249

Baeumker, Clemens 36

Cohen, Hermann 19–26, 28, 36, 38–40, 42,

Baeumler, Alfred 135

47–51, 53–59, 75, 197, 216–218, 220,

Banfield, Ann 237, 239–240, 242–243, 245–

276, 300, 303

246

Cohn, Dorrit 240–241, 254

Bareis, J. Alexander 107, 133, 231, 310

Croce, Benedetto 173

Beardsley, Monroe C. 282

Curtius, Ernst Robert 79

Benjamin, Walter 47, 58, 279–280

Cysarz, Herbert 15, 73

Benn, Gottfried 283 Bense, Max 74

Damerau, Burghard 274, 279

Benveniste, Émil 242–243

Dane, Gesa 12, 77, 140

Berend, Eduard 139, 142–144, 153, 158,

Danneberg, Lutz 11, 305

230–231

Delf von Wolzogen, Hanna 12

Berggrün, Heinz 65

Descartes, René 83

Beutler, Ernst 147

Dessoir, Max 31, 125, 220, 287, 301

Bieberbach, Ludwig 31

Dilthey, Wilhelm 33–34, 43, 47, 159

Boeckh, August 2

Dyck, Martin 32, 35, 38–39, 41

Böckmann, Paul 32 Bossinade, Johanna 4

Ehlers, Klaas–Hinrich 234

Braungart, Wolfgang 123

Ehlich, Konrad 238–239, 250–251

Brugmann, Karl 102, 287

Eickenrodt, Sabine 231

Büchsel, Elfriede 144–145, 148

Einstein, Albert 13, 19, 26, 28–31, 58

Bühler, Karl 102, 202, 225, 228–229, 233,

Emge, Carl 21

236, 239, 290–292, 294, 299, 309–310

Everth, Erich 106

Burkamp, Wilhelm 26 Fichte, Johann Gottlieb 40, 49, 53–54, 74, Cantor, Georg 20 Carlsson, Anni 74

167, 171, 300 Fiedler, Conrad 276 Fix, Ulla 251 Fludernik, Monika 239–241, 243–246

314 | Index Fontane, Theodor 5, 136 Forstreuter, Kurt 114–115

Herder, Johann Gottfried 7, 139, 148, 150– 151, 154–157, 161–162, 166–167, 170

Frank, Manfred 82

Heyse, Christian August 102

Frey, John R. 102

Hirsch, Kurt 30–31, 34

Fridell, Egon 34

Hjelmslev, Louis 301

Friedemann, Käte 102, 114

Hölderlin, Friedrich 3 Hofmann, Paul 17, 72, 76, 102, 122–123,

Gabriel, Gottfried 211, 282–283

133–134, 136, 139–140, 144, 147, 150,

Gadamer, Hans-Georg 274

157, 159–168, 170–171, 174, 229, 295,

Gauger, Hans-Martin 238, 251

300–301, 304

Geissendoerfer, Theodore 31

Homer 230

Genette, Gérard 299

Huch, Ricarda 16, 43, 52

Geyser, Joseph 36

Husserl, Edmund 7, 42, 58, 119, 123–131,

Görland, Albert 36

137, 158–159, 174, 180–184, 188, 201–

Goethe, Johann Wolfgang 51, 55–56, 68,

204, 209, 273

86, 104, 106, 134, 163, 263, 304 Gogh, Vincent van 277

Ingarden Roman 7, 97, 177–213, 228

Graßmann, Hermann 20

Iser, Wolfgang 187

Grolman, Adolf von 71 Grunsky, Hans Alfred 26, 28 Gumbel, Hermann 16

Jaspers, Karl 17, 79–81, 84, 95, 122, 220, 289 Jean Paul 47, 122, 139, 141–149, 153, 158–

