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German Pages 522 [528] Year 1922
Henriette Schrader-Breymann Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern zusammengestellt und erläutert
von
Mary 3- Lyschinska
In zwei Bänden mit 5 Bildern
Berlin und Leipzig 1922
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. vormals G.I. Göschen'sche Verlagshandlung / I. Guttentag, Verlags buchhandlung / Georg Reimer / Karl I. Trübner / Veit & Comp.
Alle Rechte, besonders das der Über
setzung in fremde Sprachen, Vorbehalten.
Senrictte Breymann im Jahre 1erh wird die Oberaufsicht erhalten. Ich werde Dir, liebe Mutter, dasNähere von ihrem ganzen Plane mitteilen. Fröbel wollte man hier behalten; es sollte sich an die Anstalten ein Lehrkursus schließen, weil der Staat mehrere junge Mädchen ausbilden lassen will. Fröbel hat es abgeschlagen, weil er nicht Staatsdiener sein will, und das freut mich. Aber, ob die Äerren ihm die Mädchen dennoch hinschicken werden, ist fraglich. Ehrgeiz und Sparsamkeit sind Äauptlügenden der jetzigen Machthaber. Das halbe Jahr kostet alles in allem 120 Taler. Natürlich habe ich bei Fröbel in Liebenstein ganz freie Station, und Fröbel wird den letzten Pfennig mit mir teilen, davon seid überzeugt. Meine Sachen werden mit Fröbels fortgeschickt. Bitte, liebe Mutter, sorge dafür, daß wir uns recht ungestört haben können; wenn nur kein Besuch kommt und man nicht von mir verlangt, daß ich ausgehen soll. Laß mich bei Dir schlafen, damit wir keine Minute womöglich getrennt werden. Es ist mir, als sähen wir uns lange nicht wieder, und die Zeit mit Euch soll mir förmlich heilig sein. Das Leben spricht recht ernst zu mir, denn wenn ich so recht bedenke, was ich nun beginne, da stehe ich mit meinen Gedanken stille, fühle aber einen unerschütterlichen Mut in mir, eine Kraft, die mich zu den größten Entbehrungen fähig macht. Fröbel sagt mir: „Ich kann dir auf der einen Seite nur Opfer und Entbehrungen bieten, auf der andern Seite Freiheit, Wahrheit, Liebe!" Für dieses bin ich bereit zu sterben.
Der Aufenthalt bei Fröbel in Dresden im Winter 1848/49.
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dies muß ich haben, wenn ich leben soll, wie ich das Leben verstehe. Diese drei Worte find auch Marius Bendsens Wahlspruch, er schrieb darüber einen sehr hübschen Aufsatz. Er ist wohl tot, seine Briefe bleiben aus.... ich bin ganz ruhig. Diese Woche wird eine stürmische werden, denn am 21. wird Fröbels Geburtstag gefeiert und dazu sind Proben usw. nötig. Ich stelle ein lebendes Bild, die Mutter der Gracchen Cornelia dar, dann in einem Lustspiel eine weise Erzieherin und habe vielleicht noch in der Begrü ßungsfeier zu sprechen. Wir schenken Fröbel Correggios „Nacht" als Lichtbild, eine Taffe mit der Ansicht von Dresden und einen Lorbeer kranz. Es ist ein Festkomitee gewählt von drei Äerren und drei Damen, wozu auch ich gehöre; mir liegt also viel ob, mündlich mehr von allem. So lebt nun wohl I Zum letzten Male rufe ich es Euch zu aus Dres den. Über 8 Tage bin ich hoffentlich meilenweit von hier entfernt, ge
denke aber eine Nacht in Braunschweig zu bleiben, komnie also vielleicht am 24. über Hildesheim Hier in des Oheims Zimmer füge ich noch hinzu, was er mir soeben sagte: „Es ist mir lieb, wenn du eine kleine Ausstattung mitbringst; übrigens sollst du keine Forderungen an deine Eltern mehr machen. Ich habe mich gefreut über deine vernünftige Sparsamkeit und bin ge wiß, du wirst diese beibehalten. Deine ganze Erscheinung, das Verhält nis, in welches du bei mir eintrittst, fordert ein edeles Äußere, einfach aber edel werde ich dich immer kleiden und deine andern Bedürfnisse befriedigen, so daß du für nichts zu sorgen hast; denn das gehört dazu, um deine Natur frei zu entwickeln. Kommen einmal Sorgen, so weiß ich, du wirst nicht klagen. Sage also deinen Eltern, für eine anständige Exi stenz würde ich, solange du bei mir bist, sorgen. Was dein Verhältnis in Beziehung auf mich betrifft, so wirst du im Anfang natürlich helfen, wo Not ist. Sind wir ganz eingerichtet, dann erhältst du eine Stellung, die deiner Individualität entspricht, und ich glaube, das ist die literarische. Du sollst mit den geistreichen Frauen unserer Bekanntschaft in schriftlichem Verkehr stehen und mit an einer pädagogischen Zeitschrift arbeiten. Wir wollen keinen Bund machen; es kümmert sich keine Rose, keine Lerche um die andere, aber eine jede blühet schön herauf, weil sie nach einem klaren Gesetze handelt; dies Gesetz soll jeder von uns klar in sich finden und es andere lehren; das ist die Aufgabe unseres Zusammen-
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seins. Du sollst keine andere werden, als du bist, aber du sollst ganz werden, was du bist. Doch um die Traube zu reifen, die Blume zu er schließen, brauchen wir die ÄiHe des Sommers, und so wird die Arbeit des Lebens dich zu dem machen, was du bist.
Wollen mir deine Eltern ihre Kinder anvertrauen, gut; ich kann ihnen ohne Eigennutz nichts Besseres raten. Wollen sie es nicht, auch gut, sie müssen es am besten wissen, und ich brauche ihr Vertrauen nicht." (Versteht dies aber nicht falsch und beschließt nicht eher etwas, bis Ihr mich, Äenriette, gesprochen 1) „Daß Marie zu uns kommt, rate ich unbedingt, denn es fehlt in Keilhau das Weib, doch auch das überlasse ich deinen Eltern ganz, denn der Mensch muß sich aus sich frei bestimmen. Ans liegt ein großes Werk ob, mein teures Kind; es zu erfüllen, erfordert den heiligsten Ernst, erfordert Opfer. Aber Opfer werden nicht mehr Opfer sein, wo der Grundstein die Liebe ist. Nicht die weichliche Sympathie, die begehrt zu besitzen, nein, die starke Liebe mit geistigem Erkennen, die versteht zu entsagen, aber aber auch zu nehmen." Dies un gefähr waren seine Worte. Er war ruhig, klar und bestimmt, daß dies mich sehr über seine Zukunft beruhigt, und ich bin recht glücklich, daß Ihr mir Euren Segen gebt, ihm zu folgen. Ja, teure Eltern, ich hoffe, Ihr habt noch einmal Eure Freude an mir. Ach, wie ist es doch schön, daß wir uns so lieben! Denn heilig kann ich es Euch versichern, ich glaube die Idee rein in mir zu tragen, ihr allein und keinen Nebenabsichten zu folgen, und dies gibt mir meine Ruhe, meinen Mut, ja, dies wird mir auch meine Freudigkeit geben. Ich wünsche sehr Cramms zu Äause zu treffen. Ich kann mir für die Frau Landrätin nichts Besseres denken, als sie nähme sich ein bei Fröbel gebildetes junges Mädchen, teils zur Gesellschafterin, teils zur Führerin eines Kindergartens in Volkersheim. Es erwüchsen ihr daraus gewiß süße Freuden; teile ihr dieses noch einmal mit. Auf Wiedersehen 1 Eure Lenriette.
Ehe der Dresdener Kreis von Fröbels Schülern, Freunden und Gönnern für immer auseinanderging, vereinigten die Mitglieder sich zu einem feierlich fröhlichen Feste in dem Gasthofe zur „Stadt
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Wien". Ein reichhaltiges Programm hatte man ausgestellt und viele talentvolle Mitglieder zur Mitwirkung herangezogen. Als deklama torische, dichterische Kraft, als Schauspielerin und lebende Figur in den zu stellenden Bildern wurde Lenriettens Äülfe inAnspruch genommen. Die Tagesordnung verlief ungefähr folgendermaßen: Man ver sammelte sich 4 Ahr nachmittags im kleinen Saale der „Stadt Wien" und sang gemeinschaftlich ein „Einigungslied". Sodann wurde Fröbel durch einzelne Sprecher, sowie durch ein Chorsprechen feierlich begrüßt. Nach diesem Akt ging man zu Kaffee und Kuchen in einen Nebenraum, wo man bis gegen Abend in vertraulichem Gespräch beieinander blieb. Während der Zeit entfernten sich diejenigen, welche bei den nun folgen den „lebenden Bildern" tätig sein sollten. Als alle Vorbereitungen ge troffen waren, wurde die Gesellschaft hinauf geführt in den großen Saal, wo eine Bühne errichtet war. Die Bilder sollten die anüke Welt, das Mittelalter und die neue Zeit vorführen. Einleitende, erklärende Verse gingen jedem Bilde voran, ein Wahlspruch sollte jedem Bilde zugrunde liegen. In dem ersten Bilde „die Mutter der Gracchen,, stellte Äenriette die Hauptfigur dar, und mit keckem Anachronismus legte man diesem Bilde den Spruch zu gründe: „Kommt laßt uns unsern Kindern leben!" Dann folgte „Elisa beth von Thüringen als Repräsentantin des Mittelalters". Ein drittes Bild stellte einen Kindergarten dar, Schillers Ausspruch: „Gar hoher Sinn liegt oft im kindischen Spiel" war die Grundidee der erläuternden Verse. Im Anschluß an dieses letzte Bild wurde Fröbel auf seinem Platze im Zuschauerraum unter Gesang mit Girlanden umwunden und bekränzt. Daran schloß sich ein einfaches Abendessen, und ein Lustspiel: „Nach 50 Jahren" bildete den Schluß dieses festlichen Tages. Das Osterfest verlebte Henriette in Dresden, am Palmsonntag hatte sie mit Fröbel die schon erwähnte herrliche Aufführung*) der IX. Symphonie von Beethoven genossen. Der lang ersehnte Tag des Wiedersehens rückte immer näher; Vater und Mutter waren im Geiste nicht minder ungeduldig als die Tochter. So heißt es bei dem Vater: „Gott geleite Dich und bringe Dich mit denselben frommen Gesinnungen wie ehemals wieder in unsere Arme." Am 25. April gelangte Henriette glücklich in die Heimat. Leider war die Freude des Wiedersehens getrübt durch Anwohlsein der Mutter, Henriette empfand die Abwesenheit der *) Siehe Seite 85.
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verständnisvollen, nachgehenden Mutter doppelt schwer, da der Vater sie gleich zu Besuchen bei seinen aristokraüschen Freunden aufforderte und sie sich aus der freien, demokratischen Geselligkeit Dresdens in eine entgegengesetzte Welt versetzt fand. Dieser Verkehr war in dem Augen blicke peinlicher als sonst, denn die plötzlich ausgebrochene Revolution in Dresden hatte die Gemüter sehr erregt, und die Ansichten platzten hefüg aufeinander. Fröbels weitgehende Pläne für das Sachsenland erlitten einen schweren Schlag durch die obenerwähnten poliüschen Anruhen, ja, man fürchtete nicht ohne Grund für seine Person. Äenriette bemerkt unter dem 10. Mai d. I. folgendes: „War Fröbel in Dresden, als der Lärm sich erhob, so fürchte ich für sein Leben, denn seine Begeisterung steht der eines Jünglings nicht nach und ebensowenig sein Mut. Mit Angst sehe ich der Totenliste entgegen, ob ich nicht jemand darunter finden werde, dem ich eine besondere Träne nachweinen muß. Ich kannte in Dresden manchen hoffnungsvollen Jüngling, manchen reich begabten Mann, die sich meine Achtung und Freundschaft erworben, und wenn ich die fallen sehe und an die andern Opfer denke, die schon gefallen sind und vielleicht noch fallen werden, bemächtigt sich eine Erbitterung meiner Seele, die sich für ein Weib nicht ziemt und die ich in ruhigen Stunden bereue." Fröbel hatte sich glücklicherweise schon früher nach der Thüringer Äeimat zurückgezogen, wo die Fürsten und Machthaber seiner erzie herischen Tätigkeit durchaus fteundlich gesinnt waren. Lenriette fand ihr Gleichgewicht wieder in dem Verkehr mit den jüngeren Geschwistern, in dem beseligenden Gefühl, sie besser als früher zu verstehen, und sie leiten zu können. Sie sagt hierüber: „Wenn es sein sollte, so würde ich auch hier volle Befriedigung in der stillen Ausübung von des Oheims Lehre finden, wenn ich mich nicht noch sehnte, manchen Mängeln in der Praxis abzuhelfen . . . Aber dessen bin ich gewiß, das Leben mit dem Oheim wird mich nicht von dem Kerzen meines Vaters trennen, das haben mich unsere Kinder gelehrt, die so glücklich bei den Spielen sind."
Fassen wir das Ergebnis des Aufenthalts bei Fröbel in Dresden kurz zusammen. Was hat Lenriette Breymann unter den Erfahrungen des Lebens, sowie unter dem Einflüsse des Fröbelschen Unterrichtes und
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dem Verkehr mit der Kinderwelt unter Fröbelscher Leitung Bleibendes gewonnen? Mehr als die meisten Frauen ihrer Zeit mußte Lenriette an dem gänzlichen Mangel einer wissenschaftlichen Schulung des weiblichen Intellekts leiden. Ihre Naturanlage neigte zur Gedankentiefe und diese ward (wie wir schon wissen) durch das Elternhaus früh angeregt, durch ihre lange Kränklichkeit und intellektuelle Einsamkeit sehr genährt, ohne daß die Vorbedingungen zu einer philosophischen Bildung ersullt werden konnten. Ihr fehlte der positive Stoff des Wissens und damit das Material zum Denken. So arbeitete der denkende Geist wie eine sich bewegende Dreschmaschine, welche man mit leerem Stroh speist. Wahr lich, Tantalusqualen hat Äenriette durchlebt in ihrem Ringen nach einem für sie annehmbaren „Sinn des Lebens". Nach dem Aufenthalt bei Fröbel war dieser Entwicklungsprozeß noch lange nicht abgeschlossen, aber in dem bewegten Strom der Impulse, Gefühle und Gedanken bildet sich gewissermaßen ein Kristallisationspunkt, um welchen die Gesamt heit ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens sich bewegen. Um den Wendepunkt ihres geistigen Seins kurz zu bezeichnen, sagen wir: Sie gewinnt die Elemente ihrer späteren Lebensanschauung. Wir sehen aus ihrer Korrespondenz, wie die christlich-kirchlichen Dogmen ihres Elternhauses sich allmählich auflösen, indem sie in Berührung kommen mit der Fröbelschen Anschauungsweise der Gesetzmäßigkeit aller menschlichen Ent wicklung. Eine Zeitlang will Lenriette die „Versöhnung von Glauben und Wissen" gefunden haben, und sie sucht parallele Gedankenreihen in der Fröbelschen Crziehungslehre mit dem Neuen Testament. Allmählich bedient sie sich einer mehr philosophisch angehauchten Sprache, bei welcher die Terminologie der damals auf dem Gebiete der Geisteswissen schaften noch immer herrschenden philosophischen Schule unverkennbar ist. In ihrem mühsamen Tasten und Suchen nach einer wissenschaft lichen Grundlage für die Erziehung ahnt sie schon die Bedeutung der Naturwissenschaft für ein vertieftes Studium des menschlichen Wesens und fleht einen Freund an, ihr Unterricht in der „Anthropologie" zu geben, damit man mit dieser Külfe „die Umrisse des inneren Menschen erkenne". Welche Fülle von neuen Anregungen dem empfänglichen Geiste des jungen Mädchens von 22 Jahren auch geboten ward, diese bewegten sich dennoch an der Peripherie ihres Wesens. Die Zentralerkenntnis, welche der Umgang mit Fröbel und seinem Kreise zeitigte, war das er-
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wachende Bewußtsein der hohen Würde des weiblichen Geschlechts als Trägerin einer erziehlichen Mission in der menschlichen Gesellschaft. Diese Erkenntnis sollte keine Auflehnung gegen die Natur sein, mit welcher das weibliche Wesen so viel unmittelbarer verknüpft ist, als das männliche; wohl sollte sie aber eine innere Befreiung erzeugen, wenn die Naturgesetze in ihrer Enge als eine Fessel empfunden werden. Nicht die Gebärerin allein, sondern die Erzieherin eines brauchbaren Men schenkindes wird man im weiblichen Wesen der Zukunft ehren.
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In Liebenstein. Einleitendes. ^?^röbel hatte bereits einigeWochen seinen vorübergehendenWohnsitz
XJ in Liebenstein bezogen, als er wiederholt an Äenriette schrieb und sie aufforderte, ihm zu folgen. Nur den Bitten der Eltern zufolge zögerte sie, die Reise anzutreten; die politischen Unruhen gaben den Eltern Anlaß zu Befürchtungen. In der dritten Woche des Monats Mai langte Äenriette in Liebenstein an und ergriff mit Mut die Zügel des Laushaltes bei Fröbel, um sie Mitte-September desselben Jahres in die Lände von Luise Levin, der späteren Gattin Fröbels, zu legen. Das Leben in Liebenstein wurde von Lenriettens Seite mit Be geisterung begonnen und mit einem für ein Mädchen von 22 Jahren eminent praktischen Blick durchgeführt; dafür reden die schlicht erzählten Tatsachen in Lenriettens Briefen an die.Eltern. Sie hatte aber wieder um ihre Körperkräfte überschätzt. Um so bedauerlicher war es, daß der Aufenthalt mit einem Bruch zwischen ihr und Fröbel endigte. Zwar war die äußere Veranlassung zu dem Zerwürfnis trivial*), daß es sehr bald durch eine Versöhnung ausgeglichen werden konnte. Aber Lenri-ette wurde durch den Vorfall hellsehend und lernte gegenüber gewissen Schwächen in Fröbels Charakter sich zur Wehr setzen. Jene schmerzliche Erkenntnis zerstörte weder ihren Glauben an die Wichtigkeit seiner Er-ziehungslehren noch das Gefühl tief empfundenen Dankes für den neuen Lebensinhalt, der ihr durch die Bekanntschaft mit Fröbel geworden. Ein weiterer Umstand trug dazu bei, den Aufenthalt in Liebenstein zu einer Zeit körperlicher und seelischer Erschütterungen für unsere Len-riette zu machen. Dieser lag in der Umwandlung des Verhältnisses zum jungen Bendsen. Während eines Jahres hatte er ein vollständiges Still*) Fröbel wollte Lenriettens Aufenthalt in den Ferien bestimmen und sie von den ihm entgegenwirkenden Einflüssen in Keilhau fernhalten.
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schweigen Lenrietten gegenüber beobachtet, trotzdem er sich die Erlaubnis erbeten hatte, eine Korrespondenz mit ihr zu fuhren. Wie die Sache zusammenhing, wußte man nicht; der Krieg mit Dänemark und Bendsens notwendig gewordene Reise in die Äeimat erschienen eine genügende Erklärung. Plötzlich erschien der verlorene Freund in Liebenstein ohne vorhergehende Ankündigung seinerRückkehr. Er erklärte, sein Verhältnis zu Alwine Middendorf sei vorbei, er wolle von jetzt an sich den Fröbelschen Bestrebungen anschließen. Fröbel brauchte junge Kräfte und übertrug ihm das Amt des Lerausgebers seines eben zu gründenden Blattes. Bei Lenriette mußte die Frage aufkommen, ob sie ohneWiffen und Willen nicht dazu beigetragen habe, Alwinens Glück zu zerstören. Allein Alwine selbst sowie der Bruder und Vater Middendorf sprachen Lenriette frei, und so mußte sie annehmen, die veränderten Beziehun gen beruhten aus Alwinens freiem Entschlusse. Wenige Monate später verlobte sich diese mit einem andern Lerrn in Lamburg, den sie auch heiratete. Nicht wenig wurde die Anbehaglichkeit des Liebensteiner Aufent halts zuletzt gesteigert durch Fröbels eigene Anruhe, durch den fortwäh renden Wechsel in seinen Plänen für die allernächste Zukunft. Lenriette Breymann sollte an nicht weniger als fünf verschiedenen Stellen für seine Idee arbeiten innerhalb der Zeit vom Frühjahr 1849 bis zum Sommer 1851, und kaum hatte sie das Interesse der Eltern und Freunde für ein Projekt in Beschlag genommen, Beziehungen angeknüpft und andere Leute angeregt, Veranstaltungen zu treffen, so tauchte ein neuer Plan auf, der sich nicht immer mit den schon eingegangenen vertrug. Wenn man auch dem Genie Rechnung tragen muß, das, von einer unbezwinglichen Gewalt getrieben, sein Werk der Welt zu offenbaren sucht; wenn man sich auch die innere Anruhe Fröbels damit erklären kann, daß einem beinahe 70 jährigen Greise wenig Zeit zur Sicherstellung seiner Ideen bleibt, so sahen doch die Freunde seiner Sache mit Trauer, wie er oft sein eigenes Werk durch hastiges Vorgehen und Abspringen wieder zerstörte. Namentlich wurden einfacher veranlagte Naturen, denen es nicht gegeben war, Fröbels genialem Schwünge zu folgen, trotz der redlichsten Absichten, ihn zu verstehen, an ihm irre. Lenriette hat fortan lange Jahre hindurch mit dem steigenden Mißtrauen ihresVaters gegen alles, was von Fröbel herrührte, zu kämpfen gehabt. Nach einer heftigen Szene mit Fröbel und Luise Levin war Lenriette ftoh, das wahrhaft mütterliche Angebot der Tante Lindau,
bei ihr in Mühlhausen (Thüringen) eine Zeitlang zu verweilen, anzu nehmen. Unter den beruhigenden Einflüssen eines geregelten, wohl habenden Laufes wurde Lenriettens Zustand sehr gehoben; aber auch den seelischen Bedürfnissen des jungen Mädchens brachten Tante und Onkel Lindau ein liebevolles Verständnis entgegen, indem sie die Gast freiheit ihres Laufes auf Bendsen erstreckten und zugleich in Lenriette die Loffnung anregten, daß ihre Gegenwart in Mühlhausen für die Einführung der Kindergärten wirksam werden konnte. In Mühlhausen wurden in lebhaftem Briefwechsel mit den Eltern in Mahlum, in fteiem vertraulichen Austausch mit dem Ehepaar Lindau, die Lebensaussichten und -Pläne von Lenriette und dem jungen Bendsen besprochen. Letz terer wollte auf Lenriettens Umgang nicht verzichten, sowenig wie er sich daraus einlassen wollte, sich irgendwie fest zu binden. Ebenfalls erklärte sich Lenriette gegen jedes Versprechen, welches der fteien Ent wicklung eines Verhältnisses eine Fessel werden könnte. Mehr dem Drängen der Eltern und Verwandten als dem Wunsche der nächst Beteiligten entsprechend, kam es zu einer Verlobung zwischen Lenriette Breymann und Marius Bendsen. Der Vater Breymann besonders verlangte „eine allgemein verständliche Form des Verkehrs", und so kehrte Lenriette als Braut in das elterliche Laus zurück. Innerhalb des eben skizzierten Zeitrahmens in Liebenstein bewegt sich ein für die Erziehungsgeschichte interessantes Leben, welches Len riettens damals geschriebene Briefe getreulich widerspiegeln. DieÄuße-
rungen über Fröbel muß man als Augenblicksbilder betrachten, die vielleicht in späteren Jahren mit größerer Objektivität gezeichnet worden wären; doch auch die unmittelbaren Eindrücke von einer geschichtlichen Persönlichkeit haben ihren großen Wert, wenn man sie eben als solche zu benutzen versteht. Briefe.
Lenriette an ihre Mutter. Bad Liebenstein, 31. Mai 1849. Es tut mir wirklich leid. Euch und besonders Dich, geliebte Mutter, so lange ohne Nachricht gelassen zu haben ... Die Natur hat hier alles getan, um des Oheims Unternehmen zu fördern; es ist reizend hier, viel schöner als in Keilhau. Wenn nur die Menschen das ihrige Lun, dann wird das Werk schon gelingen, aber die neuesten Ereignisse*) greifen *) Revolution in Dresden.
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vorerst bitter in die äußeren Verhältnisse ein, und Fröbel ist nicht der Mann, der sie an der rechten Seite anzufaffen vermag. Stätte ich nicht diese und noch eine schwere, drückende Sorge, dann wäre ich hier recht glücklich. Bekommt Fröbel fürs erste Schülerinnen, dann wird schon alles gut werden; bleiben diese aber aus, dann begreife ich nicht, wie es werden soll. Doch er spricht: „Die Sachen werden sich einzig schön machen" und scheint sehr heiter und vergnügt. Doch ich weiß schon, wie ich es anzufangen habe . . . . O, Mutter, ich habe hier eine sehr wichtige Stellung, wenn ich nur Einsicht genug besitze, sie auszufüllen. Es war hohe Zeit, daß ich kam, denn es bestanden Einrichtungen, die in keiner Weise so bleiben durften und konnten. In meinen Sorgen finde ich nun freundliche Anterstützung an der Frau Inspektorin Müller, einer würdigen Matrone, und Emma Bothmann, einem feinen, beschei denen Mädchen und auch in gewisser Weise an Wilhelm*). Mit der Frau Müller habe ich heute eine lange Unterredung gehabt und sie gebeten, mir mit Rat beizustehen, wie ich die Einrichtung am billigsten machen kann. Bisher haben sie, denke Dir, an der Table d'hote gegessen, sich von morgens bis abends bedienen lassen. Dies habe ich erst einmal abgestellt und werde bis zu Luisens Ankunft ungefähr folgende Einrich tung treffen: Mittags lassen wir uns speisen: Suppe und noch ein Gericht. Unser einfaches Abendessen, sowie Kaffee und die übrigen kleinen häuslichen Geschäfte besorge ich selbst. Ich werde auch Sonn abends in Eisenach die notwendigsten Einkäufe an Äausgerät machen, da es sehr teuer kommt, wenn wir uns dieses alles leihen. Nächste Woche werde ich auch Zeichen- nnd französischen Unterricht mit zwei Mädchen und einem Knaben beginnen, die uns später gewiß ganz übergeben werden, wenn die äußerenVerhältnisse**) nur etwasbestimmterwerden. O, meine gute Mutter, es macht mir innige Freude, nicht bloß für die schöne Idee der Kindergärten zu sprechen, sondern auch körperlich zu arbeiten, zu entbehren! Frau Müller hat mir recht guten Mut eingesprochen, und der Badearzt, leider ein junger, unverheirateter Mann, interessiert sich ungemein für die Fröbel-Sache und hat sich schon erboten, über alles, was in sein Fach schlägt, Vortrag zu halten. Leute hatte ich die unendlich große Freude, eine Schar Keilhauer
*) Wilhelm Middendorf Sohn. ** ) Fröbel wollte nach einigen baulichen Veränderungen das Jagd schloß Mariental mieten, Luise Levin heiraten und dort sein Leim gründen.
mit ihrem Lehrer Äermann hier zu sehen und von meinen dortigen Freunden und unserer Marie zu hören. Sie frühstückten bei uns: Dres dener Geburtstagstorte und Wein; mittags aßen wir an der Table d'höte (im Kurhause). Ach, an Briesen und Besuchen ist kein Mangel!
Ich bin so voller Sorgen und Gedanken, daß ich kaum schreiben kann, aber dies drückt mich nicht nieder, nein, es erhebt, es trägt mich l Wenn unser Werk gelingt, wird man sagen: „Ja, die Lenriette ist doch treu." Mißlingt es, so spricht man achselzuckend: „Nun, die Äenriette lebte immer nur in Idealen und hatte Lust zu Abenteuern". Dr. Äertz ist gefänglich eingezogen und mit dem Kindergarten der Frau soll es sehr mißlich stehen. K. ist in London, sonst ist, soviel ich weiß, alles beim alten. Wie gesagt, ich bin gar nicht gesammelt zum Schreiben..... Denke Dir, Alwine ist so leidend, daß sie ganz ihrer Gesundheit leben soll, und zwar wünschen ihre Eltern, sie soll nach Äochgräfes gehen; ich habe aber heute mit Wilhelm gesprochen, und wir sind beide der Meinung, daß er seinem Vater vorschlägt, man solle Alwine die Wahl lassen, ob sie hier oder im Keilhau leben will. Am 1. Juli kommt Luise; o, wäre sie schon da!
Eben kommt Wilhelm ganz in Eifer, mir den Plan auszureden, selbst die Besorgungen zu übernehmen. Er glaubt, ich würde wenig er sparen. Als ich ihm sagte, Frau Müller verlange 100 Gulden für ein halbes Jahr Miete, meinte er, ich solle ein anderes eben leer stehendes Laus nehmen, ohne dem Oheim ein Wort vorher zu sagen, er würde dann schon folgen. Wilhelm ist ein kluger Kopf, aber das Feuer der Ju gend lodert noch darin und man muß ihn etwas leiten. Ich will jeht einen Gang auf die Burg machen, um mich an dem herrlichen Abend zu erquicken. Mutter, Marie und Anna, auch Dorette bekommen bald den ver sprochenen, lustigen Brief; ich werde morgen wieder anfangen, an Euch zu schreiben. Allen Kindern einen zärtlichen Kuß. Wie und wann kommt Karl wieder? Dem Vater viele, viele Grüße.
Mit diesem Briefe wirst Du so wenig zufrieden sein, wie ich es bin, aber es ist mir nicht möglich, mehr und vernünftiger zu schreiben. Könntest Du mir doch meinen Nähüsch mitschicken; meine aus gearbeiteten Vorträge muß ich haben. Lebe wohl. Du teure guteMutter.
Ewig Deine Lenriette.
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Kapitel 8: Äenriette an die Mutter.
Bad Liebenstein, 12. Juni 1849 Es hat mich diese Tage schon immer gemahnt. Dir zu schreiben, meine Mutter, mein ftüherer Brief von hier war so unvollständig. Denn zu neu, zn fremd ttat mir alles hier entgegen, und das äußere Leben war wenig geeignet, mein Inneres zu ordnen und zu beruhigen. Ich bin nun gestern schon 14 Tage hier und fühle mich glücklich und zufrieden, denn ich wirke aus Liebe und Freiheit; aus Liebe zu der Idee und aus eigener Selbstbestimmung habe ich alle die kleinen Sorgen und Geschäfte übernommen, welche die Führung unseres Äaushaltes erheischt. Der Oheim ist auf der einen Seite nicht einmal recht damit zufrieden; er sähe lieber, daß ich ganz frei wäre; aber ich habe ernst drein gesprochen, daß wenn wir die kleinen, äußeren Dinge nicht beach ten, wir nimmer zu den großen gelangen, welche er seinem Plane nach ausführen will. Er sagte mir mehrere Male, ich sollte mich nach einer hübschen, flinken Bedienung umsehen, aber bis jetzt habe ich alles selbst übernommen, was im Saufe zu tun war. Die Zeit, ehe ich kam, hat ihm schon so viel gekostet, daß er zusetzen muß, obgleich er bei einer sparsa meren Einrichtung wohl hätte auskommen können. . . . Ich will Dir nun erzählen, wie ich bis jetzt meine Tage verlebt, und wie ich fie künftig zu verleben gedenke. Wir wohnen auf dem Gute, kaum 5 Minuten von dem schönen Kurhause. Ein großer geräumiger Sos, dessen vierte Seite von diesem Gutshause gebildet wird; der Saupteingang ist vom Sofe aus, eine breite, steinerne Treppe führt hinein, links von dieser steht eine schöne Linde und unter ihr eine Bank. Das Saus ist groß, geräumig, aber unvorteilhaft gebaut, da fast jedes Zim mer nur einen Eingang hat. Rechts und links vom Saupteingange sind zwei lange Gänge, auf welche die Zimmer münden; die letzte Tür des rechten Ganges führt in mein Bereich; links die Gesindestuben und die Küche, dann die Treppe. Das obere Stockwerk gleicht dem unteren und der Oheim hat die beiden Zimmer oben, welche wir unten bewohnen. Da aber im oberen Stock die eine Kammer größer ist, wollen wir mor gen mit den Wohnungen wechseln, weil ich Freitag die beiden Gössels, Rosalie Reinhard und Amalie Mattfeld abholen werde; später kommt Luise, und Amalie Mattfeld wird den Kindergarten hier leiten. Diesen Sommer ist dieses wirklich reizende Bad sehr besucht, wir sind daher etwas beschränkt mit der Wohnung, überhaupt ist das Leben
hier nicht billig, überall Badepreise, aber dafür manche Annehmlich keiten, die kein Dorf, keine Stadt vereinigen. Der Winter wird es aus gleichen, wo die Leute froh sind, wenigstens etwas zu verdienen. Die Frau Inspektorin Müller ist Pächterin des ganzen Bades und dieses Gutes, welches ihr Sohn mit seiner jungen Frau bewirt schaftet; sie wohnen hier im Lause. Die Kurhäuser und Anlagen sind einzig schön, und ich kann es den Leuten nicht verdenken, die hier zu ihrem Vergnügen leben. Doch, ich möchte in keinem anderen Lause wohnen als hier, es liegt abseits des Badelebens in ländlicher Stille; man kann gehen, wie und wo man will. Dicht hinter dem Lause führt ein hübscher breiter Sandweg in ein nahes Tannenhölzchen, und hinter diesem Wege erhebt sich ein Rasenhang, auf dem schöne, kräftige Obstbäume grünen und reiche Früchte tragen. Anter diesen nicken die hohen Roggenähren im Lauch der Winde, und wenn man einen schmalen Fußsteig in dem Felde die Berglehne hinauf gestiegen ist, ruht man unter schlanken, jungen Birken. Dieses Wäldchen zieht sich eine ziemlich lange Strecke am Felde entlang, und man hat dort den reizendsten Spaziergang. Es ist immer meine schönste Stunde, wenn ich dort durch die Anlagen am Kurhause den dunkeln Buchengang zu den Trümmern der Burg Liebenstein wandle, oder im tiefen Tale sitze und dem schäumenden Wasserfalle zuschaue, der wohl so hoch wie unser Laus hinunterstürzt. Ach, es gibt der schönen Partien hier so viele, daß man jeden Tag einen andern Ort in seiner eigentümlichen Schönheit aufsuchen könnte. Wilhelm ist gewöhnlich mein treuer Begleiter; wir vertragen uns sehr gut, sprechen viel von Keilhau, von Alwine, von Marius, oder raisonieren über dieses und jenes, und da haben wir oft herzlich gelacht. Auch morgens in der Stunde platzen wir nach vergeblichen Anstren gungen, unsere Fröhlichkeit zu mäßigen, oft los, und ich wundere mich nur, daß der Oheim nicht böse darüber wird. Emma Bothmann muß oft wider Willen lächeln und es freut mich allemal, wenn sich ihr melancholisches Gesicht einmal erhellt. Nun zu den kleinen Geschäften des Tages: Morgens stehe ich selten vor, aber gleich nach 6 Ahr auf, mache mein und des Oheims Bett, fege seine Stube und Kammer und die unsrige. Dann mache ich den Kaffee, ziehe mich um, und Emma und ich gehen mit dem Kaffee hinauf. Während desselben liest der Oheim aus dem Laienbrevier vor und erklärt es zu unserer größten Qual. Wenn wir halb damit ferüg L y s ch i n s k a , Henriette Schrader I.
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Kapitel 8:
sind, kommt gewöhnlich Wilhelm, und zum Entsetzen aller beginnt der Oheim von vorn wieder. Wir geben uns die größte Mühe, nicht zu lachen. Von 9—11 Ahr haben wir Stunde, von 11—12 kommen die Kinder, unter denen zwei von der Frau Inspektorin und zwei vom Postverwalter sind. Am 12 Ahr spüle ich die Gläser und Tassen, bringe frisches Wasser in die Zimmer, putze Messer und Gabeln, mache Kaffee für später, decke den Tisch, und es finden fich hie und da noch kleine Geschäfte, so daß es gewöhnlich 1 Ahr ist, bis ich alles in Ordnung habe. Dann kommt unser wirklich sehr gutes Mittagsessen aus dem Kurhause. Nach demselben bringe ich gleich den Kaffee, spüle dann alles Geschirr und ruhe mich ein bißchen aus. Von 5—6 kommen die Kinder wieder, da ziehe ich mich aber gern zurück und lasse den Oheim allein, oder mit Emma, denn ich backe oder brate für den Abend etwas aus den Resten des Mittagessens und bin schon oft wegen meiner Kochkunst sehr gelobt. Besonders schmeckt dem Oheim das kalte Rind fleisch in der Eiersauce sehr, und dies macht mir nun wirklich Freude. Ich habe mir nun kleine Vorräte angeschafft und bin verzweifelt sparsam. Wenn aber Luise kommt, will ich ihr dies Regiment mit Freuden abtreten. Ich fürchte mich schon, für die vielen Personen etwas herbeizuschaffen, doch da lasse ich mittags zwei Portionen weniger als Personen holen, denn wir bekommen sehr reichlich und nehmen dafür abends einiges; im Kurhause kann man alles haben. Nach dem Abendessen räume ich alles wieder fort und gehe dann bis gegen 10 Ahr spazieren oder schreibe. Wilhelm kommt gewöhnlich gegen abend, wir gehen zusammen, oder auch mit 6., wenn sie Lust hat. Letztens waren wir auf der Burg und sahen ein Gewitter heran ziehen; das war ein herrlicher Anblick. Lebhafter wird es durch die neu hinzukommenden Mädchen, aber ob angenehmer? .... Auf eine lustige Neisebeschreibung nach Eisenach, teilweise zu Fuß könnt Ihr Euch freuen, aber Ihr müßt Geduld haben; auch in Mühla waren wir, ganz nah Mühlhausen, wo Tante und Onkel Lindau wohnen. Wenn es also dem Vater Freude macht, daß ich die Verwandten besuche, so kann ich das von hier in einem Tage tun. Nächstens will der Oheim mit mir nach Meiningen, und weny Wilhelms Augen sich bessern, wollen wir zusammen nach Keilhau. ..... Noch etwas, liebe Mutter, ich bitte um ein Dutzend grob leinener Tücher zum Trocknen des Geschirrs; ich habe es bis jetzt mit
In Lieben stein.
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meinen Küchenschürzen getan, es wird aber so nicht mehr gehen, und Luise kommt nicht vor 3 Wochen. Sie wird Euch Ende Juni oder Anfang Juli besuchen. Da sie über Osterode reist, habe ich sie darum gebeten . . . Teure Mutter, meine Briefe an Dich sind für Dich, nicht wahr, es werden darin Verhältnisse berührt, die oft leicht miß verstanden werden könnten .... Die jungen Mädchen bei Dir müssen mir alle Witze schreiben, ich freue mich darüber. Lebt wohl. Es liebt Dich immer und ewig Deine Lenriette.
Lenriette an die Eltern. Bad Liebenstein, d. 29. Juni 1849. Unsere Sache, meine teuren Eltern, nimmt nach außen hin einen so guten Fortgang, wie ich es nur zu hoffen wagte. Jede Woche mehren sich die Schülerinnen und wir erwarten mit den ersten Tagen des Juli außer unserer Luise noch zwei andere junge Damen, und so wie nach außen, findet auch hier in dem Orte die Sache vielen Anklang. Der Oheim ist schon aufgefordert, von den hohen und höchsten Äerrschasten, einen öffentlichen Bortrag zu halten, dagegen bin ich ent schieden. Warum ich Euch heute schreibe, ist besonders wegen einer Frau v. Marenholtz-Bülow aus Braunschweig. Sie zeigt eine ganz außer ordentliche Teilnahme und nimmt selbst mit ihrer Stieftochter teil am Kursus. Sie bearbeitet die Lerzöge von Meiningen und Weimar für unsere Pläne, und wenn Gott seinen Segen weiter gibt, so wird die Sache wohl gelingen. Ob die große Anstalt hier zur Ausführung kommt, ist noch die Frage, da es gänzlich an Lokalen fehlt und das Bad sehr besucht ist; aber ein Kindergarten und eine Bildungsschule für Mädchen wird wohl hier für immer bleiben. Wir sind hier im Lerzogtum Meiningen, und der Lerzog ist so gedrückt, steht so schlecht, daß es ihm taum möglich ist, mehr für die Sache Fröbels zu tun, als ein Lokal für den Kindergarten zu geben. Anders ist es mit dem Lerzog von Weimar und vielleicht kommt noch vor den Toren seiner Lauptstadt, oder in Eisenach die Idee zur Ausführung; doch bis jetzt wird alles für Liebenstein angenommen. Gestern war Ihre Loheit Lerzogin Ida nebst Tochter hier, und, wie wir von Frau v. MarenHoltz hörten, soll sie sehr befriedigt sein. Sie wohnt im Sommer hier im Bade, Mariechen Bamberg wird Euch schon Auskunft geben, wer sie ist. Der Oheim war schon mehrere Male zu ihr gerufen, sie hatte 9*
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sich nach allem sehr genau erkundigt und gewünscht, daß ich ihr vor gestellt würde. Anser Kindergarten ist im besten Gange und A. M. seit dem 15. hier, um ihn zu führen .... Vor 3 Wochen war eine Frau Ehlers mit ihrem Gemahl aus Lamburg hier, und diese Dame schreibt vor einigen Tagen an Fröbel wie folgt: „Ich kann meiner Tochter Lelene keine bessere Ausstattung zu ihrem künftigen Beruf als Gattin und Mutter nlitgebeil, als wenn ich sie einführe in das, was dem Weibe Bestimmung ist. Obgleich nur wenige Augenblicke mir vergönnt waren, bei Ihnen zu sein, so bin ich doch von dem geregelten, naturgemäßen Gange Ihrer Methode ergriffen und begeistert, und ich kann es mir nicht versagen, selbst einige Zeit in Ihrem Kreise zuzubringen und auch meiner Lelene den Abschied von den Ihrigen zu erleichtern. Bei Ihnen wird sie finden, was ihr not tut für ihr späteres Leben, und ich bitte Sie, sie als Ihre Schülerin aufzunehmen." Daß man des Oheims Idee von dieser Seite auffasse, war lange mein Wunsch, und da ihm Lamburg entgegenkommt, so können wir viel hoffen, denn dort finden sich Mittel zur Ausführung seiner Ideen und Wünsche. Was für Pläne der Oheim für die Zukunft hat, weiß ich noch gar nicht. Von andern (nicht von ihm selbst), hörte ich, er habe mit dem Dr. Dettmer abge schlossen, den Winter in Lamburg zu lehren, da man ihm höchst ange nehme Vorschläge gemacht habe. Als ich ihm sagte: „Nun, dann kann ich wohl zu Laus schreiben, daß ich Michaelis wiederkomme", ant wortete er mir: „Im Gegenteil, ich brauche tüchtige Menschen, die meine Sache hier fortführen, und es kommen Männer her, die mich ersetzen werden. Ja, ich könnte Dir das ganze innerste Leben offenbaren, aber wozu Dein Gemüt mit unnötigen Sorgen beschweren; gehe Du dem Leben ruhig nach." Was für Männer dies nun in aller Welt sein mögen, weiß ich nicht; doch es ist mir einerlei, mag da kommen, was da will, ich bin jetzt leider (oder gottlob) in einer kalten, indiffe renten Stimmung .... Wenn Luise kommt, wird es mir in jeder Linsicht wohler werden. Auch körperlich fühle ich mich recht angegriffen, und Ihr seid gewiß damit einverstanden, daß ich, wenn sie es auch für nötig hält, eine Badekur gebrauche. Jetzt bliebe mir dazu keine Zeit, so wie ich später keine Lust dazu habe; aber es ist mir unangenehm, den Leuten als erschrecklich eigensinnig zu erscheinen, denn jeder, der mich sieht, meint, es sei meine erste Pflicht und Schuldigkeit, etwas Beson deres für meine Gesundheit zu tun. Es ist nur Bleichsucht, mein altes
Leiden .... Meine Luise wird mir eine pflegende Mutter werden; wir erwarten sie Sonntag über 8 Tage. Es ist gut für mich, daß ich so viel zu tun habe. Wenn Luise kommt, wird sie, denke ich, ein Mädchen mieten und selbst kochen; es wird dies vorteilhafter sein. Jetzt habe ich nur eine Frau zum Schuhputzen und mittags und abends zum Abwaschen, ich wollte Luisen in keiner Weise vorgreifen .... Gute Nacht, schlaft wohl! Es wird von Euch träumen Eure Äenriette. Äenriette an die Mutter. Bad-Liebenstein, 9. Juli 1849. Meine liebe, teure Mutter. Es sucht heute bei der drückenden Litze Deine Lenriette eine Erquickung in dem Schreiben an Dich, und ich fühle schon neue Frische in mir bei dem lebhaften Gedanken an Dich. Reich waren die lehterr Tage für mich in Freude jeder Art; ich fühle mein Lerz wieder warm schlagen, fähig zu Lust und Schmerz. Am Donnerstag erhielt ich Eure lieben Briefe und die Kiste, und jedes Stück sprach von Eurer Liebe und weckte in mir innigen Dank für alles, alles. Äerzlich danke ich Dir, meine Mutter, meinem Vater, den Schwestern und Freundinnen, sprich ihnen allen Dank in meinem Namen aus. Freitag kam Luise.... Leute mußte ich mich mit Frau von Marenholtz unterhalten . . . wieder kamen zwei Damen, die sich zum Kursus meldeten. Denke Dir, die Frau Lüttenmeister Breymann aus Oker ist hier mit zwei Knaben, wenigstens so erzählte mir der Doktor; ob ich sie wohl aufsuche? Suche doch Rauterbergs zu bewegen, ihre Reise hierher auszuführen. Ach, wenn nur bald noch junge, geistreiche Männer, die die Sache mit Energie ergreifen würden, in den Kursus eintteten und dann in das Leben einführen wollten! Der Oheim ist doch schon recht alt, und es wird mir bei jedem kleinen Unwohlsein so angst. Amalie sagte mir: „Mir ist bange um Fröbel, ich glaube nicht, daß er nach Lamburg kommt, und meine Ahnungen haben mich selten betrogen!" O, dies wäre ein harter Schlag! Doch, Gott wird alles zum besten leiten. Der Doktor nimmt sein jetziges Unwohlsein sehr leicht, hat ihm nicht einmal Medizin verordnet. 11. Juli. Vorerst Dank, tausend Dank für Eure Liebe, die mir heute so unerwartet entgegentrat. Es ist nun auch mein erstes Geschäft,
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diesen Brief zu vollenden. Wie reich, wie unendlich reich bin ich immer, wie fühle ich dies jetzt wieder von neuem aus tiefster Seele! Mit dem Oheim geht es bedeutend besser, und auch ich fühle mich
wohl; es waren wohl die Folgen der anstrengenden Touren, die wir ge macht. Was möchte ich Dir nicht alles schreiben, nun will ich Dir wenig stens Deine Fragen beantworten . . . Ich habe kein Vertrauen, auch
keine Lust zu der Badekur, und da Luise mich so viel wohler, gesünder
findet, als in Keilhau, so kann ich es vorerst unterlassen, werde aber die
5 Taler vorerst für solche Fälle sorgfältig aufbewahren. O, wie hat mich Eure rührende Sorge erfreut. Ach, ich bin viel zu geringe aller der Treue und Barmherzigkeit, die Ihr an mir tut. Ja, wahrlich, Ihr Geliebten,
das fühle ich in solchen Stunden mit beschämender Demut. Ja, meine
Mutter, Du sollst stets meine erste, mein vertrauteste Freundin sein . . . Kenriette an die Eltern.
Bad-Liebenstein, Juli 1849. Meine geliebten Eltern!
Jmnrer interessanter, immer reger wird hier das Leben. Ein neuer
Stern ist an unserm Kimmel aufgegangen und beginnt für uns zu strahlen. Es ist der Dr. Diesterweg. Die bisher größte und stillwirkende Opposition gegen Fröbelsche Kindergärten ist durch einen Vortrag Fröbels gewonnen, und Diesterweg ist jetzt hier, um zu hören, zu lernen
und später für Fröbels Ideen zu wirken.
Am 10. d. M. war ein recht bewegter Tag. Schon morgens um
10 ilbr versammelte sich ein Kreis teilnehmender Frauen: Frau t>on Marenholtz, Frau Dr. Ascher, Frl. Gräser, die beiden Töchter von Diesterweg, sowie er selbst. Ich muß gestehen, ich setzte mich nicht ohne Zagen nieder, denn ich weiß, wie leicht Fröbel mißverstanden wird, ehe man ihn
einmal verstanden hat, und wie schwer es ihm wird, einen Gedanken ruhig zu Ende zu führen, da ihm immer neue Gedanken quellen. Doch,
noch nie war seine Rede so kurz, so klar, wie an diesem Morgen; noch nie seine Anschauungen so verständlich, und ich schreibe dieses erfreuliche Resultat dem geschlossenen Kreise zu, aus dem keine störenden Elemente
verneinend auf den Oheim einwirkten. Man konnte sagen, der Samen fiel auf guten Boden, und war auch hie und da kein klares Verständnis,
so wurden doch die Worte gewiß füll im Kerzen behalten, und müssen sie auch lange im Dunkeln, scheinbar leblos liegen, ein späterer Sonnenstrahl
ruft die Keime, Blätter, Blüten und Frucht dennoch einmal ans Licht.
Diesterweg war gewonnen und hatte sich sehr eingehend darüber gegen Frau von Marenholh ausgesprochen: „Es muß ein kräftiger Kern zu Grunde liegen, ich will ihn erforschen." And er ist entschlossen^ noch längere Zeit hier zu bleiben, um nur ganz der Fröbelsache zu leben und in sie einzudringen. Äier wird es angebracht sein, eine kurze Beschreibung von dem Manne zu geben, der als einer der ersten Pädagogen jedem wenigstens durch seine Schriften und Lehrbücher bekannt ist. Es war mir höchst interessant, sein Gesicht während des Vortrages zu beobachten. Er ist mittlerer Größe, untersetzt gebaut, trägt einen blaugrauen Rock, unb sein Gesicht macht, besonders im Profil den Ein druck eines in sich und über die Außenwelt klaren Menschen. Seine Stirn ist hoch, schön gewölbt, die Nase scharf gebogen, die Augen klar, klein, blitzend. Der Mund ist klein, scharf zusammengekniffen, und der Zug, der um diesen spielt, der sich oft spöttisch, oft bitter, oft freundlich, oft lustig zeigt, dieser Zug der Mundwinkel, kann einem Physignomiker eine ganze Geschichte erzählen: Von hohen Triumphen, welche ein Mensch genießen, von bitterer Zurücksetzung, welche jemand erfahreir kann, und daß es dennoch trotz Kämpfen und Stürmen im menschlichen Leben möglich ist, eine heitere Anschauung von demselben zu behalten oder besser, sich über dasselbe zu erringen; wie es aber auf der andern Seite zuweilen nötig ist, sich in den Mantel der Kälte und des Spottes zu hüllen, um sich nicht bitter enttäuscht zu finden. Diesterwegs ganze Erscheinung macht den Eindruck eines genialen, originellen Menschen, und ich habe schon einigeMale Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß ich mich nicht irrte. Der Vortrag von Fröbel und die praktische Darlegung der darin ausgesprochenen Lebenswahrheiten befriedigten alle. Ich habe nach No tizen den Vortrag ausgearbeitet. Frau von Marenholtz wollte den Vor trag von mir haben und ihn der regierenden Herzogin vorlegen, welche es sehr bedauert haben soll, daß sie an dem Morgen nicht anwesend war. Sie kam nachmittags mit der Äerzogin Ida und deren beiden Töchtern, und alle sahen dem Spiele der Kinder zu. Unsere Cousine aus Oker mit ihren beiden Knaben war auch hier, und da es später abends so sehr reg nete, ließerr die hohen Gäste zwei Wagen kommen und fuhren die Cou sine mit vor ihre Wohnung, welche nicht weit vom Palais ist. Die Lerzogin von Meiningen hat auf mich einen angenehmen Ein druck gemacht... Die hohe, feste Gestalt, die fast männlichen, doch nicht
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unschönen Züge drücken vielleicht mehr Stolz als Herrschsucht aus. Die Prinzessinnen, eine 20, die andere vielleicht 22 Jahre, sind ganz niedliche, feine Gesichter und schlanke, hohe Figuren, die eine blond und die andere dunkel. Ob sie sich auf irgend eine Weise auszeichnen, oder zu den Men schen gehören, die sich auf der Oberfläche des Lebens dahin treiben lassen, weiß ich nicht. Sie begrüßten mich alle sehr freundlich als Großnichte Fröbels und erkundigten sich nach meinem Befinden. Es ist überhaupt lächerlich, wie alle Menschen fich so teilnehmend um meine Gesundheit bekümmern, ehe fie mich selbst einmal kennen! Ich fürchtete an diesem Tage für den Oheim, denn am vorhergehenden hatte er erst das Bett verlassen; doch von seiner Sache zu reden, muß ihm Lebenslust sein, denn je mehr er sprach, desto frischer, heiterer wurde er. Herrn F., welcher nachher kam, wies ich ab, doch diese Vorsicht nühte nicht viel, denn es war bald Mitternacht, als der Oheim seine geschriebenen Briefe schloß. Es ist merkwürdig, diese rastlose, immer weiterstrebende Tätigkeit. An dern Tags, schon frühmorgens kam Diesterweg wieder mit Frau von Marenholtz, und ich erlebte eine schöne Stunde, indem ich, während der Oheim zu den beiden redete, Sophie von Marenholtz aus meinen aus-gearbeiteten Vorträgen vorlas und fühlte, wie alles in ihrer Seele nach klang. Dies Mädchen zieht mich ungemein an. Ich hatte sehr fleißig an dem Vortrage zu schreiben, weil ich Frau v. M. versprochen, ihn ihr nachmittags zu bringen. Es kam allerlei Ab haltung, und als ich endlich fertig war, kam ein so heftiger Gewitter regen, daß es mir unmöglich war, meine Arbeit fortzutragen. Herr F. forderte uns auf um 8 Ahr abends in ein Konzert zu gehen, welches die Steinbacher Natursänger im Konversationssaale des Kurhauses geben wollten. Da der Regen nachgelassen und der Abend recht schön war, schloffen sich mehrere von uns unter dem Schutze von Frau Ehlers ihm an, und wir bekamen die letzten Stühle. Ich hatte es nicht erwartet, eine so geputzte, steife Gesellschaft zu finden. Ziemlich ver wundert, setzte ich mich nieder, ohne mich umzusehen. Als ich mich nach her orientieren wollte, erblickte ich im Sofa die Herzogin Ida und Frau v. M., daneben ihre Tochter und die zwei Prinzessinnen. Wie ich sie an-sah, grüßten sie freundlich und erhoben sich in einer Pause und kamen zu uns, um einige Worte mit uns zu wechseln. Da standen wir Glücklichen, Beneideten inmitten des glänzenden Publikums, welches sich auch erhob. Dieser Abend gab der Liebensteiner Bade-Klatschgesellschaft viel Stoff zu Vermutungen, zu neidischen Reden, wovon mir das Gespräch des
Äerrn Dr. M. am andern Morgen beim Spaziergange den Beweis lieferte. Denn außerdem, daß die Fürstinnen zwei Mal zu uns kamen, mit uns zu reden und sich nachher gnädigst empfahlen, saß Dr. Diester weg in unserem Kreise und amüsierte mich mit seinen höchst witzigen, treffenden Bemerkungen, öfter lehnte sich der interessante Freund an meinen Stuhl und flüsterte mir manches über das Publikum zu, was mich zum Lachen reizte, und den guten Leutchen wohl ein kleines Ärger
nis gab. Doch am meisten amüsierte es mich, als Frau v. M. zu Diester weg kam, um ihn der Lerzogin vorzustellen, über die er sich soeben in witzigen Redensarten ergangen. Er folgte mit dem ungemein lächerlichen Zuge im Gesichte, mit Achselzucken, in seinem grauen Rocke, und indem er Frau v.M. an ihrem Caschmiermäntelchen zupfte und im kurz abgebrochenen Tone fragte: „Was muß ich denn sagen: Äoheit? Äoheit?" Nach einer Viertelstunde kam er ebenso lächelnd wieder mit den Worten: „Äab" wohl recht dummes Zeug gemacht, bin eher gegangen, als die Frau Herzogin mich entlassen, bin auch immer ein so einfältiger Kerl, na, muß mich trösten". Von dem Konzerte selbst hörte ich nur wenig, nur rief das letzte Quodlibet manch' alten Klang vergangener Zeiten in mir wach, und als wir gratis noch zu hören bekamen: „In einem Tale friedlich stille", dachte ich an mein liebes Schwesterlein Anna und konnte mich eines stillen Lächelns nicht erwehren. Aber andern Tages, als wir oben auf dem Altenstein in einer Grotte saßen, wo uns sanfte Dämmerung umgab und in das ernste Rauschen der alten Fichten vor derselben die zauberhaften Klänge einer Äolsharfe sich mischten, deren Saiten in bcr Spalte der Felsen aufgezogen waren; als ich da saß und die Augen schloß, da zog eine tiefe, tiefe Sehnsucht in mein Äerz, nach Euch, meine Geliebten in der Äeimat; daß Ihr bei mir sein könntet, damit ich Äerzen fände, an die sich das meinige in seinen mannigfachen Freuden und Schmerzen vertrauend anschließen könnte! Aber auch damit Ihr Euch mit mir freuen möchtet des mannigfachen Schönen, welches Eure Lenriette hier genießt. Wer je einmal in der Märchenwelt gelebt, den müssen die Töne einer Äolsharfe das ganze, lustige bunte Zauberland der Elfen,
Feen und Gnomen vor die Augen führen; o, es war eine zauberische Stunde die ich dort in der Grotte auf dem Altenstein verlebte Diese kleinen Fürstentümer sind reich an herrlichen Landsitzen. Wenn ich Fürstin wäre, würde ich anstatt um äußere Lerrschaft mich herumzu schlagen, das Land auf eine andere Weise zu erobern suchen, ein neues
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Land zu entdecken suchen, ein zweites Anrerika mit seinen Goldgruben und Schätzen. Ich würde einen Kindergarten im umfassenden Sinne ins Leben rufen. Frau von Marenholtz spricht darüber so sehr schön in einer kleinen Abhandlung über Oheims Bestrebungen, welches neben einem Anhänge von Wilhelm und mir gedruckt wird, betitelt: „Stimmen über Fröbels Bestrebungen Bad-Liebenstein im Juli." Sie hatte diese kleine Schrift Diesterweg zugeschickt, ohne ihren Namen zu nennen, um von ihm sein aufrichtiges Urteil zu hören; er schickte es zurück mit der Be merkung, die Schrift sei tadellos. Ich hoffe bestimmt. Euch diese Schrift, sowie meinen letzt ausgearbeiteten Vortrag schicken zu können, vielleicht wenn die Frau Breymann abreist. In ihr habe ich ein recht zartes, lieb liches Wesen gefunden, die auch voll Vertrauen zu Fröbels Sache ist, die sie in ihrem reinen Gemüte schön erfaßt. Ihre Kinder besuchen häufig die Spielstunden und sind sehr davon entzückt; sie sind recht aufgeweckt und munter. Die Mutter ist recht bekannt mit Diesterwegs geworden; es freut mich, auch ihr in unserm Kreise etwas bieten zu können, was ihr anziehend und frisch entgegen tritt. Für mich ist es auch eine große Annehmlichkeit, auf meinen Morgenpromenaden in ihr eine liebe, an genehme Gesellschaft zu finden, denn seit 8 Tagen brauche ich die Molkenkur . . . Darf ich denn Anna, Karl und Mariechen Bamberg zum Lerbst hier erwarten? Karl muß jedenfalls in seinen Ferien hierher kommen; es wird ihm in anderer Weise als in K. gefallen. Du würdest mich sehr erfreuen, wenn Du mir Pater Clemens und Dunallan schicken wolltest; wenn Marie aus Keilhau nach Laus reist, sollst Du die Bücher jedenfalls wieder haben. Nun lebet wohl und liebt ewig Eure Äenriette.
Bad Liebenstein, August 1849. Die Spielstube ist jetzt immer mit Besuch überfüllt, kurz, es ist ein sehr reges Leben. Daß der Erbgroßherzog von Weimar bei uns war und der Oheim bei der Herzogin Ida zum Tee, wo er ihr einen Vortrag hielt und Spiele vorführte, habe ich Dir wohl geschrieben. Ich wünschte. Du könntest die lieben Verwandten in Oker selbst sprechen, sie würden Euch manches erzählen, und es läge mir daran, ihr Llrteil durch Euch zu hören. Infolge der hohen Besuche ist dem Oheim das Versprechen abgenommen, seine Anstalt im Großherzogtum Weimar auszuführen.
Dies weckte die Rivalität, und Meiningen läßt ihm jetzt Mariental an bieten, um das er so viele vergebliche Schritte getan, das ihm erst zugesagt, dann vorenthalten wurde. Diese Domäne liegt reizend, wie zu einer Anstalt geschaffen, doch Weimar darf der Oheim nicht fallen lassen. Mich soll wundern, wie es nächsten Winter hier wird; Luise, deren Nichte und ich bleiben hier, bis Mitte Dezember auch Gössels, und der Oheim hat sich verpflichtet am 1. November in Lamburg zu beginnen. Er erwartet in Oetober einen jungen Mann, Luisens Neffen, der bisher in einer Buchhandlung in Berlin war; dieser soll auch im Winter hier sein und das Industrielle hier besorgen. Wenn die Lerzogin nun nicht Schritte tut, einen Dorfkindergarten ins Leben zu rufen, dann kommt mir die Sache etwas seltsam vor, da ich nicht recht weiß, was ich hier be ginnen soll. Nach außen hin scheint es so sonderbar, obgleich ich einige ruhige Wintermonate nötig hätte zu ordnen, zu arbeiten und ich mir von Luisen noch manche praktische Fertigkeiten aneignen könnte, um die wir in Dresden betrogen sind. Vielleicht nehme ich bis zum Frühjahr eine Stelle an, womöglich in Lamburg; wäret Ihr damit einverstanden? Entweder Ostern kommenden Jahres oder nie tritt Fröbels Anstalt ins Leben. Bis jetzt beschränkt sich alles nur auf Ausbildung der Schüler und Schülerinnen, und mir ahnt, als würde es sich nie weiter ausdehnen. Ich wünsche es auch für Fröbel nicht, ich fürchte für ihn dabei. Dastehen muß aber eine solche Anstalt, wie sie in seinem Innern lebt; denn der Mensch, der Staat, die Menschheit muß ein Vorbild haben. Der Oheim zweifelt noch keinen Augenblick an der Ausführung und war wohl nie ge wisser in der Loffnung als jetzt, da man ihm entgegen kommt, wie noch nie. Ich weiß nicht, ich erfahre immer mehr Täuschungen im Leben und sehe, wie die glänzendsten Loffnungen nur leuchtende Lustgebilde wur den. Ich bin fest in mir, mich in der Sache der Kindergärten allseitig tüchtig zu machen, und dazu fehlt mir noch viel. Vor dem Frühjahr kehre ich nicht zurück in meine Leimat, wenn Ihr damit zufrieden seid; doch dann möchte ich für immer bei Euch blei ben und mit Euch gemeinsam wirken, d. h. wenn Fröbels Anstalt nicht so ins Leben tritt, daß es uns und der Sache förderlich wäre, wenn ich
an ihr bleibe. 25. Übermorgen reisen nun die lieben Breymanns fort; ich kann wohl sagen, es tut mir sehr weh, wir haben uns recht an einander an-
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Was fyat sich, seitdem ich die letzten Zeilen schrieb, wieder in mir durchgearbeitet! Gottlob, ist mir manches klar geworden. Ich gehe jedenfalls diesen kommenden Winter fort von hier, ja, vielleicht in 14 Tagen! Was werdet Ihr dazu sagen? Doch Eurer Zustimmung bin ich gewiß, wenn ich Euch sage, daß Lindaus mich mitnehmen wollen, wenig stens erst auf einige Wochen zu Besuch. Es kann ja sein, daß wenn die Sachen sich in Mühlhausen gut machen, ich länger bleibe. Leute ist der Onkel Lindau gekommen. Ich sah ihn nur erst einige Minuten, da schloß er mich in seine Arme und sagte: „Komm, gib mir einen Kuß und denke, ich wäre Dein Vater!" O, wie sie Dich alle so lieb haben, mein teurer Vater! Immer sieht mich die Tante Lindau so innig an und sagt: „Deine Augen versetzen mich so ganz in meine Jugendzeit!" Ich soll Dir, Vater, so ähnlich sehen. Der Oheim hält es für sehr wichtig, Mühlhausen zu gewinnen. Es ist keine andere, der es dort so leicht werden würde, wie mir. Die Zahl der Schülerinnen hier hat sich um zwei vermindert (Julie und Amalie gehen fort), Luise hat Zeit die übrigen zu beschäftigen. Die Kurgäste vermin dern sich täglich, und ich sehne mich, in eine größere Tätigkeit zu treten, denn da die jungen Mädchen sich alle praktisch hier in den Spielstunden beschäftigen, so bleibt mir nur nach Amaliens Fortgang die Leitung überlassen, aber doch nicht das eigentliche Wirken. Es wäre auch wirklich unrecht von mir, hier den Winter in halber Antätigkeit zu verbringen, während so viele Anfragen wegen Schülerinnen an den Oheim gemacht werden. Er ist auch ganz mit mir einverstanden, und so schnüre ich bald mein Bündel. Es heißt, ich gehe zum Besuch, aber Gott gebe seinen Segen. Tante Lindau ist auch ganz für Fröbels Sache eingenommen, kommt täglich, tritt sogar beim Spiel mit ein und hebt den Gesang durch ihren schönen Alt. Leute war es wahrhaft erhebend; denke Dir, die Kin der brachten der Amalie Blumen und Kränze und es riihrte alle An wesenden. überhaupt bemerken wir mit Freuden eine große Veränderung an den armen Kindern; sie gehen jetzt nie mehr ungewaschen, ungekämmt; ja, ich hoffe Fröbels Wirken in Liebenstein wird vielen Segen bringen! Jetzt ist wieder eine Frau Goldschmid aus Lamburg hier, Dich terin und Schriftstellerin. Sie hat unter andern geschrieben: „Mutter freuden und Muttersorgen", mit einer Vorrede von Diesterweg. Sie ist Jüdin und berühmt, weil sie die ersten Schritte getan zur Einigung
zwischen Juden und Christen. Sie ist die Äaupttriebfeder^ den Oheim nach Lamburg zu ziehen. Ich werfe alles durcheinander, es ist schon späte Nacht, und ich bin von den Ereigniffen des Tages sehr aufgeregt. Gute Nacht! Lenriette an die Mutter.
Bad-Liebenstein, Ende August 1849. .... Wenn der Oheim fort ist, wird auch jede äußere Anregung fehlen. Du glaubst nicht, welches Interesse seine Idee hier erweckt, oft ist das Lehrzimmer in den Unterrichtsstunden so angefüllt, daß wir kaum Platz haben. Vor einigen Tagen waren 21 Fremde hier, und als ich nach der Stunde das Spiel anfuhren mußte, da klopfte mir doch sehr das Lerz. Bitte, bitte laßt Euch von Breymanns erzählen, sie haben an allem so regen Anteil genommen. Es tat mir sehr weh, sie scheiden zu sehen, wir halten hier einen so liebenswürdigen Kreis guter, geistreicher Menschen um uns, und durch sie und Lindaus ist mein Leben hier recht verschönt; ich danke es ihnen immer von Lerzen. Sonnabend kam der Onkel Lindau und blieb bis Montag; er hat mein ganzes Lerz gewonnen, ich freue mich unendlich darauf, wieder in einer Familie zu leben. Ja, Mutter, das Lerz fordert auch seinen Teil Du fragst nach Fröbels Plänen, ich möchte sagen, er hat gar keine, aber die Menschen haben viele mit ihm. Man sucht ihn an drei Orten für sich zu gewinnen: Meiningen, wo man ihm jetzt mehrere Male Ma riental angeboten, Weimar und Lamburg. In letzter Stadt sind wieder mehrere Parteien, von denen jede den Oheim zu sich hinüberziehen will. Karl Fröbel aus Zürich siedelt samt Frau und Amalie Krüger nach Lamburg über, um dort eine Lochschule für Mädchen zu errichten. Schon im Spätherbst trifft er dort ein, und sie spannen schon alle Segel auf, Friedrich Fröbel an sich zu ketten. Gott mag wissen, wo, wie und wann und ob seine Ideen sich realisieren werden. Es wird hier immer leerer, immer stiller ... Auf den Promenaden sieht man jetzt nur vereinzelte Spaziergänger, Diesterwegs, Frau von Marenholtz und einzelne andere. Einige Schullehrer aus der Amgegend besuchen Fröbels Vorträge; bald wird er ganz "auf seine Schüler und
Schülerinnen allein angewiesen, für die letzteren ist dies ein Glück, denn bei den vielen Fremden sind sie etwas stiefmütterlich behandelt worden;
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sie haben aber auf der andern Seite wieder manche Anregung dadurch; so sucht das Leben immer einen Ausgleich. Es erscheinen jetzt oft Aufsätze über des Oheims Wirken, und es sängt jetzt überall an zu blühen. Die „Stimmen aus Liebenstein", „das Quodlibet" ist von Frau von Marenholtz, Wilhelm und mir zusammen-gestellt, d. h. ich habe nur einiges hinzugefügt, was W. nicht wissen konnte. Die Erfahrungen müssen nun der Beleg zu unsern Worten sein, und da kann ich Dir von unserm Wirken einige recht schöne Erfolge Mit teilen : Ein kleiner Knabe weinte bitterlich, weil niemand zu Lause sei, der ihn kämmen konnte. Derselbe ist so von Glück erfüllt, daß er uns Blumen und abgefallene, unreife Äpfel mitbringt und neulich Luisen, als sie über die Straße ging, ein Steinchen, das er rasch vom Boden auf hob, schenkte. Während vorigen Sommer der Frau Inspektorin Müller so viele Birnen hier am Lause abgeschlagen sind, bemerken wir jetzt das fast nie mehr, weil die Strafe besteht, daß sie nicht mitspielen dürfen^ wenn sie es tun. Llnd der Kindergarten bringt Poesie in das Leben; wie rührend ist es, wenn der Klang vieler, zarter Stimmchen zu unserm Fen ster hereindringt und die Kleinen sich Mühe geben, die gelernten Spiele allein auszusühren Lenriette an die Eltern.
Mühlhausen i. T., 19. September bis 9. October 1849. .... An Fröbel habe ich einen kurzen Brief geschrieben; er hat sich sehr seltsam benommen, doch es wirkten da noch andere Triebfedern. Ihm, ja, selbst Luisen, rechne ich es nicht zu. Er handelte wenigstens nach bester Überzeugung ... Er fürchtete nämlich die Nähe von Keilhau für
mich mit allem, was sich dort befand. Er hat Angst, daß mich jemand von seiner Sache abziehen könnte, hat er doch schon auf Euch den größten Verdacht. Fröbel zu dienen, liegt mir freilich fern; aber der Idee zu dienen, zu opfern, wenn es Not tut, ist mein fester Wille. Sie steht mir so hoch, sie ist die Grundlage meiner Liebe, ist das Ziel derselben. Das kann Fröbel freilich nicht begreifen, aber er wird es über kurz oder lang ver stehen, wir wollen es ihm beweisen. Ich habe mich von jedem innern und äußeren Einfluß seiner Person frei gemacht, wir sind aber in zärtlichster Umarmung geschieden ... Die Lerzogin hat Plan und Kostenanschlag eines Kindergartens gefordert, und Fröbel hofft auf die Einrichtung desselben. Er schreibt, es sei nicht bestimmt, ob er nach Lamburg geht, doch wahrscheinlich.
Mir tut es recht wohl, daß ich aus diesem Wirrwarr heraus bin. Du hast recht, teure Mutter, es fehlt dort die Grundlage, die Familie. Diesterweg hat eine sehr gute Broschüre geschrieben. Er und Frau von Marenholh sind noch dort; die eine Tochter von Diesterweg, 55er-mine, sagte mir beim Scheiden: „Ich hoffe Sie noch in Berlin, in unserm Kreise tätig zu sehen. Wir rechnen auf Sie!" Doch daraus wird nichts, Berlin zieht mich nicht an. Frau von Marenholh war sehr zärtlich mit mir, sie konnte sich garnicht von mir losreißen: „Sie werden noch viel wirken", sagte sie. O, möchte sie die Wahrheit prophezeit haben 1 Das waren freundliche Sonnenblicke in diesem traurigen Sommer ... Ich wollte noch einige Zeit hierbleiben, durch mein Wort wirken so viel ich vermag, dann mit Tante Bambergs gütiger Erlaubnis vier Wochen nach Rudolstadt zu ihnen gehen, den Kindergarten dort be suchen, das Weihnachtsfest in Keilhau feiern und nach Neujahr in Dres den eintreffen, um mich auf ein Jahr fest zu binden; denn ich glaube, das ist nötig für mich. Diesen Plan teilte ich auch Lindaus mit; sie sind beide entschieden dagegen. Tante L. meinte, es könnte sich in einigen Monaten ein Wirkungskreis für mich hier finden, außerdem sei es unbedingt not wendig, daß ich im Winter meiner Gesundheit lebe. „Erst bleibe Du noch hier", sagte der Onkel,,, dann gehe Du nach Lause". Bin ich es meiner Gesundheit schuldig, ihr ganz allein zu leben, oder wird sie sich bei einer kräftigen Geistestätigkeit stärken? Sehr schwer wird es mir zuerst werden, das weiß ich, einen Kindergarten zu leiten; ich bin jetzt sehr schwach, jede kleine äußere Bewegung, jedes Außer gewöhnliche ruft mein altes Übel hervor. Aber was hat auch alles an meinem Innern gerüttelt. Jetzt habe ich auch wieder meine innere Ruhe^ und ich werde auch eine ganz geregelte Lebensweise führen. Die liebe Tante L. kommt mir auch so liebreich entgegen. Sie glaubt, wenn ich diesen Winter so recht sorgsam mit meinem Körper umgehe, würde ich zum Frühjahr frisch und kräftig sein. Ich denke, ich lasse den Arzt hier ensscheiden, Ls. haben einen sehr geschickten Lomäopathen hier. Grüße und Küsse von Eurer treuen Tochter Lenriette.
An E. Bothmann. Mühlhausen i. Thüringen. Mitte(?) October 1849. .... Ich habe das schöne Bewußtsein, daß hier mein schwaches Wirken nicht ohne Erfolg fein wird,... es ist wenigstens ein lebhaftes Zvteresse für die Kindergartensache da, und der hiesige Rektor wird seine
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nächste freie Zeit benutzen, um Kindergärten und Keilhau zu besuchen; heute will ich dem Äerrn einige Adressen und Drucksachen schicken, sage das doch Fröbel.... Glaube mir, will man die Leute für die Fröbelsche Sache interessieren, so muß man sie nicht gewissermaßen mit Reden überfluten, eine gewisse Zurückhaltung ist viel klüger; ich habe hier recht viel gelernt in diesem Punkte und die schöne Erfahrung gemacht, daß, wenn man nur den redlichen Willen hat zu nützen, Gott seinen Segen gibt; ich gehe ohne Zagen in den engen Kreis meiner Familie zurück. Fröbel ist darüber sehr böse, aber Emma, ich sage Dir, halte fest an dem Geist der Sache, aber um Gotteswillen ganz selbständig Die Nähe unseres Lehrers reißt uns fort zu einem Enthusiasmus zu dem höchsten, aber sie überfliegt das Kleine und Kleinste, aus dem alles hervorsteigen muß, wenn es Grund und Boden haben soll. Dieses ist ge wissermaßen der Körper, ohne den nun einmal nichts aus Erden für uns sichtbar ist. Bedenke wohl, es muß alles ideell-reell sein, was wirklich Segen bringen soll. Dies ist nicht nur Redensart, es ist das Ergebnis eigener, sehr schmerzlicher Erfahrungen, die ich Dir gern ersparen möchte, wenn es möglich wäre. Der Sommer in Liebenstein war ein hartes, aber gewiß segenreiches Lehrjahr. Noch eins, wonach Du gewiß gefragt wirst: „Ruht Fröbels Erziehung auf christlichen Prinzipien?" Du könntest ge trost „Ja" sagen, aber man soll nicht sprechen, worüber man selbst nicht klar ist, und verzeihe mir, ich glaube, es ist Dir noch nicht klar, welchen Standpunkt seine Lehre in religiöser Beziehung einnimmt. Man kann von Fröbel sagen: Er ist nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen. Laß Dich aber überhaupt nicht auf dies Kapitel mit Leuten ein, die Du erst gewinnen willst; darüber darfst Du erst mit denen reden, die ganz gewonnen und überzeugt sind. Sage den Außenstehenden, sie sollen alles prüfen, ob etwas Widerchristliches in Fröbels Lehre sei, etwas was nicht mit Jesu heiligem Wort und Leben übereinstimme, dann sollten sie es Dir sagen .... Wir aber wollen stre ben, es erst an uns selbst und-somit auch an andern zur Tat werden zu lassen. O, welch' reiches, weites Feld liegt da vor uns, wie könnte ich so kleinmütig sein, mir den Tod zu wünschen I ... Mir kommen die Licht freunde und die freien Gemeinden vor wie die emanzipierten Weiber im Übeln Sinne des Wortes. Es liegt ein gewisser Drang nach Freiheit zu Grunde, aber er nimmt einen falschen Weg. O, es liegt in der Fröbelschen Idee etwas sehr Großes! Fröbel ist Reformator des Familien- und somit des ganzen staatlichen Lebens. Diese äußeren Revolutionen dienen
nur dazu, um auf das Innere hinzuweisen. Äüle Dich vor und halte Dich frei von jeder Partei I Ich möchte Dir noch vieles sagen, aber meine Zeit geht zur Rüste l.... Äenriette an Luise Levin. Ende Oktober oder Anfangs?) November 1849. Mühlhausen i. Th. Es ist mir lieb, meine liebe Luise, daß ich Deinen Brief nicht eher erhielt, ehe ich nicht ganz fest in mir entschieden war, was ich für die nächste Zukunft zu tun habe; er würde mich sonst vielleicht wiederum be unruhigt haben, da ich so sehr geneigt bin, den Stimmen anderer mehr zu gehorchen, als meiner eigenen. Der Oheim muß Marius und meinen Brief noch nicht erhalten haben, sonst hättet Ihr wohl die Antwort daraus gelesen. Ich will Dir dennoch meine Gründe vortragen, welche mich bestimmen, diese Stelle nicht anzunehmen. Ein Grund, der alle andern schon in den Hintergrund stellt, ist meine Gesundheit. Mein Körper ist schon von Natur schwach; durch das rasche Wachstum hat er nicht die gehörige Festigkeit erlangen können; jedoch weiß ich, daß mein Geist imstande ist, ihn aufrecht zu halten, wenn er ruhig, klar und kräftig, gleichsam als eine Stütze für den Körper dasteht. Was Wunder also, wenn er drohte, bei den schrecklichen Gemütserregungen, die ich den letzten Sommer durchzumachen hatte, zusammen zubrechen? Bei diesen Kämpfen, die niemand begreifen wird und kann, als ich allein. Mein Befinden ist im ganzen ungleich besser als im Som mer, aber das Leiden hat sich auf einen Teil des Körpers geworfen, und ich darf mir und andern das Bedenken nicht verhehlen, welches dabei aufsteigt. Ich bin übrigens ganz ruhig darüber, fühle aber nur zu wohl, daß ich einer neuen geistigen Anstrengung nicht gewachsen bin. Durch gänzliche Ruhe und ärztliche Äilfe muß man der geschwächten Natur zu Lülfe kommen .... Zweitens ist es mir immer klar geworden, daß man sich nicht ferne Pflichten auferlegen, einen größeren Wirkungskreis suchen soll, ehe man seine nächsten erfüllt hat. Was liegt mir wohl näher als meine Eltern, meine Geschwister? And sie haben es um mich verdient, daß ich ihrem Wunsche, den Winter bei ihnen zu sein, nachkomme, da meine Mutter ganz allein sein wird und die Pflichten der Lausfrau und Mut ter unmöglich zugleich vollkommen erfüllen kann. Jedoch hätte ich den noch der Aussicht, den Winter mit den Meinen zu verleben, entsagt, L y I ch i n s t a, Henrtktte Lchrader I.
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Kapitel 8:
wenn ich nicht in mir selbst die Ruhe und die Kraft gefühlt hätte, der Verweichlichung des Geistes zu widerstehen, der ich früher im glücklichen Kreise meiner Familie oft unterlag. Es ist Fröbels heilige Aufgabe, die er auch lösen wird, als Refor mator des Familienlebens und somit des staatlichen Lebens der Welt Seil und Segen zu bringen. Ist also seine Lehre wahr, habe ich sie in dem rechten Geiste ausgenommen und durchgearbeitet, so muß ich mich auch im engsten Kreise glücklich fiihlen und andere beglücken können. Auf der andern Seite muß ich mich nicht scheuen, hinauszugehen, den Menschen dieses Evangelium zu predigen, wenn Gott mich dazu beruft. Jetzt weist er mich aber klar und deutlich in den engen Kreis meiner Familie und zeigt er mir da nicht ein Feld zu bestellen? O, gewiß, wenn ich nur festhalte an den Grundgedanken meines Lebens, alles Lebens, Fröbels heiliger Idee. Drittens. Es ist nicht mein Plan, Erzieherin zu werden in der Weise, wie es die Stelle in Solstein erfordert, sondern nur Kinder gärtnerin, aber im großen Sirme dieses ernsten Wortes. Es ist nicht damit gesagt, daß ich immer praktisch an einem Kindergarten wirken will; nein, das werde ich nur ein Jahr; aber dann ganz fest und bestimmt und zwar nicht an einem selbst eingerichteten, sondern unter der Leitung eines umsichtigen, denkenden Mannes, und ich glaube, daß ich diesen in Dr. Marquard finde. Erlaubt es daher meine Gesundheit, so gehe ich zu diesem im Frühjahr ... Dann kehre ich zu den Meinen zurück, bis mich vielleicht eine besondere Stellung zu dem Allgemeinen auf immer von ihnen ruft. So ist mein Denken, ich ordne mich und mein Denken aber einem Söheren unter, der mich so wunderbar geführt hat. Ich weiß nun nicht, liebe Luise, ob Du und der Oheim dieses billigt; aber ich muß mich selbst Eurer Anzufriedenheit aussetzen, denn ich kann nicht anders. Für die Blätter danke ich herzlich, ich werde fie gut gebrauchen können ... Am das Eine muß ich Dich noch bitten: mir in Mahlum von Eurem geistigen Leben Nachricht zu senden. O, Luise, es war doch kein leeres Lustgebilde, dieses geistige Band, das uns alle in Liebe um
schließt? Wie wird es mit dem Kindergarten in Liebenstein? Wie sehnlichst wünsche ich diesen Wirkungskreis für Dich, ganz besonders bei Fröbels Abwesenheit, wird die Arbeit Dich Deiner Selbständigkeit näher führen. And wie not diese Selbständigkeit tut, sehen wir alle Tage und nicht eher
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In Liebenstein.
kommen wir in diesen schrecklichen Wirren zum Frieden eher wir sie er
langt haben; das wollen wir beide uns recht oft sagen. Ich freue mich so, daß ich Marius jetzt so frei gegenüberstehe. Ich fiihle mich stark, ohne ihn leben zu können, wenn er die Idee verließe, die uns zusammengeführt. Liegt eine künftige Leimat mit ihm in unserer
beiderseitigen Entwicklung, so würde ich ihm mit eben der Ruhe die
Land als Gattin reichen, wie jetzt als Braut. Glaube doch nicht, daß ich mich über den natürlichen Gang der menschlichen Entwicklung erheben
wolle, da ich die Ehe heilig halte. Aber das will ich eben zeigen und be weisen, daß sie heilig ist.....
Ich hoffe, ich wirke und handle, wenn auch körperlich fern, im Geiste
unseres Lehrers.
Lebe wohl Luise in Liebe
Deine Lenriette.
Kapitel 9.
Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851. Einleitendes.
^^enriettensBrautstand änderte die äußere Gestaltung ihres Lebens
■%/ so wenig, wie die ihres Verlobten. Er schwankte noch immer weiter zwischen den Berufen eines praktischen Arztes und eines Erziehers. Aenriette kehrte in die ländliche Stille des elterlichen Laufes zurück, um dort sich der Erziehung ihrer kleineren Geschwister eine Zeitlang zu widmen. War sie später entbehrlich, erlaubte es später ihre Gesund heit, so hegte sie den Plan, noch einmal fern von Lause Fachstudien für ihren erziehlichen Beruf zu machen. Ihr Verlobter studierte unterdessen nach augenblicklichem Einfall baw an dieser, bald an jener Universität Naturwissenschaften oder bei Fröbel Pädagogik. Diese Studien wurden durch Besuche im Mah lumer Pfarrhause angenehm unterbrochen, wo er von allen, groß und klein als Lenriettens Verlobter, als Mitglied der Familie ausgenom men wurde. Diese Familienangehörigkeit scheint er durch den Zauber seiner Erscheinung und die Liebenswürdigkeit seines Wesens im Ver kehr erwidert zu haben. Aber während des Brautstandes verwandelten sich die inneren Beziehungen von Lenriettens Seite. Zu der Freundschaft gesellte sich das Aneinanderaufgehen der Liebe. Aus Freundschaft und Liebe schuf Lenriettens Phantasie ein Idealbild erziehlicher Täügkeit, in welcher eine innige Wechselwirkung der männlichen und weiblichen Psyche als Grundbedingung erschien. Weil ihre weibliche Eigenart von jetzt an so stark zum Bewußtsein kam, suchte sie die entsprechende Ergänzung und das Gegengewicht durch die Männer. In ihrer Liebe war eben ein doppeltes Leben: Zuerst das eines liebenden Weibes, wie die Natur es uns gegeben, dann aber auch das eines strebenden Geistes, der ein Bestimmtes erfaßt, es halten, es för dern möchte; in diesem Falle eine große erzieherische Begabung, welche
Me Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851.
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nach Betätigung drängte. An der Seite des geliebten Mannes, als seine Frau, als Mutter ihrer und seiner Kinder, als seine Lausfrau und Lebensgefährtin wollte sie Mittelpunkt einer erweiterten erzieh lichen Wirksamkeit bilden. Sie wollte auch eine edle Geselligkeit pflegen und Fröbels Ideal „erziehender Familien" durch die Tat näher kommen. In einem solchen Stteben innerhalb der Ehe hätte Lenriette weder Mühe, Entbehrung noch Kampf gescheut. Aber der männliche Träger dieses Ideales war nicht fähig, dem zu entsprechen. Lenriette liebte ein Phantom, und sie erwachte glücklicherweise zu der Erfassung der Wirk lichkeit, ehe es zu spät war, aber auch zu einer der herbsten Enttäuschun gen ihres Lebens. Doch kehren wir zurück zu dem Augenblick ihrer Leimkehr in das Mahlumer Pfarrhaus als Braut. Das nächste Ziel ihrer Wünsche war die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister. Zwar weilten die drei ältesten von ihnen fern von der Leimal, aber es blieben noch fünf Kinder ihrer Lülfe bedürftig: Albertine damals zwölf, Adolf zehn, William acht, Erich sechs, Led wig zwei Jahre alt; wahrlich eine vielseitige Aufgabe 1 Den Unterricht der drei erstgenannten hatte der Vater in den Pausen seiner amtlichen Tätigkeit notdürftig besorgt und hoffte auf Lenriettens ergänzende Lülfe. Schon damals fing William an zu kränkeln, und so durfte er eher zu den jüngeren zählen, die durch den Familiengeist der Liebe und Pflichterfüllung erzogen, ihre besonderen kleinen Aufgaben an der Mutter Schoß fanden. Lenriette war als gereistes Weib ernst ent schlossen, ihren wachsenden Fähigkeiten entsprechende Aufgaben zu stellen. Zwar mußte sie aus dem Fröbelschen Kreise manche mißbilligende Bemerkung über die verweichlichende Wirkung ihrer „Familien anhängerei" erdulden; aber sie war innerlich selbständig geworden und wußte sich selbst davor zu schützen. Aus der Gefahr der „Familien anhängerei" entwickelte sich gerade bei ihr die Schnellkraft des geläu terten Muttergefühls und sie durfte schon damals von sich sagen: „Die älteste Tochter einer großen Familie erlebt an der Land der Mutter die köstlichsten Mutterfreuden, die tiefsten Mutterschmerzen, ehe sie selbst ein Kind ihr eigenes nennt." Der Verkehr mit den Kindern brachte ihr inniges Glück, und das Bewußtsein, den Eltern nötig zu sein, tiefe Befriedigung. Die Rück kehr in die gewohnten Verhältnisse diente ihr auch zugleich als Maß stab ihrer eigenen Entwickelung.
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Kapitel 9:
Sie machte sich von Anfang an eine strenge Tageseinteilung, die sie getreulich hielt. Im Winter erwacht sie früh morgens, während die Sterne noch in klarer Pracht funkeln. Sie weckt das Mädchen, welches ihr bald ein wärmendes Feuer in dem Stübchen neben ihrer Schlaf kammer anzündet. Die köstliche Morgenstille benutzt sie zu ihrer Kor respondenz, zu ihrer geistigen Sammlung und Bildung. Sie bereitet sich nach bester Einsicht auf den zu gebenden Anterricht vor und sucht „männlichen" Rat bei dem Verlobten. Er empfiehlt ihr das Studium von „Rottecks Weltgeschichte". Der Kaffeetisch vereint sie mit den Eltern, dann hilft sie der Mutter, die Kinder anziehen; sie bringt ihrer Mutter und ihr eigenes Schlaf- und Wohnzimmer in Ordnung, hier nach beginnen die Stunden der älteren Kinder, oder, wenn diese zum Klavierunterricht nach Bockenem gehen, kocht Henriette das Mittagseffen. Nach Tisch wird eine Ruhepause innegehalten, und hiernach sitzen Mutter und Tochter in traulichem Gespräch über dem Nähkorb beisammen. Am 5 Ahr meldet sich das kleine Volk zu den Fröbelschen Spielen und Beschäftigungen, welche zuerst im Pfarrhause auf der Diele stattfinden. Sonntag nachmittags versammelt sie eine größere Zahl Dorfkinder zum Spielen und Stricken im Schulhause. Zm Som mer werden die Spiele im Freien gespielt und gelten später als typische Nummer im Programm eines Dorffestes. So reiht sich ein Tag an den andern, gleich Gliedern einer goldenen Kette des Glücks und des Friedens. Nie hatte Henriette so ganz in der Gegenwart gelebt wie jetzt, nie so klar gewußt, was zu tun und zu lassen ihre Stellung forderte; nie so freudig so unmittelbar aus sich heraus gelebt. Eine schöne Harmonie bestand jetzt zwischen ihrem äußeren und inneren Leben, und dieser Aufenthalt im Mahlumer Pfarrhause vom herbst 1849 bis Mai 1851 erscheint geradezu typisch fiir ihr ganzes späteres Wirken. Die männliche, ergänzende Kraft, den Führer in ihrer eigenen, wie der Kinder intellektuellen Bildung sucht sie in dem Bräutigam viel eher als in dem Vater, der mit den Jahren auch auf dem Gebiet der Schule konservativer wurde. Er fand seine alten Schul bücher auch für seine Kinder gut und lehnte dieNeuerungen in derPädagogik als demokratisch und irreligiös angehaucht ab. Dennoch erkannte er mit väterlichem Stolze an, wie durch Henriettens Wirksamkeit in Mahlum die Beziehungen der Gemeinde zum Pfarrhause immer freund lichere, engere wurden; wie ein persönliches Interesse an den Kindern ein mächtiger Hebel für die kulturelle Bildung der Eltern werden kann.
Die Rückkehr in das Mahlurner Pfarrhaus. 1849 bis 1851.
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Wie Lenriette ihren Beruf als Erzieherin im häuslichen Kreise fachgemäß und ernst betrieb, bezeugen ihre Aufzeichnungen über jedes einzelne Kind. Welche psychologisch feinen Charakterzüge liegen schon in diesen Skizzen! So übte sie in der Stille ihr Talent, ihr eigener Cha rakter war im Strom der Welt in Dresden und Liebenstein zum relaüven Abschluß gekommen. Ihr Schaffen und Wirken ruht jeht auf der Grundlage des innigsten Familienlebens, es zieht aus ihr neue Nahrung, aber es ist nicht auf sie beschränkt; es wächst über sie hinaus, ohne diesen Boden zu verlassen. Folgender Auszug aus einem dieser Briefe dieser Zeit wird wiederum den oben angedeuteten Nahmen lebensvoll erläutern.
Äenriette an Marius Bendsen.
17. November 1849 Mahlum. .... In dem Buche von Frau G. finde ich einige sehr gute Lehren von der Erziehung, doch müssen diese alle mit Berückfichügung der Individualität des Kindes angewandt werden. Ich finde, eigentlich sind solche Bücher nur dazu da, anzuregen. Es wird so viel über Er ziehung geschrieben, und es hat wohl den eben erwähnten Nutzen. Ich muß aufrichtig gestehen, es spricht mich selten etwas ganz an; ich mache selten von demGelesenenAnwendung.. .Wer kann das eigentliche Wesen der Erziehung in Worte fassen? Ich wenigstens vermöchte es nicht. Dies muß die ewig unsichtbare und doch so wohl zu erkennende Mitte sein, die alles Leben an sich zieht, und diese müssen wir unsern Kindern geben durch unseres ganzen Wesens Erscheinung. Doch darüber läßt sich kein Buch schreiben, das kann ich Dir nur mit Schillers Worten sagen: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr." Das Leben mit unsern Kindern tut mir unendlich wohl, sie sind so rein und unverdorben, ja, ich möchte fast sagen, ganz frei von Un arten. Ich begreife nicht, wie ich mich früher über sie habe ärgern können. Abends von 5—7 Uhr beschäftige ich mich auf Fröbelsche Weise mit ihnen und sogar Albertine eilt dabei zu sein, und Ledchen ist dabei wieder das Band. Ihre reizenden Äußerungen der Freude, ihr kluges Aufmerken auf alles, was ich tue und sage; ihre himmlische Unschuld und die daraus folgende Anmut könnte mich oft zu Tränen rühren. Das zieht nun die andern herbei, die den Spielen längst ent wachsen sind, und ich möchte. Du sähest unsere Freude! Wenn es an zu dämmern fängt, versammeln sich alle süllschweigend um meinen
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Kapitel 9:
Stuhl. Erich geht wohl dann zu der Mutter und sagt leise: „Wenw wir doch nun spielen wollten." And wenn es ihm zu lange dauert,, überfällt er mich mit seinen derben Liebkosungen. Äedwig bittet:: „Äensette, nun piele", ich stehe auf, die Jungens stürmen voran und Ledwig jubelt förmlich: „Nun jetzt! Nun jetzt!" Wenn wir uns zunr Kreise gestellt haben, ist sie eifrig bemüht, ihre kleinen Füßchen aus. wärts zu setzen. Wir singen dann ein Anfangslied und spielen Bewegungs. und Ballspiele. Wenn wir die Fischlein als Fingerspiel gemacht haben, ruft Ledchen: „Nun will ich Fislein sein!" Fröbel würde sich freuen, wenn er es sähe und hörte und vielleicht weniger grimmig, auf mich sein. Lächerlich ist des dicken Erichs Angeschicklichkeit, aber rührend sein Eifer und seine Ausdauer. Nach den Bewegungsspielen falten sie, und Äedchen besieht während der Zeit die Bilder in „Mutter und Koselieder" .... Begreifen kann ich aber nicht, wie man 50 Kin der leiten kann. Ich habe mit meinen fünfen genug zu tun, wenn ich ein jedes anhören, auf ein jedes eingehen soll. Aber einige möchte ich sehr gern zu den unsrigen haben, es wäre gut für sie. Ich möchte für alle eine Reihenfolge der Spiele haben und hoffe, der Vater ist Weih nachten so gütig, sie uns zu verehren. Frage einmal Fröbel, ob man sie von Liebenstein oder Lamburg schicken lassen soll .... Ich bin jetzt in Bezug auf meine innersten Lebensbeziehungen klar: Das Laus — aber nicht im engen Sinne des Wortes allein — ist mein Wirkungskreis, das sehe ich täglich mehr ein. Wenn ich höre, daß diese und jene heraustreten aus diesem Kreise, wie die L. z. B., welche jetzt sehr interessante Vorträge in Dresden hält; wie die Frauen in Lam burg . . ., da möchte ich mich immer mehr und mehr zurückziehen. Wenn ich mir vorstelle. Du könntest mir eine Broschüre widmen und ich gedruckt lesen sollte: „Fräulein Lenriette Breymann in Liebe ge widmet", ich glaube, ich könnte sie Dir vor die Füße werfen .... Wache Du über Fröbel*), daß er sich nicht solchen Menschen in die Arme wirft, ... es würde seiner Sache unendlichen Schaden tun. Was für eine Welt voll stillen und lauten Kampfes I Was sollte aus mir werden nur, wenn ich Dich nicht hätte I In manchen Augen blicken fühle ich einen schweren Fluch der Zeit, und wenn ich mein liebliches Ledchen ansehe, möchte ich Gott bitten, sie hinweg zu nehmen von dieser Erde ....
*) Friedrich Fröbel war den Winter in Lamburg.
Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851.
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Das Weib steht in einem furchtbaren Entwicklungskampfe, es er hebt sich von einer Sache zum Menschen, und ich weiß aus eigener Erfahrung, wie dieser Druck, den es erlitten, in geistiger Linsicht so leicht jene krüppelhaften Erscheinungen ins Leben ruft, die ich verab scheue. Meine Liebe zu Dir ist der Ruhepunkt, wo ich wieder Mut und Lebensfreudigkeit erlange, der mir nötig ist in dem Kampfe um die Unabhängigkeit meiner inneren Welt von den Vorurteilen der äußern. Ich weiß nicht, ob ich nicht unterliege, es ist so entsetzlich schwer, sich allein zu fühlen, und der Gedanke quält mich, ich sei abge wichen von der Bahn des Schicklichen und wahrhaft Weiblichen; denn ich, die ich einen Schauder vor jenen Emanzipierten habe, fühle mich als Emanzipierte unter den hiesigen andern Frauen und Mädchen, als Freisinnige unter gläubigen Christen! .... Ja, die Kinder sind ein Schatz für mich, Kedwig fast zu reizend. Du solltest sie einmal spielen sehen, die schönsten Ballspiele führt das kleine Ding mit den andern durch, und sie jauchzt immer vor Freude. Denke nur, sie singt sogar mit, sie kann mehrere Melodien auswendig. Dabei kann sie noch nicht sprechen, nur die Endreime und sie singt schon früh morgens im Bette. Sie baut auch die Spiele weiter fort ganz nach ihrem eigenen Sinne; Fröbel würde sich freuen, wenn er dieses Kind mit seinen reinen klaren Sinnen sähe, wie sie auf alles eingeht. Meine Verehrung und Dankbarkeit gegen Fröbels Geist sind groß, die mich die reinsten, schönsten Freuden des Lebens kennen lehrte; mein Zustand ist ganz Gebet in den Augenblicken, in denen meine Mutter eine Freudenträne im Auge zerdrückt. Wenn es nichts gäbe, als die Liebe, so gäbe es genug .... Doch, wie nah beieinander Freud und Leid im Familienleben liegen, sollte Äenriette bald erfahren. Nicht nur heitere Arbeit, sondern tiefen Schmerz teilte Lenriette in dieser Zeit mit den Ihrigen. Am Krankenbette des neunjährigen, verheißungsvollen William hielt sie mit den Eltern abwechselnd Wache. In den schützenden Armen der ältesten Schwester wurde der kleine Patient nach Äildesheim gebracht in der Äoffnung, daß ein zweiter Arzt noch das Leiden heben könnte. Leider war der Aufenthalt in der Stadt bei den mittrauernden Ver wandten vergebens. Der kleine William kam sterbend nach Lause zurück und verschied daselbst am 19. August 1850. Seit 20 Jahren war es die erste Lücke in dem Familienkreise. Der liebliche Bund der Brüder war zerrissen, und die beiden kleinen, Adolf und Erich, betrauerten den
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Kapitel 9:
Verlust in ihrer kindlichen Weise. Am Morgen des Begräbnisses waren sie früh in den Wald gelaufen, um Moos und Eichenlaub zu einer Girlande zu holen; diese schmückte auch den kleinen Sarg. Land in Land folgten die Brüder dem Sarge neben dem tiefgebeugten Vater, welcher im Chorrock den Liebling zur letzten Ruhestätte auf den Boden steiner Kirchhof geleitete. Lange konnte die zärtlich liebende Mutter den Verlust nicht ver winden, wenn sie auch den Bitten der ihr noch gebliebenen Lieben nachgab und im folgenden Winter das gastfreie Pfarrhaus festlich schmücken, seine Räume weit öffnen ließ für die zahlreichen Verwandten und Freunde, welche die silberne Kochzeit des Breymannschen Eltern paares feiern wollten. Kierbei war Kenriette wiederum Kauptangeberin und Ausführerin des Programms, in welches Gesangsvorträge, ein Theaterstück und lebende Bilder ausgenommen wurden. Auch den fern weilenden Geschwistern wurden Rollen zuerteilt. Ohne Vorwtssen der Eltern sollten sie an dem betreffenden Abend in den ihnen überwiesenen Rollen zum ersten Male erscheinen. Die Auf regungen eines Theaterintendanten wurden Kenrietten nicht erspart; in Kolzminden hatte der älteste Bruder, Karl, den nötigen Arlaub bekommen, aber die Post verfehlt. Die einzige Möglichkeit, an dem Abend noch mitwirken zu können, war, daß er den vierzehnstündigen Weg zu Fuß zurücklegte. Mutig schnallte der Gymnasiast den schweren Tornister auf denRücken und kam (amRücken und an den Füßen wund), gerade zur rechten Zeit an, um seinen Platz hinter dem aufgehenden Vorhänge einnehmen zu können!
Ka pitel 10.
Auf der Wanderung.
1851 bis 1854.
kam bad Frühjahr 1851 heran und mit ihm einige, für 55en-tiefte schwere Jahre des Suchens nach einem günstigen Boden für ihre und für ihres Bräutigams Tätigkeit. Die Jahre der politischen Ernüchterung und Reaktion, welche jedes aufstrebende Leben niederhielten, sollten auch bleischwer auf Lenriettens idealem Geistesflug lasten. Freilich ahnte man davon im Mahlumer Pfarrhause gar nichts, als die Kinder hoffnungsfreudig das Weite suchten. Die beiden Knaben, Adolf und Erich, sollten fern vom elter lichen Lause den üblichen Gang der Gymnasialbildung antreten. Senriette wat also zu Lause entbehrlich, und sie selbst hatte das glühende Verlangen, ihr erzieherisches Talent wissenschaftlich und praktisch tiefer zu begründen. Einige äußere Umstände kamen ihren Wünschen fördernd entgegen. In Schweinfurt hatte der Frauenverein einen Kindergarten er öffnet und wollte eine konfessionslose Schule daran angliedern. Er wandte sich um die nötige Lülfe an den Keilhauer Kreis, und Fröbel und Middendorf verwiesen den Verein auf Lenriette Breymann, welche augenblicklich frei war. In einem eigens dazu gemieteten Saale mit einem Garten sollte die Schule eröffnet werden. Zehn bis zwölf Mädchen, meistens die Töchter einiger Fabrikbesitzer und auch einige Töchter der Fabrikarbeiter bildeten die Klaffe, welche Lenriette in Schweinfurt unterrichten sollte. Sie sollte eine möblierte Wohnung mit der Kindergärtnerin beziehen und sonst ihren eigenen Laushalt und ihr Leben frei gestalten. Die pekuniären Bedingungen waren für die damalige Zeit sehr annehmbar und Lenriette willigte, gegen den Rat ihres Vaters, freudig ein. Nur zwei Bedingungen glaubte sie stellen zu müssen: Erstens, daß sie noch zwei Monate vorher die Or ganisation einiger Privatschulen und Anstalten studieren dürfe, und zweitens, daß sie nicht zur „freien Gemeinde" in Schweinfurt sich zu bekennen brarrche.
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Kapitel 10:
Auf ihre Bedingungen ging man bereitwillig ein. Kenriette reiste nach Dresden und machte sich bekannt mit mehreren öffentlichen und Privatschulen, unter andern mit der ausgezeichneten Erziehungsanstalt des Dr. Marquard, einem der wissenschaftlichsten Schüler Friedrich Fröbels. Von dort traf sie am 2. Juni in Schweinfurt ein in der freudigen Erwartung, vor einer neuen, schönen Aufgabe zu stehen, zu deren Lösung sie eine steigende Kraft in sich fühlte. Aber im Grunde wußten weder sie noch ihre Eltern Näheres über die kirchlichen und sozialen Verhältnisse in Schweinfurt, in welche sie als „Ausländerin" (nicht bayrisch) hineingeraten war. Die ganze Stadt teilte sich in zwei feindliche Lager; die orthodoxen Machthaber (katholische und evangelische) und die Anhänger des Liberalismus. Die letzteren bildeten natürlich auch einen Bestandteil der „freien Ge meinde", sowie des „Frauenvereins". Äenriette suchte mit aller Energie ihre Neutralität zu bewahren und sich nur ihrer erziehlichen Ausgabe zu widmen, doch unter den obwaltenden Verhältnissen war das schwer, ja, schließlich unmöglich^ da die Schule und der Kindergarten bald den Zankapfel bildeten. Äenriette war nun einmal von dem liberalen Frauenverein berufen, und so mußte sie sich gefallen lassen, gesellschaftlich mit ihren Vorge setzten boykottiert zu werden. Obgleich sie gar nicht mit der religiösen Auffassung der „freien Gemeinde" harmonierte und zu der Zeit durch» aus nicht mit dem Vorgehen des „Frauenvereins" einverstanden war, mußte sie eben für eine Sache leiden, die ihren innersten Überzeugungen zuwiderlief. Von seinem Standpunkte aus hätte ihr Vater für sie nichts besseres wünschen können, als daß sie nach Schweinfurt ging; die religi öse Bewegung der „freien Gemeinden" hatte für sie fortan keinenReiz. Dagegen war ihre berufliche Tätigkeit dasjenige, was sie über alle Widerwärtigkeiten der sozialen Zustände emporhob. Von Tag zu Tag gewann sie die Schulkinder lieber, und das schöne Verhältnis beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Kinder versagten sich ein Vergnügen, um in die Schule zu gehen und hingen an ihren Lippen, wenn sie Unterricht gab. Am so mehr ist es zu bedauern, daß die Freunde der guten Sache ihre edeln Bestrebungen von vornherein durch Anbesonnenheit dem Antergange weihten. Sie hatten den Kindergarten und die Schule eröffnet, die Kinder der öffentlichen Schule und dem Konfirmanden unterrichte entzogen, ohne vorher bei der Regierung um die nötige Konzession zu einer Privatschule einzukommen. Durch den Massen»
austritt aus der Kirche und die Eröffnung der Privatschule waren die orthodoxe Geistlichkeit und Lehrerschaft zur Opposition übergegangen, und ihren offenen und geheimen Amtrieben zufolge erschienen eines Sonntags zwei Gendarmen vor dem Eingänge der Lalle der freien Gemeinde. Diese gestatteten nur fünf Personen den Eintritt, weil die Regierung den Verein als einen politischen Verein ansah, und als solcher durften nur fünf Personen auf einmal zusammenkommen. Im folgenden Winter wurde ebenfalls der Frauenverein von der Negie rung aufgelöst und mit ihm der Kindergarten. Zwar durste letzterer auf Kosten einiger Privatpersonen, ohne den Namen „Kindergarten" zu führen, fortbestehen. Nicht besser erging es der angefangenen Mädchenschule. Auf Lenriettens Rat wurde ein Lehrer gesucht, der den Behörden gegenüber als Direktor dienen und einige wissenschaftliche Stunden geben sollte. Kein „inländischer" Lehrer wagte, sich um diese Stelle zu bewerben, aus Furcht, nicht befördert zu werden, und die „ausländischen" Kräfte wurden nicht genehmigt. Äenriette mußte schließlich in täglicher Erwar tung leben, landesverwiesen zu werden und wollte das Komitee aller Verbindlichkeiten sich gegenüber entheben. Allein, ihr erwartetes Schick sal traf nicht ein, und die interessierten Familien stellten es als eine „Fahnenflucht" ihrerseits dar, wenn sie vor der verabredeten Zeit ihren Posten verließe. So blieb sie in Schweinfurt bis zum Frühjahr 1852, und als die Schule als solche geschlossen wurde, war sie als Privat lehrerin einiger befteundeten Familien tätig. Den erbitterten Kampf führten die Eltern bis zu Ende. Die Kinder warfen sich schluchzend in Lenriettens Arme, als die Polizei erschien, um sie in die öffentliche Schule zu bringen. Ebenso ließen es die Eltern darauf ankommen, die Kinder durch die Polizei in die Kirche und den Konfirmandenunterricht zu führen, und bei der Konfirmation sollten die Kinder auf Befehl ihrer Eltern „nein" sagen. Schreckliche Auftritte mußte man zwischen den Machthabern und der Bevölkerung erwarten. Die standesamtlichen Ehen wurden für ungültig erklärt. Die Kinder galten als „Leiden", wenn die kirchlichen Formen (gleichviel ob katho lisch oder protestantisch) bei der Taufe nicht beobachtet wurden. Ein Polizeibeamter stand Sonntags an den Kirchentüren und notierte die Zahl der Eintretenden; natürlich wurden die Fehlenden als Dissidenten gebrandmarkt; so wurden die Leute mit Gewalt zur Kirche getrieben. Aus demselben Geiste geboren war das ministerielle Verbot der
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Kapitel 10:
Kindergärten in Preußen, welches sich kurz vorher ereignete. DieNachricht traf Äenriette in Schweinfurt. Mußte es ihr nicht erscheinen, als wären alle Mächte der Finsternis im Bunde, um sie an der Erreichung ihres Lebenszieles zu verhindern? Nach dem ministeriellen Verbot der Kindergärten mußt« Kenriette sich fragen, ob ihr persönlicher Groll gegen den Oheim noch einen Sinn habe; besonders da sie fest entschlossen war, seiner Idee zu leben. In dieser Seelenverfaffung erhielt sie die Aufforderung Diesterwegs, die Lerbstferien zu einer Reise nach Liebenstein zu benutzen. Dort wollten alle Freunde der bedrohten Sache gemeinsam mit dem Meister beraten, was zu tun sei, um den Fortbestand seines Lebenswerkes zu sichern. Äenriette entschloß sich, demRufe zu folgen, und von ihrer Seite wenig stens alles zu tun, um den Frieden anzubahnen. Den inneren Zweck ihrer Reise erreichte sie, indem der freundliche Verkehr mit Fröbel und seiner Gattin *) wieder hergestellt wurde. Nach den öffentlichen Verhandlungen unter dem Vorsitz Diesterwegs weilte Äenriette auf Fröbels Wunsch bei ihm und seiner Frau in Mariental, freute sich für Fröbel der behaglichen Häuslichkeit und der gediegenen Umgebung, in welcher der rastlose Greis seine letzten Jahre in erzieherischer Tätigkeit zubringen konnte. Leider stand Fröbel vor dem Entschluß, für den ganzen Winter nach Lamburg zu gehen, um dort wieder ein öffentliches Leben voll Widerspruch und Streit zu führen. Lenriette kehrte von Mariental für den Winter nach Schweinfurt zurück. Währenddessen hatte das Leben ihrer Familie manche Verände rung erlitten. Der Vater hatte sich schon im Sommer dieses Jahres um eine andere Pfarrstelle beworben. Nach mehreren Monaten ent schied das Braunschweigische Konsistorium die Frage zu seinen Gunsten. Die Familie siedelte nach sechsundzwanzigjährigem Aufent halt in Mahlum in das Watzumer Pfarrhaus über, und obgleich Len riette in der Ferne weilte und nur in Gedanken die Veränderung mit machte, so empfand sie diesen Wechsel lange Zeit hindurch als eine Art „Entwurzelung" ihres ganzen Wesens. Ich glaube nicht, daß di« jüngeren Geschwister, außer Anna, dieses Leimatsgefühl in bezug auf
Mahlum in dem Maße empfanden wie Lenriette. *) Fröbel hatte sich am Pfingstfeste 1851 mit Luise Lewin verheiratet.
Zn nichts sieht man den Unterschied zwischen damals und jetzt deutlicher, als in der gesteigerten Leichtigkeit, mit welcher die Menschen heutzutage den Wohnort wechseln. Der Amzug der Familie Breymann von Mahlum nach Watzum vollzog sich innerhalb 12 Tagen, und zwar mit Ackerwagen, welche hin und her fuhren. Jedes Möbelstück (von Glas und Porzellan gar nicht zu reden), mußte sorgfältig in Äeu und Stroh usw. verpackt werden, so daß das Kaus tagelang vorher das Aussehen einer halbgefüllten Scheune hatte, in welcher eigentlich nur die Kinder ein frohes Gemüt bewahrten. Mit der letzten Ladung kam dann die ermüdete Lausfrau, mit ihr die kleinsten Kinder, eine Katze im Sack und eine Glucke mit Kücken in einem Korbe. Am von einem Teile des Landes Braunschweig zum andern zu gelangen, mußte man die Grenze Lannovers*) passieren und sich einer Zollrevision unterziehen. Das wirtschaftliche Lerz der Lausfrau lehnte sich in Empörung auf gegen Zahlung der 22 Taler Zollgebühr, welche sie für den von ihrem Manne aufgehobenen Wein bezahlen mußte, und nach Frauenart bedauerte sie, die Lälfte des Weines nicht durchge schmuggelt zu haben. Der scheidende Pastor Breymann hatte an dem letzten Sonntage seine Abschiedspredigt gehalten, und an demselben Abend war es auf fallend still im Dorfe. Später kam der Frau Pastorin das Gerücht zu Ohren, daß nach der Predigt in manchem Laushalte nicht zu Mittag gespeist wurde. Der Fortgang des Pfarrers aus dem Dorfe Mahlum nahm einen fast feierlichen Charakter an: Pastor Breymann ging allein zu Fuß die Lauptstraße entlang. Links und rechts standen in langer Reihe die meisten Bewohner; sie wollten ihm noch einmal die Land drücken oder ihm ein Geleitwort zurufen. Die Anteilnahme im Dorfe war allgemein und einige Kluge überlegten ernstlich die Frage, wie sie gegen seinen Fortgang gesetzlich einkommen könnten. Für eine so zärtlich liebende Tochter wie Lenriette Breymann war es schmerzlich, die oben geschilderten Familienereigniffe aus der Ferne betrachten zu müssen. Allein, zu der Zeit hatte sie auch so manche Erfahrung, welche für die Zeit charakteristisch war, für sich zu ver arbeiten. Zu der schon erwähnten Konferenz in Liebenstein war ein Dr. Ge orgens erschienen, der mit vielem Schwünge und mit einer gewissen *) Lannover war damals außerhalb des Zollvereins.
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Großzügigkeit seine Pläne für die neue weibliche Erziehung entwickelte. Wo Lenriette geistig Verwandtes wähnte, da öffnete sie ihr leicht ent zündbares Lerz der Begeisterung, und Dr. Georgens wurde es nicht schwer, ihr ein Versprechen abzugewinnen, ihn in Baden zu besuchen. Das geniale Ehepaar Georgens stand mit dem Fröbelschen Kreise in Verbindung, obgleich Dr. Georgens den Anspruch machte, seine Beschästigungsmittel für Kinder selbständig und unabhängig von Fröbel erfunden zu haben. Er und seine Frau hatten eine Erziehungsanstalt in Baden-Baden eröffnet, welche ganz großartig der Idee nach ausgebaut werden sollte. Die Anstalt sollte die männliche und weibliche Jugend vom Kindergartenalter bis zur Aniversitätsreife bilden; an diese Schule sollte sich eine zweijährige Ausbildung für Erzieher und Erzieherinnen resp. Lehrerinnen gliedern. Außerdem leitete seine Frau ein Pensionat für Schülerinnen und Lehrerinnen der Anstalt. Dr. Georgens scheint die Gabe besessen zu haben, wissenschaftliche Kräfte für sein Anternehmen zu gewinnen, und die Anstalt nahm einen glänzenden Anlauf. Man sagte damals, die Äülfskräfte hätten den Ruf der Anstalt in Baden begründet. Lenriettens Besuch ereignete sich im Frühjahr 1852, als sie einsah, daß in Schweinfurt der Boden für eine erzieherische Wirksamkeit für sie unmöglich war. Nach Lause wollte sie nicht eher gehen, bis sie die Kenntnisse und Fertigkeiten sich angeeignet hatte, welche sie befähigen würden, an der Seite ihres Gatten eine eigene erzieherische Wirksamkeit zu schaffen. Baden-Baden erschien ihr der Ort, wo sie am leichtesten zur Erlernung fremder Sprachen gelangen konnte. Von dort hoffte sie nach Frankreich zu gehen. So reiste sie hin und wurde freundlich in der Georgensschen Anstalt ausgenommen, deren Organisation sie gründlich kennenlernen wollte. Leider erkrankte die Kindergärtnerin der Anstalt bald nach ihrer Ankunft, und auf inständiges Bitten des Direktors nahm sie deren Stelle ein, und so wurde die Zeit zu ihrer eigenen Ausbildung eingeschränkt. Dr. Georgens hatte eine Eigenschaft vieler genialen Plänemacher, ihn plagte keine kleinbürgerliche Sorge, woher er die materiellen Mittel nehmen sollte, um seine ausgezeichneten Lehrkräfte entsprechend zu hono rieren und seine schönen Einrichtungen zu bezahlen. So dauerte der Glanz der Georgensschen Ära nur bis in den Sommer 1852. Da ergriff der Direktor die Flucht, und die Gläubiger rückten ein, um eine öffent liche Auktion in den Schulräumen zu halten. Die Anstalt stand vor dem
Da§ Pfarrhaus zu Wayum (nach einer 3eict)nuik3 von YoeOivin Brovinann).
Bankerott, und nur durch den Großmut eines der Äauptlehrer imVerein mit den Eltern der Kinder kam man zu einer Einigung mit den Gläu bigern, wodurch die Schule innerhalb eins sehr eingeschränkten Rah mens unter der Leitung des oben erwähnten, in Baden sehr geachteten Lehrers, Dr. Waldeck, fortgeführt werden sollte. Dieser Lerr suchte sich zugleich Lenriette Breymanns Lülfe zu sichern. Sie sollte den Kinder garten und den ersten Schulunterricht versehen, sowie auch den Verkehr mit den Eltern der Zöglinge und die geselligen Beziehungen pflegen. So blieb Äenriette noch in Baden, bis die Leitung der Anstalt im Äerbst 1853 in andere Äände überging. Dann kam sie in das elterliche Laus zurück auf kurze Zeit, wie sie dachte. Es war die trübste Zeit ihres Lebens. Sie kehrte gewissermaßen als Schiffbrüchige in die Leimat wieder, denn zu dem äußeren Mißlingen ihrer Unternehmungen in Schweinfurt und Baden kam ein für sie noch viel herberes Schicksal hinzu, die Auflösung ihrer Verlobung. Unumstöß liche Tatsachen zwangen Lenriette nach geduldigem Larren und nach unsäglichem Leiden zu der Einsicht, daß ihr Verlobter ihrer Liebe ganunwürdig war, daß eine Verbindung mit ihm beiden den Untergang bereiten und das Anglück einer ganzen Familie bedeuten würde. In ihrer inneren Verzweifelung legte sie ihr Schicksal in die Lände der treuen Eltern, indenr sie den Abschiedsbrief an den Verlobten den Eltern schickte. Diese sprachen sie jeder Verpflichtung frei. So wurde sie mit liebender Teilnahme in das elterliche Laus ausgenommen; das Maß ihrer Leiden schien voll. Lenriette verlor ihren Verlobten auf eine Weise, welche jede wehmütig schöne Erinnerung ausschloß, denn sie hatte etwas geliebt, was nie da gewesen war. Um so grausamer wax das Erwachen. Die Grundpfeiler ihres Lebens schienen mit dem Verluste ihrer Liebe zu wanken, eine ganze innere Welt versank im Chaos, und wenn schließlich der GeistGottes über dem Chaos schwebte und sprach: „Es werde Licht", so war das Entstehen einer neuen, grünenden Erde ein Prozeß der Jahre. Da Lenriettens Liebe mit ihrem innern und äußern Lebensziele verwebt war, so mußte der Verlust ein doppelter für sie sein. Denn, ob gleich sie der Erziehung treu blieb, so war ihr schönes Ideal eines ge meinsamen Wirkens des männlichen und weiblichen Prinzips in der Erziehung zertrümmert. Sie war sich fortan bewußt, nur ein Stückwerk in der Erziehung gestalten zu können, und Jahre hindurch, bis zur Zeit, als ihre Brüder erwachsen waren, und bis ihr geliebter ältester Bruder sich für den Erzieherberuf entschied, empfand sie diesenMangel in ihrem Lyschinska, Henriette Schrader I.
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persönlichen Leben wie in ihrer Wirksamkeit. Die Grundrichtung ihres Wesens blieb bei aller inneren Selbständigkeit ein Suchen nach dem männlichen Gegengewicht, nach Ergänzung. Sie wollte, freilich nicht in der knabenhaften Form vieler Männer, aber innerlich ihren Meister anerkennen, sich vor seinem Wesen und Können beugen, von ihm ge bildet werden und ihn wiederum bilden. Vielleicht liegt gerade in diesem offenen, erwartungsvollen Sinn der Männerwelt gegenüber (welche Äenriette trotz einer persönlichen, bitteren Erfahrung ihr Lebenlang be wahrte), in dieser intuitiven Anerkennung der männlichen Psyche als etwas Arsprünglichen, Anderen, Notwendigen zur vollen Gestaltung des Lebens, die Erklärung ihres Einflusses über viele Männer. Auf der andern Seite verhinderte sie ihre Selbständigkeit der Auf fassung, die ursprüngliche Wahrhaftigkeit ihres Wesens, die kleinlichen Lockmittel vieler Frauen zu gebrauchen. Damals galt aber eine starke Beobachtungsgabe und die Bildung eines selbständigen Arteils in einer Frau für „männlich", und so konnte Äenriette, auch ohne es zu beabsichti gen, manchen Männern unbequem werden. Sie war eben schon in dieser Periode ihres Lebens halb eine Frau der Zukunft. So war es mit dem innern Menschen bestellt bei Lenriettens Wiederkehr in die Leimat. Die äußere Lage war auch nicht glänzend. Zwar kehrte sie zurück mit dem Entschluß, nur einige Wochen bei den Eltern zu verweilen, um dann nach Frankreich, wo ihr eine Stelle in Paris angeboten war, auszuwandern, um als Erzieherin in einer Familie die Sprache zu erlernen. Sie glaubte sich gestählt genug dazu. Doch einmal unter den Ihrigen, war sie umringt von Liebe und Zartgefühl, und das verwundete Gemüt ward erweicht und empfänglich für Familiengluck. Alle die Widerwärtig keiten, die sie in der Fremde erduldet, traten im Linblick auf ein reines, gesundes Familienleben um so dunkler hervor, Äenrietten wurde es schwer, ja fast unmöglich, sich wieder aus längere Zeit von den Ihrigen zu trennen. Ihr Intellekt hätte sie dann auf Kosten ihres liebebedürftigen, liebegebenden Lerzens befriedigt, und an diesem Zwiespalte wäre sie zu grunde gegangen. Doch auch im Familienkreise gab es manches äußere Bedenken, welches wohl erwogen werden mußte. Drei erwachsene Töchter umstanden die Eltern, zwar weilte eine, Marie, noch in der Ferne, doch hatte keine von ihnen andere Bande ge knüpft, als die mit dem Elternhause. Die Eltern hatten viel für ihre Er-
ziehung getan, die Jahre nahten, in denen die Söhne viel kosten würden, da erfaßte Lenriette als älteste den Entschluß, mit den Eltern die Sorge um die jüngeren Geschwister zu teilen. So stieg in ihr wiederum die Idee eines Erziehungsunternehmens im elterlichen Lause auf. Die Eltern wie die ältesten Schwestern erklär ten sich bereit, es nach Kräften zu fördern, jeder nach seiner Weise. Sie hofften, einige Kinder von 7—9 Jahren als Gefährtinnen für die kleine Ledwig, auch ältere junge Mädchen, welche eben der Schule entwachsen waren, zu bekommen. Diese sollten etwas Unterricht haben, daneben aber sich im Laushalte unter der Mutter Anweisung beschäftigen. Der Vater, der Dorfschullehrer und Lenriette wollten den Elementar- sowie wissenschaftlichen und literarischen Unterricht und Musik geben. Anna sollte den Landarbeitsunterricht und die Ordnung im Lause versehen. Eine Ausländerin wollten sie noch ins Laus nehmen, welche den Un terricht in einer modernen Sprache geben konnte. Sollte dieser Plan sich lebensfähig erweisen, so wollte Marie, welche augenblicklich bei Mar quards in Dresden war, dort einen Kindergarten leitete und sich daneneben für Klavier und Gesang ausbildete, nach Lause kommen. Lenriette und ihre Schwestern machten sehr bescheidene Aussprüche auf Gewinn, selbst für die damalige Zeit der billigen Lebensmittel war das Kostgeld niedrig; sie wollten nur nach Bestreitung der Auslagen ihren kleinen Bedürfnissen an Kleidung genügen 1 Ihr Leben im elter lichen Lause war immer ein einfaches, aber niemals ein ärmliches ge wesen; durch die Aufnahme von Pflegetöchtern veränderte sich die Laushaltung gar nicht, sie blieb wie sie immer war. Der neue Plan mußte erst bekanntgemacht werden, und da Len riette sich immer weit stärker im Landein, als im Warten erwies, so be trieb sie die Propaganda mit einer fieberhaften Last und Ungeduld. Da trat eine liebe, edele Frau und Freundin der Breymannschen Familie mit einem Vorschläge an sie heran, welcher in der Zeit des Wartens erlösend wirken mußte. Lenriette sollte als Erzieherin des kranken Töchterchens Clärchen auf das Gut in Groß-Winnigstedt ziehen, eine Stunde von Watzum entfernt. Sie sollte an keine Zeit gebunden sein, sondern so oft sie es für wünschenswert hielt, nach Lause fahren können. Sollten sich Pensionäre im Pfarrhause melden, oder die Brüder in den Ferien in der Leimat ihre Lülfe nötig machen, so war sie frei zu gehen, dagegen sollte ihr kranker Zögling soweit hergestellt sein, so sollten beide zusammen nach Watzum übersiedeln.
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Unter diesen Bedingungen wurde Lenriette in die Familie von Kantelmann ausgenommen. Sie hat während der Zeit des Wartens den Segen einer bestimmten Beschäftigung dankbar empfunden, welche zugleich die pekuniäre Unabhängigkeit von dem väterlichen Geld beutel ermöglichte. Zu dem kranken Kinde wurde auf Anregung der Frau v. L. zuweilen die siebenjährige Ledwig Breymann geholt, was sehr zur Belebung des Unterrichtes beitrug. Zu jenen Fahrten zwischen der Domäne in Groß-Winnigstedt und dem Pfarrhause in Wahum be liebte Lenriette sich der sogenannten „Milchpost" zu bedienen. Diese mußte um Y25 Uhr morgens auf dem Wege nach dem an der Bahn lie genden Städtchen Schöppenstedt nicht weit von Wahum vorüberfah ren. Der Kutscher spähte gewohnheitsgemäß auf dem Rückwege um sich, ob er Damenbegleitung zu erwarten habe. Auf diese Weise verging das erste schwere Jahr der Resignation auf die verlorene Liebe, des Larrens auf die erhofften Pensionärinnen. Es interessierten sich viele für Lenriettens Schicksal, wie für ihre Zukunfts pläne im guten wie im bösen Sinne. Einige kluge Leute hatten es längst gesagt, wie es kommen würde; Lenrietten fehle jede Lingabe an die Fröbelsche Idee, sie denke nur an sich selbst. Andere verfolgten den Ver lauf ihres Lebens mit mehr innerem Verständnis, aber niemand war so recht damit einverstanden, daß sie sich in den beschränkten Wirkungs kreis des elterlichen Laufes zurückziehen wollte. Solche fürchteten, Lenriette könne selbst in einem Erziehungsunternehmen bei den Eltern keine Befriedigung finden; sie gehöre in die Welt, in ein größeres, bewegteres Leben, sie müsse anregen und angeregt werden usw. Oberflächlich be obachtet, mögen die letzteren recht gesehen haben, aber Lenriette ließ sich nicht von solchen guten Freunden beirren; sie folgte der Stimme ihres Lerzens und nahm die äußere Beschränkung des Lebens auf sich. Zum Lerbst 1854 wurde die erste Pensionärin fest angemeldet, eine liebliche Mädchenerscheinung von 15 Jahren und weitläufige Ver wandte der Familie, Luise Mirow*), zu ihr kamen nach einigen Mo naten andere hinzu, und so wurde Lenriettens Gegenwart im elterlichen Lause notwendig. *) Spätere Gattin Karl Breymanns.
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Im Watzumer Pfarrhause.
1854 bis 1864.
Äußerer Verlauf des Anlernehmens. entfette hat sich zwar nie mit der prosaischen Umgebung Watzums vy ganz aussöhnen können, auf die Fruchtbarkeit des Landstrichs an spielend, verglich sie ihn in launiger Stimmung mit „einem dickge strichenen Butterbrote", und dennoch war diese Gegend eine vorzügliche Pflanzstätte für ein Familienunternehmen, wie es Breymanns beab sichtigten. Das geräumige Pfarrhaus stand inmitten eines großen eige nen Gartens, welcher in einen großen bepflanzten Äof auslief. Damals lag das Dorf selbst gebettet in wogenden Korn-, Mais- und Flachsfeldern in einer fruchtbaren Ebene, die wie mit einem Winkelmaß durch schnitten wurde von der vielleicht 4 Kilometer langen Chaussee, welche den Äauptverkehr zwischen Watzum und dem Ackerstädtchen Schöppen stedt vermittelte. In ziemlicher Entfernung erhob sich im Norden eine sanfte Anhöhe von dem historisch berühmten Laubwald, dem „Elm" ge krönt, während im Westen die Asse mit den Ruinen der Asseburg, int Süden in nebliger Ferne der Brocken mit seinem Gebirgsgefolge den Lorizont abgrenzte. Watzum war zu der Zeit noch ein Ackerdorf; die Goldgrube der Zuckerrübenfabrik hatte sich noch nicht aufgetan. Die Dorfbewohner waren wohlhabende Bauern, jeder bewirtschaftete sein Gehöft selbstän dig mit Lilfe der Familienglieder und einiger ständiger Knechte. Ein wechselndes Arbeiterpersonal gab es nicht einmal auf dem im Dorfe be findlichen Rittergute. Die ältere Generation trug noch ihre ländliche Tracht und die niedersächsische Mundart war bei allen wichtigen Erleb nissen siegreich über das schulgelernte Kochdeutsch. In diesem sozialen Milieu wurde das Pfarrhaus zu Watzum ein Mittelpunkt erziehlichen Strebens, welches nicht ohne kulturellen Einfluß auf das Dorf blieb und Jahre hindurch der Aufgabe der Kirche fördernd zur Seite stand. Während der ersten zwei Jahre fanden sich neun fremde, junge
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Mädchen im Pfarrhause ein, welche den Unterricht und das Leben mit den jüngsten Töchtern, Albertine und Ledwig, teilten. DerRahmen des häuslichen Lebens wurde durch die Aufnahme fremder Kinder auch hier nicht geändert. Nicht nur örtlich und äußerlich, sondern durch Gemüt und Willen wurden die fremden Elemente bald so mit dem Leben im Pfarrhause verwoben, daß das vertrauliche „Du", das übliche „Tante" und „Onkel", mit welchen man die verehrten ältesten Mitglieder der Breymannschen Familie anredete, als selbstverständlich erschienen und höchstens den Außenstehenden auffiel. Ein aus dem Jahre 1854 stammender, von Lenriette geschriebener Entwurf der Tagesordnung des häuslichen Lebens im Pfarrhause mag hier seinen Plah finden: Im Sommer wird um 5 Ahr*), im Winter um x/27 Ahr*) geweckt; in ersterer Jahreszeit werden Arbeiten für die Lehrstunden gemacht. Am 7 Ahr wird das erste Frühstück eingenommen. Im Winter werden die Vorbereitungen für die Lehrstunden des Nachmittags nach dem Kaffee von 4—6 Ahr gemacht. Alle erscheinen zum ersten Frühstück in einem ordentlichen Morgen anzuge und mit dem Strickzeuge. Es wird vom Vater ein Gebet gelesen, dann Kaffee getrunken, später werden Tassen und Gläser gespült. Am 8 Ahr muß alles wieder in Ordnung sein. Von 8—10 sind Lehrstunden. Es soll in diese ausgenommen wer den: Deutsche, englische und ffauzösische Sprache, Literatur und Ge schichte, Naturkunde und Geographie. Es ist bei diesem Anterrichte der Zweck, die Lücken auszufullen, welche etwa die Schulbildung gelassen, besonders aber die Mädchen auf alles Schöne und Große hinzuweisen, sie dafür empfänglich zu machen, eitelesWissen zu verbannen, zum selbst ständigen Denken und Verarbeiten des Gegebenen anzuleiten, damit, was sie aufnehmen, auch ihr eigen werde und seine Wirkung auf das wirkliche Leben sichtbar mache. Von 10 Ahr an werden die Mädchen unter Anleitung der Mutter in das Lauswesen, besonders in die Küche eingeführt. Diese häuslichen Geschäfte werden so eingerichtet und verteilt, daß für 8 Tage zwei allein die Küche, zwei sonstige häusliche Beschäftigungen übernehmen, wobei
den letzteren so viel Zeit bleibt, Klavier zu spielen oder zu zeichnen, wenn sie solches gern anfangen oder fortsetzen wollen. *) Später geändert, um V,7 und um 7 Ahr wurde aufgestanden.
Am 12 Ahr müssen die Dienstboten essen, um 1 Ahr ist für uns Mittagstisch, bei welchem alle außer der einen, die das Anrichten der Speisen zu besorgen hat, fertig angezogen erscheinen und auch diese nur den Morgenrock mit dem Kleide zu vertauschen hat. Bis 2 oder 1/23 Ahr muß alles möglichst ruhig im Lause sein, weil die Mutter gewohnt ist, da ein kleines Schläfchen zu halten. Dann aber versammeln sich alle in Mutters Zimmer mit dem Nähzenge. Es wird unter unserer Anleitung da gearbeitet, und es versteht sich von selbst, daß die feinen Arbeiten so lange zurückstehen müssen, bis die ordentlich geübt sind, welche für das Laus nöüg sind. Am 4 Ahr wird Kaffee getrunken. Bei der Arbeit wird öfter etwas vorgelesen zur Belehrung oder Anterhaltung, wie das gerade die Ge legenheit mit sich bringt. Am 6 Ahr wird von denen, welche die Woche haben, die Vorberei tung zum Abendessen gemacht; die andern beschäftigen sich nach Belieben. Am 7 Ahr wird gegessen. Nach Tisch wird im Sommer bei schönem Wetter spazieren gegangen; im Winter muß das mittags geschehen. Fällt der Spaziergang fort, so wird gelesen, musiziert oder sonst etwas vorgenommen, was zur Anterhaltung und Freude dient. Im allgemei nen ist 10 Ahr die Zeit des Schlafengehens, aber besondere Veranlassungerr gestatten auch gern eine Ausnahme. Anser ganzes Zusammenleben hat den Zweck im Auge, die Mäd chen zu befähigen und zu vervollkommnen für ihren, von derNatur angewiesenen Beruf: Pflegerin des Läuslichen, die leitende oder helfende Land in der Sorge für der andern leibliches und gemütliches Wohl, Er zieherin der Kleinen in der eigenen Familie oder der ihnen sonst anver trauten Kinder zu sein. Wir wollen darauf hinwirken, daß ihre Wirk samkeit im Lause eine segensreiche, ihre ganze Erscheinung eine wohl tuende sei. Wir möchten sie auch Hinweisen auf das Elend und Anglück außerhalb eines glücklichen Familienkreises, damit wir uns nicht selbst süchtig in demselben abschließen, sondern da draußen trösten und helfen nach unsern Kräften." Im Lerbst 1855 mußten schon bauliche Veränderungen rm In nern des Pfarrhauses gemacht werden, um acht Pensionärinnen auf nehmen zu können; währenddessen unternahm Lenriette eine Studien reise nach Dresden und besuchte ihre Schwester Marie. Im Frühjahr 1856, trotz Erhöhung des Kostgeldes hatten sich neun Pensionärinnen
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eingesunden, und die liebe Lausfrau mußte ein zweites Dienstmädchen nehmen; im Lerbst desselben Jahres mußte ein Zimmer im oberen Stockwerke des Schulhauses gemietet und eingerichtet werden zur Auf nahme von Pensionärinnen oder Gästen. Im September 1856 kehrte Marie Breymann in das elterliche Laus zurück, um Lenriette bei der Pension zu Helsen, und mit ihr begann eine neue Ära in dem erzieherischen Leben im Pfarrhause.
Außer den von Lenriette schon begonnenen Sonntagsspielen und der Nähschule für die Dorfjugend spielte Marie Breymann täglich eine Stunde mit den kleinen Dorfkindern; ferner leitete sie jeden Mittwoch und Sonnabend unentgeltlich einen Kindergarten in Schöppenstedt, wozu die Stadt nur das Lokal stellte. Neue Prospekte, in welchen die Fröbelschen Prinzipien als Grundlage der gesamten weiblichen Er ziehung und des Unterrichts anerkannt wurden, ließ das Schwesterpaar drucken und veröffentlichen. Lenriette glaubte damals durch eine Mädchenpension allein die Segnungen der Fröbelschen Erziehungsweise der Mädchen- und Mütterwelt teilhaftig machen zu können. Sie wollte eigentlich damals nicht im Pfarrhause eine berufliche Ausbildung des Mädchens als Kinder gärtnerin und häusliche Erzieherin übernehmen, einmal aus der oben erwähnten Auffassung der Mädchenpension, dann auch aus Rücksicht auf die alternde Mutter, welcher der Gedanke, erwachsene Frauen als Lernende im Lause zu haben, höchst unsympathisch war, und schließlich weil die Ausbildung während weniger Sommermonate mit ungenügen den Lehrkräften für Lenriette eine Qual bedeuten mußte. Doch die Ver hältnisse zwingen den Menschen zuweilen, vorübergehend eine nur un vollkommen zu lösende Aufgabe aufzunehmen, um Schlimmeres zu ver hüten. So war es in diesem Falle. Gegen Ende der fünfziger Jahre schien das Interesse an der Fröbel schen Sache zuzunehmen. Man sprach und schrieb zuversichtlich über die Absicht Bethmann-Lollwegs, das Verbot der Kindergärten in Preu ßen aufzuheben, und man schrieb das Verdienst allgemein dem Einflüsse der Frau von Marenholh-Bülow zu. Die Beziehungen der Breymannschen Familie zu dieser Frau bestanden seit dem Jahre 1849, aber jetzt wurden sie reger und reger. Von 1856 an verging kaum ein Jahr ohne einen längeren Besuch der Frau von Marenholtz im Pfarrhause zu Watzum. Sie brachte zuweilen andere Damen mit, für welche Brey manns Logis, Beköstigung und praktische Unterweisung im Kinder-
garten in Schöppenstedt und im Dorfe Watzum finden sollten. Frau von Marenholtz schien die Absicht zu haben, aus der Pension eine Pflanz stätte für die berufliche Ausbildung der Kindergärtnerinnen zu machen^ und erteilte während ihrer Anwesenheit mit Kenriette zusammen den Anterricht in der Fröbeltheorie. Beständig drang sie auf Lenriette ein, rasch das Lehrpersonal zu vergrößern und die Zahl der jüngeren Mäd chen zugunsten der Erwachsenen einzuschränken. Mit fieberhafter Energie wollte sie den leitenden Persönlichkeiten in Watzum beweisen, wie man in der Sturm -und Drangperiode der „Idee" lebe, wie man rasch die Kräfte ausbilden müsse, welche demnächst überall nach Auf hebung des Verbotes in Preußen, von Kindergarten- und Frauen vereinen verlangt werden würden. Dem Breymannschen erziehlichen Genius entsprach eine rein äußer liche Erweiterung der Ziele der Anstalt auf Kosten des inneren Zusam menhanges und der Einheit derAuffassung gar nicht. Auch war ein voll ständiges Eingehen auf Frau von Marenholtz" Forderungen unter den obwaltenden Familien- und Wohnungsverhältnissen auf dem Dorfe, weit von einer größeren Stadt, unmöglich. Mehr um dem Drängen der Frau von Marenholtz entgegenzuLkommen als aus eigener Initiative wurden Zimmer im Dorfschulhause gemietet für zwei erwachsene Damen, und ein Fröbelkursus wurde im Oktober 1857 eingerichtet. Zu dem Fröbelkursus wurden später auch die reiferen der jungen Mädchen im Pfarrhause zugezogen. Dieser Antermcht wirkte auf die gesamte Mädchenwelt wohltuend zurück. Die älte ren fühlten sich gehoben, würdiger, dem Ernste des Lebens näher gerückt; die jüngeren sahen scheu hinauf zu denen, welche einen Unterricht ge nossen, dessen sie noch nicht würdig erachtet werden konnten. Die praktische Anleitung im Kindergarten in Schöppenstedt, später aus dem Pfarrhofe übernahm Marie Breymann, welche selbst eine Volkserzieherin von Gottes Gnaden war und zugleich den erziehlichen Zielen der Schwester seines Verständnis entgegenbrachte. Im Kinder garten mußte man Marie Breymann den Kindern eine Geschichte in plattdeutscher Mundart erzählen sehen (denn einige Zuhörer sahen die Wirkung, begriffen wohl den Sinn im ganzen, ohne die einzelnen Worte zu verstehen). Oder man mußte bei den Kreis- und Laschespielen die improvisierten Ausbrüche eines unbändigen Lumors erlebt haben, um eine Ahnung zu bekommen, wie die Fröbelsche Erziehungsweise in genialer Landhabung volkserzieherisch wirken kann.
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Mit Marie Breymann Arm in Arm einen Spaziergang durch das Dorf zu machen, war zu jeder Zeit ein Genuß. Rechts und links ein un geniertes, aber herzhaftes Kopfnicken, Mützenlüsten, Anreden auf „Du und Du". Man begrüßte weniger die Pastorentochter als die Freundin der Jugend und deren Eltern. Gern machte man ihr am Feierabend auf der Bank vor der Äaustür einen Platz frei, wenn sie nahte; herzlich er freute es eine bäuerliche Kausftau, wenn sie mit einer der vielen „Fräu leins" am Sonntag nachmittag in ihre gute Stube einkehrte zu einer Tasse Kaffee mit „Prillecken". Wie wußte Marie durch ihr frisches, hei teres Wesen, durch ein kerniges, plattdeutsches Wort den Leuten gleich nah zu kommen, ohne selbst zu wissen, wie. — Etwas Volkstümliches lag ihr im Blute; ihr Gebuttstag gestaltete sich mit den Jahren fast zu einem Dorffeste. Im vettraulichen Gespräch mit Äenriette, halb scherzend und doch im Grunde ernst, wies Marie Breymann auf den sehr einflußreichen Volksschullehrer, Äerrn Schucht in Oker, hin und sagte: „Sieh, Hen riette, ich hätte so einen Schullehrer heiraten müssen und mit ihm Schule halten mögen und mich quälen mit ihm, und so mit ihm imVolke leben— das wäre eigentlich meine Sphäre gewesen I" Marie Breymann war viel umworben von Männern, doch die Liebe zu ihrer Familie, ganz besonders zu Henriette, ließen Heirats gedanken bei ihr schwer aufkommen. Als sie einmal einen sehr ehrenvollen Heiratsantrag bekam, übte sie gerade Klavier. Nachdem sie den Bries gelesen, händigte sie denselben ihrer Schwester mit den Worten: „Wollen wir, Henriette?" And als die Schwester erwiderte: „Ich glaube, er hilft uns nicht in unserer Lebensarbeit", sagte sie ganz gelassen: „Nun, dann nicht" und spielte ganz ruhig weiter. Sie hat den Antrag auch abgewiesen. Anfang des Jahres 1858 hatte Henriette den Plan gefaßt, einer Freundin der Familie ihre Stelle in der Pension zu übertragen, um auf sechs Monate nach Paris zu reisen. Dort wollte sie eine größere Beherr schung der Sprache erlangen, sich an den reichen Kunstschätzen erfreuen und auch bilden. Doch, ihr Ziel sollte sie auf eine andere Weise erreichen. Kaum waren die Vorbereitungen zu dem Plane eingeleitet, als eine Anfrage von feiten des belgischen Anterrichtsministeriums an sie gelangte, ihren Aufenthalt in Brüssel zu nehmen, um dott Votträge über die Fröbelschen Ideen in ftanzösischer Sprache zu halten und in einer Schule die Methode praktisch einzuführen.
LenrietLe mochte aus Familienrücksichten und aus übergroßer Gewiffenhafügkeit sich sträuben. Erwachsenen eine berufliche Ausbildung als Kindergärtnerinnen zu geben, immer wieder wurde sie durch die Verhältnisse auf diese Bahn gedrängt. Dem so ehrenvollen Anträge der belgischen Regierung mußte sie ihren 1. Plan opfern. So reiste sie Mitte April 1858 nach Brüssel. Frau von Marenholh war daselbst seit Monaten tätig gewesen in dieser An gelegenheit und hatte das Ministerium so weit gewonnen, daß dasselbe 15,000 Frs. bewilligte, um in einer Mädchenschule Brüssels (ecole des peres de famille) die Sache praktisch einzuführen. Die äußeren Bedingungen, unter denen Lerrriette lebte, waren: eine Entschädigung von 800 Frs, freie Station und ein eigenes Zimmer in einer gebildeten Familie, wo man ihr täglich unentgeltlich französi schen Unterricht gab. Ihre Stellung ihrem Publikum gegenüber war eine sehr angenehme; niemand bezahlte etwas, sogar alles Unterrichts material wurde frei geliefert auf Kosten des Unterrichtsministeriums. In der Mädchenschule in der Vorstadt Brüssels, St. Jossc-ten-Noode sollten die verschiedenen Lehrkräfte aus den Bewahranstalten sich ver sammeln; dort sollten sie mit den Mitteln und Grundsätzen Friedrich Fröbels bekannt gemacht werden. Die ganze Einrichtung dieses Kursus bot Äenriette große Schwie rigkeiten. Die Schüler und Schülerinnen und Inspektoren, welche den Kursus besuchten, standen auf den verschiedensten Stufen der Bildung. Dreimal wöchentlich abends von 6 bis ?V2 Ahr war der theoretische Anterricht, die Mitglieder waren meistens müde, denn sie hatten von morgens um 8 Ahr bis nachmittags um 4 Ahr gearbeitet, und der Weg zu dem Versammlungslokal war für viele eine Stunde weit zu gehen. Zweimal die Woche von 2 bis 4 Ahr nachmittags war der praktische Kursus, an welchem außer dem Personal der Schule fast keines der übrigen Mitglieder teilnehmen konnte, da sie anderweitig beschäftigt waren. Sehr bald nachdem der erste Kursus begonnen hatte, kam eine zweite Aufforderung an Lenriette; man bat sie, einen Kursus im Semi nar für Lehrerinnen zu halten. Dieser Kursus bereitete Lenriette sehr viel Freude, da der Zuhörerkreis ein vorgebildeter, geschlossener war. Ebenso kamen Anfragen von Klöstern, und selbst mehrere meres superieures und ireres schloffen sich dem Anterrichte an. Lenriette mußte um Lilfe bitten, denn ihre Kräfte hielten mit ihrem guten Willen nicht
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Schritt. Eine Französin, Mademoiselle Champs Renaud, welche in der Marquardschen Schule in Dresden und auch bei Breymanns in Wat zum Fröbel praküsch und theoretisch studiert hatte, kam Äenrietten zu Lilfe, und diese beiden Frauen arbeiteten den ganzen Sommer hindurch in schönster Larmonie an ihrer schwierigen Aufgabe. In diesem Jahre befand sich in Belgien das berühmte liberale Mi nisterium Rogier am Ruder, welches sich um die Lebung des Volks unterrichtswesens schon in einer früheren legislativen.Periode große Verdienste erworben hatte. Da die Verfassung Belgiens nach englischem Muster eine konstitutionelle Monarchie war, so war die Mehrheit im Llnterhause ausschlaggebend für den Charakter des Ministeriums (ob klerikal oder liberal). Daraus erklärt sich die Tatsache, daß die ganze po litische und soziale Strömung für die Fröbelsche Reform damals weit günstiger als in Deutschland war. Gesellschaftlich kam man der begeisterten Großnichte Friedrich Frö bels sehr freundlich entgegen. Zuerst durch die Empfehlung der Frau von Marenholh, später gewiß um ihrer selbst willen wetteiferten einfluß reiche und vornehme Familien miteinander, diesen Typus frischer, deut scher Weiblichkeit den Aufenthalt in Brüssel angenehm zu machen, überhaupt beschäftigten sich dort die tüchtigsten Männer, die gebildet
sten Frauen mit den Fröbelschen Anschauungen; die Sache wurde mit einem Ernst und Eifer betrieben, welchen man damals in Deutschland auf diesem Gebiete nicht kannte. Lenriette erreichte durch den Aufenthalt in Brüssel ein doppeltes Ziel: Sie kam in die denkbar günstigste Schule zur Erlernung der fran zösischen Sprache, denn man lernt eine fremde Sprache am leichtesten, wenn man sich ihrer bedienen muß, um geistige Werte zu vermitteln. Sie schrieb die Vorbereitungen zu ihren Vorträgen nieder, über setzte diese mit Lilfe eines Lehrers und lernte die korrekte Übersetzung auswendig. Diese fortgesetzte große Arbeit bildete später den Haupt bestandteil eines sehr brauchbaren und weit bekannten französischen Äandbuches: „Manuel pratique des jardins d’enfants“, worunter Äenriette ihren Ramen nicht drucken lassen wollte. Rach einem Aufenthalte, von einigen Wochen in Paris mit Frau von Marenholtz, wohin sie zu ihrer Erholung nach getaner Arbeit reiste, kehrte sie am 19. November d. I. in ihre stillere Wirksamkeit nach Wat zum zurück mit dem ruhigen Bewußtsein, daß einige einflußreiche Per sönlichkeiten von der Richtigkeit der Fröbelschen Grundsätze überzeugt
seien und mit unerschütterlichem Mut und geschickter Land an der Re alisierung derselben in der öffentlichen Erziehung arbeiten würden.
Nach der Rückkehr aus Brüssel wurde der Winter 1859/60 auf eine für Lenriette befriedigende Weise zugebracht, indem sie sich mit erneu tem Eifer in die erziehlichen Aufgaben im Hause vertiefte. Sie arbeitete auch mit an einem deutschen Äandbuche über die Fröbelsche Methode, welches von Dr. Karl Schmidt, Schulrat und Seminardirektor in Gotha redigiert werden sollte. Zu einer ganz besonders patriotischen Feier gestaltete sich der 100jährige Geburtstag Schillers in diesem Jahre, an der Henriette mit ihrer jugendlichen Schar teilnahm. Sie führte ihre jungen Mädchen nach Braunschweig, wo sie für eine Nacht Quartier bestellt hatten, um die Feier im Rathause und im herzoglichen Theater mit zu genießen. Der Sommer 1860 brachte wiederum Frau von Marenholh als Gast ins Pfarrhaus und mit ihr sieben Erwachsene als Fröbelschülerinnen, welche inr Dorfschulhause untergebracht wurden; Frau Adele von Portugall befand sich unter diesen letzteren. Die Herbstferien benutzte Henriette zu einer Fröbelpropagandareise mit Frau von Marenholtz zusammen. Das Ziel der Reise war die Schweiz, und Bern, Lausanne, Genf wurden besucht. Bei dieser Ge legenheit sah Henriette zum ersten Male die Alpen und genoß in vollen Zügen die Natur im großen Stile, als nähme sie etwas Verwandtes in sich auf. Lange wirkte die Freude an der großartigen Natur nach. Wäh rend derReise wuchsen die Briefe an die Ihrigen zu einem kleinen Buche zusammen, welches von Hand zu Hand ging und der Familie viel Unterhaltung gewährte. Ja, man beschloß im Scherz einstimmig, in Zu kunft Henriette zu bitten, auf gemeinschaftliche Kosten jedes Jahr eine Reise zu unternehmen, damit sie allen Mitgliedern ergötzliche Briefe nach Hause liefern könne. Das Jahr 1861 wurde nach verschiedenen Richtungen hin ein Jahr innern und äußeren Wachstums für Henriettens Persönlichkeit, wie für ihre Bestrebungen. So kam ein ehrenvoller Auftrag von der russisch finnischen Regierung: vier gebildete Frauen (zwei Finnländerinnen und zwei Russinnen) sollte Henriette in die Fröbelsche Erziehungsweise einführen; diese sollten später in ihrem eigenen Lande, in der Volks schule ihr Können verwerten.
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So mußten im Schulhause zu Watzum eine ganze Reihe Zimmer für die Erwachsenen gefunden werden. Ebenfalls wurden in den langen Ferien (Sommer- und Äerbstserien wurden zusammengelegt), im Pfarrhause selbst neue Räume ausgebaut zur Aufnahme von zwanzig jungen Mädchen. Ja Lenriette mußte viele Eltern mit dem Ver sprechen trösten, ihre Töchter ganz bestimmt in einem Jahre aufnehmen zu können. Da kamen zwei Väter in diesem Jahre auf den Gedanken, keine ab schlägige Antwort abzuwarten, sondern mit ihren zu erziehenden Töch tern einfach nach Watzum hinzureisen. Der eine meinte, ein so kleines Mädchen brauche nicht viel Platz, und es ließe sich ein Eckchen finden; der andere dachte dadurch die Aufnahme seiner Tochter zu sichern, daß er neben dem üblichen Kostgeld noch eine beträchtliche Summe zum Aus bau eines Zimmers für seine Tochter niederlegte. Die still schaffendeMutter und Lausfrau, zeitweise durch ihre Töch ter Anna und Albertine unterstiitzt, trug die tägliche Sorge für das leib liche Gedeihen von dreiunddreißig Personen in dieser Zeit, während Marie sechsundfünfzig, Lenriette sechzig Stunden wöchentlich arbeitete! Daneben wurde der gesellige Verkehr mit den Eltern der Zöglinge, mit Nachbarn und befreundeten Familien in Braunschweig und der !lmgegend nicht vernachlässigt, und kaum ein Sommersonntag verging ohne Besuch. Der Winter erlitt weniger Anterbrechungen von außen, doch für das Recht der Jugend auf Vergnügen wurde innerhalb des Laufes reichlich im Winter gesorgt. Lenriette benutzte die verhältnismäßige Ruhe des Winters zum Studium und zu schriftstellerischen Arbeiten auf pädagogischem Gebiete. Ernstere Aufsätze von ihrer Land erschienen in dem Braunschweigschen Schulblatte, auch in dem von Schmidt (Köthen) redigierten Blatte „Erziehung der Gegenwart" und erregten die Aufmerksamkeit der Schul behörde in ihrem engeren Vaterlande. Besonders sür die Kindergarten propaganda tätig war der Konsistorialrat Lirsche, welcher der pädago gischen Abteilung des braunschweigschen Predigerseminars damals Vor stand. Leider folgte er einem Rufe als Lauptpastor nach Lamburg und sein wichüger Einfluß ging für die Fröbelsche Sache im braunschwei gischen Lande verloren. Auch leichtere literarische Versuche, wie Kindergeschichten, Alle gorien, Märchen schrieb Lenriette, und diese fanden in den Bänden von „Lertzblättchens Zeitvertreib" und andern Iugendschristen jener Zeit
willige Aufnahme und wurden auch honoriert; sie sind leider anonym erschienen, wie es damals unter Frauen vielfach Sitte war. Mit den bekanntesten Vertretern der ^röbelschen Sache stand Lenriette in ständiger Korrespondenz; zeitweise weilten ihre Schwestern Anna und später Ledwig in der Schweiz, der Bruder Karl in Berlin, Adolf und Albertine trieben Kunststudien in Dresden, und mit allen diesen Familienmitgliedern führte sie einen regen Briefwechsel, wobei die ungewöhnliche Geschwindigkeit, mit welcher sie Situationen und Charaktere zeichnete, ihr sehr zustatten kam. Durch die treue, unermüdliche Unterstützung der Eltern und Schwe stern war das Erziehungshaus in Watzum zu einer unerwarteten Blüte gediehen. Das Llnternehmen konnte innerhalb des jetzigen Rahmens un möglich weiter wachsen; mit zwanzig jungen Mädchen im Pfarrhause und zwölf erwachsenen Fröbelschülerinnen im Dorfe war die äußerste Grenze erreicht. Trotz Erhöhungen des Kostgeldes mußten Breymanns in den Jahren 1862 bis 1864 fast jedes Semester zwischen zwanzig und dreißig Anmeldungen abweisen; außerdem waren für zwei Jahre im voraus alle Plätze belegt. Anter diesen Amständen wurde die Frage der Verpflanzung der Erziehungsanstalt auf ein eigenes Grundstück immer dringender. Auf die alternden Eltern mußten die Kinder Rücksicht neh men; besonders lastete die Führung eines so großen Laushaltes von Jahr zu Jahr schwerer aus der Mutter. Lenriette stand nun in der Mitte ihres Lebens. Mit ihrer wachsenden Kraft und einem immer klarer wer denden Ziele auf dem Gebiete weiblicher Erziehung fühlte sie, daß die Zeit reif war für eine äußere Trennung des Unternehmens vom elter lichen Lause, aber wohin? Sollten sie im Dorfe ein Grundstück zu er werben suchen und bauen? Sollte man in einer reizvolleren Gegend sich neu ansiedeln? oder in der Nähe einer Stadt oder gar in eine Stadt ziehen, groß genug, um die wissenschaftlichen und künstlerischenLilfskräfte für den Unterricht liefern zu können? Es wurde in den letzten beiden Jahren lange hin und her beraten und mancher Ort in dieser Absicht besucht, ohne zu einem Entschluß zu kommen. Manche Familienereignisse sollten in der Wahl des Ortes ein Wort mitsprechen. Der älteste Sohn und Bruder, Karl Breymann, hatte im März 1862 sein letztes theologisches Examen absolviert, war aber immer noch nicht ganz schlüssig, ob er in der Tätigkeit des Landpastors oder der des Erziehers das Schwergewicht seiner Lebensarbeit suchen sollte. Er neigte
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zu letzterem und Lenriette sah in seiner Mitwirkung ein Ideal ihres Lebens — die männliche Mitwirkung in der Erziehung — erreicht. Außerdem war er mit Luise Mirow verlobt; diese arbeitete seit einigen Jahren als geschätzte Lehrerin in Deutschland und England. Die jüngere Schwester Albertine mit P.W.Amsinch Landwirt von Beruf, bildeten ein zweites Brautpaar in der Familie. Der Wunsch Äenriettens, etwas Gemeinsames zu unternehmen, schien auf die zuletzt aufgenommenen Mitglieder der Familie überzu gehen. Äenriette entwarf einen herrlichen Zukunstsplan; leider setzte derselbe eine Reihe ineinandergreifender Verhältnisse voraus, welche schwerlich gleichzeitig an einem Orte zu finden sind. Aber der Entwurf entsprach einem Ideal in Äenriettens Seele: Eine vielseiüg gegliederte Täügkeit verschiedener Berufe, die sich gegenseitig unterstützen und dem Zweck der Menschenbildung dienen. Dieser Traum schien zuweilen gar nicht unmöglich zu realisieren, so einig war das Streben der Familie; doch die Vorbedingungen und Verhältnisse ließen sich nicht zwingen. Während die Familie diese wichtigen Fragen erörterte, wurde Len-riette wiederum dringend gebeten, im Frühjahr 1864 nach Genf zu kom men, um Freunden der Fröbelschen Ideen bei der Begründung eines Erziehungsvereins behilflich zu sein. Sie entschloß sich, diesemRufe zu folgen, denn ihr Bruder Karl, der von einem längeren Aufenthalte in Lausanne nach Deutschland zurückkehrte, hatte sich bereit erklärt, ihren Teil des Unterrichts zu übernehmen, und die erziehliche Leitung blieb in den Länden der Eltern und Schwestern. Auch verboten es die Räum lichkeiten, einen Fröbelkursus in Watzum zu beginnen, da im Laufe die ses Jahres die Anstalt aller Wahrscheinlichkeit nach verpflanzt werden mußte.
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Im Watzumer Pfarrhause: Erziehliches Leben, Unterricht, Beschäftigung. auch die geniale, treibende Kraft von Äenriette Breymann ausging, welche ihre eigene Familie sowie alle fremden Elemente zu einem Ganzen zusammenschweißte, so hatte sie viele Miterzieher; sie stand trotz aller Schwierigkeiten auf dem glücklichsten Boden, dem der eigenen sie liebenden, sie verehrenden Familie. Schon die Anwesenheit des ehrwürdigen, rüstig noch schaffenden Elternpaares, zu denen die Pensionärinnen, wie zu Großeltern vertrauensvoll hinaufsahen; dann die Schwestern, alle jung, talentvoll, nach dem damaligen Maßstabe gebildet und einig im Streben, gaben dem Ganzen einen familienhasten Charakter. Sehr schätzte Äenriette den Besuch der Brüder und ihrer Freunde als Erziehungsfaktor im Verkehr mit den jungen Mädchen. Trafen die Brüder in den Ferien ein, so gewannen meistens der harm lose Scherz und die Neckerei die Oberhand im Verkehr mit den anwe senden Pensionärinnen; waren sie während der Schulzeit im ElternHause anwesend, dann reihte sich neben die Heiterkeit auch der Ernst des Lebens; der angehende Mediziner mußte die Elemente der Physiologie in bestimmten Stunden vortragen, der zur Schweigsamkeit neigende Bildhauer mußte wenigstens mehreremal jede Woche Modellierstunde geben und sein redseliger Freund übernahm die kunstgeschichtlichen Vorträge; der Kandidat der Theologie war, wie schon erwähnt, nicht abgeneigt, mit den Schwestern gemeinsame Sache zu machen und trat zeitweise für den Vater oder für Lenriette in die Anstalt ein. Die Anwesenheit verschiedener Generationen, der beiden Ge schlechter, der verschiedenen Altersstufen drückte dem ganzen Leben den Stempel eins edeln Familiengeistes auf, welcher manchen technischen Mangel des Unterrichts wohl aufzuwiegen imstande war^ Die Macht der genialen Erzieherin ist schwer zu analysieren, so sehr gleicht sie Lyschi nska, Henriette Lchrader I.
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einem Schöpfungsakte in ihrer Betätigung. Will man das Wesen von Lenriette Breymanns Einfluß auf die Mädchen- und Frauenwelt näher bezeichnen, so ist es wohl auf ein warmes, aber zugleich immer mehr sich läuterndes Muttergefühl, verbunden mit großen intellektuellen Fähigkeiten und starkem Willen zurückzuführen; sie selbst nennt es: „Geistige Mütterlichkeit." Nicht als ob hier ein Abstrahieren alles Irdischen von ihrer reichen Naturanlage fiir sie in Anspruch genommen werden sollte, im Gegen teil: Äenriette Breymann war in der Blüte ihrer jugendlichen Kraft, als Leiterin einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen nie ein äußeres Musterbild. Es bestand sogar eine ständige Spannung zwischen dem, was die Welt sich unter einer „Vorsteherin" denkt und Lenriettens Naturell. Es gab Zeiten, wo sie der Pension „einen Fußtritt hätte geben können", um der in ihr noch nicht verbrauchten Kraft freien Lauf zu lassen. An den Bedingtheiten des bürgerlichen Lebens hat sie ge rüttelt mit elementarer Kraft, sich oft gegen dieselben aufgelehnt, jedoch ohne sie zu zertrümmern. In bezug auf ihren Verkehr mit der Jugend in der Pension möchte ich als charakteristisch hervorheben, daß er nichts Anstaltsmäßiges, Konventionelles an sich hatte. Kenriette überging alle kleinen Maßregeln, welche die Erzieherin und Leiterin der Jugend gegenüber als ein Wesen höherer Ordnung erscheinen lassen sollen. Weder im Anterrichte wollte sie als allwissend, noch im Leben für unfehlbar gelten. Sie konnte dem natürlichen Zornaffekt über eine jugendliche Angezogenheit oder Bummelei freien Laus lassen. Ihre Zöglinge fürchteten sich vor ihrer Festigkeit, aber weit mehr noch vor der Entziehung ihrer Liebe. War aber der erste Sturm ihres Miß fallens vorüber, war eine Besserung angestrebt seitens der Getadelten, so gab es himmlische Momente der Versöhnung, der inneren Erhebung, hervorgerufen durch das Lindurchleuchten der Sonne ihres liebenden Interesses, durch ihren unvertilgbaren Glauben an die unerfchöpsten Möglichkeiten des Guten im jungen Menschen. Sie hatte eben ein ganz intensives Interesse an allen psychischen Vorgängen im Menschen und einen intuitiven Blick für den Seelenzustand jeder einzelnen ihrer Schutz befohlenen. Sie fühlte ihre Macht über die Gemüter und freute sich derselben. Wie sie selbst auf dem Boden ernsten Strebens die Welle des Lebens fluten ließ durch ihre bewegte Seele, so ersparte sie ihren Zöglingen nicht den Wellenschlag äußeren und inneren Erlebens. Die Zöglinge waren auch im Verhältnis zu ihrer Erzieherin bald:
Im Watzumer Pfarrhause.
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„Äimmelhoch jauchzend. Zum Tode betrübt. Glücklich allein Ist die Seele, die liebt." Ja, eine Berliner Freundin ihres Wirkens charakterisierte ihr Verhältnis zur Jugend noch in ihrem reiferen Alter als das „des Rattenfängers zu Lameln", so groß war ihre Anziehungskraft, so unbe grenzt war das Verttauen, welches ein großer Teil der Jugend ihr entgegenbrachte, ohne daß sie sich besonders darum bemüht hätte. Man fühlte eben das warme Interesse einer mütterlichen Frau durch an dem Werdenden im Menschen.
In bezug auf die intellektuelle Bildung machte Lenriette auf ihre best unterrichteten Schülerinnen in dieser Zeit nicht den Eindruck einer Persönlichkeit, welche über ein großes Wissen verfügte, aber was sie lehrte, ob französische Grammatik oder deutsche Geschichte oder Metrik, alles hastete. Sie entwickelte, sie verknüpfte das Gelernte mit dem Leben, es erhellte den Blick für die Außen- und Innenwelt; es waren Steine, die sich im Innern zusammenfügten zu einem größeren Gesamtbau, wenn es auch die Lernenden nur dunkel ahnten und erst später erkannten. Lenriette hatte eben selbst einen gewaltigen Einheitsttieb, und sie hatte an der Zusammenhanglosigkeit des Schulwissens in ihrer Kindheit und Jugend schwer gelitten. Ihre unerbittliche Wahrhaftigkeit war jedem Scheinwissen, jedem Schlagworte, welches mit einem „-mus" endigte, gefährlich. Wehe dem Mädchen, welches als „höhere Tochter" aus der „Selekta" zum ersten Male ein solches Wort laut werden ließ, wenn sie nicht Rede und Antwort stehen konnte über dessen Bedeutung! Anter Kenriettens Leitung gruppierte man verschiedene Disziplinen in parallel laufende Kurse, welche sich gegenseitig ergänzten und in Beziehung zueinander gehalten wurden. Zu dem Gebiete der deutschen Geschichte (welches Kenriette zu dieser Zeit in den Mittelpunkt stellte) gehörten Literatur- und Kunstgeschichte, Mythologie und Geographie. Ebenso verfuhr man mit der Gruppierung des Stoffes, der sich an den ftemdsprachlichen Anterricht anknüpste in der obersten Abteilung, nur waren die Lülfskräfte britischer oder stanzösischer (schweizerischer) Nationalität selten fähig, diesen vielseitigen Anterricht zu erteilen, woraus eine große Arbeitslast für die Leiterin erwuchs, indem sie ihre Lülsskräste selbst heranbilden mußte zu einem solchen Anterrichte. Naturwissenschaft lehtte Marie; im Sommer wurden botanische 12*
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Spaziergänge dem Unterrichte angegliedert. Man benutzte noch das Linnesche System, und die Schülerinnen legten Äerbarien an. Im Winter lernte man etwas Zoologie und Physik; letztere gefiel den meisten wegen der interessanten Experimente; die Schülerinnen stellten die einfachsten Apparate dazu selbst her in der sogenannten „Pappstunde", unter der Aufsicht des erfinderischen Buchbinders, des Äerrn Äayder, aus Schöppenstedt; die Anweisung dazu gab Marie Breymann. In Albertinens Länden lag der Zeichen- und Malunterricht, utib diese viel angeschwärmte Lehrerin wußte manches blinde Auge sehend zu machen für die Schönheit der Pflanzenwelt. Im Winter wurden perspektivische Studien an Geräten, Möbeln und Zimmern, auch an den Fröbelschen Baukästen getrieben. Auf Äarzpartien und sonstigen Ausflügerr in die Natur forderte Albertine ihre vorgerücktesten Schüle rinnen zmn Wettkampf im Zeichnen auf, innerhalb einer bestimmten Zeit sollten sie eine Skizze nach der Natur zeichnen. Anna Breymann leitete den Äandarbeitsunterricht und sorgte für die Ordnung im Lause. Am Sonnabend war die obligate „Flickstunde", wo alles während der Woche Zerrissene zum Vorschein kam, und wenn der Schaden bei Lichte besehen wurde, rief er manchen Seufzer von Anna Breymann hervor! Denn — zum Schaden der Kleider streifte die Jugend frei durchs Dorf und übers Feld; im Sommer nach der Turn stunde wurde im Turnkostüm in der Dämnrerung „Räuber und Gendarnlen" gespielt, oder Ball - und Laschespiele wechselten damit ab. Im Winter lief die Jugend Schlittschuhe auf dem Teiche im Gutsgarten mit freundlicher Erlaubnis des Besitzers, oder sie sauste auf Landschlitten einen kleinen Berg hinunter, von der Dorfjugend treu lich begleitet. Eine frühere Schülerin schreibt: „Auch im Lause gab es regelmäßige, kleine Dienste, welche die älteren junger: Mädchen jede Woche neu verteilten. Da gab es die „Tischdeckwoche" einschließlich des Auftragens der Speisen und des Abdeckens, ferner die „Stuben woche", wobei für Ordnung und Abwischen in den Wohn- und Lehr räumen der Schülerinnen gesorgt werden mußte. Nicht angenehm war die „Ofenwoche" im Winter. Wer „Küchenwoche" hatte, mußte auch Taffen und Gläser spülen. Die „Lampenwoche" war wenig begehrt. Die eigenen Schlafräume mußten natürlich auch selbst in Ordnung gehalten werden. Wer sein kleines messingenes öllämpchen Sonnabends
blitzblank geputzt hatte, war stolz darauf. Montags bürsteten die größe ren Mädchen ihr Zeug selbst aus."
Alle diese häuslichen Pflichten wechselten mit den Lehrstunden ab, sie waren so verteilt, daß sie niemals störend in den Unterricht eingriffen. Der Onkel Breymann war in seiner Mußezeit wie früher der große Gartenfteund und weihte auch in Wahum die Pensionärinnen in die Gartenkunst zeitweise ein. Die Kleineren dursten als große Gunst mit der Tante Breymann ein Spargelbeet abernten, Bohnen oder Erbsen pflücken oder für den Onkel Erde durchsieben. Die ganze Front des Pfarrhauses war mit reich tragendem Wein bewachsen; nahte die Zeit der Reife, so kam der Knecht mit der Leiter und bedeckte jede Traube mit einer blauen Papiertüte, was nicht gerade dem ästhetischen Sinne Äenriettens entsprach. Überhaupt waren Vater und Tochter über die Anlagen im Garten oft verschiedener Meinung; er sah nur die Schön heit im einzelnen, sie wollte das Landschaftliche im Garten mehr ge pflegt wissen. Im Winter wurde Äenriettens leicht fließende Feder oft in An spruch genommen, um zu einem „Amüsement-Abend" die Theaterstücke eines Kohebue, Iffland oder Benedix den Umständen und dem Können der Zöglinge anzupassen. Bei größeren Festlichkeiten, wozu Eltern und Geschwister, sowie befreundete Familien aus der Nachbarschaft eingeladen wurden, ertönte wohl Annas liebliche Sopranstimme und Mariens herrliche Altstimme in einem Singspiel von Körner oder in einer Szene aus dem „Freischütz" und ergänzten den Chorgesang ju gendlicher Stimmen auf das schönste. Auch an Szenen aus klassischen Stücken, sowie an längere Gedichte von Schiller wagte sich die Jugend oft mit Zittern und Zagen heran, denn die Proben wurden von Äenriette mit großem Ernst vorgenommen. Um ihren künstlerischen An sprüchen zu genügen, mußte man durch eine Art Fegefeuer der Kritik gehen in bezug auf Kleidung, Gebärden und Sprache. Die jungen Mädchen kamen oft weinend aus den Theaterproben, aber fasziniert waren sie doch, denn man fühlte, wie sehr viel man lernte, und mit wie brennendem Eifer Lehrende wie Lernende bei der Sache waren. Dem musikalischen Unterricht stand Marie Breymann vor, denn sie war von Natur, wie durch ihre Vorbildung dazu befähigt. Ja, es gab eine Zeit in ihrem Leben, wo ihre Liebe zur Musik und der Besitz einer wirklich schönen Altstimme, gepaart mit viel Grazie der Bewegungen ihre Gedanken auf die Bühne als Beruf lenkten, und nur die entschie dene Mißbilligung des erschrockenen Vaters brachte die Tochter auf
eine andere Verwendung der in ihr ruhenden Talente.
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Marie Breymann hatte selbst einen gediegenen Vortrag als Klavierspielerin, aber ihre vorgerückteren Schülerinnen führte sie gern Künstlern wie Richter und Blumenstengel in Braunschweig zu; sie blieb aber allen die Verkörperung des Musikalischen im Lause, die Verknüpfung der Musik mit dem Leben. Ganz besonders wurde von ihr der Chorgesang im Pfarrhause gepflegt, und er trug viel bei zur Steigerung der Lebensfreude im allgemeinen. Selbst der Gottesdienst in der kleinen Dorfkirche zu Wahum erfuhr eine Bereicherung durch den Pensionschor; an besonderen Festtagen erhöhte ein Psalm oder ein anderer, nicht schwerer Festgesang die Andacht, so daß mancher Dorfbewohner, welcher sonst für kirchliche Vorgänge nicht empfänglich war, sich doch beim Gottesdienste einstellte, wo „die Fräuleins wie die lieben Engelein im Limmel" sangen. Bei Picknicks im Walde oder nach getaner Arbeit in der Gartenlaube, erhellt durch eine mattbrennende Ampel oder durch den hellsten Mondenschein erscholl ein fröh licher oder feierlicher Chorgesang je nach vorherrschender Stimmung. Marie Breymann war eine durch und durch musikalische Natur, sie wählte die denkbar einfachsten mehrstimmigen Lieder, schrieb sie für drei Frauenstimmen oft um und brachte das Einfache in möglichster Vollendung in bezug auf Ton, Rhythmus, Worte zur Darstellung. So gingen alle Beteiligten mit Freude und Eifer an das Einüben, da sie sich ihrer Aufgabe gewachsen fühlten. Marie Breymanns vielseitige Begabung wurde von ihrer Liebesfähigkeit und seltenen Aneigennühigkeit des Charakters übertroffen. Sie stellte ihre Talente und ihre Person bedingungslos in den Dienst von Lenriettens Lebensbestrebungen, und dennoch blieb sie von Lenriette im Charakter wie im Temperament eine grundverschiedene Persön lichkeit, welche ihre Eigenart nie verleugnen konnte. Dies war ein Glück für ihre gemeinsame Wirksamkeit, denn durch dieses sich ergänzende Schwesternpaar kam eine Fülle von Anregungen, eine Frische und ein Schwung in das tägliche Leben, welche der Jugend die Pflichterfüllung leicht machte und den Freunden und Gästen einen geselligen Reiz mehr bot in dem viel besuchten Pfarrhause. Fast symbolisch für das innige Verständnis der beiden Schwestern erscheint der im Jahre 1861 vorgenommene Ausbau einer unbenuhten Scheune auf dem Pfarrhofe zu einem Dorfkindergarten; Bau und Einrichtung wurden von Lenriettens und Mariens ersten Ersparnissen bestritten, und eine kleine Feier, wozu die Dorfbewohner eingeladen
3m Wahumer Pfarrhause.
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wurden, fand bei der Eröffnung des zweckmäßigen, wenn auch beschei denen Raumes statt. So befand sich Lenriette im Laufe von zehn Jahren an der Spitze einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen, sowie einer beginnenden Ausbildungsklasse für Erwachsene für die Kleinkindererziehung, An stalten, welche sich eines wachsenden guten Rufes erfreuten. Sie hatte das Leben der Eltern und Schwestern mit ihrem Unternehmen innig verwebt, als es ihr allmählich zum Bewußtsein kam, was zu der Leitung einer solchen Anstalt eigentlich noch fehlte. Vieles hatte dieNatur gegeben, aber doch nicht alles, und je größer die Erfahrung, desto klarer wurde ihr Blick für die Mängel, desto stren ger ihre Selbstkritik. Schaut man von dem heuügen Standpunkte der Bildungsmög lichkeiten für Frauen zurück auf die Mitte des 19. Jahrhunderts, so könnte einen ein tiefes Mitleid erfüllen für die denkenden Frauen jener Zeit. Anter welchen äußeren Schwierigkeiten und inneren Seelen schmerzen haben sie ihren Wissensdurst gestillt, ihre berufliche Tüchtig keit errungen! Lenriette Breymann hat alle Leiden der Frauen ihrer Zeit reich lich durchgekostet, so auch in bezug auf mangelndes Wissen. Beide Schwestern, Marie und Lenriette haben während der ersten zehn Jahre ihres Erziehungsunternehmens die Ferien konsequent be nutzt, die eine um ihre musikalische Ausbildung, die andere um ihre wissenschaftlichen Kenntnisse zu erweitern. Auch suchte Lenriette mehr Einsicht in die innere Organisation anderer Erziehungsanstalten zu gewinnen, wobei sie sich nicht allein auf Mädchen beschränke, sondern auch Knabenschulen besuchte, wenn die Gelegenheit sich bot; denn ein Hauptsatz ihres Erziehungsglaubens war, die Erziehung der Geschlech ter für einander anzubahnen. Durch die Erziehung der jüngeren Brüder hatte sie auch darin manche reiche Erfahrung gewonnen.