Habermas, Jürgen 272, 274

160, 162, 165, 169–170, 172, 174–175,

Haering, Theodor 35, 39–41

231, 299

Hahn, Barbara 223

Jørgensen, Sven-Aage 148

Hamann, Johann Georg 7, 45, 139–174 Hankamer, Paul 16

Kahl-Furthmann, Gertrud 36

Hansen, Henrich 36

Kant, Immanuel 12, 19, 21, 24, 26–27, 29,

Hartmann, Nicolai 8, 53, 56, 74, 215–220 Harweg, Roland 239

39–40, 48, 53–54, 58, 82–83, 96–98, 165–166, 168, 300, 307

Haym, Rudolf 33–34, 47

Kasdorff, Hans 64, 71

Hecht, Hans 60

Kayser, Wolfgang 101–105, 111, 115, 227–

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 40, 49,

228

132, 144, 146, 197–198, 274–275, 278–

Kehlmann, Daniel 281

279

Kelly, Eugene 216

Heidegger, Martin 80, 84–85, 133–134, 150, 219, 274, 276–279

Klages, Ludwig 64 Klausnitzer, Ralf 46, 73

Heimann, Betty 15, 41

Kleinschmidt, Sebastian 281

Herbart, Johann Friedrich 300

Kluckhohn, Paul 14–18, 30, 34, 44, 53, 67, 77

Index | 315

Köppe, Tilmann 284–285

Mattenklott, Gert 47

Körner, Josef 15–16, 73, 116, 132, 137, 148,

May, Kurt 16–17, 64

151, 153, 159–161, 212, 220

Mayer, Hans 11, 19, 30

Kolbenheyer, Erwin 16

Meinecke, Friedrich 15

Kommerell, Max 158, 169

Meinong, Alexis 204

Korff, Hermann August 44–45, 63–64, 86,

Mendelssohn, Moses 54

92

Minkowski, Hermann 19, 27

Kracauer, Siegfried 20

Minor, Jakob 16, 18

Kreuzer, Helmut 37

Mittelstraß, Jürgen 223

Kreuzer, Ingrid 6

Montoro, Antón de 263

Krieck, Ernst 29

Müller, Andreas 17

Krüger, Anna 143, 169–170

Müller, Götz 147, 159

Krusche, Dietrich 250–251

Müller, Günther 32

Külpe, Oskar 220, 288, 292

Müller, Hans-Harald 101

Kuntze, Friedrich 47, 54–55 Nadler, Joseph 16, 43–44, 154 Lämmert, Eberhard 12, 101, 140, 222, 226, 228