Die folgenden Briefe und Auszüge aus Tagebüchern werden die obige Skizze des Lebens im Pfarrhause lebensvoll ergänzen.
Kapitel 13.
Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64. Brüssel. Juli 1858. Tagebuch.
nährt uns Frauen in Deutschland zu viel mit Gefühlen oder mit Eitelkeit, und entweder das eine oder das andere ist bei uns maßgebend in der Liebe. Wir bedürfen zu sehr der Anschließung, wir heiraten im Manne mehr den Vater unserer Kinder, als den Gefährten unseres ganzen Wesens, und eine gute Familienmutter schließt sich ab in den Grenzen ihrer Häuslichkeit; die Kinder bilden den Mittelpunkt ihres Lebens. Der Mann verfolgt seine geschäftlichen Interessen und kehrt heim, um zu ruhen. So bleibt die Entwicklung des Geistes dahinten, und tut die Frau einmal eine Frage, die über das Gebiet des häuslichen Lebens hinausgeht, so schließt der Gatte ihr den Mund mit einem Kusse und den Worten: „Mein Kind, das verstehst du nicht; bekümmere dich nicht darum, du hast genug zu tun mit deiner Küche und deinen Kin dern." And diese Ehen sind noch die glücklichsten! Man fühlt keinen Mangel, weil man schläft, und weil so vieles unentwickelt bleibt in der Seele des Weibes ... Sie braucht nur den sogenannten „guten" Mann, d. h. der sich nicht betrinkt, keine Liebesverhältnisse anknüpft; der für ihren und ihrer Kinder Lebensunterhalt sorgt, zu Lause kommt, um zu essen und zu trinken, zu schlafen, mit den Kindern zu spielen und die Frau zu liebkosen; der daran denkt, für seine Kinder Zukunft, d. h. eine Brotstelle in Aussicht zu haben. O, das ist ein guter, ein herrlicher Mann, und das liebe Kind, seine Frau, ein glückliches Weib l Oft habe ich gedacht, ich wolle auf diesen Weg gehen; aber nein, nur der Reiz der Neuheit würde mich einige Zeit unterhalten; einmal dieser verflogen, und ich wäre das elendste Geschöpf auf der Welt. Denn es lebt in mir eine Kraft, die kann eine Zeitlang eingeschläfert, aber nie unterdrückt werden, und ich glaube, diese Kraft ist was Gutes in mir, ich kann das größere Ganze schauen und für die Menschen leben und arbei ten. Ich habe in meinem Lause gearbeitet, ich habe in meinem Stübchen gedacht und geschrieben, ich habe oft die Schmerzen der ganzen Welt,
oft ihre Seligkeit gefühlt, wenn ich mich aufschwang in die Regionen, wo wir der Vollendung unserer Entwicklung uns nähern. Ich habe aber auch verstanden, wie das Weib der kleinen, häuslichen Sorgen braucht, um in ihrer Sphäre zu wirken; ich konnte mich nicht meiner Weiblichkeit entäußern, ich konnte nicht hinausstürmen in die Welt, alle persönlichen Rücksichten vergessend. Ich bin daheim geblieben, habe die kleinen häus lichen Sorgen mit den Meinen geteilt, aber mit aller Kraft auf sie ge drängt, nicht in solchen unterzugehen. Ich habe zuweilen von einem Manne geträumt, der mich nötig hätte, nicht nur zu seinem persönlichen Glücke, aber auch um eine Lebens aufgabe mit mir zu lösen; der sich meiner Bildung annähme, der den Durst nach Wahrheit in mir stillte, der mich besser erziehen wollte, und den ich zu Taten anfeuern, zu seinem Berufe begeistern könnte. Wie mich vor vielen Jahren das Leben des Lerzens zu dem des Geistes ge führt — so könnte nur noch einmal die Liebesfähigkeit in mir sich auf eine Person heften, wenn zuerstdas Anpersönliche uns zusammenführte. Die Anschauung des großen Ganzen, die Arbeit im Äinblick auf dasselbe hat mir allein wieder Lebenskraft gegeben. Ich habe mich der Idee der weiblichen Erziehung gewidmet und bin ihr im ganzen treu ge blieben; habe für sie gearbeitet, wenn auch in einzelnen Tagen mein Leben auf und ab wogt, Licht und Schatten wechselt, ich oft rechts und links ausweiche, so hat mich doch nichts von der Bahn fortgetrieben, in die mein Schicksal mich geführt. And jetzt sollte ich sie aufgeben, um ein ganz persönliches Leben zu führen?*)Nimmermehr; es würde mein Tod sein. O, mein Gott, du weißt, wie stark das Bedürfnis nach Liebe in mir ist; Liebe zu geben, zu nehmen, wie es mich bis zur Schwäche treibt; wie ich geweint habe, daß ich nie ein Kind haben würde, das mich liebt, wie ich meine Mutter liebe; wie ich auch die Schwachheiten meines Ge
schlechtes besitze, um auch unangenehm berührt zu werden von dem Ge danken, eine „alte Jungfer" zu heißen; wie ich das alles durchdacht und durchfühlt habe. Doch ich besitze noch ein anderes als ein bedürftiges Äerz, das ist ein nach Wahrheit durstender Geist, und ich darf das erstere nie auf Kosten des andern befriedigen. Wir Frauen sind gar nicht anspruchsvoll genug an die Männer; wir sind zu leicht zufriedengestellt. *) Sie bekam einen sehr ehrenvollen Äeiratsantrag von einem Belgier.
Lenriette an den Bruder Adolf, in Dresden, Bildhauer. Pfarrhaus Watzum 1859. Dein Brief war eine Äerzenserquickung für uns, wir hatten lange darauf gehofft, der Vater fürchtete. Du würdest krank sein; ich ängstigte mich um Deine Arbeit und glaubte. Du wärest traurig und niedergegeschlagen. Gottlob nicht, lieber, glücklicher Adolf, danke Gott, daß er Dich auf den Weg Deines wahren Berufes geführt hat, denn für einen verfehlten Beruf gibt es nur einen Trost: den der Resignation. In un serm Berufe sollen wir unser eigentlich Göttliches darstellen, sei es im Bilde oder in Lande! und Wandel; alles in seiner Tiefe aufgefaßt und rein bewahrt, schließt Göttliches in sich. Ich will Dir was erzählen, obgleich Du mich auslachst wahrschein lich. Ich habe nämlich traurige Stunden gehabt, indem es mir nun ganz bestimmt zum Bewußtsein kam, daß mein Beruf war: Schauspielerin zu werden. Ich habe immer Lust gehabt, aber jetzt weiß ich, daß ich die Fähigkeit dazu habe; es ist das nie so recht herausgekommen, aber sie ist da. In diesen Tagen ist mir die Wahrheit des psychologischen Satzes recht klar geworden, daß geistig Verwandtes, einander nah gebracht, sich gegenseitig anregt und entwickelt. Ich habe nämlich mit dem Schau spieler und Sänger S. dieser Tage verkehrt.... ich weiß nicht, ob er in meinem Sinne sehr bedeutend ist, jedenfalls ist er nach vielen Seiten hin unentwickelt. Er hat aber viel Sinn für das Edle in der Kunst, nur hat er, glaube ich, den Künstlern mehr ab gelernt, er hat zu viel Manier, als daß er an der ewig frischen Quelle der Natur studiert. Ich hasse Manier und suche danach, was Schiller in den Worten ausdrückt: „And Schöneres find' ich nicht, so lang ich wähle, Als in der schönen Form die schöne Seele."
Diese schöne Form, von der die Rede ist, ist ein Ausfluß des innern Menschen, sie ist gleichsam die Äußerung der Kraft. Ihr Künstler, wenn
Ihr originell sein wollt, versenkt Euch in die Natur, lauscht ihr Eure Töne, Eure Farben, Eure Formen ab; geht ins Leben, in die Gefäng nisse, die Irrenhäuser, an das Kranken-, das Totenbett; auch dahin, wo bei glücklichen Menschen noch Naivität gefunden wird; letzteres wird wohl am schwersten zu finden sein. Wenn ein Künstler den Meister kopiert, so geht es wie mit dem Ab-
klatsch eines Schriftstückes; es wird matter und matter, bis es endlich erlischt... . Um auf mein Erlebnis zuriickzukommen. Wir lasen zusam men Lamlet und Ophelia, Maria Stuart und Mortimer usw. Obgleich der Mensch mein Interesse wenig fesselte, so atme ich die Atmosphäre der Kunst dabei ein, welche für mich etwas ungemein Anregendes hat. Ich kam einmal in die Stimmung, als ob ich der Pension und aller Regel mäßigkeit unseres Lebens hätte einen Tritt geben und hinaus wandern mögen in die weite, weite Welt. Sieh, Adolf, die Ausübung der Kunst ist ja in einer Beziehung der Drang, Inneres äußerlich zu gestalten. Verborgenes ans Licht zu zie hen, und es drückt das Äerz, wenn man es nicht loswerden kann, weil es eben nur als Kunstwerk sich von uns loslöst. Ich trage nun an diesem Druck mein lebelang und habe daran getragen. Meine Natur bedarf des Szenenwechsels, des Lebens und der Bewegung; wo hätte ich dies im reicherenMaße gefunden als auf der Bühne? Weil ich in meinen Rollen gelebt hätte und das Leben gerwffen nach allen seinen Richtungen, die düsteren wären mir Traum geblieben, die lichten mein Leben geworden. Aber doch danke ich Gott, daß es so ist, wie es ist, denn mit meiner Seele voll Ideale und mit meinem Äerzen wie es ist, wäre es gebrochen. Schau spielerin und Erzieherin haben viel miteinander gemein; ja, das haben sie, und es ist der Fluch der Menschen, daß sie die Einheit des Lebens zerstücken. Aus der Kirche ist unser Theater hervorgewachsen; mit der Kirche wird es, wenn auch in anderer Weise als früher, nach Jahrhun derten wieder verschmelzen. Wenn ich früher jammerte, daß man mich keine Kunst gelehrt, so tröste ich mich wieder, daß Erziehen die größte Kunst von allem sei, und das ist doch wahr. Aber sieh, Adolf, was mich drückt, ist eben, daß man auch in der Erziehung nie ein Ganzes, nur immer ein Stückwerk schafft. . Du lachst wohl über meine vielen Zitate aus Schiller, aber ich lebe so mit ihm und erfrische meine dürstende Seele in dieser Einsamkeit am himmlischen Quell seiner Poesien! Welch' ein Geist, der für uns wächst, indem wir selber wachsen! Ich freue mich, daß Du Shakespeare liest; als Dramatiker ist er von keinem unserer Dichter erreicht, und das Dra matische muß befruchtend auf den Geist des Bildhauers wirken, denn zum Teil fällt es ihm zu, dasselbe zu bannen, die Wellen des Lebens festzuhalten, die sonst im Augenblicke verschwinden, indem sie sich erneuern, und wiederum muß der Mime an der Plastik studieren
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Kapitel 13:
Denke, wenn ich zu Schillers und Goethes Zeit gelebt und Schau spielerin gewesen wäre auf der Bühne, welche sie als veredelnde Anstalt betrachtet wissen wollten I Wie hätte ich tausendfache Übungen im Schweiße meines Angesichts gemacht, um den Leib so in meine Gewalt zu bekommen, daß er rein ein kristallenes Gefäß geworden wäre, durch welches der Geist in ungetrübter Klarheit durchleuchtet! Ich bin nicht schön, aber meine Figur, mein Gesicht paßt für die Bühne, und das Kostüm wirkt mächtig bei mir .... Du bist gewiß ganz verwundert über diesen Brief, aber, lieber Adolf, was ich schreibe, ist der Ausbruch eines lange verhaltenen Kum mers, den ich selbst nicht verstand und nun kenne. Ich weiß noch, daß mir noch als Kind in Wolfenbüttel verboten wurde, Theater zu spielen und in das Theater zu gehen, weil es nnch dermaßen aufregte, daß ich nachts nicht schlief. Nun, Adolf, auch Du hast Deine Schmerzensnächte durchwacht, ehe Du den Weg klar vor Dir sähest, den Du wandelst; und so wirst Du mich vielleicht nicht auslachen, sondern trösten. And ich kann getröstet werden, wenn wir unsere Anstalt zu der Vollendung bringen, wie sie in meiner Seele lebt Wie freue ich mich auf Dein Kommen, Adolf; mehr als je wollen wir die Zeit ausnühen. Du mußt mir helfen, rnein Auge aufzuschließen für das Technische der Kunst; ich bin da noch oft so blind, ich kann nur beurteilen, ob die Idee entsprechend wiedergegeben wurde. Ich möchte so gern in jeder Linsicht ein klares Auge für Deine Kunst gewinnen. Es liegt darin eine gewisse Befriedigung. Alle haben so große Lust etwas aufzuführen, wenn Du hiet bist, ich möchte es auch, aber etwas Ordentliches, wovon man Nutzen hat. Nun sind die Kostüme so schwer für die klassischen Stü^e unserer Dichter;
sollen wir nicht etwas aus dem Altertum nehmen? Man kann griechische Gewänder leicht Herstellen, z. B. Phedra von Racine, übersetzt von Schiller; es paßt gerade für uns in den Ferien. Ich denke mir die Ver teilung der Nollen so: Theseus — Erich Theramen — Amsmck — Marie Oenone Phedra = ich Ismene = Äedwig Äypolit — Du Panope — Anna Aricia — Albertine Bitte schreibe nur gleich, ob Du damit zufrieden bist, weil wir dann anfangen wollen, nach und nach zu lernen. Oder willst Du was anderes.
so schlage es vor. Später zeichnest Du wohl die Kostüme auf und sagst, welche Farben, welchen Stoff wir nehmen müssen. Wir machen natür lich Kronen von Goldpapier. Zeichne einige Schmuckgegenstände auf, damit der Buchbinder, Lerr Layder, sie schneiden kann Lenriette an den Bruder Karl.
Watzum, 15. März 1860. soeben haben wir in den Anterhaltungen von Gutzkow die Geschichte eines weiblichen Arztes gelesen, die mit den fürchterlichsten Opfern es sich erkaufte, studieren zu können und jetzt ein Frauenhospital in Amerika gegründet hat.... Alles, was sie sagt, ist so fern von falscher Emanzipation, atmet solche Opferfreudigkeit, daß es wirklich einmal wie eine Erquickung in mein Äerz fiel. Überhaupt habe ich von Amerika aus
schon herrliche Aussätze, auch von Männern, über die Gleichberechügung der Frau mit dem Manne gelesen; aber eben als „Entgegengesetzt-Glei ches", wie Fröbel das in seinen Werken ausspricht.... Fest und fester wird der Entschluß in mir, nächsten Winter nach Berlin gründlich in die Schule zu gehen .... Was ich lese, die Tatsachen sind wie die Schale, die ich nicht genug beachte, d. h. ich ziehe mit meinen eigenen Gedanken zu schnell Schlüffe daraus. So lerne ich für meine eigene Entwicklung rasch, aber dies ist eine unglückliche Disposition des Geistes für die Schulmeisterei. Was ich höre, ist anders; ich muß einmal von jemand unterrichtet werden, der den Stoff beherrscht. Sieh', Karl, ich kann mir keine größere Wonne denken, als wie für Stunden bei einem tüchtigen Lehrer zu studieren; o, ich habe dieses Glück nie genossen! Ver stehst Du mich recht, ich tue das alles, um Fröbels Idee der Frauen erziehung zu realisieren. Ich weiß auch jetzt endlich, was Fröblisch unter richten heißt. Anser Dorfschullehrer gibt recht guten Unterricht in der deutschen Sprache, aber er genügt mir nicht; aber zu einer gründlichen Verbesserung muß ich den Stoff beherrschen. Glaube mir, wenn es mir nicht gelingt, mich tüchtig zu machen, so werde ich an diesen Äalbheiten sterben, wenn nicht körperlich, so geistig, und das ist keine Redensart Der Vater wird außer sich sein, wenn er von meinem Entschlusse hört 27. März. . .. einmal aus einer gewissen Selbstzufriedenheit auf geschreckt, in die ich gewiegt war, weil ich sah, ich machte meine Sache besser als manche andere, ist mir ein großes Ziel aufgegangen, und ich jammere davor herum, aber ich weiß, mir fehlt die Geduld. Ist es etwa
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Kapitel 13:
so leicht, Karl, aus der Menge des Wissens das Rechte herauszufinden für die Mädchen von 14—16 Jahren, sich diesem kritrschen Lebensalter anzu paffen? Am nach meiner Methode ihnen Kenntnisse einzupauken, wäre ich am Ende so verlegen nicht. Aber ich habe noch nicht den rechten Standpunkt firr meine Schülerinnen gefunden, ich habe noch nicht die verschiedenen Zweige zu einem Ganzen abgerundet, so daß eine Stunde der andern dient, und das Gehörte Fleisch und Blut bei ihnen werde. Doch es geht schon besser. Nur, wenn man alles durch sich selbst finden muß, so kann es nicht ausbleiben, daß man herum probiert, und dapeinigt mich
Henriette an den Bruder Adolf in Dresden. Watzum, 17. März 1860. . And wenn es möglich ist, mein Adolf, mein innigst geliebter Bruder, Dich rein zu erhalten; wenn es möglich ist. Dein Wesen zu durchläutern mit Demut und Sanftmut — und es ist möglich —, dann wird das fortwirken bis ins tausendste Glied. Das ist ein Teil meines Glaubens, daß kein gutes Gefühl wirkungslos verlorengeht, noch weni ger eine gute Tat. Ich rufe Dir wieder zu: Werde Dein eigener Künstler, vereinige den Künstler mit dem Menschen! Versenke Deinen Geist in die hohen Vorbilder der Vergangenheit, aber schmeichele Deinen Schwächen nicht mit den ihrigen, denn wir leben so viel später, und was ihnen zu verzeihen war, uns ist es nicht. Dir wird es nicht leicht. Deinen Lebensweg unsträflich zu wandeln, denn Du gefällst den Menschen, und das ist immer eine gefährliche Klippe; aber Gott gab Dir viele Festigkeit. Was am schwersten zu überwinderr ist, ist Spott, Verkennung, Einsamkeit. Aber nur Mut, mein Adolf; hier schlagen die Herzen, ach, die ihr Blut hingeben könnten. Dich wahrhaft glücklich zu machen. Ich liebe Dich so unendlich, und wenn je mals ein Opfer nötig ist zu bringen, o, Adolf, sei nie zu stolz. Dich mir anzuvertrauen; mein Leben gehört zunächst Euch, Dir! — Mit Albertine führe ich ein herrliches Leben, sie versteht meine Be strebungen, sie überwindet den Schlendrian, der nun einmal an unser Haus sich geheftet, und der oft mein Blut in Wallung gebracht. Sie geht ein auf meine Gedanken über Erziehung, die mehr bezwecken, als äußer liches Artigsein und auswendig gelernte Kenntnisse. Ich will die Frauen zur Liebe erziehen, aber zur großen, ganzen, kräftigen Liebe, die nicht das ihre sucht. Führt ihnen dann Gott einen Mann zu, für den sie leben
sollen, um so durch ihn für das große Ganze zu leben, dann konzentriert sich dies Leben der Seele auf einen Punkt und entzündet ein heiliges Feuer der Liebe. Ach Adolf, es ist meine Aufgabe, ohne Reibungen mit dem Vater durchzukommen, und seitdem ich klar bin über vieles, geht es schon besser; es wird noch ganz gut gehen. Am drückendsten sind mir die Mängel des Instituts. Ach, was fehlt alles, was fehlt mir selbst! And in dieser Erkenntnis stehe ich sehr allein^ Doch ich will mich nicht in unnützen Klagen ergießen; ich bete und ar beite Fürchte nicht, daß ich zu große Hoffnungen auf Dich setze; nein, mein Adolf, ich erwarte nur eins von Dir und dem wirst Du entsprechen: daß Du treu Deinen Beruf erfüllst, ob dieser sein wird, der Nachwelt einen Namen zu überliefern, oder im engeren Kreise ein fleißiger treuer Arbeiter zu sein, wie es Gott will. Die Gaben, die er uns verliehen, machen den Stand, und Du bist vernünftig und fromm genug, nichts erzwingen zu wollen, was Dir nicht gewährt wird. Aber behalte immer das höchste Ziel vor Augen. Das Genie äußert sich sehr verschieden. Oft tritt es auf mit stür mischer bahnbrechender Gewalt; oft still, fast verstohlen sich entwickelnd. Scheue nur keine Anstrengung, gründlich zu studieren, Talent hast Du offenbar, um bei tüchtigen Kenntnissen irgendwelche ehrenhafte Stel lung einzunehmen, selbst wenn das Genie Dich nicht mit seinem Flammenkusse berührt hätte. Mache aber immer wieder und wieder selbstän dige Kompositionen, „scheue das Anvollkommene nicht, wenn Du das Vollkommene erreichen willst". Rege Deine Phantasie an, aber nicht auf krankhafte Art, das straft sich immer wieder. Lies die Alten, lies Shakespeare, bitte versäume das nicht; er ist der größte Dramatiker, den wir außer der alten Zeit haben ....
Äenriette an den Bruder Karl. Watzum, Mai 1860. Welche Blicke tut man in die Familien, in die Kerzen der jungen Mädchen, wo mit 16 Jahren schon die Blasiertheit eingekehrt ist, wo einem 14jährigen der Name „Kind" ein Greuel ist, und wo die Kon firmation auch nur als Einlaßkarte in die Gesellschaft der Erwachsenen betrachtet wird 1 Welche idealistischen Begriffe hat der PastorMeier über den Lerzenszustand unserer jetzigen Mädchenwelt! Ich habe viel mit ihm
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Kapitel 13:
gesprochen, ich stehe mit ihm in Korrespondenz, die so eingerichtet ist,,
daß sie Dir zukommen wird. Eine wunderbare Erscheinung drängt sich nur auf, daß fast keine Eltern ihr Kind kennen; wo ich nach allen Richtungen hin erziehlich wirkerr soll, rnuß ich doch vorerst den Menschen kennen. Welch ein großer
Weiser war Fröbel! Ich könnte weinen, daß ich ihn kennenlernte, als ich
noch ein Kind in meiner Entwicklung war, und daß mich sein Charakter,
seine persönliche Art und Weise zu sein, so störte. Karl, ich habe einen Gedanken gehabt, den ich Dir bei dieser Ge
legenheit mrtteilerr will: Das Gewissen oder der Funke Gottes in der menschlichen Natur ist der einzig ursprüngliche, unsterbliche Teil in
Menschen, und er sinder hier oder dort Gelegenheit, sich zu entwickeln
Von allen schönen Eigenschaften des Geistes und des Äerzens gehört ihm nur so viel, als er sich davon zu eigen macht. Wie wird manches Genie,
das auf Erden glänzte, nackt und arm dastehen in jenem Leben, we gerade das, worauf er pochte, gegen es zeugt! Denn das Genie gehört
der Menschheit, der Charakter nur dem Menschen. Allerdings wird dem,
welchem ein Genie zu träger: auferlegt wurde, die harmonische Aus bildung seines Charakters schwerer Werder: als jedem andern, aber sie wird
auch glänzender hervortreten und das Genie unterstützen. Mar: hat
immer gesagt, wenn ich unglücklich war, große Männer unmoralisch zu sehen: „Trennen Sie doch die Person von dem Genie." Ich konnte das
nicht, weil ich nie verstand nachzusprechen, und erst jetzt habe ich es be
griffen. Es löst sich mir das Rätsel in der Unterscheidung von Menschen und der Menschheit. Warum wählt Gott das unreine Gefäß zum Träger seiner Gedanken, so daß sie uns unreiner erscheinen durch den getrübten
Kristall? Da ist ein Mysterium. Sie fließen hinein! Wie ? Ein vielleicht
für die Nachwelt zu lösendes Problem Abends. Leute ist L. Becker mit seine jungen Frau in Barnstorf angekommen, und Vater, Anna und Marie sind hingegangen, sie zu be
grüßen. Ich mußte eines schlimmen Fußesmegen zu Lause bleiben und
nun wrll ich meinem Briese etwas hinzufügen. Es ist wirklich recht traurig, daß ich mich noch gar nicht recht in die neuen Pensionärinnen einleben kann und es nir auch sicheint, als passe ich garnicht mehr wie früher zu meinem Berufe Ich kann d'ie meisten Mäd
chen nicht eigentlich lieben, das schöne Verrauen, welches ich zu ihnen
hatte, hat einern gewissen Mißtrauen Platz gemacht. Ich kann es noch nicht überwinden, daß E. G. und K. K. so scheckliche Äeimwehszenen ein-
führten und erstere sogar fortlief! Ich finde, selbst die Zurückgebliebenen
sind im Ganzen ihres Wesens zurückgegangen, wenigstens Helsen sie mir nicht, wie ich es sonst gewohnt war, alles in das gewohnte Gleis zu
bringen; sie ziehen sich zurück. Auch der schöne Sängerchor der Mädchen, über den sich so viele gefreut, ist zerstört; die Neuen können oder wollen keine andere als erste Stimme singen, und Marie ist auch nicht erbaut von unserm jetzigen Wirken. Es war aber auch so wunderhübsch vor den
Ferien. Nun, vielleicht wird es besser, ich verlange vielleicht zu viel in der
kurzen Zeit. Sonst geht alles gut. Für Michaelis sind wieder alle Stellen
besetzt, aber mit Grauen denke ich an den Wechsel. Eine Arbeit habe ich, die mir recht erquickliche Stunden gewährt; ich gebe nämlich Religionstunde anstatt Erziehungslehre und schreibe zu dem Zwecke „Die christliche Religion in ihrer besonderen Anwendung auf
das weibliche Leben". Einleitung: Einige psychologische Bemerkungen über Geist, Seele,Vernunft usw. Dann komme ich vom allgemeinMensch-
Uchen auf das besondere Weibliche und weise die weibliche Bestimmung nach 1) ans derNatur: hebe dabei hervor, daß man nicht Zartheit mit Schwäche, nicht kleine Dinge, in denen die Frau ihr Reich hat, mit Klei nigkeiten verwechseln bars. Man kann dem entgegenarbeiten, wenn man
im Kleinen das Große erkennt, und somit jede scheinbar niedrige häusliche Beschäftigung eine Weih« erhält — die der Liebe. 2) in der Offen barung: durch das Gewissen, welches durch die schöne, die heilige Sitte spricht. 3) durch die Geschichte: Zu diesem Teil muß ich viele Studien machen. Ich komme dabeii zum Christentum, indem ich daran knüpfe:
Christus mit Maria und Markha.Dann nehme ich die Bergpredigt, doch
so weit bin ich noch nicht. Was ich schreibe, könnte als Grundriß zu einem größeren Werke dienen, wenn ich so glücklich wäre, jemand zu finden, der mir hülfe. Ich kenne genaui das Feld meiner Tätigkeit, kommt mir nicht eine gediegene männliche Kraft zu Äilfe, so wird vieles verlorengehen,
womit ich wohl hätte nützem können. Doch ich will nicht ungeduldig sein, habe ich doch schon die schöne Äoffnung, Dich, meinen Karl, hier für
längere Zeit zu haben. Bitte, bitte, führe Deinen Plan aus, es wird Dich nicht gereuen, und uns körnntest Du unendlich nützen. Sonnabend mittag. Ich habe ausBrüssel so schöneNachrichten.
Der manuel ist sehr gut ausgenommen, alle Blätter find seines Lobes voll,
und man hat von der Regierung S>errn Jacobs gesagt, daß er dem An terrichtswesen einen große», Dienst erwiesen habe. Mademoiselle de Vad-
der hat mir wieder geschrieben, daß sie im September kommen will. WahrLyschi nska, Henriette Sihrader l.
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scheinlich reise ich mit ihr nach Dresden und womöglich auch nach Berlin. Bitte richte es so ein, das Du im September da bist. Frage Dr. Besser, ob er die Zeitschrift kennt: La Science des meres ou l’education harmonique par l’ötude de la nature et l’application des jardins d’enfants, Paris, librairie de la vie morale, 5 tue de la barque; Frau von Marenholtz schreibt viel darin. Dein Brief hat mir wieder eine Bestätigung gegeben, wie tief wir uns im Grunde verstehen, und Deine Ansicht von der Fröbelschen Idee macht mich glücklich. Ich kann Dir leider keine Kindergärtnerin empfehlen. Anter meinen Schülerinnen ist keine, die geneigt wäre, praktisch zu wirken. Auch sind sie viel zu jung, und ich kann ihnen nur die Knospe der Idee geben, weil sie selbst noch Knospen sind. Meiner Meinung nach sollten Mädchen, wie wir sie hier haben, nur so weit in die Idee eingeführt werden, als sie prak tisch im Kindergarten hülfen, und einer reiferen Epoche müßte der eigent liche theoretische Kursus vorbehalten bleiben. Karl, hätte ich Mittel und eine tüchtige männliche Äilfskraft zur Seite, dann Marien, ich glaube, ich könnte etwas Ordentliches leisten. Dies hier ist zu großes Stückwerk, und ich glaube, daß die Erkenntnis davon mich entmutigt. Indessen nein, das ist zu viel gesagt. Gott hat mich hierher gestellt, und bin ich nur treu, so darf ich mich um den Erfolg nicht grämen. Aber ich würde keinen Augen blick zögern, mein Laus hier zu verlassen und nach Berlin zu kommen,
wenn z. B. der Staat sich der Kindergärten annimmt und mir eine Staatsanstellung gäbe, wobei ich den theoretischen Kursus, Marie den praktischen hätte, und wir die Kindergärten inspizieren müßten, sowie die Prüfung der Kindergärtnerinnen abhalten. Ich würde dann drei Kurse geben: 1. Für Mütter, 2. Für Lehrerinnen, 3. Für Dienstmädchen. Ich glaube, ich habe die verschiedenen Standpunkte klar im Geiste, von denen ich ausgehen müßte. Grundgedanke den Müttern gegenüber: geistige Mütterlichkeit. Was ist wahre Mutterliebe ? Sie zu entwickeln und darauf das ganze Fröbelsche System zu bauen. Bei den Lehrerinnen: „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst", denn sie stehen in einem allgemeinen Verhältnis der menschlichen Gesellschaft gegenüber. Den Dienstmädchen gegenüber arbeite ich, ihnen den niedrigen Knechtssinn zu nehmen. Grund von allem ist Religion. Die Fröbelei ist Stühe von außen, das Christen tum zu realisieren. Ich glaube, Karl, eine solche Stellung wäre ganz meinem Wesen entprechend, aber ich müßte frei sein, nicht von einer Menge Weiber, son dern nur vom Staate abhängen und eine sorglose Läuslichkeit nach ge-
taner Arbeit finden. Ich müßte einen gediegenen Arzt und überhaupt ge diegene Männer zur Seite haben, die mir die Schätze ihrer pofitiven Kenntnisse zu Gebote stellen. Dann mit Marie vereint mit ihren mufikalischen Talenten, ihrer Zeichenkunst und Naturkenntnis hätten wir alles vereinigt Tagebuch. Z.März 1861. Wenn man ein Ideal vom Leben in fich trägt, wie es sein könnte, und man um sich blickt und sieht, wie es ist, so wird man mit tiefer Traurigkeit erfüllt, selbst in der stillen Zurückgezogenheit des Landlebens. Der Bauer unserer Tage ist ein ganz eigener Schlag Menschen. Er ist in einer Übergangsperiode begriffen, die so recht tief das Anbehagliche
empfinden läßt, was eine solche Zeit mit sich bringt. Seit dem Jahre 1848, wo er seine Abgaben an die Güter und herzog lichen Domänen abgelöst, wo er Sitz und Stimme mit dem Prediger im Schul- und Kirchenrat, wo sich ein besonderer Schulrat gebildet hat; seitdem die Felder separiert und er reich und reicher geworden ist, strebt er mit Macht nach dem äußeren Flitter der Bildung. Die Männer gründen LesegesellschafteU, worin Strauß' „Leben Jesu" und Ähnliches vorkommt, wie naturwissenschaftliche Bücher auf materialistischer Grundlage. Die Frauen legen ihre reizende National tracht ab und stecken sich in Krinoline und umrahmen das sonnenver brannte Gesicht mit einem §>ut von Seide und Blumen. Sie gehen Sonntags in die Kirche, um den Putz zu zeigen, die Män ner, um die Predigt zu kritisieren. And bei all dem bleiben Roheiten und Ansittlichkeiten wie vorher. Wenig Sinn für Ordnung herrscht in den Läufern, über die der Sonntagsflitter ausgebreitet wird, wie bei den Männern gelehrte Redensarten trotz noch mangelnder Bildung. So ist unsere Bauernaristokraüe, die viel starrer an ihren Rechten hält, als die gebildete Klasse. Sehr streng wird die Rangordnung ein gehalten unter dem Landvolke, und es kann eher vorkommen, daß ein Prinz eine Bürgerliche zu seiner rechtmäßigen Gemahlin erhebt, als daß der Besitzer eines Ackerhofes die Tochter eines Tagelöhners zur Gattin wählte. Nur in roher Ansittlichkeit stimmen alle bis auf wenige Ausnahmen überein, und immer mehr verschwindet der jungfräuliche Kranz vom Äaupte der Braut. Ja, selbst wenn sie ihn trägt, ziert er sie oft nicht mit Recht.
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And doch wird alle Sonntage gepredigt, wird zweimal die Woche Betstunde gehalten. Es wird getauft, konfirmiert, eingesegnet, es wird mit seltener Treue das lautere Evangelium verkündet, es wird Schule und Kinderlehre gehalten. Die Alten kehren mit Nützlichkeitsgesprächen aus dem Gotteshause heim, die Kinder lärmend und oft mit unanständigen Späßen, und die erwachsene Jugend benutzt gerade den Sonntag, um in Muße roher sinn licher Lust nachzugehen. Was soll man dagegen tun, da das Predigen des Wottes nichts hilft? Bei dem zarten Kinde müssen wir anfangen, ihm Gelegenheit geben, sich früh im Guten zu betätigen. Durch die Kinder müssen wir uns den Eltern nähern, durch die Äerzen der Kleinen die der Erwachsenen ge winnen. And hier können gerade Gattin und Töchter des Seelsorgers ihm hilfreiche Land leisten. Wenn man eine Gruppe spielender Kinder bettachtet, so schleicht sich neben der Freude, welche wir empfinden, auch das Gefühl des Schmerzes ein, indem wir innewerden, wie schon früh Roheiten und schlechte Gewohnheiten die guten Keime niederhalten, die in den Kindern schlummern und nach Entfaltung drängen. Es scheint mir nun, als müsse man eben das Kind da angreifen, wo es seine ganze Natur entwickelt und zeigt: beim Spiel, bei der Beschäfttgung. Von diesem Grundsatz getrieben, haben wir einen Kindergarten für die Dorfjugend gegründet. Ans stehen wenigeMittel zu Gebote; aber man kann schon mit wenigem einen Anfang machen. So versammeln wir denn zweimal die Woche 15 bis 20 kleine, noch nicht schulpflichüge Kinder auf unserer Diele im Pfarrhause; die größeren kommen auch eine Stunde und bilden eine höhere Abteilung. Wir benutzen rein gewaschene Kartoffeln zu Bällen, zugeschnittene Schwefelhölzchen zu Legehölzchen, alte Schulhefte zu Faltformen, aus Pappe geschnittene Dreiecke zum Legen der Formen usw. Die Liebe, aber auch der feste Wille, etwas Gutes zu tun, macht erfinderisch. Unser nächstes Ziel ist nun, ein unbenutzt stehendes Gebäude um zubauen und alle Tage darin Kindergatten zu halten. Weihnachten 1860 hielten wir eine Bescherung. Ansere lieben Schülennnen hatten uns dabei kräftig unterstützt. Auf der Diele wurde aufgekramt: Kleidungsstücke, Puppen, Spielsachen und Eßwaren. Zwei reich behängte Bäume strahlten im Hellen Glanze und beleuchteten das
schöne Bild von Richter, wo Engel den Christbaum tragen. Die Mütter und Schwestern der Kinder waren versammelt, die Glocke ertönte und herein stürmte die ftöhliche Kinderschar. Nachdem sie alles bewundert und angestaunt hatten, sprach mein Vater einige Worte an die Eltern, dann an die Kinder. Zum Schluß ertönte aus dem Nebenzimmer ein mehr stimmiger Choral, und mancheMutter drückte uns bewegt die Land, und riese Sülle herrschte einen Augenblick in der Versammlung. Dann wur den die Gaben verteilt, Tische, Stühle wurderr fortgeschafft, und die Kin der spielten und tanzten, und alle nahmen teil an ihrer Freude. Jahrelang muß dieses Leben fortgesetzt werden, um die Resultate zu erzielen, welchen wir entgegen arbeiten, denn eine Kindergärtnerin ist keine Fee mit dem Zauberstabe. Aber auch jetzt zeigen sich erfreuliche Er folge unserer Bestrebungen. Das alte, schöne Verhältnis zwischen dem Pfarrer und seiner Gemeinde, welches Dichter in mancher Idylle be singen, ist nicht mehr, wenn es je bestanden hat. Die Kindeshand fuhrt uns nun den Lerzen der Eltern näher, sie sind selten unenrpfindlich für das, was man den Kleinen tut, und so ist eine segensreiche Folge des Kindergartens die Annäherung zwischen Predigersamilie und den Leu ten des Dorfes; wir haben ein gemeinsames höheres Interesse gewonnen. Die Kinder selbst springen uns jetzt steudig entgegen, anstatt uns blöde auszuweichen, sie haben uns gern, weil wir ihnen Freude machen. Die Eltern finden, daß sie arüger werden, und daß sie sich nützlich zu beschäfügen wissen. Sie schicken sie immer reinlich und wohl gekämmt zu den be stimmten Stunden, in denen eben höhere Gefühle geweckt werden, um der rohen Naturkraft ein Gegengewicht zu geben. Wie wenig es auch sein mag, was wir erreichen, so ist es doch immer etwas und unserm Wahl spruche tteu: „Scheue das Anvollkommene nicht, wenn du das Voll kommene erreichen willst." Fahren wir fort, an dem großen Werke der Menschenbildung zu arbeiten.
Lenriette an den Bruder Karl im Predigerseminar Wolfen büttel. Watzum. 3. März 1861. Teurer Karl, Dein Schweigen macht mich nachgerade besorgt. Ich möchte so gerne zu Konsistorialrat Lirsche, aber nicht ohne den Aufsatz, bitte, schick ihn mir gleich zurück.
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Kapitel 13: Ich bin sehr frisch und vergnügt im Geiste. Mein nächstes Streben
geht dahin, ein besonderes Zimmer außerhalb des Lauses zu gewinnen und den Dorfkindergarten alle Tage zu halten; dann Vorträge fitr den Kursus zu haben in Anthropologie, Psychologie, Geschichte derPädago-
gik, Mathematik. Ich denke. Du kommst alle 14 Tage und gibst zwei oder drei, Erich vier Stunden. Aber Anthropologie? Da müssen wir uns mit
Büchern behelfen. Es entwickelt sich alles nach und nach und es ist gut so, man bekommt die Sache in die Gewalt
Lenriette an denselben.
Watzum. Sommer 1861. Mein bester Karl,
Wie kommst Du nur zu der Bitte, daß ich Dir gut bleiben möge? Ist es möglich, daß ich Dir nicht gut bleiben könnte? Meine Festigkeit am Pfingsttage hat Dich gewiß mißtrauisch gegen mich gemacht. Es war mir
nach Jahren der Opposiüon, die ich gesunden, nach beständigem Miß verständnis eine Wonne, endlich in Dir Zustimmung zu finden, und
dann sah ich mich so getäuscht, weil ich Dich mißverstand! Da wallte und
siedete und zischte es in mir auf. Ja, dieser Zorn, den ich noch gar nicht bändigen kann, er führt mich noch möglicherweise ins Elend, wenn Gott
nicht gnädig seine Land über mir hält, bis die Wellen sich legen. Ich bin noch ein Sklave meiner Heftigkeit, und doch, und doch, Karl, will ich sie
nicht brechen, denn ich breche mit ihr eine Kraft, die mir unendlich teuer ist; aber ich will sie zu leiten suchen.
Wir arbeiten in sehr verschiedener Weise an uns, und ich kann mich
nicht zu Deinem Systeme bekennen; ja, ich kann es mcht einmal anerken nen, ich sehe es als gefährlich an, als Zerstörerin der Originalität, als
Hemmnis jenerNatürlichkeit und Wahrheit, die so stet, so herrlich empor sproßt. Dein System ist Zerstörerin des Lebens, dieses Lebens, das empor sprudelt wie der Quell aus dem Grunde, das blüht wie die Blume am
Strauche, das singt wie die Lerche, die sich himmelan schwingt. Wie schön, sich als Pflanze zu fühlen, als Knospe am Menschheitsbaume, die wächst
und wachsen muß, von einem innern Gesetz getrieben.
Bei Dir überwiegt der Theologe den Menschen. Sieh, Karl, ich
halte es mit mir ganz anders. Ich glaube, daß derMensch viel mehr das
Gute will wie das Schlechte, aber daß er sich nur genau kennen muß,
welches seine Schwächen sind, sie nackt und unbeschönigt vor sich sieht, und
daß er mit ihnen zu Gott flüchtet; daß er ihn anfleht um seinen heiligen
Geist, daß er emporblickt zum Menschheitsideal, Christus. Er senke sich oft in solche Anschauungen, welche seine Adern durchströmen, wie mit
einem läuternden Lebenssäfte; dadurch kommt er in die Stimmung, die
der einzige rechte Grund und Boden ist für unsere Landlungen. Diese muß dann aber aus uns herausfließen, wie der Quell aus dem Grunde, so frei, so natürlich, so lebensfrisch.
Weißt Du, warum die Beichte bei dem Vater mich so kalt ließ? Weil ich eben meine Beichte für mich habe, an denen ich wie vernichtet
mich fithle in meinen Schwächen. And weißt Du, warum mein Wesen sich
gegen das Abendmahl sträubt? Weil es jetzt eine tote Formel ist und ich tausendmal schöner mein Abendmahl feiere, was sich nicht an Ort und Zeit bindet. Mißverstehe mich aber nicht, lieber Karl; ich will das Abend mahl in der neuen Kirche, aber ich fürchte mich, es in der alten zu feiern;
ich feiere es lieber für mich, solange ich unter dem Drucke, in dieser Ein
samkeit lebe. Mir ist es klar wie der Sonnenschein, daß nur die neue Kirche mir helfen kann, meine Feinde des Lerzens und des ganzen geistigen
Menschen zu überwinden. Mich verlangt nicht nach ihr in ihrer Großarügkeit, mich verlangt nach ihr in der Familie. Doch zurück zum ersten Thema. Ich arbeite vielmehr, in mir zu ent wickeln, als zu beschneiden. Jetzt kommt bei mir alles darauf an, Liebe zu
fühlen. Der Quell meiner Liebe ist getrübt; ich beherrschte mein Anglück*) durch Intelligenz und Tatkraft, und so tritt auch in dem Amgange mit andern die Kraft, die sich im Lerrschen äußert, mehr hervor wie die
innere Kraft, die Liebe, die sich durch den Einfluß beurkundet; und hierin
bin ich unweiblich geworden, das weiß ich. Ich bitte Gott nur um Liebe, aber ich bin oft träge im Gebet. Ich lasse mich als Einzelwesen zuviel
gehen; ich setze mich nicht oft genug in Beziehung zum heiligen Geiste,
die Flamme erlischt, das Band, das mich mit den seligen höheren Geistern voll zusammenhält, wird locker, und oft führt mich der Fall, die trost
loseste Seelenstimmung erst wieder dahin, wo ich hätte verbleiben sollen.
Wieder und wieder die neue Kirche, dieses mächüge Erziehungsmittel in der Gemeinsamkeit, in der Erbauung mit gleichgestimmten Seelen. And so geht die Entwicklung in mir langsam vorwärts. Aber ich fühle, wie
meine Lebensschicksale mich wunderbar erziehen. Es kommen immer innere Katastrophen in meinem Leben, die mich bis ins Innerste er-
*) Siehe Seite 148, 149, 161.
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Kapitel 13:
schüttern, infolge deren ich ganz Neue, ganz Demut bin, und aus denen ich dann, neu gereinigt, mein Laupt erhebe. Also, ich will für mich selbst nicht dieses Schneiden und Makeln der Natur; ich würde es auch andern nicht anraten. . . . Die Gesamtheit hat nur zur Lälfte recht an dem In dividuum, denn sie besteht aus solchen, und die Grenze ist sehr fein und zart, inwieweit wir unsere Individualität zu opfern haben. Meine In dividualität soll werden, ich will sie nicht direkt machen. Die Erbsünde erkenne ich an als ganz natürlich; ich glaube, wir verständigten uns dar über. Was Du unter „Adam" meinst, weiß ich nicht recht; ich verstehe unter ihm die Menschheit in der Kindheit Lenriette an den Bruder Karl.
Watzum, Sommer 1861. Bester Karl,
So sehr hatte ich mich gefreut. Dich zu sehen, und nun kommen von allen Seiten Äindernisse. Ich hatte auch recht sehr das Bedürfnis, einmal aus der „Idee" zu kommen, wenigstens ein anderes Gesicht von ihr zu sehen. Ich habe immer eine sehr wohltätige Wirkung empfunden', wenn ich einmal aus dem täglichen Kreise in einen frischen getreten bin und werde es mir doch wohl noch für einige Zeit versagen müssen. Bitte schicke uns recht oft Leute hierher, es macht uns gar keine Last, und es ist recht gut, wenn sie kommen, das Ganze kennenzulernen.
Wenn es uns gelingt, daß die Kindergärten hier in der Gegend eingeführt werden, so bekommen wir auch Lehrkräfte zur Ausbildung. Wenn doch Konsistorialrat Äirsche einen Seminaristen schicken wollte, ich würde ihm ganz umsonst Stunden geben, und wenn er geschickt wäre, so könnte er hier viel verdienen durch Privatstunden bei den Damen. Er fände hier gewiß noch ein Anterkommen.
Anbei folgen einige Bücher für Konsistorialrat Lirsche
.....
Es ist jetzt eine bewegte Zeit im Innern der Familie, so manche Ent wicklung geht vor sich. Wenn ich kann, komme ich eines Tages zu Euch. Ich freue mich so sehr auf Erich. Er soll mir viel Helsen, z. B. den Damen Mathematikstunde geben, mit ihnen eine Broschüre aus dem Schwedi
schen*) übersetzen *) Zwei schwedisch sprechende Finnländerinnen und zwei Russinnen nahmen teil an dem Erziehungskursus.
Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.
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Äenriette an P. W. Amsinck, zukünftigen Schwager. Watzum. November 1861.
.... Ihr Verhältnis zu Albertine ist mir eine Lerzenserquickung; denn es entspricht einem Ideale von einer Verlobung, die eine ernste und doch im Ernste eine fröhliche, schöne Vorbereitung ist für den ernste sten und schönsten Bund des Lebens. Meine Seele ist durch alle Phasen gegangen, in der die Liebe sich bewegen kann. Ich habe hinausgestrebt über das Ziel, das dem Men schen gesteckt ist, indem ich alles Irdische von mir stoßen wollte. Ich bin aber zurückgekehrt zu dem Maß der Dinge, welches Gott uns gegeben und sehe jetzt das Ziel in der Verklärung des Sinnlichen, Irdischen, welches das schöne Gleichgewicht gibt zwischen Körper und Geist, wo ersterer ein Tempel Gottes wird, und wir die Freuden der Erde mit kindlich frohem Äerzen genießen können, mit einem Äerzen, das immer nach oben gerichtet ist. Gott segne Sie beide, mein Bruder, meine Schwester I Ich bin, gottlob, wieder ruhig im Kerzen, wenn auch immer recht ernst gestimmt. Sie haben recht, wenn Sie sagen, ich lasse mich vom Augenblick bewegen, freudig und schmerzlich. Aber es sind weniger die äußeren Tatsachen, als was durch Äußeres im Innern geweckt wird. So habe ich bei meiner Reise mit Made«- de Vadder von verschiedenen Seiten erfahren, wie sehr, sehr allein ich stehe in meinen Ideen über Frauenerziehung und was damit zusammenhängt, über Religion und Leben; wie der Kampf entbrennen wird in bezug auf die Kinder gärtnerei, wie man mich verdammt usw. Es war ein harter Kampf in mir. Ich wußte wohl, daß wenn wir uns der Welt anpaffen, wir gewiß eine blühende Anstalt Herstellen können. Ohne das werden wir vielleicht mit vielen Sorgen zu kämpfen haben. Es fängt jetzt schon an, man sagt, wir vernachlässigten über dem Kindergarten die jungen Mädchen. Es laufen verschiedene Redereien um, über religiöse Ansichten von Karls und meiner Seite usw. Wäre ich allein, so würde der Kampf bald abgetan sein, aber so hängt Euer aller Wohlsein mit von dem Gedeihen unseres Werkes ab. Ich bin zu folgendem Entschluß gekommen: Ich werde nur meine Einwilligung geben zum Ankauf eines Grundstückes, wenn dieses groß genug ist, um Sie und Ihre Familie ohne eine Pension für junge Mäd-
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chen zu ernähren. Ich will jedenfalls mein Examen machen und Schnei dern, vielleicht auch Putzmachen lernen, damit ich bei Euch bleiben kann auch im schlimmsten Falle. Jeder muß an einen praktischen Erwerbszweig denken, damit man seinen Überzeugungen treu bleiben kann, nicht aus Not sie zu verkaufen braucht. Dann können wir ruhig beieinander bleiben. Wir können auch in einer größeren Wirtschaft mit arbeiten, und wenn wir beieinander bleiben können, dann bin ich überzeugt, unser Werk gelingt. Unser christlickes Leben wird beweisen, daß wir streben, Gottes Kinder zu heißen. Weihnachten wollen wir das alles besprechen und erläutern. Nur unabhängig vom Lob und Tadel der Welt müssen wir uns machen und sei es durch unserer Lände Arbeit; mit uns selbst aber streng sein mit unserm ganzen Leben und einander ermahnen zu guten Werken. O, aus einem solchen Verbände wächst dann unvermerkt die leben dige, neue Kirche hervor, gegründet auf der christlichen Religion, auf gefaßt in ihrer ganzen Größe, die in sich eint, was als Gegensätze feindlich sich gegenüber stand: Wissenschaft und Glauben, Mysterium und Er kenntnis, höchstes Streben und Maß, Zorn und Liebe, Demut und Würde. Die neue Epoche, die hereinbricht, heißt: „Verschmelzung der Ge gensätze." Fröbel ist auf dem Gebiete der Erziehung ihr Prophet. Es liegt eine unendliche Tragweite in seiner Idee, und sie umfaßt in ihrer Kon sequenz auch die wahre, innere Emanzipation der Frau, indem sie mehr Männliches in sich aufnehmen muß, um den Mann, um seine Bestimmung, sein Schicksal zu verstehen, und indem der Mann mehr eindringt in die wunderbaren Tiefen des Weibes, und sie sich gleichstellt insofern, als er erkennt, daß sie da ihre Stärken hat, wo seine Schwächen liegen und um gekehrt. So greisen sie ergänzend ineinander. Jeder Mann kann dieses teil weise allein, jede Frau ebenfalls; aber als schönste, glücklichste Vollendung tritt diese Verschmelzung des männlichen und weiblichen Elements im Leben in der Ehe aus. Sie ist letztes Ziel der Menschen auf Erden, die harmonische, volle Ehe. Bevor wir aber zu diesem Ziele kommen, werden mehr und mehr Frauen unverheiratet bleiben, damit erst die Würde der Frau als Mensch konstatiert wird; das ist noch nicht geschehen .... Der Satz: „Der Mann soll dein Lerr sein", fällt für unsere Zeit, denn er enthält in seiner Konsequenz eine der größten Unsittlichkeiten für die Ehe. Nicht Menschen-
erzeugung, sondern Menschenbildung ist das Ziel. Frei stehe das Weib dem freien Manne gegenüber. Er sei ihr Vertreter, ihrRitter nach außen, sie die Priesterin des Idealen im Innern. „Das ewig Weibliche zieh' euch hinan I" Freund und Freundin, Geliebter und Geliebte, Gatte und Gat. tin, aber nicht Äerr und Dienerin schließe der heilige Ehebund zusammen. Dienen sollen sie einander, das Weib in weiblicher, der Mann in männ licher Weise, indem sie das Kaus zu einem Tempel verklärt, das Kleine und Kleinste durchleuchtet und erhält, was er erwirbt . . . Aber nicht nur Weib ist das Weib, sondern sie ist auch Mensch, und wenn die Stürme kommen, da muß sie nicht hilflos dastehen, sondern helfen können, damit der Mann seine Überzeugung nicht zu verkaufen
brauche. Eine solche Frau ist dem Manne alles in einem. Jetzt noch ist sie vielleicht Geliebte und Gattin, aber nicht zur Freun din, nicht zur geistigen Mütterlichkeit ist sie erzogen. And nur wenn die Freundschaft der Kern der Liebe ist, blüht der Zauber der letzteren in ewiger Anvergänglichkeit. Kein Alter, keine Krankheit, kein Verfall der blühenden Gestalt ist zu fürchten .... Ob Sie mich verstehen, lieber Amsinck? O, wenn es möglich wäre, daß wir eines Sinnes würden I Aber auch wenn wir auseinandergehen, wollen wir einander achten als Wan derer, die nach Wahrheit suchen. Es freut mich unendlich, daß die Wissenschaft Sie auffordert, sich «ine bestimmte Ansicht über Religion zu bilden ..... Ich bin im ganzen Sinne des Wortes Protestant. Ich protestiere mit ganzer Macht gegen jede mir von außen aufgedrungene Ansicht. Ich will freie Forschung in der Schrift . Vogt kenne ich dem Rufe nach, er mag viel für die Wissenschaft tun; studieren sie ihn; immerhin bedenken Sie aber, daß er nicht demütig ist und seinen Verstand einseitig sprechen läßt .... Eine Verstandes religion ist Materialismus, aber eine Vernunftreligion erscheint mir das Schönste, was ich denken kann, denn Vernunft ist für mich das innige Zusammenwirken von Gemüt, Verstand und Willenskraft. Solchen Leu ten wie Vogt bleibt manches verschlossen Es freut mich, daß Sie Lessing lieben, auch ich liebe seine kraftvolle, wahre, klare Natur, und es bebt mein Äerz voll Freude, wenn er diese «kelhaften Pharisäer, diesen „Lamburger" mit solcher Dialektik schlägt. Aber ich bin nicht blind gegen seine Einseitigkeiten. Wir müssen unserer eigenen Vervollkommnung keinen Riegel vorschieben in einseitiger Ver götterung unserer geistigen Leiden. Sie glauben nicht, wie es mich freut,
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Sie in Berlin zu wissen. Bedauern Sie nicht, keinen Geistesgenoffen zu finden, lernen Sie die Welt kennen, wie sie ist, dann lernen Sie immer mehr, was not tut in der Erziehung Wenn Sie nur Weihnachten kommen können, Albertine ist sonst ganz unglücklich, wenn Sie nicht Weihnachten kommen! Ihre Sie herzlich liebende Schwester Äenriette.
Äenriette an den Bruder Karl im Predigerseminar. Watzum. 1. Dezember 1861. Zwar ist es spät, aber ich kann nicht anders als meiner Empörung Luft machen über das, was Du mir von Deinem berühmten Psychologen geschrieben. Ich werde mit Wollust alle Qualen leiden, die ein verein samtes Leben mit sich bringt, wenn ich nur meine Idee über das Weib treu bewahre, und wenn ich je getrauert, daß mir die Ehe versagt blieb, so jauchze ich jetzt darüber; denn ich bin frei, frei von den Banden, die ich verfluche von dem Momente an, wo es mir zum Bewußtsein kam, wie die Männer über uns Frauen denken, was wir ihnen sind. Wehe, wehe Euch! Das einzige Rettungsmittel aus dem Elende ver werft Ihr! Was wollt Ihr Theologen mit Eurer Bibel und Eurer eng herzigen Ausfassung derselben? Waren die Apostel nicht etwa Menschen, die unter dem Einflüsse ihrer Zeit standen? War Christus nicht von einem Weibe geboren? In ihrem Schoße keimte, entwickelte sich das Göttliche; der Mann ist nur bestimmt, es zu formulieren, wir gebären es und geben es Euch; da liegt das große Geheimnis. Ihr kurzsichügen Theologen, die nicht schauen können in das Innere der Natur! Immer besser ver stehe ich das Iesuswort: „Nicht alle, die in meinem Namen Teufel ausgetrieben, werden in das Limmelreich kommen." Es gibt keinen Namen, es müßte einer erfunden werden, um die Aussage Deines Psychologen auszudrücken! Äätte er recht, so würde mein einziges Gebet sein, mich zu vernichten. Ihr Kurzsichtigen, Ihr laßt Euch lieber zu Sklaven eines geschickten Weibes machen, als daß Ihr das Weib in seiner Würde als Eure Gleich berechtigte anerkennt. Geht hin mit Eurem Panier an der Brust, in der der Hochmutsteufel wohnt! Schwört aus Eure Bibelsprüche und Pro pheten, daß das Weib nur in und durch Euch existiere; zieht sie hin in den Staub; seid kurzsichtig, engherzig, unlogisch. Gerade da, wo das Weib steht, steht Ihr selbst, denn sie ist Eure Lälfte! Karl, laß die Stickluft des Theologenseminars nicht Einfluß auf Dich haben
Später. Jetzt bin ich wieder ganz ruhig geworden, aber der Zorn hat sich in eine feste Überzeugung verwandelt. Wenn Du Deine Studien absolviert hast, gehe hinaus in die Welt, gehe nach Paris, wo der Wellen schlag desLebensDich berührt; in Büchern hastDu genug gekramt, studiere die Natur und das menschliche Leben; dieses wird Dir besser auseinander setzen, was die Sünde ist der Menschheit, wie des einzelnen Menschen.
Kenriette an den Bruder Karl in Berlin.
Watzum. 10. Januar 1862. .... Die jungen Mädchen werden nicht berufsmäßig zu Kinder gärtnerinnen ausgebildet. Die meisten sind noch viel zu jung . . . Das schließt nicht aus, daß die Mädchen praktisch Spiele und Beschäftigungen lernen, womit sie einst die kleinen Geschwister oder Verwandten ihres Kreises beglücken können, und sie selbst in einem Geiste erzogen werden, wie ihn Fröbel erwecken und klären half. Am 14. Du mußt es der Elektrizität und dem Magnetismus zu schreiben, wenn Du diese Zeilen später erhältst... denn diese Naturkräfte beschäftigen mich sehr, und um mir Aufschluß zu verschaffen, suche ich in jedem Buche, welches von Naturwissenschaft handelt. Es ist schrecklich, keinen Lehrer, nicht einmal ein genügendes Werk zu haben, das uns Auf schluß gibt über Fragen, die erwachen, und Dinge, die zum Verständnis drängen. In solchen Augenblicken packt mich eine fabelhafte Anruhe. Was ich mir an positiven Kenntnissen erwerbe, verarbeitet der Geist so fort als Material zum Denken, und da stockt die Maschine ost genug, und kein, kein Mensch, der mir zu Äilfe käme Die Tage fliehen so rasch dahin, daß es mir erscheint, als könnte ich nichts mehr in ihrer Zeitdauer erreichen. Wenn man in der Mitte seines Lebens steht und schaut zurück, wie wenig man geschafft hat, dann erfaßt einen die Angst, und man lernt den Wert der Zeit ermessen. Ich bin ost ganz verzweifelt, daß ich nichts ordentlich kann, nichts eigentlich in meiner Gewalt habe beim Anterrichten, nicht einmal meine eigene Sprache. Da bei habe ich mehrfach am schwachen Schimmer gelernt, welch ein Hoch genuß es für den Lehrer selbst ist, zu unterrichten, wenn er seinen Stoff beherrscht. Dann schafft er ihn neu; dann erst weiß er ihn jeder Indivi dualität, jedem Alter, jeder Entwicklungsstufe anzupaffen. Aber solange man ringt und ringt, um wenigstens nur eine Basis zu gewinnen, ach, da experimentiert man mit seinen Schülerinnen und gibt bald zuviel, bald zuwenig.
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Es ist eine schwere Aufgabe für mich. Zusammengewürfelt aus allen möglichen Schulen kommen sie 1 bis 2 Jahre und gehen dann wieder; ich kann nichts anfangen, nichts vollenden. Ich gehe noch immer zu weit nnt den Größeren; ich möchte sie für dieses und jenes noch interessieren, ehe sie Watzum und jedes Studium hinter sich lassen. Auch ist es schwer, daß zwischen Lehrerin und Schülerin eine Vertraulichkeit sich bildet, ähn lich der, welche zwischen Erzieherin und Zögling stattfinden kann und so segensreich wirkt. Mein höchster Wunsch wäre, frei zu sein und Gelegenheit zu haben, viel zu lernen; dann würde ich gern wieder lehren. Doch wie sollte ich dies ermöglichen, ohne Verhältnisse zu zerstören, denen ich ja meine ganze körperliche und geistige Existenz verdanke! Sage nur Frau von Marenholtz, ich könnte nichts über die Fröbelei schreiben, ich müsse erst den Magnetismus studieren, sowie den Kölner Dom und die ägyptische Mythologie und alte Geschichte I Wenn es nicht der Lehrkräfte wegen wäre, so würde ich mich gar nicht meh>r nach einer großen Stadt sehnen. Mich verlangt nicht mehr wie früher nach Genuß, wenn ich nur ein paar Kunstsachen habe, an denen ich mich laben kann. Mich erquickt oft ein Bild vom Kölner Dom in dem Kuglerschen Atlas; ich bin Adolf so dankbar, daß er ihn mir gelassen Äenriette an Luise Fröbel in Äamburg. Watzum. 9. Februar(?) 1862. .... Ich bin recht glücklich, und Du wirst es mit mir ganz besonders sein, daß Fröbels Werk überall auf so ftuchtbarem Boden arbeitet. In der Schweiz arbeitet man ungeheuer. Eine Zeitschrift wird gegründet, in den verschiedenen Städten entstehen Kindergärten, und am 1. Mai er öffnet Monsieur Raoux sein Lehrerinnenseminar. Eine Dame aus Neuchütel, welche das Lehrerinnenexamen 1. Klasse bestanden und ein Jahr zur Vollendung ihrer Ausbildung in Paris war, kommt auf ein Jahr zu uns, um die Fröbelsche Erziehungsweise zu studieren. Ihr Vater, Direk tor Sandoz inNeuchütel hat sie angemeldet. Anna geht nun bald nach Lausanne, um Monsieur Raoux ein wenig zu helfen. Anna hat ein Äaus in Lausanne gefunden, wo sie nichts gibt und nichts empfängt, mit zwei kleinen Knaben Deutsch spricht und Zeit zu ihrer eigenen Ausbidung haben kann. Frau von Portugall hat eine Aufforderung nach Genf bekommen; wahrscheinlich wird sie mit
Anna zusammen reisen
Ich bin in einer eigentümlich weichen Stimmung; ich las in Fröbels und Middendorfs Briefen und schaute in die Vergangenheit zurück. £), wie schmerzt es mich noch immer, daß ich damals nicht war wie jetzt, uns daß jetzt die beiden Geister von uns geschieden sind, die ich damals nicht verstand. Doch was hilft es zu trauern. Raffe dich auf Seele, und werde derer würdig, die dich an ihrem Lerzen hielten, die uns jetzt noch umschweben I Wohl darf ich mir sagen, ich habe vieles in mir und außer mir seitdem erreicht, was früher als unerreichbar erschien; aber ich habe dennoch nicht überwunden. Die Kraft, mit der ich mich auftechterhielt, hat manches in mir zurückgedrängt, was dasWeib eben zum Weibe macht. Ich liebe nicht genug mit der Liebe des Apostels, die da alles glaubet, hoffet, duldet. Gerade in Zeiten wie diese, in denen mir so mannigfache Anerkennung von außen geworden; wo so viele Anmeldungen von allen Seiten einlaufen (die Anmeldungen standen zwei Jahre im voraus), da gehe ich in mich und fühle mich beschämt, recht beschämt. Ich habe wirklich für den Augenblick alles, was ich mir wünschen kann, und dazu die ftohe Aussicht, Bruder Karl bald noch zu haben. Wenn Du ihn nur kenntest 1 Er ist einer der bestenMenschen, er hat sich so wunderbar entwickelt, er hat wirklich in seinem innern Wesen etwas Middendorfsches, so eingehend auf jede Natur, so milde, so bescheiden. Neulich erhielt ich einen wunderschönen Brief von ihm, dessen Thema war: „Fröbel erzieht nach göttlichen Gesetzen" Henriette an Luise Fröbel. Watzum. Ostern 1862. .... Der letzte Winter war ein sehr, sehr reicher für mich, da ich mit meinen Schülerinnen (unter denen einige sehr aufgeweckte sind), Ge schichte der Pädagogik und unter der Leitung eines Freundes von Karl, Dr. Großheim, Arzt, welcher Naturwissenschaften studiert, Anthropolo gie getrieben habe, sowie uns mit Psychologie und Mathematik beschäf tigten und die „Menschenerziehung" von Fröbel und andere Schriften von ihm gründlich kennenlernten. Ich glaube, diese Stunden waren die schönsten meines Lebens. Es macht mich unbeschreiblich glücklich, in Karl endlich einen Mann gefunden zu haben, der meinem Ideale eines Man nes entspricht. Ich weiß, es gibt viele, die klüger und geschickter sind als er, aber niemand, der mir die Einheit des Lebens, das wahre Christentum repräsentiert wie er. Siehe, liebe Luise, Fröbels Größe entwickelt sich immer mehr und mehr vor mir, und seine Idee zu realisieren in Familie,
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Schule und Leben ist der einzige Zweck meines Daseins jetzt. Wenn Karl erst bei uns ist und wir gemeinsam wirken, dann soll schon nach und nach ein Ganzes entstehen. Vielleicht ist schon in einiger Zeit alles reif, was! uns jetzt beschäftigt, und dann teile ich es Dir mit Es gibt Seiten im erziehlichen Leben, die man nur durch die Praxis! erfassen kann und verstehen lernt, und die Gott keinem Genie als solchem, eingibt. Da haben einfachere Naturen ihre Stärke. Die Erfahrung, bie Selbsttätigkeit gibt ihnen ein Gegengewicht den genialen Naturen gegen über, und so muß es sein. Die Geistesaristokraüe muß fallen, wie Geburtsund Geldaristokratie. And wenn sie fällt, so wird auch keine einfache Na tur mehr einen andern Platz einnehmen wollen, als den von Gott an gewiesenen; denn wagt sie sich in eine Sphäre, die nicht die ihrige ist, so bringt sie sich und andere in eine schiefe Stellung. Ich habe viel durchgekämpft, seitdem wir uns zuletzt gesehen, aber von Jahr zu Jahr wird es friedlicher und auch klarer und fester in meinemr Innern. Auch freier bin ich von der Welt, doch sie hält uns mit tausend Stricken und Banden, und ich bin mir dessen wohl bewußt und spreche mit dem Apostel: „Nicht daß ich es ergriffen hätte, aber ich jage ihm nach" .. . Nun habe ich viel erzählt, tue Du bald ein Gleiches von Dir und er zähle mir auch von Langes. Anna bleibt bis zum Juni in Lausanne, dann bringt sie eine fran zösische Schweizerin mit, die zwei Jahre hierbleiben und den Kinder garten hier lernen soll. Ich nehme nie mehr eine Schülerin unter einem Jahre an. Adolf macht uns so viele Freude. Neulich wurde uns geschrieben, er sei der talentvollste und zugleich der sittlichste Schüler im Atelier. O, Luise, meine Geschwister sind mein Stolz, meine Freude, meine irdische Seligkeit I Nun lebe wohl, grüße Langes herzlichst.
In herzlicher Liebe Deine Äenriette. Marie ist verreist.
Tagebuch 1862. Neulich sprachen wir darüber, was eigentlich göttlich und ungöttlich in uns sei, und was wir von unserer Individualität aufgeben müssen, und was wir behalten dürfen. Karl macht nämlich Anforderungen an das Aufgeben der Natur, die mir zu hoch erscheinen, indessen kann ich mir in
dem Punkte nicht ganz trauen, da ich weiß, daß ich viel Egoismus besitze. Marie meint, ich solle mich nur gehen lassen, wie ich sei, meine Fehler ge hören zu meinem Wesen. „Weißt du" (so schloß sie das Gespräch), „laß uns nur nicht so schrecklich wiedergeboren werden!" Marie hat doch für mich immer so etwas Anregendes! Ich war vor einiger Zeit in sehr schlechter Stimmung; es hatte sich eine ganze Porüon Groll aufgesammelt über die langweilige Geselligkeit in unserer Nachbarschaft. Eines Abends hatte man mir ein Kleid ge waschen, was nur ausgebürstet werden sollte. Ich wollte es anziehen, es war naß. Ich wurde grimmig und warf das Kleid aus dem Fenster, indem ich sagte, e£ könne nun anziehen, wer wollte. Die Mutter wurde ganz be trübt, Albertine still, Marie lachte und sagte: „Gut, laß es ja lügen, bis sie es wieder holt!" Anna moralisierte über der: Schaden, war aber so tugendhaft, es wiederzuholen. Als ich zu Bette war, wusch sie es still aus, damit nur niemand die Greueltat erfahre. Mir hatte der Akt des Zornausbruches sehr wohl getan. Ich erwachte am nächsten Morgen in der besten Stimmung und war ganz kuriert. War das unrecht? Ich tue doch niemandem Schaden als mir selbst, warum soll ich mir nicht das Vergnügen machen? Aber indem ich schreibe, geht mir der Gesichtspunkt auf, daß es doch gefährlich ist, seinem Zorne freien Lauf zu lassen, weil man sich dann vielleicht nicht in der Gewalt hat, wenn es sich um ernstere Dinge handelt als ein Kleid. Früher hatte ich zwei Welten in mir, eine heilige, wenn ich allein oder mit höher entwickelten Menschen war, die mit mir nach Heiligung strebten. Ein Wellkind war ich in derWelt, und es kam nur auf einen Zufall an, welche Seite bei mir zum Vorschein kam .... Zwar ist die Kluft noch nicht ausgeglichen, aber die Brücke fängt an, sich zu bauen. Ich habe eine zu reizbare, sensitive Natur; neulich karn wieder ein furchtbarer Sturnr des alten Zornes, ich war dann vor mir selbst er schrocken, und ich hoffe, es hat einen bleibenden Eindruck auf mich ge macht. Es ist sonderbar, ein gewisses Etwas hält mich zurück, wo ein ge rechter Anwillen mich entflammt; er tritt dann als größte Ruhe, ja, viel leicht als eisige Kälte hervor. Nur bei den Meinen kann ich mich noch nicht beherrschen, lucht fassen. Tagebuch. 3. August 1862. Sonntagsstille, wie liebe ich dich, wie beruhigend wirkst du auf mein ganzes Wesen! Ich muß gestehen, es ist mein größter Genuß, Sonntags zu Äause zu bleiben, allein, ganz allein zu sein während der Kirche, und an GöttLyschinsta, Henriette Lchrader I.
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Uches zu denken, an die Bibel zu denken, in der Bibel zu lesen und mich
zu sammeln mit Ernst und Ruhe! Ich gehe höchst ungern in die Kirche, es ist ein großes Opfer, welches ich bringe. Es würde aber meine Seligkeit sein, wenn Karl predigte und
hier arbeitete, eine wirklich christliche Gemeinde in lebendigem Glauben,
in lebendigem Tun, in stiller Loffnung herzustellen. Der Vater ist so treu
in seinem Amte, aber bei ihm ist — wie bei allen der orthodoxen Kirche — die Trennung zwischen Religion, Leben und Natur. Es ist mir unbegreif
lich, wie Menschen mit einem künstlichen theologischen Systeme zufrieden
sein können, das an und für sich ein logisches Gebäude ist, aber dessen Teile unter sich an keinem Ende passen. O, Kirche der Einheit, wann
kommst du!
18.August 1862. Was ich am 3. schrieb war ein Bild meiner Seele am Sonntagmorgen .... heute war es anders, aber eine Aussprache gegen Karl und Marie, eine Art Beichte hat mich befreit. Mein Gott,
hätte ich erst eine Kirche, sie allein kann mir helfen, die schwankenden Zu
stände meiner Seele innerlich auszugleichen. Neben dem Verlangen nach Heiligung liegt so viel Weltliches in mir... .Männer, die auch weltlich,
aber dabei geistreich sind, regen so manches in mir an, was sonst schlum mert, meinen Witz, meine Schlagfertigkeit im Reden .... Ohne daß ich es
mir gerade vornehme, bekommt mein ganzes Wesen einen gewissen Schwung, eine gewisse Liebenswürdigkeit. Ich fühle dann meine regel
mäßigen Geschäfte als eine Last, ich wünsche mir Genuß der Eleganz durch
Reichtum, Unabhängigkeit, Genuß mit solchen Männern Ideen auszu-
tauschen, Kunst und Wissenschaft zu studieren, Naturschönheiten zu ge nießen, mir von ihnen vor der Welt huldigen zu lassen. Ich ersehne den
Genuß, reizende Feste zu geben, durch vorteilhafte Toilette möglichst gut auszusehen und Talente zu entwickeln — warum? Weil es einer Seite meines Wesens entspricht, weil es mich amüsiert. Mein hohes Ziel der
Arbeit auf Erden sinkt dann zurück, Weltlichkeit nimmt mich gefangen, und wie ich auch kämpfe und ringe, selbst physisch bleibt das Äerz in einer zitternden Bewegung, ich habe mich nicht selbst.
Wenn es wahr wäre, daß die Menschheit nur intellektuell fort
schreitet, aber moralisch dieselbe bleibt, nur heute diese, morgen jene Feh ler vorwiegend austauchen; wenn Glück und Genuß der Zweck des Lebens
wäre, wie könnte ich mein Leben ertragen? Dann bricht das Verlangen
in mir durch, so bestimmende Pflichten zu haben, die mir keine Wahl in
der Arbeit geben, daß das praktische Leben den« Denken ein tüchtiges Ge
gengewicht hält. Wäre ich Gattin und Mutter 1 And dann danke ich Gott, daß ich es nicht geworden. Gerade mich hätte die bindende Fessel der Ehe das
wogende Äerz, den strebenden Geist nur unruhiger gemacht, wenn mein Gatte nicht ein Mann gewesen wäre, der mir völlig das Gleichgewicht gehalten hätte in intellektueller Kraft und mir überlegen gewesen wäre
in der Heiligung seines Wesens. O, ein solcher Mann hätte mich so gut machen können 1 Aber durch jeden andern wäre ich namenlos elend ge
worden, wie er durch mich Nun schließe ich diese Bettachtungen, welche durch eine Reihe von
Bewegungen im Gemüt hervorgerufen wurden und gebe mich von ganzer Seele unsern Pflegekindern hin. Bei dieser Versenkung in meinen Beruf bin ich am glücklichsten. Die Tage, die so still in ernster Beschäftigung hinfließerl, stehen hier nicht verzeichnet, und die nicht dastehen, sind die besten. Aber, wenn etwas mich aus dem Gleise hebt, so werde ich es am
besten los, wenn ich schreibe.
Jetzt bin ich frei I
Später. Wie schön ist das Wetter in diesem Monat, volle Wärnie mit der Mäßigung des Äerbstes durchzogen ... Ich bin wieder recht wohl und ttäftig, und mein Leben atmet hohen Genuß.
Die Mädchen sind so nett, das Anterrichten geht so prächtig. Es weht ein Lauch lieblicher Poesie durch unser Leben, und wenn mich vor einiger Zeit der Materialismus der Welt berühtte, die Realität ohne
Ideale so schmerzlich, fühlte ich ein leises Zittern des Bodens, auf dem
ich stehe — so habe ich in meinem Leben mit den Meinen und unsern Zög lingen ein Eiland gefunden. Neben dem Ernste meines Strebens, das ich in bezug auf Frauen-
erziehung verfolge, muß ich auch den Mädchen ein lieblich poetisches Leben schaffen, ein grünendes, blühendes Eiland! Ihr Aufenthalt bei uns muß die Ida-Ebene der Äsen werden, nach der sie sehnend zurückschauen, wenn sie ihr Auge in Mimirsborn versenkt und vom Baume der Er kenntnis gepflückt haben. Wenn sie Ideale in lieblicher Realität verwirk
licht finden, und unser glückliches Zusammenleben auf dem sittlichen Ernst eines entwickelten Willens ruht, so wird die eine und die andere nicht ruhen,
bis sie sich selbst geschaffen, was sie hier verließ. Es darf uns nicht irre machen, wenn die Welt, die Äußerlichkeit, sie eine Zeitlang verwirrt und
beirrt; es kommt der Schmerz und führt sie auf sich selbst zurück, die Sehn ig
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sucht erwacht. Wohl manches möchte auf ihr Eiland zurück. Lie kann nicht
und so entwickelt sich nach und nach die Kraft, da, wo sie steht, zu schaffen, was sie hinter sich ließ.
Es muß noch viel, viel schöner um uns werden, immer verklärter, irnmer glücklicher I
Die Weiblichkeit muß sich inrmer rnehr in mir entwickeln, von nur
ausstrahlen. Sie ist das Entgegengesetzt-Gleiche von: Manne. Tritt bei ihm die Kraft als Kraft hervor, so beim Weibe die Kraft als Weichheit, die aber in unsern Tagen nur Schwäche wird, weil die Weichheit nicht
vom Mittelpunkt der Kraft getragen wird. Tagebuch. Lerbst 1862. Watzum. Ich weiß, ich muß hier fort,
um meine ganze Kraft in Bewegung zu setzen. Oft, wenn ich meine Äerzensmutter traurig sehe bei dem Gedanken, da bebt mein Kerz ....
Darrn steht das Gesetz derNatur in seiner Heiligkeit vor mir, welches sagt: Das reife Samenkorn drängt fort von der Mutterpflanze, um ein selb
ständiges Leben zu beginnen. Ich habe viele Schwesterrr, die Eltern blei ben nicht einsam ... Fort muß ich, zur Einheit irrr Innersten zu gelangerr,
und diese Einheit wird einen Hebel ansetzen bei dem Erziehungsgeschäfte,
der mächtig wirkt. Es ist fast eine Arrrrröglichkeit, daß Merrschen, die so verschieden sind wie Vater und ich, an einem Werke arbeiten. Ich habe an dieser Last ge-
tragerr mit Murren und Auflehnung und bin oft recht unkindlich gewesen. Ich kann jetzt geduldiger tragen, ich will llichts überstürzen. Jetzt muß ich
möglichst schweigell, umgehen, um nur keine tieferen Risse zutage treten zu lassen. Was wird es für ein lebendiges Leben werden, wenn man erst
den Mund überfließen lassen darf von dem, dessen das Herz voll ist. Ich muß aus mehreren Gründen hier fort. Wie kann unser Werk Einheit
haben, da der Vater Religionsunterricht gibt, der die Aufgabe hat, das,
was in den verschiedenen Anterrichtszweigen zum Bewußtsein gebracht
ist, zu einen; der Religionslehrer hat den Grund zu allem in der Hand, er muß mit allen Lehrern übereinstimmen, er ist der Prediger der Schul kirche. Wie ist es hier? Mein Vater hat noch nie danach geftagt, was ich
lehre, er ist nie in eine Stunde gekommen. Er geht von dem Grundsatz
aus, daß ich ungläubig und eine Rationalistin bin. So lehrt er den Kin
dern fort und fort seine unverständlichen Dogmen der lutherischen Kirche. Doch ich weiß, wenn ich ganz selbständig dem Vater einst gegenüberstehe; wenn ich ihn in meinem, er mich in seinem Hause als Besuch empfängt,
dann sind wir wieder die besten Freunde. Seine so sehr großen Liebens-
Würdigkeiten werden dann viel reiner hervortreten; ich werde ihn pflegen, ihm zärtlich begegnen können. Eine zweite Schwierigkeit ist, daß ich nicht bestimmen kann über Laus, Garten, Geselligkeit. Ich muß wenigstens mit stimmen können, um die Erziehung junger Mädchen zu leiten. Die Mutter ist himmlisch gut, es wäre der schnödeste Andank, etwas anderes zu verlangen, aber sie hat ihre Gewohnheiten, die sie nicht mehr ablegen kann. Endlich ist die Ausbildung von Erzieherinnen hier mit unüberwind lichen Schwierigkeiten verbunden O, wenn ich doch mit Karl wirken könnte 1 Was ist nun das Rechte, soll ich ruhig warten? Bleibe ich noch lange in diesen Verhältnissen, so sterbe ich entweder an gebrochenem Lerzen, oder ich resigniere und werde schlaff. Ich bin 35 Jahre alt, 8 Jahre habe ich mich hier allein, dann mit Marie in tausend Lalbheiten gefunden. Daß wir so anfingen, daß wir alle Jahre weiter gekommen sind, ist eine Segnung Gottes. Was muß ich jetzt tun, daß das Anternehmen weiter gehe?
An Wilhelm Middendorf (Sohn). Watzum. November 1862. . ... Ich habe mich immer so nach Redlichkeit und Offenheit auch mit Männern gesehnt. Ich mache hier einen bestimmten Unterschied zwischen oberflächlichem Gesellschaftston und ernsterem Umgang. Erste res würde schwerfällig werden, wollte man der Frau jede kleine Koketterie, dem Manne jede Luldigung verwehren. Dieses Leben hat seine eigene Sprache, und wer in dasselbe eintritt, muß sie verstehen und würdigen lernen. Eine Frau ist dumm, die sich gesellschaftliche Redensarten zu Lerzen nimmt, oder die in einer galanten Aufmerksamkeit eine Liebes erklärung sieht. Aber verläßt nmn diesen Boden, dessen Grenzen sich nicht leicht mit Worten bestimmen, nicht mit sichtbaren Fäden ziehen lassen, tritt ein ge wisser Ernst in Ton, Laltung und Austausch der Gedanken ein, so mag ich nicht im andern Geschlecht den Gegner sehen, welchem man immer im Panzer und mit Waffen gegenüberzustehen hat. Da mag ich nicht, wenn man experimentiert, sondern ich ruhe gern in der Sicherheit des Vertrauens und Glaubens, und ich meine, so müßte es fein. Was Sie von der Ungebundenheit des Verkehrs zwischer: einem Manne und einer Frau sagen, ist auch meine Meinung. Wäre man freier
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einander gegenüber, so würden die Verhältnisse organischer auseinander hervorwachsen, während sie jeht meist elendiglich zusammengekleistert sind.
Aber nun hören Sie zu. Es ist schlechterdings nicht möglich, ungebun dene Verhältnisse herzustellen, solange bei der Frau ihr ganzes äußeres
und inneres Geschick von ihrer Liebe abhängt. Wir sind auch Menschen und möchten menschlich leben, d. h. schaffen, tüchüg sein, eine Stellung in der Gesellschaft haben und wissen, daß wir nützliche Mitglieder der mensch lichen Gesellschaft sind. Bis jetzt gibt uns dies im allgemeinen nur der
Mann. Er ist die Brücke, über welche wir auf den sicheren Boden ge langen, und daher sollten die Männer es nicht immer ihrer Person zu-
schreiben, wenn Frauen sie zu heiraten wünschen.
Welch fteies, reiches Leben erwüchse zwischen den Geschlechtern, wenn jede Frau, nachdem sie zur liebenswürdigen Gesellschafterin, zur
Laushälterin und Erzieherin gebildet ist, nach ihrer Neigung einen Be ruf wählen und sich darin tüchtig machen könnte, damit sie außer der Ehe einen sicheren Grundstein zur Zufriedenheit habe und in derselben im
Fall derNot dem Manne helfen könnte und nach seinem Tode nicht zu betteln brauchte. Durch Sammeln von irdischen Schätzen kann er sie nicht vor Armut schützen, denn sie sind wandelbar, und gottlob, daß sie es sind. Steht die Frau aber so, wird ihr eine tüchtige wissenschaftliche und Verstandesbildung neben der Entwicklung des Äerzens und der Phan
tasie gegeben, lernt sie die Menschen verstehen und lieben und ihre edele, geistige Mütterlichkeit in alles legen, was sie treibt, auch wenn sie nicht
mit natürlichen Banden an die Kinderstube gefesselt ist — dann steht die freie Frau dem freien Manne gegenüber. Sie sucht dann in ihm die Er gänzung ihres Wesens, dann wird ihre Liebe die zarteste und freieste zu gleich sein Äenriette an den Bruder Karl.
Watzum, 20. Dezember 1862.
.... Du sagst, daß der Gedanke Ws., daß einige Naturen eine ge borene Anlage zur Christlichkeit hätten, ein teuflischer sei; ich finde das
durchaus nicht. Ich wollte Dich recht bitten, lieber Karl, doch sehr ernst erst die menschliche Natur zu studieren, ehe Du allgemeine Forderungerr
an sie stellst; recht zu definieren, was Du unter Selbstverleugnung, unter
Aufopferung des Selbst verstehst, ehe Du diese Worte der Welt zurufft.
Denn, wenn Du Deine Anforderungen so hoch schraubst, so werden viele zuriickschrecken. Du wirst von mir nicht glauben, daß ich mich anpassen
wolle, um nur so hindurch zu schlüpfen, dazu kennst Du mich zu gut, aber ich strebe, das Innerste des Menschen, wie es Gott geschaffen hat und
haben will, zu erkennen, denn ehe wir Anforderungen cm dasselbe stellen, sollen wir den verschiedensten Naturen nachgehen, die mannigfaltigsten Verhältnisse studieren und nicht allein aus uns heraus, andere zu kon struieren suchen, das Überkommene gleich als das Rechte annehmen.
„Es kann derMensch von seinem Selbst nicht scheiden",
und er soll es auch nicht, er soll es nur verklären; schöne, frische Natur
muß unser Wesen sein, nicht geistige Asketik, und man soll aus sich nichts
machen wollen, was man nicht ist, aber unser Sein soll wiedergeboren werden. Du hast mir selbst ein großes Wort zugerufen: Wo unsre Stär
ken liegen, liegen auch unsere Schwächen. Diese Stärken zu reinigen von den Schwächen, das ist die Wiedergeburt. Jesus war z. B. vonNatur zum Lehrer der Menschheit bestimmt,
man griff ihn an, er blieb seiner Natur treu und erlitt lieber den Kreuzestod, als daß er sie verleugilete, denil er hatte sie in Gott unter-
getaucht. Ein anderer ist nicht so großartig angelegt, er kann nur, wenn er natürlich bleiben will, für seine Familie leben, und er soll dies nur im
reinsten, edelsten Sinne tun. Vielleicht ist Deine Natur zum edeln Fa milienvater mehr angelegt als zum Vorkämpfer einer Idee und dann
mußtDu Deinem Selbst folgen. Ich glaube nämlich, wenn Du nach Ruß land gehst und Luischen dort heiratest, so wird es unendlich schwer halten,
daß wir zusarnmen wirken, denn ich fühle es mehr als je, ich darf die Mut ter nicht ganz verlassen; hast Du aber Weib und Kind, so darfft Du nicht
mehr fragen: „Was schert mich Weib, was schert mich Kind", sondern Deine heiligste Pflicht ist dann, ihnen einen Boden zu schaffen, in dem sie
fröhlich wurzeln können. Glaube ja nicht, daß ich Dich weniger achten und lieben würde, wenn Du offen bekenntest, die Hauptsache sei Dir, Deinen
Äerd zu gründen, das sei der Mittelpunkt Deines Lebens; nur keine fal sche Selbstverleugnung soll Dich an uns Schwestern fesseln. Auch als
Familienvater würdest Du zur Veredlung des Lebens beitragen und auch Dein Amt dadurch verherrlichen, aber zwischen uns ist nur ein Unterschied
in dem Ausgangspunkte. Ich werde nie ein besonders sanftes, äußer lich weiches, stilles, demüüges Geschöpf werden, ich soll es auch nicht, weil ich nicht dazu veranlagt bin. Ich soll eine mehr handelnde, fordernde
Natur sein, aber ich muß sie mehr als bisher in Äarmonie und Liebe ver klären. Meine Idee des Lebens ist: Erhebung der Frau, ich bin angelegt.
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Kapitel 13:
dafür zu kämpfen, zu dulden, zu leiden — ist das Verleugnung meiner Natur? Durchaus nicht, ich tue es gern, es ist nur die Entwicklung der innersten Natur. Ich glaube, daß gerade dieses Predigen von Selbst verleugnung, diese Auffassung des Christentums das Gegenteil von dem bewirkt, was es bewirken soll, und nun frage einmal das Innerste jener Selbstverleugner ihrer Natur — wieviel Ruhmsucht usw. an dem Mar tyrium hängt. Sollten wir auf die Erde gesetzt sein, um unsere Natur zu unter drücken, zu zerstücken? Ich glaube es nicht, aber wohl sollen wir einen Lebensgedanken haben und diesem untergeordnete Neigungen opfern. Ich liebe einmal int großen und ganzen, mit Unterricht, mit Erziehung mich zu beschäftigen, und so muß ich um des Ganzen Willen einzelnes tun, was ich nicht gern tue, z. B. Sprachstunden geben, aber ich werde es nur so lange tun, wie es sich zum Wohle des Ganzen nicht abstellen läßt. Wo wir entbehren, was natürlich und berechtigt ist da tragen wir die Sünde der Welt. Äüten wir uns nur, das, was Anlage ist, als Selbstverleugnung zu proklamieren, oder eine selbst aufgedrungene Ent behrung Folge einer Äingabe an ein höheres zu nennen.
Henriette an den Mediziner Dr. Großheim in Berlin.
Watzum, 9. Januar 1863. Es erscheint wohl recht unhöflich, daß ich Ihnen meinen Dank nicht ausgesprochen habe für die viele Lauferei und Mühe, die Sie wegen meines Bruders Angelegenheiten gehabt haben, aber Sie wissen gewiß auch ohne besondern Ausdruck in Worten, daß ich Ihnen sehr dankbar war, und Erich ist es ganz besonders, denn nun hat der Vater sich endlich überzeugt, daß seine Pläne mit ihm nicht zu realisieren sind, worüber Erich nicht geringe Freude empfindet. Seine unabhängige Natur graute sich vor der Anstalt in Berlin Ich wollte. Sie kennten meinen Bruder Adolf. Er ist wirklich eine ideale Erscheinung an Leib und Seele. Sind Sie bewandert in der nordi schen Mythologie? Wenn ich Adolf ansehe, denke ich immer an Baldur, und wenn Sie einmal etwas Schönes über die nordischeMythologie lesen wollen, lesen Sie in Carlyles Vorlesungen über das Heldentum das Kapitel über Odin
Lenriette an die jüngste Schwester Ledwig in der Schweiz.
Watzum, 20. Februar 1863. Wie lange habe ich mich gesehnt, mit Dir zu plaudern. Aber, ob gleich ich wohl viele Dutzende von Briefen geschrieben, so wollte sich nie ein gemütliches Stündchen zu einem Plauderbriefe finden. Das war ein trauriges Stück Winter von Neujahr ab, dessen Rück kehr ich nicht wünsche. Wir haben recht viele Sorge um die liebe Mutter gehabt; es war eine Art Wechselfieber. . . .Vor 14 Tagen hatte ich wirklich große Angst. Jetzt sitzt die Mutter neben mir und näht an Anna Obermüllers Kostüm. Es ist wieder große Aufregung unter den jungen Mädchen und ebensoviel Vergnügen als voriges Jahr, in mancher Beziehung mehr Amüsement. Mir ist es sehr schwer geworden dieses Jahr, mich mit einem Feste abzugeben. Mutters Krankheit, die ernsten politischen Verhältnisse, so viel Anwohlsein unter den jungen Mädchen, die Kälte und Anbequem lichkeiten des Lauses bei einem strengen Winter usw. lagen wie eine Wolke auf mir. Dann aber dachte ich an meine eigene Kindheit und Jugend zurück, wie ich zuweilen darunter gelitten, daß mein sich nicht für mein Vergnügen interessierte, und wie man doch auch nur in der Jugend so recht von ganzer Seele vergnügt sein kann, weil uns später das Weh der Menschheit tief und tiefer berührt und schmerzt. So überwand ich meinen Widerwillen und suchte etwas zusammen. Ich bin schließlich an einem Stücke hängen geblieben, das eigentlich ein ziemlich grob angelegtes Lustspiel ist: „Die deutschen Kleinstädter" von Kotzebue. Ich habe nur einige Szenen daraus genommen und bearbeitet. Die jungen Mädchen amüsieren sich außerordentlich dabei. . . Ich habe nun die Mitspielenden so ausgemustert, daß ich selbst dabei herzlich lachen muß. Ich denke. Du wirst nach dem Feste alles hören, deswegen will ich mich aller Einzelheiten enthalten. Wenn Du und Erich hier wäret; Ihr wäret auch immer so vergnügt Den Reigen, welcher die Aufführungen schließt, finde ich wirklich reizend. Marie hat viel Talent, so etwas zu arrangieren, nur hat uns das Schlußtableau viel Mühe gemacht. Lerr Leyder übertrifft sich selbst und ist auch eingeladen und wird gern kommen. Ich fürchtete, daß fast gar keine Lerren hier sein würden, lud daher eine ganze Menge ein ...... .
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Kapitel 13:
Marie ist per Telegramm zu einer musikalischen Matinee bei Vogt länders in Braunschweig eingeladen. Sie ist soeben, vom Knecht be gleitet, mit der Reisetasche abgesegelt, in welcher Annas lilaseidener Rock, Albertinens weiße Bluse und As. Kaschmirmäntelchen liegen. Diese sollen bei der Leepe (Schneiderin) in Braunschweig angezogen werden. Nun kommen die Zeitungen, worin so manches mich ärgert, dann spreche ich wieder und dann vergesse ich, was ich schreiben wollte. Dazu sihe ich in alt-griechischem Kostüme mit der römischen Toga. Es wäre alles höchst gemütlich, wenn nur die Mutter wohl wäre Ich freue mich, daß Du meiner Warnung gedenkst und in dieser Zeit keine Romane liest. Später wirst Du es einsehen, wie gut ich es mit Dir meine, wenn Du es jetzt auch nur glaubst. Die Romane sind im ganzen (Ausnahmen abgerechnet), Auswürfe von Krankheitsstoffen in der menschlichen Gesellschaft, Ausgeburten einer unreinen Phantasie, auch wenn man keinen andern Schaden vom Lesen solcher Bücher hat, als daß einen widerliche Bilder verfolgen, die unsere Phantasie einmal ausgenommen. Besonders halte ich Romane, selbst nicht ganz schlechte, für schädlich für junge Mädchen, weil die Liebe und Leirat als Zweck des Lebens für sie hingestellt wird, während sie eben Durchgangspunkt zur Entwicklung unserer Kräfte sind, um ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Es ist auch nicht der einzige Durchgangspunkt, wenn auch der angenehmste und leichteste. Je weniger die Liebe und Leirat als Lebenszweck für die Frau an gesehen wird, desto mehr wird sie ein schöner Träger der gegenseitigen Veredlung Die Romane fassen selten den sittlichen Ernst im Verkehr der Ge schlechter ins Auge, sondern nur spielerischen Genuß, der bis zur Fri volität und Ansittlichkeit geht. Ferner werden wunderbare Ereignisse, Ausnahmefälle als Regel aufgestellt. Sie verderben den Geschmack für ruhiges, stilles Arbeiten, was doch das Los der meisten Frauen ist, und wecken das Bedürfnis nach Aufregung, nach Befriedigung nach außen, was ein unerfahrenes Lerz zu Torheiten, wenn nicht zu Falle führt. Sie legen ein großes Gewicht auf Schönheit und Äußerlichkeit und stellen Glückseligkeit auf Erden als vom Limmel gefallen hin, während die Er fahrung lehrt, daß es nur die Frucht mühsamen Schaffens ist. Romane fuhren uns meist Ideale oder Teufel vor, während die Masse weder das eine noch das andere ist, und wir uns schon freuen sollen, wenn wirMen-
schon finden, die ein edles Streben haben. Mit ihnen bester zu werden, anstatt nach Engeln zu suchen, das sollen wir lernen. Angenommen, ein Gemüt hätte von alledem nichts zu fürchten, so vergeudet man doch seine schöne Zeit Kannst Du nicht französische Geschichte lesen? Ebenso schädlich ist es für junge Mädchen, Gespräche zu führen über Kinder bekommen usw. Wenn Du einmal in Zweifel bist über dahin gehörige Sachen, so wende Dich an mich. Ich werde offen mit Dir darüber sprechen, aber ziehe heilige, von Gott eingerichtete Naturvorgänge nicht in den Staub. Sieh, da liegt der Anfang zu vielem sittlichen Elende, daß man nicht heilig hält, was heilig ist; daß man mit alberner Prüderie rein Natürliches wegleugnete, aber unter diesem falschen Mantel der unreinen Phantasie und Leidenschaft die Zügel schießen läßt. Ich preise Dich glücklich, meine Äedwig, daß Du frühe lerntest zu arbeiten und mit Lust für andere zu arbeiten. Das ist der Kernpunkt des Lebens, ein Schutz gegen vieles. In treuer Liebe
Deine Kenriette.
Äenriette an den Bruder Adolf in Dresden.
Watzum, 15. Juni 1863. Neulich schrieb mir Wilhelm Middendorf, es sei höchst unbequem, einen Namen zu haben. Ich sage, daß es höchst lästig sein kann, viele Be kannte zu haben. Anter strömendem Regen fuhr ich gestern auf unserm leichten Sommerwagen nach Schöppenstedt, weil ich unter allen Amständen Dein Relief*) (vom verlorenen Sohn) in Braunschweig sehen wollte. Willst Du wohl glauben, daß ich mir die Minuten stehlen mußte, um das Kunstwerk anzuschauen? Ich bin keine von den Leuten, die in einem Moment die Sache überblicken und dann darüber reden können. Ich ver tiefe mich gern füll in einen Gegenstand und lasse ihn gewissermaßen für mich „werden". Wenn man denn „oh" und „ach" dazwischen ruft, so tut es mir weh; es ist, als zerrissen innere Fäden in mir, die sich zu einem Ganzen weben wollten. Äeute genieße ich ungestörter Dein Werk in der Erinnerung als gestern in der Anschauung. Ich will Dir getreulich berichten, welche Ein drücke ich von dem Ganzen erhielt. *) Erste selbständige Arbeit des Künstlers.
Kapitel 13:
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Zuerst kam mir der Vater zu groß vor auf der Fläche und zu über wiegend gegen den Sohn, doch verlor sich das beim längeren Anschauen. Ebenso erschien mir der Sohn nicht zerknirscht genug; ich hatte die Wir
kung gewaltiger gewünscht, aber auch dies nahm ich bei längerem Be
schauen zurück. Es ist eben Maß gehalten im äußeren Ausdruck, es ist so sehr zurückhaltend, wie Dein Wesen selbst. Ich finde Dein Werk echt künstlerisch, wundere mich allerdings, wenn es im großen Publikunr Bei
fall findet Ich habe in der letzten Zeit so oft erfahren, daß einige Kunstwerke bei öfterem Anschauen verlieren, andere gewinnen, und ich finde eben
letzteres im Maßhalten des äußeren Ausdrucks. Viele Künstler legen alles in die Muskeln, und die Mechanik waltet
vor. Andere lassen die Empfindung nicht ganz an die Oberfläche treten, und dadurch bleibt sie so innerlich; sieh, Adolf, das hast Du getroffen.
Der Künstler nruß dem Beschauer etwas überlassen, wenn es uns inuitet schön und immer neu bleiben soll
Alle sind besonders entzückt von dem Sohn in Deiner Arbeit, ich
habe Sympathie für den Vater. Schmerz, durchkämpfter Kummer und Freude über den Wiedergefundenen mischen sich so schön in dem Gesichte. Die Stellung ist so väterlich, und das Gewand erscheint mir so schön be sonders da, wo er es empornimmt und mit dem Arme hält. Die Äände
schienen mir so gut durchgeführt und Alter und Jugend charakterisie rend. Der Maler Schröder fand den aus der Fläche liegenden Arm zu
glatt, und mir schien es dann, er habe recht. Ebenso tadelte er etwas in
dieser Weise an demBeine, was mir nicht so auffiel. Man muß dem Sohn ins Antlitz blicken von der Seite, wo der Vater steht, dann schaut man in
seine zerknirschte Seele. Die Gewandung um des Sohnes Lüften hat so etwas Schönes für mich, und natürlich finde auch ich die Füße sehr gut
ausgeführt. Seelenzustände, wie die im verlorenen Sohn, lassen verschiedene Auffassungen zu, Darstellungen verschiedener Grade der Gemütsbewe gungen. Den Sohn könnte ich mir auch anders schön denken. Das liegt
schon in der ganzen Situation, welche Charakteranlagen, welche Er
ziehung, welche Ausschweifungen man sich bei ihm als vergangen denkt, welche Motive zur Umkehr. Das Feld ist weit. Viel enger gebunden ist
die Verkörperung des Vaters, und ihn kann ich mir kaum anders vor stellen. Damit soll aber nicht gesagt werden, daß der Sohn mir nicht ge fiele. Wenn ich ihn anders dargestellt hätte, so liegt das von vornherein
in der großen Verschiedenheit unserer Naturen. Du bist zurückhaltend
bis zur Verschlossenheit, ich habe etwas Stürmisches in meinem Charakter und die Macht und Lebendigkeit der Empfindung, die vielleicht bei Dir
nicht minder groß ist als bei mir, äußert sich sehr verschieden. Mich drängt es zum Gewaltigen bis zur äußersten Grenze; Deine Natur hegt
eine gewisse Scheu und strebt zur Zartheit. Jeder veredele seine Natur, aber er bleibe sich selbst treu. Wir können etwas werden, aber nichts aus
uns machen, und daß Du, mein geliebter Bruder, im schönen Werden begriffen, das zeigt mir Dein Werk, soweit mein Auge es beurteilen kann.
Ich, die ich so gerne künstlerisch geschaffen hätte, versenke mich oft in Gedanken, wie ich dieses und jenes darstellen nlöchte, und so ist mir oft
die Ehebrecherin ein interessanter Gegenstand gewesen, über den ich auch gern gepredigt hätte, wenn ich ein Pastor wäre. Sie ist kein verlorenes Weib, sondern ich denke sie mir als eine reiche
Natur, deren Gemüts- und Geisteskräfte nicht die gehörigeRichtung und
Entwicklung bekommen haben. Die Bestimmung der Eltern brachte eine nach Verständnis lechzende Seele in die Ehe, welche sie an einen
Gegenstand fesselte, der eben eine Sache war. Wohin, wohin mit der
Allgewalt der Gefühle, die ein L)erz suchten, das sie aufnahm und ihr im
Nehmen gab? Ein Äerz, das ewig dürstende Sehnsucht nach Karmonie und dem Einklang zweier Seelen befriedigte? Unwürdige Behandlung, ein Drang nach Freiheit trieb sie in die Arme eines andern. Sie wird vor Jesus geführt.
Voll finsteren Trohes tritt sie in den Kreis, denn trotz der äußeren Schuld ist sie vielleicht reiner als mancher ihrer Ankläger. Das Weib war nach zwei Seilen hin furchtbar erschüttert. Sie war
öffentlich gebrandmarkt. Jeder hatte ein Recht, ihr frech lächelnd ins
Gesicht zu schauen, jeder ihr alles zuzumuten. Nun steht sie vor Jesus allein. And vor der Stille und Reinheit seines Wesens beugt sie sich,
weil in ihr noch Reinheit, wenn auch getrübte, lebt. Das ist die zweite Erschütterung, die ihr das Lerz bricht. Ein namenloser Jammer erfaßt
sie bei dem Gefühl, keinen Anteil zu haben an der Reinheit und Gesetz mäßigkeit, in denen der edle Menschenfreund regiert. Er fühlt, was in ihr
vorgeht, dieser, größte Psycholog der Welt ....... Adolf, zeichne mir einmal das Bild. Ich finde, gerade diese Ge
schichte von der Ehebrecherin lehrt uns, daß die richtige Entwicklung des Tätigkeitstriebes dem Elende Einhalt tun könnte, das im Verkehr der Geschlechter besteht .... O, es wird ein Weh kommen über die Män-
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Kapitel 13:
ner und deren Kinder, die dem Weibe die volle, freie Entwicklung ihrer Fähigkeiten nicht gewähren. Was für ein Geschwätz ist das zu sagen: „Der Mann ist Verstand, das Weib Gemüt", oder: Der Mann ist zur Selbständigkeit, die Frau zur Abhängigkeit geboren", oder: „Der Mann gehört ins öffentliche Leben, die Frau ins Laus" .... Die Menschheit ist nach den Lehren des Christentums eine Familie mit vielen kleinen Knotenpunkten, Familien im engeren Sinne. Die Frau gehört wohl in die Menschheit, sie gehört wohl ins öffentliche Leben, aber ihre Aufgabe daselbst ist eine andere. Sie ist eben fähiger, das persönliche Interesse zu erfassen und zu wahren, als der Mann. Wenn die Männer der Frau nur eine größere Freiheit der Bewegung gestatten wollten 1 Wie es nicht nur eine Männlichkeit gibt, so auch verschiedene Weiblichkeiten. Lällgst würde man den Ritter des Mittelalters, der das Faustrecht übte, jetzt einen Raufbold schelten; aber immer soll die engbe grenzte Frau jener Zeit der Maßstab für unsere jetzige Weiblichkeit sein. Wenn dieses Kapitel der Weiblichkeit angebrochen wird, hat man auch nie die verschiedenen Altersstufen der Frau im Auge. Man hält sich immer an die Zeit der Knospe, daher sehen wir auch so viele vergilbte und verwelkte Knospen, die keine Blume, keine Frucht getragen. Woher käme sonst das Wort: „Alte Jungfer, altes Weib", was immer etwas Verächtliches bezeichnet? Ich wünsche so sehr eine vermenschlichte Auffassung der Bibel, die Vermittlung der Gegensätze, des Idealen und Realen. Diese Auffassung der innern, der wirklichen Menschenwerdung Gottes unter Ringen und Schmerzen vermisse ich z. B. bei Schnorr, so sehr ich die Form bewundere. Ich habe nur ein intelligentes, kein warmes Interesse für die Madonnen des Mittelalters und die Jung frauen „mit Lilienpoten", wie Bruder Karl sagt. Es mutet mich an wie ein überwundener Standpunkt, der die Sinnlichkeit an und für sich für Sünde hielt und die furchtbarsten Anstrengungen machte, auf Erden den Geist vom Fleische zu trennen. Beim Anschauen dieser für mich im Aus druck des Gesichtes wesenlose Ideale tönen mir immer Schillers Worte entgegen:
„Willst du deine Macht verkünden. Wähle sie, die rein von Sünden Steh'n in deinem ew'gen Laus. Deine Geister sende aus. Die Llnsterblichen, die Reinen, Die nicht fühlen, und nicht weinen."
Die Madonnen von Rafael und andere sind ja unvergleichlich schön in der Einfalt und Einfachheit der Form, sie entzücken mich in der Kom position des Ganzen, aber der Gesichts ausdruck der meisten Figuren ist Reliquie einer vergangenen Zeit, zwar unschätzbar, aber in der Nach ahmung unserer Künstler langweilig. Wir können eben nichts Äöheres schaffen als ein Mensch, und stre ben wir, Menschliches dahintenzulaffen, so wird es weniger als ein Mensch. Es gibt natürlich verschiedene Stufen der Menschlichkeit in ihrer Darstellung, von dunkler Tiefe bis zur lichten Äöhe, vom heißesten Kampfe und vom brutalsten Egoismus bis zu der verklärtesten Per sönlichkeit. Aber, wie weit der Mensch sich objeküviere, ganz unpersönlich wird er nie, soll er nie werden; denn er soll die Vermittlung der Gegen sätze, Selbstzweck und zugleich für andere da sein Ich werde wohl mit dieser Rede von dem Unpersönlichen in den Madonnengesichtern Dein höchstes Mißfallen erregen, und Du wirst mir vielleicht ein Urteil sprechen, daß ich kein eigentliches Kunstverständnis habe. Aber, wenrr man dummes Zeug ohne Prätension ausspricht, gibt man dem andern Gelegenheit, uns eines Besseren zu überführen. Die Mädchen sind wieder gesund und es herrscht ein frischer, froher Geist unter ihnen Der Amtsrichter S. hat den Leuten im Dorfe begreiflich gemacht, daß sie uns hier sesthalten sollten, unser In stitut brächte Geld ins Land Äenriette an denselben. Watzum, 19. Juli 1863. .... Daß Du eine Scheu hast, den weiblichen Körper zum Vor wurf Deiner Arbeiten zu nehmen, begreife ich vollkommen. Es kann mich nur fteuen. Du hast ganz die keusche Natur unserer besten, teuersten Mutter geerbt, und dafür danke Gott. Ich kann mir denken, wie weh es Deiner Seele tut zu sehen, wie Frauen ihren Leib verkaufen und Männer ein schändliches Spiel mit ihnen treiben. Aber das Studium des menschlichen Körpers recht betrieben, führt uns zur Äeilighaltung desselben, denn, welch ein Kunstwerk haben wir vor uns! Er ist ein Tempel Gottes wahrhaftig. Man würde dann mit reineren, heiligeren Augen den Körper in seiner Nacktheit schauen. Aber das alles kann nur kommen, wenn der Verkehr der Geschlechter ein anderer wird. Das muß von den Frauen
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Kapitel 13:
ausgehen; sie müssen stärker in sich werden, damit sie nur einem sittlich ringenden Manne sich zu eigen geben. Gerade das Weib, um das ein Mann arbeiten muß, wird in seiner Liebe das hingebendste und freieste zugleich, das zärtlichste und stärkste sein. O, ich finde das Leben in seinen Beziehungen, wenn sie rein und natürlich aufgesaßt werden, so wunder schön. Warum besudeln wir es, warum trüben wir es uns? Mein Äerzens-Adolf, Du, Ihr Brüder und Schwestern seid mein Lebensglück, rneine Freude, meine Wonne! Unerschütterlich fest werde ich mein Ziel im Auge behalten, einen Kreis zu gründen mit Bruder Karl und den andern, wo das Leben in seiner Reinheit gefördert wird durch die Einheit von Laus, Schule und Kirche; durch die Verschmel zung von Natur und Geist, von Glauben und Erkennen, von Kunst und Wissenschaft; wo die Vermittlung der Gegensätze ein Neues, Drittes hervorruft, dem die Geister unserer Zeit sehnend und suchend entgegen streben. Im steinen wollen wir es begründen, und stehst Du uns nicht körper lich nah, so doch geistig. Es ist zwischen Dir und uns ein schöner Wechsel verkehr der geistigen Strahlen, und die verschiedenen Individualitäten ergänzen sich zu einem herrlichen Ganzen. Dazu helfe uns Gott! . . . . Lenriette Breymann an Mina Eisfeld (nachherFrau Stadtdirektor Baumgarten in Wolfenbüttel)
Watzum, 26. Juli 1863.
Meine teure Mina. Was denken Sie wohl von mir, daß ich Ihnen so lange nicht ge schrieben .... Ich weiß nicht, ob Sie mein Schweigen verstehen und nicht denken, daß ich ein indifferentes Wesen bin, das schnell die Bande löst, die sich einst zwischen uns woben Bei uns geht alles den gewohnter: Gang, langsanr, langsam vor wärts. Wohl dreißig Schülerinnen haben wir dieses Jahr zurückgewiesen und schon auf Ostern 1864 sind alle Plätze besetzt. Ich bin noch immer nicht dahin gelangt, meinen Lieblingswunsch zu befriedigen, und eine Ausbildungsschule für Erzieherinnen zu haben; die Schülerinnen fehlen nicht, aber der Raum, sie aufzunehmen. Wir haben vorerst den Plan, mit Amsincks zusammenzuziehen, aufgegeben und werden vielleicht hier im Dorfe ein Laus bauen. Liebe Minna, ich bin ost in Konflikten: Zur schnelleren Entwicklung meinerIdeen wäre es besser, Watzun: zu ver lassen, man riskiert viel mit einem Lausbau hier im Dorfe. Ich sehne
mich so nach dem Leben in einer schönen Gegend, aber dann auf der andern Seite verlassen wir die Äeimat so ungern, wird es uns schwer, das einmal Begonnene nicht fortzusetzen. Könnte man hier nur ein Äaus mieten, aber cs ist ja keine Möglichkeit. Karl ist nun bald ein Jahr in der Schweiz; jetzt macht er eine Reise nach Italien. Wenn wir hier noch bauen, so kehrt er zurück. Ledwig ist seit Ostern in Lausanne und ist sehr glücklich dort; sie treibt nun besonders das Französische und Zeichnen nach der Natur, was ihr viel Freude macht. Wir haben täglich diesen Sommer Besuch und wirklich darunter so lieben und interessanten, so daß die Tage mir im Flug vergehen. Der schlechte Sommer hat viel Anwohlsein unter den jungen Mädchen her vorgerufen, aber, Gott sei Dank, es ist alles glücklich vorübergegangen. Maric und ich waren Ostern acht Tage in Berlin und werden wohl im September wieder dort hingehen, um zu studieren; es hat dort ein Be kannter Mariens eine sehr gute Schule, die wir einmal ordentlich kennen lernen wollten. Ich ginge lieber in den Larz oder nach Thüringen, aber, wenn man einmal eine Sache übernommen hat, so muß man sie ganz durchzuführen suchen, und bei der Abgeschlossenheit, in der wir leben, ist es notwendig von Zeit zu Zeit den Gesichtskreis zu erweitern, wenn man nicht einseitig sein will. Aus Finnland höre ich öfter und bekomme gute Nachrichten, auch habe ich viel Besuch von dorther gehabt und werde wahrscheinlich mit einer Dame Fräulein Simelius, die jetzt in der Schweiz ist, in Berlin zu sammentreffen. So weben sich uns manche Beziehungen zumNorden und Süden, und wenn wir nur Naum hätten, unsere Ideen zu realisieren — wir fänden manche Sympathien dafür. Es ist jetzt eine ernste Zeit und es bildet sich auf den verschiedensten Gebieten ein neues Element aus der Verschmelzung der Gegensätze — einem Ziele, dem wir auch zustreben. Nun habe ich Ihnen eine ganze Menge vorgeplaudert, liebe Minna, in der Voraussetzung, daß Sie unserm Leben noch mit dem alten, lieben Interesse folgen, welches Sie uns ja so warm schenkten. Leben Sie nun wohl, meine teure Minna; schenkt Gott Ihrem Körper wieder Kraft, so fehlt auch der Frieden der Seele nicht, nach dem Sie alle so treu gerungen und der eine Glorie ausgießt über Leiden und Tod .... Seien Sie überzeugt daß wir still immer fortleben und allem, was Sie betrifft, mit wahrer Teilnahme folgen ....
Ihre treue Freundin
Lenriett«. L y s ch i n s k a, Henriette Schrader I.
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Kapitel 13: Äenriette an den Bruder Karl (in der Schweiz). Watzum. 21. Oktober 1863.
.... Es steigt wohl die Frage in mir auf, ob ich meine Kräfte nicht überschätze, ob es nicht natürlicher wäre, ruhig hierzubleiben, so lange der Vater noch lebt, und Dich und Luischen ziehen zu lassen, da hier zusammen schwerlich unser Ziel erreicht wird. Wenn ich wüßte, was das Rechte wäre, dann könnte ich hier bleiben, aber oft bin ich ganz durchdrungen von der Idee, daß ich eine Mission mit Euch zu erfüllen habe, von der schon hier der Ansang gemacht ist Wir stehen mit unserer innern Entwicklung auf dem Boden der Zukunft, was Frauenbildung sowie deren Ansprüche auf Arbeit und Stellung im Leben anbetrifft. Deswegen kann sich kaum ein Mann zur Ehe für uns finden, weil wir den meisten Männern der Jetztzeit un bequem sein müssen oder die, welche uns heiraten wollten, unser Bestes eigentlich nicht verstanden, ihm schwerlich Rechnung getragen hätten. §>abe ich Dir eigentlich von Mariens letztem Äeiratsantrag erzählt? Da nun Frauen sowenig wie Männer allein etwas Ordentliches ausführen werden, und wir keinenMann haben, so brauchen wir andere Männer zu Hilfskräften. Diese sind schwerer zu bekommen, weil die Stellung der Geschlechter zueinander eine durchaus unfreie ist. Das Natürlichste ist, daß wir uns an Dich anschließen, wenn Du überhaupt den Plan hegst und verfolgst. Wollen wir eine Lehrerinnenbildungsanstalt gründen, so müssen wir auf so festem Fuße stehen, daß wir mit preußischen Seminaren kon kurrieren können. Es ist schwer, fast unmöglich, dies in einem Dorfe zu tun, das nicht unmittelbar an einer Stadt liegt, die tüchtige wissen schaftliche Kräfte liefert. Mir persönlich liegt die Lehrerinnenbildung, die gewissermaßen Mutterschule werden soll, am meisten am Äerzen, weil wir unsern jungen Mädchen in dem Alter, in dem sie uns jetzt verlassen, nicht das ganze Samenkorn zur künftigen Erziehung ihrer Kinder mitgeben können. Last Du mehr Neigung, ein patriarchalisches Verhältnis mit Ge meindegliedern zu führen, so können wir das auf einem Dorfe. Ich glaube fest, wenn wir einen Plan dem Konsistorium vorlegten, daß Du eine Stelle bekommst; ja, vielleicht die Gewißheit über Watzum, und man müßte dann auf Dein junges, kräftiges Leben hin den Lausbau hier wagen. Am eine Wirksamkeit in der Gemeinde zu haben, braucht man
Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.
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einen gewissen Wohlstand, der durch eine Pension kommt. Man kann auch vermöge der jungen Mädchen vieles beschaffen, was ohne sie nicht möglich wäre. Es ist möglich, daß wir auf diese Ameise zu einer Mutterschule ge langen. Die Leute möchten hier gerne einen Singverein haben, Marie übernähme es mit Freuden, wenn sie Zeit erübrigen könnte, und ich würde auch manches mit den Mädchen im Dorfe treiben, wenn ich weni ger in Schule und Pension zu tun hätte .... Das fällt ja natürlich alles in Rudolstadt fort, wenn wir dort hinzögen, aber ich hielte es für ein großes Glück, wenn wir an die Lehrerinnenbildung denken, die Mit wirkung des Professor Klußmann zu haben Die Feier des 18. Oktobers*) hat die Leute hier wieder gepackt. Die jungen Mädchen machten in der Pappstunde bunte Papierlampen, die Illumination von der guten Mutter ausgedacht, der Chorgesang der jungen Mädchen und der singende Zug durch das Dorf von Marie ge führt hat den Leuten sehr gefallen.
Äenriette an die jüngste Schwester in der Schweiz. Watzum. 17. November 1863.
Mein liebes Äedchen,
Leute will ich einmal recht gemütlich mit Dir plaudern und Dir etwas von meinem Leben erzählen; da ich doch die fünf Groschen Porto für den Brief an F. P. bezahlen muß, so soll davon manches Dir zugute kommen. Linser Leben fließt recht still und einförmig dahin, wie es im Winter gewöhnlich ist. Wohl dem Menschen, dem die Arbeit in erster, der Genuß in zweiter Instanz steht; er hat seinen Frieden gegründet, und Arbeit findet sich überall. Nun kommt es zwar darauf an, daß man die Arbeit vornehmen kann, die unserer Natur entspricht, und da bin ich nicht mehr ganz an meinem Platze. Ich muß über kurz oder lang mehr direkt für die Fröbelsche Sache wirken, denn es ist mein eigentlicher Beruf, und ich leide, wenn ich ihn nicht mehr ausüben kann. Meine sogenannte schlechte Laune hat ost ihren Grund in tiefen Seelenschmerzen. Ich bin aber entschlossen, bald eine Entscheidung zu treffen, die mir den Boden schafft, den ich brauche,
*) 50 jähriges Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig. 15*
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Kapitel 13:
damit meine eigentlichen Kräfte zur Geltung kommen, und wenn Karl Ostern kommt, finden wir so oder so einen Ausweg. Diese Äoffnung gibt mir Mut, gibt mir große Heiterkeit und Frische. Unerschütterlich fest halte ich an meiner Idee; die Form, unter welcher sie zutage tritt, habe ich nicht in meiner Gewalt. Diese zehn Jahre, die ich hier gearbeitet, wenn auch ein Stückwerk, sind mir von großem Nutzen gewesen. Meine Natur konnte sich hier setzen und klären. Ich konnte mich ungestört entwickeln, manches lernen, manches Vor urteil, manche Schwäche überwinden. Jetzt fühle ich mich stark und frei, in der Welt zu leben und zu wirken. And sollte es mir nicht beschieden sein, meine Ideen zu realisieren, — so lege ich sie auf Euch Geschwister, mein Ledchen. Sieh, Du könntest meine Tochter sein und bist es auch in mancher Beziehung. Wo Du stehst, ob verheiratet oder unverheiratet. Du mußt Dich als mein Kind bewähren. Du mußt ein in Dir freies Weib werden; tüchttg lernen, tüchtig arbeiten, damit Du nicht heiratest aus Sorge vor Alleinstehen, oder weil Du nicht Dein Brot erwerben kannst oder zu schwach bist. Dir selbst zu helfen. Die Losung unserer Tage heißt für die Frau: Innerliche Freiheit und die damit verbundene äußerliche Selbständigkeit innerhalb der weib lichen Sphäre, und diese Sphäre ist überall, wo der Geist der Liebe, der Versöhnung, des Trostes, des Schönen und Sittlichen in Erscheinung treten kann. Aber tüchtig müssen wir uns machen. Die Fächer sind überfüllt nach jeder Richtung, und nur die Leistungsfähige kann etwas vor sich bringen. Ich weiß, meine Ledwig hat das Streben, etwas Tüchtiges zu leisten, und das ist meine Lerzensfreude ....... Ich höre viel Gutes von Dir, auch aus der Schweiz, und das freut mich so l Es tut meinem Lerzen so wohl, wenn gute Menschen Dich lieben! Man kann nicht allen gefallen, man soll sich nicht darum be mühen und Mmmern; aber man soll sich bestreben, die Achtung edler Lerzen zu gewinnen, denn ein solches Bestreben veredelt uns natür lich selbst Mein Unterricht ist nun gut int Gange. Die Tabellen, welche ich mit den jungen Mädchen anfertige, sind mir wie ihnen von großem Nutzen. Seit Michaelis sprechen wir in der deutschen Geschichte von der Lage Deutschlands unmittelbar vor dem 30 jährigen Kriege und haben politische Ereignisse unter den Kaisern Ferdinand I., Maximi-
lian II., Rudolf II. durchgenommen. In der Kirchengeschichte nehme ich dieselbe Zeit; traurig sah es aus, theologisches Gezänk und wenig Christentum. Das hat eine Nachwirkung auf die Literatur, die Poesie sinkt und die Prosa entwickelt sich. Zum Mittelpunkt in der Literatur mache ich Fischart. In der Kunstgeschichte ist auch wenig Erfreultches, die italienische Manier greift um sich. Dazu lesen die Mädchen im Eng lischen die Geschichte der Elisabeth und im Französischen die Bartholo mäusnacht und über Aeinrich IV., diesen größten König Frankreichs. Ich begreife nicht, daß ich je eine andere Methode verfolgt habe. Es ist so einfach, alles, was zur Geschichte einer Epoche gehört, zusammen hängend darzustellen. Dadurch bekommt auch die viele Französiererei und Englisiererei einen Inhalt, wenn die Mädchen Geschichte und Lite ratur der ftemden Länder lesen. Bitte, erkundige Dich immer nach Bio graphien historischer Persönlichkeiten aus englischer und ftanzösischer Geschichte In der alten Geschichte wird dieselbe Methode mit Tabellen ausgefuhrt. Alle diese Notizen müssen auswendig gelernt werden. Ich lasse sie oft hersagcn und die geographischen Karten dazu zeichnen. Ich ver lange, daß die Mädchen mehr Positives lernen und doch auch ein geistiges Interesse gewinnen. Mit den Kleinen kann ich natürlich nicht so große Zusammenhänge bearbeiten lassen, sondern hebe einzelnes heraus; z. B. I. Religiöse An ruhen in Verschiedenen Ländern nach der Reformation. II. Berühmte Lerrscher dieser Zeit. III. Freiheitshelden dieser Zeit. IV. Revolu tionen. Wir stehen jetzt bei den berühmten Kerrschern und haben den großen Kurfürsten von Brandenburg kennengelernt. Dabei lesen wir ein reizendes Buch von Ferdinand Schmidt*): „Aus dem Leben des großen Kurfürsten." Die Schmidtschen Bücher sind ein wahrer Schatz. Auch in den andern Stunden komme ich immer einer größeren Einheit näher. So macht mir die deutsche Stunde jetzt viel Vergnügen, und die meisten Mädchen lernen mit einem wahren Eifer, besonders die großen, und das ist mir recht erquicklich. $>. R. macht mir jetzt so viel Freude, sie ist wie umgewandelt, und sie, die sonst so träge war, hat einen Eifer bekommen, daß ich oft steuern muß ...... Albertine geht nach Schöppenstedt und nimmt diesen Brief mit *) Iugendbibliothck, Verlag von Mohr und Co., Berlin.
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zur Post. Sie will Rosen vom Garten des Superintendenten holen, die sie nach der Natur malt. Für wen? Adieu, Deine Äenriette.
Lenriette an den Bruder Adolf in Dresden. Watzum. Januar (?) 1864. ........ Ich schicke Dir alles, was ich an Bildern habe von Fröbel und Middendorf. Erich wird Dir selbst über seinen Besuch in Keilhau schreiben. In Lamburg bei Alvine Lange (geb. Middendorf) existiert das Daguerveotyp, nach welchem die Zeichnung gemacht ist. Fröbel ist nicht ähnlich um den Mund auf der Zeichnung, die Züge haben etwas Fremdes. Er hatte nämlich damals keine Zähne mehr und die Partie war eingefallener, aber auch wieder ausdrucksvoller. Wenn Du zum Frühjahr nach Rudolstadt gehst, kannst Du in Keilhau recht genau über alles Auskunft bekommen, und wenn Du dann die Büste verkleinerst, noch die nötigen Veränderungen vornehmen. Willst Du nicht auch mit Ramdohr in Verkehr treten? Die Sache hat viel mehr Klang, wenn ein Kunsthändler die Büsten nimmt. Es muß überhaupt einen Orr geben, wohin man die Leute weisen kann. Möchte Dir das Werk gelingen!
Lenriette an denselben. Watzum. 27. Januar 1864. ........ Ich habe eben in der Volkszeitung gelesen. Es ist viel leicht albern, daß ich als Frau mir so die politischen Interessen zu Äerzen nehme, da ich an der Schandwirtschaft nichts ändern kann; aber ich habe nun einmal ein Äerz für mein Volk, ich habe meinen Stolz in bezug auf die Nation, der ich angehöre, daher fühle ich die Schmach bitter, die wir wieder auf uns laden.*) Äätte ich nur jemand, der einmal tüchtig schelten und womöglich etwas tun wollte. Kein Mann soll sich beruhigen mit dem leidigen Wort, daß er es nicht ändern kann. Er kann es ändern, wenn nur jeder den Willen des einzelnen hat. Aber ich fürchte, wir sind noch nicht da, daß die wirkliche Aufopferung Stich hält. Der Wunsch, ein vernünf tiges, ehrenhaftes Regiment zu haben, ist wohl überall, aber der Weg vom Wunsch zum Willen ist noch weit und mühsam. *) Die schleswig-holsteinische Frage.
Wenn ich nur Seminardirektor wäre und die Volksschullehrer zu bilden hätte; ich wollte ihnen das Lerz warm machen für die Jugendbildung, denn in ihrer Land liegt der Samen zur Blüte der Zukunst. Was könnte da geschehen I Lieber Adolf, ich bin im ganzen ruhiger geworden; ich kann Miß verhältnisse viel besser ertragen als stüher, aber zuweilen möchte ich ein mal schreien. Seit Bruder Karl und Erich fort sind, bin ich sehr vereinsamt in politischer Linsicht. Die Mutter und Schwestern stimmen mir bei, aber sie erwidern nicht, und des Vaters Standpunkt kennst Du ja, dem kann man nichts erwidern .... Der Vater hat aber einen viel zu redlichen Sinn, als daß er eine Bismarcksche Poliük gutheißen könnte, und doch steut er sich, wenn er siegt.*) Warum? Weil er die Abgeordneten für irreligiös hält und fürchtet, daß der Kirche Abbruch getan wird, wenn die Fortschrittspartei ans Ruder kommt. Dieses Kirchentum sucht auch er mit aller Kraft zu stützen. Mich berührt alle Unnatur, alle Künstelei der Orthodoxie so un angenehm. Ich habe eine gründliche Antipathie gegen die Mythologie unserer Kirche, insofern mein Seelenheil davon abhängig gemacht wer den soll. Ich finde sie als Sagen sehr schön, und es liegen auch Wahr heiten darin, aber sie sind für mich Geschichte geworden. Nur der Kern der Evangelien, das Wort von der Kindschaft Gottes, daß wir gött lichen Ursprunges sind, göttliche Bestimmung haben . . . das ist mir absolute Wahrheit Ich kann es oft gar nicht begreifen, warum es den Menschen so entsetzlich schwer wird, einfach natürlich die Sachen zu nehmen, wie sie vor unsern Augen liegen. Warum diese Leidenschaft für das Verkehrte der Lutherschen Lehre, in welche man sich hineinzwängt? Wie unbeschreiblich steut es mich, daß Dich die Arbeit an Fröbels Büste interessiert. Bitte lies dabei Fröbels „Menschenerziehung", Du wirst so ganz den Ausspruch, den Du tatest, bestätigt finden. Ich vergaß Dir zu sagen, wo Äerr Schilling das Fröbelsche Beschästigungsmaterial finden kann Es steut mich, lieber Adolf, wenn Dir der Gedanke an eine Äeirat recht fern liegt. Nicht, daß ich in schwesterlicher Eifersucht einer andern den ersten Platz in Deinem Kerzen nicht räumte, wenn es Dich glück-
*) Der Konflikt mit dem preußischen Abgeordneten Hause.
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licher macht; aber ein Künstler sollte nicht früh heiraten, glaube ich. Es kommt allerdings sehr auf die Disposiüon des ganzen Menschen an, und Du hast unserer Mutter Natur ....... Es freut mich so herzlich, daß auch Du glücklich über Kedchen bist. Sie ist 16 Jahre alt und geistig weit entwickelt, ohne auch nur einen Lauch kindlicher Jungfräulichkeit verloren zu haben. Sie könnte gelehrt werden, und sie würde liebenswürdig bleiben. Wenn man nur erst ein mal den Begriff Weiblichkeit von Llnentwickeltsein trennen wollte .... Lenriette an ihre Pensionskinder im Pfarrhause zu Watzum.
Genf. Schweiz. April 1864. Meine liebe, teure Pension I
Man muß dem Traurigen, was uns begegnet, immer die freund lichste Seite abzugewinnen suchen, und das will ich denn auch tun, in dem ich die Muße, die mir mein Kranksein bringt, benutze, um Euch, meine lieben Kinder, zu schreiben, worin ich auch die einschließe, welche unser Laus erst nach mir verlassen haben. Schon als ich in Lausanne war, sagten mir^die Leute: „Gehen Sie nicht nach Genf, Sie werden die Grippe bekommen, jeder ist krank!" Aber ich fühlte mich so wohl und kräftig, daß ich darüber lachte . . . Da wehte der böse Nordwind, der von den Schneebergen mit seinem rauhen Odem über den blauen See hinfährt und den man „la bise“ nennt. Es wurde kalt und unfreundlich, ich konnte dem bösen Gespenst nicht entgehen. Ich wollte mich nicht gleich niederwerfen lassen, stand immer wieder auf, ging in die Schule und glaubte mich gesund, aber immer wieder war ich am Ende meiner Kräfte. Seit Donnerstag liege ich nun still zu Bett auf dem reizenden Landsitze von M. Darier, wo Mons, und Madame Scheffler und Madene Lagier wohnen, die mich wie ein Kind in ihrem Lause ausgenommen haben. Mons. Scheffler ist ein Maler, der ein Atelier für Damen hält. Vor mehreren Jahren wurden Erica Lagier und ihre Freundin Madene Landsmann seine Schülerinnen; wenn Ihr nur die reizenden Bilder dieser beiden Damen sehen könntet; wirklich, sie haben so recht die weibliche Seite der Kunst ergriffen; sie malen Szenen aus dem Leben der Kinder. And wie diese beiden Frauen so gut und mitfühlend für das Leiden anderer sind; so gingen sie in die ärmsten, schmutzigsten Läufer, holten sich Kinder
zu Modellen, wuschen, kämmten, kleideten sie rein und führten sie so den Eltern wieder zu. Auf diesen Wanderungen haben sie auch das Elend des Volkes kennengelernt, aber auch zugleich erfahren, daß es wenig Hilst, die Elenden mit Geld zu unterstützen, sondern daß man für eine andere Erziehung sorgen muß, die dem künftigen Geschlechte Lust und Liebe zur Arbeit, wahre Religiosität und Sinn für das Reine und Schöne gibt. Diese neue Erziehung fanden sie in den Fröbelschen Ideen, weil eben bei ihrer Ausführung das Beste im Menschen entwickelt wird, während jetzt die Kinder meist nur abgerichtet werden. Die Damen haben alle nröglichen Opfer gebracht, um die Fröbelschen Ideeen zu realisieren, weil aber niemand hier sie so recht verstand, so baten sie mich, zu kommen. Ich wollte nun alles einrichten, einen Kindergarten und eine Ausbildungsanstalt für Mädchen; Frau von Portugall wollte mein Werk fortführen, weil ich ja nur kurze Zeit hierbleiben kann. Run ist alles anders gekommen Ich bin drei Wochen krank und habe meinen „Cours" noch nicht angefangen und Frau von Portu gall ist noch immer nicht hier Gestern abend lag ich ganz, ganz still und allein in meinem Zim mer, weil Besuch da war und der Arzt mir Ruhe anbefohlen hatte. Ich war so recht tief betrübt über das Mißgeschick, das mich betroffen; denn es ist hier so viel zu tun, und ich kann nicht arbeiten. Da faltete ich meine Lände und bat Gott um Ruhe und Frieden des Lerzens und Geduld in meinem Leiden, und sie kam in die Seele. „Ja," sagte ich mir, „ich wollte etwas Gutes wirken, wollte die Idee, daß die Frauen eine heilige Mission in der Erziehung zu erfüllen haben — ob verheiratet oder unverheiratet — weiter verbreiten, und nun liege ich hier krank, und die Zeit vergeht, die reichen Leute, die etwas tun können für die Sache, ziehen aufs Land, und mich zieht es wieder zu Laus, zu Euch, meine Lieben, das ist traurig; aber es ist nicht meine Schuld." . . . . So lag ich in meinen Gedanken, da ertönte auf einmal ein mehr stimmiger Choral von zarten Mädchenstimmen unter Begleitung von Tenor und Baß. Ich kann Euch nicht beschreiben, welch einen Eindruck dies auf mich machte; die Tränen drangen mir aus den Augen und stille Ruhe kam in mein Lerz. Es war eine englische Familie: Vater, Mutter und vier Kinder aus dem Norden Schottlands, sehr, sehr reiche Leute, die hier zuweilen wohnen. Mademoiselle Lagier hat die Kinder alle gemalt und so Bekanntschaft mit der Familie gemacht. Diese Leute
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leben so ganz den Freuden des Laufes; die Eltern lernen, spielen, singen mit den Kindern, so waren sie es denn auch, welche mit der Begleitung Lerrn Schefflers den Choral anstimmten. Später tönten die bekannten Klänge von „Long, long ago!“ in mein Zimmer und Bilder aus dem Zusammenleben mit Euch zogen an meiner Erinnerung vorüber. Als ich noch so still da lag, kam meine liebe Erica Lagier, die mich Tag und Nacht, wie die treueste Schwester gepflegt, setzte sich aus eine Fußbank vor nrein Bett und plauderte liebevoll mit mir. Diese Nacht habe ich kein Fieber mehr gehabt und bin nicht von dem furchtbaren Lüsten gequält; ich habe einmal wieder gut geschlafen. „La bise" weht nicht, der hellste Sonnenschein lacht auf die knospende Natur, in die ich vom Bette aus blicke. Ich denke mittag aufzustehen und mich an der köstlichen Luft zu erquicken. Wir erwarten Ledwig heute abend, die die nächste Woche hier bleiben und für mich in den Kindergarten gehen soll, weil ich mich noch schonen muß. Obgleich manche Vorurteile gegen die Fröbelschen Ideen herrsch ten, weil sie nicht verstanden sind, so habe ich doch das Glück, die Leute eines Besseren zu überzeugen, und es hatten sich zwei Gesellschaften ge bildet, die gern eine Übersicht des Ganzen haben wollten. Die eine meist
Lehrerinnen, die andere Damen aus der Aristokratie. Diese Stunden sollten Montag anfangen, ob ich nun kräftig genug sein werde, sie zu geben? Es ist so wichtig, daß gerade Mutter und Tochter in der Familie die Ideen einer wirklichen Erziehung erfassen. Der Instinkt allein genügt nicht mehr in unserer Zeit, wo alles nach Kultur, Wissenschaft und Bewußtsein ringt, und das ist die einzig wahre Emanzipation der Frau, daß sie die Wissenschaft studiert, um den Menschen zu verstehen und zu erziehen; natürlich verschieden auf den verschiedenen Altersstufen. Wenn wir Euch anhalten, zu beobachten, zu denken, die Ordnung zu pflegen, praktisch im Kleinen wie im Großen zu helfen, so ist das eine Stufe der Vorbereitung zu Eurem einstigen Beruf als Erzieherin; denn, wenn Ihr Euch verheiratet und Gott Euch Kinder schenkt, so habt Ihr nichts Wichtigeres und Leiligeres zu tun, als sie zu guten, christlichen Menschen zu erziehen. And wenn Ihr Euch nicht verheiratet, so werdet Ihr auch glücklich sein und Euch nützlich machen und könnt mit Frieden von der Erde scheiden, wenn Ihr im kleineren oder im größeren Kreise erziehlich be glückend gewirkt habt. Ihr seid nur noch zu jung und unentwickelt, als
Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.
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daß wir Eure Erziehung vollenden könnten; aber ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo auch für die Mädchen gesorgt wird, die die Schule verlassen, damit die da mühsam gesponnenen Fäden nicht plötzlich abreißen und eine Welt von Äußerlichkeit die noch zarten Keime des Ernstes zerdrücke. Denn Ernst gehört zum Leben, und er muß schon bei Euch beginnen, meine lieben, lieben Kinder, wenn man ihn auch nicht in dem Maße verlangt wie von einer späteren Zeit, und wenn es uns gelingt, diesen Ernst in Euch zu wecken und zu pflegen, so werdet Ihr selbst anklopfen, und Ihr wißt: „Wer suchet, der wird finden, wer anklopfet, dem wird aufgetan." Einen kleinen Anfang zu einer Ausbildungsschule für Erwachsene werden wir nun in Wolsenbüttel machen, vielleicht können wir später auch etwas'für Braunschweig tun. Denn in Wolfenbüttel ist ja eigent lich unsere künftige Leimat, was sagt Ihr nun zu unserer Übersiedlung
nach dem Lechelner Äolze? Wer wird uns begleiten? Ich kann wohl sagen, ich freue mich recht auf das neue Leben, es wird uns dort leichter werden als in Watzum, so manches auszuführen, wozu der Platz mangelte; und doch bleiben wir so nah bei den lieben Eltern. Welch ein Fest, wenn sie uns besuchen, und wir einmal Sonn abends alle nach Watzum fahren, „alles Gebackene und Gebratene" ver tilgen und das Feld hinter uns leer lassen, wie ein Äeer Heuschrecken; ich denke mir das ganz reizend. Von Euch, kleine Seelens*) weiß ich, daß Ihr mitgeht, da können wir mit Mama und Tante Pauline und den andern Kindern manche schöne Tour machen im Sommer und mit Fröbel singen: „Arm in Arm, ohne Äarm, zieht der Kinderschwarm." Ich habe schon hier einige kleine Freunde und Freundinnen unter den Kindern, die immer etwas von Deutschland wissen wollen und von meinen Kindern dort. Da erzähle ich ihnen viele schöne Sachen, wie sie so artig sind, was meinst Du, Toni?**) Sage ich auch die Wahrheit? And wenn dann die Kinder ruhig arbeiten, fragen sie mich: „Est ce que nous faisons comme vos enfants en Allemagne V; And ich ant worte: ,,Mais certainement.“ Der kleine Köckert ist noch immer mein Liebling; er hat neulich zu seiner Mutter gesagt: „Die Frau Breymann ist wieder krank, ich denke, sie hat böses Leibweh I" Es ist nämlich die einzige Krankheit, die er kennt. Neulich fragte er mich, was mein Vater tue, und ich sagte ihm, er sei *) Eine bekannte Familie in Braunschweig. **) Die jüngste Pensionärin im Pfarrhause.
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„pasteur“. Er hat seiner Mutter erzählt: „Der Vater von Frau Brey mann trägt die Briefe in ganz Deutschland herum!" Er hatte verstan den, „facteur“ sei mein Vater. Morgen wird er mich besuchen; er meint, wo ich sei, sei Deutschland, so wird er wohl sehr erstaunt sein, mich hier zu finden, wo alles ist, wie er es kennt. Nun habe ich Euch aber so viel vorgeplaudert und erzählt, daß mein Brief sehr lang geworden ist, und im Schreiben wuchs die Sehn sucht, wieder bei Euch zu sein. Ja, so viel Liebe, Anerkennung und Freundlichkeit mir auch wird, so zieht's mich doch zu Euch. Mir sind verschiedene Vorschläge gemacht, hier zu bleiben, aber ich möchte keine annehmen; ich will in meinem Gärtnerhause am Lechelner Äolze eine wahre deutsche Kindergärtnerin sein, wenn ich auch in meinem Garten schon etwas größere Pflanzen ziehe. Nun schreibt mir bald und erzählt mir, wie alles geht und behaltet mich lieb in Eurem Äerzen, wie ich Euch in dem meinen trage. Dieser Brief ist seinem Inhalte nach mehr für Euch Großen, er ist auch für Marie Kellner*) und Pauline Ramdohr*) bestimmt. Man ches wird aber auch Euch Kleinen verständlich sein und Euch amüsieren. 27.April. Das Schreiben amSonnabend hatte mich doch sehr an gegriffen, ich war am Sonntag kränker, konnte aber am Montag meinen „cours“ anfangen, indem ich ganz umhüllt hin- und zurückfuhr. Mons. Landsmann, der Doktor, der mich alle Tage besucht, war da, um sofort die Stunde zu schließen, wenn ich zu müde sei. Ich bin noch immer in Chatelaine auf der Campagne bei Schefflers und darf die ganze Woche nicht in den Kindergarten. Ich stehe gegen 11 Ahr auf und gehe in den herrlichen Park. Welche Feder aber beschriebe den Zauber der Natur I Die Zartheit und Frische des Laubes, dieser balsamische Duft, dies Blühen der Bäume und hinter all diesem schwellenden, fröhlichen Leben den stillen Ernst, die blaue Kette des Iura und seine Schneestreifen auf den Löhen nach der einen, die Mhnen Berge mit der Kette des Mont Blane nach der andern Seite. Das liegt vor mir, wenn ich eine kleine Anhöhe er steige, wo eine blühende Äollunderlaube mich aufnimmt und hundert und mehr Landhäuser, umgeben von der Blütenpracht, ziehen sich um die Stadt und lassen alles als ein Paradies auf Erden erscheinen. Nun adieu und schreibt an _________ Eure treue Äenriette.
*) Schon abgegangene Zöglinge.
ÄenrieLte an ihre Pensionskinder.
Neu-Watzum Wolfenbüttel, 16.November 1864.
Welch ein herrlicher, schöner Tag war der Sonntag! Wir waren alle in Watzum; Bruder Karl und ich gingen schon Sonnabend abend hinüber, um Quartier zu bestellen und am Sonntag morgen V2IO Ahr, als die Diele, Mariens und meine frühere Stube und Mutters Wohn zimmer im Sonntagskleide prangten und alles eine behagliche Wärme durchzog — ließ sich das Pferdegetrappel vernehmen und der Omnibus mit vier mutigen Rossen bespannt, hielt vor dem grünen Tore des jetzt so stillen Pfarrhofes. Es entwickelte sich eine ganze Schar Jungfrauen daraus, deren Anführerin Marie war. Vater und Mutter wurden fast erdrückt von Küssen und Amarmungen und „lieber Onkel", „gute Tante" war das Feldgeschrei. Nachdem die stürmische Freude sich gelegt, wurde es wunderbar still, denn alle schenkten dem Nosinensemmel und dem Kaffee die geneigteste Aufmerksamkeit. Nun ertönte das bekannte Kirchglöcklein, der Vater im Talar und Barett trat aus seiner Stube und alles rüstete sich zum Kirchgang; freundliches Lächeln und Nicken überall von den Leuten, neugieriges Gaffen der Jugend, forschende Blicke, zu erfahren, wer von den „Alten" noch da war, wer die „Neuen" seien. Besondere Aufmerksamkeit erregte Miß Purves mit ihren schönen schwarzen Locken, die glänzend unter dem kühnen Lütchen mit blauer Feder hervorquollen und unsere liebe Mademoiselle C. R., die gelehrte Dame, welche kein Auge für die äußeren Formen des Lebens hat; sie ist klein und sehr stark, hat ein schwarzes Bärtchen und eine etwas männ liche Physiognomie; sie war ohne Krinoline und hatte so die Form einer Birne, wenn man sie mit dem dünnen Ende auf den Tisch stellt. Dazu trug sie ein wunderliches Amhängsel und einen großen Pelz kragen, dessen Spitze wie eine Erpellocke in die Löhe stand, eine „Feuer kieke" in der einen, ein dickes Gesangbuch in der andern Land, zog sie dahin wie ein jüdischer Opferpriester hinter der Bundeslade, und die Dorfjungens riefen leise: „Kiek, kiek, was ist datt vor ein!" Aber Marie und ich fühlten die Qual, wenn die Lachmuskeln zu ungehöriger Zeit sich in Bewegung setzen und sich nicht zügeln lassen wollen; denn es war zu komisch, als Mademoiselle C. R. so ausgerüstet, die Treppe Hinaufstieg und schnurstracks aus die Kanzel wollte, die ihr durch Vor hänge verborgen war. Doch der volle Ton unserer schönen, neuen Orgel gab unsern Gedanken eine andere Richtung, und bald wurden sie von
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der Erde mit ihrem Leid und ihrer Freude, mit ihrem Komischen und Trüben hinaufgeführt in das höhere Reich der Anendlichkeit, und eine Predigt, wie ich sie immer so gerne vom Vater hörte, eine Predigt, die so aus der Fülle eines liebenden Äerzens kam, entzückte die Seele. Nach derselben sang Marie mit den jungen Mädchen einen dreistim migen Choral und dann, als das Gotteshaus hinter der Gemeinde sich schloß, lockte ein anderer Tempel unseres Vaters, die schöne, fteie Natur zu einem Spaziergange. Auch da draußen war es Sonntag 1 Nach längerer Kälte wieder milde Luft und Sonnenschein. Der Gutsgarten war wie immer das Ziel unserer Wanderung, und Marie und ich machten Frau Gutsbesitzer Schulz einen Besuch, die uns so freundlich mit den Worten entgegen kam: „Ihre Frau Mutter hat mir erlaubt, heute nachmittag zu kom men!" Die Zeit bis zum Essen wurde nach dem zweiten Frühstück mit Ballspiel für die deutschen jungen Mädchen, mit Lesen und Bilderbesehen für die Engländerinnen ausgefüllt, dann schmeckte es allen vor trefflich und der Punsch erhöhte die Freuden der Tafel, manche Ge sundheit ward getrunken und manch Gläschen unter Lachen und Scher zen geleert. Der Vater, munter und lebendig wie ein Jüngling, machte oft die Runde um den Tisch und hatte für jede ein freundliches Wort; die liebe Mutter mit ihrem mildlächelnden Antlitz saß da, für alle sorgend und mir meine Lieblingsstücke vom leckeren Äähnchen auf den Teller legend. Den letzten wollte sie nicht mehr anschneiden, er sollte für mein Privatvergnügen mit nach Neu-Watzum. Als wir so recht vergnügt am Tische saßen, öffnet sich die Tür und der Kutscher ruft hinein: „Na, soll ich noch nicht anspannen? Es ist gleich 4 Ahr." Eine allgemeine Entrüstung erhob sich, und es fehlte nicht viel, so wäre derRoffelenker die Treppe hinuntergeworfen, so empört waren die jungen Geister über dieses Ansinnen. „Am zehn, um zehn!" erscholl es wie aus einem Munde. Nach aufgehobener Tafel kam ein gemütliches Dämmerplauderstündchen in den verschiedenen Zimmern und Gruppen, dann Musik und Gesang, dann Mokierstuhl, wobei Alfred Rauterberg tüchtig mitgenom men wurde, — dann Tee und zuletzt Stippmilch und Eingemachtes und dann, und dann das Traurige in der Freude: Der Abschied! Es kam mir vor wie eine Komödie, daß wir nach Wolsenbüttel, nach Neu-
Watzum fahren sollten; ich dachte zuweilen, ich habe nur geträumt, und es sei alles noch wie früher, und ich fragte mich: „Warum seid ihr fort gezogen?" Ja, wenn sich so das Glück eines früheren Verhältnisses in
einem Momente konzentriert, dann weichen die Schattenseiten wie ver triebene Gespenster zurück, und man begreift nicht, daß sie jemals dagewesen. Lind doch mußten wir fortziehen von Watzum, denn Karl sehnte sich nach einer bestimmten Tätigkeit und wenn wir zusammenbleiben und wirken wollten, wie es lange unser Wunsch war, so dursten wir nicht mehr zögern, denn wenn Karl jetzt eine feste Stellung bekam, wie er im Auslande hätte finden können, so dursten wir später nicht auf ihn in der deutschen Leimat rechnen, und wenn wir auch ihm hätten nachziehen wollen, wie traurig für uns und die Eltern I Wir haben es viel hin und her überlegt, ob wir in Watzum bauen sollten, denn in unserm Pfarrhause war nicht Platz für alle Geschwister oder vielmehr für den Spielraum unserer Tätigkeit, den wir bedurften — aber das Resultat war doch, daß wir Watzum fallen ließen aus verschiedenen Gründen, und wir glauben, daß unsere Wahl hier eine glückliche gewesen. Wir leben hier ganz ländlich, die Lage und Größe unseres Gartens gibt den Mädchen so viel Gelegenheit zu freier, ungestörter Bewegung, und die Nähe des Äolzes schützt vor Ostwind und gibt uns die gesundeste Lust und doch ist die Stadt nur 20 Minuten entfernt; es können von dort Mädchen, die sich zu Lehrerinnen und Kinderpflegerinnen ausbilden wollen, konrmen und somit liegt die Möglichkeit vor, meinen Lieblingswunsch zu bestiedigen, mit der Zeit eine Fortbildungsklasse für Er wachsene einzurichten. Wir sind schon öfter um Aufnahme von Tagesschülerinnen gebeten, aber wir haben es abgesagt, d. h. solche zu nehmen, die noch eigentliche Schulkinder sind. Karl und ich ergänzen uns so sehr, daß es ein großes Glück für uns ist, beieinanderbleiben zu können. Ich fürchte mich sehr, wenn Albertine uns verläßt, sie ist das ordnende und geistige Element im Ääuslichen; denn wahrlich, es ist nicht einerlei, wie eine Sache getan wird und, daß sie überhaupt geschieht, ist noch nicht das Ziel der Ausbildung im Läuslichen bei der Frau; es muß in jedem Augenblicke Geistiges und Sorge für das Materielle sich im innigsten Verein durchdringen. Ich bin Amsinck so unendlich dankbar, daß er uns Albertine diesen Winter noch läßt. Karl wird sich nun nächsten Äerbst oder später verheiraten, es hängt das von vielen Amständen, besonders von Baulichkeiten ab; seine Braut, unser liebes Luischen Mirow, ist augenblicklich in England, ich wünsche aber dringend, daß sie Albertinen bald ersetzt, wenn diese uns verläßt. Ledwig wird Ostern hierher kom men, sie lernt noch tüchtig den Laushalt in Watzum; leider ist sie in
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letzter Zeit leidend gewesen, wir fürchten, sie hat sich zu sehr angestrengt in der Schweiz; sie hatte sich ein Ziel gesetzt, das sie noch im Malen erreichen wollte, und da ich meine Abreise von Genf beschleunigen mußte, so arbeitete sie etwas unvernünftig, „blinder Eifer schadet nur". Sie hat wirklich einige sehr hübsche Landschaften in E>l nach der Natur geliefert, aber sie hat, wie gesagt, ihrenFleiß übertrieben, hoffentlich geht ihr Leiden ohne ernste Folgen vorüber. Obgleich es der Mutter unendlich schwer wird, sich von uns zu trennen, so war sie doch der Grund, weshalb wir uns mit unserm Amzuge beeilten; es liegt nun einmal nicht in ihrer Natur, andere für sie arbeiten zu lassen, und der große Äaushalt wurde ihr zuviel .
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Übersiedlung nach Wolfenbüttel und das Leben
in
Neu-Watzum. Plan, auf einem größeren Gute mit Schwager, Schwägerin und ^^Geschwistern vereint das Erziehungswerk im weiteren Amfange zu
unternehmen, erwies sich zur Zeit als unmöglich, aber Äenriette hatte kaum ihre Arbeit in Genf begonnen, als sie sich rasch für oder gegen den Ankauf eines zehn Morgen großen Grundstückes erklären mußte. Dieses Grundstück lag unter Marktgärten vor der Stadt Wolfenbüttel und von Braunschweig leicht erreichbar; es war im Norden und im Osten durch Lochwald geschützt. Die nächsten Nachbarn waren lauter GärLnerfamilien, welche durch intensive Kultur ihres eigenen Bodens ihr Leben bestritten. Durch den Opfermut der Eltern Breymann wurde der Kauf des Grundstücks im April 1864 vollzogen, und die beteiligten Geschwister einigten sich, um tapfer neue Schulden auf sich zu nehmen, indem sie ein auf dem Grundstück befindliches Gärtnerwirtshaus für ihre Zwecke umbauen ließen. Durch das freundschaftliche Interesse eines Familienfreundes, welcher die Bauausführungen beaufsichtigte, konnte man gleich die Arbeiten am Lause in Angriff nehmen; man hoffte bis zum 1. Oktober d. I. die Erziehungsanstalt in ihrem neuen Leim zu sehen; durch einen Landtwerkerstreik trat eine kleine Verzögerung ein, und die Pension siedelte ttn der Tat erst Mitte Oktober über in das neue Laus. Den ganzen SomMer hindurch gab es viel zu tun; die Geschwister Anna, Karl, Marie und Albertine waren mit der Leitung und dem Unterrichte der jungen Mädchen im Pfarrhause beschäftigt und machten abwechselnd in freien Stunden Ausflüge nach Wolfenbüttel, um mit dem Familien freunde, Lerrn Lollnrann, die Pläne für die baulichen Veränderungen zu bestimmen, die inneren Einrichtungen an Ort und Stelle zu überlegen. Sie ersehnten Lenriettens Rückkehr, sie glaubten, ihren raschen Überblick und ihre Tatkraft in diesem Augenblicke schwerlich entbehren zu können. So kehrte Lenriette Ende Juli mit der jüngsten Schwester Ledwig, 16 Lyschinska, Henriette Lchrader l.
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welche zu ihrer Ausbildung mehr als zwei Jahre in der Schweiz ge weilt, in die Äeimat zurück. Lenriette ergriff ihre neue Aufgabe mit gewohnter freudiger Tat kraft, war doch für sie die lange Wartezeit vorbei. Sehr bald siedelte sie in das noch unfertige Laus über, zuerst ganz allein; später gesellte sich Anna zu ihr. Die Schwestern ließen zwei Räume notdürftig in dem großen Lause Herstellen; dort besorgten sie den eigenen Laushalt, denn für ein Dienstnrädchen war kein Platz. Lenriette besprach unter Schutt und Staub Farben und Muster der Tapeten und Decken mit den Landwerkern, empfing Besuche von Freunden und Eltern der Zöglinge; es war eine emsig geschäftige, hoffnungsfrohe Zeit. Eine Freundin, da mals erwachsene Schülerin von Lenriette, gibt uns ein Augenblicksbild von ihr in dieser Übergangszeit in Neu-Watzum, sie erzählt: „Bei mei
nem ersten Besuch bei ihr fand ich sie mit einer großen Schüssel Bohnen schnitzelnd zum Einmachen. Auf der Fensterbank lag neben ihr Fröbels „Menschenerziehung", und sie las mir einige Sätze daraus vor, an die sie eine längere Anterhaltung anknüpfte." Mit gleicher Liebe umfaßte Lenriette damals schon das Kleine und das Große, das Alltägliche und das Erhabene als notwendig zusammen hängende Seiten eines vollen, reichen Menschenlebens. Wohl konnte sie ihrem Vater von Neu-Watzum aus versichern, sie „fairge klein an" und „arbeite von unten herauf". Dabei fühlte sie sich glücklich, über das Läusliche disponieren zu können. Selbst ihr Geburtstag wurde in dem unfertigen Lause mit allerlei Arbeit zugebracht; nur die Mutter und der Bruder Karl besuchten sie und brachten viele, viele Briefe mit und eine Flasche Angarwein von dem Vater, damit sie sich stärke, außerdem noch die Aussicht auf ein halbes Schwein für den neuen Laushalt! Anter Planen, Schaffen und Wirken wurde an dem Lause das Notwendigste fertig, als die Pension am 15. Oktober 1864 in das Laus Neu-Watzum einzog. Auf dem Breymannschen Besitztum standen noch Lauben, in welchen der frühere Besitzer, ein Gastwirt, seine Kunden zu bewirten pflegte; unter den veränderten Verhältnissen wurde in dem ersten Sommer öfter eine französische oder englische Konversationsstunde in der Laube durch die Stimme eines durstigen Fuhrmanns unter brochen, der seinen Schoppen Bier in der Laube ebenfalls zu genießen gedachte; gegenseitiges Erstaunen löste sich bei der Jugend bald in ein schallendes Gelächter auf, während der unerwartete Besuch schleunigst den Rückzug antrat.
Übersiedlung nach Wolfenbüttel und das Leben in Neu-Watzum. 243
Durch folgende Anzeige in mehreren Zeitungen wurde die Ver legung der Anstalt bekanntgemacht: „Das seit zehn Jahren bestehende Mädcheninstitut zu Watzum, Lerzogtum Braunschweig, wird Michaelis 1864 in die Nähe von Wolfenbüttel verlegt und damit zugleich ein Kindergarten und eine Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen verbun den. Nähere Auskunft über die Anstalt erteilen: Minister Schulz in Braunschweig, Abt Äille-Wolfenbüttel, Reg.-Rat Lagemann-Lannover, Konsistorialrat Äirsche-Äamburg, Pastor Sydow-Berlin, Schulrat Äoffmann-Berlin, Dr. jur. Scherell-Leipzig, pasteur Fer nere-Geneve usw."
Die Breymannsche Erziehungsanstalt gliederte sich in drei Abtei lungen außer dem Kindergarten und einer Elementarklasse: Die zweite Abteilung umfaßte Mädchen im Alter von 12 bis 14 Jahren. Die erste Abteilung im Alter von 14 bis 16 oder 17 Jahren. An drese beiden Stufen schloß sich die Fortbildungsklasse für erwachsene Mädchen, die sich im allgemeinen oder besonderen auf ihren Beruf als Erzieherin nen, Lehrerinnen resp. Kindergärtnerinnen vorbereiten wollten.
Gelehrt wurden alle Fächer, die zur Ausbildung von Töchtern der gebildeten Stände erforderlich waren. In der Fortbildungsklasse wurde gelehrt: Lehre von dem Körper- und Geistesleben des Menschen. Gesundheitspflege.
Geschichte der Pädagogik.
Allgemeine Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf die Fröbelsche Erziehungslehre. Privatstunden wurden den verschiedenen Schülerinnen aufWunsch erteilt in Musik und Kompositionslehre, im Singen, Zeichnen, Malen, Italienisch und in verschiedenen Landarbeiten, auch im Pappen. Der Lehrplan war so geordnet, daß die Schülerinnen der ersten Ab teilung in einigen Fächern am Unterrichte der zweiten Abteilung teil nehmen konnten, wenn die nötige Reife nicht vorhanden war. Ebenso traten die Schülerinnen der Fortbildungsklasse in die erste Abteilung der Pension, wenn in der eigentlichen Schulbildung noch Lücken auszustllen waren. Der Kindergarten und die Elementarklasse waren das eigentliche Äbungsfeld der angehenden Lehrerinnen und Erzieherinnen oder für
solche, die als Kinderpflegerinnen tätig sein wollten. Mit den Lehr16*
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Kapitel 16:
stunden wechselten häusliche Beschäftigungen, Gartenarbeit, Spazier gänge, Spiel- und Turnübungen, auch wurden verschiedene Abende der Geselligkeit gewidmet. Das ganze Zusammenleben von Schülerinnen, Vorsteher und Vor steherinnen sollte einer erweiterten Familie gleichen, und der Kreis der Zöglinge sollte kein so großer werden, daß nicht jede Individualität volle Beachtung fände. Als der Kreis sich dennoch wider Erwarten sehr ver größerte, wurden die Schülerinnen in mehrere kleine Kreise unter jedes maliger besonderer Leitung eingeteilt. Leitende Persönlichkeiten der Anstalt zu der Zeit waren: Karl Breymann, dessen Frau Luise Breymann geb. Mirow und dessen Schwestern: Äenriette, Anna und Marie Breymann. Außerdem er teilten noch Unterricht: Eine Engländerin, eine Französin sowie ver schiedene tüchtige Lehrer Wolfenbüttels und Braunschweigs. Aus dem obigen Plan ersieht man den Amsang der Anstalt, inner halb welcher zwei überall noch fehlende Glieder in dem weiblichen Bil dungswesen ausgenommen wurden und nun weiter ausgebildet werden sollten, nämlich der Anfang im Kindergarten und der Schlußstein in der Fortbildungsklasse. Im Keime waren beide schon im Pfarrhause vorhanden, und nun hoffte Lenriette endlich fteien Spielraum zu ge winnen und Fröbelsche Grundsätze mit Äilse tüchtiger, strebsamer Lehr kräfte als Grundlage der weiblichen Erziehung machen zu können. Durch des Vaters Beziehungen und der Töchter erziehlichen Ruf war das Unternehmen der Familie Breymann bei den: Konsistorium (der obersten Behörde für Kirche und Schule) sehr gut angesehen und wurde äußerlich gefördert, obgleich das Institut keine Pflanzstätte einerstarren, kirchlichen Partei war. Die hohe Geistlichkeit jenes glücklichen Landes war ebenso der Muckerei wie der religiösen Schwärmerei ab geneigt und huldigte einer milden Duldsamkeit, welche mit seinen Mit menschen in Frieden leben wollte; ebenso war der Geist der Verwaltung im braunschweigischen Lande damals durchaus tolerant. Eine Privaterziehungsanstalt trug damals ihre Existenzberechti gung in sich selbst und konnte auch ohne staatliche Beglaubigung gute Früchte tragen. An eine staatliche Abstempelung der Lehrerin hatte man noch nicht in diesem Lande gedacht, als LenrietteBreymann durch ihrBeispiel und durch ihre schriftstellerische Täügkeit darauf hingewiesen hatte. Sie selbst hatte durch den mühsamen Weg der Empirie sich eine Fachbildung erworben und die Mißgriffe, das Tasten nach dem Rechten
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in der Erziehung wollte sie jüngeren Kräften ersparen, wenigstens die
Lernzeit verMrzen. Wolfenbüttel war damals vorwiegend eine Beamtenstadt und in dem Übermaß an Bildung lag fast eine Gefahr; denn für dieses erhöhte Können gab es keine entsprechenden öffentlichen Aufgaben; namentlich bei den Frauen wohlhabender Familien muß es trostlos ausgesehen haben, wenn sie nicht durch Mann, Laus und Kinder ausreichende Beschäftigung fanden; die herrlichsten Gaben lagen brach oder ver kümmerten durch die Enge des Spielraumes ihrer Betätigung. Während des ersten Jahres ihres Wolfenbüttler Aufenthaltes streifte Lenriette lieber mit der Jugend durch Feld und Wald, lehrte und ordnete in ihrem eigenen Lause, als daß sie neue Bekanntschaften in der Stadt machte; oft flüchtete sie nach dem alten Pfarrhause, um sich von der Mutter pflegen zu lassen, während die jüngeren Geschwister die Pflichten der Geselligkeit auf sich nahmen. Aus ihrem Widerwillen zog sie den Schluß, sie habe überhaupt kein Talent zur Geselligkeit, ihr fehle die Leichtbeweglichkeit des Geistes sowie die Kleinmünze der Kon versation. Es scheint bei ihr eine Übermüdung eingetreten zu sein nach den Anstrengungen der Übersiedlung, und so verlief derWinter 1864/65, der Arbeit sowie den freudigen wie traurigen Ereignissen des häuslichen Kreises gewidmet. Zunächst war es ein freudiges Fest, die Einweihung des Lauses „Neu-Watzum" am 10. Januar 1865, welches die ganze Familie Brey mann sowie den Verwandten- und Freundeskreis in den neuen Räumen vereinte. Wie heiter und innig Lenriette die „Weihe" für sich in An spruch nahm, hat sie in einem „Pensionsbriefe", welcher an die ab wesenden Schülerinnen gerichtet war, auf das anschaulichste dargestellt. Rasch nacheinander folgten während des Sommers 1865 die Loch zeit des Bruders und die der Schwester Albertine; die neue Schwester zog in Neu-Watzum ein, die andere schied aus, um dem Gatten, P. W. Amsinck nach Ostpreußen zu folgen. An allen diesen Familienereignissen nahmen die Schülerinnen durch festlich schöne Veranstaltungen freudi gen Anteil. Kaum hatten die langen Sommerferien begonnen, da nahte der Todesengel und gab dem neuen Lause eine neue, tiefernste Weihe. Ein blühendes junges Leben wurde dahingerafft und Lenriette und Anna hatten die traurige Genugtuung, im Verein mit den Eltern der lieben jungen Schülerin die letzten Liebesdienste erweisen zu können. Der Tod dieses jungen Mädchens, das Wiedersehen der einziehenden
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Kapitel 14:
Jugend nach den Ferien erschütterten Äenriette im Inuersten. Aber auch die Trauer wirkt veredelnd, wenn sie gemeinsam getragen wird. Noch lange nachher herrschte ein friedfertiger Ton unter den jungen Mädchen, und in der Dämmerstunde erinnerte man sich oft derWesenseigentümlichkeiten, der liebenswürdigen Eigenschaften der entschlafenen Pensionsgefährtin, und man schrieb ihr letztes Gedicht (es war eine Auf gabe für die Metrikstunde) ins Album. Wie sehr der wissenschaftliche Unterricht dnrch das Eintreten des ältesten Bruders mit seiner jungeu Frau gehoben wurde, machte sich geltend; ebenso wurde die künstlerische Ausbildung der Jugend durch Hinzuziehung namhafter Kräfte aus den nahen Städten sehr erleichtert. Auf diese Seite der Erziehung legten die Mitglieder der Breymannschen Familie, wie wir wissen, großen Wert, insoweit sie das innere Auge öffnete für die Schönheit der Welt, für die Larmonie der Töne und Farben und die Glieder geschickt machte, das alltägliche Leben freudig zu verklären. Jedes Pensionsfest wurde unter Beteiligung der Jugend vorbereitet, im Laus und Garten wurde emsig dafür gearbeitet, die Auf führung eines Reigens, das Stellen lebender Bilder, die Aufführung eines Theaterstücks in der eigenen und in fremder Sprache mnßten so weit geübt werden, daß für die Ausübenden ein wirklicher Gewinn hervorging, für den Zuschauer ein wohltuender Eindruck zurückblieb. Der Sonntagnachmittag gestaltete sich mit der Zeit zu einem Empfangstage, an welchem oft zahlreiche Besuche von nah und fern sich einfanden, im Sommer im Garten auf und ab wandelten oder in der Lindenlaube zu einer Tasse Tee oder Kaffee sich einfanden. Im Winter wurden die Flügeltüren des Mittelzimmers geöffnet und ge währten den fremden Äerren und Damen einen heiteren Anblick der sonntäglich geputzten Jugend in den Lehrzimmern, welche, wohnstuben mäßig arrangiert, sich an den Salon anschloffen und die Flucht der Empfangsräume sehr vergrößerten. Bei solchen Gelegenheiten mußten die jungen Mädchen, deren „Amt" es war, auch für die Bewirtung und Anterhaltung der Gäste mit sorgen und übten sich in geselligen Formen der Löslichkeit. Ja, einmal tat Lenriette einen Schritt, der manchen ängstlichen Angehörigen gewagt erschien. An zwei Nachmittagen verwandelte sie die ganze Mädchenpension in einen offenen „Jahrmarkt", zu welchem das große, gemischte Publikum Braunschweigs und Wolfenbüttels gegen Eintrittsgeld Zugang hatte; das Experiment ist harmlos verlaufen. Die
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Veranlassung dazu war ein schweres öffentliches Unglücks eine weit verbreitete Äungersnot in Ostpreußen, worüber Breymanns durch ihre Familienbeziehungen die zuverlässigsten Nachrrchten bekamen. Das Elend war groß, und es entstand der brennende Wunsch, die große Not durch eine namhafte Summe zu lindern. Damals waren wohl Bazare zu wohltätigen Zweckerr seltener, denn die Einwohner Braun schweigs und Wolfenbüttels erschienen in gedrängten Scharen und ließen eine nennenswerte Summe zurück. Mit Jubel zählten die Kassie rerinnen alles zusammen und übergaben Breymanns das Geld zur Beförderung nachRastenburg in Ostpreußen, wo ein Hilfskomitee sich gebildet hatte. Im Laufe einiger Wochen lauschte die versammelte Pen sion mit stiller Freude einer vorgelesenen Danksagung, worin auch Ein zelheiten über die Verwendung der gesandten Summe mitgeteilt wur den. Äunderte von Länden waren beschäfügt gewesen, um das erfreu liche Resultat zu erzielen, die Jugend hatte ihren geistigen Lorizont erweitert, ihr Lerz war angeregt durch das tätige Mitleid für andere; nur die Sittenpolizei war müßig geblieben, obgleich das Laus dem zahlenden Publikum geöffnet war, und Scharen von Damen und Lerren, Offizieren und Gymnasiasten durch die Räume gezogen waren. Anter fünfzig jungen Mädchen aus verschiedenen Familien gab es auch schlecht erzogene, gewiß auch niedrig gesinnte Elemente; diese wurden zurückgedrängt, indem Lenriette in ihren ältesten Schülerinnen der Erzieherinnenklasse einen Stamm bildete, welcher einen höheren Ton ver breitete; durch Breymanns Beispiel und Unterricht bekam die weibliche Jugend eine Ahnung von der Würde des weiblichen Geschlechts und ihrer großen Macht zur Lebung der Geselligkeit. Dabei war Lenriette nicht kleinlich in der Beurteilung einer jugendlichen Unbedachtsamkeit. Nach dem Bazar hieß es, es mache ein Offizier seinen Paraderitt vor den Fenstern einer der Pensionärinnen; dieses Ereignis benutzte Lenriette eines Tages als humoristisches Tischgespräch, worauf ein schallen des Gelächter ausbrach, und der kühne Reiter verlor die Lust, als Ziel scheibe einer lachenden Schar junger Mädchen zu dienen. Durch die Geburt des ersten Kindes in Neu-Watzum in der Fa milie des Bruders Karl war die ganze Famrlie in freudige Mitleiden schaft gezogen; zu der Freude gesellte sich die ernste Sorge um die Mut ter des Kindes, und so wurde eine lang geplante Reise Lenriettens nach Schottland und England um einige Wochen verzögert. Von dieser Reise kehrte Lenriette mit weit größerem Bewußtsein
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Kapitel 14.
ihres Deutschtums in die Lermat zurück. Sollte es nicht gerade eine Folge ihrer stark entwickelten deutschen Weiblichkeit sein, daß sie sich so leicht in das Wesen einer anderen Nationalität hineinversehen konnte? Sie hatte jedenfalls ein außergewöhnliches Talent, ihren britischen Zög lingen den Aufenthalt in Deutschland gewinnbringend zu gestalten. Selbstverständlich verfiel sie nicht in einen Fehler, welcher damals in deutscher Geselligkeit viel verbreitet war, sie ahmte das Fremdländische in Sitten und Gebräuchen nicht nach, sie bewunderte das Ausländische nicht, weil es fremdländisch war. Nichts lag Äenrietten ferner als das. Jede Pensionärin britischer Nation z. B. wußte sofort, daß sie sich in den Rahmen feineren deutsch-bürgerlichen Lebens einzufügen hatte (mit Ausnahme der Sonntagsfeier), wenn sie in Neu-Watzum bleiben wollte. So mußte sie heroisch Roggenbrot essen und Milchkaffee ohne Zucker trinken; sie mußte manche häusliche Arbeit, welche nach ihren bisherigen Anschauungen nur Dienstboten zukäme, verrichten, und ihr britischer Stolz fühlte sich verletzt, wenn sie den Besen in die Land nehmen sollte. Aber Lenriette war in diesen Dingen unerbittlich, und wie oft geschah es, daß gerade die, welche sich vielleicht ernstlich überlegt hatten, ob sie nicht lieber abreisen sollten als sich Lenriettens Anordnungen zu fügen, nachher die eifrigsten wurden bei häuslichen Beschäftigungen. Kaum war die Anstalt zwei Jahre in Wolfenbüttel, als ein neuer Anbau geplant werden mußte, welcher auch im Jahre 1868 ferüggestellt wurde. Obgleich das ein erfreuliches Zeichen war für das wachsende Zu trauen der Eltern zu der Erziehungsanstalt und Lenriettens Loffnungen nach mancher Seite hin in Erfüllung zu gehen schienen, rückten doch einige Jahre schwerer Prüfung für sie heran. Im November 1866 starb der Vater und damit löste sich das schöne Band mit dem traulichen Pfarrhause in Watzum. Die Mutter übersiedelte mit der jüngsten Toch ter nach Wolfenbüttel, wo in der Nähe des Instituts ein Laus für sie bereitstand. Mariens Tod erfolgte im Jahre 1867 und Ledwig starb nach langem Leiden im Jahre 1869. Mögen jetzt einige Briefe folgen, welche die heitere, ftiedliche Zeit ihres Wirkens in Neu-Watzum schildern.
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Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868. Äenriette Breymann an Frau M. Köckert, Genf. Neu-Watzum (September?) 1864. .... Wir mußten endlich selbständig werden; aber, da wir nun um zwei Dinge kämpfen müssen, ums tägliche Brot und um Vor urteilen entgegenzutreten und die Frau innerlich frei zu machen, so wird die Arbeit eine doppelte .... Ich fange mit Gott an, ic^h will mich für meine Person beschränken, ich will auch vorsichtig in bezug auf Form und Schein sein; aber die eigentliche Idee, welche mich belebt, soll mir die Welt nicht verkrüppeln. Ich will lieber arm sein, als ein Stück von ihr verschachern. Meine ganze Sorge ist jetzt, unser Laus so zu organisieren, daß, im Fall wir nicht Glück haben, der Verkauf alles bezahlt, damit wir niemand betrügen. Sie können sich denken, daß es eine schwere.Arbeit für mich ist, so das Materielle zu bedenken, aber Gott wird mir helfen. Unser Programm ist dem einen zu hoch, dem andern nicht spezifisch dogmatisch genug; dem dritten fehlt das Pfarrhaus, dem vierten die alten, erfahrenen Eltern; man tadelt uns, daß wir fie verlassen — und, wenn der Vater heute stürbe, so würden dieselben Leute uns töricht schelten, daß wir nicht eher an eine festere Stellung gedacht. Es gehört viel Kraft dazu, ohne größere materielle Mittel geistig selbständig ins Leben zu treten. Man beleidigt die Leute, wenn man andere Ideen hat als die, in denen fie aufgewachsen sind. Doch genug davon; ich habe manche Sorgen, aber ich will fie mit Mut tragen
Lenriette an ihre früheren Pensionskinder.