Natorp, Paul 38–40, 42, 47, 75, 216, 220 Neugebauer, Otto 1

Langer, Susanne K. 102, 297

Neumann, Friedrich 60

Leibniz, Gottfried Wilhelm 300

Newton, Isaac 19, 22, 27

Lerch, Eugen 111–113

Novalis (Friedrich von Hardenberg) 6, 11–

Lepper, Marcel 24, 78

76, 84, 88, 96, 139, 300

Locke, John 27 Löwe, Matthias 60, 121, 123, 140, 299

Odebrecht, Rudolf 25

Loheide, Bernward 12, 26

Olshausen, Waldemar 33, 47

Lorck, Etienne 110

Ortega y Gasset, José 136

Luehrs, Kai 223, 225–226 Luther, Martin 54

Pasch, Moritz 20, 24 Petsch, Robert 108–109, 222

Mähl, Hans-Joachim 41

Petersen, Julius 16–17, 44–46, 102

Mahnke, Dieter 53

Pfänder, Alexander 202–203, 205

Mahoney, Dennis F. 12

Platon 23, 275

Maimon, Salomon 54–55

Poe, Edgar Alan 283

Mann, Thomas 3, 5–6, 30, 59–67, 71–72,

Puntel, Lorenz Bruno 271

81, 84, 86–94, 101, 103–106, 136–137,

Poincaré, Henri 20

141, 159, 175, 230, 293, 299

Preisendanz, Wolfgang 143–144

Mannheim, Karl 66, 70

Pringsheim, Alfred 34

Mansour, Julia 179, 226, 246, 288 Martini, Angela 166, 307

Rauh, Gisa 237–238, 244–246, 248

Martini, Fritz 6, 37, 74

Redder, Angelika 251

316 | Index Rehm, Walther 147–148

Sitta, Georg 239

Requadt, Paul 30–31

Skirbekk, Gunnar 271–272

Richards, Ivor Armstrong 187

Sneis, Jørgen 97, 124, 228, 304

Ricœur, Paul 234

Soemmerring, Samuel Thomas 96

Riedner, Renate 251

Spinoza, Baruch 3, 23, 57, 69

Riemann, Bernhard 19, 27

Spitzer, Leo 111–113

Rilke, Rainer Maria 3, 7, 119–137, 283, 293

Spranger, Eduard 15, 107

Rodin, Auguste 134–135

Stadler, August 29

Rosenberg, Alfred 17

Staiger, Emil 227–228, 230

Rosenzweig, Franz 20

Stanzel, Franz K. 101–102, 107, 113, 229,

Rothacker, Erich 14, 17 Russell, Bertrand 42, 58, 210

237, 240, 244–245, 249 Steffensen, Steffen 132 Steinberg, Günter 241

Samuel, Richard H. 15–16, 18

Steiner, Rudolf 34

Sarau, Franz 17

Stern, Paul 50

Sauer, August 15–16, 44

Sterne, Laurence 164, 231

Schaser, Angelika 4

Strich, Fritz 17, 44, 61, 63–65, 220

Scheler, Max 25

Ströker, Elisabeth 211

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 48–

Strohschneider-Kohrs, Ingrid 171

49, 55, 88, 173 Schemm, Hans 36–37

Tarski, Alfred 272

Schernus, Wilhelm 221

Thieroff, Rolf 237

Schiedermair, Simone 241, 250–251

Tieck, Ludwig 16

Schiller, Friedrich 3

Tolstoi, Leo 3, 166

Schlegel, August Wilhelm 15 Schlegel, Friedrich 18, 61, 171 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 15

Unger, Rudolf 4, 31, 44–45, 60, 63–64, 66, 72, 77–78, 81, 139–140, 152–156, 162

Schnädelbach, Herbert 219 Schocken, Salman 60

Vaihinger, Hans 97, 206–209, 219

Schönert, Jörg 124, 234

Varnhagen, Rahel Levin 3, 66–69

Schopenhauer, Arthur 48–49

Veronese, Giuseppe 20, 24

Schröter, Klaus 74, 159

Von der Lühe, Irmela 69, 137, 299

Schultz, Franz 16 Schur, Issai 31

Wagner, Richard 50

Schwarz, Egon 124

Walton, Kendall 113

Searle, John R. 95, 113, 280, 282

Walzel, Oskar 108–112

Seidler, Herbert 102, 230

Warren, Austin 228

Sieg, Ulrich 51, 163

Weimar, Klaus 223

Sigwart, Christoph von 127, 194, 201, 203

Weinrich. Harald 204–205, 237, 247–248

Simmel, Georg 15

Wellek, René 228

Index | 317

Werle, Dirk 229

Zeydel, Edwin H. 31–32

Weymann, Ulrike 179, 204

Zuschlag, Katrin 241, 249–250

Whitehead, Alfred North 210 Wiese, Benno von 17, 64 Wundt, Max 26, 300

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Andrea Albrecht

Dr. Claudia Löschner

Universität Stuttgart

Universität Stuttgart

Institut für Literaturwissenschaft

Institut für Literaturwissenschaf

Keplerstr. 17

Keplerstr. 17

D-70174 Stuttgart

D-70174 Stuttgart

Docent Dr. J. Alexander Bareis

Dr. Matthias Löwe

Lunds universitet

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Språk- och litteraturcentrum

Institut für Germanistische

Box 201

Literaturwissenschaft

S-221 00 Lund

Fürstengraben 18 D-07743 Jena

Peggy Bockwinkel, M.A. Universität Stuttgart

Prof. Dr. Jörg Schönert

Institut für Literaturwissenschaft

Universität Hamburg

Keplerstr. 17

Institut für Germanistik

D-70174 Stuttgart

Von-Melle-Park 6 D-20146 Hamburg

Prof. Dr. Lutz Danneberg Humboldt-Universität zu Berlin

Jørgen Sneis, M.A.

Institut für deutsche Literatur

Universität Stuttgart

Unter den Linden 6

Institut für Literaturwissenschaft

D-10099 Berlin

Keplerstr. 17 D-70174 Stuttgart

PD Dr. phil. habil. Sabine Eickenrodt Univerzita Komenského v Bratislave

PD Dr. Dirk Werle

Filozofická fakulta

Humboldt-Universität zu Berlin

Katedra germanistiky

Institut für deutsche Literatur

Gondova 2

Unter den Linden 6

SK-81499 Bratislava

D-10099 Berlin