Neu-Watzum, 20.November 1864. Welch ein stiller, behaglicher Sonntag I Karl und Marie machen Besuche, ich kann mich noch gar nicht entschließen, aus meiner Klause
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Kapitel 15:
in die Welt zu treten. Albertine ist nach Wahum, die Mutter zu holen, welche Montag mittag kommen wird; mir geht es wie einem kleinen Kinde, ich habe gezählt, wie oft mal ich noch schlafen muß, bis die Mutter kommt; in meinem Schlafzimmer steht ein Bett für sie. In den Stuben hintereinander brennt jetzt ein behagliches Feuer, die Türen stehen offen, Lieschen Sch., die nicht wohl war, liegt auf dem Sofa im Mittelzirümer, ich schreibe an meinem Hübschell Pulte; im großen Lehrzimmer sitzen die Mädchen und plaudern. Wir hatten eine so schöne Predigt von Karl heute morgen, denrr wir gehen des weiten Weges halber nur zuweilen zur Stadt, zur Kirche. Karl hält Gottesdienst, ein Larmonium ersetzt die Orgel. Das Thema von Karls Predigt war: „Ein Tag aus Jesu Leben." Nach der An dacht wurde im schönsten Sonnenschein ein zweistündiger Spaziergang gemacht in die liebliche Umgebung unseres Laufes, dann zu Mittag gegessen und nun naht die Dämmerstunde; wir sind recht, recht glücklich, möge Gott uns unser Glück erhalten und entwickeln. Am 22. Gestern ist die liebe, liebe Mutter gekommen, nun fehlt mir llichts mehr zu meinem Glück. Sie traf es gerade sehr unruhig, denn die jungen Mädchen waren mit ihrer Toilette beschäftigt, da sie in ein Konzert gingen, welches der Gustav-Adolf-Verein gab; Anna Vor werk und ein Lerr Lohnstock spielten, Pauline Schütte sang und der Gesangverein trug etwas vor. Warum ich gegen das Einführen junger Mädchen in die Welt vor dem 17. und 18. Jahre bin? Einmal steht das große gesellige Leben im allgemeinen auf einer niedrigen Stufe, es sind nur eitle oder sinnliche Freuden dort zu haben, und ein junges Mädchen verliert nichts, wenn sie dasselbe nicht so früh kennenlernt, und zweitens hat sie ihre Zeit so nötig, um so recht fest zu wurzeln in den reinen Freuden des Lebens, die das Laus bietet, um körperlich und geistig zu lernen, sich zu bilden wie eine Blume im stillen Wald; so ein einfaches, ernstes, gesundes Leben hat auch seine Freudentage, aber es hat nicht diese zerstreuende, zerstückende Lust; es bildet die wahre Weiblichkeit in Anschuld und Naturftische heran, und wenn das junge Mädchen dann in die Welt tritt, (denn sie soll und muß auch sie kennenlernen), dann hat es einen Punkt in sich gefunden und läßt sich nicht so leicht von dem Geschwätz berücken, von äußerem Flitter blenden, und es wird mit sicherem, inneren Takt die reinen Blumen unter dem Ankraut finden und mit harmloser Fröh lichkeit pflücken. Wenn es die Männer auch sind, die die Wissenschaft
-machen, so soll sie die Frau verstehen, und wie ganz anders wird das gesellige Leben werden, wenn der Mann es erst für der Mühe wert hält, der Frau sein Bestes anzubieten. Natürlich kann man nicht im heiligen Ernste reden, es hat auch der Scherz, die leichte Anterhaltung, der Shv stnn sein Recht; aber wie ganz anders würde auch diese Seite des Lebens erscheinen, wenn Kinder ernst arbeiteten und lernten, ehe sie sich pro duzierten? Welch ein feiner Geist würde auch durch die leichte AnterHaltung ziehen und welcher schöne, sittliche Äalt würde durch die feinste Bewegung schimmern, wenn der Mann in dem Mädchen nicht mehr ein Wesen sieht, das nur durch ihn eine Stellung in der Welt erlangt, durch ihn eigentlich ein Mensch wird. Es ist in meinen Augen eine An sittlichkeit, wenn man als einzig wahres Ziel für die Frau die Ehe auf stellt; sie ist einziger Lebenszweck sowenig für die Frau wie für den Mann. Ihr Lebensziel ist die Entfaltung der von Gott verliehenen Kräfte durch ernste Arbeit; aber die wahre Ehe ist der schönste Durch gangspunkt zu diesem Ziele, und es empfindet mein Äerz die süßeste Freude, wenn es erfährt, daß die eine oder die andere von Euch des Glückes teilhastig wird, diesen einzig schönen Durchgangspunkt zu neuer Entfaltung zu finden. Aber das Glück wird entweiht, wenn es unruhig verlangt wird, es soll still kommen und sich finden wie ein Geschenk des Äimmels. Gewiß genießt der Mensch nur in der Ehe so den ganzen Zauber rnenschtichen Glücks, d. h. in einer Ehe, die zum Ziel hat die Wiedergeburt der Familie in wahrhaft christlichern Geiste, aber ohne dieses Glück kann man auch zufrieden sein; ja, mehr als das, man kann Frieden haben, nur muß man arbeiten, muß eine Stelle ausfüllen tm Leben, die eine Lücke zeigt, wenn wir scheiden. Auch das Glück der Liebe, wenn es wahr sein soll, geht durch einen ernsten Läuterungs prozeß. Wohl sind die Ansprüche des Lerzens und des Geistes ver schieden, und es kann eine nie ganz in der Seele der andern urteilen; ich für mein Teil ziehe ein Leben, wie ich es führe, der Äeirat vor, da es mir nicht einen Mann gegeben, der mich fördert in meinen Be strebungen, an der Bildung des weiblichen Geschlechts zu arbeiten. Jeder muß sich in dem Kreise bewegen, den Gott uns durch unsere Geistesdisposition angewiesen hat. Ich gestehe es ganz offen, daß es Stunden gab, in denen ich zweifelte, ob ich recht getan, mich nicht zu verheiraten, da ich es wohl in meiner Land hatte; aber ich danke so von Äerzen Gott, daß es so kam und nicht anders; denn, wie meine Natur ist, so wäre ich unglücklich geworden, wenn die Ehe mich ge-
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hindert hätte, einer erzieherischen Wirksamkeit mich zu widmen, und nur dann hätte ich vielleicht ein noch höheres Glück genossen als jetzt, wenn ich einen Mann gefunden, der mich gefördert in der Realisation meiner Ideen. Das ist nun eben meineNatur; andere sind anders und müssen anders sein, niemand soll sich in die Individualität des andern hinein-zwängen, aber jeder suche das, was er von Gott gemacht ist, ganz zu werden. So wie man aus einem Veilchen keine Rosen ziehen, aber jedes in seiner Weise entwickeln soll. Es gibt einen schönen Ausspruch von Schiller: „Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Löchstenl Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich." Was macht den Zauber der Natur aus? Die wunderbare Vereinigung der Kon traste, so sollen wir im Menschenleben Vergißmeinnicht und Lilie fried lich nebeneinander blühen lassen und nicht streiten über den Vorzug der einen über den andern; es verdränge niemand den Nächsten, sondern erkenne sein Wesen in sich, was immer Berechtigung hat, in welcher Form es erscheine, sobald es nicht gegen Gottes Gesetz verstößt. 3.Dezember.MeinBriefreistumeinige Tagespäter ab,wir haben angefangen, Visiten zu machen, und das nimmt alle meine freie Zeit. Es ist das erstemal, daß ich solche Besuche mache in meinem Leben und eine große Qual für mich, wie alles, was nur eine Form ist. Man spricht die Phrasen schließlich so mechanisch hin, jeder sagt und jeder fragt dasselbe, und doch sind diese Formalitäten notwendig, ich selbst liebe die gesellige Form, denn die feine Sitte schützt uns vor grober Berührung, in dieser Beziehung bin ich ganz aristokratisch gesinnt und sinde, daß wir viel von den Aristokraten lernen können. So sehr ich einen geselligen trouble hasse, ebensosehr sehe ich ein, daß man sich nicht ganz von der Welt abschließen soll, man wird sonst einseitig und verliert den Maßstab für das eigene Wesen, die eigenen Ideen, und ich hoffe auch, daß aus der Menge der Bekanntschaften, die wir jetzt machen, ein engerer Kreis von Freunden sich bildet, wenigstens von solchen Men schen, mit denen man einmal Gedanken um Gedanken tauschen, von denen man lernen kann; es gibt hier in Wolfenbüttel wirklich manch schöne geistige und wissenschaftliche Kraft, wie schade, daß wenig Zu sammenwirkung stattfindet. 9. Dezember. Leute soll mein Bries seine Reise antreten. Wir haben dieses Jahr eine doppelte Weihnachtsfteude, wir kommen alle zusammen, auch sechs bis sieben Pensionärinnen, die nicht fortreisen, gehen mit dorthin; die Mutter macht jetzt schon Vorbereitungen und
ist glücklich darin. Neulich hatten wir ein einfaches, aber schönes Fami lienfest, Karls Geburtstag. Die jungen Mädchen hatten ihn ausgekundschastet auf seinem Kinderlöffel, den er von einem Paten bekommen. Leimlich hatten sie schöne Bilder aus dem Nibelungenliede von Schnorr besorgt, Moos- und Epheukränze gewunden und alles zu den Gaben gelegt, die wir Geschwister ihrn überreichten. Als wir ihn aus seiner Wohnung gegenüber kommen sahen, ging dieMutter ihm entgegen, um ihn in das Wohnzimmer zu führen, wo die Festtagslichter brannten, während er sonst immer seine Schritte in das Schulzimmer lenkte, um die Morgenandacht zu halten, mit der wir immer unser Tagewerk be ginnen. Sowie Karl den Fuß ins Zimmer setzte, ertönte mit Begleitung unseres schönen Larmoniums, das so feierlich wie Orgelton klingt, der Choral: „Befiehl dem Lerrn deine Wege." Es war das alles so einfach, doch fühlten sich alle ergriffen. Wunderbarerweise hatte Karl diesen Ge sang auch heute gewählt, und seine Vorlesung aus dem herrlichen Psalm Davids, Psalm 37, paßte so ganz zu der Feier. Mittags kamen un verhofft: Vater, Anna, Ledwig aus Watzum, so waren wir alle bei sammen. Jetzt wird vorbereitet auf das Einweihungssest, welches Anfang des neuen Jahres stattfinden soll, weil erst dann Turnhalle und Kinder garten und verschiedene andere Räumlichkeiten benutzbar sein werden, und weil wir auch im Anfang unseres Lierseins noch zu sehr im Staube zu wühlen hatten, um in der Stimmung zu sein, an ein Fest zu denken. ..... Roch muß ich erzählen, daß ich die vielbesprochene Carlotta Patti gehört habe sie würde eines der ersten Genies der komi schen Oper sein, wenn sie nicht hinkte und in derselben austreten könnte; ich bin entzückt über ihr Lachelied. Die komische Oper ist wenig verstan den und gekannt bei uns, die Patti macht den ungeheuern Mißgriff, daß sie Sachen singt, die nur in das Theater gehören, die nur mit Spiel verbunden sein müssen, die aber im Konzertsaal kalt lassen und nur wie Kunststücke erscheinen, während sie auf der Bühne bezaubern würden. V. leistet Tüchtiges, aber bei ihm stört die Arroganz den Kunstgenuß; der einzige, der zum Lerzen spricht, ist St. Das ist das Ergebnis des Eindrucks, den ich erhalten. Nun adieu, schreibt bald einmal
Eurer
Lenriette.
Lenriette Breymann an Frau M. Köckert in Genf. Neu-Watzum, 22.November 1864. Meine Fröbelstunden machen mir hier sehr viel Freude, ich habe nur 5 bis 7 Schülerinnen, es muß nun hier langsam wachsen, und ich tue nichts nach außen zur Vergrößerung; das kommt von selbst Wir sind überhaupt sehr nnt dem Anfänge zufrieden, wir haben genug Pensionärinnen, und wenn wir nur ohne Schulden durch die Welt kommen, nach und nach unsere Anstalt heben, aber keine Schätze sammeln wollen, so haben wir für den Anfang alles, was wir erwarten können, und wir haben Vertrauen zur Zukunft. Warum können Sie nun nicht bei uns sein? Es würde der Verkehr mit Ihnen mein sülles Glück zur schönsten Blume nach mancher Seite hin entfalten. Ich schwelge jetzt in der Seligkeit, eine so herrliche Mutter zu haben, ihr Liersein ist Sonnenschein und Seligkeit für mich Meine Schwester Marie ist von Laus aus eine ursprüngliche, reine Natur, die sich auch bewährt und durchgebildet hat. Ein heiliges Sein und eine natürliche Geschicklichkeit, mit Kindern zu verkehren, wuchsen ungetrennt voneinander in ihr auf; sie ist eine merkwürdige Natur, so frei von Verlangen nach Anerkennung, so unbekümmert von den äußeren Folgen ihres handelns, so ohne allen Egoismus Da mich die Welt verzogen, mir geschmeichelt hatte, so erzog mich Gott; tiefes, entsetzlich tiefes Weh hat zuerst den Stolz meines Wesens auf die Spitze getrieben, denn ich wollte kein Mitleiden von der Welt . . . aber nach und nach zog sich alles füll in sich selbst zurück, und ich bin frei geworden .... ich finde meinen Frieden in der Konzentration meiner Kräfte für ein Ziel, einen Zweck: Erhebung der Frau. Ob mein Wirken vor der Welt groß oder klein, es gilt mir gleich; wer einmal in die Tiefe geschaut und erfahren, wie die Fäden fich da weben, der wird gleichgültig für die Ehre und einen Namen und versteht, daß die Be griffe von „groß" und „klein" im Wirken eigentlich nur für unentwickelte Seelen existieren.
Äenriette Breymann an Frau M. Köckert in Genf.
Neu-Watzum. 16. Dezember 1864. Gestern abend habe ich die sehnlichst erwartete Nachricht erhalten, meine Geliebte, daß Sie einer neuen, lieben „Menschheitsknospe", wie Fröbel ein Kind nennt, das Leben gegeben haben, und daß Kind und
Mutter wohl sind. Mein Äerz ist so voll für Sie und die kleine, teure Seele, daß ich es in Worten nicht sagen kann. O, möchte das Kind in ernster Arbeit die Larmonie des Lebens finden und sich friedlich seiner höchsten Bestimmung entgegen entwickeln. Ich liebe Ihr Kind so zärtlich, als wenn es mir mitgehörte. Möchte es uns vergönnt sein, wenigstens für eine Zeit einmal gemeinsam über dasselbe zu wachen. Ich kehrte so gern später einmal nach Genf zurück, denn nach Paris ist sie doch die interessanteste Stadt [bie ich kennet, und das geistig be wegte Leben, welches sie bietet, hat seinen schönsten Reiz für mich in unserer Liebe. Ich habe oft gewünscht, ich wäre in der Schweiz geboren, mit meiner Familie, und unabhängig dort zu leben, wäre ein großes Glück für mich. Für immer kann ich nicht scheiden von meinen Lieben und meiner Kreimat; ich bin einmal zu fest mit allen verwachsen, und daß Sie auf immer in unsere Nähe kommen, darf man nicht wünschen. So wollen wir genügsam sein, teuere Seele, und wie fern wir auch von einander sind. Sie fühlen meinen Äändedruck, meinen Kuß, meine Trä nen der Rührullg, die ich nicht zurückdrängen kann, wenn ich an Sie und das Kind denke. Ein neuer Faden ist nun angesponnen zu einem neuen Gewebe, das wir Charakter, Menschenschicksal nennen, und wer gelebt, geliebt, gelitten, gerungen und zum Teil errungen hat wie ich, der weiß, was es bedeutet: Das Schicksal eines Menschen! Was sagen Bubi und Emma? Äenriette an ihre früheren Pensionskinder. Neu-Wah um. W olfenbüttel, 19. Januar 1865. Welche schöne Zeit liegt hinter uns, und mit welch neuer Frische und Lust stehen wir nun wieder in dem Ernst der Arbeit, ja, wie unser physisches Leben vom Ein- und Ausatmen, vom richtigen Stoffwechsel abhängt, so auch unser geistiges. Man bedarf von Zeit zu Zeit der Muße, des vollen, tiefen Atemzuges der Freude, um wieder frisch und lebendig geben zu können. And dieser Atemzug glücklicher Muße ist uns in so schöner Weise zuteil geworden in den jüngst verflossenen Weihnachtsferien, so daß wir Gott nicht dankbar genug sein können für all die Liebe, die wir genossen. Versetzt Euch noch einmal in das Pfarrhaus zu Watzum, Ihr kennt es ja alle, Ihr liebt es ja alle; da war es zur Christzeit wieder lebendig. Acht Kinder umgaben die frohen Eltern, und zu diesen trat noch ein Kreis von sieben Pflegetöchtern und mancher gute Freund des Laufes sowie später Albertinens Verlobter.
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Unser Auszug aus Neu- nach Alt-Watzum glich dem der Kinder Israel. Ein Wagen voll Betten, Koffer, Sofa, Tische (diese eine Weih nachtsgabe für Anna) folgte uns. Es war grimmig kalt, und wir mußten dem Mütterchen zu Äilfe kommen, so vielen Gästen ein warmes Nest zu bereiten. Es gab manchen Spaß, aber auch manche Iökelei und Kröppelei, bis wir endlich im lieben Pfarrhause waren, wo nun nach uns Adolf aus Dresden mit einem Freunde Lartzer*), Mr. Mae Nab aus Berlin und später Amsinck einzogen. So waren wir Christabend alle versammelt, das Kaus wurde mit grünen Zweigen geschmückt, Bäume angeputzt und der Abend brachte manchen Scherz, indem wir viele Geschenke versteckt hatten und sie suchen ließen, wie es Fritz Reuter so schön beschreibt in seinem unvergleichlichen Buche: „£lt mine Stromtid." Erich mußte auf den Taubenschlag, dort fand er einen Zettel, der ihn weiter schickte usw., bis er endlich in der Waschküche einen großen Sack voll Kobelspäne fand, in dem ein Geschenk verborgen war. Erst nach Mitternacht suchten wir unser Lager auf voll Sehnsucht nach dem lieben Schlaf, der immer so vieles ausgleicht und müde Kerzen und Glieder zu neuem Leben erweckt. Nachdem die Festtage vorüber, kam das schöne Genießen und, Bummeln in ein etwas regelmäßiges Geleis. Morgens gegen 9 Llhr versammelte sich die Familie in Mariens früherer Stube, und da gab es verttauliche Plauderstündchen; Adolf arbeitete an seiner schönen Fröbelbüste, die er uns zu Weihnachten geschenkt und an der noch Nähte vom Gießen abzureiben waren. Erich stolzierte im Schlafrock mit langer Pfeife umher; Albertine saß an Amsincks Seite, einen Geldbeutel für ihn häkelnd; ich blätterte in Schriften und Büchern oder machte einen schwachen Versuch zu schreiben; Mütterchen schälte Äpfel oder bereitete sonst etwas vor zum Mittagsmahle; Anna und Kedwig gingen geschäfüg ab und zu sowie auch der Vater zuweilen kam und den Übermut seines jüngsten Sohnes dämpfte. Da spielte dann „die gute, alte Zeit" eine großeRolle, und der Vater stellte seufzend Vergleiche an, wie er gelebt und was seine Söhne kosten. Er seufzte über viele Sorgen, sah aber dabei so jugendlich frisch aus, daß man ihn kaum für den Vater seiner Kinder halten konnte. Vor dem Effen mach ten die Kerren einen Spaziergang zur Post, und wir zogen uns um, und nach Tisch kam die ganze Gesellschaft in Mutters und meiner frühe ren Stube zusammen. Es bildeten sich verschiedene Gruppen; man plau-
*) Spätere Professor Karzer in Berlin.
bette, man spielte Schach, Whist, man musizierte und abends nach dem Tee kamen verschiedene tolle Streiche zum Vorschein. Erich machte allerlei Versuche, sich den vier Engländerinnen verständlich zu machen, was schliesilich in solche Quälereien ausartete, daß Adolf mit seinen ernstbestimmenden Blicken den Kobold zur Ruhe bringen mußte, wor auf er sich mit seinen französischen Brocken zu Mademoiselle C.R., die er sein „Pupillchen" nannte, setzte, weil er ihr beim Whistspielen half. Auf die Namen der Engländerinnen machte er köstliche Reime ............. S o ging das frohe Leben über acht Tage. „Ich »nuß immer meine Betrachtungen anstellen," sagte eines Ta ges Kerr K>. zu mir, „wie merkwürdig verschieden Sie alle sind; könnte man z. B. Adolf und Erich im Augenblicke für Brüder halten? Welche verschieden« Physiognomie, Adolf mit seinem so schönen, ernsten Kopfe, Erich mit feiner Häßlichkeit, die zum Lachen auffordert; Adolf mit dem gehaltenen Wesen, Erich mit dieser sprudelnden Iugendkraft, die allerlei unregelmäßige Auswege sucht; und doch ist wieder eine Familienähn lichkeit in bett Physiognomien sowohl des Körpers wie des Geistes, und eben diese Einigung von ihnen allen bei der größten Verschiedenheit der Individualitäten erregt immer meine Bewunderung!" „Ja, wir sind eben Fröbelisch; wir haben die Einheit in der Man nigfaltigkeit, wir gehen dem Leben ruhig nach und finden die Lebenseinigung schließlich." „Wie?" fragte Herr $>., „ich verstehe das nicht ganz." „Ja, das ist auch Fröbelisch", sagte ich lachend, „das waren Frö bels Ermahnungen, die er uns gab, und ich glaube, ich habe sie ver standen und befolgt." „Nun simpelt ihr schon wieder Kunst", ries Erich, „laßt uns lieber einen kleinen Schüttenhoff machen! Kleiner niedlicher 55. komm I" und dabei streichelte er den Freund und frisierte ihn ä l’enfant. Es kam denn ein Schüttenhoff zustande. Adolf erschien in einem köstlichen Kostüme (was er zum kommenden Einweihungsfeste mitge bracht), als Bärenführer und der kleine Freund war in Amsincks schö nem Pelze der Tanzbär, eine Maske, die die Herren fabrizierten, machte die Täuschung wirklich groß, und wir kannten unsern ernsten Adolf gar nicht wieder in seinen Sprüngen und Witzen, die er machte; es war sehr amüsant. Als wir noch darüber lachten, warf Erich zwischen die Engländerinnen ein dickes Paket und rief: „Iulklapp." (Ein schwe disches Wort für Weihnachtsgeschenk, von dem eben Fritz Reuter L y j ch i n s k a, Henriette Schrade: I.
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spricht.) And nun ging es an eine Iulklapperei; denn die jungen Damen rächten sich, geschäftig eilten sie in die verschiedenen Zimmer, und bald flogen Stiefel, Pantoffeln, ja, von Erichs Seite aus nasse Schwämme ins Gesicht und an die Köpfe; das war eine Sprache, die jeder verstand, und der niemand eine Antwort schuldig blieb. Zu unserer Verwunde rung nahm Adolf mit wahrer Lust an allem teil, während er sonst solchem Ansinn fernblieb, und der Ernst seines Wesens oft einen An
strich von Melancholie hatte. „Ich freue mich so über dich, Adolf", sagte ich einmal zu ihm, „ich habe dich noch nie so heiter gesehen wie dieses Mal." „And ich bin nie so heiter gewesen, wie ich überhaupt jeht immer freier und heiterer in mir werde. Da ich eigentlich einige Jahre zu spät meine künstlerischen Studien begonnen habe, so machte mir die Bewältigung des Stoffes große Schwierigkeit, aber jeht fühle ich, wie die schwere Masse mehr und mehr sich meinen Länden fügt, so wird die Seele freier und freier. Ich habe lange geschwankt, ehe ich meine letzte Arbeit, den Adam, be gann, denn ich weiß wohl, es ist kein Werk, das ich dem Publikum zum Kaufe bieten kann, und es drückt mich ost, daß ich dem Vater so viel koste und noch nichts verdient habe, aber ich mußte noch einmal eine Arbeit machen, die so volle, ganze Studie war, und was konnte mir da näher liegen als Adam, der Mensch in seiner Arkraft, wie er aus Gottes Land hervorgegangen ist. Kannst du dir nicht denken, daß es eine wahre Lust ist, an einem solchen Werke zu arbeiten? Was für ein großer Wendepunkt liegt in dem Momente, wo Adam beginnt, im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten; der Mensch muß sich selbst seine Existenz schaffen, sowohl geistige wie physische; alles Leid wie alle Freude erwächst hieraus. Mich hat dieses Motiv mächtig ergriffen, es ist zwar keine leichte Aufgabe, diese Figur muß einen bestimmten Cha rakter tragen, sie muß aussehen, als stamme von ihr die ganze Mensch heit ab, es muß ihr der Typus des Armenschlichen aufgedrückt sein, sie darf nicht erscheinen wie eine Antike. Die Gestalten des Michaelangelo muß ich studieren, der hat es verstanden, den richtigen Ton für solche Schöpfungen anzugeben. Du glaubst nicht, was es für ein Vergnügen ist, so einen lebensgroßen Mann zu modellieren, man kann so recht schwelgen in Bildern von kräftigen Formen. Es ist überhaupt ein herr liches Leben jetzt in unserm Atelier bei Schilling, und es tut mir leid, daß Lartzer jetzt fort ist, aber seine Natur paßt besser zu Lähnel, er fühlt sich jetzt viel glücklicher, seitdem er in dessen Atelier arbeitet, und
jeder muß seiner Natur folgen. Die nächste Ausstellung wird aber hoffentlich zeigen, daß Schilling ein ebenso guter Lehrer ist als genialer Künstler. Ich wollte, du könntest seine vier Terrassengruppen.-Morgen, Mittag, Abend, Nacht sehen, ich möchte dich überhaupt bekannt machen
mit Schilling." „Wie stehen er und Äähnel zusammen?" „Sehr gut, und es ist ein wahres Glück, daß unter den Bildhauern nicht diese Katzbalgerei herrscht wie unter den Malern, wie unter den Schnorrschen und Äübnerschen Schülern; du glaubst nicht, welche Zänkereien hinter den Kulissen des schönen Künstlerlebens vorkommen." „Sie sprachen von Adolfs Adam?" sagte Äartzer hinzutretend, nachdem er schon im Gespräche mit einer andern Person immer halben Ohrs auf uns gehört hatte. „Was sagen Sie zu der Arbeit?" „Ich finde, daß Adolf das Richtige für sein Studium gewählt hat, aber kaufen wird die Arbeit niemand, höchstens könnte es ein Museum." „Das habe ich auch gesagt, und ich finde, daß man beide Zwecke verbinden kann und einen den Leuten gefälligen Gegenstand wählen und daran lernen kann." „Ich kann das aber jetzt noch nicht", rief Adolf bestimmt, „wenn ich ins tiefste Leben der Kunst dringen will, um an ihm zu lernen, so kann ich nicht die Welt fragen, was ihr gefällt, und weil ich vielleichr später, wenigstens vorerst nie wieder freie Wahl haben werde, so wollte ich noch jetzt einmal, wo es mir geboten wird, mich so ganz unbeschränkt in meine Aufgabe vertiefen, und wenn sie mir auch nicht einen Groschen einträgt, so wird sie eben zeigen, was ich bin und leisten kann, und mir vielleicht helfen, daß ich Aufträge bekomme und somit «unabhängig werde." „And Sie, Äerr 55., arbeiten Sie auch noch mit gleicher Lust an Ihrer Gruppe: „„Der Larfner und Mignon""?" „O, mit erhöhter Lust! Ich wache oft des Morgens früh auf und kann die Zeit nicht erwarten, bis ich ins Atelier komme. Ich bin ein ganz anderer Mensch, seitdem ich bei Äähnel arbeite; er interessierte sich zuerst gar nicht für mich, was auch natürlich ist bei meinem so un scheinbaren Äußeren, aber als er meine Skizze zu der neuen Gruppe
gesehen, wurde er wärmer, und jetzt geht das Arbeiten köstlich mit uns." „Wie sind Sie eigentlich auf Ihr Moüv gekommen?" „Das will ich Ihnen sagen: Ich zeichnete viel aus Ödipus und fand die Vorwürfe, die die Geschichte bietet, so tragisch und anziehend,
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daß es mir immer im Kopfe herumging, ob ich ihn nicht zum Gegen stände der Darstellung nehmen sollte; aber seine Geschichte liegt uns so
fern; es ging mir plötzlich auf, daß im Larfner dasselbe tragische Ele ment liegt wie im Ödipus, aber zugleich unserer Zeit und moderneren
Anschauung viel näher; im Ödipus erscheinen uns die Menschen als
willenloses Spielzeug in den Länden der Götter, der Allmächügen, die je nach ihren Launen die Menschen hier- und dorthin werfen. Was nützt es dem Ödipus, daß er, dem geweissagten Anglück zu entgehen, ausgesetzt wird, nach Jahren treibt ihn sein Schicksal all dem Gräß lichen entgegen, woran er schließlich zugrunde geht. Dieser Mangel an
individueller Berechtigung den Göttern gegenüber stößt mich zurück, da ich meine, ein jeder soll seines Glückes Schmied sein. Der Larfner, als katholischer Priester von der Ehe ausgeschlossen, hat sich allein alle Fol
gen zuzuschreiben, wenn er trotzdem seiner Leidenschaft folgt, und wie furchtbar rächt sich dieser Fehltritt. Auf der andern Seite dieses wunder
bare Geschöpf, diese Mignon, eine zauberische Erscheinung!" „Ich bin sehr gespannt, wie Sie die Aufgabe lösen werden, Mignon scheint mir sehr schwer durch die Plastik darzustellen zu sein; es ist mir,
als wäre sie weit mehr ein Vorwurf der Malerei. Es liegt mir so viel in ihren Augen, dieses Feuchte, Träumerische, dieses Sichverzehren von Sehnsucht nach der Leimat und der Liebe zu Wilhelm Meister, diese Glut der Sinnlichkeit als Kind des Südens und diese Vergeistigung,
ja Verklärung des ganzen Wesens — werden Sie es ohne den Blick der Augen, ohne Äilfe der Farben wiedergeben können?" „Ich hoffe doch, ja, das Schwere reizt mich auch."
„Wie verschieden ist eure Aufgabe, die ihr euch gestellt, Adolf, ich bin sehr gespannt auf die Vollendung eurer Werke; ihr habt über haupt viel Verschiedenes im Wesen." „Ja, sehr viel", sagte Adolf.
„Aber im Grundgedanken über die Kunst sind wir doch einig. Wir
beide stehen entschieden im großen Kampfe der Naturalisten und Idea
listen auf der Seite der letzteren", entgegnete Freund Larher.
„Ja, das tun wir, die Naturalisten sind eben keine Künstler, son
dern Kopierer. Wohl muß man die Natur studieren und die Kunst auf
ihr ruhen lassen, aber der Geist des Künstlers muß den Gedanken der Schöpfung wieder denken, und immer bei allem Festhalten am Indivi
duellen und Charakteristischen auch ein Allgemeines zur Geltung brin gen. Der Künstler ist Vollender der Natur, denn er schafft sie mit Be
wußtsein. Natürlich sind jeder Kunst Grenzen gezogen; die bildenden
Künste haben andere Aufgaben zu erfiillen als die redenden, die Malerei andere als die Bildhauerei; aber, wie keine von der Natur abweichen darf, so ist der Künstler doch frei in der Komposition der Elemente und soll diese zur Idee erheben, wo die Natur einer blinden Notwendigkeit gehorcht, und den ihre Schönheit störenden Einflüssen keinen Widerstand
leisten kann." „Da es mir gerade einfällt, so möchte ich dich fragen, hältst du Calame für einen Künstler? Ich habe letzten Sommer in Genf so viel von ihm sprechen hören." „Nein, aber für einen sehr talentvollen Kopisten der Natur. Reine Stimmungslandschaften gehören meiner Meinung nach überhaupt nicht in das Gebiet der Kunst; so wie die Natur nicht Selbstzweck ist, sondern erst im Menschen ihre Blüte erhält, so sollte man die Landschaft allein nicht malen, sondern nur als Staffage für die Szenen des Menschen lebens, wie es Preller in Weimar so prachtvoll verstanden in seinen Odysseebildern; die solltest du sehen!" „Ich denke eben an den Ausspruch des Philosophen Schopenhauer: „„Der Genius des Künstlers versteht die Natur auf halbem Wege: er spricht klar und deutlich aus, was diese stammelt."" „Ja, wir sind ganz in das Gebiet der Philosophie geraten, und da bin ich nicht zu Lause," sagte Adolf, „ich drücke das alles lieber in meinen Werken als in Worten aus, Lartzer überlasse ich das Reden. Es wäre mir z. V. unmöglich, so wie er, vor den jungen Mädchen Vorträge zu halten!" „Apropos, über welches Thema wollen Sie dieses Mal in NeuWatzum sprechen, Lerr Lartzer?" „Ich denke, über die verschiedenen Baustile, als byzantinische, ro manische, gotische, und wenn ich einmal wiederkomme, nehmen wir die Renaissance vor. Sagten Sie nicht, wir könnten mit Ihren jungen Mäd chen von Wolfenbüttel aus den Dom zu Braunschweig besuchen?" „Ja, ich möchte es sehr gern." „Nun wohl, dieses Gebäude eignet sich vorzüglich zum Vergleichen der Stile; das Mittelschiff ist romanisch, das eine Seitenschiff ist altgoüsch, das andere aus der Verfallzeit der Gotik und im Innern be findet sich noch der schlechteste Zopf am Altar." Da Karl und Marie nach dem Feste nach Neu-Watzum zurück gegangen waren, weil es viel mit Bauerei zu tun gab, so drehte sich die Anterhaltung meist um Kunst, und ich wollte, Ihr hättet alles mit
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mir genießen können, was da besprochen wurde, wovon Euch vorstehende Unterhaltungen nur ein schwaches Bild geben. Zuweilen mußte ich mich gewaltsam losreißen,- um der Löslichkeit zu genügen, und mitMr.McN., dem Bruder einer unserer Britinnen, Englisch zu sprechen, da er fast gar kein Deutsch konnte, obgleich er seit drei Monaten in Berlin Medi zin studiert; es tat mir leid, denn er scheint ein talentvoller junger Mann zu sein, der seine Studien in Edinburg schon vollendet; ich spreche aber so höchst ungern englisch, so viel Freude mir die englische Lektüre macht; so scheute ich mich, in ein tieferes Gespräch mit dem jungen Doktor ein zugehen. Er ließ übrigens der deutschen Gelehrsamkeit Recht wider fahren und bekannte, daß er jeht erst einen Begriff von dem Ernste der Wissenschaft habe, seitdem er Virchow kenne. Das Geschwisterpaar reiste in wenigen Tagen ab, um bei Dr. Dedekind in Wolfenbüttel einen Besuch zu machen, wozu sie eingeladen waren. Mit Made moiselle C.R. konnte ich Deutsch oder Französisch sprechen; sie ist über haupt eine bequeme Persönlichkeit im Verkehr, und die andern Eng länderinnen und Deutschen waren so jung, daß man sie ihrer eigenen Unterhaltung überlassen konnte; sie schienen sehr stillvergnügt. Maggie Purves mit ihren schönen, schwarzen Locken und etwas klassischem Ge sichte und gefälligem, hilfteichem Wesen, das sich leicht in deutsche Sitten fand, war wohl der Liebling unter diesen ftemden Vögeln, obgleich auch die Reinheit und Lerzensgüte der sehr stillen und etwas steifen Miß Scott volle Anerkennung fand, während die andern in ihrer Be deutungslosigkeit die mitlachende Staffage bildeten. „Leute abend wollen wir aber ftüh zu Bett", rief Erich am Freitag vor Silvester, sich ein Licht anzündend, indem es ihn nach der Pfeife in seinem Zimmer zog, weil er unten nicht rauchen durfte. „Erich," entgegnete Lerr L. ganz entrüstet und sich dem Teetopfe ängstlich nähernd, der schon die sechste Tasse ihm gespendet, „du wirst doch nicht so wahnsinnig sein und uns schon zu Bette treiben, es ist erst X/211 Ahr und bis 11 Ahr haben wir Erlaubnis und bis 12 Ahr wird uns zugegeben und bis 1 Ahr stehlen wir uns; es wäre eine wahre Sünde, die Zeit, die man hier so schön auskaufen kann, zu verschlafen!" „And den Tee stehen zu lassen und den Zucker und die Zuckerplätzchen am Baume," fügte Adolf lachend hinzu, „du bist doch ein genußsüchüger Mensch, du schlürfst mit gleichem Behagen eine gute Anterhaltung wie den geliebten Tee, ißt Zucker, spielst Whist und bist nie schläftig, nie müde!"
Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.
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„Ja, es ist nicht gut, daß mich Gott so genußfähig organisiert hat, ich habe so viel Gelegenheit, mich zu erfteuen." „Aber Ledwig, du fütterst ja Lerrn Larher tot mit Zuckerwerk, es wird seinem Magen schaden, und du verziehst ihn ganz I" „Des Weibes Los ist zu beglücken I sagte Lenriette einmal", er widerte sie höchst naiv, worauf ein schallendes Gelächter ertönte, und Erich dem beglückenden Weibe sein Kompliment machte. Tiefes Erröten übergoß Ledwigs ganzes Antlitz, und dicke Tropfen drängten aus dem Auge. „Ja, ja", sagte sie mit Tränen kämpfend. „Nicht weinen, nicht weinen, liebes Ledchen!" Die Sonne brach durch dicke Wolken, und siegend stimmte Ledwig mit in das Lachen ein und ist sogar so heroisch, daß sie mir erlaubt hat, diese kleine Listorie zu erzählen. „Nun Lartzer, wir wollen zu Bett, das Licht brennt schon lange!" „O, was das betrifft, dem Äbel können wir abhelfen", und aus war die Kerze. Anstecken und Ausblasen folgte jetzt Schlag auf Schlag. Miß Maggie Purves lief hinter Erich her, der das Licht siegend in die Löhe hielt, sie verfolgte ihn bis auf den Boden, da plötzlich bläst er das Licht aus, rennt schnell die Treppe hinunter und schließt schnell die Tür, so daß die Arme, da oben zwischen Koffern und Kisten ver loren, jammert. Wenn durch all diese lichte, schöne Fröhlichkeit ein leiser Schatten für mich zog, so war es meine Gesundheit; ich wurde von einem schreck lichen Lüsten gequält, und ein grippenartiger Zustand wich fast die ganzen Ferien nicht von mir. Noch heute hat mich der Lüsten nicht verlassen, ich fürchte, ich habe in Genf mir ein Leiden geholt, das mich nun von Zeit zu Zeit wieder befällt, denn früher litt ich nie an einem solchen Lüsten und es ist mir oft, als wirkte er zerstörend im Innern. Mit einem gewissen Grauen dachte ich in den Stunden, wo ich sehr leidend war, an das bevorstehende Einweihungsfest, welches am 10. Ja nuar stattfinden sollte, weil dann endlich die Turnhalle und die andern Zimmer, die wir noch nicht bewohnt hatten, fertig waren. Ja, die Woche nach Neujahr zog nun ein Gast nach dem andern wieder von AltWatzum fort, Montags schon eine Partie Neu-Watzumer, Dienstag Adolf, Erich und ich, Mittwoch kamen die übrigen nach, aber, wie die fröhliche Gesellschaft sich im Pfarrhause zu lösen begann, so fing sie an, hier sich zu bilden Mittwoch kehrten die Mädchen zurück mit Blumen,
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Kränzen fürs Fest und mit viel Freude im Lerzen; Adolf kam Donners tag von Braunschweig; zwei neue Engländerinnen, L. und E. Straith, eine Deutsche aus Hannover, Anna und Äerr Äartzer; Sonntag Mutter und Ledwig; Dienstag endlich der Vater und — als Überraschung —
Erich aus Göttingen, und Dienstag war denn das schöne Einweihungs fest, vor dem ich mich so gefürchtet, weil ich mich körperlich schwach fühlte, was meinem Leben hier eine neue Weihe gab. Davon erzähle ich Euch im nächsten Briefe, er wird recht lang und ausführlich werden . . . .Nun noch eine Bitte, schickt mir Eure Photo graphien, von denen ich noch keine besitze, ich habe nämlich ein großes Pensionsalbum bekommen, darin möchte ich nun alle, alle haben und bitte, schreibt mir Tag und Jahr, wann Ihr gekommen und fortgegan gen seid; ich möchte mir das so recht schön ordnen; wollt Ihr meine Bitte erfüllen? Wenn ich einigen auf ihre freundlichen Briefe noch nicht geantwortet, auf die sie wohl ein besonderes Wort erwarten, so müßt Ihr mir verzeihen; ich habe wirklich viel zu tun und bin, wie ge sagt, seit acht Tagen vor Weihnachten nie ganz wohl gewesen. Nun lebt wohl für heute, meine lieben Mädchen, es grüßt Euch herzlich Eure Lenriette.
Lenriette an ihre früheren Pensionskinder. Laus Neu-Watzum bei Wolfenbüttel. Ende Januar 1865.
Vierzehn Tage sind nun beinah vergangen, seit wir das schöne Fest der Einweihung feierten und ich muß eilen, meine Gedanken dar über wiederzugeben, damit sie ihre ursprüngliche Wärme nicht verlieren, was so leicht der Fall ist, wenn so viele Arbeit oder sonstige Erlebnisse einem Tage folgen, der an und für sich tiefe Eindrücke hinterließ. Ich erzählte Euch schon in meinem letzten Pensionsbriefe, daß hier sich wie der der Familienkreis zusammenfand, der sich in Alt-Watzum nach und nach gelöst hatte. Abgesehen von der Freude, welche es uns machte, die Ansrigen und liebe Freunde hier zu haben, so war uns deren Anwesen heit auch sehr nützlich und nöüg. Mit der Mutter mußte der Küchen zettel beraten werden; Annas sorgliches Auge und tätige Land war sehr erforderlich, um für Ordnung zu sorgen, denn unsere dienenden Geister schienen eine große Anhänglichkeit an ihren Arsprung, den Staub zu haben, und ich als höchste Oberaufsicht hatte meine liebe Not, mein
tiefes Bedürfnis nach Reinlichkeit und Ordnung zu befriedigen. Kedwig führte die Jugend an beim Kränzewinden, und die Lerren'arbeiteten im Schweiße ihres Angesichts an den Dekorationen der Turnhalle, des Theaters und der Diele. Solche Vorbereitungen, wenn sie auch viele Mühe verursachen, haben doch etwas ungemein Äeiteres bei guter Leitung, und es gilt auch hier der Sah: „Die Freude vorher ist das Beste." Leider wurde mir diese lebendige Vorfreude getrübt, indem ich mich sehr unwohl fühlte und besonders Tag und Nacht vom schrecklichsten Lüsten zu leiden hatte. So packte mich oft eine entsetzliche Angst vor dem Feste, meine Nerven waren nun einmal angegriffen, und es schien mir oft, als könne nichts ordentlich werden, es war auch gar zu vielerlei. Ich träumte von schreck lichen Szenen, wie Ihr sie wohl kennt, daß man im höchsten Neglige sich in einer Gesellschaft befindet, daß nichts zu finden ist, niemand etwas zu essen bekommt usw. Nun wurde Marie am Sonnabend sehr unwohl, sie, die mit Anna in dem Festliede ein Duett zu singen hatte, und die ja überhaupt nicht fehlen durfte; sie verbrachte die Nacht im Fieber und mit rasenden Kopfschmerzen und war den ganzen Sonntag nicht besser. Mein Un wohlsein kam mir dagegen nicht der Rede wert vor; ich konnte ja doch noch weiter. Mit Angst legte ich mich Sonntagabend ins Bett und mit Lerzklopfen erwachte ich; Marie schlief mit mir im Zimmer, und so war mein erstes Wort: „Marie, wie geht es dir?" „Ich bin besser!" „Gottlob!" And die Erlösung aus dieser Sorge wirkte auf mich so belebend, daß ich zum ersten Male Mut faßte. Auf die junge Welt hatte diese Angst meinerseits sehr wenig Einfluß gehabt, sie saßen, halb im Grün begraben, in der Turnhalle und wanden unter munterem Geplauder Kränze, machten Blumen, schnitten goldene Fahnen aus, vergoldeten Tannäpfel usw., alles Dinge, die zum Schmucke zwischen dem Grün verwendet werden sollten. Die Lerren standen auf hohen Leitern und hämmerten und bogen die Zweige, die die hohen gotischen Fenster, die Pfeiler und Türen umrahmten. Oster wurde ein Liedchen angestimmt
von den Mädchen, wozu Adolf die zweite Stimme intonierte. Es war wirklich eine Freude, das junge Volk so zu betrachten. Dazwischen rief ich mir die eine oder die andere immer heraus, um mit ihr Kostümprobe zu halten, denn, wenn Adolf die Zeichnungen zu den lebenden Bildern gemacht hatte, die gestellt werden sollten, so überließ er mir die Wahl
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Kapitel 15:
der Personen, Stoffe, Schnitte und Farben. Es ist nun keine Kleinig keit, eine so große Schar, wie wir sie gebrauchten, passend zu kleiden, notabene wenn man nicht gern den Mitwirkenden viel Kosten verur sachen will. Aber man muß nur erst beginnen, und dann findet sich eins nach dem andern; eine große Gesellschaft hilft sich auch einander, die eine leiht einen seidenen Rock, die andere Blumen, die drrtte einen seide nen Schleier usw. So wurde denn gewirkt in Küche und Keller, Kam mern und Stuben auf— einen Tag, auf ein Ziel hin. Man sagt wohl, es sei töricht, so viel Mühe zu verwenden auf Dinge, die so flüchtig dahinschwinden, wie z. B. auf lebende Bilder und dergleichen, aber man denke nicht so; wohl verrauscht ein Fest in wenig Stunden, aber in wie vielen Seelen und Lerzen lebt eine schöne Erinnerung für Jahre! Am Montag nachmittag war die Turnhalle fertig und noch einrnal in ihr Gesangprobe. Marie war, als wenn ihr nie was gefehlt, und ordnete alles geschäftig in bezug auf die musikalischen Aufführungen. Äerr Musikdirektor Selmar Müller, ein bekannter Komponist reizender Lieder, hatte auch für uns £ine Komposition gemacht und leitete das Ganze, und als nun die Töne so voll und rein zu den Akkorden des Larmoniums in dem hohen Raume klangen, als ich so durch die Fenster des Kindergartens, die nach der einen Seite in die Turnhalle sehen, auf die jungen Sängerinnen blickte, die aus unsern jetzigen und einigen früheren Pensionärinnen und meinen Schwestern bestanden, da kam etwas wie Vorfeier in mein Äerz, und unwillkürlich mußte ich Karls Lände ergreifen, die so treu mitwirkten und schafften, als der Choral: „Bis hierhin hat uns Gott gebracht" geübt wurde. Abends probierten wir noch lebende Bilder, und endlich brach der Tag an, von dem so lange gesprochen, für den so viel geschafft wurde, auf den sich so viele gefreut hatten. Ansere Gäste waren auf 4 Ahr nachmittags eingeladen, und gerade steckte ich meinen Strauß von dunkelroten Rosen vor, als der erste Wa gen vorfuhr; noch einen Blick warf ich in den Spiegel, ob alles nach Wunsch passe und sitze, bog die von schwarzen Spitzen und Perlen arrangierte Schneppe meines Kopfputzes (an dessen linker Seite eine dunkelrote Rose mit Knospen und Blättern über meine Locken fiel) etwas aus die Stirn und warf den weißen Kaschmirnrantel über die schlichte, weiße Bluse und den hellseidenen Rock, beides mit schwarzen Spitzen garniert, an der weißen Taille schmälere, wie ein viereckiger Ausschnitt, am Rocke eine schöne, breite mit einem Sammetstreifen dar-
über, die Form eines Überwurfs andeutend. An den Ärmeln der Bluse
war von oben nach unten Band von der Farbe der Rosen durchzogen, was dem schwarz-weißen Anzuge etwas Lebendiges gab. Die Taille umschloß ein breiter schwarzer Sammetgürtel, und so war ich bereit, unsere Gäste zu empfangen. Meine Toilette war einfach aber nach mei nem Geschmacke, und ich fühlte mich behaglich darin, denn mich geniert die jetzige Mode der Schleppe nicht, im Gegenteil ich bewege mich gern darin. Der eifrige Lohnbediente sprang, als er das Rollen des Wagens vernahm, vor die Tür und übergab die Damen unserer Frau Gärtner Grabenhorst, die mit ihrem freundlich gewandten Wesen den Dienst der Zofe versah. Die Diele war, wie gesagt, festlich geschmückt, behaglich, warm und gleich einem Zimmer eingerichtet, weil wir sie abends mit zum Abendessen benutzen mußten. In Mariens Stube und Kammer rechts, wenn man eintritt, war die Garderobe für die älteren, nicht singenden Damen bestimmt. Nachdem die Lerren und Damen abgelegt, führte sie der Bediente zu uns herauf, wo drei Zimmer zu ihrem Emp fange eingerichtet waren: mein Privatzimmer, die eigentliche Wohn stube und das erste Lehrzimmer; hier schloß die Wand mit Vorhang und schön dekorierter Umgebung, indem im zweiten Lehrzimmer die Bühne aufgebaut war. Die beiden Lehrzimmer bildeten früher einen Tanzsaal, wir haben ihn durch wegnehmbare Wandschränke in eine größere und eine kleinere Lehrstube teilen lassen, was uns nun prächtig zustatten kam, da wir durch Fortnahme zweier Schränke den Raum zur Anbringung des Vorhanges gewannen. Die Empfangsräume waren alle mit grünen Topfgewächsen und Blumen geschmückt sowie mit Kunstwerken durch Adolfs Güte, teils mit Arbeiten seiner Land, welche blendend weiß zwischen dem Grün schimmerten, teils mit klassischen Kupferstichen; auf einem Tische lagen schön illustrierte Bücher, auf einem andern stand Adolfs Relief: „Der verlorene Sohn"; darunter ausgebreitet Raphael- und Correggioalbum, Goethegallerie von Kaulbach und verschiedene einzelne schöne Sachen aus unserer Bildermappe. Wenn man eine größere Gesellschaft emp fängt, muß man besonders beim Arrangement der Möbel darauf sehen, daß sich immer verschiedene Gruppen bilden können, daß sie verschiedene Gegenstände zur Anknüpfung der Anterhaltung finden; es dürfen nicht viele Tische und solche Dinge in den Zimmern stehen, die die freie Be wegung hindern, aber auch nicht zu wenig, damit die Sitzenden einen
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Kapitel 15:
Anhaltepunkt haben und nicht in Verlegenheit kommen, wohin sie ihre Taffen usw. setzen sollen. Das alles will vorher durchdacht sein, und der Geist der Lausfrau muß schon vor dem Erscheinen ihrer Gäste gewisser maßen die Fäden der Unterhaltung in die Land nehmen. In einem großen, wohleingerichteten Lause, wo bestimmte Empfangsräume sind, die zu keinem andern Zwecke benutzt werden, wo wohleingeschulte Be diente und Köche, gleich dem Maschinisten auf der Bühne im ver borgenen walten, da wird es der Lausfrau leicht gemacht, Gäste zu empfangen; aber bei uns und den meisten von Euch, wo das deutsche Bürgertum in seiner besseren Bedeutung gepflegt werden soll, wo wir selbst Land anlegen sollen, unsere Wohnstätte behaglich zu machen, da heißt es, alles vorher bedenken und überlegen und nachsehen, damit man jedes Ding zu seiner Zeit tue, nicht etwa herumlause und koche, wenn man Gäste hat, sondern daß diese wohltuend durch uns angeregt werden, und daß man das Gespräch vom Stadtklatsch auf allgemein verständliche und interessante Dinge zu leiten weiß. Wir sollen das Vor recht der feinen Form und die Leichtigkeit des gesellschaftlichen Lebens nicht allein der Aristokratie überlassen, sondern uns ihrer bemächtigen, aber mit ihr das hausmütterliche, sorgende, schaffende Element ver einen; so nur, meine ich, sind wir wahre, deutsche Frauen, ein Ruhm, den ich nicht gering achte. Lassen wir den Engländern ihre stille Vor nehmheit, den Franzosen ihre Eleganz, die sich selten in stiller Läuslichkeit wohlfühlt; nehmen wir von andern, was uns fehlt, aber bleiben wir im Kerne, was wir sind — deutsch I Früher hatte ich große Anlage, Salonaffe zu werden, aber die bessere Erkenntnis ist gekommen und hat gesiegt. Die Unterhaltung vor der Feierlichkeit lag zum großen Teil auf mir, da Marie, die dort die Gäste beim Beginn des Festes empfangen sollte, in der Turnhalle mit den Sängerinnen beschäftigt war. Ein Wagen nach dem andern führte uns liebe Freunde zu, alles schien wohl im Zuge, da fällt wie ein Donnerschlag aus heiterm Limmel die Kunde: „Lerr Lollmann (der treue Bauherr dieses Laufes, dem die Feier be sonders galt) ist unwohl geworden und kann nicht erscheinen!" Alles wäre mir halb gewesen, wenn er nicht kam, schnell machte sich sein Sohn noch einmal auf den Weg und nach einer Stunde langen Larrens er schien er mit dem sehnlich erwarteten Gaste. Nun war allerdings alles etwas verspätet, aber das konnte sich wieder ausgleichen. Liebe Freunde und Verwandte, teure Pensionskinder aus Braun schweig und Wolfenbüttel waren um uns versammelt, wir alle zusammen
an achtzig Personen, und die kleine Feierlichkeit konnte ihren Anfang nehmen. Karl gab seinen Arm der lieben Mutter, ich bat um den des alten Lerrn Lollmann, die andern arrangierten sich zu Paaren und so führten wir unsere Gäste durch einen Korridor in den Kindergarten und von diesem eine Treppe hinunter in die Turnhalle. Ein großer, grüner Kronleuchter, in Larmonie mit der Dekoration der Wände, sandte sein Kerzenlicht in den Raum. Nah an der Eingangstür, die in den Garten führt, saß der Dirigent vor dem Larmonium, weiter rechts von diesem stand ein mit grüner Decke bekleideter Altar, der eine große Bibel, ein Kruzifix, zwei schöne Gewächse und filberne Leuchter mit brennenden Lichtern trug. Der Vater bat darum, daß seine acht Kinder die Plätze unmittelbar vor dem Altar einnehmen mit Einschluß der lieben Mutter und Lerrn Lollmann. Als alles still war und ruhig, ertönten die feierlichen Akkorde unse res wirklich schönen Larmoniums und der Gesang: „Bis hierhin hat uns Gott gebracht." Der erste Vers wurde von den jungen Mädchen einstimmig mit Begleitung, der zweite dreistimmig ohne Begleitung und der dritte wie der erste gesungen. Gesammelter, stiller wurde es im Lerzen, und es war wohlbereitet, desVaters liebeWorte aufzubewah-, ren. Da stand der gute Vater vor dem einfachen Altare im Kreise seiner Kinder, Pflegetöchter und Freunde und sprach zu ihnen die Worte der Weihe über dieses Laus Die ernsten Gefühle, die das Lerz bewegten nach des Vaters Rede wurden sanft gelöst durch das Festlied, welches die jugendliche Schar mit vollen, reinen Stimmen nun erschallen ließ und, wie die Seele sich so ganz voll Dankbarkeit und Liebe an die treuen, teuern Eltern ge klammert hatte, so führte der Gesang den Geist weiterhin zu der Schar blühender Gestalten, die da im weißen Festschmuck mit Blumenkränzen im Laar vor uns standen. Alle sind unserm Lerzen nah durch geistige Bande, o Gott hilf, hilf uns, den jungen Gemütern ein Stab zu werden auf ihrer Lebensreise, o ziehe du das Band der Liebe, des Vertrauens fester und immer fester, o laß sie wachsen, diese geistige Familie, die sich da bildet im Leben und Streben unseres Lauses, und laß die Trerrnung von den geliebten Pensionskindern, die dem Lerzen weh getan, zu keiner wirklichen Trennung führen, sondern in ihnen die geistige Einigung wachsen. Ihr lieben, lieben Kinder nah und fern, vergeßt nicht, daß Ihr an unserm Lerzen immer eine Stätte findet, wo Ihr niederlegen könnt, was Euch erfreut, was Euch schmerzt; wir bleiben
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Kapite! 15:
durchs ganze Leben die Euern, wenn Ihr selbst nicht die Bande lockert, die uns einst umschlossen. Ja, mit inniger Freude weilten meine Blicke auf der Gruppe, die vor uns stand, und wenn ein Wehmutstropfen in das fülle Glück fiel, so war es der, daß wir Euch nicht alle, alle an diesem Tage um uns sehen konnten. Ich liebe den Gesang frisch jugendlicher Stimmen, und so wirkte es auch an diesem Tage so wohltuend auf mich, als er ertönte: I.
So steht das Laus geweiht in Gottes Namen And reich gesegnet von der Eltern Land, Auch froh begrüßt von allen, die da kamen. Die uns vereint der Freundschaft Band. II.
So grüne denn, du liebe neue Stätte And weiche nicht vom Grunde, der dich trägt. Manch neues Glied verwebe sich der Kette Bon jungen Äerzen, die wir treu gepflegt. III.
Wir alle woll'n die sichern Säulen fassen. Die nur allein des Laufes Glück erbauen. Nicht von der Gottesfurcht und Liebe lassen And ündlich hoffend stets nach oben schauen. Wo Glaube, Liebe, Loffnung sich durchdringen. Da wird ein Werk auch gute Früchte bringen.
Der zweite Vers war als Duett für Anna und Marie eingelegt, und Annas liebliche Stimme kam in den hohen Tönen so recht zur Geltung, sowie auch Mariens Kraft in den Mitteltönen. Die liebe, gute Anna sah so jung, so mädchenhaft bescheiden aus, wie sie mitMarie vortrat, um das Solo vorzutragen. Beide hatten weiße Blusen an und Anna einige gelbe Blumen im Laar; Marie hatte sich aber, wie immer, gegen jeden andern Putz als ein einfaches Netz verwahrt! Jetzt erst, nachdem die letzten Töne verklungen, und wir die Glück wünsche unserer Freunde entgegengenommen, fühlte ich mich ganz ein gesenkt in den Boden, der mich nun tragen soll, bis ich eins mit ihm werde. Die Einweihung war Mariens und meine Lochzeit; lange verlobt mit der Idee, waren wir ihr nun vermählt und wir beide unzertrennlich durch sie. Damit will ich nicht sagen, daß einer meiner Geschwister dabei aus geschlossen sei aus der innigen Gemeinschaft des Geistes, o nein, aber die
andern haben alle noch besondere Wünsche, die, wenn sie sich auch immer im Grunde mit unserm Sein und Wesen zusammen halten, ihre eigenen Blüten doch treiben. Karl dachte an diesem Tage mit besonderer Liebe an sein Luischen; Albertine stand an Amsincks Seite, der sie nun bald weit hinwegführt. Adolfs Seele strebt nach dem sonnigen Italien und Erich nach Amerika, wo er Schätze sammeln will. Ledwigs Jugend läßt noch keinen bestimmten Blick in die Zukunft tun, und Anna war das schöne Vorrecht gegönnt, die treue Stühe alternder Eltern zu sein.Marie und ich aber, wir gehören ganz unserer Idee und durch sie einander; wir haben immer ganz besonders aneinander gehalten in ihr, und so ver schieden wär auch sind, so sind wir doch — eins. Noch einmal ist es mir, indem ich dieses schreibe, als müßte ich ihre Land, die Lände aller meiner Lieben fassen und so aus vollem Lerzen das Amen! Amen! des Vaters zu seinen Worten wiederholen. Ja ich fühle mich am Ziele, nicht als an einem, welches Stillstand bringt, nein nur an dem, das ich lange gesucht, und das mich nun, ich hoffe es, zu Gott gerades Weges führen wird. Nach langem Suchen, nach vielen Plänen haben wir einen Anhalte punkt gefunden, und auch im Innern der Seele hat ein Schwanken aufgehört; eine bewegte, oft schmerzlich betrübte Jugend liegt hinter mir, und ein geistig gesundes Leben des gereiften Weibes hat begonnen. Das Streben, welches wir nun unablässig verfolgen werden, ist, daß die Frau immer mehr Teilnehmerin werde an den geistigen Gütern der Mensch heit, daß sie sie tätig, mehr weiblich verwerrde als Erzreherin der knospen den Menschheit. Wir werden noch vielfach mißverstanden, es sind doch wenige, die so lange bei uns bleiben, daß wir ihnen alles geben können, was wir für sie auf dem Lerzen haben. Es ist wohl Gebrauch, Mode, die Mädchen den Laushalt üben zu lehren, aber, daß sie auf den Beruf der Erziehung sich vorbereiten sollen, der wohl nicht leichter ist als der des Laushalts, dos klingt noch ftemd, dem widerstreben die alten Gewohn heiten. Es wird noch als Überspanntheit angesehen, wenn man auch an
das bemittelte Mädchen die Anforderung stellt, außer dem Lause eine nützliche Tätigkeit zu smchen, wenn das eigene Laus, das immer dasVor-recht besitzt, ihm keine solche bietet; es hat sich die Wahrheit noch nicht Bahn gebrochen, daß . Breymann und K. Schrader bis 1872. 333
Sie werden wissen, worauf ich hinauswill; ich will, daß man nette Einzelwohnungen für die Arbeiter baut, kleine Gärten dazu legt, und den Erwerb der Grundstücke durch die Bewohner auf alle Weise er leichtert. Solche, anderswo gar nicht neue, vielmehr längst praktisch und im größten Maßstabe erprobte Ideen waren hier vor einigen Jahren noch völlig ungewohnt, aber ich kann es mir mit zum Verdienste anrechnen, daß viele sich jetzt mit ihnen vertraut gemacht haben, und daß auf ihnen das Unternehmen wahrscheinlich beruhen wird, welches ich meine. Zum Zwecke der Erbauung solches Arbeiterdorfes in der Art der bekannten Cite ouvriere zu Mülhausen wird hier in der nächsten Zeit die Gründung einer Aktiengesellschaft versucht werden, und ich bin überzeugt, daß der Versuch gelingt, wenigstens werde ich so handeln, als ob er gelingen müßte, denn das ist die erste Bedingung jeden Er folges. Entschuldigen Sie, hochverehrtes Fräulein, daß ich, nachdem ich zum Schreiben gekommen bin, gar nicht aufhören kann, und Sie gar noch zunl Schlüsse mit Dingen unterhalte, welche Sie wahrscheinlich kaum interessieren, aber so geht es bei dem Briefschreiben wre bei der Llnterhaltung, ich denke weniger, was andere, als an das, was inich beschäftigt. Bald hoffe ich Ihnen mündlich diesen Brief abbitten und Ihnen meine Verehrung ausdrücken zu können.
Lochachtungsvoll,
K. Schrader.
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 6. Oktober 1868.
Geehrter Lerr Assessor!
Einliegend die Broschüre; ich glaubte sie längst in Ihren Länden durch Ihren Lerrn Bruder. Sie ist nach dem modernen Andeutungsprrnzipe geschrreben, so daß dem Leser Raum bleibt, sich das Beste und Besseres dabei zu denken. Ich stimme ja in vielen Punkten mit dem Frauentage überein, und dennoch fühle ich viel mehr, als ich es ausdrücken kann, daß ich bei aller Anerkennung doch ganz anders bin und wirken würde, wie diese Frauen mir wenigstens erscheinen. Vielleicht fehlt es mir an Kühnheit — ich weiß oft selbst nicht, ob das andere, was ich empfinde, ein Mangel oder ein Vorteil ist. Ihr Brief hat mich sehr erfteut und erquickt. Glauben Sie im
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Kapitel 18:
Ernste, daß ich mich für Ihr Projekt nicht interessieren würde? Daß Sie die sittliche Äebung der Menschen anstreben, tut mir so wohl, das ist der Punkt, welchen ich so schmerzlich vermisse in so vielen Ver besserungen der Jetztzeit. Aber denken Sie vor allem bei der sittlichen Lebung an die Frauenerziehung; denken Sie an richtige Frauenschulen; die Schule als Trägerin der Intelligenz muß dem Familienleben zu Äilse kommen. Bitte interessieren Sie sich bei ihrem Arbeiterdorse vor allem für die Frauenfrage; ich möchte mit Ihnen darüber sprechen. Ich habe vieles von Mülhausen gehört und gelesen, dort hat auch eine reiche Dame einen Kindergarten gegründet. Ihre Idee, Ähnliches für Braunschweig ins Leben zu rufen, hat mich lebhaft erregt. Bitte entschuldigen Sie sich nie wieder, wenn Sie mir von Ihren Interessen schreiben, Sie gewähren mir dadurch nur Freude, denn, wenn Ihre Projekte in der äußeren Gestaltung auch meinem Bestreben ferner ge legen, so haben sie im Grunde denselben Boden, und es ist mir so er quicklich, von Dingen zu hören, die ja meine Lebensfreude ausmachen. Nicht wahr, ich erfahre Weiteres von hrem Wirken? Freundlich grüßend, S>. Breymann.
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 3. Februar 1869. Hochgeehrtes Fräulein! Sie sind gewiß recht zornig gegen mich, daß ich Ihnen die ver sprochenen Bücher noch nicht zugeschickt habe. Am mich nicht als gar zu „jökelig" erscheinen zu lassen, will ich zu meiner Entschuldigung nur anführen, daß ich mein Referat aus den Büchern von Dupanloup und Mohl in unserm Vereine gehalten habe In dem beigefügten Pakete finden Sie daher den alten protestanüfchen Staatsrechtslehrer und den katholischen Bischof friedlich nebeneinander, nur durch die „Neuen Bahnen"*) getrennt, oder wenn Sie wollen, verbunden, da viel leicht ihre Ansichten über Frauenerziehung das einzige Feld sind, auf welchem sie zusammensein können I Was die beiden Schriften für Wert haben, werden Sie besser als ich beurteilen. Dupanloup hat sich ein sehr beschränktes Thema gewählt: „Die Erziehung der vornehmenFrau"^ und behandelt es geistreich und mit manchen neu eingekleideten Ideen; aber das fortwährende Pathos, die predigerhafte Behandlung der *) Eine Frauenzeitschrift, Herausgeberin Jenny Hirsch in Berlin.
Korrespondenz zwischen H. Breymann und K. Schrader bis 1872. 335 Sache und die ganze ftanzösische Manier, die einfachsten Dinge mit einem großen Aufwande von Floskeln und Schlagworten vorzutragen, ist mir einigermaßen ermüdend gewesen. Der alte Mohl hat sich offen bar auf ein Feld gewagt, das er nicht vollständig übersieht, daher ist auch manches dürftig; im ganzen aber wird er wohl recht haben, und gegen sein System der Erziehung im allgemeinen, gegen die neueren Beschästigungsgebiete, welche er den Frauen zuweisen will, weiß rch nichts Erhebliches zu sagen. Mir war neu seine Ansicht über die Not wendigkeit, an die Spitze weiblicher Lehranstalten Frauen zu stellen, aber ich glaurbe, und Sie werden aus Ihrer eigenen Erfahrung wissen, daß er recht hat; ebenso habe ich noch nicht so scharf die Notwendigkeit der Verstandesbildung bei Frauen betonen hören, wie er es tut. Wichtig für die Sache der Frauenerziehung sind beide Schriften wohl hauptsächlich, weil bisher noch nicht Männer ihrer Lebensstellung und ihrer religiösen und politischen Anschauungen so energisch für die ireuen Ideen aufgetreten sind. Für den Fall, daß Sie einmal überflüssig viel Zeit haben sollten, schicke ich Ihnen auch noch die Übersetzung einer englischen Rede über
die englische Genoffenschastsbewegung mit; die Rede ist bemerkenswert, weil ihr Verfasser eins der Läupter der Bewegung ist, und man an nehmen kann, daß die ausgesprochenen Ansichten von sehr vielen Ge nossenschaftern geteilt werden. Die Übersetzung ist gemacht, weil rch sie
mit einer Einleitung veröffentlichen wollte; als die Rede neu war, kam ich nicht an die Arbeit, die nötigen Notizen zu sammeln, und jetzt ist sie alt, so daß sie in meinen Akten ihr Leben beschließen wird. Die Ver bindung der Religion mit dem Genossenschaftswesen ist für uns deutsche Atheisten fast überraschend. Einige andere interessante Bücher werde ich nächstens vom Buch händler erhalten, nämlich Laboulaye, Paris en Amerique und I. Si mon, L’ouvriere, von welchen das erstere einen Vergleich der französi schen und amerikanischen Zustände (beide freilich übertrieben, nament lich in bezug auf Stellung und Charakter der Frauen) enthält. Wenn Sie mir gestatten, schicke ich Ihnen beide Schriften einmal. Eigentlich sollte ich mich freilich schämen. Ihnen, die doch genug mit der Arbeit geplagt sind, noch viel Lesen zuzumuten, zumal noch gestern meine Schwägerin mir erzählt hat, daß Sie infolge zu großer Anstrengungen das Bett hüten müssen. Von Lerzen wünsche ich, daß Ihr ünwohlsein ganz vorübergehend gewesen ist, und dieser Brief Sie
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Kapitel 18:
bereits wieder in voller Gesundheit trifft. Anl Sonnabend haben Sie,
wie ich höre, die angenehme Pflicht, einige Ihrer jungen Damen zu Ball zu fuhren; ich bin durch die besondere FreundlichkeitVorwerks eben falls eingeladen, habe mich aber abgemeldet, weil ich überhaupt nicht zu Bällen gehe. Außerdenl war ich sehr zornig gerade auf diesen Ball,
weil Fräulein Schlegel und ich gehofft hatten. Sie an demselben Tage bei uns zu sehen, aber nicht wahr, wenn wir Sie und die Ihrigen in nächster Zeit bitten, uns mit Ihrem Besuche zu beehren, so tun wir keine Fehlbitte? Freilich können wir nichts bieten als unsere Freude,
Sie zu sehen, und das ist für Sie herzlich wenig, aber man kann eben
nicht mehr geben, als man hat. Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen und der noch
maligen Bitte, mir meine Saumseligkeit zu verzeihen, Ihr, wenn auch etwas „jökeliger", doch ergebenster, K. Schrader. Äenriette Breynrann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 26. Februar 1869.
hochgeschätzter Herr Assessor!
Mit großem Interesse habe ich Mohl und Dupanloup gelesen. Der kalte, nüchterne Protestant und der begeisterte, feinfühlende Katho
lik — solche Lektüre regt mich sehr an, und ich freue mich, daß Männer ihrer Stellung sagen, was sie gesagt haben; ich möchte noch manches
hinzufiigen, und vielleicht sprechen wir gelegentlich über einzelnes Einheitstrieb scheint der Staatsmann nicht viel zu besitzen, und das macht mich etwas bedenklich. Wie kann er sagen, daß man ein guter
Augenarzt sein könne, ohne tief in die übrigen Funktionen des mensch lichen Körpers einzudringen? überhaupt kommen manche Widersprüche in seinen Abhandlungen vor, welche wohl darin ihren Grund haben,
daß er das Wie der Frauenbildung nicht recht begriffen hat. Alles, was die -Frau lernt und tut, muß sich auf den Punkt kon
zentrieren, den Menschen zu verstehen, und dessen berechtigten Bedürf
nissen hilfreich entgegenzukommen. Wenn die Erziehung in der Theorie zur Wissenschaft, in der Praxis zur Kunst (nicht Künstelei, sondern
Vergeistigung der Natur) erhoben wird, dann fallen die Bildungs--
zwecke bei der Frau gar nicht so weit auseinander, und das dürfen
sie auch nicht, wenn nicht ein großer ünsegen entstehen soll.
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 3 37
Das Weib muß mehr und mehr lernen, sich in der Menschheit zu fühlen, dann wird die Ehe der schönste Durchgangspunkt zum rechten Leben im Ganzen, die Familie der schönste Konzentrationspunkt sein, werden und bleiben. Aber auch ohne dieselbe wird sie kein verMmmertes Reis, kein vertrocknetes Blatt am Baume der Menschheit sein. Die Schule als Trägerin der Intelligenz muß der Familie zu Äilfe kommen, und wie die Schule jetzt den Unterrichtsstoff nach konzentri schen Kreisen ordnet, so sollte die Bildung der Frau zur Erzieherin^ worin alles Wesentliche einbegriffen liegt, auch nach diesem System in Angriff genommen werden, indem man dem Weibe des Volkes im Keime reicht, was für die Frau der höheren Gesellschaft weiter ent wickelt wird. Ich halte nun einmal die Frauenftage für die wichtigste unserer Zeit, weil sie das Ding beim Anfänge ergreift. And wenn sie nur in ihrer ganzen Tragweite von einer größeren Anzahl begriffen wäre nnd auf der andern Seite sich Begeisterung fände fiir den Grundgedanken unserer christlichen Religion, so würde die Ausführung gar nicht so große Schwierigkeiten haben, d. h. die Gründung solcher Mädchen- und Frauenschulen, wie ich sie im Sinne habe, die eben nach und nach dem weiblichen Geschlechte die Basis in der Erziehung geben, deren Früchte wohl erst in Jahrhunderten reiften, die aber doch sicher angebahnt würden. Ich glaube, die Katholiken werden uns vorankommen .... Man muß wie ich unter üefgebildeten, tatkräftigen und für das Werk der Menschenliebe begeisterten katholischen Frauen, unter philosophisch den kenden Priestern gelebt haben, um zu begreifen, daß der Katholizismus Schönheiten und Tiefen in sich birgt, welche nur zu leicht durch den Plunder verdeckt werden, der an der Kirche hängt. Die Katholiken wer den uns deshalb vorankommen in der Lösung der Frauenftage, weil ihre Religion die tiefe Bedeutung des weiblichen Einflusses für die Er lösung, d. h. Vergeistigung der Menschen im Marienkultus bewahrt hat Jetzt werde ich mich in Ihre Übersetzung vertiefen, wie schade, daß die Arbeit liegenblieb Ich werde recht dankbar sern, wenn Sie mir die versprochenen Bücher zuschicken; besonders wird mich l’ouvriere interessieren .... Der kürzlich bei Ihnen verlebte Abend hat uns urn eine angenehme Erinnerung reicher gemacht. Wenn wir einmal wie der das Vergnügen haben. Sie bei uns zu sehen, werde ich Sie bitten, L y s ch i n s k a , Henriette Schrader I.
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Kapitel 18:
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an einigen Federn*) eine kleine Änderung vorzunehmen; ich glaube, sie sind etwas zu zart für meine Land. Neulich habe ich eine ganz schreck liche Geschichte von den so geordneten Messern auf Ihrem Schreib
tische geträumt. Mit freundlichem Gruße,
Lenriette Breymann.
Ihr Bruder sagt. Sie seien ein eifriger Lassalleaner — ist das möglich?
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 4. März 1869.
Lochverehrtes Fräulein I Eigentlich hatte ich die Beantwortung Ihres freundlichen Briefes so lange hinausschieben wollen, bis ich Ihnen neue Lektüre mitschicken könnte, aber der Buchbinder läßt mich auf die beiden Ihnen zugedachten Bücher warten. Zunächst muß ich mich aber wehren gegen etwas, was wie eine vorwurfsvolle Frage aussieht. Sie fragen, ob es möglich sei, daß ich ein Lassalleaner sei? Beruhigen Sie sich, es gibt keinen ent schlosseneren Gegner gegen die Lassalleschen Projekte, gegen seine Lö sung der Arbeiterfrage als mich, aber ich bin weit entfernt von dem wüsten Geschrei der Leute, welche diesen unzweifelhaft höchst bedeutenden Mann so kurzweg, meistens ohne ihn aus seinen Schriften zu kennen, als einen Schwindler verdammen. Kann man einen Menschen — in bezug auf seine Begabung — gering schätzen, der nach einer Wirksamkeit von zwei, drei Jahren einen so ungeheuern Einfluß auf eine große Bevölkerungs klasse hat gewinnen können, daß sie noch heute seinem Worte folgt, ob wohl die, welche es verkünden, völlig unfähig sind, auch nur einen Ge danken neu zu fassen oder zu formulieren und ganz von den Phrasen ihres Lehrers leben? Es würde mich zu weit fuhren und Sie langweilen, wollte ich hier Lassalles Theorie auseinandersetzen; meine Meinung, die ich mit vielen unterrichteten Gegnern seiner Projekte teile, ist die, daß er die Zustände der arbeitenden Klasse und wenn nicht alle, doch viele Gründe ihrer Leiden richtig und in einer in bezug aus Faßlichkeit und Tiefe der Dar stellung kaum zu übertreffenden Weise dargelegt hat; seine Projekte sind aber unausführbar und mußten es sein, weil ihm eine Seite der Frage^ *) Gänsefedern.
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872.
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die moralische, fremd geblieben; weil er sie lediglich als politisches und wirtschaftliches Problenl sausschließlich^j behandelt und lösen wollte. Darin liegt auch der wesentliche Gegensatz der Ansicht über die Arbeiterfrage, wie sie in England von einer großen Partei und in Deutschland wenigstens von einem hervorragenden Manne (Viktor Aime Äuber in Wernigerode) aufgefaßt wird, und wie ich sie ansehe. Die Arbeiterftage ist ganz wesentlich eine moralische, ja religiöse, frei lich nicht in dem Sinne, daß der Arbeiter sich in dumpfer Resignation in sein Geschick ergeben soll, wie manche unverständigen Frommen möch ten, sondern in dem Sinne, daß alles Leil nur erwartet werden kann von einer Stärkung der sittlichen Eigenschaften der Arbeiter. Freilich ist dazu eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage nötig, aber sie ist von vorrübegehendem Werte, wenn sie nicht in jener Richtung wirksam wird; darum sind z. B. bloß Lohnerhöhungen so oft von keinem dauern den Einflüsse auf das Wohlbefinden der Arbeiter gewesen, und darum kann umgekehrt eine kleine Erleichterung von ungemeinem Effekte sein, sofern sie nur auf die sittliche Laltung wirkt, wie z. B. die Gewöhnung guter Wohnungen, weil diese erst ein geordnetes Familienleben, die Basis aller Sittlichkeit möglich machen. Darum haben englische Konsumvereine eine so mächtige Wirksam keit, die meisten deutschen eine so unerhebliche auf die Besserung der Lage der arbeitenden Klassen gehabt, weil die ersteren ihrer ganzen Ein richtung nach den Teilnehmer zum Sparen und zu einem ordentlichen Laushalten veranlassen, und weitste von vornherein nur als Vorberei tung höherer wirtschaftlicher Ziele dienen sollen, und Sittlichkeit und Bildung und brüderliches Zusammenwirken betonen. (NB. Kein eng lischer Konsumverein verkauft geistige Getränke, bei ihren Zusammen künften gibt es kein Bier und keinen Wein, sondern nur Tee; die Ver eine verwenden erhebliche Summen zu Bildungszwecken usw., wäh rend die deutschen Konsumvereine nur die Lebensmittel etwas billiger machen wollen.) Sie werden im Zusammenhänge dieser Ideen finden (wenn ich wenigstens die Existenz einer besondern Arbeiterftage beinahe leugne), daß ich meine, die zu ihrer Lösung dienlichen Mittel seien größtenteils gar nicht eigentümlicher Art, sondern dieselben, welche überhaupt die Menschen zu ihrer Fortentwicklung bedürfen. Es ist hauptsächlich die Stärkung des sittlichen Momentes, deren die heutige menschliche Ge sellschaft, Arbeiter und Nichtarbeiter bedarf, die mindere Betonung 22*
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des Rechtes, die stärkere Hervorhebung der Pflicht. Dadurch, daß die Wohlhabenderen die ihnen durch die jehige wirtschaftliche Lage gegebene Macht (wesentlich beruhend in der Übermacht des Kapitals gegen die Arbeit) mißbrauchen, weil sie lediglich aus ihr Recht sehen, haben sie die Erbitterung der Arbeiter hervorgerusen. Dadurch, daß diese nun ihrerseits ihr Recht, wie sie es auffassen, ohne alle Rücksicht auf andere Rechte durchsehen wollen, bedrohen sie gerade die Grundlagen unserer ganzen Zivilisation, deshalb predigen sie offenen, unversöhn lichen Krieg gegen ihre sie in ihren Rechten verletzenden Gegner. So bald beide Parteien anerkennen, daß sie nicht bloß Rechte haben, son dern auch Pflichten gegeneinander, gegen die Gesamtheit, dann ist der erste, wichüge Schritt zur Lösung der Arbeiterfrage geschehen; hier mit einem guten Beispiel vorangehen, ist eben Sache der höheren Klaffen; sie müssen durch die Tat beweisen, daß sie nicht bloß die Rechte ihrer Gegner anerkennen, sondern auch selbst zu deren möglichster Realisie rung helfen, daß sie die Arbeiter in ihren berechtigten Bestrebungen geradezu fördern wollten. Wenn Sie diese Ansichten verfolgen wollen, so werden Sie mit mir übereinstimmen, daß die Arbeiterfrage großenteils Erziehungsftage ist, weil nur die Erziehung (der Erwachsenen allerdings nur durch das praktische, zu diesem Zwecke in manchen Beziehungen besonders gestal tende Leben) eine allmähliche Stärkung des sittlichen Moments, des Gefühles der Pflicht bewirken kann. Soll ich aufrichtig fern, so haben Sie diesen längeren Exkurs über die Arbeiterfrage eigentlich nur dem Wunsche zuzuschreiben. Ihnen zu zeigen, wie meine Beschäftigung mit der Arbeiterfrage zu einem lebhaften Interesse für die Erziehung führen mußte. Daß die Frauenfrage nach Ihrer und ich darf sagen nach meiner Überzeugung ganz wesentlich in dies Gebiet fällt, daß es gilt, die Frau für ihre Teilnahme an der Erziehung der Menschheit besser als bisher zu bilden, das bildet wieder das Band zwischen Frauenfrage und Ar beiterfrage. Am auch auf die Frauenfrage die oben schon angedeutete verschie dene Auffassung von der Seite des Rechts und von der der Pflicht an zuwenden, so liegt auch hier der Anterschied in Sinn und Zweck der Frage bei den verschiedenenParteien darin, daß die eine vorzüglich das Recht der Frau betont, gewisse bisher dem Manne allein zustehende Privilegien in Kenntnis und Beschäfügung, Sitte usw. in Anspruch zu nehmen, während die andere zeigt, daß die Frau ihre Bestimmung
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872.
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nur erfüllen könne, wenn gewisse Änderungen an ihrer Erziehung, ihrer
sozralen Stellung eintreten. Auf dieser letzten Seite finden Sie fich mit Mohl und vorzüglich mit Dupanloup zusammen, und ich suche mich unter Ihrem Schutze, mit Ihrer Anleitung in diese Gesellschaft einzuschleichen. Aber in einer Beziehung bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Sie hoffen, daß man die Frauenftage von dem Punkte aus angriffe, welchen Sie für den Anfangspunkt halten, und welcher es theoretisch auch ist, nämlich mit der Einrichtung der Mädchenschulen nach den Prinzipien, welche fich aus der richtigen Auffassung der Frauenerzie hung ergebern Gewiß wird dies einmal kommen, aber nicht im Anfänge, sondern am Ende der Sache, weil die Menschen im ganzen hauptsächlich einzelne Gesichtspunkte eines Prinzips, sofort brauchbare, handgreiflich nützliche, d. h. nach der Meinung der großen Menge nützliche Teile der selben herausgreifen und praktrsch durchführen, wie das die Entwicklung aller großen Ideen zeigt. Man wird sich haupffächlich mit der Förde rung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts befassen. Das prak tische Bedürfnis wird dahin führen, erst den einen, dann einen zweiten, dann einen dritten Teil usw. der weiblichen Erziehung zu ändern, so wird man ganz allmählich zur konsequenten Durchführung der Prin zipien kommen, welche theoretisch längst klar gewesen waren
Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 1869. März (?). Lochgeschätzter Lerr Assessor I Durch den Ideenaustausch mit Ihnen lerne ich manche Erscheinun gen unserer Zeit besser würdigen, als rch es ftüher tat, und so hat mir Ihr letzter Brief manches zu denken gegeben. Indessen denke ich, soll man das eine tun und das andere nicht lassen, und ich halte Ls doch nicht für verfrüht, sondern großem Anheil vorbeugend, wenn man mit aller Kraft auf die Amgestaltung und Neu bildung von Mädchenschulen aller Stände hinarbeitet, und mein höch ster Wunsch wäre, in dieser Beziehung so oder so tätig sein zu können. Dem Anscheine nach bietet eine Pension ja ein reiches Feld, auf die Amgestaltung weiblicher Erziehung zu wirken, und doch ist es nur eben der Schein. Gerade die Pension hat mich aufgeklärt über die große Macht des mütterlichen Einflusses, die Macht der Verhältnisse, der Gewohnheit, und wie verrottet sind oft die Familienverhältnisse! Eine
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Kapitel IS:
Pension ist ein Stückwerk, bei dem man weder von Grund auf aufbauen noch bis zu einem gewissen Abschluß vollenden kann, und hätte ich vor 15 Jahren so klar gesehen wie jetzt, so würde ich keine Pension angefangen haben. Die Schule als Trägerin der Intelligenz muß erleuchtend und rei nigend auf das Familienleben zurückwirken, und in der Gründung ordentlicher Schulen, deren Leiter das Leben in seinen Tiefen und mannigfachen Gestaltungen kennen, die den Unterricht nur als Mittel zum Zwecke gebrauchen, und die eben aufs Leben vorbereiten — sehe ich immer den sichersten Weg zur Neugestaltung des Lebens, einen Weg, der zwar sehr langsam zum Ziele führt, aber der doch nach Generationen zum Ziele kommen wird. Schon in Watzum bei meinen Eltern war mir das klar geworden, und deswegen suchte ich die Nähe einer Stadt und fand, soviel mir widersprochen wurde, doch in Wolfenbüttel keinen ungünstigen Boden. Ich habe eine schöne Zeit verlebt in dem Glauben, daß ich zu einem An fänge gekommen fei, der für mich erst einmal Ziel war. Der Tod meiner Schwester Marie, in der ich eine unersetzliche Stütze verlor, abgesehen vor allem, was sie mir persönlich war, riß mich mit Macht zurück in die Arbeit für die Pension; denn es hat stets meiner Natur widerstrebt, das Nächste zu vernachlässigen, um in der Ferne schöne Ideen zu predigen. Das neue Leid*), das über uns gekommen, hat mich gezwungen, meine praküsche Tätigkeit im Schlosse fast ganz niederzulegen, da meine arme Mutter und Schwester das erste Recht haben auf jeden freien Moment. Es wird nun manches anders, als ich es möchte, was ich aber nur dann verhindern könnte, wenn ich selbst dort arbeitete. Es ist mein aufrichtiger Wunsch und Wille, aus dem Stückwerk der Pension das Möglichste zu machen, und da ich hier allein den Boden meirrer Tätigkeit habe, so kann ich gar nicht anders, als Mittel und Wege suchen, wenigstens einem Teil der mich bewegenden Ideen hier Gestal tung zu geben. Sollte ich aber jemals ftei über die nötigen Mittel zu verfügen haben, dre es möglich machen, den verrückten Anforderungen des Publikums eine gewisse Zeitlang Trotz zu bieten, so verwende ich sie sicher zur Gründung einer Schule, und ich denke immer, es würde den Leuten doch dre Augen öffnen für das, was eigentlich im Grunde *) Krankheit der Schwester Ledwig.
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872, 343 not tut, wenn die Schule einmal bestände. Vielleicht werde ich nie die Realisierung meines Ideals, welches ich angedeutet habe, erreichen, aber es ist noch eine stille Äoffnung; wie unbegründet sie auch sei, sie ist da. Ihr Brief hat mir zum Bewußtsein gebracht, daß ich eigentlich gar nicht mit dem Volke der arbeitenden Klasse in Berührung komme jetzt; muß ich mir daraus einen Vorwurf machen? Deutet es auf anstokraüsche Richtungen in meiner Natur? Vielleicht bin ich nicht frei da von zu sprechen, aber ich habe so viel geistiges Elend unter der so genannten gebildeten Klasse der Frauen gefunden, daß es wirklich all mein Fühlen und Denken und Landeln in Anspruch genommen hat. Nichtsdestoweniger interessiere ich mich für die Fragen, die das Volk betreffen und bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich üefer in die Sachlage, die Arbeiter betreffend, einführen. Ein vollständiges Arteil über Lassalle zu haben, maße ich mir nicht an; ich habe mir nur seine Bestrebungen zur Äebung des Arbeiterstandes auseinandersetzen lassen und fand sie unhaltbar, ohne sittlichen Grund und Boden; doch darin haben Sie ja dieselbe Meinung. Sie haben schon öfter die religiöse Frage berührt insofern, als Sie die Religion für durchaus notwendig zur sittlichen Äebung halten; es würde mich so sehr interessieren zu wissen, wie Sie darüber denken . .
Henriette Breymann an Karl Schrader.
Neu--Watzum, August 21. 1869.
Hochgeschätzter Herr Assessor! Sie haben mir eine große Freude bereitet, und ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank. Nie hat ein Kunstwerk auf mich tröstender gewirkt als der „Luther".*) Ich liebe dieses Werk und halte es in seiner Art für vollendet. In allem, was der Vollendung zustrebt, liegt so viel Versöhnendes, und in dieser Zeit brauche ich das besonders. So un sympathisch mir die Partei der streng Lutherischen, d. h. die sich so nennen, ist — so viel Fesselndes hat Luthers Persönlichkeit für mich, sowohl nach der Seite des Einheitlichen in seinem Charakter, wie auch nach der Seite der in ihm mächtig kämpfenden Widersprüche. In dem Manne ruht eineWelt, und der Moment, wo diese kämp-*) Gipsabguß des Lutherdenkmals zu Worms.
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sende, streitende Welt durch Äberzeugungstreue und Gottergebenheit sich löst in der Larmonie frommer Begeisterung, dieser Moment ist, meiner Äberzeugung nach, unübertrefflich vom Künstler erfaßt und dargestellt. Indem ich schreibe, muß ich immer wieder und wieder den Blick auf den „Luther" werfen, er ist einzig schön! Ich habe lange keine so herzliche Freude über etwas empfunden als darüber, dies Kunstwerk zu besitzen. Auch, daß Sie Beckers Schrift gelesen und Anregung dadurch ge funden, freut mich so sehr. Ich glaube, es wäre sehr an der Zeit, daß die Menschen, welche mit Ernst für die andern arbeiten möchten, sich auch über den religiösen Punkt recht klar werden, und so aus dem tiefsten Geiste heraus ein Gebäude aufführen, das da stark und kräftig in der Mitte steht, und der Orthodoxie sowohl als dem fteigemeindlichen Prin° zip, die beide gleich gefährlich sind, mit Bewußtsein die Spitze böte. Ich möchte. Sie lernten 35. Becker kennen, er ist der einzige, den ich meinen Pastor nennen möchte; er ist ein verständnisvoller, fleißiger, ernster Arbeiter. Ich schicke Ihnen noch einige Worte, die zu der Schrift gehören, und Bemerkungen von mir; wollen Sie nicht die Ihrigen hin zufügen ? Nehmen Sie noch einmal meinen Dank und einen herzlichen Gruß. Lochachtungsvoll I Lenriette Breymann. Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 11. September 1869.
Lochgeehrtes Fräulein I
Mit bestem Dank sende ich Ihnen in Beantwortung Ihres gestrigen Briefes hierbei die Schrift von L. Becker zurück nebst Anlagen, aller dings ohne Bemerkungen von mir, weil ich mit denselben noch nicht fertig geworden bin. Dieselben werden, wie ich mir neulich erlaubte an zudeuten, nicht eine Kritik des Inhaltes der Schrift, mit welchem ich ganz einverstanden bin, enthalten, sondern die Aufgabe, welche sich in der Jetztzeit eine religiöse Bewegung zu setzen hat, näher zu bestimmen suchen, also gewissermaßen eine Ergänzung zu der Schrift geben. Lerrn Becker bitte ich ebenfalls meinen Dank zu sagen, bis ich, wie ich hoffe bald zu können, ihm persönlich danke. Den Brief von Frau von Marenholtz füge ich gleichfalls wieder bei. Ich fteue mich, daß für das Fröbelsche Erziehungssystem energisch gewirkt wird, Erziehung und namentlich Volkserziehung ist die wich-
Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872.
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tigste Frage der Gegenwart, und soweit ich Fröbel begreife, scheint er den richtigen Weg zu einer Volksbildung einzuschlagen, welche nicht bloß Kenntnisse, sondern, worauf es vorzüglich ankommt, Charakter und Denkfähigkeit gibt. Wenn die Verhandlungen des am 26. zu Frank furt a. M. stattfindenden Kongresses gedruckt werden, so werde ich sie mit dem höchsten Interesse studieren, Hinreisen zu der Versammlung kann ich nicht, weil ich zu derselben Zeit in Warmbrunn in Schlesien sein muß, außerdem würde in einen Kongreß von Notabilitäten ein völlig Unkundiger, welcher nur lernen möchte, schlecht passen. Die Schrrst von Fichte, welche Frau von Marenholtz erwähnt, lege ich bei. Daß Sie auf einige Tage in den Äarz gehen, freut mich sehr; ich möchte, sie gönnten sich dort eine längere Ruhepause, denn solange Sie in W. sind, kommen Sie doch aus dem Drange der Geschäfte nicht her aus, und mag der Körper auch Ruhe finden, so kann doch der Geist sich nur dann von der Abspannung langer Arbeit und schwerer Sorgen erholen, wenn er auf einige Zeit die alte Ideenwelt abschütteln und sich im neuen Kreise bewegen kann. Nächste Woche gehe ich schon wieder von hier fort nach Dürkheim in der Pfalz und nach wenigen Tagen Aufenthaltes hier bis gegen Ende d. M. nach Schlesien; dann hoffe ich wieder Ruhe zu haben. Schwerlich werde ich das Vergnügen haben. Sie bei Ihrer AnWesenheit in Braunschweig zu sehen und mit Ihnen über Ihres Bru ders „Äeinrich den Löwen", welchen ich schon mehrmals besucht habe, zu sprechen. Mir gefällt die Statue sehr; die realistische Auffassung^ von welcher Ihr Lerr Bruder ausgeht, ist in einer durchaus schönen Weise verwirklicht, und die Auffassung des Gegenstandes wie die Aus führung zeugt von einer schönen Sicherheit und Klarheit des Wollens und Könnens des Meisters. Empfehlen Sie mich, bitte, den Ihrigen und Äerrn Becker bestens. Mit dem Wunsche, daß Sie bald wieder gekräftigt sein mögen, verbleibe ich Ihr ergebenster K. Schrader.
Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 1. Oktober 1869.
Lochgeschätzter Lerr Assessor! Mit dem herzlichsten Danke sende ich Ihnen den Aufsatz zurück, er ist meiner Seele eine Wohltat. Eine Lücke habe ich zwar in Fichtes
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Anschauungen gefunden, möchten Sie von beikommenden Papieren einige Seiten, von Seite 5 an, unten lesen? Diese Blätter enthalten, was ich anfing, über Fröbel zu schreiben, aber ich will Ihnen nicht zumuten, das Ganze zu lesen. Was mich so fesselt und hebt bei den Fröbelschen Ideen ist der Geist der Einheit; sie müssen allerdings verarbeitet werden, aber der Grund ist gegeben. Diese Einheit, welche die größten Weltgesehe zur Geltung und Anwendung bringen in den kleinsten Dingen; dieses große, wunderbare Geistesleben, das sich in stetigem Fortschritt hindurchzieht vom kleinsten Anfangspunkte bis zur größten Verzweigung. Wie man im Unterrichte jetzt anstrebt, alles in konzentrische Kreise zu bringen, so wollte Fröbel dies Gesetz schon auf die ganze Erziehung anwenden, und er hat die praktischen Mittel dazu gefunden. Wie ich schon früher gegen Sie äußerte, finde ich so wenig Men schen, d. h. so wenig ganze Menschen unter den Leuten; diese Zer stückelung und Zusammenhangslosigkeit in den Anschauungen selbst und in ihren Theorien und der Praxis tut mir immer weh. Es macht mich daher doppelt glücklich, daß ich durch Fröbel die Eck- und Bausteine finde zu diesem einheitlichen Gebäude, das dem Gedanken keine ihn beengende, zerstückende Schranken setzt, dem Gemüte, der Begeisterung ihr Recht gibt, und doch wiederum diese mühsame'Arbeit, die Treue im Kleinen fordert, ohne welche kein wahrer Charakter sich bildet. Und nun ist es mein höchstes Streben, mir klar und klarer zu wer den, wie man sich zu den Erscheinungen der Zeit zu verhalten hat, um dem als recht Erkannten treu zu bleiben, treu zu dienen, um die Person in den Dienst desGanzen zu stellen; nur das gibt Frieden. Lermann Becker empfindet dasselbe Bedürfnis, und ich freue mich sehr auf seinen Besuch; allein kann man im Getriebe des Lebens sich nicht zurecht finden, ich kann es wenigstens nicht, d. h. in bezug auf die rechte Stellung den politischen und sozialen Erscheinungen gegenüber. Die Frauen haben, meiner Meinung nach, nicht den Beruf, in der Weise w^ die Männer Partei zu ergreifen, aber in mir lebt das Bedürfnis, die Dinge ihrem eigentlichen Werte nach zu würdigen und innerlich die rechte Stellung dazu zu finden. Ich komme auch manchmal in die Lage, wo eine objektive Anschauung der Dinge für mich notwendig ist, wie z. B. in dem hiesigen Vereine für Erziehung. Ich weiß nicht, ob ich hindurch kommen werde und dazu beitragen, daß etwas Wesentliches erreicht werde, indem meine Stellung den verschiedenen Persönlichkeiten gegen-
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 347
über eine der schwierigsten ist, die sich denken läßt; aber ich will es
versuchen. Die Lauptsache ist ja die Bildung der Lehrerinnen, und daß ich meine Lieblingsstunden dort aufgegeben habe: Erziehungslehre, Fröbel praxis ist eines der größten Opfer, welche ich je gebracht. Ich gestehe auch, daß ich mir etwas mehr freie Land hätte erhalten können, wenn ich von Anfang an kälter und objektiver war und begriffen hätte, was ich jetzt erkannt habe in bezug auf die eine und die andere Persönlich keit; aber ich habe viel gelernt, und so ist mir keine Erfahrung leid. Wenn Sie den Aufsatz gelesen haben, so darf ich ihn mir gewiß wieder ausbitten, indem ich ihn mit Äermann Becker lesen möchte, der doch acht Tage, denke ich, hierbleiben wird.
Mit freundlichern Gruß!
Ä. Breymann.
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 4. Oktober 1869. Hochgeehrtes Fräulein!
Als ich heute gegen abend mein Zimmer im Direktionsgebäude betrat, fand ich auf dem Tische ein kleines Päckchen mit meiner Adresse und einer andern Aufschrift, welche mich gleich vermuten ließ, woher es stammte; Nachfragen bei den Dienern bestätigten dann meine Ver mutung, daß ich in Ihnen die heimliche, gütige Geberin jenes rerzenden Geschenkes zu erkennen habe, welches ich jetzt dazu benutze. Ihnen mei nen Dank auszusprechen. Sie haben allerdings ganz gegen die Regeln unseres Vertrages gehandelt, und ich sollte von Ihrer Ankenntnis des Rechts keinen eigennützigen Gebrauch machen, aber — da haben Sie ein Beispiel, wie schwach die edeln Triebe im Menschen sind, und wie notwendrg es gewesen wäre, daß sie bei mir kunstvoll, kindergärtnerisch und Fröbelisch ausgebildet wären. Ich habe auch keinen Augenblick diese Idee gehabt, so erfreut war ich von Ihrer Freundlrchkeit und davon, daß ich ein Andenken von Ihnen besitzen soll. Freilich hoffe ich, daß es nicht dazu dienen soll, an die Stelle lebendigen Gedankenaustausches Erinnerungen zu setzen, sondern daß die Art des Geschenkes auf die fernere Pflege der Beziehungen hinweist, welche gemeinsame geistige Interessen unter uns hervorgerufen haben; meinerseits kann ich es nur auf das lebhafteste wünschen, denn ich verdanke Ihnen die Anregung zu der Beschäftigung mit den höchsten Dingen, in welchen allein der
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wahre Vereinigungspunkt unseres ganzen Seins und Strebens gefun-
den werden kann. Nur von Ihnen konnte diese Anregung kommen, ohne daß ich sie
sogleich zurückgewiesen hätte, und ich freue mich jetzt mit jedem Schritte, welchen ich weiter tue, deutlicher meine Übereinstimmung mit Ihnen zu sehen.
Der Aufsatz von Fichte, welchen Sie so loben, ist mir in allen
wesentlichen Punkten ganz aus der Seele geschrieben. Was die zu künftige Stellung der Religion im Leben der Menschheit und in der Erziehung betrifft, so sind die Ideen, welche Fichte ausspricht, ähnliche, wie ich sie zu dem Aussatze von Ä. Becker bemerken wollte, und welche
ich nun schleunigst zu Papier bringen und Ihnen zuschicken werde, damit Sie nicht noch schließlich über meine „Iöckelei" zornig werden. Übri
gens sind Sie selbst daran schuld, daß ich diese Arbeit nicht gestern ge macht habe: gestern habe ich statt dessen auf höchsten Befehl die Auf sätze von Fichte und von Ihnen durchaus studiert mit heißem Bemühen,
und doch muß ich gestehen, mit beiden nicht so zu Ende gekommen zu sein, daß mir nicht ein nochmaliges Durchlesen sehr erwünscht wäre. Die Bruchstücke Ihres Werkes habe ich mit dem größten Interesse ge
lesen, und ich würde sehr bedauern, wenn es bei diesem Anfänge bliebe, welcher vermutlich nur ein kleiner Teil des Ganzen ist.
Etwas frappiert haben mich die vielen Unterabteilungen, welche Sie im menschlichen Geist machen, aber ich bekenne, daß ich über solche
Dinge kein ürteil habe. Welches ist der Plan des Werkes? Soll es ein Landbuch für Kindergärtnerinnen oder Erzieherrnnen sein, worauf das
erste wohl schließen läßt, oder soll es für das größere Publikum bestimmt
sein und diesem gewisse, praküsch besonders wichtige Teile der Lehre Fröbels vorführen? Sie sehen aus dresen Fragen, wie wemg ich von diesen Din
gen weiß. L. Becker hat mich durch seinen Besuch sehr erfreut; wenn er das
nächste Mal nach Wolfenbüttel kommt, suche ich ihn dort auf. Ich
wollte versuchen. Sie heute abend noch am Zuge zu sehen, aber ich habe wieder von 6 bis 8 Sitzung des Frauenvereines gehabt und konnte
deshalb nicht zum Bahnhöfe kommen. Ihnen mündlich zu danken.
Genehmigen Sie darum meinen schriftlichen Dank vorläufig. Den Ihrigen bitte ich mich bestens zu empfehlen; Ihren Bruder
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 349 Adolf treffe ich vielleicht am Sonnabend auf der Reise, da ich an dem selben Tage nach Naumburg und wahrscheinlich über Magdeburg gehe. Ihr ergebener K. Schrader.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 6. Oktober 1869.
Lochgeehrtes Fräulein 1 Sie haben recht; ich bin, wie die Berliner sagen, „eklig reingefallen"; strenge Nachforschungen und die Androhung allerhöchster Un gnade haben dazu geführt, die wahre Schuldige zu entdecken, und meine Unfehlbarkeit zuschanden zu machen. Übrigens lag die Vermutung auf Sie nahe genug. Denn erstens trug das Päckchen die Aufschrift: „ J’y pense", zweitens sagten mir die Pedelle, es sei von einer Dame in Trauerkleidung gebracht, und drittens waren Sie um diese Zeit in Braunschweig gewesen. An die richtige Geberin konnte ich aber gar nicht denken, weil ich ganz vergessen hatte und mich auch heute noch nicht erinnere, mit ihr ein „Vielliebchen" gegessen zu haben, und weil sie, die allerdings noch trauert, unserm Personal genau bekannt ist, und keine Ursache hatte, sich zu verheim lichen. Es ist nämlich die Frau meines Kollegen, des FinanzratesWolf, und die Gabe ist ein silberner Federhalter mit einer goldenen Feder. Wenn ich mich etwas beschämt fühle und darauf gefaßt bin, bei unserer nächsten Begegnung tüchtig ausgelacht zu werden, so bin ich der Täuschung deshalb dankbar, weil sie mir Gelegenheit gegeben hat. Ihnen zu sagen, was ich Ihnen danke, und wie ich Sie schätze. Wenn Sie Freitag nach Verden gehen, so sehe ich Sie vielleicht am Bahnhöfe; den Brief von Frau Köllner lege ich wieder bei. Mein Bruder Adolf war vor einigen Jahren in Verden als Assessor und ist wahrscheinlich Köllner bekannt. Leben Sie wohl, lachen Sie nicht zu sehr, mich auf einer Fehlbarkeit ertappt zu haben, und empfehlen Sie mich den Ihrigen. Ihr ergebenster K. Schrader. Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 10. November 1869.
Lochgeehrtes Fräulein! Nehmen Sie meinen besten Dank für die freundliche Übersendung der Monologen von Schleiermacher, welche mir Ihr Bruder Erich
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gestern zugestellt hat. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen nicht aus über triebener Löslichkeit, welche nach Ihrer Meinung mein Lauptsehler ist, sondern ernstlich dankbar bin für die Anregung, welche Sie mir zur Pflege des idealen Elementes geben. Nur zu leicht vernachlässige ich dies im täglichen Leben, zumal bei so rein realen Beschäftigungen, wie die meinigen sind, aber wenn man, wie es mir nun einmal geht, für seine eigene Person eigentlich kein Lebensziel hat, so fühlt man, wie doch nur ideales Streben über die Last des täglichen Lebens hinweghelfen und zum Fortarbeiten ermutigen kann. Leute nachmittag gehe ich nach Leipzig und kehre erst Ende der Woche zurück; die Monologen nehme ich mit und denke, schon während der Reise Gelegenheit zu finden, sie zu lesen. Daß Sie der Aufsatz von Fresenius*) interessiert, freut mich sehr; es ist viel Neues und Wahres darin, und es wird in anziehender Weise ausgesprochen. Wenn ich nicht irre, war der Verfasser bei dem Philo sophenkongreß beteiligt. Gestern abend habe ich den Dr. Reck gesprochen nach seiner Rück kehr aus Italien und von ihm gehört, daß sein Reisegefährte, Köllner, ein sehr unterrichteter, tüchüger und liebenswürdiger Mann ist, den er auf der Reise in jeder Beziehung schätzen gelernt hat. Er scheint also ein würdiger Bruder Ihres Freundes zu sein. Empfehlen Sie mich bitte den Ihrigen, und entschuldigen Sie den kurzen Brief mit der Eile, in welche mich mancherlei vor der Abreise noch zu erledigende Geschäfte versetzen. Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebenster
K. Schrader.
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 16. Dezember 1869.
Lochgeschätzter Lerr Assessor 1 Wenn es Ihr Ernst war, was Sie mir öfter sagten und schrieben, daß Ihre Natur das Bedürfnis fühlt, ein ideales Streben in sich zu pflegen, so wird Sie einliegender Brief fteuen, den ich gestern abend vorfand. Ich bin recht glücklich darüber, er ist mir wie aus der Seele
*) „Natur der Masse", erschienen in der Vierteljahrsschrist: „Die neue Zeit"; der Aufsatz behandelt die psychologische Einwirkung der Menschen aufeinander in Massen.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872.
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geschrieben. Ich hätte vieles zu erzählen über die Entwicklung meiner Arbeit hier .... Die Verhältnisse hier in unserm Vereine entwickeln sich so eigentümlich, daß ich wirklich in einer schweren Schule war und bin; aber ich glaube, Gott hat mir geholfen, das Rechte zu tun und zu finden; ich weiß jetzt, was ich will und kann, und nun möge Gott mir Helsen, treu zu arbeiten auf diesem Wege. Wenn ich der Orthodoxie die Lände reichen wollte, könnte ich viel leicht zu Ansehen kommen, denn ich könnte ein förderndes Werkzeug für sie sein in meiner Einwirkung auf Frauengemüter; aber wie isoliert ich mich auch fühle in meiner Anschauungsweise, ich bin mehr als je überzeugt, auf dem rechten Wege zu sein, und so muß ich weiter. Ich will nichts tun, was ich meinen Gefühlen nach für unweiblich halte; aber ich will unerschütterlichen Widerstand leisten in meinem kleinen Kreise und will meine Schülerinnen (ich habe nur wenige, da mir das Feld genommen) zu dieser stillen, aber festen Arbeit erziehen .... Irr wie viele Konflikte kann doch das Menschenherz geraten, und wre tief habe rch empfunden, welche Kraft die innige Gemeinschaft mir Gott gibt, wie das Gebet eine Tat ist. So bin ich nun in mir zu einem ge wissen Abschluß gekommen, und ich hoffe, es wird mir ferner nicht zu schwer werden, der Einheit von Gedanken, Gefühl und Tat treu zu bleiben, die anfängt, nach vielen Kämpfen in meinem Innern sich zu gestalten. Shakespeare sagt: „Es gibt Dinge zwischen Limmel und Erden, von denen sich die Philosophen nichts träumen lassen." And bei Gott, das ist wahr. Für diese Dinge haben gewisse Leute kein Verständniss aber man muß sich doch diesen Menschen anschließen, denn sie machen die Bahn frei von Lemmnissen, von diesem entsetzlichen Neligionssystem der Kirche, das so entsittlichend wirkt, wenn nicht wahre Fröm migkeit damit sich findet; das Pharisäertum unserer Zeit ist groß. Wie habe ich Ihnem oft im stillen gedankt für den Luther; wirklich, wenn ich mich zum Besseren entwickelte, so trägt er einen großen Teil daran; so ein wahres Kunstwerk ist, wie ein Schriftsteller sagt: „Ein Licht, welches vom Göttlichen ausstrahlt." Das tiefe Geheimnis der Iesuliebe mehr und mehr zu ergründen^ dann den Nächsten zu lieben wie uns selbst, ist wahrlich mehr als ein Akt von liebeseligem Gefühl — bei vollkommener Freiheit des Geistes —, das ist die Aufgabe der Erziehung. Nun, schicken Sie mir bald Ihre Arbeit, wenn sie nicht unter Eisen-
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bahnakten begraben liegt, und geben Sie mir für den schönen Gedanken einmal wieder Nahrung. Laben Sie meinen Schleiermacher ein bißchen lieb? Schleier machers Monologen erscheinen mir wie ein mächtiger Gesang einer frisch erwachten Menschenseele, die noch glaubt, mit unbeschränkter Sehnsucht nach dem Göttlichen, in starker Subjektivität den wider strebenden Stoff des Erdenlebens sich dienstbar zu machen und gen Limmel zu ziehen. Wohl hat der Dichter seine Larfe später in manch andern Ton gestimmt; aber immer bleiben gewisse Grundakkorde des Büchleins wahr, wenigstens für mich, indem sie in eigener Brust ver wandte Töne wecken und zu schöner Larmonie weiterspinnen.
Wenn Ihnen die Monologen gefallen, richte ich die Bitte an Sie, dieselben als einen Beweis meiner auftichtigen Freundschaft für Sie zu behalten. Es grüßt Sie herzlich und wünscht Ihnen ein ftohes Fest,
L. Breymann.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 27. und 29. Dezember 1869. Lochgeehrtes Fräulein! Wollen Sie mich eigentlich durch Güte verwöhnen? Kaum ver suche ich die ersten Schritte auf einer Bahn, auf welcher Sie mir Füh rerin und Lehrerin sind, so belohnen Sie schon mein erwachendes Inter esse durch eine Gabe, welche ich höher als irgendeine andere schätzen muß, weil das schöne Buch mit so vielen Erinnerungen für Sie und an Sie verknüpft ist, daß es mehr als etwas anderes ein Ändenken an
Sie ist Diese Beziehung zu Ihnen gibt dem Studium der Monologen für mich noch einen neuen Reiz, und ich hoffe schon Zufriedenheit wenig stens durch den Ernst zu verdienen, mit welchem rch in den Sinn Schleiermachers einzudringen und ihn gerecht zu beurteilen suche. Wie Sie in Ihrem Briefe sagten, sind die Monologen „der mäch tige Gesang einer frisch erwachten Seele, welche noch glaubt, mit un beschränkter Subjektivität den widerstrebenden Stoff des Erden lebens sich dienstbar machen zu können und gen Limmel zu ziehen". Die wun derbare Macht und Schönheit, zugleich aber auch die Schwä-che der Monologen liegt in dieser starken Lervorhebung des Rechtes der Subjeküvität und Individualität. Die Monologen sind in mancher Be-
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872 3 5 3
Ziehung ein Ausdruck des Geistes, welcher in dem Zirkel der Rahel Levin und der Äerz herrschte, und welcher gerade durch zu starkes Betonen des Rechtes der Individualität neben vielem Großen auch manches wenig Erfreuliche gefördert hat. Aber was ich nicht ganz billige ist nicht das, was gesagt ist, als vielmehr, daß manches, was hätte gesagt werden müssen, fehlt. Es ist recht wenig in den Monologen, dessen volle Wahr heit und Schönheit ich nicht anerkennte, und ich bin überzeugt, daß Schleiermacher das, was ich hinzuwünschte, eine stärkere Betonung der Pflicht des einzelnen, dem Ganzen zu dienen, und der Anmöglichkeit, sich vollständig zu entwickeln, ohne dieser Pflicht (soweit es die Indivi dualität erlaubt und fordert) zu genügen, in späteren Schriften nachgeholt hat. Manches erlaube ich mir Ihnen später noch über die Mono logen zu schreiben, wenn ich selbst meiner Sache sicherer bin, denn ich fühle nur zu gut, daß ich mich in einen neuen Ideenkreis erst allmählich und schwer hineinfinde und das, was ich darüber sage und fühle, noch gar keine festen Gedanken sind. So ist es mir auch mit der Schrift von Ä. Becker ergangen, ich fühlte, daß es meinen Gedanken darüber an Sicherheit und Klarheit fehlte, aber ich wollte sie doch aussprechen, wert ich hoffe, daß die Kritik, welche ich mir dringend erbitte, zur Lerbeiführung größerer Klarheit führen wird. Über diese Dinge vermeide ich, wie Sie, schon deshalb mit solcher: zu reden, bei welchen ich ein Verständnis nicht voraussetzen kann, weil ich selbst noch nicht klar bin Am so lieber wäre es mir, wenn ich mit Ihnen mich darüber unterhalten könnte, denn die Briefe ersetzen durchaus nicht die mündliche Rede und Gegenrede, aber leider werde ich von der nächsten Gelegenheit, welche Sie mir dazu bieten, wohl keinen Gebrauch machen können Sie erlauben mir daher wohl, schriftlich noch einen Gegenstand zu berühren, welchen wir sonst mündlich besprochen hätten: Das Verhält nis des Kindergartens und der Fortbildungsschule der Weg, welchen Sie gegenüber dem Verfahren von Fräulein Vorwerk, den Mitgliedern des Vereins vorgeschlagen, ist gewiß der allein richtige. Es ist möglich, daß auch dieses Verfahren schließlich zu einer Trennung führt, dann hat man aber doch nur geschieden, was nicht mehr zusammen zuhalten war Mit der Bitte, mich den Ihrigen bestens zu empfehlen und mein Ausbleiben gütigst zu entschuldigen, Ihr ergebenster K. Schrader. L y s ch i n s k a , Henriette Schrader I
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Kapitel 18: Äenriette Breymann an Mary Lyschinska. Neu-Watzum. 27. Januar 1870.
Das Leben bringt mir viel und liebe Arbeit. Ich habe Dir vom Assessor Schrader geschrieben; er interessiert sich ernstlich für Fröbel, und er ist hier mit in den Wolfenbüttler Verein für Erziehung getreten mit größeren, ernsteren Plänen für Braunschweig; wir sehen uns öfter und schreiben uns ost und haben die ernstesten Bestrebungen gemeinsam. Ich glaube wirklich, daß ich in ihm einen Freund im wahren Sinne des Wortes gefunden. Im reiferen Alter tritt das Persönliche, Sym pathische, was das jugendliche Äerz ersteut, in den Lintergrund, darum hat aber auch die Freundschaft einen ruhigen, klaren Charakter ohne Austegung und Leiden. So hat jede Zeit des Lebens ihr Schönes, man nluß es nur zu fassen wissen. Die Jugend, eine Seligkeit in dem „Langen und Bangen in schwebender Pein" Könnten sich im reifen Alter noch Bande der Liebe weben, so würden sie ganz anderer Art sein als in stüheren Jahren Ich habe viel Trauriges erlebt, seitDu fort bist, mehr als ich schrei ben kann und mag, aber Du mußt einmal wiederkommen, daß ich Dich an mein Lerz drücken kann und Dir sagen, was ich alles in der Zeit erlebt. Ich glaube, ich habe einen guten Kampf gekämpft und bin aus mancher Versuchung siegreich hervorgegangen, aber es war oft recht öde in mir, und ich habe viele Schmerzen gelitten; nun jetzt scheint sich mein inneres Leben so reich zu gestalten, es ist so schön, wenn man einen andern so hoch achten kann, wenn man so recht vollen Glauben hat an das Innere eines andern Menschen, und wenn man sich beeinflußt fühlt zu allem Guten; wenn man bescheiden wird dem andern gegenüber, weil er da seine Stärken hat, wo wir unsere Schwächen haben^ ohne der Stärken zu ermangeln, die wir selbst besitzen. Es findet sich wohl nicht ost im Leben, aber es kommt doch vor, daß eine unausgesprochene Ein wirkung auf unser Geistesleben vom andern ausgeht . Übermorgen ist hier eine Konferenz von der Familie Breymann
und dem Assessor Schrader und Lermann Becker, der jetzt Pastor [in. Goslars ist, Ledwigs Verlobter. Mittwoch wollen wir nun umser Glau bensbekenntnis kurz formulieren und die Konsequenzen ziehEn, die ein solches Bekenntnis hat in bezug auf Fragen der Politik, des sozialen Lebens, der Pädagogik, und was jeder einzelne in seiner Wirksamkeit
Korrespondenz zwischen S5.Breymann und K. Schrader bis 1872. 355
zu tun hat, und was wir gemeinsam tun können, dasReich Gottes zu fördern. Wenn sich alles bestimmter gestaltet hat, so werde ich Dir mehr davon schreiben. Es ist ein kleiner, aber ich glaube fester Kern, der sich zusammengeschlossen und gefunden, und möglicherweise können von ihm noch segensreiche Beziehungen für andere ausgehen Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Wah um. 17. Februar 1870.
..... Wenn wir unsere gemeinsame Ideen in die Praxis über tragen wollen, so muß auch jeder dem andern mit seinen Stärken zu Äilfe kommen, und Sie können uns unendlich viel helfen, wenn Sie wollen. Sie haben so viel mehr Welttakt, oder wie ich es nennen soll, als wir.
Ich z. B. habe gar keine angeborene Vorsicht, und wenn ich nicht ein bißchen Verstand hätte, so würde ich nicht bei Dummheiten stehen geblieben sein und stehenbleiben, sondern Verrücktheiten begehen. Mein Ideal ist, recht Lebendigen, innigen Glauben zu haben an die herrliche Entwicklung der Geistesgesehe, Glauben an das Göttliche im Menschert; aber Nüchte ' nt im Verkehr; in möglichster Anpersönlichkeit und Ob jektivität über di esem Getriebe der Leidenschaften und Beziehungen der Mmschen zu ste hen, geht mir ganz ab.
Sie wolltet mir noch manches über Schleiermacher sagen oder schreiben?
Ich weiß errst jetzt, wie gefährlich mir das Buch, die Monologen, genesen, da es Mir in die Lände kam, als ich noch sehr jung war, und dock habe ich es so geliebt; aber ich möchte es jetzt z. B. gar nicht lesen unt freue mich, daß ich es nicht habe. Ich finde es so wahr, was Sie übe: die Monobogen sagen; es ist eine große Einseiügkeit darin.
Gestern wo»llte ich Sie nach Ihrem Vortrage in dem „Verein für das Wohl der a rbeitenden Klaffen" fragen; ich interessiere mich dafür, in velcher Weise Sie die Wohltätigkeit auffaffen, werden Sie mir gern darrber etwas sagen oder sprechen Sie vorher nicht gern davon? Die Gester sind darin v-erschieden, und jeder muß darin seiner Natur folgen, ich werde ihn ja hö^en. Einliegende Notizen lesen Sie wohl gelegentlich einmal.
Mit fteundlichem Gruß
L. B.
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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 18. Februar 1870. Hochgeehrtes Fräulein!
Ich werde also, wenn ich nicht andere Nachricht erhalte, mir er lauben, am 23. nachmittags gegen 5 Ahr zu kommen, um H. Becker meinen Gegenbesuch zu machen und zu verhandeln über den Gegenstand der verabredeten Zusarnmenkunft. Äbrigens sollen Sie mich nicht rühmen einer Eigenschaft, an wel cher ich selbst wenig Lobenswertes finde. Wenn ich im äußeren Be nehmen vorsichtig bin, so ist das eine Folge davon, daß ich früh, schon auf der Schule, in Gemeinschaft mit andern Menschen habe wirken und lernen müssen, mich in ihre Eigenheiten zu finden und gute, ja selbst schlechte Eigenschaften anderer nützlich zu verwenden. And so geht es mir bis auf den heutigen Tag. Wer im öffentlichen Leben wirken will, muß, er mag wollen oder nicht, lernen, sich mit Menschen zu behelfen, aber diese leicht zu erlangende Fähigkeit ist ganz unerheblich gegenüber dem eigentlich treibenden Momente, dem idealen Sinne, der uns dazu führt. Vollkommeneres zu wollen und zu erstreben. Diesen Sinn soll man pflegen, und wäre er verbreiteter, so würde man nicht so oft mit Vorsicht sich wappnen müssen, weil jeder das Ziel, das erstrebt wird, genug achten würde, selbst einen Mangel an Vorsicht nicht zu berücksichtigen. Also mit der Hoffnung, Sie am 23. zu sehen, Ihr ergebenster
K. Schrader.
Henriette Breymann an Mary Lyschinska. Neu-Watzum. 17. März 1870.
Dein Bries war wie ein Kuß auf meine Seele, wie viel enthielt er für mich! Benutze nur Deine Zeit in Genf, gehe zuweilen in den Kinder garten bei Frau von Portugal!, Du kannst da viel lernen. Fröbel entwickelt sich immer neu bei mir, nicht große Kindergärten sind es, die Segen stiften, sondern Familienkindergärten, d. h. 10 bis 12 Kinder unter Aufsicht eines jungen Mädchens Habe ich Dir erzählt, daß ich „Hermann und Dorothea" durch nehme, [in der Literaturstunde^ und ich habe einen tiefen Zug der Erquickung an diesem Werke getan. Fromme Natürlichkeit durchzieht
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 357 das Ganze, und Wahrheit und Natur wehen mich an mit reiner, bal samischer, stärkender Luft. Da ist eine Sittlichkeit und Tüchtigkeit in dem Stücke, die man liebend umfassen kann. Ich möchte Dir vorlesen, was ich über Äermanns Charakter und dessen Entwicklung geschrieben; vielleicht schreibe ich Dir einiges ab. Wenn ich diese tiefe Religiosität des Epos bewundere, die durch den Pfarrer wie die lebengebende Blutzirkulation das Ganze durchdringt; wenn mich die Macht der reinen Liebe, die Goethe schil dert, begeistert, und die Wahrheit und Sittlichkeit des Ganzen mich förmlich in eine glückliche Erregung versetzt, und denke dann an Goethes Leben, so wird es weh im Kerzen, und ich verstehe, wie das Genie so aus dem Urquell in ein Gefäß fließt, welches man „Mensch" nennt; wie das Genie abgesondert dasteht vom Charakter dieses Menschen. Es wird mir klar, wie sich der Mensch die Gaben, die ihm werden, erst wie der erringen muß, um sie sein eigen zu nennen. Wieviel Goethe sein eigen nannte von dem wunderbaren, übergroßen Reichtume, der ihm wurde, wer möchte es bestimmen? Er hat seinen Richter gefunden Gott hat die Natur und die Menschen in ihren Beziehungen zueinander so herrlich geschaffen, aber sie fiiii) so verwirrt, daß timn die ursprüng liche Wahrheit kaum mehr versteht. In „Kermann und Dorothea" ist sie. Was ist es Großes, Gött liches um die Liebe zwischen Mann und Weib, und wozu werden die Beziehungen der Geschlechter? Du weißt es leider selbst. Sieh, nur der wahre Mann kann das wahre Weib ganz verstehen, und so strebt jedes Wesen, seine Vollendung im andern zu finden. Glück lich, wer seine Subjektivität so weit beschränken, wer so in andern leben und lieben kann, daß die Sehnsucht nach Liebe dadurch in den Schran ken gehalten wird; aber kommen wird sie früher oder später, da sollen wir unser Kerz einfach beugen unter die Natur. Dre Natur will es so; aber diese Momente sind die gefahrvollsten für das menschliche Äerz, ach, und da kann ein treues anderes unser Retter werden, da kann die treue Liebe eines andern uns helfen und tragen und auch die Arbeit für andere Du interessierst Dich für meinen Verkehr mit dem Assessor, und Du hast recht; er ist auch ein Glied in der Entwicklungs kette meines innern Lebens; aber ohne Erregung geht es doch nicht ab; ob er wirklich mir. für die Dauer.geben kann, was ich von ihm erwarte? Ob er eine Natur ist, welche Wahrheit fähig, sie ertragen karrn? Die hindurchblickt durch den Nebel des Lebens in das Innere des mensch-
lichen Seins? Gestern waren wir dort, und ich bin eigentlich traurig; entweder hat er mich sehr lieb, lieber als ich dachte, oder er macht mir den Los. Solche Unklarheit ist für eine Natur wie die meine peinlich, und am liebsten möchte ich gleich Klarheit darüber haben, aber ich habe so manchmal durch ungeduldiges, hastiges Eingreifen den gesunden, füllen Entwicklungsgang eines Verhältnisses gestört — ich werde es nicht mehr tun. Im übrigen fühle ich mich gar nicht getäuscht in dem Wesen des Assessors; sein feiner Geist, seine Willensstärke und sittliche Kraft, sein ungemein maßvolles Wesen flößen mir Respekt ein, und ich fühle, daß ich mich an ihm bilde; selbst wenn ich entdeckte, daß er mir den Los machte, würde ein gewisser Verkehr stets zwischen uns bleiben; aber das tief Menschliche, das ich oft in mir von ihm berührt fühle, der Verkehr der innern Natur würde aufhören und damit ein schönes Stück Leben in mir. Nur die Zeit kann lehren, ob ich so oder so in ein ideales Ver hältnis zu einemManne treten werde, oder ob ich in dieser Beziehung allein bleibe. Mich könnte eine wahre Freundschaft zu einem Manne so beglücken und so viel schöne Lebensfteude in mir wecken; aber das Lerz soll nicht begehrlich sein; habe ich nicht in Dir und Annette*) Kin der gefunden, mit denen ich wirklich so aus tiefster Wahrheit der Natur verkehre? Ob ich nach Italien gehe, ist noch ganz unbestimmt, liebe Mary; der Assessor hat verschiedene Pläne der Wirksamkeit für Fröbel in Braunschweig, und mich umfaßt ost eine Angst vor den vielseitigen Beziehungen, die mich verhindern, einigen etwas Ordentliches zu sein. Nehme ich alles ernster, ist meine Arbeit gewachsen, habe ich nicht rnehr die alte Kraft? Kurz, ich sehne mich nach Vereinfachung. Indes ist immer eine Ferienreise möglich; die amerikanische Gesandtin, Mrs. Marsh und die Marchesa Guerrieri in Florenz wollen eine frühere Schülerin von mir haben, und sie laden mich ein, dort für Fröbel zu wirken. Vorerst habe ich Miß McDonald als Lehrerin an ein prote stantisches Waisenhaus, das Mrs. Marsh dort gegründet hat, geschickt; Gott gebe, daß Miß McD. vernünftig wird, fden dortigen Verhält nissen Rechnung trägt] Dort kommt sie in einen außerordentlich ein flußreichen Kreis, und ihre Wirksamkeit kann große Bedeutung für Ita*) Annette Äamminck-Schepel, spätere Mitbegründerin des Pestalozzi-Fröbel-Lauses in Berlin.
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 359 lien erlangen. Was mir große Bedenken einflößt gegen eine Reise nach Italien, ist die Trennung von meinerMutter; sie lebt so füll und ruhig in uns, die ihr noch geblieben sind; sie ist Gott ergeben im schönsten Sinne des Wortes, und ihr Leben ist wie ein stiller Sommerabend, wenn die Sonne heimging, und der Äimmel so in sanfter Klarheit einen Frie denshauch über alles legt, was unter ihm wohnt. So ist meine Mutter, Mary, wie ich sie liebe. Anna und ich leben uns immer mehr ein; es kann nicht leicht ver schiedener angelegte Schwestern geben, als wir es sind, und es erschien mir oft grausam für sie und mich, daß gerade wir beide zusammen leben sollten. Aber mein Respekt vor Anna wächst so, indem sie ihre Natur, die gar nicht für ein Perrsionsleben paßt, so opfert und mit immer größerer Treue diesen täglich wiederkehrenden Pflichten lebt; der Zank apfel war bisher nur der Besuch; ich hielt und halte es noch für meine Pflicht, von Zeit zu Zeit Menschen zu sehen, wahrhaftig nicht für mich, sondern überhaupt des Ganzen wegen. Anna sieht aber die Sache von einem andern Gesichtspunkte an; Weihnachten war noch ein Generalzank Albertine schrieb mir noch heute, wie glücklich sie Fröbel mache bei ihrem Kinde; sie nennt es in bezug auf mich „unser" Kind. Ach, Alber tine ist eine wunderliebliche Natur
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 13. April 1870. Hochgeehrtes Fräulein l Ihre Klagen über diese traurige Entwicklung eines von so großen Hoffnungen begleiteten Anfangs begreife ich vollständig; Sie können Ihrer Natur nach nicht anders, als sich voll an das, was Sie ergreifen, hinzugeben, Ihre ganze Persönlichkeit dafür einzusehen; und nun zu sehen, wie alle diese Hoffnungen zu Grabe getragen werden müssen; wie alle noch so schmerzliche Ergebung nichts geholfen hat, wie die Per son, an welche man diese Hoffnungen zum großen Teil geknüpft hat, sie nicht erfüllt, sondern die Liebe, welche ihr entgegengetragen und lange bewahrt ist, mit Andank lohnt, muß tief betrübend sein. Aber verlieren Sie darum den Mut nicht; vielleicht gelingt es, das Äußerste noch zu verhüten*), und soll es doch kommen, nun, solange der
*) Die Auflösung des Wolsenbüttler „Vereins für Erziehung".
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Kapitel 18:
Mensch sich selbst treu bleibt, vermag er auch seine Kraft zu wahren, und für die verlorene Tätigkeit eine neue zu schaffen. Llnd werden Sie nicht gar zu mißtrauisch gegen die Menschen und bitte nicht auch gegen mich; ich bin nicht gerade geneigt, aus mir herauszugehen, was ich aber will, weiß ich wohl, und wenn ich Sie bitte, an meine Freundschaft zu glauben, so tue ich es nur in dem Bewußtsein der Verpflichtung der Treue meinerseits und in der Überzeugung, daß wir uns miteinander vertragen werden und zusammen wirken können. Klagen Sie nicht über Ihre Fehler; Sie haben einen, den ich zu Ihren größten Vollkommenheiten rechne, rücksichtslose Wahrheit gegen sich und gegen andere, und der Ihnen bei andern schaden mag, bei mir sicher nicht. Bitte, grüßen Sie zu Laus. Wenn ich Freitag komme, gehe ich auch zu Ihrem Bruder Karl. In der Loffnung, Sie Freitag zu sehen,
K. Schrader.
Ihr ergebenster
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 18. April 1870. Lochgeschätzter Lerr Assessor!
Neulich fand ich nicht Gelegenheit, Ihnen zu danken für Ihren letzten lieben Brief, mit dem Sie mir so wohlgetan. Es wirkt beruhigend und fördernd auf mein ganzes Wesen, wenn ich an Sie glauben. Ihnen ver trauen darf, und ich tue das. Meine Natur ist mächtiger als mein Wille, denn sonst möchte ich am liebsten allen Menschen außer meiner Mutter mißtrauen. Wie beneide ich Sie und Ihre Willensstärke; ich glaube. Sie können mit sich machen was Sie wollen. Seit Sonnabend ist Frau Lohenemser hier, und so sehr mich der Verkehr mit dieser Frau freut, so wird es mir fast zuviel; ich glaube mich oft am Ende meiner Kräfte. Ich darf wirklich nie wieder in solche Kämpfe kommen wie jetzt, ich muß ruhiger von innen heraus schaffen und wirken, wenn ich mein Bestes nicht zersplittern soll. Deshalb habe ich alle Verhandlungen über die Errichtung eines Kindergartens in Braunschweig abgelehnt. Seit den Erfahrungen der letzten Zeit [irrt Erziehungsverein zu Wolfenbüttel^ wird es mir viel leichter werden zu resignieren, wenn ich einen Lerzens wunsch nicht erfüllt sehe, wirkliche Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen in der weitesten Bedeutung des Wortes zu erziehen und so bestimmter
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 361 und direkter für den wahren Fortschritt zu wirken, als was ich bisher tat. Ich kann die Weiblichkeit meiner Natur nicht loswerden, und somit muß ich aus Dingen herausbleiben, die einen männlichen Charakter erfordern. Ich leide zu viel in dem Kampfe, und die Kraft, die ich einbüße, kann ich besser verwenden; ich habe keinen Ehrgeiz fzu siegens Frau Lohenemser stimmt so ganz mit mir darin überein, daß das Wichtigste, was man tun könnte, wäre, ein Laus zu gründen für unbemittelte Mädchen. Die Erziehung der Frau ist der Anfangs punkt zur sittlichen Erhebung der Menschheit; die Katholiken und die Orthodoxen sProtestanten^I wissen wohl, was sie tun, wenn sie die Frauen sich zu Stützen erziehen, denn sie sind treu, sie haben das Be dürfnis, etwas mit ganzer Seele zu erfassen, und das Ideale des Lebens zu pflegen. So geben sie ihnen in der „Mutter Gottes" einerseits, „im Lerrn" anderseits den Konzentrationspunkt für ihre Natur und verlangen in deren Namen das willenlose Aufgeben der Persönlichkeit; sie schildern das Leben als Sündenpfuhl und verlegen den Schwerpunkt für ihre Idealität in jene Welt. Aber ich weiß, daß es dieser künstlichen Mittel nicht bedarf, die Kräfte im Weibe in Bewegung zu setzen, denn sie ist wiederum emp fänglich ftir Wahrheit und Natur. Ja, wenn die freisinnige Partei sich organisieren wollte wie die andern, wenn sie zum Anfangspunkte zurückgehen möchte — zur Frauenbildung, da könnte noch vieles geschehen. Ich habe hie und da Gedanken, wie sich vielleicht die Perrsion hier umgeftalten ließe Eben erhalte ich einliegenden Brief, er hat mich wieder so auf geregt, daß ich Lerzklopfen bekam, und meine Lände zitterten, daß ich kaum eine Antwort schreiben konnte, meine Mutter hat sie abgeschrie ben; finden Sie meine Antwort so recht?
Mit herzlichem Gruß!
L. Breymann.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 19. April 1870. Lochgeehrtes Fräulein!
.... lassen Sie es genug sein von Anna Vorwexk; finden Sie fich darein, daß sie nicht das war, was Sie glaubten, und lassen Sie sich diese Täuschung nicht zu sehr schmerzen, sehen Sie lieber hoffnungs-
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Kapitel 18:
voll in die Zukunft. Verzagen Sie nicht, daß Sie nun nicht wieder eine Wirksamkeit finden würden, wie sie so schön sich zu gestalten begann, und wie sie nun durch den Egoismus anderer gestört zu werden droht. Vielleicht bleibt sie erhalten, vielleicht findet sich etwas anderes; solange man nur eine Idee festhält, kann man hoffen, daß der Augenblick, eine Gelegenheit kommen wird, wo man sie verwirklichen kann. Sehen Sie einmal Fröbels „Menschenerziehung" Seite 23 Zeile 13 ff. von unten an, und ziehen Sie aus ihr die Anwendung für Ihr Streben. Der Fröbel ist überhaupt doch ein großer Mann; ich habe die Festtage in seiner „Menschenerziehung" studiert, und so unklar und un ordentlich er manchmal im einzelnen ist, so große Ideen hat er doch im ganzen. Er ist gewiß recht unpraktisch im Leben gewesen, und doch öffnen manche seiner Gedanken einen weiten Blick gerade auf praktische Dinge. So der § 13 der „Menschenerziehung". Kier hebt Fröbel hervor, daß der Erzieher in seinen Beziehungen zum Zöglinge sich nie auf sich (d. h. auf Willkür), sondern immer auf ein Drittes, Löheres berufen müsse, welches gleich über beide herrscht. Das ist nicht bloß Erziehungslehre, sondern Lehre für alle Lebensverhältnisse, in welchen jemand auf andere bestimmend einwirken muß. Nur der kann dauernd über andere Einfluß haben, welcher diesen Einfluß auf ein höheres Prinzip zurückzuführen versteht; wer das nicht oder nicht mehr kann, vermag auch nicht oder nicht mehr zu herrschen, dennWillMr will niemand dulden. Sie können die Wahrheit des Satzes in der Geschichte und im täglichen Leben beobachten. Er ist es ja gerade, welchem die Orthodoxie ihren Einfluß verdankt, und ehe nicht die fteisinnige Richtung über das Negieren hinauskommt, hat sie keine Macht; man muß für Ideen positiv zu schaffen suchen, dafür findet man dauernde Begeisterung; zerstören kann man in der Leiden schaft des Augenblicks, hinterher folgt aber sicher die Abspannung. Es würde interessant sein, gerade von diesem Standpunkte einmal das bisherige Wirken des „Protestantenvereins "anzusehen, und ich habe mir fest vorgenommen, es zrr tun und darüber einmal in unserm religiösen Vereine zu sprechen. Das verstehe ich vielleicht, und ich trage dann auch mein Scherflein bei. Leben Sie für heute-wohl, und empfehlen Sie mich den Ihrigen, auch Martha*), mit welcher ich hoffentlich später noch bessere Freund schaft schließe. K. Schradep. Ihr ergebenster *) Das zweite Kind von Karl Breymann.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 363
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Oker i. Äarz. 18. Mai 1870. Lochgeschätzter 55err Assessor! Ihr Bruder war gestern abend hier und sagte, daß er und seine Frau noch nicht bei Ihnen gewesen seien, er forderte mich wiederholt auf, mit ihnen zu einer Beratung süber die Zukunft des Vereins für Erziehung^, zu Ihnen zu gehen, und so werden wir wohl zusammen kommen Die Nachwirkung von der wunderbar schönen Natur ist eine wohl tuende; aber sie steht auch in einem Stadium, wo sie alle ihr zu Gebote stehenden Zauber wirken läßt. Viel Schönes ist schon geworden und da bei noch tausend zarte Keime sind im Werden. Noch ist das Laub der Buchen nicht so stark, daß es das Gezweige der Äste versteckte, in bereu
Zusammenhang ich mein Auge so gern versenke, und aus den ernsten Tannenwäldern bricht hie und da junges Grün wie ein Licht hervor. Sie sollten in den Larz bald gehen. Sie sollten sich zuweilen Heraus reißen aus dieser ewigen Arbeit für andere; gerade Sie sollten das tun, es wäre so zu beklagen, wenn das kritische Element in Ihnen immer mehr die Oberhand gewänne; es ist gerade genug, vielleicht schon ein bißchen zuviel, das sehe ich an Ihrer Beurteilung von Schiller. Ich mußte lächeln, als Sie mir neulich schrieben. Sie hätten sich vorgenommen, mir einen recht verständigen Brief zu schreiben. Sie brauchen sich doch so etwas nicht vorzunehmen? Ich habe Ihnen schon gesagt, ich beneide Sie um die Lerrschaft, die Sie über sich haben, und wie Sie sie erlangt, in dem Grade erlangt haben, wie Sie sie besitzen, unter den Verhältnissen, in denen Sie aufwuchsen — soweit ich Sie beurteilen kann —, wie gesagt, es ist mir ein Rätsel. Aber, es ist ein wahres Wort: Wo unsere Stärken liegen, liegen auch unsere Schwächen, nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht so ein Wesen werden, „das nicht fühlt und nicht weint", wie Schiller sagt, und Schiller hat doch viel Wahres gesagt, und wie mir auch Goethe das Löchste ist, so habe ich Schiller doch lieb und lasse ihn mir nicht aus dem Lerzen reißen. Es ist schlimm genug für Sie, daß Sie ihn so wenig würdigen können. Ich habe in dieser Zeit manch bitteren Tropfen zu trinken bekommen .... zwar sagt Schiller durch Maria Stuart: „Man kann uns niedrig behandeln, aber nicht erniedrigen"
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Kapitel 18:
Wie kann ich Maria Stuart so nachfühlen in ihrem Gespräche mit Elisa beth, wie aus tiefster Seele würde auch mir das Wort kommen: „O, mir ist wohl!" wenn ich einmal alles gewissen Menschen aussprechen könnte, was ich in bezug auf sie empfinde. Wie kann man nur Schiller so be urteilen, wie Sie es tun! Wenn Männer sich nur gründlich des Ver eines annehmen wollten, wenn sie wieder gutmachen wollten, was sie versäumten — aber ich kann ja nicht erwarten, daß andere so lebhaft in der Sache empfinden, wie ich. Wie oft habe ich an Klärchen im Egnront gedacht, wie man sie für wahnsinnig hält, als sie in den Straßen die Menschen aufruft, Egmont zu retten. Wenn man auch weiß, daß man nicht helfen kann, man muß die äußerste Anstrengung machen, das zu retten, was iimn liebt; aber wer, wer liebt denn mit mir die Fröbelsche Idee, seit meine Marie tot ist? Niemand. Ob Sie sie lieben könnten, weiß ich nicht, aber verstehen könnten Sie sie, das glaube ich fest; aber Sie haben ja keine Zeit. Ob Ihnen die Wendung der Dinge in Braunschweig nicht noch mehr Zeit geben wird? Aber einen guten Rat will ich Ihnen geben: Werden Sie nur kein Rechtsanwalt, dazu passen Sie nicht. Nun noch Dank für die soeben erhaltenen freundlichen Worte .... Es freut mlch, daß Sie mehr Loffnung haben für unsere Bestrebungen, es gibt mir wieder Mut. Eben klingelt es zum Kindergarten und ich bin so dankbar, daß ich wieder gern arbeite, und der kleinste Rest der Fröbelei ist mir so teuer wie ein geretteter Schah. Lerzliche Grüße L. B. Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 22. Mai 1870. .....Wie denken Sie nun über die Veröffentlichung des kleinen Aufsatzes, der auf der letzten Zeile von 5 anfängt und auf der zweiten von 8 aufhört? Ich dachte, ich wollte solche Broschüren drucken lassen wie „Zur Frauenfrage". Zwanglose Äefte mit zwei Artikeln, 1. Ein Wort zum Verständnis des Fröbelschen Grundgedankens: „Gründe alle Erziehung auf Vermittelung der Gegensätze." 2. „Zum Verständnis von Mutterund Koseliedern." Wenn dies noch zuwenig wäre, so könnte ich noch etwas in Fornl eines Briefes oder sonst etwas Praktisches geben, was ich hier aus der Erfahrung nehme. Ich habe in der letzten Zeit die Biene als
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 365
Mittelpunkt des Interesses im Kindergarten gehabt, und ich glaube, es ist mir ganz gut gelungen; ich habe auch eine kleine Geschichte über die
selbe für die Kinder erfunden, und ich tue das alles so gern, wenn ich nur Zeit und Ruhe dazu habe. Es ist ein so schönes Gefühl, so für den
größten Gedanken, der das bewegende Prinzip ist, die kindlichste Form zu finden, so alles konkret zu machen, und wiederum in den scheinbar
kleinsten Dingen den Zusammenhang mit dem größten zu finden. Ich
muß so leben und wirken; die Einheit suchen, das ist der treibende Ge
danke meines Lebens. Ich habe schon wieder ein bißchen mehr Mut, seitdem ich Ihnen geschrieben
Ich wurde hier unterbrochen durch Annette, die nun endlich wieder hier ist. Diese und eine andere frühere Pensionärin, Mary Lyschinska,
sind ganz als wären sie meine Kinder; es ist ein wirkliches Verhältnis zwischen uns, denn wir sind vollständig wahr gegeneinander. Aber ich
scheue mich fast, davon zu sprechen, denn wer weiß, ob ich sie nicht auch verliere? Aber nein, es wäre Anglaube an das Wahre, wenn ich an der Dauer unseres Verhältnisses zweifeln wollte. Ich bitte Sie, ganz offen in bezug aus die Aufsätze Ihre Kritik
zu üben; ich habe Vertrauen zu Ihnen, daß Sie es tun werden. Sie spielen nicht mit Worten und Gefühlen und darum weiß ich, daß Sie mich lieb haben und mein Freund sind. Früher hat es mich gedrückt,
daß ich so vieles von Ihnen angenommen, mich in meiner Not an Sie wenden mußte; aber es drückt mich nicht mehr, denn wenn man in
Freundschaft verbunden ist, so hebt das Wesen der Freundschaft schon
auf, was sonst drückend sein könnte. Sie müssen wissen, wie glücklich es mich machen würde, etwas für Sie zu tun, und wenn die Bedingungen
zur Gegenseitigkeit da sind, so muß man in diesenr Bewußtsein vorerst
die Ausgleichung finden. In bezug auf Ihr Zitat aus Jean Paul erwähne ich, daß ich das Wort „Tugend" nicht leiden kann. Meine Sehnsucht ist die fromme, verklärte Natürlichkeit, so dieses Emporstreben aus dem vollen Gan zen; ich kann das Zehren und Beschneiden, das Aufgeklebte nicht er tragen, und unter „Tugend" denke ich mir immer etwas der Art. Für mich gibt es nichts Schöneres als „Äermann und Dorothea", das ist
für mich das Erquicklichste, was ich kenne, und geraoe darin findet das, was ich rnter der frommen Natürlichkeit verstehe, seine Verkörpe rung. Weil ich diese Dichtung so ganz in mich ausgenommen, ist mir
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Kapitel 18:
der Sinn verschlossen für die meiste Tagesliteratur, die so krank, ach, so krank ist. Gibt es nicht eine gute Charakteristik von Stein oder ein Buch, in dem man dessen Leben besonders verfolgen kann? Ich möchte mich an einem Charakter erquicken, ich bin zu traurig für die fran zösische Revolution, es hat mich in besseren Tagen schon immer sehr angegriffen, sie zu lesen; ich fühle zu sehr die Schmerzen des einzelnen, und welche Schmerzensgeschichte ist in dieser Tragödie 1 O Gott, das Leben, die Entwicklung der Menschheit ist doch furchtbar schwer und traurig! Nun Adieu, darf ich Ihnen Briefe ohne Überschrift schreiben? Sie lieben zwar die Förmlichkeit sehr, darum bleiben Sie dabei; ich mag sie nicht bei Menschen, denen ich innerlich nahgetreten, und so wollen wir jedem seine Weise lassen. Gestern erhielt ich einen lieben Brief von Lermann B., wenn Sie einmal kommen, will ich Ihnen daraus vorlesen; es steht zu viel Schönes darin über Sie, als daß ich Ihnen denselben schicken könnte. Kommen Sie Freitag abend zum Vereinsabend? Dann will Lerr Leinemann seinen Vortrag halten. Jetzt habe ich die Gewißheit, daß wir Freunde sind, und seit dem letzten Donnerstag ist eine so stille, schöne Befriedigung über mich ge kommen. Nicht wahr,Sie sind wahr gegen mich? Ich glaube das, und je länger ich Sie kenne, je tiefer wurzelt mein Vertrauen; nicht, daß ich Sie für vollkommen hielte, aber mein Vertrauen in die Wahrheit Ihrer Natur. Sie sind vielleicht von niemandenr, den ich kenne, ganz verstanden, und es ist schwer, Sie kennenzulernen; ich behaupte auch nicht, daß ich Sie kenne; ich bin ja leider sehr dumm in bezug auf Men schen. Aber vieles, was ich in Ihnen erkennt, ist doch so, wie ich es sehe, und das alles besitze ich leider nicht; ich karn es aber in andern lieben und so in tiefster Seele respektieren, und Sie wissen vielleicht nicht, welche Wohltat Sie mir erweisen, indenr ich in Ihnen einen männlichen Charakter respektieren kann. Sie können glruben, ich werde durch Sie besser. And so wollen wir uns nicht Treue versprechen, aber Wahrheit. Dann ruht man so sicher ineinander, ach, es fällt dann immer mehr das Kleinliche und Weltliche ab, und man verbindet diese Welt mit einer andern, sich selbst mit Gott, wie Jean Poul sagt. Ich habe ja edele Menschen, die mir nahstehen, habe bei aller Mangelhaftigkeit meines Wesens ein ordentliches Streben, und so will ch denn Glauben haben und mit möglichster Ruhe der Entwicklung der Verhältnisse entgegensehen.
Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 367
Ich schicke die Lefte durch Erich, ich packe so ungern ein. Eben schickt mit Äerr Heinemann den Titel seines Vortrages: „Die nächsten Auf gaben -er Nationalerziehung der Gegenwart", nach einem Aufsatze von Professor von Fichte.
Karl Schrader an Henriette Breymann. Braunschweig. 24. Mai 1870. Verehrte Freundin I
Laben Sie vielen Dank für Ihren lieben Brief. Glauben Sie mir, ich bedarf treuer Freundschaft mehr als Sie; wenn man, wie ich, mit vielen Menschen nahe verkehren muß und doch ihnen allen innerlich fremd ist, so muß man entweder ein einseitiger Schwärmer werden oder alle höheren Ideen verlieren. Ihre Freundschaft erhält und hebt gerade diese in mir und flößt mir Mut ein, auf einem Wege zu bleiben, welcher aus der Ferne viel schöner aussieht, als er ist. Die Versuchung, zu han deln und zu sein wie tont le monde, ist oft genug an mich heran getreten und wird es oft genug noch tun. Helfen Sie mir, wie Sie bis her, wahrscheinlich ohne es selbst zu wissen, getan; jene kleinen Dienste, welche ich Ihnen dagegen habe leisten können, kommen gar nicht in Be tracht. Überhaupt ist wahre Freundschaft ein viel zu innerliches Ding, um auf solche Äußerlichkeiten zu achten; sie besteht nicht darin, daß man sich gegenseitig viel leistet, sondern daß man sich viel ist. Sie sind auch nicht böse, daß ich einen so lieben Brief nur mit wenigen Zeilen beantworte; ich werde so von einer Masse der verschie densten Geschäfte auseinandergerissen, daß ich keine Ruhe finde. Frei tag abend 7% Ahr komme ich aber doch in den Verein. Leben Sie wohl bis Freitag. Ihr K. Schrader. Ihren Aufsatz habe ich noch nicht erhalten.
Henriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 26.Mai 1870.
Wir wollen nicht miteinander rechten, wer des andern am meisten bedarf, wir wissen beide, daß wir einander viel sind; Ihr lieber Brief hat es mir noch einmal bestätigt, was ich neulich als unumstößliche Ge wißheit empfand. Es ist mir selbst fast unbegreiflich, wie ich gerade jetzt nach all den Täuschungen so keinen Hauch des Zwerfels empfinde in
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bezug auf die Wahrheit unseres ^Verhältnisses zueinander; aber auch nur so kann es für mich fern, ich habe keine Kraft mehr über für Zweifel und Wechsel im Vertrauen. Anderseits fühle ich im Vertrauen zu Ihnen
Wunden heilen, Kräfte wachsen; in Ihnen finde ich einen Konzentrations-, einen Ruhepunkt, der mich in das richtige Verhältnis sehen kann
zur Welt; ich lerne durch Sie in ihr wirken, ohne an ihr zu sterben. Wohl habe ich keine Ahnung davon gehabt, daß ich Ihnen ge
holfen im höchsten, was der Mensch erstreben kann, aber daß es war, macht mich sehr glücklich, und ich denke, wäre es nicht so gewesen, so hätte ich in Ihnen nicht gefunden, was Sie mir sind; denn ein wahres, ge sundes Verhältnis beruht auf Gegenseitigkeit. Aber doch sind Sie so
viel mehr für andere, was ich werden möchte; ich bin viel egoistischer, viel subjektiver, ja, ich glaube im Grunde weltlicher, und wenn ich mich so ausdrücken soll, heidnischer angelegt als Sie. Ich glaube, ich nruß mir so vieles hart erkämpfen, was Sre von Natur sind. Nun, wie dem
sei, wir wissen, daß wir zusammen streben wollen nach der Wiedergeburt im Geiste. Jesus sagt: „Wo zwei oder drei in meinemNamen versammelt sind, da will ich mitten unter euch sein." Er hat die Macht der Gemein samkeit verstanden, und immer klarer wird es mir, nicht das, was Jesus
als vollendeter Mensch war, ist das Erlösende für uns, sondern das, was er unerschütterlich, so ganz unzerstückt, so mit ganzer Liebe er strebte; o, dies mächtige Wachsen, dies Werden unter Kampf und Not,
dies Limmelanstergen, das reißt mich fort, das gibt mir Mut, das läßt mich mit ihm verwachsen. Der fertige Gott rst für mich ein kaltes Götzen bild, und es hat sich immer zwischen mich und meine Liebe zu Jesu
nlächtig strebendem Geist gestellt und einen Bann auf mein Äerz gelegt, so daß ich Jesus mehr gedacht als geliebt habe; aber wenn wir das Fertiggemachte hinwegnehmen, wenn das Wollen und Werden, dem
Jesus seine ganze Person hingab, mächtig an unsere Seele schlägt, dann
können wir verschmelzen in diesen Strom, dann können wir Jesus lieben,
und wo man liebt, da nimmt man unwillkürlich in sich auf; da will man nicht die oder das sein, da wird man etwas. So habe ich immer einen tiefen Sinn im Abendmahl gesehen, wo es heißt, daß man Jesu
Fleisch essen, sein Blut trinken soll, d. h. durch die innige Vereinigung mit seinem Streben seine Natur bekommen.
Es ist gewiß der wichtigste Satz der Pädagogik, anzuknüpfen an das, was der Mensch liebt — und die erste Liebe ist zwischen Mutter
und Kind — und es ist doch wahr, daß im Katholizismus, im Marien-
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 369
kultus so etwas Großes verborgen liegt, und ich wollte viel lieber, daß ich katholisch getauft wäre als lutherisch; hätte man auf Maria übertragen, was mir Jesus sein sollte, es würde mir viel mehr geholfen haben; die Gottesmutter hätte mir immer näher gestanden als der Gott. Aber nun ist es gut, wie es ist, ich werde das Wesen Jesu noch lieben, und in dieser Liebe ihn verstehen und in mich aufnehmen und andern helfen, ihn zu ergreifen. Wir werden uns heute abend kaum sprechen, darum schreibe ich Ihnen ein Wort. Sicher bin ich nicht böse über Ihren kurzen Brief; er hat mir so wohlgetan. Wir sind einmal sinnüch-geistigeWesen, und so sieht man gern durch Äußerungen bestätigt, was man als Wahrheit im Geiste empfindet. Aber haben Sie nicht zuviel zu tun? Es hat mich so zu Ihnen gezogen, daß Sie Ihre Person in den Dienst des Ganzen stellen, so viel mehr als ich es tat und tun kann; aber seien Sie Fröbelisch und denken Sie, daß die schöne Larmonie des Wesens auf der Ver mittlung der Gegensähe beruht; daß Sie auch der persönlichen Muße bedürfen. Sind Sie nicht oft zu gefällig, zu höflich? Nehmen Sie auch ein mal Urlaub, wie Ihre Kollegen, die Ihnen immer alles aufpacken. Kommen Sie bald einmal, oder wollen wir einmal nach dem Äarze? Wenn ich etwas veröffentlichen soll, so müssen wir noch darüber sprechen, aber ich habe so ost ein Gefühl, als paßte meine Schreiberei nicht für die Öffentlichkeit.
Äätte ich erwachsene Mädchen als Schülerinnen, die arbeiten wol len und müssen, da wäre ich an meinem Platze; doch ich will aufhören mit dem alten Liede, Sie kennen es zur Genüge. Ich habe auch Freude an den jungen Mädchen hier, die so nebenbei ein bißchen Fröbeln, und ich habe mich entschlossen, ruhig hier so weiter zu „jökeln"; der liebe Gott kann nun etwas an mir tun, wenn er etwas von mir will. Ich bin nicht müde für Arbeit, aber müde, ganz müde, mir etwas zu er ringen. Ich komme mir oft vor als auf einer Insel lebend, als trennte mich ein WeitesMeer von Wolfenbüttel, wo Frl. V. und G. wohnen, und als wüßten sehr wenige Menschen den Weg hierher zu finden. Bis jetzt ist ja, Gott sei Dank, nichts weiter im Tageblatt erschienen, und vielleicht bleibe ich von der Zerrerei verschont. Ich brauche Ruhe und ein bißchen Sonnenschein. Meine Schwester Albertine ist mit ihrem kleinen Mädchen in Äamburg bei ihren Schwiegereltern; in einiger Zeit wird sie zu uns kommen. Jetzt ist meine freie Zeit aus. Leben Sie wohl, recht wohl! L y s ch i n s k a , Henriette Schrader I.
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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 30.Mai 1870.
Was Sie mir am Freitag abend mitgegeben, habe ich, wenn auch mit einiger Schwierigkeit, aber darum mit nrcht minderer Freude im Eisenbahnwagen gelesen. Lassen Sie uns treulich einander helfen, und ich wiederhole es. Sie können und müssen mir mehr helfen als ich Ihnen. Sie irren, wenn Sie meinen, ich hätte schon viel erreicht, oder richtiger, ich wäre schon viel geworden. Das, was ich bin, haben ganz allmählich und ohne viel innere Arbeit die Verhältnisse aus mir gemacht, unter stützt dadurch, daß mir manche Neigungen, welche mich vom Wege ableiten konnten, fehlten. Die wahre Vervollständigung meines Seins und Strebens suche ich erst zu erringen, und wenn ich jetzt auch weiß, wo sie liegt, so habe ich doch kaum den Weg betreten, der zu ihr führt. Gedenken Sie des ganz verschiedenen Entwicklungsganges, der Sie und mich bis heute geführt hat. Sie in einem Berufe und einem Streben, welches von Anbeginn ein innerliches sein mußte; ich mit rein äußer lichen Dingen befaßt und die innerliche Welt zwar nicht verachtend, aber ihr doch gleichgültig gegenüberstehend. Mich hat erst die Erkenntnis davon, daß nur die Beziehung zu dem Äöchsten der Welt Zusammen hang und allem Eingreifen in ihre Entwicklung die richtige Wirkung geben kann, zu einer tieferen Auffassung geführt, welche Ihnen durch Erziehung und Beruf von ftühen Jahren an eigen war. Erst jetzt, wo Sie eingreifen wollen in das Leben, und wo ich für meine Wirksamkeit die rechte Grundlage suche, treffen unsere Wege, treffen wir zusammen, und erst jetzt können wir einer des andern Stärke würdigen, unsere Schwächen verstehen und sie, gegenseitig uns helfend, zu heilen versuchen. Ansere Grundanschauungen sind die nämlichen, und wir werden nie in völligen Zwiespalt darüber geraten, aber wir werden nie gleich sein können und wollen, nur können und wollen wir einer dem andern aus seinem Wege helfen. Wo meine Schwäche ist, brauche ich nicht weiter zu sagen. Sie wer den mir aber zugeben, daß es weit schwerer ist, sein inneres Wesen zu vervollkommnen als sich äußere Einsicht und Geschicklichkeit anzueignen. Aber was sollen wir streiten, wer mehr, wer weniger ist, wer mehr, wer weniger des andern bedarf, wenn wir sicher sind, daß, soviel wir einander bedürfen, wir uns sein werden.
Korrespondenz zwischen Sx Breymann und K. Schrader bis 1872. 371
Latte ich nur erst einige Ruhe, um mich sammeln zu können 1 Das jetzige Treiben wird mir zuviel, weil es zu zerstörend wirkt. Wäre ich innerlich fester, so könnte ich es ohne Schaden bewältigen, so aber, fürchte ich, überwälügt es mich. Aber zur Zeit lasse ich die Sachen so hingehen, weil mir doch infolge des Eisenbahnverkaufes eine Wendung meines Geschickes bevorsteht Meine Eisenbahnlaufbahn wird also bald ihr Ende erreicht haben, und wahrscheinlich werde ich furerst gar keine wieder suchen, sondern zunächst einige Zeit für mich verwenden. Was dann später aus mir wird, muß ich erwarten; wesentlich wird es abhängen von dem Erfolge der Verwendung dieser Muße. Sie klagen, daß Sie sich müde fühlen für Streben und Wirken. Solche Perioden treten notwendig ein, aber sie sollen nur dazu führen, daß wir uns selbst innerlich kräftigen, um mit neuem Mute die Täügkeit wieder aufzunehmen. Solche Zeiten sind der Arbeit an uns selbst zu widmen und tragen größere Frucht, als wäre die Tätigkeit nie unter brochen, auch für unsere Wirksamkeit nach außen, weil wir selbst in ihnen fähiger imb besser werden. And wenn Sie meinen, der katholische Glauben mit seiner Verehrung der Jungfrau Maria hätte Sie früher zu innerem Frieden geführt, so mögen Sie recht haben, ob aber zu dauernder Befriedigung? Oder glauben Sie, der Fortschritt von dieser Stufe — die doch eine niedrigere ist — zu der höheren des Protestantis mus wäre Ihnen leicht gewesen? So viel Ballast hätten Sie neben dem Guten mitzutragen bekommen, daß Sie sich schwer hätten weiterbe wegen können. Ich muß fort zu meinem Bureau und schließe deshalb mit herz lichem Gruße und dem besten Danke für die Maiglöckchen; Fräulein Schlegel hat sich sehr darüber gefreut. Übermorgen mittag reise ich ab und werde wohl vor Sonnabend
nicht hier sein. Wenn ich von der Reise zurückkehre, bekomme ich wohl einen Brief. Ihr K. S. Lenriette Breymann an M. Lyschinska.
Neu-Watzum. 31. Mai 1870.
Meine inniggeliebte Mary I Ich fürchte. Du bist in Sorgen um mich und Dein Lerz ist manch mal traurig, wenn Du meiner gedenkst.
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Kapitel 18:
Aber Mary, ich gesunde nach und nach von den schrecklich trüben Erfahrungen, die ich gemacht und danke Gott mit demüügem Lerzen für die Gnade, die er mir widerfahren läßt, indem ich einen Mann liebe, der zum ersten Male im Leben mein ganzes Leben erfaßt, versteht und bezwirtgt. Ich kann jeht wenig denken, wenig sagen; ich kann aber, Gott sei Dank, arbeiten für meine nächste Umgebung, und außerdem lasse ich mich werden, wie man wird unter dem Sonnenstrahl einer Liebe, die sich allmählich, so aus gemeinsamen Interessen entwickelt und auf das persönliche Leben übertragen hat. Wie, und ob es umgestaltend auf mein äußeres Leben wirkt, meine Mary, was mein Inneres neu belebt — das weiß ich nicht, das frage ich nicht. Im reiferen Alter sind Liebe und Freundschaft so nahe verwandt, daß sich letztere zu ersterer entwickeln, erstere zu letzterer zurückführen läßt, ohne große Umwälzungen der Ge fühle hervorzubringen. Aber ich fühle endlich die Ergänzung meines Wesens und darin einen himmlischen Frieden, ein tiefes, nie gekanntes Glück. Wärest Du hier, so würde ich Dir aus des Assessors Briefen vorlesen Ja, Mary, soviel wir einander bedürfen und wie wir einander be dürfen, werden wir uns sein, er und ich — und in diesem Sein und Werden bist Du und ist Annette tief eingeschlossen, weil Ihr noch mit mir werdend seid, weil ich Euch liebe, und weil Ihr mich liebt . . . . Als ich alles heute morgen mit A. durchsprach, da sehnte ich mich auch sehr nach Deiner Gegenwart. Dem Assessor spreche ich oft von Dir, und er meint. Du müßtest bald einmal wiederkommen; er will immer, daß ich meine Lieben um mich habe
Äenrierte Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 3. Juni 1870. Sie sagen, daß Sie meiner bedürfen zu der Vervollständigung Ihres Wesens und Strebens — zu einem Streben, das vom tiefsten, sitt lichen Ernste getrieben wird — das hat bisher nie eigentlich ein Mann von mir gewollt, und doch ost hat es sich wie eine tiefe Sehnsucht meines Lerzens durch mein ganzes Leben gezogen, dies einem Manne zu sein, und diese Sehnsucht sollte wirklich ihre Erfüllung finden? O, ich bin des Glückes so ungewohnt; ich habe so viel ringen müssen in Entsagung und Ertragung, daß Ihre Worte das Innerste meines Wesens erschüttert haben. Nie vorher habe ich einem Manne gegenüber Demut gekannt.
Korrespondenz zwischen $5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 373
zum ersten Male durchzieht sie mein ganzes Wesen; ich kann Ihnen nichts bieten als die Wahrheit meiner Natur, aber einer sehr menschlich schwachen Natur, die Sehnsucht nach Vervollkommnung und — daß ich Sie lieb — sehr lieb habe. Dies schließt mit der Einwirkung, die Sie auf mich üben, alles ein, was ich Ihnen sein, was ich Ihnen werden kann. Gott wird die Entwrcklung unseres Lebens leiten, und wir werden ein ander helfen, ihn zu suchen, seine Stimme zu vernehmen, ihr zu folgen. And so lege ich auch die Sorgen, die sich in die Freuden meines Kerzens, die Sie mir geben, schleichen möchten, auf ihn, er wird ja alles wohl
machen. Weiter kann ich Ihnen heute nichts schreiben als nur noch einen herzlichen Gruß von meiner Mutter. Sie kennt mich ganz, ich bin immer ihr Kind gewesen, bei ihr konnte meine Natur sich ausleben, die ich sonst oft so in Fesseln geschlagen fühlte, sie konnte ich unbedingt lieben, denn ihre Natur ist wunderschön, und sie ist der Engel meines Lebens; ich glaube, es ist nichts in meinem Leben, was nicht offen vor ihr daläge... Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 6. Juni 1870. Zuweilen kommen einem Gedanken fast zufällig, nach denen man vorher vergeblich gesucht hatte. So ging es mir heute morgen. Als ich in meinem Zimmer spazieren ging und mich — wie ich das täglich eine Zeit lang zu tun pflege — mit Nachdenken über allerhand mir gerade in den Sinn kommende Dinge beschäftigte, dachte ich zurück an unsere gestrige Anterhaltung über die Veröffentlichung Ihrer Aufsätze. Dabei kam mir die Idee, ich müßte doch selbst einmal etwas über die Erziehung schreiben, nicht gerade um etwas Besonderes zu leisten, sondern um zu fixieren, was ich allmählich gelernt habe, um mir selbst klarer zu werden. Vielleicht, dachte ich, könnte ich mit Ihnen, uns gegenseitig ergän zend, zusammen schreiben; aber die erste Idee, einen Aufsatz oder meh rere wirklich gemeinsam zu schreiben, verwarf ich sogleich wieder, weil wir bei Gleichheit der Grundideen doch in der Behandlung derselben und namentlich in der Schreibart viel zu verschieden sind. Solche Aufsätze würden entweder aller Originalität entbehren, oder aus schlecht ver bundenen, unharmonischen Teilen, deren verschiedene Autorschaft nicht zu verkennen wäre, bestehen. Wenn wir beide aber so viele oder so lange Aufsätze schreiben sollten, daß ein Buch daraus würde, ich meine, wenn jeder von uns für sich allein mehrere Aufsätze versassen sollte, welche dann
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Kapitel 18:
zusammen ein Buch bilden könnten, so würde vielleicht die Zeit an einer schnellen Vollendung der Idee hindern. Wie nun, wenn nicht wir beide, sondern unser ganzer Kreis, soweit er vermag und will, ein aus einzelnen Aufsätzen bestehendes Buch über Erziehung verfaßte. Jeder schriebe seine Arbeit selbständig und hätte nur die Grundidee und denPlan des Ganzen zu beachten, könnte und sollte übrigens seiner Individualität frei folgen. Die Grundidee müßte die Fröbelsche sein und von dieser ausgehend, müßten die Aufsätze die wich tigsten allgemein interessierenden Fragen über die Erziehung in einer dem Publikum verständlichen Weise behandeln. Den Inhalt denke ich mir ungefähr in folgende Richtungen zerfallend: 1. Stellung der Erziehung zu den höchsten Aufgaben der Mensch heit, namentlich zur Religion. Lierüber würde außer der allgemeinen Behandlung der Frage noch die Erörterung fallen, wie die Kirche zur Schule stehen soll, und wie und warum sich männliche und weibliche Er ziehung verschieden gestalten muß. 2. Stellung der Erziehung zu der heutigen menschlichen Gesellschaft, hierhin gehörte: Notwendigkeit einer Änderung der gegenwärtigen Er ziehung, wenn die für die heutige Zeit erforderliche Umgestaltung von Gesellschaft und Staat wirklich werden soll; Richtung und Grundlagen der Erziehung in bezug aus diese Umgestaltung. Mittel zu dieser Um gestaltung der Erziehung. 3. Erziehungsmethode. 55ter wären die Fröbelschen Grundideen in ihrer praktischen Anwendung auf die Jugenderziehung zu erörtern, die Einwirkung von Kunst, Naturwissenschaft usw. je nach Neigung der Verfasser zu besprechen. 4. Lehrer und Lehrerinnen. Als Mitarbeiter rechne ich außer auf uns beide auf Ihren Bruder Karl, Lermann Becker, Lerrn Fricke mit Bestimmtheit, und von uns findet jeder seinenPlatz; ich wohl hauptsächlich in der zweiten Abteilung. Ob etwa der Dr. Ehrenberg mithelfen kann, Ihre Schwägerin und Ihre Kusine Mathilde, ob Sie noch andere Mitarbeiter kennen, das sagen oder schreiben Sie mir nächstens, wenn Sie sich über die ganze Idee äußern. Der Titel des Buches könnte etwa sein: Aufsätze über die heutige Erziehung,von einem Freundeskreise, oder dergleichen. Eigentlich ist ein solches Buch einer gut geleiteten Zeitschrift ähnlich oder besser einem Exttakt zu vergleichen, welcher alles was unnütz ist ausgeschieden hat;
Korrespondenz zwischen £>■ Breymann und K. Schrader bis 1872. 375 es vereinigt eine gewisse, wenn auch nicht systematisch hervortretende Vollständigkeit mit der größten Leichtigkeit des Lesens formell getrenn ter, und jeder ein eigenes Ganzes bildender Aufsätze im Vergleiche zu
einem einheitlichen Werke. Neulich ist ein sehr umfangreiches Buch über Armenwesen, von einem großen Kreise von Mitarbeitern verfaßt, erschienen; die Idee, unser Buch in der vorgefaßten Weise schreiben zu lassen, ist also nicht neu und gerade durch das zuerst erwähnte Werk als höchst anwendbar er wiesen. Bitte, überlegen Sie sich die Sache einmal; ich tue es auch noch, aber ich wollte Ihnen doch gleich schreiben, was mir eingefallen war. Sind Ihnen die langen Spaziergänge gestern gut bekommen?
Mit herzlichem Gruße
Ihr
KS.
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
7. Juni 1870.
Dienstag morgen zwischen 3 und 4 Ahr.
Wie neu, wie wunderbar kommt es mir vor, daß einmal ein an derer Pläne macht zur Nealisierung von Ideen, die mein Leben aus machen. Wissen Sie wohl, daß ich doch nahe daran war, geistig zu ster ben? And jetzt, wo Sie mir die Land reichen, mir zu helfen, mich auf zurichten, fühle ich erst die ganze Mattigkeit meiner Natur — aber haben Sie Geduld mit mir; ach, ich war innerlich so furchtbar vereinsamt, und meine Natur ist für die Gemeinsamkeit geschaffen. Ihre Idee ist die einzig richtige; was wir tun und schaffen, muß aus einem geschloffenen Kreise hervorgehen von Menschen, die ihre sittliche Persönlichkeit einsetzen für die Realisierung ihrer Ideen. Mein Instinkt hat mich ferngehalten svon einem zweitens Geistesmarkte, wo man unter guter Ware und einzelnen ehrlichen Leuten so viel Pack anttifft, das auf Lug und Bettug ausgeht; und darum möchte ich nie mit diesen Zeit schriften und Vereinen zu tun haben. In unsere, eigentliche Geistes intimität dürfen wir nur sehr wenige Menschen aufnehmen, das, ach, das habe ich in bitterer Erfahrung gelernt; aber je fester sich der Kreis schließt, desto sicherer können wir neue benutzen. Sie, Lermann Becker, Karl sBreymannj, Lerr Fricke und wer von den Frauen hier sich dazu eignen, reichen vorerst vollständig hin, den Plan, den Sie haben, aus zuführen. Wir wissen, was wir wollen, und wenn wir das nur darstellen.
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dann schließen sich nach und nach verwandte Geister an uns an. Sie müssen vor allen Dingen die Erziehung vom volkswirtschaftlichen Stand punkte erfassen. Ich meine selbstverständlich nicht, daß wir nicht noch andere zu Mitarbeitern gewinnen sollten, z. B. Köllner in Verden wird dies sehr interessieren, auch einen Arzt müssen wir zu erhalten suchen. Erich zum Beispiel, wenn der erst reifer ist, wird uns auch helfen, denn die verschiedensten Richtungen müssen sich in einem Punkte treffen, und besonders muß die Naturwissenschaft ihre Vertretung finden. Karl ist ganz angeregt durch Ihre Idee, und er ist sehr gut zu gebrauchen. Ich darf nicht, wenn ich wieder gesund und kräftig werden soll in meiner Seele, länger an der Penfion arbeiten. Ob nun die Pension eine all mähliche Umgestaltung erleidet, oder ich ganz daraus fortgehe, das weiß ich noch nicht — ich denke, es muß so oder so klar gezeigt werden, was das Rechte ist, denn Gott weiß, ich will nur das Rechte. And wie wird Ihr Leben sich gestalten? Ich meine. Sie dürfen nicht für immer ins reine Privatleben zurücktreten; Sie müßten so recht mitten in der Welt bleiben, da Sie so gut mit ihr fertig werden können. Sie müssen herrschen. Sie sind einer der wenigen Menschen, die herrschen können. And all die Arbeiten, die Sie gemacht haben, sollten sie ver lorengehen? Ich möchte aber nicht, daß Sie so viel mit den Außen dingen zu tun hätten wie jetzt, und daß Sie, wie Sie es wünschen, eine Zwischenzeit ganz für sich selbst hätten. Dann müßten Sie reisen und Verbindungen anknüpfen mit Menschen, welche ähnliche Zwecke ver folgen wie wir. Ich kenne mehrere; der Druck des Lebens hat mich nur verhindert, so manche Fäden festzuhalten und weiterzuspinnen, und dann wollte ich hier erst etwas haben, woran sich die Leute halten könn ten. Sie wissen ja selbst, wie es kam. Ich paßte gerade dafür, Menschen zu interessieren für Erziehung, ich gehöre eigentlich gar nicht in diese Isolie rung, in welche ich geraten bin und die — wäre sie weiter und weiter ge gangen, mich hätte absterben lassen bis auf die Kraft, nur so weiter zu „jökeln". Mit rein schriftstellerischer Täügkeit, wie Sie neulich meinten, könnte ich meine Kräfte nicht verwenden; ich brauche Menschen, junge Mädchen, die etwas tun wollen und müssen, glauben Sie mir, da ist mein Boden; aber dies kann unter verschiedener Form sein, wenn ich nur aus voller Seele über Fröbel sprechen kann und die nötige wissen schaftliche Anterstützung finde von anderer Seite, um dem allen positiven Boden zu geben. Ich würde auch ganz verschiedene Kurse geben können: für junge Mütter kleiner Kinder, für junge Mädchen, wie ich sie hier
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 377
habe. Es ist vieles reif in meiner Seele, ich habe die Ideen in meiner Ge walt, sie sind mir Fleisch und Blut geworden und das, was man besitzt, kann man in die verschiedensten Formen kleiden, und das ka n n ich. Dar um hat mich auch wieder und wieder der Wunsch der Frau Lohenemser gelockt, nach Frankfurt oder Mannheim oder Leidelberg zu gehen, indem eine größere Stadt wieder größerenBoden bietet. Zuweilen dachte ich auch von hier aus in Braunschweig etwas anzufangen, aber ich bin hier eigentlich menschenscheu geworden. And doch liebe ich wiederum die Pension; sie hat uns die Mittel gegeben, eine große Familie so zu er ziehen und auszubilden, wie es nötig war, und Adolf und Erich bedürfen noch immer unsrer Lilfe; sie hat es uns möglich gemacht, unserer gelieb ten Mutter ein sorgenfreies Alter zu schaffen, sie bei uns zu haben, ihr wieder in ihrem Lauschen eine Leimat zu geben, darum liebe ich wieder um die Pension. Nun, da komme einer heraus aus allen diesen Kon flikten. Diesen Sommer lasse ich so alles hingehen, aber dann muß es so oder so zur Entscheidung kommen. Entweder arbeite ich an der £lni-gestaltung der Pension, oder ich verlasse sie, oder ich resigniere und denke an Gelderwerb, und dieses Geld werde ich nach meinem Tode einer Per sönlichkeit übergeben, die sich wohl noch finden wird, zu der ich noch Ver trauen habe, daß sie Fröbel versteht und dafür wirken wird. Was ich denn tun muß, will ich ganz tun, dieses geistige Provisorium geht nicht länger; die Schloßgeschichte hat jahrelange Vorarbeiten zunichte ge macht. And das alles wußte Anna Vorwerk, aber sie wußte nicht, was es heißt, sein Lerzblut hingeben an etwas, was man liebt — sonst konnte sie nicht wie zu einem Kinde sprechen: „Sie haben wirklich genug mit Ihrer Pension zu tun, liebe Lenriette!" Nein, nein, ich darf nicht an dies alles denken. Warum hat Gott mein Lerz so liebefähig angelegt, warum kann ich eigentlich nichts voll bringen, was ich nicht liebe, und das Lieben hat mir so unendlich viel Weh gebracht und d o ch ist mein Lerz nicht tot! Ist es nicht unbegreiflich ? Aber es ist des Weibes Kern, des Weibes Natur, sie muß das lieben, was sie zu vollbringen hat, und darin liegt die Schwerkraft ihres Lebens, darin liegt ihr Glück, aber auch ihr grenzenloses Elend begründet. O, drängt sie nicht aus ihrerNatur, aber diese Natur muß gekräftigt werden; sie muß lernen, die menschliche Natur begreifen und sich als Mutter der menschlichen Gesellschaft fühlen; das ist die Lösung der Frage der Frauenemanzipation. And der Mann muß sie mehr respek tieren; wie er in einer wahren Ehe sein Weib nach einer Seite hin
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schützen, vertreten möchte, so sollte er fühlen gegen das ganze Geschlecht. Die Frau ist nach einer Seite hin die schwächere, die zartere, der Mann ist der schwächere nach einer andern; wir ändern nimmermehr die Natur,
aber wir können sie befteien von ihren Fesseln, wir können sie vergeisti
gen, und das ist eigentlich der Grundgedanke meines Lebens. Es muß sich eine Lösung finden zwischen den Gesetzen des Geistes und der Natur; die Kirche, welche sich anmaßt, die Gesetze des Geistes zu vertreten — und
sie sollte es eigentlich, nur darin hat sie einen Sinn — stellt sich in Oppo sition gegen dieNatur und erzeugt darumLüge, die Mutter allerSünde.
Ohne Kampf und Arbeit wird niemand die Natur in sich befteien, aber
es brauchen in diesem Kampfe nicht so viele unterzugehen wie jetzt. Was sind wir, was können wir im Linblick auf das, was zu tun ist? Aber sind nicht ganze Felsen aufgebaut aus winzig kleinen Schal
tierchen? und so legen wir auch unser Sandkorn hin zu der Arbeit an der
Erlösung der Menschheit, der armen, irrenden, suchenden Menschheit. Vielleicht werde ich noch, was ich dachte werden zu können — vielleicht!
Jetzt bin ich noch krank und schwach; wieder flieht mich der Schlaf, den ich
so nötig habe. Ich will doch nach Albertinens Besuche hier mit der Mut ter auf einigeWochen nach dem Larze; ich kann doch nichts Ordentliches
sein und schaffen. Gestern hatten wir viel Besuch, der mich ermüdete; wir gingen im Lolze spazieren, es war so wunderschön; ich denke. Sie
fteuen sich auch noch mehr an der Natur, sie tut so gut. Ich dachte an Sie und zog ein Bäumchen aus der Erde, ich schicke es Ihnen; aber Sie
brauchen es nicht zu behalten, ich denke. Sie mögen so etwas nicht. Ich fahre um 11.40 nach Braunschweig heute, kommen Sie nicht an die Bahn, wenn es Ihnen nicht paßt, ich habe gar kein dankbares Lerz für solche Art Aufopferungen, ja, ich hasse sie. Ich weiß auch nicht, ob Sie
sich was daraus machen, wenn die Leute sich mit uns beschäftigen; ich
tue es gar nicht mehr; ich werde für meine Person mir keine reine Freude
versagen der Albernheit der Leute wegen. Jedes Alter hat seine Vor rechte, und die will ich nehmen und behaupten.
Wir wollen das Leben in seiner innersten Bedeutung aufbauen, nicht wahr? And nur so viel Rücksicht auf die Welt nehmen, wie sie ver
dient, keine Faser mehr. Wo nun die Weltklugheit in Betracht kommt, und wir doch einmal mit andern zu tun haben, da lasse ich mich von Ihnen
bestimmen und leiten, ich kann dann um so sicherer mein Sein bewahren. So oft wir an demselben Ort sind, wollen wir uns sehen und sprechen.
Seit Sonntag verstehe ich so vieles besser in Ihnen, wie Sie so geworden.
Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 379 Die Grundlagen unserer beiderseitigen Wesen sind uns klar, und darauf beruht unser gegenseitiges Verhältnis, aber um miteinander für an
dere zu sein, was wir sollten, und uns gegenseitig zu sein, was wir können,
einander so glücklich zu machen, wie es im Bereiche der Möglichkeit unserer Naturen liegt, dazu müssen wir uns vieles sagen und noch in
vielen Einzelheiten näher kennen lernen. Wer weiß, wie lange wir leben; ich denke zuweilen, ich sterbe bald. Wenn ich Sie also vor Ihrer Reise nach Thüringen nicht sehen
sollte, so grüßen Sie mir mein liebes Thüringen, bringen Sie mir etwas
Grünes von der Wartburg mit, dort ist einer meiner Lieblingsplähe, es ist so schön da, Geschichte und Natur greifen ineinander auf eine wunder bar entsprechende Art Es ist jetzt 6 !1hr, ich will versuchen, noch ein wenig zu schlafen.
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 9. Juni 1870. Ob Sie noch tn der Konferenz sitzen oder vielleicht die Sonne unter
gehen sahen auf der Wartburg? Ich wollte, ich könnte da oben bei Ihnen
sein, es würde mir gut tun. Mir ist es recht schlecht ergangen. Zu der Schlaflosigkeit gesellten sich Schmerzen, und ich fühle mich kraftlos, so daß ich keine Stunden Geben konnte und still auf meinem Zimmer sitze. Oft
kommen mir TodeSgedanken, dann aber fasse ich wieder Vertrauen zu meiner im Grunde kräftigen, guten Natur. Meine Nerven sind über
reizt von alle den Erschütterungen, die ich erfahren. Doch kann ich im Geiste neu geboren aus ihnen hervorgehen und vieles dahintenlassen, was störend in mein persönliches Leben sowie in meine Wirksamkeit
eingegriffen hat. Die Bildung meines Wesens ging nun einmal nicht ftiedlich vor sich, das Gewaltsame, Leidenschaftliche meiner Natur wirkt
vielleicht am meisten auf mich selbst zurück. Es kann eigentlich keine verschiedenern Naturen geben wie die unsri-
gen, und ebenso verschieden war deren Entwicklungsgang. Mir hat eine Autorität gefehlt, die mich lernen und arbeiten machte, als ich ganz jung war. Sie meinten neulich, ich sei doch ungenügsam, ich hätte ein so viel
reicheres Leben gehabt als so mancher andere; aber mir hat eins gefehlt, was ich allen denen gab, mit denen ich in Liebe verbunden bin; ich war
nie beherrscht. Es gibt kein größeres Glück, als sich beherrscht zu fühlen, wenn diese Beherrschung auf einer wirklich inneren Macht beruht; da-
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Kapitel 18:
durch werden der eigenen Natur die rechten Grenzen angewiesen, sie
geht in sich zurück, um gestärkt aus sich herauszugehen. Was hätte mir dadurch erspart werden können! Aber vielleicht hätte ich dann des Wei
bes Wesen und dessen Leiden und Kämpfen nicht so begriffen, wie ich es jetzt tue. Wie ich gedarbt und gerungen habe, werde ich nie vergessen. Glauben Sie mir: Ich habe die ganze Emanzipationsgeschichte in mir
durchgemacht. Erzogen als Weib der alten Zeit, angelegt für die Frau
der Zukunft, habe ich mich aufgebäumt gegen Äerkommen und Natur, bis ich endlich in mir selbst die Lösung der Frage gefunden. Darum weiß
ich auch g a n z g e n a u, wie es kommen wird, und ich sehe nicht zu schwarz, wenn ich sage, es stehen uns noch traurige Zeiten bevor. Wir sind unter
drückt, weil unsere Schwäche mehr nach außen hervortritt, die des Man nes aber mehr dem gewöhnlichen Auge verborgen liegt; daß unsere
physische Schwäche uns zur Abhängigkeit vom Manne verdammt, ist
nur ein Beweis von dessen Roheit. Am 10. Leute war .... hier; ich bin jetzt wirklich mit ihm auf
dem besten Fuße, wir lachen zusammen; er macht wirklich gute Witze, wenn er sie auch manches Mal auf unsere Kosten macht, so schadet es nichts. Es ist so viel leichter, mit den Menschen auf der Oberfläche des Lebens zu verkehren (wie man das muß), wenn man im tiefsten Inner
sten Verständnis findet. Es ist wunderbar, aber es ist so, nur ein gegen
seitiges Erfassen zwischen dem Geiste des Mannes und der Frau gibt die
Vollendung in der Freundschaft, in der Liebe; so verschieden sie beide sind, können sie einander doch schließlich am besten verstehen.
Zuweilen denke ich, ich könnte ein ganz neues Leben beginnen, voll Leiterkeit undMut, und es kehrte so dasVertrauen, der Anternehmungsgeist wieder. Wenn ich nur erst meine Körperkraft habe; es steckt viel
Lebenslust in mir von Natur, gerade soviel als tiefster Ernst und Me lancholie. In meinem Wesen sind die größten Gegensätze vorhanden;
wie schön wäre das, wenn sie dauernd ihre Vermittelung fänden; ich
könnte mich dann so aus Lerzensgrunde freuen mit den Fröhlichen, und wirklich tief mit den Traurigen empfinden und weinen; in ruhiger Kraft
mit den Schwierigkeiten kämpfen, welche nie ausbleiben, solange man überhaupt arbeitet und ringt. Dann könnte ich das Leben lieben, und
wenn Gott es von mir forderte, ruhig es ihm geben und einer neuen
Stufe der Entwicklung entgegengehen. Ob es möglich ist, daß mein Leben so gesund wird?
Am 11. Es geht mir alle Tage etwas besser; die scheußliche Medizin
Korrespondenz zwischen SS. Breymann und K. Schrader bis 1872. 38 1
von Ihrem Bruder scheint doch zu helfen. Aber ich bin ganz melancho lisch, mir geht all mein Laar aus. Wenn Sie mein Laar gekannt hätten, wie es früher war. Sie hätten es doch bewundern müssen; obgleich Sie immer sehr erhaben tun, was dasÄußere anbetrifft, so glaube ich nicht recht daran. Lesen Sie einmal, was die Prinzeß zu Taffo sagt: „Was übrigbleibt, das reizt nicht mehr, und was nichr reizt, ist tot" usw. Sie charakterisiert die Männer, wie sie mit wenig, ach, mit sehr wenig Aus nahmen sind, so richtig. Glauben Sie mir, ich habe schrecklich traurige Erfahrungen ge macht; mir haben so oft ältere und Ehemänner den Los gemacht, und wie ost habe ich dann Gott gedankt, daß ich nicht verheiratet war. Ich finde es möglich, finde es verzeihlich, wenn ein verheirateter Mann sich einmal für eine andere Frau interessiert — wohl nie ist das Gebet an gebrachter als in bezug auf die Liebe: „Führe mich nicht in Versuchung." Es muß eine dämonische Gewalt zuweilen über die Menschen kommen, welche sie zu Sklaven macht, man erlebt ja solche Dinge; aber da sollte der Mann an die Größe des liebenden Weibes glauben, da sollte er ihr sein Vertrauen schenken; bet Gott, ich hätte meinem Manne in einem solchen Falle helfen können. Wäre er aber ohne dies Vertrauen in den Kampf geraten, wäre er unterlegen — nein, ich darf nicht an so was denken; ich wäre des Schrecklichsten fähig, gewiß. Nur Wahrheit erlöst, nur Wahrheit macht frei; allerdings ertragen sie nur starke Seelen, aber diese können auch gerade unter der Lüge ge brochen werden. Ich meine nicht die Lüge im Wort allein, es gibt etwas weit schlimmeres: Die Lüge des ganzen Seins und Wesens .... Sie sind wohl höflich gegen alle Menschen, aber doch nicht herzlich, und man kann nicht gegen alle Menschen gleich empfinden. Nächste Woche fahren Mutter, Albertine und ich mit einem Wagen nach Braunschweig und machen verschiedeneBesorgungen und Besuche; wir essen zu Mittag in Schraders Äotel, nicht wahr. Sie essen mit uns? Ich habe eine Unmasse Briefe dieser Tage erledigt, wo ich keine Stunden geben durfte; um mich von dem elenden Zeuge, was man an dummeMütter und alberne Engländerinnen zu schreiben hat, zu erholen, schrieb ich an Sie. Nun aber adieu, seien Sie nicht bange, daß Sie immer so viele lange Briefe bekommen; nächste Woche bin ich wieder gesund und ar beitsfähig. Ihre L B
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Kapitel 18: Karl Schrader an Äenriette Breymann.
Eisenach. 11. Juni 1870.
Dieses Mal habe ich mir bei meiner Reise etwas mehr Muße ge nommen, als ich sonst zu tun pflege. Schon heute nachmittag hätte ich zurüü sein können, aber ich hatte noch nie Thüringen gesehen und fühlte wirkliche Sehnsucht wieder einmal, wie in meinen jungen Jahren nach Lerzenslust im Walde umherzulaufen. Lind das habe ich auch gestern und heute getan. Leute bin ich so recht obne Ziel im Walde herum gelaufen; bald bin ich auf eine Bergspihe geklettert und habe mich um gesehen, bald bin ich durch Dickichte durchgedrungen, und überall fand ich dieselbe Anmut: In der Fernsicht, die nie in das endlose Flachland hin ausreicht, sondern immer durch Berge am Lorizonte Begrenzung findet, und nie des schönsten Vorder- und Mittelgrundes entbehrt, wie in den Durchblicken durch die Waldwege, wie in dem Blicke auf das Kleinste, die den Boden bedeckende Flora. Viele alte Freunde sand ich da wieder, wenn ich sie auch nicht alle mehr mit Namen zu nennen wüßte. Latte ich Zeit und Einrichtungen dazu gehabt, ich hätte Ihrer Schwägerin Luise ein ganzes Lerbarium sammeln können. Wie ich bis hierher gekommen war, rief mich die Mittagsglocke zu Tisch und mahnte zugleich an den baldigen Aufbruch von dem schönen Eisenach. Am 3 Ahr bin ich denn in den alten, soeben noch vergessenen Gang gekommen. Bis um 1 Ahr in der Nacht bin ich als Bahngespenst durch Deutschlands Gaue rastlos dahin geflogen, und heute sitze ich in dem alten Wust von Papieren und ledernen Geschäften. Eben heute nachmittag 5 Ahr bin ich mit dem großen Laufen bis auf einige wich tigere, Überlegung fordernde Dinge fertig geworden und habe die an
genehme Aussicht gewonnen, wahrscheinlich morgen nachmittag wieder nach Berlin reisen zu müssen. Ich möchte mit dem braven Leporello singen:
„Keine Ruh' bei Tag und Nacht, Nichts, was mir Vergnügen macht."
Vorläufig muß ich mich doch darin finden und nur sehen, daß ich mich leidlich hoch halte. Diese Zeit halte ich überhaupt nicht für eine dauernde, sondern für eine Übergangsperiode, in welcher ich manche Dinge zu späterer Verwendung gelernt habe. Soll ich sagen, wie ich wünsche, daß sich meine Stellung künftig gestalten möge, so ist es eine Wirksamkeit für soziale Reform, womöglich in etwas größerem Stile, sei es kraft amtlicher Stellung, sei es mehr als Privatmann; aber ich
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 383
kann und werde mich auch zuWnstig mit der bescheidensten Stellung begnügen, wenn sie mir nur gestattet, nach meinem Sinne zu wirken. Denn je mehr ich nachdenke, desto fester wird in mir die Äberzeugung, daß
auch die unscheinbarste, wenn nur überhaupt wirksame Tätigkeit in unserer Zeit, welche alles materielle und geistige Leben der zivilisierten Welt in den engsten Zusammenhang gebracht hat, oft Ungeahntes nühen kann. Mancher wird es komisch finden, daß ich trotz solcher aufrichtigen Selbstbescheidung doch an Großes für mich denke und mich dazu, soviel ich vermag, vorbereite. In allen einzelnen Dingen, welche ich betreibe, suche ich den Zusammenhang mit dem Ganzen zu finden, und ich be trachte sie stets mit Rücksicht nicht nur aus ihre ideale Wahrheit, sondern auch auf ihre praktische Durchführung im Leben; ich suche mir das an zueignen, was ich eine „staatsmännische Auffassung" nennen möchte; denn ich wünsche einmal, eine Stellung zu finden, welche mir gestattet, in das Staatsleben im Sinne der Ideen, welche wir so manches Mal miteinander ausgetauscht haben, einzugreifen. Ich darf dies sagen, weil ich hinzusügen kann, daß ich mich bis jetzt nicht dazu für befähigt halte, und daß ich nicht eher mit meinem Streben hervortreten werde, bis ich glaube, das leisten zu können, was ich wünsche. Wie aber der Weg ist, welchen ich zu wählen habe, ist bis jetzt schwer zu sagen; ich muß die Entwicklung der gegenwärtigen Krisis abwarten, und wie ich bisher getan, Menschen-, Sachkenntnis und Ideen erwer ben, welche ich später verwerten kann Wie ich gestern im Thüringer Walde umherlief, konnte ich doch nicht lassen, an so manche Dinge der Menschenwelt zu denken, welche mit der Natur nichts zu tun hatten; so ist mir gerade dort immer klarer geworden, daß die Besserung der Erziehung und speziell nach Fröbels Prinzipien die wichtigste, nächste Aufgabe der Menschheit ist; eine kon sequente Durchführung seiner Prinzipien führt schneller als irgendein anderes Mittel zu der Lösung all der wichtigen Fragen, welche unsere Zeit bewegen: Der Streit über Bestimmung, Beschäftigung und Be rechtigung der Frau würde zum Beispiel viel eher zu Ende kommen, wenn man die Entwicklung der wirklichen Individualität der Frau in der Erziehung als Lauptprinzip befolgte. Vor meiner Reise nach Eise nach habe ich Mills Buch über „die Lörigkeit der Frau" zum größten Teil gelesen. Es ist ein gutes Buch: Klarheit und Logik mit warmem Gefühl für die Sache und völlige Reinheit der Intention charakterisieren dieses, wie alle andern Bücher von Mill; ja, dieses mehr als andere, weil
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ihn die Erinnerung an seine eigene Frau vielfach angeregt hat. In die
sem Buch nennt er sie freilich nicht, lvohl aber in einem frühere»: „On Liberty", das er ihrem Einfluß zuschreibt. Sie müssen beide Bücher ein mal lesen; sie stehen unendlich hoch über dem Gros dessen, was über solche Dinge geschrieben ist, und haben, wie Mills Auftreten im Leben, nur
den Nachteil, das, was richtig ist, nun auch eingeführt wissen zu wollen. Die Menschheit muß eben wie das Kind zu jedem Fortschritt auf seiner
Bahn allmählich erzogen werden; aber um diese Erziehung richtig zu
leiten, müssen erst die Ideen gegeben sein, und bei allerNichtung auf das Praktische schätze ich doch den Mann vor allem, welcher uns das Ziel
unseres Strebens kennen lehrt; diejenigen, welche uns lehren, den ein mal gezeigten Weg zu verfolgen, werden nicht fehlen. Worin hat denn die hauptsächlichste Tätigkeit aller großen Refor
matoren, von Christus an, bestanden? Darin, einige wenige begeisterte
und befähigte Anhänger ihrer Lehren zu firrden, welche nach ihrem Ab scheiden an die Stelle traten. Lind ich möchte fast sagen, daß je mehr sie
ihre Tätigkeit hierauf beschränkten, je weniger sie anfänglich zu großem, äußern Erfolge kamen, desto erfolgreicher und desto reiner durchgeführt
wurden später ihre Ideen. War es nicht der rasche äußere Erfolg Luthers, welcher so bald jeden inneren Fortschritt seiner Lehre hemmte und dem Protestantis mus, nachdem er uns kaum von den alten Ketten befreit hatte, neue
schmieden ließ? And ich glaube, daß Fröbels Ideen durch die Hinaus schiebung ihrer Ausführung bis jetzt nur an Erfolg gewinnen werden.
Lätte man sie nicht noch mehr verkrüppelt als jetzt? Konnte man in einer Zeit der vollständigen Negation so freie und so umgestaltende
Ideen wirklich fassen? Wir können es heute kaum, obgleich wir doch ein gutes Stück weitergekommen sind. And ich bin auch von einem Bogen zum andern gekommen und
muß daran denken, zu schließen. Aber doch noch eins. Sobald ich irgend kann, will ich einmal einen etwas detaillierten Plan für unser Buch ausarbeiten und ihn Ihrem Bruder sKarl^j schicken,
damit ihn $>. Becker sieht, ehe er nächstens zu Ihnen kommt, und damit
wir dann darüber reden können. Als Gruß aus Thüringen schicke tch einige Bäumchen und Blumen aus dem Walde mit.
Donnerstag bin ich, auch wenn ich nach Berlin gehe, wieder hier. Mit herzlichem Gruße
Ihr KS.
Korrespondenz zwischen 55, Breymann und K. Schrader bis 1872. 385
Äenrietre Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 14. Juni 1870. Wieder einmal hatte ich gut geschlafen, und denn erhielt ich Ihren lieben, lieben Brief mit dem schönen Grün aus Thüringen. Es war, als wäre ich dort, dort mit Ihnen. Sie lieben doch auch meine beste, treuste Freundin, die Natur; das weiß ich jetzt. Nicht wahr, Thüringen ist erquicklich? Ich habe eine große Liebe für dies Land gehabt; dort fühle ich mich eigentlich geboren, und meiner Mutter Voreltern stam men daher. So vieles hat Ihr Brief mir zu denken gegeben, und ich bin so froh; so ruhig, daß ich so ganz mit Ihnen übereinstimme in dem, was Sie für Ihren Beruf halten; ich konnte nur nicht das rechte Wort dafür finden. Der Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit liegt in der staatsmännischen Auf fassung und Bearbeitung der Ideen, die wir gemeinsam, die wir als die richügen erkennen, und Sie werden darin Großes leisten. Diese Über
zeugung steht unerschütterlich fest in mir, und wäre der Wirkungskreis äußerlich ein unscheillbarer. Sie haben ganz recht, nur da, wo man ganz sein kann, da wirkt man nachhaltig gründlich und o, wie vorsichtig sollte man sein, sich in Verhältnisse zu begeben, die uns in ihren Konsequenzen so fesselnd werden können. Ich fühle es, ich muß die Pension, wie sie ist, loswerden, und doch darf ich nicht ohne Rücksicht auf andere Personen handeln. Sonntag war ich so melancholisch, und Annette und ich, wir wollten in den großen Ferien fortfliehen und irgendwo einen Kindergc-rren gründen, und ich wollte Erzieherinnen bilden, und wir malten uns aus, wie arm wir sein würden, wie wir uns selbst etwas kochen und sonst alles selbst tun würden, aber A. fand das wundervoll. Ich glaube. Sie haben noch keinen rechten Begriff von den kranken Zuständen in den sogenannten gebildeten Familien, und wie äußerlich die Eltern sind, und wie ich meine Kräfte zersplittern muß, und wie trostlos gerade für mich solche Arbeiterrei an diesen jungen Mädchen ist, die so 1 bis 2 Jahre hierbleiben, um überlackiert zu weroen. Andere, die nicht ein so starkes Einheitsgefühl haben wie ich, könnten an meiner Stelle sehr glücklich sein und sollten und würden es, denn man kann ja immer etwas Gutes tun, wenn man redlich arbeitet, und int großen ganzen geht es uns unberufen ganz gut im Vergleich zu dem, was andere mit Pensionen für Geschichten erleben. Sehen Sie, meine Geschwister fühlen nicht so stark darin wie ich; nur Marie wollte von L y s ch i n s k a , Henriette Schrader I.
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Kapitel 18:
vornherein direkt Fröbelsches wie ich, und Ledwig fing an, mich auch zu verstehen. Ich lerne tagtäglich Jesus richtiger verstehen und durch Sie —
nicht direkt, aber durch die ganze Einwirkung, welche Sie auf mich üben. Jesus wollte alles auf das Wesen der Dinge zurückführen, und die Form
sollte nur Ausdruck dieses Wesens sein, die allerdings eins wird mit dein Wesen. Dieses Trennendes Innern undÄußern^ ist so tötend; wir haben
doch noch viel mehr Mittelalterliches in unserer Religion, als wir denken; Luther selbst konnte nie diese Trennung sdesÄußeren und Inneren, des Natürlichen und Geistigen^ überwinden; und doch war er gerade eine so mächtige Natur. Wir müssen die Einheit von Natur und Geist festhalten
und die erstere verklären. Geist und Materie sind doch eins .... Es gibt auch keine absoluten Gegensätze, .... es ist immer ein Zusammen
hang zwischen der ersten und der letzten Stufe, z. B. zwischen dem Kinde,
das er war, und dem erwachsenenManne. Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke, und ob Sie meiner Meinung sind; für mich lösen sich alle
scheinbaren Widersprüche in dieser Auffassung, daß eben zwei sich schein
bar widerstreitende Dinge doch im Grunde eine Einheit sind, und beides zugleich sein können. Z. B. die Lehre von der persönlichen Ansterblich-
keit und der Beobachtung des Geschicks des einzelnen. Es wird und muß
unser Geist nach dem Tode ins Allgemeine übergehen, mehr im All gemeinen Bewußtsein bekommen, und er wird doch dabei seine Indi vidualität bewahren; es muß das Kleinste im Leben eines Menschen Be
deutung haben, und doch ist er wieder fast einNichts im großen Ganzen. Wir müssen nur das Zugleich festhalten und verstehen, was Fröbel
meint in der Vermittelung der Gegensätze. Mein lieber, ungeliebter, alter, häßlicher Fröbel, wie hat er gerungen, das Gewaltige in ihm zu
stammeln, und über dieses Stammeln kam er nicht hinaus. Wenn ich ein
gesundes, hohes Alter erreiche, werde ich Biographien schreiben und auch Fröbels, das soll meine Arbeit für die letzten Jahre sein. Man muß, um dies zu können, die Verklärung des Alters gefunden haben. Wie hasse ich diese Lügenbücher, ^verhimmelnde Biographien^, und wie krank werden
die Frauen durch diese Literatur. Ich weiß wohl, ich muß mich auch für Knaben- und Männererziehung interessieren, wenn ich meinem armen Geschlechte gründlich helfen will; die Einwirkung beider aufeinander ist so groß; sie ziehen einander noch so herunter, und doch ist das Verhältnis
der Geschlechter zueinander im Grunde die wichtigste Frage.Mir ist viel Vertrauen geschenkt, und dadurch habe ich tiefe Blicke getan in ein
grenzenloses Elend der Menschen.
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 387
Finden Sie nicht, daß Gott es den Menschen zu schwer gemacht hat, als seine echten Kinder zu leben? Ich finde es. Ich freue mich, wieder was Ordentliches zu lesen und durch Sie eine Seite des Lebens kennenzulernen, gerade die staatsmännische, die mir bisher fernlag; ich muß dahin geführt werden. Ich kann mit der Prinzesfin in Tasso sprechen: „Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen." Ich wünsche, daß die Verhältnisse mich mehr in Verkehr mit tüchtigen Männern bringen mögen, ich habe starke intellektuelle Bedürfnisse, ich profitiere schnell und viel durch solchen Verkehr. Ich habe einmal Wol fenbüttel als den schönsten Ort gefunden, als ich anfing zu Bethmann in nähere Beziehung zu treten, und meine Ideen hier Wurzel faßten. Zu Bethmanns Geist hatte ich Vertrauen, er schwatzte nicht; von ihm erhielt ich nur Positives, denn ich war eine viel zu moderne Natur für ihn; er lebte in der Vergangenheit, und seine Ideen über Politik und Religion entbehrten jedes Systems. Er war die lebendige Geschichte, verklärt von tief sittlicher und poetischer Anschauung. Bethmann war mir das schön ste, lebendige Buch, und er schlug die Seiten seines Forschens mit einer Liebenswürdigkeit vor uns Frauen auf, die, weit entfernt von der rnir verhaßten Galanterie, auf wirklicher Achtung des Geschlechtes fußte. Seine Frau weiß, was sie an ihm verloren, ob sie sich bewußt war, was sie an ihm besaß? Paßt es nicht, daß wir Freitag kommen, so können wir den Besuch auf nächste Woche aufschieben, wenn auch Ä.Becker kommt; ich habe ihm schon die Idee Ihres Werkes mitgeteilt, aber ich freue mich, daß Sie den Plan ausarbeiten wollen. Schreiben Sie mir aber ganz offen, wenn unser Besuch nicht paßt, nicht wahr, über das Stadium der Köflichkeit sind wir hinaus? hoffentlich auf baldiges Wiedersehen, Ihre HB.
Karl Schrader an Henriette Breymann. Braunschweig. 18. Juni 1870. Ein heute früh eingetroffener Brief von Ä. Becker hat mich auf an genehme Weise daran erinnert, daß ich heute, Sonnabend, an Sie schrei ben sollte. Wenngleich ich nicht erwarten kann, daß Sie morgen meinen Brief noch erhalten, weil Sie bei Ankunft des Postboten schon in den Gefilden des Amtes Salder umherfahren, so schreibe ich doch heute, denn wer weiß, ob ich morgen dazu komme und Montag früh müssen Sie doch 25*
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einen Brief von mir bekommen. Ä. Becker meldet sich aus Mittwoch nächster Woche bis zum Sonnabend an; ich habe sogleich geantwortet und übernommen, Sie zu benachrichtigen. Als Tag unserer Zusammen kunft nehmen wir wohl Donnerstag oder Freitag .... Lermann Becker und ich sind gewiß eigentümliche Gegensähe, seine ganze Ent wicklung ist in der Richtung deffen gewesen, was er heute ist, und sein Weg ist ein grader gewesen; daher ist er soviel reiner, feiner und gleich mäßiger. Mich haben Erziehung und Beruf in eine ganz andere, in eine rein äußerliche Richtung gedrängt, über welche ich mir selbst erst sehr langsam klar geworden bin, und aus welcher ich erst allmählich heraus steuere. Ganz ohne ernsteres Streben in irgendeiner Richtung bin ich wohl nie gewesen, aber ein eigentliches Lebensziel hatte ich mir nicht gesetzt. Ich genoß meine Existenz ziemlich achtlos auf das, was aus mir wurde. Den Ehrgeiz, hohe Stellen zu erwerben, habe ich nicht gehabt, und wäre es der Fall gewesen, so wäre er in unsern jetzigen braunschweigi schen Verhältnissen ohne Effekt geblieben, denn keine Auszeichnung in meinem Berufe hätte mich im Lande Braunschweig zu etwas bringell können, und daß ich eine angesehenere Stellung habe als andere Alters genossen, ist eine reine Folge des Zufalls, welcher mich in die Eisenbahn verwaltung gebracht hat. So habe ich mit mancherlei Leuten, zuweilen auch, ohne sie zu suchen, mit bedenklichen Leuten verkehrt, und ich will nicht leugnen, daß ich manche Schwächen im Verkehr dulde, welche man nicht dulden sollte. Aber ich bin auch, nachdem ich eingesehen habe, daß es notwendig ist, sich ein Lebensziel zu stecken, und nachdem ich es gefunden habe, ein anderer geworden und verdanke meiner früheren Zeit nur die Leichtig keit, mit allerhand Männern zu verkehren und diesem Amstande wieder wahrscheinlich den größten Teil der Erfolge, welche ich gehabt habe. Wäre ich von Anfang an in Braunschweig gewesen, wie ich zu sein wünschte, und wie ich mich jetzt zu bilden suche, man würde mich mit meinen Ideen als einen Narren ausgelacht haben; so wußte man, daß ich dem gewöhnlichen Leben gar nicht fernstand, daß ich ein ganz prak tischer Mann war, und daß ich mit den Liebhabereien der großen Menge der Menschen vertraut war. Mit aller Art von Leuten hatte ich gekegelt, Billard gespielt, geritten, gefochten, gegessen und getrunken mit guter Manier; ich kannte viele Personen und ihre Schwächen, und so folgte mir mancher weit eher, als wenn ich anders und besser gewesen wäre. Aber fast alle früheren Beziehungen sind aufgegeben mit Aus-
Korrespondenz zwischen 55* Breymann und K. Schrader bis 1872. 389
nähme der wenigen, die ich entweder kultivieren muß, oder die meinen jetzigen Neigungen entsprechen. Mit dem größeren Ernste bin ich aber zu größerer Bitterkeit gekommen, letzteres aus, ich glaube sagen zu dürfen, gerechter Erbitterung über unsere öffentlichen Zustände. Diese habe ich seit mehreren Jahren schon aufmerksam verfolgt, und ich habe Gelegen heit gehabt, durch hiesige und auswärüge Bekanntschaften mich über sie und über die leitenden Persönlichkeiten so zu unterrichten, daß ich sie kenne, wie nur sehr wenige andere Leute. Es ist noch milde gesagt, daß weder in den Negierenden, noch in der Bevölkerung ein auch nur einiger maßen ernstes Streben zum Fortschritt ist, daß alle Energie fehlt, und daß wir uns deshalb in einem Zustande vollständiger Zerrüttung unserer öffentlichen Zustände befinden, deren Leitung schwerlich eher als mit dem Aufhören unserer Selbständigkeit zu erwarten ist. Sie werden dasselbe Llrteil von allen leidlich verständigen Leuten hören, nur daß jeder andere es aus ein gewisses, ihm naheliegendes Gebiet beschränkt: Der Jurist wird Ihnen von den Mängeln der Rechtspflege reden, der Lehrer von denen des Unterrichtes; nur stehen fie auf einem zu beschränkten Stand punkte, um die einzelnen Mängel zu verbinden und auf ihre Ursachen zurückzuführen. Wir würden sehr schlimm daran sein, wenn nicht die natürlichen Vorzüge des Landes und der gute Grund, welchen ftühere, gute Re gierungen gelegt haben, sowie die immer mehr sich geltend machende Einwirkung des großen Ganzen uns noch leidlich erhielten. Wenn man, wie ich, in diesem Treiben steht, so muß man bitter werden, und das bin ich gelegentlich nicht bloß für mich, sondern auch gegen andere geworden in bezug auf öffentliche Dinge und Charaktere. And doch, glaube ich, ist mein Arteil über viele Leute milde, denn ich weiß sehr wohl die Ein flüsse zu würdigen, unter denen sie so geworden sind, und daß sie ganz anders sein würden, wenn die Bevölkerung mehr Energie und feineres Gefühl für Recht hätte. Wie denn alle Wege nach Nom führen, so führt auch jede Betrach tung öffentlichen Lebens mit Notwendigkeit auf die Erziehung; man erziehe eine zu individueller Sittlichkeit entwickelte Bevölkerung, und man hat ein dieser entsprechendes Staatswesen. Das ist eine alte, ab gedroschene, wenn auch noch nicht genug befolgte Lehre; nun ist aber Tatsache, daß in unserer Zeit die menschliche Gesellschaft zu ihrer Ent wicklung weit weniger als je zuvor der Vermittlung des Staates bedarf, daß sie eine mächtige eigene Initiative besitzt, und daß sie gelernt hat.
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dieselbe zu gebrauchen. Führen Sie diese Initiative noch rnehr, als bis her geschehen ist, auf die Erziehungsfragen, lenken Sie ab von der steten Nörgelei an dem Staatsschulwesen, und sehen Sie an deren Stelle die Bestrebung für dessen private Entwicklung, kurz, bringen Sie Fröbels Ideen in bezug auf Erziehungsvereine zur Geltung, so ist ein größerer Schritt vorwärts getan. Unser Buch sollte, meine ich, die doppelte Tendenz haben, zu zei gen, welches die von Fröbel gewollte Erziehung ist, und daß die Gesell schaft in weit höherem Maße als bisher dem Staate die Erziehungs sorge abnehmen muß. Wie wir gestern schon besprochen: Dadurch löst sich die sonst unlösbare Frage von der Stellung der Religion zu der Schule. Können wir in diesem Sinne wirken, so haben wir ein schönes Ziel, für das wir freudig eintreten können, und das jedem von uns die Tätig keit zuzuweisen vermag, welche ihm zusagt. Und nicht am wenigsten wird es uns selbst fördern dabei: daß wir bei diesem Werke Frauen und Män ner gleichberechtigt, der eine den andern ergänzend wirken können. Lesen Sie nur, was Mill darüber sagt; er spricht die Erfahrung, welche wir beide lniteinander gemacht haben und so manches, was Sie mir gesagt und geschrieben haben, klar aus. Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, gerade die Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Geistes CP leichtert gegenseitiges Verständnis; man steht sich neidloser gegenüber und vermag den andern vollständig rein zu würdigen. Mein Brief ist lang geworden und ich schließe ihn mit der Bitte, nicht zu vergessen, daß ich spätestens Sonnabend wieder schreibe, in zwischen also auch eine Antwort haben sollte. Leben Sie recht wohl und trinken Sie mit Resignation die scheuß lichen Tropfen meines Bruders. Montag erhalten Sie Bücher. Adieu und grüßen Sie die Ihrigen herzlich. Ihr KS.
Kenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Wahum. 19. Juni 1870. Für Ihren lieben Brief vielen Dank. Ich fteue mich immer so sehr, wenn Sie von sich selbst sprechen .... Gerade aus Ihrem Wesen tritt mir Reinheit, Feinheit und Gleichmäßigkeit, die Sie an Ä. B. rühmen, entgegen und berührt mich so wohltuend. Sie sind sehr verschieden von einander, und doch haben Sie manches Ähnliche; z.B. sind Sie beide sehr
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 391
verschlossene Naturen, schwer zugänglich. Durch Ledwig habe ich L. B. kennengelernt, und er wußte es;Marie und Ledwig waren meine Schwe stern in der tiefsten Bedeutung desWortes; ach, warum mußten sie ster ben ? Ledwig war das Kind meiner Seele, es war ein wunderbar schönes Verhältnis zwischen Ledwig und mir; ich weiß, daß das Vertrauen eines Kindes zur Mutter das Wichtigste in der Erziehung ist, und ich hatte es ganz von Ledwig, ihr Lerz war wie ein Bergkristall, so rein; wir waren eben natürlich. Nie habe ich mich auf ein Piedestal Ledwig gegenüber gestellt — ja in den letzten Monden ihres Erdenlebens, wo sie so viele Jahre im Geiste gereift war, wurde sie meine Freundill — doch ich will schließen. Ich frage nnch oft selbst, wie es nach all den Erfahrungen, die ich gemacht, möglich sei, daß ich noch einmal einem Manne vertraue, wie ich Ihnen vertraue — und doch ist es so — und daß es so ist, ist ein großes Glück für mich. Sehen Sie, ich habe zuviel verloren, und die Schloßgeschichte ist mir fast wie der Verlust eines Menschen. Aber, wissen Sie^ Sie sind der letzte Mensch, den ich je lieben kann außerjungen Mädchen, die meiner Lilfe bedürfen. Zuweilen nehme ich mir vor. Ihnen nicht so viel zu schreiben, aber lassen Sie mich sein, wie ich bin. Ich weiß, ich bin in vielen Dingen nicht wie andere, aber was kann ich dafür? Llnd wenn man einen Menschen hat, bei dem man sein kann, wie man ist, sei es so sonderbar, wie es wolle, so erträgt man das Fremd artige, was man der Welt gegenüber an sich selbst oder an ihr fiihlt, leicht. And — so egoistisch dies klingen mag, und ich bin leider egoistisch —- so weiß ich aber auch, daß ich den Menschen, die ich liebe, sein kann, was ich von ihnen fordere. Wollen Sie Donnerstag den Alten Weg gehen? Ich komme Ihnen dann entgegen, und wir sprechen noch über die Person Christi. Wenn wir uns verställdigt haben, geht die Verhandlung [im größeren Kreisej um so schneller. Ich gehe um 4 Ahr fort, es führt ein Weg durch Mutters Garten hinten herum in den Alten Weg, den gehe ich so gerne.
Also aufDonnerstag, ich freue mich. Sie wiederzusehen.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 20. Juni 1870. Als ich am Sonnabend wegging, gaben Sie mir nur eines der Blät ter, auf welchen Sie Ihre Ideen über Jesus geschrieben haben. Durch A.
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habe ich gestern das übrige erhalten und besitze nun das Ganze. Don nerstag bringe ich es wieder mit. Von den zwei Büchern, welche Ihnen A. gebracht hat, empfehle ich Ihnen, das Leben Mathys zuerst zu lesen. Gestern nachmittag habe ich es durchblättert und ich glaube. Sie werden viel darin finden, was Ihnen gefällt. Mathy war ein tüchtiger Mann, das Kleinste wie das Größte umfassend und beherrschend, und ein Charakter, welcher sich den schwer sten Proben gewachsen gezeigt hat. Mit Müh' und Sorgen hat er sein Leben gestaltet, und er hat es zu einem reichen gemacht ttoh aller Schwie rigkeiten, welche sich ihm entgegenstellten. Im gewöhnlichen Sinne des Wortes verstanden, war sein Leben kein glückliches, und doch wird Mathy selbst mit Beftiedigung darauf zurückgeblickt haben, denn vielem Kumnier hat viele große Freude zur Seite gestanden, und nie ist er über wunden. Die Politik im Buche wird Ihnen seinen Genuß nicht ver leiden; Mathy hat eine Epoche durchlebt, deren größter Teil uns noch in der Erinnerung ist, in welcher wir die Wurzeln alles dessen finden müssen, was wir erreicht haben und noch erstreben. Freilich leben wir so schnell, daß die nächste Vergangenheit uns schon ungemein fern erscheint. Unsere Besprechung vom Sonnabend ist mir noch viel im Köpf
herumgegangen Vermutlich kommt Frau von Marenholtz zu Ihnen mit weitergehenden Wünschen; vielleicht möchte sie Sie in ganz andere Verhält nisse ziehen .... Lassen Sie sich nur nicht von Frau von Marenholtz in eine ähnliche Stellung drängen wie die ihrige, oder auch nur in eine Position drängen, in welcher Sie nicht allein bestimmen. Sie müssen Ihre Bestimmung darin finden, Fröbels Ideen, wenn auch in kleinem Kreise, aber doch ganz und rein auf die weibliche Erziehung anzuwenden, und besser ist es. Sie bilden wenige, aber tüchtige Apostel seiner Lehre, als viele Personen, welche fie nur verhunzen Ich habe bisher nicht zu einem bestimmten Plane für die Ausfüh rung Ihrer Ideen raten mögen, sondern ich habe geglaubt, warten zu müssen, bis ich einem von Ihnen ausgegangenen Plane freudig bei stimmen könnte. And das meine ich, könnte ich zu Ihrem letzten Plane: Griindung einer zwar selbständig organisierten, aber doch in naher Ver bindung mit dem Pensionat stehenden Anstalt für Ausbildung von Er zieherinnen. Das halte ich für durchaus vereinbar. Der jetzige Kinder garten könnte vielleicht etwas vergrößert, nähere Beziehungen zu der neuern Anstalt haben, ja es wäre vielleicht möglich, daß das Pensionat
Korrespondenz zwischen Sx Breymann und K. Schrader bis 1872. 393
allmählich eine Anzahl jüngerer Pensionärinnen erhielte, und daß es dann selbst wieder in einen nahen, organischen Zusammenhang zu der neuen Anstalt träte. Ihr Plan wäre dann in einer andern Weise, aber ebenso vollständig als im Schlosse verwirklicht; Sie hätten nur anstatt Elementar-Schülerinnen Elementar-Pensionärinnen. Schon diese Mög lichkeit, welche gar nicht so fern liegt, weil doch eine verständigere Rich tung in der Mädchenerziehung bald kommen muß, und weil es viele Fa milien gibt, die zur Erziehung ihrer Kinder in rechter Weise sich nicht befähigt fühlen, und viele Kinder, denen die Familie fehlt — möchte ich die nahe Verbindung zwischen Pensionat und Erzieherinnen-Anstalt erhalten wissen.
Aber bitte, überlegen Sie Ihren Plan noch genau, ehe Sie damit hervortreten; es gibt so viele kleine Schwierigkeiten, die seine Ausfüh rung zwar nicht hindern, aber verdrießlich machen können, daß man sie vorher genau prüfen muß
Donnerstag sprechen wir vielleicht darüber, aber ob wir Muße dazu finden, hängt von Zufälligkeiten ab; darum schreibe ich meine Ansicht. Bis dahin mit herzlichem Gruß,
Ihr KS.
Äenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 21. Juni 1870.
.... Sie haben recht; wie ich nun einmal bin, muß ich mich hüten vor Elementen, welche mich hindern, die Idee so zu vertreten, wie ich sie einmal für richtig halte, und nur wenige ganz gewonnen, ist besser als viele halb. Also ich arbeite jetzt daraufhin, mir Kräfte zu erziehen, die mich frei und freier von der Pension machen; denn wenn ich nur Zeit zum Studieren und Schreiben habe, so tue ich was für Fröbel, und ich habe schon einige Schülerinnen. So glaube ich, daß ich für den Augen blick das Rechte getroffen habe. Goethe sagt, wer nicht imstande ist, einen Freund mit all seinen Fehlern zu lieben, ist gar nicht wert, einen Freund zu haben. Wenn Sie dieses Wort für wahr halten, so beweisen Sie es an mir.
Ich bin meinen Jahren nach innerlich viel zu jung, d. h. es ist noch so viel Werdendes in mir; es sollte viel mehr Gewordenes sein. Abev Sie haben Vertrauen zu der Reinheit meines Strebens, wie meins un erschütterlich ist zu der Ihrigen. Sehen Sie, wo noch Werdendes ist, da
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gibt es Schlacken unter dem reinen Metall; aber ich bin nun einmal so, wenn ich jemanden lieb habe wie Sie, da gebe ich so das Ganze hin, wie es ist, da müssen Sie das Werdende mit in den Kauf nehmen, und da dürfen Sie nicht irre an uiir werden. And wenn Sie einmal eine andere Frau lieber haben als mich, da unterdrücken Sie das nicht, und verheirn-lichen Sie mir das nicht — ja, ich bin egoistisch, aber ich bin nicht klein lich, und Sie glücklich, Sie wahrhaft natürlich glücklich zu wissen im Le ben, das wird doch den Sieg davontragen, selbst wenn es durch Schmer zen ginge. Ach, man muß sich einander etwas zutrauen; es gibt gewisse Dinge, die man nie opfern soll, nie opfern darf, ohne das Leben so oder so zu knicken, und ich habe oft Angst, Sie könnten mir einmal etwas opfern. Sie haben ja gar keine für sich fordernde Natur; es ist, als ob ich Sie sagen hörte in bezug auf Sie selbst: „Ach, was kommt darauf an." Sie sind so viel reifer im Charakter als ich und darum können Sie Menschen besser behandeln als ich - ich wirke selten durch Behandlung Gleichstehender. Was Sie von sich sagen, daß Sie zuviel dulden im Ver kehr, finde ich auch, aber sehen Sie, das kommt von großer Anpersönlichkeit, doch ist eine gewisse Passivität Ihres Charakters ganz angemessen und hilft Ihnen gerade wieder am rechten §)rte, desto wirksamer einzugreifen. Nur dürfen Sie nicht zu weit darin gehen, wie ich auf der andern Seite mein bestimmendes Eingreifen in anderer Wesen mehr zu beschränken habe. Bleiben wir nur unserer Natur getreu, aber stellen wir sie in den Dienst der Idee, die wir realisieren wollen; dann wird sie sich schon richtig entwickeln. Es gibt zweierlei: Der Idee treu bleiben; dann die Person in derr Dienst der Idee stellen. Ersteres kommt häufiger vor als letzteres; ich habe ersteres getan, aber am letzteren muß ich noch viel lernen. Ich bin nun so froh, daß ich vorerst weiß, was ich will. Nichts gerade Neues für Neu--Watzum, ich fühle mich sgesundheitlich'^ nicht imstallde, jetzt neue Einrichtungen zu machen, aber ich kann arbeiten, daß ich freier werde .... Ich meine nur, daß ich in einem Lebensalter stehe, wo man sowenig wie möglich umhertappt und unnütz verbrauchen darf .... Ich weiß, daß es für die Reinhaltung und Vertretung der Fröbelschen Idee notwendig ist, daß ich meine Kräfte konzentriere und besonders Geschichte und Naturgeschichte studiere .... Sie müssen mir helfen zu bedenken, wie man die zu Gebote stehenden Mittel mög lichst richtig anwendet. Nur fühle ich nach mehreren Stunden hinter-
Korrespondenz zwischen SS. Breymann und K. Schrader bis 1872. 395
einander, die ich mit wirklicher Arbeit ausfülle, eine Ermüdung, die Erankhaft ist, so daß ich vor Ermüdung nicht schlafen kann; sonst bin ich gesund, und ich muß angestrengt arbeiten, wenn ich bis ins Kleinste, wie ich möchte, für die Pension sorgen, und daneben den Kindergarten führen und für mich arbeiten will; die einzige Erholung, welche ich habe, iist Ihnen zu schreiben — und ich schreibe sehr schnell — und einmal ein halbes Stündchen bei der Mutter zu sein. Ich habe einen Brief von Frau von Marenholtz; sie schreibt sehr freundlich, daß sie den 15. Juli kommen will, und erwähnt kein Wort von Italien .... Von Genf habe ich auch interessante Nachrichten, und man fragt und fragt, wann ich komme auf meiner Reise nach Italien. Die Reise würde sehr viel Geld kosten, und ich weiß nicht, ob es das Rechte ist, jeht das Geld, die Zeit und Kraft aufzuwenden. Daß ich höchst ungern allein reise, kommt nicht in Betracht, wenn ich wirklich der Idee viel nützen kann, aber für mich werde ich nie allein reisen. Ich habe viel gelernt durch Stuart Mill, unt) doch ist im Grunde eigentlich, was er sagt, die Atnrosphäre, in der ich allein für mich geatmet und gelebt. Ich habe das Buch fLorigkeit der Frau j bald zu Ende; ich möchte dem Manne die Land küssen, daß er es schrieb, aber er wird sicher von wenigen verstanden, und ich glaube, eins hat er vergessen, doch sagt er es vielleicht rroch. Der Manrr denkt einmal keusch und sittlich über die Frauen, in einer solchen Atmosphäre würden Frauerr sich wunderbar entfalten; wir leben in der Gesellschaft in einer verpesteten Luft, mich wundert, daß ich nicht erstickt bin. Adieu, Adieu. Lenriette Breymann an
Karl Schrader. 21. Juni 1870.
Leute sind Marchese Guerrieri und seine Frau geb. Emma Lohenemser gekommen; wir fahren von hier nach Braunschweig nach Schra ders Lotel, und ich möchte Sie gerne miteinander bekannt machen, ich glaube, es wird Ihnen Vergnügen bereiten, die Leute zu sehen. Wollen Sie mir ein Wort nach Schraders Lotel schicken, ob Sie nachmittags Zeit baben, und wo wir Sie treffen ? Wir werden erst zu Mittag essen und dann in Braunschweig ausgehen. Lerzlichen Dank für Ihren Brief, wir haben merkwürdigerweise zu gleicher Zeit dasselbe oder doch sehr Ähnliches gedacht. Später mehr davon. Dienstag abend.
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Kapitel 18: Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 24. Juni 1870. 5 Ahr morgens.
Leute bin ich um 4 Ahr aufgewacht, hoffentlich geht die Schlaf losigkeit nicht wieder an. Es war viel Anruhe diese Tage und ^Mittwoch?) war es keine Kleinigkert, alle Interessen zu vereinigen, und alle Schwie rigkeiten zu überwinden, die bis in die kleinsten häuslichen Einzelheiten gehen. Gestern kam wieder eine Menge Besuch, und ich habe LermannB. nicht soviel gesehen und gesprochen, wie ich hoffte. Aber morgens hatten wir einige schöne Stunden. Ich fange wieder an zu leben; jahrelang habe ich existiert, gekämpft, gedacht, versucht, Schmerz zu überwinden und Frieden zu finden, aber ich habe nicht gelebt. Ich fühlte mich in letzter Zeit so dumm, so leer; wenn mir einmal etwas in die Lände fiel, was ich fiüher geschrieben, so wunderte ich mich darüber; ich meinte, ich wäre es nicht mehr imstande. Jetzt weiß ich, daß es alles eine Übergangs periode war; meine ganze Natur will jetzt das Positive, ich mag keine „Ideen" als solche mehr lesen in bezug aus religiöse Fragen, die subjek tiven Ansichten, das Philosophieren darüber fängt an mich zu lang weilen, und ich habe Lermann gebeten, mir nach dieser Richtung hin etwas zu empfehlen .... Wenn ich nur meine ^übergroße^ geistige Erregbarkeit loswerden könnte, oft beneide ich Sie ganz schrecklich, aber Sie dürfen wirklich nicht weitergehen in der Richtung Ihres Wesens . . Sie bedürfen der Kunst, nicht um Ihren kritischen Verstand daran zu üben, nein, um sie zu genießen. Ihr Bruder sagte mir immer von Ihnen, Sie seien ganz unfähig, irgend etwas zu genießen, und Gott sei Dank, daß Sie ihre Existenz nicht auf Genuß bauen, aber etwas Wahres ist daran. Je reicher, je genußfähiger unsere Natur ist, wenn sie von dem „höheren Dritten", wie es Fröbel nennt, beherrscht wird, desto gesunder und wirklicher werden wir auf andere wirken. Man braucht einerseits einen gewissen Egoismus der eigenen Natur, um wieder recht hingebend warm und lebensvoll für andere zu arbeiten. Ich muß und will immer etwas persönlich zu lieben haben, wäre es am Ende nur ein verlassenes Kind, dem ich dann sein Liebstes würde. Sehen Sie, wo selbständige, männliche Naturen wie Sie und Lermann Becker mit mir arbeiten, wo Sie mir ein Freund geworden in der schönsten Bedeutung des Wortes, da fühle ich, daß, wenn ich gesund bleibe, ich noch so viel mehr vollbringen werde als früher; als wüchse ich kräftig auf einem neuen Boden auf. Wie steht es mit Ihren Angelegenheiten? Wann werden Sie mehr
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Seit haben? Sie brauchen auch, wie Sie selbst sagen, eine Zeit der Zurückziehung von dieser äußeren Welt; aber Sie müssen sich den Weg offen halten, in sie zurückzukehren, wer sie so richtig zu nehmen, zu be herrschen weiß wie Sie, der findet seinen richtigen Platz in ihr. Der Mensch ist sich selbst und der Entfaltung seiner Natur etwas schuldig. Freuen Sie sich wie ich, wenn Sie einen Brief von mir bekommen? Nein, denn Sie sind nicht so genußfähig wie ich; aber Sie freuen sich doch; wenn ich es nicht wüßte, würde ich Ihnen nie schreiben. Ich möchte all die reine, schöne Lebenskraft ausziehen, die unsere Freund schaft mir gibt und geben kann; und wenn in der Entwicklung unseres Verhältnisses vielleicht Schmerz kommt — wer weiß das — so wird er ein reiner, auch in sich gesunder sein, der nur zu einer höheren Stufe der Verklärung führt. Aber jede Stufe wollen wir rein und wahr nehmen, für das, was sie ist, die Wahrheit und Schönheit derselben auf uns wir ken lassen; dann haben wir nichts zu fürchten.
Leben Sie recht, recht wohl.
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 25. Juni 1870.
Gestern morgen habe ich von Guerrieris auf dem Bahnhöfe Ab schied genommen .... bei der Abreise nach Äamburg ging es ihnen gut .... Auch Lermann Becker sitzt wieder an seinem Berufe, und wir alle wandeln in dem alten, tief ausgetretenen Gleise wieder müh selig dahin, nur in der Erinnerung noch die kurz vergangenen Tage genießend. Guerrieri ist ein Mann von so großen Eigenschaften, solchem Adel der Gesinnung und des Geschmacks, solcher Feinheit, Tiefe und Schnel ligkeit des Verständnisses in Wissenschaft und menschlichen Verhält nissen und von solcher Bildung, und da man diese Löhe der Bildung bei den oberen Schichten in Italien vielfach beobachten kann, so braucht man sich nicht zu wundern, daß der italienische Adel an der Spitze seiner Naüon steht. Frau Marchesa hat mir auch ausnehmend gefallen, sie ist vielleicht weniger intellektuell begabt als ihr Mann, aber sie hat ein großes Ge fühl ihrer Pflicht, und Neigung sie zu erfüllen; ich kann mir lebhaft vorftellen, wie sie, von dem gewöhnlichen Leben der jungen Mädchen an geekelt, sich zu Ihnen flüchtete, um ernste Lebensziele kennenzulernen.
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Kapitel 18:
Sie ist gewiß fähig, nicht nur ihrer häuslichen Aufgabe zu genügen, sondern auch großen Ideen zu dienen. Die nächste Aufgabe aller der Leute, welche durch eine höhere Lebensauffassung sich einander verbunden fühlen, sollte sein, ihre Be ziehungen zueinander zu Pflegen, und das sollten sie um so mehr tun, wenn sie selbst über die nächsten Aufgaben ihrer Zeit und über die Mit tel, sie zu erfüllen, einig sind. So müßten namentlich die wabren Fröbel freunde eine Gemeinde bilden, welche in sich die reine Auffassung von Fröbels Ideen wahrt und vervollkommt, und den untergeordneten Gei stern, welche für sie arbeiten, den geistigen Inhalt gibt. Außer Ihnen kenne ich nur noch drei Personen, welche dieser Gemeinde angehören: Frau von Marenholtz und Professor von Fichte; andere werden Sie noch kennen, groß wird ihre Zahl aber schwerlich sein, und darum möchte ich, daß möglichst jedes Mißverständnis zwischen diesen wenigen ver mieden werde. Wie Ihnen Ihr Bruder Karl gesagt haben wird, gehe ich nicht nach Berlin, kann also auch nicht mit Frau v. M. sprechen und von ihr erfahren, ob sie sich durch die ihr von Florenz zugegangenen Nachrichten über Ihre Reise nach Italien gekränkt fühlt. Könnten Sie ihr nicht, ganz ohne sich auf diese Nachrichten zu beziehen, über Ihre Reisepläne schreiben, und sie dadurch von der Sorge befreien, daß Sie in ihre Kreise störend eingreifen möchten? Die engere Schließung der Beziehungen zu Frau v. M. kann für alle Ihre zukünftigen Bestre bungen so wichtig sein, daß Sie eine solche, wenn auch vielleicht unnötige Mühe rechtfertigt. Wie wenig Verständnis selbst Gebildete heute höheren Ideen entgegenbringen, habe ich eben an einem Artikel der „Grenzboten" über das Buch „The Subjection of Women", von Stuart Mill gesehen. Die „Grenzboten" werden von Gustav Freytag redigiert und machen den Anspruch, eine auf der Löhe der Zeit stehende Wochenschrift zu sein. Sie haben sich in vielen Artikeln warm der Bestrebungen für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Frauen angenommen, und jetzt bringen sie über Mills Buch einen völlig verurteilenden Artikel, welcher zeigt, wie rein äußerlich sie die Frauenfrage auffassen. Wie soll man da von dem großen Laufen Verständnis erwarten! Der Aufsatz ist nicht wert, daß Sie ihn lesen, damit Sie aber sehen, wie er seine Ver urteilung begründet, schreibe ich Ihnen seine hauptsächlichsten Argu mente.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 399 Im Eingänge wird der praktischen, politischen Tätigkeit von Mill gedacht und gezeigt, daß diese wenig fruchtbar gewesen ist; darauf wird gleich der Schluß gegründet, daß seine staatsmännische Begabung doch zweifelhaft sei, und so der Glanz, welchen sein Ruf auf das Buch werfen könnte, verdunkelt. Der edele Kritiker vergißt dabei nur, daß es zwei ganz verschiedene Dinge sind, philosophische Betrachtungen anzustellen darüber, wie gewisse Zustände in der Welt beschaffen und entstanden sind, und wie sie vom idealen Standpunkt auch sein müßten und — die praktischen Wege zu zeigen, auf welchen die Entwicklung dieser Zustände zu erstreben ist. Ganz verschiedene Fähigkeiten, welche nur selten ver bunden sind, gehören für das Eine und für das Andere, und es ist fast sicher, daß auf je weitere Ferne jemand das Ziel der Entwicklung zu er kennen vermag, desto leichter er in Gefahr gerät, die zwischenliegenden Schwierigkeiten übersehend, einen zwar direkten, aber unpassierbaren Weg zum Ziele einzuschlagen. Dazu kommt denn noch, daß bei vor wiegender Ausbildung des Spekulationsvermögens der praktische Blick für die näheren, äußeren Dinge leicht verloren geht. Der Wichtigkeit der gefundenen Idee tut aber dieser Mangel keinen Eintrag. Gewiß ist es ein Fehler von Mill, daß er seine praktische Tätigkeit hauptsächlich auf den Erwerb politischer Rechte für die Frauen gerichtet hat, weil dies erst eine Konsequenz anderer, zunächst durchzumachender Errtwicklungsphasen sein kann, aber es ist ein noch weit größerer Fehler, zu schließen, daß, weil heute etwas noch nicht erreichbar, es überhaupt nicht das richtige Ziel ist. Gegen das erste Kapitel des Buches weiß der Kritiker nichts zu sagen, als daß er seine Verwunderung darüber ausdrückt, daß in unserer heutigen unzweifelhaft fast vollkommenen Welt, solche Zustände exi stieren sollten, wie Mill sie schildert. Das ist natürlich kein Gegenargu ment und zeigt nur, wie äußerlich der Kritiker moralische Zustände auffaßt. Wenn man nicht täglich Frauen prügeln und mit Füßen treten sieht, wenn vielmehr dem Anscheine nach in den meisten Ehen Frieden herrscht; wenn die Unverheirateten nicht lebhaftes Mißvergnügen mit ihrem Schicksale ausdrücken, so ist nach der Meinung solcher Leute alles gut. Tont va pour le mieux dans le meilleur des mondes wie Pangloffe im Candide von Voltaire predigt. Es wird ganz übersehen, daß die schlimmsten Zustände die sind, welche mit zwingender Gewalt die Menschen nach sich so geformt haben, daß sie ihrer Mehrzahl nach, kaum andere Zustände wünschen und verdienen.
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Kapitel 18: Gegen das zweite Kapitel war der Angriff leicht. Mill spricht in
chm nur von englischen Verhältnissen und diese sind schlechter in bezug
auf die Gesetzgebung als die deutschen; aber der Kritiker findet in der
Tatsache, daß Mill gar keine Rücksicht auf deutsche Zustände nimmt, einen Beweis für den Wert des übrigen Teiles desBuches; diese Schluß
folgerung ist aber falsch. Den Gipfel setzt aber der Kritiker seinem An-
verstande, ich möchte fast sagen seiner Unredlichkeit auf, wenn er sagt: „Der ganzen Auffassung liegt ein prinzipieller Irrtum über die Aufgabe
des Weibes und über das Verhältnis der Geschlechter zugrunde. Mill fordert Gleichhell für Mann und Frau, deshalb sollen alle Gesetze ab
geschafft werden, welche die Frauen der Autorität der Männer unter werfen." Mill behauptet nicht Gleich h e i t, sondern Gleich berechtign ng
vor dem Gesetze und in bezug auf die Ausbildung ihrer
Kräfte. Darum ist es ein kaum begreiflicher Ansinn des Rezensenten, wenn er auseinandersetzt, daß Mann und Frau nicht gleich seien, daß
er zugibt, die Frau sei dem Manne ebenbürtig im Geiste und doch ihre Gleichberechtigung bestreitet, weil der Mann körperlich stärker ist.
Wenn die Phrasen überhaupt etwas beweisen, so beweisen sie die Gleichberechtigung. And gegerr diesen, ihn selbst schlagenden Beweis
führt der Rezensent nichts an, als daß „Zeiten kommen, wo die Frau
höhere Pflichten, die ihr der Schöpfer befohlen, in geheiligter Schwach heit an das Laus, oder die Lütte fesseln", wo sie also nichts verdienen,
und wo auch die emanzipierteste Frau, wenn sie den geliebten Mann finde, zuzeiten sich von ihm abhängig fühle. In dieser Art argumentiert der Lerr weiter und kommt zu dem
Schlüsse, daß es nur darauf ankomme. Anverheirateten Erwerbsmög lichkeit zu geben, und diesen, meint er, könnte man sogar politische Rechte
geben. Das Wichtigste, nämlich daß die gegenwärtigen Verhältnisse zu einer falschen Erziehung der Frau, zu einer Verkrüppelung ihrer In
dividualität und deshalb zu höchst unvollkommenen ehelichen Verhält nissen fuhren, wird ganz übersehen.
Aber in der Tat, der Mann ist garnicht wert, daß ich zwei Seiten
an ihn gewendet habe, und daß Sie sie lesen; entschuldigen Sie es mit dem Ärger, den ich über den Aufsatz hatte. Anser Eisenbahnverkauf scheint nun endlich zu Ende zu kommen; Preußen hat seine Bedingungen gestellt, die zum Teil sehr unangenehm berühren, die man aber doch hier nicht ablehnen kann. So weiß ich in
Korrespondenz zwischen SS. Breymann und K. Schrader bis 1872. 401 einigen Monaten, woran ich bin, und ich kann Ihnen garnicht sagen, wie ich danach verlange. Es ist nichts schlimmer, als wenn einem das bis herige Ziel verschwindet, und man noch garnicht weiß, wie man es sich wieder sehen soll. Mir ist hierdurch alle wahre Lust an der Arbeit verlorengegangen.
An das Studium des Protestantenvereins mache ich mich aller-nächstens, damit ich sür unsere nächste Zusammenkunft auch etwas leisten kann. Morgen nachmittag werden Sie wohl nicht im Äolze spazieren gehen können und der Besuch, der Sie wohl immer heimsucht, in der Stube abhalten müssen. Vorgestern haben wir uns kaum gesprochen, da Sie mit Guerrieris und ich mit S5. Bothmann wandern mußte. Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu--Wahum. 26. Juni 1870. „Geheiligte Schwachheit" —. Was ist das für eine unsinnigePhrase und doch, wie wird gerade diese Phrase verständnisinnig, wie nran glaubt, von hundert albernen Weibern nachgewinselt werden. Was Schwachheit ist, ist keine Heiligkeit, und wo Äeiligkeit ist, ist keine Schwachheit. Wenn eine Mutter einem Wesen unter Entsagung, Er tragung und Schmerzen das Leben gibt, einem Wesen, welches beiden gehört und in dieser Zeit nichts erwerben kann, so soll sie sich vom Manne „abhängig" sd. h. ohne Gegenleistung^, fühlen? Ein Weib, dem nur ein leiser Anflug solchen Gefühls kommt, ist gär nicht imstande, die Mutterwürde zu fassen und zu tragen; oder sie muß an einen Mann gekettet sein, der, wie liebevoll er scheinen mag, die Brutalität in der Gesinnung trägt. Ja, ich schrieb Ihnen schon, Mill wird wenig ver standen, selbst von denen nicht, die für ihn stimmen. Ach, es ist so viel Rohheit auf der einen wie auf der andern Seite, und Sie werden innner mehr begreifen. Daß ich so isoliert wurde. Wie ost habe ich geglaubt, ich sei doch verrückt, weil so anerkannt tüchtige Männer, die, wie Freytag und Sybel, auf der Löhe der Zeit stehen sollten, doch für mich das Rechte nicht trafen. Ich lese jetzt Mill mit den jüngeren Lehrerinnen. .... Wenn wir das Buch durchgenommen haben, dann möchte ich mit Ihnen zusanrmen eine Kritik des Buches schreiben, vorerst nur für uns selbst, vielleicht kann sie auch späterweiteren Kreisen etwas nützen. L y s ch i n s k a , Henriette Lchrrder I
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Kapitel 18:
Was Mill in bezug auf politische Rechte der Frauen sagt usw. ist für mich von ganz untergeordnetem Werte in dem Buche; die Haupt sache ist mir, daß er mit unerbittlicher Wahrheitsliebe die Kleinlichkeit, Verkrüppelung und Schwächlichkeit der jetzigen Frauenwelt und den eingefleischten Egoismus und die Rohheit der Männerwelt aufdeckt und nachweist, worin das seinen Grund hat; das ist meiner Meinung der Kernpunkt des Buches. Nur ein Mann konnte und durfte das sagen. Gebt also die Frau frei, durchaus frei; laßt sie alle Ämter bekleiden,
und laßt sie wählen; Mill sagt ja, nur die Erfahrung muß man sprechen lassen. Ich finde, eins betont Mill nicht genug, betonen überhaupt Listoriker nicht genug: Er behauptet, die Frau ist durch ihre Abhängig keit vom Manne in ihre jetzige Lage geraten; andere Schriftsteller sagen, wir sollen uns und andere von der Herrschaft der Kirche befreien; es wird überhaupt ein Übel in der Gesellschaft als solches angegriffen, als wenn es von vornherein als Übel in die Welt gesetzt wäre und viel
Unheil angerichtet habe, aber man untersucht nicht genug, woher das Übel kommt. Wenn überhaupt die Frau in Abhängigkeit geraten konnte, so müssen doch gewisse natürliche Bedingungen dazu vorhan den sein, und wenn diese Abhängigkeit Llnglück hervorrief, so müssen natürlich gegebene Tatsachen falsch benutzt sein, und ich glaube, daß dies nicht klar genug beleuchtet wird Wir können darüber nicht hinaus, daß die Frau durch ihre ganze Organisation mit der Natur mehr verwachsen ist als der Mann, und somit seiner Stütze und seines Schuhes nach einer Seite hin bedarf; aber gerade so bedarf der Mann nach anderer Seite der Pflege der Frau Alle Entwicklung in der Geschichte geht immer von außen nach innen; des Weibes Kraft ist so viel mehr innerlich, und so konnte sie nicht eher zur Geltung kom men, als bis der äußere, gröbste Stoff verarbeitet mar ; jetzt müssen Männer und Frauen sich weit mehr eins fühlen, nicht nur im einzelnen Verhältnisse, sondern und vor allem im großen Ganzen; die Ge schlechter sollen größere Zwecke zusammen erfassen, daes Persönliche sollte nicht mehr das einzige sein, was sie zrsammenfühirt, und dann würde das Persönliche reiner, dauernder, edier werden Ich habe es längst gefühlt, daß der Kernpunkt der- ganzen Er ziehung schließlich auf das rechte Verhältnis der Geschlechter zueinander hinauskommt, und um dies nach und nach aniubahnen, miüssen sich so* wohl die staatlichen Institutionen umgestalter, als wie dne Erziehung vom innigsten Familienleben aus eine andere, natürlichere werde. Ja,.
Korrespondenz zwischen X). Breymann und K. Schrader bis 1872. 403
der Frau muß frei, vollkommen frei gegeben werden, und es ist noch sehr die Frage, ob die Äberschreitungen ihrer Grenzen der Weiblichkeit,
die aber innerhalb tüchtiger Menschlichkeit bleiben, so schlimm sind wie die Lüge und Schwächlichkeit der Frauennatur, wie sie jetzt ist. Was die Frau dann werden kann, wissen wir noch nicht; aber eins wissen wir, daß sie zur Erzieherin im weiteren Sinne bestimmt ist, und wir, die wir über die Übergangsperiode mit ihren Einseitigkeiten und wun derlichen Formationen Hinausblicken — wir müssen festhalten, den Grund zu legen, der das wahre Weib tragen wird; daß sie tüchtig wird in positivem Wissen, in der praktischen Arbeit, nicht um dem Staat als solchen zu dienen, sondern in Rückblick auf die Person, auf ihr Kind oder auf das Kind, dessen Mutter sie vertreten soll. Da es immer Waisen geben wird, so wird es immer Anverheiratete geben, und diese sollten, wenn sie ihre Pflicht in der menschlichen Gesellschaft treu aus füllen, mit ganz besonderer Achtung von Männern und Frauen be gegnet werden — denn die geliebte Gattin und Mutter, hat sie nicht von all ihrem Tun die süßeste Rückwirkung? Wir müssen streben, die innere Gerechtigkeit herzustellen, dann werden wir nicht mehr bitter über äußeres Schicksal klagen. Wie schwer wird es den Anverheirateten gemacht, Verkehr mit Männern zu ge nießen, dessen sie doch zur Entwicklung ihres Geistes weit mehr bedarf als die Verheiratete. Sier müssen ordentliche Männer eintreten; was sonst nur Vorrecht der verheirateten Frau ist, teilzunehmen, wenn sie kann und will, an den Bestrebungen ihres Mannes, das sollte der Anverheirateten werden, teiilzunehmen an den Interessen der Männer und, wie gesagt, es muß vom ordentlichen Männern ausgehen, sie heran zuziehen. Versuchen Sie eB nur einmal, ernste Gespräche mit Frauen zu führen. Sie werden doch -unter dem Saufen immer einigen begegnen, die sich wohltuend davon kberührt fühlen; ich weiß, wie scheu manche edle Frauennatizr ist; ich ttveiß auch, wie tief verletzend es ist, mißver standen zu werden. Eine orldentliche Frau unter dem Saufen kann nur tief in ihr Innerstes sich zmrückziehen, denn die Wahrheit mitten unter Verstellung und Lüge nimimt sich gar wunderlich aus. Diese Leipziger Frauen sind doch braver, als ich dachte, sie nehmen das Los der Über gangsepoche auf sich; sie verleugnen eine gewisse Zartheit und Weib lichkeit, die später erst kon>men wird und mit der schönsten, sittlichen Kraft vereinbar ist. Durch (2RiH habe ich so vieles, mich selbst besser ver stehen lernen. In mir hielt ich fest an der Weiblichkeit der Zukunst,
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Kapitel 18:
fühlte mich abgestoßen von einer Auguste Schmidt usw., aber ich stelle sie jetzt viel höher, weil ich sie historisch erfasse. Sehen Sie, ordentliche Männer wie Sie — und Sie sagen, es gäbe noch mehrere — ich kenne keine außer Äermann und meine Brüder und Sie; also ordentliche Männer wie Sie sollten sich nicht so zurückziehen. Sie sollten es sich zur Aufgabe machen, mit ordentlichen Frauen zu verkehren. Sie sind so schwer zugänglich, Äermann auch, Adolf auch, wenn auch der brauch barste, aber er ist so weit fort. Es kann ja sein, daß durch einen freieren, geistigen Verkehr zwischen Männern und Frauen erst noch eine Menge unglückliche Lieben kommen; aber das schadet nicht soviel; ein reines Gefühl, richtig behandelt, reift und entwickelt sich schließlich, und nach einer solchen Durchgangsepoche werden sich eng persönliche Verhältnisse nur da knüpfen, werden Ehen nur da geschlossen werden, wo nicht nur einer seits Achtung, anderseits Wohlwollen, sondern vielleicht wo wirklich di: Larmonie der Seelen stattfinder. Es kann Fälle geben, wo man dies im ersten Augenblicke des Sehens weiß, aber viel öfter und viel sicherer wird es sich herausstellen nach langem, freiem Verkehr; denn eine wahre Ehe ist nach meiner Meinung was Großes, etwas, das auch wird und das man nicht machen kann. Die gegenseitige Neigung hat so viele Grade, und ich habe nie begriffen, wie man auf einmal jemanden» alles sein kann
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 27. Juni 1870. Morgen kann ich nicht in den Erziehungsverein kommen, weil ich hier zu derselben Zeit eine gerade auf meine Veranlassung angesetzte Sitzung nicht versäumen kann. So leid es mir tut, im Erziehungsverein zu fehlen, so kann ich es doch nicht ändern. Wir würden uns kaum ge sprochen haben, da die Sitzung ziemlich bis zur Abfahrt des Zuges dauern wird, und auf eine ungehinderte Anterhaltung nicht zu rechnen wäre Wie die Welt doch alles stört, weil sie alles mißversteht 1 And doch, mag man sie innerlich verachten, kann man sie nicht beiseite setzen, denn man muß in ihr leben und wirken; nur geistig frei soll man sich von ihr machen, dann kann man auch mit ihr fertig werden.
Wunderbar ist es, wie verschieden wir beide angelegt und entwickelt sind, und daß gerade in dem Momente unseres Lebens unsere Geister aufeinandertreffen mußten, wo sie fühlten, daß sie Gefahr liefen, das
Korrespondenz zwischen 55* Breymann und K. Schrader bis 1872. 405
Ziel zu verfehlen, weil sie die anfangs eingeschlagene Richtung zu kon
sequent verfolgten. Sie sind durchaus individuell angelegt und durch Ihre Natur und
die frühe Kenntnis der Fröbelschen Idee stark in dieser Richtung ent wickelt. Für Sie wird jede Idee, welche Sie aufnehmen, jede Bestrebung, welche Sie verfolgen, Teil Ihres Wesens, und deshalb können Sie sich
so für Ihre Sache begeistern, aber es wird Ihnen vielleicht schwerer, sich objektiv derselben gegenüberzustellen, und ablehnendes Verhalten ande rer gegen dieselbe zu begreifen und nicht üef persönlich zu empfinden.
Darum wird Ihnen wohl weniger leicht als andern, etwas zu erreichen,
aber Sie vermögen weit mehr zu erreichen als andere, weil Sie Ihre
ganze Persönlichkeit begeistert für Ihre Sache einsetzen. So haben Sie in Ihrem Leben mehr Freude und mehr Schmerz
empfunden und werden es auch zukünftig als bei anderer Begabung
und Entwicklung, und doch bleiben Sie frischer durch die stete, wechselnde
Anregung, durch das fortwährende neue Werden. Darum können Sie
andern Menschen so viel sein, mehr als andere Ihnen. And Sie haben
den klaren Weg der schließlichen Entwicklung sich selbst schon vorgezeich net, er ist die volle Bewahrung Ihrer Individualität, nur verbunden mit einer vollen Unterordnung derselben unter die große Idee, welche Sie verfolgen. Das wird Ihnen immer Ruhe und Ausdauer in jedem noch bevorstehenden Kampfe geben.
Anders steht es mit mir. Freilich bin ich sehr viel individueller
angelegt, als ich geworden bin, aber seit ich selbständig zu denken anfing, habe ich mich so sehr daran gewöhnen müssen, zu entsagen, daß
ich nun fast mir selbst entsagt habe und mir oft vorkomme wie eine ganz nützliche Maschine, die sich freilich durch eigenen Antrieb bewegt, aber nie sich selbst, sondern nur andern dient, und was sie auch schaffen mag,
für sich nichts schafft. And von dem ewigen Klappern des Räderwerkes werde ich selbst immer dummer und ich fühle, wie sich allmählich der
Mechanismus abnutzt und sehe voraus, daß er bald nichts mehr taugen und dann in einen Winkel geworfen wird. Mein Bruder hat nicht so unrecht, wenn er sagt, ich könne nichts
mehr wahrhaft genießen; das Gefühl der freudigen Aufregung ist mir fast ftemd geworden, und nur selten vermag ich ein persönliches Ver
hältnis zu den Ereignissen zu finden. Deshalb kann ich fiir andere ein
ruhiges, ganz unbefangenes Arteil haben, ich kann mich leicht persön lich aufopfern, weil ich mir selbst fast gleichgültig bin. Wie ich so ge-
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Kapitel 18:
worden bin, verstehe ich jeht recht gut Sie sind der einzige Mensch, mit welchem ich über mich selbst offen gesprochen habe, weil ich weiß, daß Sie mich nicht mißkennen .
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 2. Juli 1870.
Die Nachricht, welche Sie mir von Ihrem Befinden gegeben haben, hat mich sehr betrübt; ich hatte gehofft, daß, nun Sie frischen Mut zum Leben und Wirken gefunden hatten, auch Ihre Gesundheit wieder die alte Festigkeit erlangt hätte, aber es scheint doch, als ob die Ereignisse der letzten Zeit Sie auch körperlich mehr angegriffen haben, als Sie selbst vielleicht glaubten. Ihnen tut durchaus eine wenn auch nur kurze Zeit völliger Freiheit von aller Berufsarbeit not, und ich möchte Sie drin gend bitten. Sich nicht lange mehr zu besinnen, sondern sobald dies traurige Wetter vorüber ist. Sich kurz zu entschließen herauszugehen aus Neu-Watzum. Freilich müssen Sie wohl am 15. d. M. zurück sein, um Frau von Marenholtz zu empfangen, aber selbst eine achttägige Freiheit von Arbeit kann Ihnen schon die besten Dienste tun und wird Ihnen nötig sein, wenn Sie die Arbeit, welche Frau v. M. verur sachen wird, vertragen können. Darum „verjökeln" Sie (Sie rrehmen den Ausdruck nicht übel?) keine Zeit mehr, und reisen Sie zu Erich und nachher können Sie ja immer in den Larz oder in Ihr liebes Thüringen gehen. Nicht wahr. Sie sorgen jetzt zuerst für sich und Ihre Gesundheit, erst nachher kommt wieder die Arbeit für unsere Ideen. Täten Sie nicht gut, jetzt Bücher wie Mill beiseite zu legen? Lesen Sie lieber andere, mehr unterhaltende und weniger anstrengende Sachen! Eben bringt mir dre Botenfrau einen Brief meiner Schwägerin, aus welcher ich sehe, daß Sie nach meinem Bruder geschickt haben. Nehmen Sie nur die scheußlichen Pillen, die er Ihnen verschreibt, mit Geduld ein, und lassen Sie sich von ihm ernstlich raten, fich Ruhe zu gönnen Anter diesen Umständen sehe ich Sie vor meiner Ab reise nach Coblenz wahrscheinlich nicht mehr, und da ich nicht vor dem 12. d. M. zurück sein werde, vielleicht kaum vor der Ankunft der Frau v.M. zumal, wenn Sie meine Bitte erfüllten, sich Ruhe z>u gönnen. In Coblenz wohne ich im Lote! zum Riesen, und w^enn Sie mir einige Zeilen dorthin schicken wollen, so adressieren Sie nur: Äerrn Assessor Schrader, Mitglied der Lerzoglich Braunschweigischen Ge-
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neraldirektion der Eisenbahnen. Nach dem 8. schicken Sie mir keine Briefe mehr nach Coblenz. Jetzt sitze ich mitten in den Vorbereitungen zu meinen großen Kon ferenzen und studiere mit Ernst die wichtigsten Fragen, z. B. ob es rationell sei, Eisenvitriol so oder so zu tarifieren usw. Es sind in der Tat wichtige Dinge, und sie haben mich früher lebhaft interessiert, die auf dieser Konferenz behandelt werden, und namentlich die eine der be vorstehenden Versammlungen würde mir unter andern Umständen sehr am Äerzen gelegen haben, weil sie eine neue, unter meiner Mitwirkung gegründete Organisation eines großen Ersenbahnnetzes ist, welche, wenn richtig geleitet, einen großen Einfluß auf die Entwicklung des ganzen deutschen Eisenbahnnetzes üben kann. In meiner Land lag die Leitung dieser Organisation mit, und ich hoffte, sie allmählich auf den Weg zu bringen, welchen ich für den richtigen hielt. Ich selbst konnte zu einem Ansehen gelangen, welches mir andere Bestrebungen sehr erleichtert hätte. Da, gerade in dem Momente, wo ich meinem Ziele nahe zu sein glaubte, wurde ich herausgedrängt. Das ist es gerade, was mich jetzt verstimmt, daß ich mir für den Beruf, dem ich mich nun neun Jahre gewidmet habe, und welcher an Bedeutung und Interesse immer zunimmt, nun einen andern wählen soll und eigentlich noch nicht einmal sagen kann, welchen. Aber ich sehe selbst ein, daß ich in diesem geistig unsteten Leben doch zugrunde gegangen wäre und fürchte nicht, daß ich nicht demnächst wieder eine Wirksamkeit in der Welt finde. Jetzt möchte ich frei sein für einige Zeit, ich habe auch letzthin noch Offerten für den Eintritt in den preußischen Staatsdienst zurückgewiesen. So gern möchte ich mit Ihnen zusammen einiges arbeiten und schaffen, und ich glaube, ich kann es, wenn ich erst Ruhe habe, und wir beide können nicht nur zusammen die Vorzüge eines Buches genießen, sondern auch miteinander eines schreiben. Die boshaften Pedelle lassen mir keinen Augenblick Ruhe; kaum habe ich einige Zeilen geschrieben, so kommt schon wieder einer, der etwas ganz eilig gelesen oder unterschrieben haben will; ich komme nicht zum ruhigen Schreiben. Von Ä. Becker habe ich heute die Nachricht erhalten, daß er sich nicht im Besitze seiner Schriften über den Protestantenverein befindet, sondern daß Sie dieselben wahrscheinlich besitzen. Vor meiner Reise kann ich doch von ihnen keinen Gebrauch machen, nachher möchte ich sie wohl haben, damit ich sie gleich durchsetzen kann. Sonst verzögere
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ich unsere nächste Zusammenkunft. Wenn Sie also glückliche Besitzerin der Schriften sind, so lassen Sie sie mir wohl gelegentlich zukommen. Lier muß ich schließen, weil ich zum Diakonissenhause eilen und vorher noch den Brief expedieren muß, wenn Sie ihn morgen noch erhalten sollen. Zürnen Sie nicht über seine Kürze und Anordnung, ich habe nicht drei Zeilen geschrieben, ohne gestört zu werden. Loffentlich trifft Sie dieser Brief wieder wohl. Leben Sie wohl!
Mit den herzlichsten Grüßen! Ihr
K. S.
Lenriette Breymann an Karl Schrader. Oker i. Larz. Freitag, 8. Juli 1870.
So habe ich mich doch ergeben und fortgehen müssen. Gestern däm merte die Ahnung, daß es nicht anderes würde und heute ftüh faßte ich den Entschluß. Ohne vorwärts oder rückwärts zu denken, fuhr ich mit der Mutter hierher. Wir fanden die Zimmer beim Kantor Schucht, die ich schon ftüher bewohnte, unbesetzt, und so sind wir bei diesen guten, braven Leuten einquartiert. Wir haben ein wirklich hübsches, großes Wohn zimmer mit zwei Sosas und daneben zwei Schlafzimmer. Die Oker rauscht unter den Fenstern nach Westen, wo eben die Sonne hinunter sank und nach Osten zu lehnt das Laus an emem Berg mit Tannen be waldet. Obgleich fünf Kinder im Lause sind, die viel Elternfteude aber auch einem armen Schulmeister viel Sorgen der Erziehung bringen, so ist es doch still. Ich habe meine liebe, liebe Mutter bei mir und könnte, nun einmal der Anruhe Neu-Watzums entflohen, mich der Ruhe und Pflege meiner abgenutzten Nerven hingeben, verfolgte mich nicht der Gedanke, daß es nichts hilft. Ich bin noch nie in einem solchen Zustande der Kraftlosigkeit gewesen wie jetzt; ich habe keinen Glauben an eine Leitung! Ach, was ist der Glaube für eine Macht, ein undefinierbares Etwas, das nicht gelehrt, nicht erklärt werden kann, sowenig wie die Liebe, die innerlich erlebt sein will und sich da aus Fäden webt, die sich der Lupe des Verstandes entziehen, wenn er zerlegend und zersetzend mit seinem Messer der Kritik dararr geht. Der Glaube, wie die Liebe muß ftüh in der Kindheit ksmmen, nur die Liebe küßt die Liebe wach, nur der Glaube facht den Glauben an, und glücklich die junge Seele, welche in einer Atmosphäre atmet, welche von
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beiden, mächtigen Lebenselementen durchdrungen ist. Aber manchmal trägt eine Seele auch lange Liebes-- und Glaubenskrast latent in sich; es gelingt der kalten, rauhen Welt nicht, sie zu zerstören, sie scheucht sie nur immer tiefer ins Innere zurück, bis endlich einmal der erweckende Strahl durch die Lullen dringt, die das Leben webte, so daß sich nach und nach ein neues Sein bildet. Aber selten, selten wird es so sein; im Gegenteil, es verlieren die meisten Menschen im späteren Leben, was in der Jugend gewonnen, wenn dieses Gewonnene nicht fest, sehr fest gegründet war. And die „Welt", die wir immer so anklagen — die Welt sind unsere Schwach heiten, die jeder in sich trägt, die nur vielleicht in andern nicht bekämpft, wenigstens nicht besiegt waren; der Kampf mit der „Welt" ist doch immer nur der Kamps mit uns selbst, d. h. mit der Menschheit-Natur. And anstatt auf diese Welt zu schelten, diese und jene Erscheinung zu bekämpfen — sollten wir nicht eher fragen, wie geht es zu, daß solche Kreaturen entstehen, z. B. wie ist es möglich, daß ein Teil der Bourbonen entstehen und Frankreich und andere Länder so demoralisierten? Doch, wohin gerate ich! Letzte Nacht hatte ich einen Traum, der mich eigen bewegte und mich tief zurückführte in das Zusammenleben mit meiner Schwester Marie, in die Sterbenszeit, die uns voneinander riß. Marie stand vov meinem Bette, ich hörte ihre Stimme so deutlich, wie sie sagte: „Äenriette, ich habe mich lange genug ausgeruhr, ich will die Pension jetzt übernehmen, nun ruhe Du, du hast es jetzt nötig". And, als sie so zuver sichtlich sprach, da fühlte ich, als ob ein elektrischer Strom durch mein Wesen ginge, und als riefe alles in mir: „Du bist frei!" And dieses wun dervolle Vertrauen, das ich zu Marie hatte, belebte meine Seele; aber das war alles nur so ein Moment, dann kam das phantastische des Traumlebens wieder dazwischen; doch den ganzen Tag trage ich dieses Gefühl des Mutes, des Trostes mit mir herum. Marie hatte etwas von Matthy in der Arbeitskraft, in der Festigkeit und Bescheidenheit, in der Treue und Innerlichkeit. Lätten Sie sie nur gekannt! Ich habe das Buch von Matthy zu Ende, ich danke Ihnen für dasselbe viel, vielmals; es ist ein Buch, das wirkt, und wenn man es wirklich liest, auch nach wirkt. F. schreibt gut, er stellte sich wohl hauptsächlich zur Aufgabe, M. als politischen Charakter zu schildern und inwieweit das dazu verarbei tete Material das richtige ist, verstehe ich nicht zu beurteilen, ich bin leider zu unbewandert in der Politik, aber die Art und Weise der Be-
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urteilung gefällt mir ausnehmend und wie durch dies unruhige Gewölk des politischen Lebens dann und wann schöne Streiflichter auf das Fa milienleben fallen, und wir einen tiefen Blick tun in das Leim, das zwei so verbundene, so eins gewordene Menschenherzen sich gründeten, wie unstät der Fuß auch wandelte, und wie oft die Stätte, die man Leimat zu nennen pflegt, gewechselt wurde. Den beiden Menschen ist doch ein schö nes Los geworden, vor allem der Frau, so indirekt eingreifen zu können in das Getriebe der Welt, indem ein innerlich großer Mann ihrer be durfte, wirklich innerlich bedurfte, um seine Laufbahn fortzusehen und zu vollenden. Das ist des Lebens Sorgen, Kampf und Schmerz zu tra gen, wohl wert. Was mich auch freut, ist, daß die Sorge um die Existenz von Matthys Familie, ihn nicht heruntergezogen, sondern nur entwickelt hat; ich denke mir auch, daß Familiensorgen, die aus einer gesunden Ehe er wuchsen, in der das Weib den Mann so oder so versteht, den letzteren nicht in seiner Berufstätigkeit schwächen; sie geben ihm vielleicht hie und da eine andere Richtung, lenken ihn eine zeitlang scheinbar vom Ziele ab; aber sie gründen ihn umso fester in sich selbst. Wo das Familienleben den Mann herunterzieht und zerstückt, da muß es doch an irgend einer Stelle faul sein, meine ich. Die wahre Ehe hat ebensoviele Erscheinungen wie die wahre Weiblichkeit, je nach den Naturen; nur muß der Mann irgend ein ideales Ziel verfolgen, ruhe es noch so tief in der Knospe, wie es wolle; der arme Flickschneider, der recht und brav lebt, verfolgt ein HöheresZiel, und sein Weib muß darin eins mit ihm sein, sei dies auch nur durch die Erfassung im Gemüt, und wo diese Erfassung ganz und wahr ist, da wird auch Intelligenz und Willenskraft angeregt zu folgen, denn die Kräfte sind untereinander solidarisch — sei es auch zugleich im klaren Verständnis durch die In telligenz, oder durch praktischeMitarbeit amBerufe des Mannes selbst— nur müssen beide sich finden unter „dem höheren Dritten". Ohne dies wird keine dauernde, fruchtbringende Larmonie möglich sein, und was als Glück erscheint, ist oft, wie oft ein übertünchtes Grab. Mit diesem Dritten aber wachsen die Geister zusammen, und dem Äöheren zu, von welcher Seite auch der Schwerpunkt ihres Friedens sei. Die Mutter mahnt mich zu Bette zu gehen, gute Nacht. Am 9. Juli. Eigentlich wollte ich nur bis Montag bleiben, aber ich soll vor Mittwoch abend nicht wiederkommen, Donnerstag könnte ich für Frau von Marenholtz alles in Ordnung bringen.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 411
Ich fürchte mich bis jetzt noch vor dem Besuche; aber vielleicht hat die Frau jetzt nicht mehr soviel Aufregendes für mich wie ftüher. Die Frarl ist wunderbar, rein wie Diamantlicht in ihrer Intelligenz, getragen von einer glänzenden Phantasie .... Die Frau steht so groß da; wie eine Löwin verteidigt sie die Reinheit der Idee und sie opfert ihr Alles an äußerem Leben .... In meiner Natur sind so große Gegensätze: Eine sehr starke Individualität und soviel Selbständigkeit und £lnabhängigkeitssinn und wiederum ein Bedürfnis mich an jemanden hinzugeben. Äätte ich sehr jung eine Persönlichkeit gefunden, die groß an Geist und Charakter gewesen wäre, ich wäre vollständig in ihr aufgegan-gen, wäre für mich ein Nichts geworden — so aber bin ich immer auf mich selbst zurückgeworfen, bei Fröbel, bei Frau v. M. .... ich hatte niemand, der mir aus dem Labyrinthe des Grübelns half. Es ist ein un berechenbarer Schatz aus einer Familie zu stammen, wo (wie die meine), die Natur und die Leidenschaften sich nie verirrten; mag der Äorizont ein enger fern, für die Kinder und jungen Seelen muß die bürgerliche Sittlichkeit erscheinen als Naturnotwendigkeit; man hört ja wohl von andern Möglichkeiten, aber es ist ein 55ören ohne ein Verstehen, und wenn dann so nach und nach die traurige Erkenntnis von dem Elende des Lebens kommt, wenn man den geheiligten Fleck der Äeimat verläßtdann hat man doch aus dem gesunden sittlichen Boden ein Etwas eingesogen, das in uns Fleisch und Blut geworden und uns immer einen Boden gibt, wie tief der Menschheitjannner uns auch packt, und wie demütig man auch zu der Erkenntnis komrnt, daß man nicht aus andern: Stoff gebaut, als die andern, sondern in andern Verhältnissen vielleicht noch tiefer geraten wäre als sie. Es ist 9 Ahr, die Mutter mahnt, daß wir ausgehen wollen. Wenn Sie einmal hierher kämen, wie schön wäre das; ich glaube. Sie würden ganz vergnügt; diese wundervolle Stille hier, man hört nur Natur, keine Menschen.
Karl Schrader an 55enriette Breymann. Braunschweig. 10. Juli 1870.
Als ich diese Nacht nach Lause kam, fand ich Ihren lieben Brief vor, und ich habe ihn, noch ehe ich mich zur Ruhe legte, gelesen Ich bin glücklich von meiner Gespensterreise zurückgekommen, weder der Eisenbahngott (oder Teufel) noch der Vater Rhein hat mich zu sich genommen; aber Sie scheinen doch, obgleich Sie nichts darüber schreiben.
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Kapitel 18:
sich angegriffen zu fühlen, sonst hätten Sie sich nicht so schnell zu der übrigens höchst zweckmäßigen Reise nach Oker entschlossen. Dort möchte ich Sie freilich gern besuchen, aber es wird wohl nicht gehen, da ich noch eine oder vielmehr zwei Kollegen aufReisen gelassen habe. Jetzt kann ich wenigstens noch nicht wissen, ob ich mich frei machen kann. Geht es, so schreibe ich vorher oder melde mich telegraphisch an, damit Sie nicht aus geflogen sind .... Verlieren Sie nur den Mut nicht; geistige Regeneration geht, wie die durch eine Badekur bewirkte, körperliche, nicht ohne Ermattung vor über, aber es wird manches ausgeschieden, das uns quälte und drückte, hoffentlich hilft Ihnen schon die Harzluft die durch Ihre vielen Auf regungen entstandene Nervenabspannung besiegen. Vor Frau von Marenholtz haben Sie mich fast bange gemacht; sie ist cm wunderbares Beispiel, wie der Mensch durch fanatische Hin gabe an eine Idee einen guten, vielleicht den besten Teil seines Selbst opfern kann, wenn er nicht diese Idee als Teil des Ganzen, und dieses Ganze darum immer als das höhere auffaßt. Ich muß aber schließen, wenn Sie diesen Brief heute erhalten sollen. Darum mit herzlichem Gruße und dem Wunsche, daß Sie sich recht schnell kräftigen mögen. Ihr KS. Viele Grüße an Ihre Mutter.
Henriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 14. Juli 1870. Obgleich ich mich vor Frau v. M. fürchtete, so habe ich mich doch mit meinen Gedanken auf ihren Besuch eingerichtet, und es wäre mir nun lieber gewesen, sie käme jetzt, als die Sache verzögerte sich noch. Gestern hatte ich auf einmal Angst, Sie könnten sich erkältet haben. Sie mußten so rasch laufen und sahen nachher im Dampfwagen aus dem Fenster. Nicht wahr. Sie wollen nicht unvernünftig in bezug auf Ihre Gesundheit sein. Ansere Marie hat wirklich in dieser Beziehung gesün digt, sie hatte eine so herrliche Konstitution und meinte, sie könne nichts anfechten. Man muß auch in dieser BeziehungFröbelsch sein; Sie haben doch einmal die Fröbelei angenommen, und so dürfen Sie Kleinigkeiten nie unbeachtet lassen, auch nicht in bezug auf Ihre Gesundheit. Wollen Sie mir das versprechen? Ich glaube dem, was Sie versprechen.
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 413 Ja, nun bin ich wieder hier, und es kommt mir vor, als wäre ich lange, lange fort gewesen, und mit Sehnsucht sehe ich dem 1. September
entgegen. Ich habe noch eine ausgezerchnete Entdeckung in Oker gemacht;
den Hüttenmeister £L, Freund von Äerrn Schucht, bei dem ich Chemie-
stunde bekommen kann, wie mir Lerr Schucht sagt, indem dieser Mann glücklich ist, wenn er über diese Wissenschaft sprechen und ihre Gesetze dar-legen kann mit praktischen Experimenten; er hat einen kleinen chemischen
Lerd. Gerade die Gesetze der Chemie smd so wichtig zum Verständnis des Geistes .... Ich habe wirklich in Oker ausgezeichneten Stoff für sechs
Wochen Ferien. Gestern war ich noch eilte Stunde in der Schule. Äerr Sch. hatte die Kleinen, da habe ich meine ganze Freude gehabt, wie Fröb-
lisch er zu Werke geht> Auch für den Elementarunterricht kann ich Vor
treffliches studieren, und Lerr Sch freut sich auch auf meine Wiederkehr. Ich bin gespannt, was Sie zu meinen Plänen sagen? Mein ganzes Wesen sehnt sich nach Sammlung, Nahrung und stiller Vorbereitung
von so manchem, was durch die letzten Ereignisse tief aufgerührt ist in meiner Seele.
Wie ängstigen mich diese 40 jungen Mädchen, die ich alle lieben, denen ich alle geben sollte; ich verändere mich doch merkwürdig, ist das
alt, schwach werden? Oder ist es Umbildung des Geistes zu einer neuen Stufe? Da vollziehen sich im Menschen Prozesse, er trägt das wunder barste Sterben und Werden in sich und weiß es nicht, und was hat die Menschheit schon gelitten? Die französische Revolution ist doch ein
schreckliches Ereignis, wenn man so dem Fühlen des Einzelnen nachgeht; der Einzelne ist da so ein Nichts, über welches der Geist der Geschichte unerbittlich fortschreitet. And doch ttägt wieder der Einzelne, wenn er
bewußt wird, eine ganze Welt in sich und ringt mit einer ganzen Welt. Ich kann nicht von dem Gedanken kommen, daß es Gott dem Men schen zu schwer gemacht hat. Es ist doch so wunderschön, glücklich zu sein, Gott hätte es doch einrichten können, wenn er gewollt, daß die Menschen
bei üefem Ernst, auch glücklich werden; daß sie in tüchtiger Arbeit sich
entwickelten, aber nicht so leiden müßten. Ich sage das nicht in bezug auf mich, denn wie viel Schmerzliches mich auch gettoffen hat, ich habe auch viel Schönes im Leben genossen; ich kenne Glück, ich weiß wie schön es ist, glücklich zrr sein. Aber welche elende Existenzen gibt es, welche ent-
setzliche; meine Natur leidet nun einmal mit, wo so wirkliches Leid sich
findet, und leider finde ich in den eigenen Lebensbeziehungen und in der Geschichte viel mehr Leid als Glück.
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Kapitel 18: Aber welch' müßige Rede ist das wenn; es ist so, und das Sein
muß man akzeptieren in seiner unerbittlichen Konsequenz; ich begreife,
wie der Glaube an das Fatum entstand. Wird uns einst auch alles klar werden? Wird alles seine Versöhnung finden? Auch das ist mir begreif lich, daß die Menschen diese materielle Versöhnungstheorie durch Jesu
Blut aufgerichtet und entwickelt haben, daß nicht nur Dumme und Äeuchler zu dieser Richtung sich bekennen. Es ist so ein Bedürfnis der
menschlichen Natur, sie will fertig werden, will was Fertiges haben — und da ist es; da, in Jesu Armen ruht der müde Geist aus; da wäscht er
alles Elend des eigenen, unvollkommenen Wesens hinweg. Diese Sta tionen der Ermüdung sind gefährliche Wendepunkte in der Entwicklung
des Geistes. Leben Sie wohl, so gut es gehen wrll in diesem Äbergangsstadium, in dem auch Sie stehen; möge es nicht allzulange währen.
Aus dem dummen B. Tageblatte verstehe ich nichr, ob Krieg wird oder nicht. Ob Sie meiner nicht müde werden?
Noch eins, haben Sie die zwei Briese von M. und N. in der Tasche behalten?
Ich wollte. Sie schrieben an N., sie solle doch nicht die Geduld ver lieren und vorerst in Italien bleiben; es ist für sie und die Sache höchst
schädlich, wenn sie jetzt fortgeht. N. dauert mich so sehr, sie kann mit
ihrem eigenen Ich nicht zurechtkommen; ich glaube, es steckt eine ge
waltige Liebefähigkeit in ihr, sie hat wirklich bedeutende Gaben, aber ihr hat Familienliebe gefehlt. Ich fürchte jetzt oft, daß ich zu hart gegen sie war, sie hat mich mit ihrer Leidenschaft und Eifersucht halb tot gequält; aber jetzt weiß ich, daß man sich nicht durch die Äußerungen der Men
schen abschrecken lassen darf, wenn diese uns unangenehm berühren, son
dern der Quelle nachgehen muß; früher habe ich N. ihre Fehler^mit Un
erbittlichkeit klargemacht; ich tue das nicht mehr in derWeise; ich möchte
ihr helfen. O, Sie wissen nicht, wie viel Frauenschmerz ich kenne, wie viele sich mir offenbart haben in ihrem mannigfachen Leide, und ich begreife nicht, woher es kommt, wie ich oft leidenschaftlich geliebt bin, wie mich Frauen vergöttert und verwöhnt haben; nein, es ist eine merkwürdige Geschichte.
Darf ich Sie noch einmal an die Federn erinnern? Ich habe keine ordentliche mehr.
Ihre
Ä.B.
Korrespondenz zwischen K>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 415 Äenriette Breymann an Karl Schrader. Freitag im Äolze, 15. Juli 1870.
Ich sehe vollkommen ein, daß Sie mehr zu tun haben, als mir zu schreiben, wo Forstversammlung und Kriegsgeschrei Sie in Anspruch nehmen. Aber ich fühle das Bedürfnis, mit Ihnen zu sprechen, wenn auch nur schriftlich; der Verkehr mit Ihnen hat mich von der Welt befreit, und wenn ich Zeit finde, mich zu sammeln, so werde ich ihr vielleicht noch nützlich fein, wenn auch nur im kleinsten Kreise. Ihrer Achtung würdiger zu werden ist es, was dem Ernste meines Strebens auch zugleich feine Schönheit verleiht, und ohne tiefe Achtung gibt es keinen sicheren Boden für ein Verhältnis zwischen zwei Menschen .... Mit den Meinen habe ich eine gründliche Aussprache gehabt. Sie geben mir alle einstim mig einen Winter frei, ja, sie finden es absolut notwendig, und der Plan ist fertig, wenn nichts dazwifchentritt. Ich ziehe zur Mutter, gebe nur einige Stunden im großen Lause und komme sonst nie, zu keinem Be suche, zu keinem musikalischen Abende usw. Nun will ich sehr, sehr fleißig sein, wenn Sie nur einen ordentlichen Menschen für mich finden, bei dem ich Physiologie des Menschen ordentlich lernen kann, d. h. ich habe einen Plan, nach dem ich lehren will, und ich will mich dazu vorbereiten. Die Art und Weife, wie es hier während meiner Zurückziehung werden soll, ist zu aller Zufriedenheit festgestellt. Ich habe, ich darf es wohl sagen, einen gewissen geistigen Boden für die Pension erobert, aber ich bin wahrlich nicht nötig, ihn festzuhalten, glauben Sie mir; und wenn alle das Gefühl der Sicherheit gewonnen nächsten Winter, dann kann ich eine Klasse von Erwachsenen hier haben. Wenn das nicht geht, so gehe ich nach Goslar und fange dort einen Kindergarten an und mit Lermann Beckers Lilfe eine Ausbildungsschule für Erzieherinnen. Wenn Sie Muße haben — und Sie müssen sie unter allen Umständen haben — dann müssen Sie Naturwissenschaft studieren. Sie haben eine so glückliche Gerstesorganisation, daß Sie so schnell arbeiten können. So sehr ich mich aufs Lernen freue, so werde ich manchen Kampf zu bestehen haben; mein Gedächtnis ist verdorben, und mein Organismus ist so er regbar; ich schweife so leicht ab mit meinen Gedanken, aber ich will das überwinden Vorhergehendes schrieb ich, noch ehe ich an den Krieg glaubte, nun ist er da, der Stein ist angestoßen und einmal im Rollen, weiß man nichts wohin er feinen Lauf richten wird.
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Kapitel 18:
Ich bin tief im Innern bewegt, wenn ich an den Jammer denke, der so viele Lerzen jetzt erfaßt. Männer haben wohl zuerst das Ganze im Auge, und auch uns gibt der Gedanke daran Laltung und Fassung, denn hier kann keine Wahl sein; aber traurig, üef traurig ist und bleibt die Sache, daß die Entwicklung von Völkern und Staaten durch soviel Trübsal der einzelnen hindurchgehen muß. Nur wer weiß, was es be deutet, jemand von ganzer Seele zu lieben, im andern zu leben, zu weben und zu sein — und diesen andern zu verlieren, der kann nachfühlen, welch Lerzbrechen durch die Lande gehen wird, und wenn auch Größe und Gewinn dasEnde ist, das Lerzbrechen ist da, und es ist ein Jammer. Doch der Krieg ist da und alles, was wir tun können, ist treuer als je zu arbeiten, zu helfen, wo wir können, das Leid zu lindern, das im Anzuge ist. Ich weiß, wieviel Sie nach allen Seiten hin zu tun haben, und ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich nicht auf Briefe warte; ich weiß. Sie schreiben, wenn Sie können, aber Sie haben auch die Ruhe nötig. Wenn Sie auch in nächster Zeit nicht kommen können, so möchte ich Sie einmal in Braunschweig sprechen, wenn ich wüßte, daß ich Sie nicht störte; aber diese persönlichen Wünsche sind in solchen Zeiten untergeordnet; Sie haben mich in letzter Zeit oft schwach gesehen, aber ich denke. Sie ver stehen mich und meine Narur. Sie werden jetzt lieber arbeiten, denn es handelt sich plötzlich um ganz andere Interessen; ich kann vorerst nichts tun als unter den aufgeregten Gemütern der Kinder möglichst Ruhe Herstellen und Ihnen in Gedanken folgen. Doch man weiß nicht, ob nicht auch an mich Ansprüche gestellt werden ganz anderer Art, und wenn Sie je etwas für mich zu tun hätten, nicht wahr. Sie vergessen nie, daß Ihre Interessen mir teuer sind, und daß wir so manche als die unsrigen er kannten. Sie wissen, daß Sie in mir ein Lerz gefunden haben, das Ihnen bleibt unter allem Wechsel der Verhältnisse, denen wir vielleicht ent^egengehen. Vielleicht erscheint es kleinlich, noch vom Persönlichen zu sprechen in Angesicht so ernster Ereignisse, aber ich meine, die Arbeit für das Allgemeine trägt sich leichter, tut sich freudiger, wenn man weiß, ^s folgt eine Seele in liebendem Verständnis nach; es ist ein Lerz da, das ebenso treu Täuschungen, Niederlagen, Trübsal mit tragen würde, als es sich der Erfolge freut. Ich denke, diese Ereignisse können sehr ein flußreich für Ihr Leben werden, wer weiß, wohin Sie dieselben führen, aber ich bin ganz ruhig für Sie, für mich. Wie Sie sich auch verändern, denn jede Entwicklung ist Veränderung, welche Gestaltung Ihr äußeres Leben auch nehmen mag, es bleibt ein Kernpunkt in Ihnen derselbe, und
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 417 nie kann ich verlieren, was ich von Ihnen in meinen Geist ausgenommen. Ich bin ernst, sehr ernst gestimmt, aber ruhig in meiner Seele. Leben Sie wohl; aber denken Sie auch an sich und an mich insofern, daß Sie sich nicht überarbeiten. Ihre LB.
Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 18. Juli 1870.
Gestern abend gegen 11 Uhr kam Frau v. M. nach einer abenteuer lichen Fahrt hier an. Ich sträubte mich gegen den Gedanken, sie jetzt hier zu sehen, aber da sie nun da und alles in Ordnung ist, freue ich mich, sie hier zu haben, ihr Ruhe und ftische Lust bieten zu sönnen, und Fröbeln mag ich doch. Ich fürchtete mich vor dem Wiedersehen, weil ich sie so ge altert und verfallen glaubte; aber es ist garnicht so schlimm, und die Todesgespräche sind nicht begründeter, als daß wir beide dem Grabe 10 Jahre näher stehen als zur Zeit unseres letzten Beisammensei»rs. Sie war zu Fuß vom Bahnhof hierher gekommen und erzählte mir stehend bis gegen 12 Uhr allerlei Widerwärtiges, was ihr in Berlin begegnet sei. Ich glaube, ich war nicht minder angegriffen als sie. Aber dazwischen blitzten Gedanken von der Frau so groß, so echt Frobelsch, daß ich den Krieg vergaß und mich auf die Stunden freute, wo ich einmal sch o p fe n konnte aus dem Borne der reinen Idee; da ist sie ja die einzige, und groß ist sie in der Verteidigung dieser Reinheit; da ist alles tiefe Wahrheit und Uberzeugnngstreue in ihr. O, warum kann ich nichts unbedingt glauben, was sie von Verhältnissen und Personen sagt? Seifen Sie mir doch, diese Frau richtig beurteilen und erfassen, ich kann ja keine Menschen, die nicht in den Entwicklungsstadien der Kindheit und Jugend stehen, bewußt „behandeln". Aber Sie gehen gewiß auf im Kriege 1 Sie sind ein glücklicher Mensch, glücklich gerade in dieser Zeit, in der die Wogen der Geschichte hochgehen; durch keine engen Familienbande gefesselt, haben Sie den Schwerpunkt Ihres Wesens in die Interessen des großen Gan zen gelegt. Wohlwollend gegen jedermann, aber niemand mit dem Lerzblute liebend; niemanden je besessen und verloren habend, mit dem Sie sich eins fühlten, können Sie auch die dunkeln Seiten der Entwicklungs epoche, vor der wir erwartend stehen, nicht so erdrückend mit leiden; ich ärgerte mich früher über Ihre Seiterkeit, aber ich kann sie jetzt ver stehen. Sie können vortrefflich mit Frau v. M. zusammen. Sie beide sind so ein Paar unpersönliche Wesen, die wie der Geist Gottes über dem L h s ch i n s k a, Henriette Schrader I.
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Kapitel 18:
Chaos schweben — wenigstens nach einer Seite hin ist es Frau v. M.
Sie sollen sie nur über das Glück des Krieges reden hören. Ich werde nie so, und es war eine Verkennung meiner Natur, wenn ich es mir als mög
lich dachte; ich will auch gar nicht mehr so werden, ich will weiter fühlen, lieben und leiden und mich darüber amüsieren, wenn viele Menschen
mich für kalt, abgeschlossen und unnahbar halten. Der Nachmittag und Abend in Braunschweig hat mich doch auf
gefrischt; es sind mir doch Gedanken gekommen. Ich lebe hier in einer
Atmosphäre, die angefüllt ist mit dem lästigen Ungeziefer kleinlicher Sorgen und Kröppeleien. Diese Lin- und Lerzerrerei mit den Englände rinnen, die Reiserei der deutschen jungenMädchen, die von ihren Ver wandten Abschied nehmen sollen, an denen die Mütter sich trösten wol
len — so daß man keinen Tag dieselben in der Klasse hat — macht wahr
lich müde. Da täte es denn gut, wenn man einen Blick hat aufs große Ganze lenken können, um im Linblick darauf den Nörgeleien des täg
lichen Lebens den rechten Platz anzuweisen; aber bei der Straßenpolitik,
die mir allein zu Ohren kommt, ist das nicht gut möglich. Einige Ihrer Bemerkungen spinnen sich dann bei mir fort zu Gedanken. So vieles
vom Enthusiasmus in der Zeitung macht auf mich keinen erhebenden Eindruck, ich finde, die Leute sind sehr dumm und politisch ungebildet.
Wie kann es auch anders sein? Wie roh wird Geschichte gelehrt und ge
schrieben! Wenn wieder Frieden wird, wenn Sie, wenn ich nächsten Winter Muße habe, dann sollten wir doch einen Nachmittag oder Abend in der Woche bestimmen, wo wir beide zusammen irgend ein ernstes Geschichtswerk lesen — höchstens die Mutter sollte dabei sein, ich habe
die Gewohnheit, Werdendes in mir auszusprechen, das kann ich nicht
mit mehreren .... Freilich sehe ich ein, daß ich allein der gewinnende Teil dabei bin, denn Sie haben alle die nötigen Kenntnisse, die mir fehlen, um innere Verwaltung eines Staates, Kandels- und Verkehrs-
verhältniffe zu verstehen, die eine so große Rolle spielen bei der Gestal tung der Ereignisse, die dem Auge des Publikums sichtbar sind; aber
gerade weil dem so ist, und ich wirklich die mir fehlenden Kenntnisse
nicht allein aus Büchern nehmen kann, so bitte ich Sie, mir zu helfen. Vielleicht reißt uns aber der Krieg und seine Folgen auseinander;
ich habe ein Gefühl, als könnten die Ereignisse für Ihre Stellung folgen
schwer sein, und ich muß vielleicht nach England gehen und Geld ver dienen. Ich mache mir gar keine Sorgen um meine Existenz; bin ich gesund, so kann ich arbeiten; werde ich geistesschwach, so komme ich nach
Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K.Schrader bis 1872. 419 Königslutter, werde ich körperlich krank, so gehe ich in das Krankenhaus. £> Gott, nur eins möchte ich nicht erleben: Auf anderer Wohltat an gewiesen zu sein 1 Ich glaube, ich wäre undankbar, und oft denke ich, ich muß auch das noch tragen. Die Sehnsucht nach äußerer Anabhängigkeit ist zum Götzen in mir geworden, dem gedient zu haben ich schwer bestraft werde .... Wenn ich nur begriffe, weshalb Sie meine Briefe aufheben wollen? Sie wissen doch, was darin steht, und wenn man auch den Wortlaut nicht behält, so geht das, was uns vom Geschriebenen innerlich berührte, in uns über, und was nicht — das ist ja doch ein totes Wort. Wollen Sie die Briefe vielleicht lesen, wenn ich tot bin? Sie werden dazu nie Zeit haben; dann wird wieder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland über das Elsaß sein, und wie der Glücksritter reiten Sie über mein An denken weg, der Germania nacheilend, hinter Ihnen eine Madonna auf der Weltkugel schwebend, Sie mit einem Leiligenscheine krönend .... Sagen Sie mir auch immer die Wahrheit? Sehen Sie, das ist das ein zige, was ich in unserm Verhältnis fordere.
Lenriette Breymann an Mary Lyschinska. Neu-Watzum. 22. Juli 1870. Meine teure Mary! Alle Äerzen sind jetzt voll Ernst und Sorgen über die Dinge, die da kommen werden, aber eins steht fest, wir gehen unserer poliüschen Größe oder unserm Antergange entgegen. Wenn die andern Völker neutral bleiben, wenn sie nur einen Funken Schamgefühl im Kerzen ttagen, so werden wir siegen, denn wir sind einig. OM., es ist eine ernste, aber eine schöne Zeit, Enthusiasmus erfüllt alle Gemüter, aber nicht nur im Ge fühl der Erregung werden wir opfern, nein, mit tiefer Ruhe, Ernst und Ausdauer. Mein liebes, teures Vaterland!Noch nie habe ich so tiefempfunden wie jetzt, was es heißt, sein Vaterland lieben. Du weißt nicht, was für uns der Krieg bedeutet, denn unsere Armee ist ganz anders organisiert als die eure, aber herrlich ist es bei uns, herrlich ist das Wort Gleich heit, kein leerer Schall mehr; alle, die ein gewisses Alter haben, müssen unter die Waffen, Familienväter, Geschäftsführer, Gelehrte, alle, alle. Aber sie wollen auch in diesen heiligen Krieg; aber Du kannst ermessen, welche Stockung in alle Geschäfte kommt, wie alle Familien zerrissen werden.
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Doch hier schweigt persönliche Kleinlichkeit; ob unmittelbar ge troffen oder nicht, jeder fühlt in andern, und alle fühlen in einem, im deutschen Vaterlande. Kein Preuße, kein Braunschweiger mehr; nur Deutschland gibt es noch. Last Du gelesen, wie herrlich der Süden sich benommen? Wie aller Groll vergessen ist gegen den Norden? Alle politischen Parteien einigen sich — ja moralisch haben wir schon gesiegt, und Gott gebe, daß wir auch mit den Waffen siegen. Wolle Gott, daß diese Brut der Napoleoniden vernichtet werde bis auf den letzten Blutstropfen .... Denn es ist eine Brut der Llnsittlichkeit, der Lüge und des personifizierten Egoismus. O Gott, M., wenn nur Dein Volk nicht mit diesen Schändlichen geht; ich könnte Dich weniger lieben. Bis zum letzten Atemzuge wird Laß meine Brust erfüllen gegen Napoleon, um den unsere Brüder, Väter, Gatten, Söhne und Freunde fallen müssen. Ich weiß, was Sterben ist, wie es die Lerzen zerreißt, wie die Seelen beben werden der Zurückbleibenden. Ich fühle in allen, und darum muß ich hassen, weil ich liebe, weil ich die Söhne meines Vaterlandes liebe. Jeden Soldaten begrüße ich mit Respekt, und wer eine Schuld auf dem Gewissen hat, o, wie schön kann er sie jetzt sühnen. So ist der Schmerzenstag, der uns die Ansrigen nimmt, doch ein großer Tag. .... Leute geht auch Erich fort. Er hatte eine so schöne Praxis als praktischer Arzt in £., er wurde geehrt und geliebt — fort, fort, alles muß dahinten bleiben, und er will. Wenn jemand nur bedauernde Miene macht, dann wird er wütend. Einem Lerrn aus der Eisenbahn, der ein bedauerndesWort zu ihm sagte, rief er zu: „Schweigen Sie füll; ein Schuft ist, wer zu Lause bleibt." Ich^laube, wenn Not an Mann ist, kommt Adolf aus Italien, ja wenn es ganz schlimm wird, auch Karl. Am 10. August. In der ersten Empörung schrieb ich diese Zeilen. Seitdem bin ich ruhiger geworden und in dieser Ruhe trauriger. Auf welch niedriger Stufe müssen wir Menschen noch stehen, wie wenig müssen wir die Iesusidee in uns ausgenommen haben, daß ein solches gegenseitiges Morden mit allem Raffinement der Erfindung möglich ist? Es muß viel Bestiales in den Menschen stecken, viel Krankhaftes die soziale Luft erfüllen, und so wird der Krieg gleich dem Aufbruch einer innerlich eiternden Wunde sein, der wirken kann zur Leitung. Suchen wir den Moment zu nutzen, jeder an seiner Stelle, jedör in seiner Sphäre.
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 421
Eine tief ernste Zeit .... persönlich beteiligt oder nicht, wer fühlte nicht im ganzen Volke? Wer litte nicht mit die Todesschmerzen der Dahingegangenen und Trauer der Überlebenden? Wer empfände nicht
mit die Angst und Sorge um eine gestörte friedliche Existenz? Es ist nach meiner Auffassung eine Ansittlichkeit im Gefühl, wenn man so in ungestörtem Frieden eine gewisse Behaglichkeit empfindet beim Lesen vom Kriegsschauplätze und den Kriegsereignissen .... Da meine Verhältnisse mir nicht gestatten, jetzt anders als durch Geldbei träge helfend in die Not einzugreifen, so lerne ich und studiere ich um so eifriger, weil ich fest entschlossen bin, mich immer ausschließlicher der Fröbelschen Erziehung zu widmen. Nur in einer Reformation des er ziehlichen Lebens im großen Maßstabe können wir Leitung der innerlich fressenden Schäden erwarten, und in der Entwicklung der Fröbelschen Grundgedanken finde ich nach den verschiedensten Richtungen hin die so notwendige Regeneration des Lebens. Es treffen andere große Geister mit Fröbel da zusammen; er allein konnte ja die Richtungen der Wissen schaften nicht bearbeiten, aber er bleibt deshalb doch immer der Mittel punkt, weil er der Pädagoge der Neuzeit ist; der Mann, welcher uns die Fäden in die Land gibt, alles was andere entdeckt, erfunden, er arbeitet haben, mit d-em Menschen zu verknüpfen, ihn zu einem sitt lich-religiösen Gottesgeschöpfe zu machen Die wenigen Tage in Oker haben mich erfrischt, und den Vorsatz in nur gereist, nächstenWintör weniger zu arbeiten einerseits, mehr anderer seits. Ich habe jetzt schon angefangen, mich etwas von der Anruhe der Pension zurückzuziehen; die Zersplitterung des Lebens war zu aufreibend. Ich mußR u h e, nicht Arbeitslosigkeit haben,Ruhe, um zu studieren, denn ich habe mich so ausgegeben. Aber wer weiß, wie alles kommt? Doch man kann mit Ruhe der Entwicklung entgegengehen, wenn man sich bestrebt, täglich arbeitstreu zu sein, und sich immer mehr abzulösen vom Schein. Jesus allein lehrt uns das Wesen der Dinge erkennen, und darum ist seine Religion eine Weltreligion, eine erlösende Religion. Ach, wie mühen und arbeiten die Menschen sich ab, den Schein zu erjagen, welche Wichtigkeit legen sie auf das Äußere ohne allen Zusammenhang mit dem Inhalte, und in diesem Ringen und Laufen nach dem Sinnlichen ohne den Geist, der Form ohne Inhalt werden sie, was Jesus „die Kinder der Welt" nennt, d. h. das Wesentliche ihrer Natur verkümmert, sie werden klein und kleiner am Gottesfunken, indem sie wachsen an äußerem Flitter, und wenn die letzte Stunde kommt — was nehmen sie mit?
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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 28. Juli 1870.
Laben wirklich die Zeitereignisse auf mein Benehmen Einfluß ge habt? Ich kann mir nicht denken, durch was ich Ihnen Veranlassung gegeben habe, an meiner Wahrheit und Offenheit zu zweifeln. Oder legen Sie eine gewisse Zurückhaltung in meinem Wesen so aus?
Meine Zurückhaltung ist Folge längerer Angewöhnung und scheint äußerlich noch zu sein, wenn sie innerlich längst nicht mehr ist. Vielleicht ist diese Zurückhaltung auch Folge davon, daß ich gerade jetzt in einer innern Umwandlung begriffen bin, stärker vielleicht noch als die Ihrige und veranlaßt durch Sie. Ich habe wohl oft geredet vom geistigen Epikuräismus, ohne zu gestehen, daß ich ihm selbst weit mehr verfallen bin, als man glaubt. Ich habe Nützliches getan, aber mehr, weil es mir Ver gnügen machte, als weil ich die Verpflichtung so zu handeln, ebenso lebendig gefühlt hätte, als ich sie theoretisch zu behaupten und nach zuweisen liebte. Ich fühle immer lebhafter, daß noch ein großer Zwiespalt in mir besteht zwischen meiner Erkenntnis des Rechten und zwischen der Be fähigung, dasselbe im Landeln zur Geltung zu bringen, und das ich bei weitem nicht bin, was ich den meisten Leuten scheine.
Eine innere Änderung tut mir not, und Ihnen verdanke ich die Überzeugung davon. Ihnen den Willen, mich zu ändern und Ihnen
werde ich. Ihnen selbst vielleicht unbewußt, die Durchführung dieser Änderung verdanken. Seien Sie deshalb vorläufig geduldig mit mir!
In Angelegenheit der Frau von Marenholtz habe ich gleich gestern früh nach Berlin geschrieben, und ich hoffe, daß die Sachen bald in Wol fenbüttel eintreffen. Wie ist Ihnen und Frau v. M. unser langer Spa ziergang bekommen? Ich bin am andern Morgen von —10 Ahr auf unserm Bahnhöfe umhergelaufen und dadurch recht müde geworden. Am 10 Ahr labte ich meinen durstigen Gaumen an Ihren Kirschen und wurde danach wieder ftisch. Grüßen Sie doch alle die Ihrigen von mir, empfehlen Sie mich der Gnädigen, bald hoffe ich von ihr die höhere Fröbelweihe zu bekommen. Auf baldiges Wiedersehen!
Ihr KS.
Korrespondenz zwischen 55, Breymann und K. Schrader bis 1872. 423
Henriette Breymann an Karl Schrader.
Neu--Wahum. 3. August 1870.
Wir haben seit einer Woche keine Nachrichten von Erich, wissen gar nicht, wann er vonNortheim abgereist ist, wohin, ob er glücklich angekommen und wie es ihm geht; die Mutter ist in großen Sorgen. Frau von M. wird ein bißchen ungeduldig, daß Sie nicht kommen; sie stellt doch immer ihre Sache in den Vordergrund. Der Koffer ist da, ich soll Ihnen vielen Dank sagen. Ich habe Ihren letzten Brief noch oft gelesen, und denke doch. Sie beurteilen sich selbst zu hart. Wenn manNützliches tut, weites uns an genehm ist, so halte ich das für die höchste Stufe. Sie werden mir später gewiß einzelnes näher erklären. Sie können aber kaum begreifen, wie glücklich es mich macht, wenn ich überhaupt imstande bin. Sie zu einem inneren Fortschritt anzuregen; ich, die ich mich selbst so hilfsbedürftig fühle! Fröbel, der immer alles symbolisierte, sagte bei feinern Zeichnen, indem er einzelne Figuren erklärte: „Dies sind Ergänzungs--, dies in sich abgeschlossene Figuren; die ersteren können allein rrichts Besonderes dar stellen, aber in Verbindung mit andern Formen bringen sie oft Schöne res hervor als die abgeschlossene Form, welche für sich ein Ganzes ist." Schon damals dachte ich immer, ich sei eine „Ergänzungsform"; ich suchte hie und da Hilfe, aber Sie wissen, wie ich immer und immer auf mich selbst zurückgeworfen wurde. Früher, d. h. als ganz junges Mädchen behauptete ich immer das Wort, Pflicht sei Lüge; ich wolle nie der Pflicht, sondern nur der Nei gung folgen; nur, was ich aus letzterer tue, sei von Wert, die Menschen sollten gar nicht getäuscht werden über meinen innern Wert. Es lag etwasRichtiges in dieser so gefahrvollen Ansicht; erst, wenrr das Gute uns Natur wird, ist es schön; aber ich übersah eins dabei, daß die Natur aus dem schmerzvollen Prozeß der Überwindung unberechügterNeigung, unser Ich über die Grenzen auszudehnen, hervorgehen kann. Es liegt eine der schwersten Aufgaben der Erziehung darin. Donnerstag, 4. August. Frau von M. läßt Sie grüßen und sagen, wenn Sie sich wirklich für Fröbel interessierten, so sollten Sie nun aber kommen, sie hätte mit Ihnen vieles zu sprechen. Herr Fricke gefällt ihr auch und sie meint, ich könne recht zufrieden sein, einige ordentliche Menschen zu haben.
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Kapitel 18:
Mit Frau von M. und mir geht es recht gut ... . wir beide haben viel Schlechtes von den Menschen erfahren und sind so wohl nach sichtiger miteinander geworden. Aber denken Sie, ich besitze die furcht bare Anmaßung zu glauben, daß ich ohne Frau von M.s Schlüssel ins Innere der Fröbelei gedrungen bin, und wenn ich etwas sage, was wohl beweist, wie innerlich ich die Sache erfaßt habe, so meint sie doch immer, "das hätte ich direkt von iHv. Früher ärgerte ich mich über so etwas schreck lich, jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß ich ziemlich große Selbständigkeit des Gedankens besitze, und daß sie zu einer meiner Stärken gehört. Früher sagte ich einmal zu Frau von M. ganz offen, als ich erwachsen war: „Wir können nur zusammen verkehren, wenn Sie mich als geistige Freun din behandeln; ich werde nie vergessen, daß Sie die ältere, die bedeuten dere Frau sind, aber ich fühle, daß ich die Kinderschuhe ausgetreten habe."
Als ich sie kennenlernte, war sie den 40en naße und ich kaum 22; gerade dieser Altersunterschied ist so bedeutend, und bei allem Ernst mei ner Natur war ich doch sehr Kind damals. Ich denke noch oft, wie eigen tümlich es in mir aussah; ich hatte erfaßt, daß Großes in Fröbel lag; hielt es in der Begeisterung fest; aber jahrelang brauchte ich, daß das Empfangene zu Fleisch und Blut in mir geboren wurde, geboren ganz meiner Individualität angemessen; ich habe nie etwas Anverarbeitetes nachgesprochen.
Frau von M. zieht von ihren Anschauungen Konsequenzen, die über Jahrhunderte hinausreichen, ja, über dies Erdenleben. Sie hat vielleicht recht; denn richtig angelegtes Denken muß über die Gegenwart hinausgreifen. Vielleicht ist es aber eine Phantasie, die sich unser leicht bemächtigt. Ich habe diesen kühnen Gedankenflug nicht. Mit dem tiefen Bedürfnis nach der persönlichen Ansterblichkeit denke ich fast nie daran, ob und wie das Jenseits für uns sei. Meine Individualität treibt mich dazu, dem höchsten Gedanken für jede Stufe eine rechte Form zu geben, und so bin ich, was ich und andere früher nie gedacht, gerade eine gute, praktische Kindergärtnerin, d. h. nicht allein Kindergärtnerin im engeren Sinne. Die praktische Ausführung schließt meinen Gedanken kreis nicht ab. Ich bleibe aber auf der Erde, Frau von M. erhebt sich zur Sonne; so ist unser Verhältnis.
Ich habe diese Tage fleißig gearbeitet, trotz der Litze, und hege die beste Loffnung für mich, daß ich wieder gesund werde.
Korrespondenz zwischen $x Breymann und K. Schrader bis 1872. 425 Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 13. August 1870.
Die Ereignisse haben meinen Vorsatz, einen Nachmittag der letzt ablaufenden Woche bei Ihnen zu verleben, zuschanden gemacht, ich habe in einem Wirbel der disparatesten Dinge und Menschen gelebt, der mir kein enMomentNuhe ließ. Lazarette, Inspektoren, pflegewütige Frauen zimmer (das Wort ist hier an der rechten Stelle gebraucht), Offiziere, Turner, Feuerwehrleute, Bauleute, Köche, Näherinnen, Turkos, Franzosen usw. in buntem Wirbel um mich herum; es herrschte jene wirre Geschäftigkeit, die mit viel Mühe nur wenig schafft, die aber, wo allgemeine Beteiligung in kurzer Zeit etwas zustande bringen soll, ein mal nicht zu vermeiden ist. And ich hoffe, daß wir jetzt leidlich geordnete Zustände geschaffen haben, und daß die Verwundetenpflege in einen regelmäßigen Gang gebracht ist, was auch mir einige Verfügung über meine Zeit gibt. Leute morgen freilich bin ich um 3TI2 Ahr aufgestanden, um einen Zug mit Verwundeten zu empfangen, welcher noch nicht an gekommen ist (d. h. um 71/2 Ahr), und ich benutze die Zeit des Wartens, Ihnen ein Lebenszeichen zu geben, welches Sie morgen erreichen soll. Im ganzen bieten die hiesigen Bestrebungen für die Verwundetenpflege ein angenehmes Bild uneigennützigen Strebens; jeder will den Zweck und will ihn so rein, als er selbst fähig ist, ihn zu begreifen; jeder Schein irgendwelcher Hintergedanken wird vermieden, und es ist gesucht und gelungen, die verschiedensten Elemente zu friedlichem Zusammenwirken zu verbinden. Nur eine Familie in W. hat einen neuen Beweis davon gegeben, daß ihre Gesinnungen nichts weniger als erhaben sind. Aber lassen wir diese Jämmerlichkeit, und beschäftigen wir uns lieber mit Dingen, die uns näher liegen. In den kurzen Zwischenräumen meiner Geschäfte habe ich in einem höchst interessanten englischen Romane ge lesen, dessen Titel mir vor Jahren von einem Bekannten genannt war, Hypatia von Charles Kingsley, und den ich mir kommen ließ, weil ich nach dem ihm gespendeten Lobe meines Bekannten und nach dem nicht geringen Rufe, welchen das Buch in der Welt der Romanleser hat, meinte, es könnte Sie vielleicht interessieren. Jetzt bin ich überzeugt, daß es wert ist, von Ihnen gelesen zu werden und daß es Sie höchlich inter essieren wird. Freilich, wenn Sie hören, daß es die Zustände und Men schen Ägyptens im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung behandelt, einer Periode, die uns nicht gerade sympathisch ist, so werden Sie sich
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schwerlich zu der Lektüre sehr hingezogen fühlen. Aber wenn Sie nur die ersten Seiten lesen, so werden Sie finden, daß das Buch in Form eines Romanes gerade die wichtigsten Fragen der Menschheit behandelt, und daß nicht antiquarische Liebhaberei den Autor veranlaßt hat, diesen Schauplatz für seine Schilderung zu wählen, sondern der Llmstand, daß jene Fragen damals und in jenem Lande wirklich verhandelt wurden, und daß die entgegengesetzten Ansichten darüber im Leben und Lehren her vorragende Vertreter gefunden hatten. In dem Romane wie im Leben aller Zeiten ist die Äauptfrage die, wie die höhere und die sinnliche Natur des Menschen zu vereinigen sei; jede der drei hauptsächlichsten Ansichten findet ihren Vertreter und wird in ihrer Wirkung beleuchtet: Die althellenische, welche der sinnlichen Natur, wenn auch in schönster Form die Herrschaft gibt; die asketischchristliche, welche sie ganz vernichten will und die eigentlichen Jesu Nachfolger (auch Fröbelsche Lehre), welche sie bestehen läßt, aber verklärt. Wir sehen, wie diese verschiedenen Auffassungen praktisch wrrken, und wie die hellenische die Menschheit entnervt hat, und wie ihr gerade die Möglichkeit fehlt, das Verlangen des Menschen nach Erklärung seiner höheren Natur und des Zusammenhanges der Welt zu befriedigen, (gerade dies versucht vergeblich die Vertreterin dieser Richtung, die Philosophin Äypatia); wie die asketische Richtung, weil aller Natur widersprechend, trotz des Großen, was sie hervorzubringen vermag, doch verderblich auf die Welt und vernichtend auf die eigenen Anhänger wirken muß, und wie schließlich die Versöhnung allein in der recht ver standenen christlichen Lehre liegen kann. In alter Zeit, sehen Sie, spie len hier die Probleme, welche auch unsere Zeit vorzugsweise bewegen, und nicht nur sind sie gut behandelt, sondern nebenbei ist das Buch gut, spannend und edel geschrieben, wenn auch manche Dinge haben auch gesagt und geschildert werden müssen, welche nicht schön sind. Ich stu diere den Roman jetzt noch aufmerksamer als bei dem ersten Durchfliegen, und dann lesen Sie ihn, damit wir darüber sprechen können. Mehr und mehr lerne ich begreifen, daß Fröbel von der wahrsten Auffassung der menschlichen Natur ausgeht — soweit wir die Wahrheit jetzt zu erkennen vermögen — und daß, man ohne als Lehrer oder Vater eigennützig an der Erziehung interessiert zu sein, im Interesse der ganzen Menschheit für die Verbreitung und Ausbildung seiner Grundsätze und Lehren wirken sollte. Vieles von den Prinzipien, von welchen er ausgeht, ist nicht erst
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von ihm gefunden, aber originell ist bei ihm, daß er auf diese Prinzipien ein konsequent durchgebildetes Erziehungssystem baut.
So schwer es mir auch wird, jetzt hier wegzukommen, so will ich doch suchen, Montag nachmittag zu kommen; morgen kann ich nicht; erstens weil es Sonntag ist, und zweitens weil ich wahrscheinlich diese Nacht einen Verwundetenzug abzufertigen habe, und Sonntag, zumal ich heute seit 3 Ahr auf den Beinen bin, etwas müde sein möchte. Montag werden wir auch miteinander reden können. Wenn ich doch nicht kommen könnte, und ich es einigermaßen zeitig vorher weiß, daß ich verhindert bin, schreibe ich; paßt es Ihnen nicht, so bitte ich ebenfalls um Nachricht. Nicht wahr. Sie schreiben mir doch wieder, oder wollen Sie nicht eher schreiben, als bis wir uns gesprochen haben? Jedenfalls sehe ich Sie bald; bis dahin mit herzlichstem Gruß
Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 15. August 1870.
Es ist mir traurig, daß ich nicht, wie Sie, tätig eingreifen kann, dem Vaterlande zu dienen; ich habe nichts als mein tief lebendiges Mit gefühl und nachgehendes Interesse und bei all meinem Tun und Treiben den Wunsch, es für andere zu verwerten und so innerlich zu helfen. Meiner Natur ist jede Scheinarbeit zuwider, jedes Vordrängen; und hier in Wolfenbüttel würde ich nur andern den Platz nehmen, wenn ich da tatenlustig in dem Vereine wirkte; so geben wir nur Geld, nähen hier zu Lause und wollen in den Ferien zwei Verwundete ins Laus nehmen. Vielleicht kommen Sie heute; aber, ob wir uns ein Wort allein sagen können, bezweifele ich, da Frau vonM. ungeduldig auf Sie harrt, und ich wirklich meine liebe Not gehabt habe, ihr auseinanderzusetzen, was Sie zu tun hätten, und das wiederholt sich alle Tage
Es ist doch in allen Dingen dasselbe, im Großen wie im Kleinen, im Allgemeinen wie im Besonderen. Wenn ein Künstler die Idee emp fängt zu seiner Schöpfung, so sind dies begeisternde Momente; aber geht er an die Ausführung im einzelnen, so kann er nur durch Ausdauer seinem Gedanken Leben geben, und ohne Enttäuschung, Schmerz und ernste Arbeit geht es nicht ab, bis er die ihn erfüllende Idee mit dem Stoffe verband, ihr im Stoffe die lebensfähige, praktische Gestaltung gab. Auch kann es ihm begegnen, daß er bei der Ausführung inneward.
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die Idee war keine lebensfähige, oder seine Kräfte reichten nicht hin, sie
dazu zu machen. Ist man mit sich und seinen Lebenszielen allein, so erfüllt Larmonie
die Seele; aber man hat im Leben selbst sein Fleisch und Blut zu über winden. Gerade wie der Künstler die tausend und aber tausend mecha nischen Übungen macht, die zur Bewältigung des Materials not wendig sind, finden wir uns wieder im Kampfe mit uns selbst, mit unserer
Natur, die im göttlichen Geiste der Wahrheit, Tüchtigkeit und Liebe wiedergeboren werden soll. So sind die Gesetze der Schönheit und Sitt
lichkeit analog. Auch ein ernstes, wahres Verhältnis zweier Menschen zueinander
wird sich nicht ohne Kampf und Schmerz heranbilden und befestigen können. Es ist leichter gesagt als getan, daß man die Schwächen oder
Eigentümlichkeiten des andern gern tragen will, wenn man die Grundzüge seines Wesens hochachten und lieben gelernt. Im näheren Verkehr
der Geister tritt so manches hervor, was sich in größerer Entfernung von einander sich gar nicht zeigen konnte, weil dieBedingungen dazu fehlten. Wenn nun des andern Eigentümlichkeiten oder Schwächen unsere eige
nen Schwächen oder verwundbare Stellen berühren, so tut das weh, und es ist schwer, sich ineinander zu schicken bei Wahrung vollständiger Selb ständigkeit des einen und andern und bei vollständiger Wahrheit. Ich
glaube, in den meisten Verhältnissen der Menschen zueinander ist ein Teil der nachgebende, in der Bildung des Wesens der untergeordnete^ oder der unwahre, oder gleichgültige; am meisten sind beide unwahr. Das Wort, man soll den andern nehmen, wie er ist, kann je nach
der Auffassung zur höchsten Sittlichkeit und zur höchsten Ansittlichkeit
der geselligen Beziehungen fuhren. Man soll sich nehmen wie man ist, wenn man voneinander die Überzeugung hat, daß man nicht bleiben wird, wie man ist; sondern sich weiter und weiter entwickelt. So hat auch die Freundschaft ihre Arbeit
und ihren Schmerz
Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 16. August 1870. Ihr Bruder machte mir heute die Bestellung von Ihnen, daß Sie
diese Woche nicht kommen würden, nun wollte ich Ihnen nur sagen, daß Frau von M. des morgens sehr häufig nicht zu sprechen ist, da sie ost schlaflose Nächte hat.
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 429 Ich bin überzeugt, daß es Ihnen unmöglich ist, den versprochenen Besuch zu machen, aber sie kann es sich gar nicht recht denken und quält mich wirklich ein bißchen damit. Ich hoffe aber. Sie werden noch einmal Zeit für sie finden; obschon sie von baldiger Abreise spricht, so glaube ich nichts daß es dazu kommt. Ihre Verbindungen sind wichtig; sie teilt mir interessante Briefe mit. Neulich bekam sie einen sehr herzlichen Brief von Mchte, der noch auf eine Zusammenkunft im Äerbste hofft. Lassen Sie sich durch den Sonntag nicht schrecken, zuweilen ist nie mand hier, und wenn Sie es vorher schreiben, so können wir Sie bei der Mutter erwarten. Frau von M. ißt zu Abend dort, ich glaube, sie kann die Menge Menschen nicht vertragen. Sonntags ißt sie allerdings mit uns, aber es ist ihr, glaube ich, ein Opfer. Ihren Brief Sonntag habe ich bekommen und gestern die Absage
Frau von M. und ich gingen gegen abend zusammen spazieren; sie scheint mehr Vertrauen in mich zu setzen für die Sache; noch nie hat sie wie gestern zu mir gesprochen. Was ist Wahrheit daran und was Exaltation? Ich bin so mißtrauisch gegen mich selbst und die Erregbar keit meiner Natur geworden, indem die höchsten, mir heiligsten Enrpfindungen an der Wirklichkeit des Lebens zerrinnen. Ich hatte eine solche Sehnsucht nach Einsamkeit und stiller Arbeit, und Frau von M. reißt mich wieder in eine Welt voll Pläne, und die Frau ist mir noch nie so groß erschienen wie gestern, wo sie mir enthüllte, wie sie gelitten, ge kämpft und persöwlich geistig gedarbt hat, und jetzt möchte sie sterben oder den Anfang sehen zu einer Anstalt, einer Fröbelstiftung, wo nun ordentliche Lehrkräfte, Apostel gebildet werden.
Wäre ich nur ein Mann, oder wäre ich anders, härter als ich bin, ich möchte Frau von M. und der Idee ganz dienen; aber ich fürchte, meine ganze geistige Organisation entspricht nicht dem Wunsche. Ich wollte nicht an die Zukunft denken, denn ich wüßte, was ich zunächst im Winter tun sollte, und in dieser Gewißheit würde ich wieder gesund und tatkräftig.
Frau von M. hat mir ausgetragen. Ihnen ihre Pläne mitzuteilen, aber das ist schriftlich unmöglich; sie hat auch eine Bitte an Sie und wünscht dringend, Sie in den nächsten Tagen zu sprechen. Können Sie nicht hierherkommen, so will sie einenNachmittag und Abend mit mir nach Schraders Lotel [tn Braunschweigs gehen, wenn Sie Zeit haben, uns dort zu sprechen. Sie arbeitet nämlich an Vorschlägen für die
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Fröbel-Stistung, und da möchte sie ihre Vorschläge in bezug auf die finanzielle Frage Ihnen vorlegen. Was sie will, scheint mir auch das Rechte, aber wie sie es will, ob es praküsch ist? And doch wäre jedenfalls etwas zu machen aus den Fäden, die sie noch in der Land hält. Fichtes Brief an Frau von M. hat mir sehr gefallen, und auch andere, wichtige Persönlichkeiten hat sie gewonnen. Alle diese Leute können mit ihremNamen sehr viel nühen; aber niemand von ihnen wird selbst praktisch in der Sache arbeiten, und unter den praktischen Menschen findet man selten reine, uneigennützige Naturen. Machen Sie sich nur gefaßt, daß Frau von M. Ihnen sagt. Sie sollten doch an der Anstalt mitwirken. Bitte spotten Sie nicht über Frau von M. und ihren Eifer trotz des Krieges; hätten Sie sie sprechen hören. Sie würden, wenn nicht gerührt, so doch ernst geworden sein. Ich hörte immer den Bibelspruch: „Lasset die Toten ihre Toten begraben." Ich kann Frau von M. begreifen, wie sie sich an Menschen klammert, die ihr redlich erscheinen. Sie haben ihr viel Vertrauen eingeflößt, und wenn es auch Ansinn ist, daß Sie mit an ihre Anstalt treten sollen, da Sie sich schon einen ganz andern Lebensweg vorgezeichnet, so können Sie viel leicht doch etwas tun. Frau von M. läßt Sie vielmals grüßen und schenkt Ihnen ihr Buch, was anbei folgt. Bitte richten Sie nicht nach diesen unzusammenhängenden Worten, die ich in größter Eile und bei fortwährenden Anterbrechungen schreibe. Frau von Marenholtz hat mich erschüttert, sie ist eine große Seele. Es darf niemand erfahren, daß sie in Braunschweig ist.
Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neuwatzum. 24. August 1870.
Wollen Sie so gut sein, morgen die Äefte von mir mitzubringen, wenn Sie noch ein Lest „Zur Frauenfrage" haben — niemand hier besitzt eins und Frau von M. möchte es gern lesen. Auch bitte ich Sie, sich nach dem Trompeter Rudolf zu erkundigen, dessen Adresse hier erfolgt; er ist der einzige Sohn unserer armen Boten frau aus Schöppenstedt. Der junge Mann, von dem Ihnen Frau von M. sprach, ist gefallen; sie hat Nachricht. Sie ist Ihnen sehr dankbar, daß Sie kommen wollen.
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Gestern war Lermann hier; er und Frau vonM. haben sich sehr gefunden. Ich habe mich wieder beruhigt nach den aufregenden Gesprä chen mit Frau von M., aber sie haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen; meine Neigung, manches bei Frau von M. lächerlich zu finden, ist ausgelöscht. Ich hätte Ihnen vieles zu erzählen, es ist ein wunderbares inneres Leben, das ich führe, voll Interesse und Sym pathien den Ereignissen folgend, strebend, sie zu verstehen, und dann von Frau von M. herausgeriffen zu werden aus der Gegenwart in ein, in mein Reich idealer Bestrebungen. Die Frau ist wunderbar, ich fühle mich klein ihr gegenüber an Mut und an manchem andern; aber das tut mir wohl. Ich wollte. Sie lernten sie ganz kennen — ich finde, je länger sie hier ist, desto mehr Wärme strahlt ihr Wesen aus, und dann ist sie un beschreiblich liebenswürdig, herzgewinnend, so daß schon dann und wann ein Gefühl in mir auftauchte, ich möchte mich ihr, die so ganz allein in der Welt ist, ganz widmen. Frau von M. findet die Lebensatmosphäre hier so rein, unser Leben so friedlich im Vergleich zu dem, was fie in Berlin umgab, daß sie sich gemütlich erholt; ich weiß, sie möchte gern länger mit mir zusammen sein als in den Ferien; soll ich meine Pläne zum Teil aufgeben? Ich wollte, es wäre mir vergönnt, ihr einst ein würdiges Denkmal zu sehen. Sammeln Sie gelegentlich auch Notizen über sie; in Braunschweig leben noch viele, die sie und ihre Verhältnisse kennen. O, wenn ich sie mit schützen könnte vor dem Schmutze des Lebens, damit ihr Lebensende in ruhiger Sammlung verliefe! Wenn sie noch Fröbels Leben schriebe, das wünsche ich so. Ich weiß aber, was ich will, allerdings die Form der Ausführung, habe ich nicht in der Land; aber ich bin innerlich frei geworden, indem ich keinenMenschen mehr suche, mir zu helfen und lieber das Kleinste allein tue, als auf andere zu bauen. Ich fühle mich fähig, andern zw helfen und mich unterzuordnen, wenn ich die innere Überzeugung habe, daß ich einem höheren Zwecke diene. Nur arbeitsfähig bleiben, das ist mein Gebet. Wir haben Karten von Erich, auf dem Schlachtfewe geschrieben, mit Blut bespritzt 1 Er ist wohl. Zugleich kam ein Brief von Adolf, der den Vesuv bestiegen und der in Pompeji an uns geschrieben; welche Kontraste des Lebens, in denen die Brüder sich bewegen I Wir haben zwei Verwundete; ich bin ordentlich froh, einmal etwas direkt mittun zu können.
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Kapitel 7: Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neuwatzum. 26. August 1870. Es tut mir so leid für Sie, daß Frau von M. sich gestern so unliebenswürdig zeigte, mich stört und irritiert das nicht mehr; ich habe einen Blick in die Größe ihres Wesens getan, und daran halte ich fest. Ich bin, Gott sei Dank, gar nicht mehr erregt, sondern sehe alles mit ruhigem Blute an, vielleicht um so mehr, da ich für meine persönlichen Wünsche nichts mehr vom Leben erwarte; ich fühle mich unberufen inner lich gesund und weiß, daß ich unter allen Umständen und wäre es ganz allein, für Fröbel leben und wirken werde und weiß auch wie, und das hat mir das Gleichgewicht meiner Seele gegeben. Ich habe viel erfahren, noch viel mehr als ich Ihnen gesagt, aber das hat nur beigetragen, mich innerlich zu befreien. Wollte z. B. Frau von M. mit mir allein, einfach und bescheiden die Sache beginnen, ich ginge mit ihr; ich würde sie zu ertragen, verstehen suchen, aber in der Art und Weise, wie sie vorgehen will, sehe ich noch keinen Boden. Ich kenne nun die Welt und die Menschen und auch mich; ich werde nie verstehen, die Schwächen der Menschen zu benutzen. Ich glaubte, ich verstände mit den Menschen umzugehen, und in gewissen Verhältnissen kann ich es auch; denn ich darf sagen, ich habe die Pen sion gegründet, ich habe oft die albernsten Mütter zu behandeln gewußt; aber ich war i n m e i n e m L a u se; ich bin keine Natur für die Öffentlich keit, für die Welt, wie sie ist, voll Roheit und Barbarei. Ich will eben etwas tun, was ich mit meinen Schülerinnen allein kann, wenn meine Kraft für die Fröbelstiftung nicht gebraucht werden kann; ich scheute für diese keine Entbehrung, kein Opfer, keine Unterordnung und Ertragung; aber ich muß für mich einen festen Punkt haben, in eine abenteuerliche Geschichte, in ein Rrngen und Kämpfen mit vielen Geistern, die wieder entweder die Sache äußerlich erfassen oder Ruhm für ihre Person suchen — lasse ich mich nicht ein. Ich weiß, daß ich dazu nicht passe, daß ich ein solches Allernstehen nicht ertragen kann. And nun sagen Sie mir, wäre es denn eine Möglichkeit, daß Sie persönlich an der zu gründenden Fröbelstiftung sich beteiligten? Ich habe das für eine Anmöglichkeit gehalten, nicht, weil ich Sie dafür nicht passend hielte; aber ich glaubte. Sie möchten so etwas nicht; indessen haben Sie Frau von M. gestern nicht widersprochen, und sie faßt doch die Möglichkeit ins Auge. Sie dürfen sie aber bei keiner Hoffnung lassen.
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 433
die Sie nicht erfüllen. Es wäre wohl ein großes, das größte Glück für Frau von M. und die Sache, wenn Sie sich der Frau und der Idee ganz widmen; sie ist krank, auch geistig krankhaft erregt, es wäre wohl der Mühe wert, ein so kostbares Leben wie das ihrige zu erhalten und zu be ruhigen. Wie unsere Zeiten sind, kann das nur ein Mann oder ein eman zipiertes Weib; aber ich kann es kaum für möglich halten, daß ein Mann wie Sie, dem ganz andere Wege offen stehen, sich dem Gespött der Welt v orerst einmal preisgeben möchte, und glauben Sie mir, ich werde immer zufrieden sein, wenn Sie in Ihrer Stellung, in Ihrem Kreise Fröbel sesthalten; auch damit ist schon vieles gewonnen. Aber quälen Sie mich nicht mehr mit Reden, daß Sie vielleicht gezwungen wären, alles aufzugeben. Nichts kann uns dazu zwingen, was wir nicht wollen. Ich denke, in dieser Ärnsicht gebe ich Ihnen ein gutes Beispiel, und lassen Sie uns nicht mit Plänen spielen. Tun Sie für Frau von M. und die Fröbel-Sache, was Sie innerlich können, das Kleinste ganz getan, ist dankenswert. Kätten Sie den innern Mut, die Fäden in die Land zu nehmen, die Frau von M. Ihnen bietet — so weiß Gott, ich dächte, es wäre viel besser, als wenn ich ihr hülfe. Sie könnten eine Anstalt nach außen vertreten. Sie könnten schriftstellerisch und vortragend wirken. Sie könnten auch die Geister, welche vielleicht aneinander geraten, be ruhigen; kurz. Sie sind der Mann dazu. Sie könnten dabei vollständig Ihre jetzige Häuslichkeit und persönliche Llnabhängigkeit behalten; Sie brauchten in der Anstalt nicht zu leben. Aber natürlich die Welt würde Sie für verrückt erklären; vielleicht aber würde sich die Rede schon auf dieser Welt umkehren. Lassen Sie uns mündlich oder schriftlich miteinander verständigen, was möglich ist, zu tun; Sie sehen, mit Frau von M. ist nicht zu beraten; man muß ihr entgegenbringen, was man will, und sie dann reden lassen und dabei tun, was man für recht hält. Ich hoffe. Sie finden Zeit, diesen leider wieder sehr langen Brief zu lesen. Mit herzlichem Gruß, S). B. Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 30./31. August 1870. Lassen Sie uns die Fröbel-Pläne in Ruhe überlegen, Frau von Marenholtz ist dazu wohl nicht im gleichen Maße imstande, weil sie eine Sache, der sie ihr ganzes Leben geopfert hat, und die sie endlich einen L h s ch i n s k a, Henriette Schrader I.
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wesentlichen Schritt vorwärts zu bringen hofft, nicht gleich objektiv sich gegenüberstellen kann. Was ist denn jetzt vorzüglich nötig für die Förderung der Fröbel-schen Sache? Den großen Ideen Fröbels ist es gegangen wie allen schöpferischen Gedanken aus dem Gebiete der Religion und Moral. Er hat ziemlich baw einige, wenige Anhänger gefunden, welche ihn verstanden, und welche den Geist und die Tragweite seiner Ideen vollkommen aufsaßten. Eben, weil schon die Beschäftigung mit denselben in jener ersten Zeit die Sache und das Verständnis der völlig neuen Gedanken besondere Be fähigung voraussetzte, war der Kreis, in welchem anfangs Fröbels Ideen Wurzel faßten, aus vorzüglichen Leuten gebildet; als aber weitere Kreist die Ideen ergriffen und zur praktischen Ausführung eines Teiles der selben durch die Anlegung zahlreicher Kindergärten geschritten wurde^ da gewannen gewöhnliche Menschen Einfluß, und die großen Ideen Frö bels wurden durch die Einwirkung ganz anderer Anschauungen ver zerrt und in ihrer Wirksamkeit gehemmt. Die Ideen waren doch noch viel zu groß, um von unserer Zeit, d.h. von der Mehrzahl der einflußreichen Menschen verstanden zu werden; daher die unvollkommene Ausführung dessen, was Fröbel selbst dazu schon reif gemacht hatte (Kindergärten), und der Mangel an Fortbildung und weiterer praktischer Einführung der Idee auf andern Gebieten der Erziehung. Dieses Stadium ist ein notwendiger Übergang (auch das Christen
tum, die Reformation usw. haben ihn durchmachen müssen oder viel mehr machen ihn noch durch), aber er kann und muß möglichst beschleu nigt werden. Aber wie? Leutzutage, wo nicht mehr ein einzelner aufgeklärter Despot große, neue Ideen ausführen kann, muß für solche ein großer Teil der faktisch herrschenden Klassen eingenommen sein, daß die neuen Ideen wahr und nützlich sind, und daß ihre Durchführung mit den zu Gebote stehenden Mitteln möglich und der zu bringenden Opfer wert ist. Oft genug haben wir miteinander und jetzt mit Frau von M. beklagt, daß es selbst unter denen, welchen ihr Beruf das Studium Fröbels nahe legt, viele gibt, die ihm mißverstehen, und daß infolge davon die praküsche Ausführung viel zu wünschen übrigläßt; noch weit auffallender ist aber die völlige Teil nahmlosigkeit und der völlige Mangel an Verständnis im Publikum, dessen höchste Spitzen eingerechnet. Sie und Frau von M. schieben diese
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Erscheinung hauptsächlich darauf, daß die Ausführung der Fröbelschen Methode nach den bisherigen Ideen über Erziehung von vielen Menschen gar nicht für einen Fortschritt gehalten werden wird. £lm zu glauben, daß ein Fröbelsch erzogener Mensch wirklich besser sei als ein anders erzogener, muß man schon Fröbels Ansicht über die Bestimmung des Menschen und den Zweck der Erziehung teilen. Ganz anders ist es mit praküschen Erfindungen, deren Resultat, sobald es da ist, jedem ohne weiteres verständlich ist, weil die Grundideen, nach welchen der Erfolg beurteilt werden muß, nicht berührt werden. Ein fetter Ochse ist eine bekannte Größe, und jede Züchtungs-- und Er-nährungsmethode des Ochsen in bezug auf ihre Nützlichkeit ist sofort aljgemein einleuchtend, wenn sie den Ochsen mit möglichst geringen Kosten möglichst fett macht. Ist aber ein gut erzogener Mensch ebenso genau in der Meinung der Menschen definiert, wie ein fetter Ochse? Äält nicht der eine dieses, der andere etwas ganz anderes für das Kennzeichen einer guten Erziehung? Verwirft nicht der eine Erziehung gerade aus dem selben Grunde, aus welchem ein anderer sie schätzt? Darurn scheint mir das Notwendigste zu sein, weiteren Kreisen be greiflich zu machen, daß das Ziel Fröbels und die Mittel, welche er zu seiner Erreichung gewählt hat, die richtigen sind. Dazu ist freilich höchst wirksam, wenn man praktische Erfolge zeigen, und wenn man jeden Ausführungsversuch durch Bereithaltung geeigneter Werkzeuge unter stützen kann, also, wenn eine Normalanstalt Beispiele Fröbelscher Er ziehung zeigt und Erzieher bildet, welche in Fröbels Ideen eingedrungen sind und sie anzuwenden wissen, aber das einzige Mittel ist es nicht; viel leicht ist es nicht einmal das wirksamste. Gegen Frau von M. habe ich deshalb immer die Notwendigkeit einer kräftigen Einwirkung auf die öffentliche Meinung zugunsten Frö bels betont, und darin sehe ich einen Lauptteil der Wirksamkeit des Erziehungsvereines. Die Fröbelstistung, welche Frau von M. will, unter schätze ich deshalb gar nicht; ich sehe ein, daß sie, wenn sie gelingt, für die Verbreitung und Erhaltung der reinen Lehre von großem Werte sein kann, wenn sie gelingt.Nur darüber bin ich zweifelhaft, ob man, wie Frau von M. will, zunächst alle Kräfte auf sie verwenden, ihr Zustande kommen gewissermaßen als eine Lebensfrage für die Fröbel-Sache be trachten soll. Ist es nicht denkbar, daß der Lauptzweck, die Bildung Fröbelscher Erzieher auch ohne solchen, immerhin etwas großartigen Apparat erreicht wird? Ist es z. B. nötig, in demselben Institute Er28*
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zieherinnen und Erzieher zu bilden? Kann nicht ein verständiger, päda gogisch gebildeter Lehrer lernen, im Fröbelschen Geiste zu wirken, auch ohne seine Bildung gerade an einem speziell Fröbelschen Institute er worben zu haben?Werden überhaupt bei dem noch bestehenden Examenzwange berufsmäßige Lehrer ihre Bildung an einer Fröbelschen Privat anstalt suchen, und wird es sich miteinander vereinigen lassen, in einer Anstalt nicht nur Erzieherinnen verschiedener Stufen, sondern auch Leh rer für Elementarunterricht und für die höchsten Anforderungen zu bil den ? Wird es möglich sein, einen für eine solche Anstalt passerlden Päda gogen als Leiter zu finden? And wenn nun eine solche Stiftung gegründet würde und scheiterte, welchen unangenehmen Eindruck müßte es machen? Je mehr ich es überdenke, desto mehr komme ich dahin, den Plan Ihrer Schloßanftalt für den richtigen zu halten, d. h. einem Kinder garten mit anschließenden höheren Stufen zunächst eine Anstalt zur Ausbildung von Erzieherinnen anzufügen. Kindergärten sind für die nächste Zeit das Notwendigste, gute Kindergärtnerinnen müssen also vor allen Dingen geschafft werden, an ihre Bildung schließt sich aber unschwer auch die Ausbildung von Erzieherinnen älterer Stufen und solcher Frauen an, welche sich auf künftige Mutterpflichten vorbereiten wollen. Einzelne Lehrer werden, indem sie zum Anterricht herangezogen werden, auch leicht gewonnen, und es ist möglich, daß neben dem ersten Institut ein zweites in naher Verbindung mit ihm stehendes, für Lehrer entsteht; gleich notwendig ist es meiner Meinung nach nicht. Vielleicht ist es nicht einmal geraten, alle Bestrebungen auf eine Anstalt zu konzentrieren. Wird sie nicht sehr großartig, so wird sie nur lokalen Einfluß üben, und es scheint mir vorzuziehen, lieber mehrere kleinere als eine große Anstalt zu haben. Daß Sie sich an dem Anternehmen, welches Frau von M. beabsich tigt, beteiligen möchten, wünsche ich nicht, weil Sie dabei wenig Freude finden und weniger Nutzen stiften würden, als wenn Sie Ihre eigenen Pläne verfolgen. Meine Beteiligung in der Weise, wie es Frau von Marenholtz wünscht, kann ich nicht in Aussicht stellen, sofern dadurch mir Aufgeben meiner andern Lebenspläne bedingt würde. Was ich tun kann und will, habe ich am Schluffe unserer Anterredung gesagt: Ich will versuchen, Fröbels Idee nach der politischen und volkswirtschaft lichen Seite zu bearbeiten und in dieserRichtung für sie zu wirken, und diese Tätigkeit scheint mir weit richtiger und meinen bisherigen Be-
Korrespondenz zwischen Sx Breymann und K. Schrader bis 1872. 437 strebrrngen weit angemessener zu sein, als wenn ich Kaffenführer einer F'röbelstiftung sein und darauf meine Äaupttätigkeit verwenden sollte. Lassen Sie sich durch Frau von M.s nicht ganz angenehme Seiten nicht von ihr entfremden; sie ist groß und aufopfernd; wenn sie zuweilen rechthaberisch, ja wohl eitel sich zeigt, so kann man es ihr eher als jedem andern verzeihen, denn sie hat Großes getan und ist sich der Kraft be wußt, noch mehr leisten zu können. Empfehlen Sie mich Frau von M. und seien Sie geduldig mit mir. Ihr KS.
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 3. September 1870.
Morgen sollen Sie nicht wieder vergeblich auf einen Brief von mir warten, ich schreibe deshalb gleich heute nachmittag, da der heutige Abend hier etwas unruhig und wenig geeignet zum Stillsihen sein möchte. Man beabsichtigt närnlich heute abend noch zur Feier der Kapitu lation von Sedan und der Gefangennahme des Kaisers Napoleon großen Lärm zu machen, nachdem heute morgen 11 Ahr schon mit einem improvisierten Amzug durch die Stadt der Anfang gemacht war. Die Resultate sind allerdings ihrer selbst und der notwendigen nächsten Fol gen wegen (wohin ich vorzüglich die nun unvermeidlich gewordene Über gabe von Bazaine rechne), der Freude wohl wert, ich wünsche nur, daß man sie zu einer festen politischen Neugestaltung Deutschlands und zur Besserung vieler noch mangelhaften inneren Zustände benutze, und weil ich davon noch keineswegs fest überzeugt bin, weil ich mich mit dem bloßen Kriegserfolge nicht begnügen mag, so bin ich weniger als andere in den Trubel der Begeisterung mit fortgerissen. Etwas trägt zu meiner kühleren Stimmung bei, daß ich die Lohlheit der Art von Begeisterung, wie sie hier in B. herrscht, kenne, weil ich weiß, daß viele der Äauptschwätzer vorzüglich an sich selbst und recht wenig an die allgemeinen Interessen denken. Kurz ich werde sehr ruhig und denke weit mehr an die Zukunft als an die Gegenwart; weit mehr an die Benutzung als an die Erringung des Sieges, mehr an soziale Re formen als an die kriegerischen Vorteile. Darum fteue ich mich auf unsere Konferenz in nächster Woche, sie kann doch manchen ersprießlichen Gedanken zutage bringen und viel-
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leicht zu einem Beschlusse führen. Das Hauptgewicht lege ich allerdings auf die Behandlung der Frage über die praktische Wirksamkeit für Fröbelsche Ideen, denn, wenn wir auch bei der theoretischen Besprechung, welche Frau von Marenholtz einleiten will, mehr lernen, so fördern wir doch bei der praktischen Frage mehr Nützliches zutage. Es liegt mir sehr viel daran, daß Frau von Marenholtz in München mit durchführbaren Vorschlägen hervortritt, weil man doch darauf rech nen wird, in dieser Versammlung zu einem greifbaren Resultate zu kommen und von Frau von M. die Initiative erwartet. Bringt sie un brauchbare Vorschläge, so ist das in jedem Falle sehr unangenehm, denn, werden sie trotzdem akzeptiert und scheitern sie, so bringt das der Sache großen Schaden. Sowohl in diesem Falle, als auch, wenn von anderer Seite praktischere Vorschläge gemacht werden, bekommt das Ansehen der Frau von Marenholtz einen schweren Stoß, der sie um die Führer schaft bringen kann. Das würde aber im Interesse der Sache nicht weni ger als in dem von Frau von Marenholtz zu beklagen sein; sie würde es sehr schwer empfinden, wenn sie gerade in diesem Momente an ihrer Autorität Schaden litte, und die Ausführung der Ideen, für welche sie so lange gerungen, andern überlassen müßte. Ich möchte so gern mit einiger Ruhe an der Konferenz teilnehmen und ihr bis zu Ende beiwohnen können; das ist mir aber am Dienstag schwer, weil ich dann den Abend wieder in Braunschweig sein muß, wenn es mir nicht gelingt, für die Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch einen Vertreter in meinem Dienst bei den Verwundeten-Zügen zu fin den. Mir wäre darum derDonnerstag lieber, und ich habe deshalb schon an L. Becker geschrieben, um ihm diesen Tag vorzuschlagen. Nachricht darüber, wie es wird, erhalte ich wohl von Ihnen. Obwohl ein Punkt schon erwähnt ist, so möchte ich den Wunsch wiederholen, daß Sie nicht an die Fröbelstiftung gehen, sondern selb ständig die Aufgabe verfolgen, welche Sie sich schon lange gesetzt haben, nämlich im Fröbelschen Sinne für weibliche Erziehung hauptsächlich zu sorgen. Das geht doch nur in einem Familienkreise, und ich glaube, die Fröbelstiftung wird doch immer ziemlich ausschließlich eigentlich Lehrerinnen-Bildungs-Anstalt sein. Sie könnten auch unter Ihren Zög lingen weit eher solche haben, welche nur aus Interesse an der Sache sich mit ihr beschäftigen. Sie könnten noch mehr Damen wie Emma Guerrieri bilden, und eine dieser Art ist mehr wert und nützt mehr als viele gute Lehrerinnen. Wenn Sie so selbständig bleiben, so ist Ihr na-
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türlicher Boden dochNeu-Wahum, und wenn Sie auch Ihre Tätigkeit der Pension nicht mehr im gleichen Maße widmen und von der Leitung zurücktreten, so kann doch Ihre neue Anstalt in einer ihr nur vorteil haften Verbindung mit jener bleiben, bis vielleicht — was ich noch immer hoffe — auch die Pension nach Ihren Ideen nach und nach sich umbildet. DerVerkehr mit den Ihrigen wird bei der großen Liebe, welche sie alle zu Ihnen haben, wenn Sie noch vorsichtiger Ihre augenblick lichen Stimmungen beherrschen, doch den Sieg davontragen, und Sie werden mir zugestehen, daß Sie einen gesünderen Boden für eine Fa milien-Erziehung anderswo nicht leicht finden können. Frau von M. verläßt Sie ja in kurzer Zeit, und ich hoffe, daß der Krieg in Frankreich seinem Ende naht; denn ein französisches Leer gibt es nicht mehr, und ich zweifle sehr, daß man die Volksbewaffnung auch nur durchzuführen versucht. Was einmal aus Frankreich werden soll, weiß ich nicht; es müßte sehr ernstlich in sich gehen und auf seine Weltstellung verzichten, um das im Innern mehr nachzuholen, was es so schwer versäumt hat. Ich wünsche das von Äerzen, und ich gehöre gar nicht zu den Schaden frohen, die Frankreich das größte Llnheil wünschen, schon deshalb nicht, weil die Krankheit eines einzelnen Gliedes den ganzen europäischen Staaten-Komplex krank macht. Was anders als die ungesunden fran zösischen Zustände hat uns denn die letzten 20 Jahre hindurch in steter Aufregung erhalten? Von Erich haben Sie wohl keine weitere Nachricht? Wenn das X. Arnreekorps alle die Lebensmittel erhält, die ihm von hier und Hannover zugehen, so ist es wenigstens einige Tage vor Lunger und Durst geschützt; von hier gehen morgen wieder drei Wagen ladungen meist Fleischwaren nach Lannover ab Wenn auch Frau von M. mit uns unzufrieden ist, so wird sie hoffentlich doch noch ihre Meinung ändern, wenn sie sieht, daß wir uns der Fröbelsache ernst annehmen und sie auf unserm Wege fördern. Beide Wege, wenn sie wirklich den ihrigen geht, finden sich vielleicht wieder zu sammen, und dann wird das, was sie will, auf vollkommenere Weise erreicht werden können. Frau von Marenholtz ist die internationale Ver treterin der Fröbelschen Sache; wir wollen deutsche Vertreter sein und müssen unsere Wege anders machen, ohne daß sie einander entgegen laufen. Äber meine Stellung zur Sache kann ich nur wiederholen, was ich früher gesagt habe. Vom Weggehen nach Berlin ist für jetzt nicht die
Kapitel 18:
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Rede, und ich bemühe mich nicht darum, dorthin zu kommen. Meine Wünsche gehen dahin, wenn möglich, einige Jahre mir selbst zu leben,
und ich habe deshalb den wiederholten Antrag, in das Direktorium zu
treten, mit der Ihnen bekannten Bedingung beantwortet, welche, wie auch von Lerrn Ä. anerkannt wurde, nur eine andere Form der Ab
lehnung ist. Auch er billigt ganz meinen Entschluß. Leben Sie wohl für
heute; ich muß wieder an meinen Bericht über die Portofreiheit der Schulbuchhandlung gehen. Morgen hoffe ich mehr an Sie zu schreiben und Montag Sie zu sehen, dann bringe ich Frau von M. wenn
nlöglich, auch über ihre buchhändlerischen Geschäfte Nachricht.
Mit herzlichem Gruße,
Ihr K.S.
Äenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 3. bis 6. September 1870. Es läutet mit allen Glocken, Freudenschüsse donnern, es soll etwas
Großes vor sich gegangen sein, was eigentlich, weiß ich noch nicht. Vor drei Jahren heute starb Marie, um diese Zeit rang sie mit dem Tode . .
Es ist sonderbar, die Wellen des historischen Lebens unserer Gegen wart rauschen an mir vorüber, ohne mich fortzureißen und innerlich zu bewegen, seitdem ich den mir entsetzlichen Gedanken an Krieg in mir ver
arbeitet habe. Keine Spannung, keine Neugier erfaßt mich, sondern mehr als je im Leben fühle ich mich gesammelt zum Studium, und ich lechze nach Ruhe; ich werde sicher wieder krank, wenn sie mir nicht bald wird. Es ist mit Frau von M. eine entsetzliche Äin- und Äersprecherei,
in der zuweilen einige Goldkörner und Gedankenblitze zu finden sind, die aber nicht im Verhältnis stehen zu dem Aufwande an Kraft und Zeit,
die ich ihr widme. Ich will noch eins mit ihr versuchen, und etwas mit ihr
lesen; wenigstens den Morgen suche ich mir zu erobern, aber da kommt bald dieser, bald jener. Es werden bei der Mutter Öfen gesetzt, sobald
diese fertig sind, ziehe ich dorthin und schließe mich ein, wenn ich nicht nach Oker gehen kann. Ich bin förmlich menschenscheu geworden, was ich früher nie empfunden habe, es muß etwas an mir noch heilen, glaube
ich, ach, A. Vorwerk und die Schloßgeschichte haben mich um ein gutes
Stück Gesundheit gebracht. Mittwoch muß ich gewiß Frau von M. nach B. bringen, wohin man ihr den Wagen von Schwülper schickt. Ich er
sehne ihre Abreise, und doch tut es mir so leid, aber ich habe keine Kraft jetzt, sie zu lieben, wie ich möchte; ihr Leben ist so traurig, und sie muß
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 441
einen starken Glauben, eine großartige Weltanschauung in sich tragen, daß sie es aushalten kann, so allein zu leben; ich könnte es nicht; ob ich das noch lernen muß? Ich lese mit höchstem Interesse Weiße; ich will von allem, was ich lese, Auszüge machen und Ihnen zuschicken; ich möchte. Sie machten Ihre Bemerkungen dazu. Aber ich muß merkwürdigerweise immer Ver schiedenes zu derselben Zeit treiben, ich bin darin wie die Kinder, ich muß die geistige Beschäftigung wechseln und dazwischen mich persön lich aussprechen, mündlich und schriftlich; es quellen oft eine Masse Ge danken in mir, wenn ich lese, daß ich Herzklopfen bekomme und mich beunruhigt fühle; dann muß ich abbrechen und erst schreiben, wenn es auch ganz etwas anderes ist. Ich will auch übrigens viel spazierengehen, ich habe im Verhältnis zu der Geistesarbeit nicht genug körperliche, wenn ich nur nicht so faul wäre. Ich glaube, es geht eine gründliche Abschließung mit der Ver gangenheit in mir vor in bezug auf manche Schwächen und Fehler; ich will damit nicht sagen, daß sie schon ganz und gar abgetan sind, aber Sie haben die Axt an die Wurzel gelegt, oder vielmehr meine innere Beziehung zu Ihnen hat dies veranlaßt; in sich feststehen, fest die Land der Freunde halten, unermüdlich an sich selbst und an andern arbeiten, zu immer größerer Verklärung der Natur emporsteigen, das muß etwas schaffen; übrigens finden die Meinigen mich wunderbar verändert, sie wissen nur nicht, um welchen Preis ich es erkauft [an Selbsterkenntnis^. Soll ich, wie Sie einmal schrieben von sich, mir vornehmen. Ihnen recht verständig zu schreiben? Nein, so egoistisch es klingen mag, wenn ich noch etwas Ordentliches leisten soll, so muß ich einen Menschen haben, dem ich auch allen Anverstand geben kann, ich muß mich geistig ausleben können. Sie sind so ein Wunder von Gleichmaß und Larmonie, daß Sie doch nicht ganz begreifen, wie einemWesen wie mir zuweilen zu Sinne ist. Sie raten mir, hier meine Wirksamkeit fortzusehen, und Sie haben recht; aber haben Sie eins bedacht? Meine Tätigkeit hier wird nach außenhin eine kümmerliche Existenz bieten; ich kann ja hier keine ordent lichen Klassen haben; alle äußeren Vorteile sind im Schlosse, und die Leute sehen auf das Äußere, und was ich bieten kann, das hat noch für die wenigsten Wert, aber wenn ich das Meine mit den äußeren Vor teilen hätte geben können, es hätte auf die Mädchen innerlich gewirkt. Im Schlosse flicken sie nur neue Lappen auf ein altes Kleid; ich fühle mich befähigt zu helfen, ein neues anzuziehen.
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Kapitel 18: Bedenken Sie auch, daß ich keine Engelsnatur bin, und bedeaken
Sie, welchen Kampf es mich kosten wird, zu wissen, daß so manche, welche sonst zu mir gekommen wäre, nun ins Schloß geht; daß ich oiel-
leicht noch nicht einmal genug Schülerinnen bekomme, um Arbeit genug zu haben, aber darum will ich auch studieren, um schreiben zu können,
damit ich die Lücke dann ausfüllen kann. Ich fürchte nur, ich paffe besser
zum Lehren als zum Schreiben; sehen Sie, ich habe so viele weibliche Schwächen; ich bin zu persönlich, auch hier haben Sie die Kehrseite von
etwas Gutem, ich weiß, daß gerade meine Persönlichkeit auf junge Mäd chen mächtig wirken kann; aber so wirken auch wieder Persönlichkeiten auf mich. Sie wissen gar nicht, wie verschieden meine Stunden sind, je
nach den Persönlichkeiten, die ich in der Klasse habe. Ach, wenn ich doch wäre wie Sie — nun, ich will tun, was ich kann, und wenn es dann
nicht mehr viel wird, so leisten Sie sicher noch Großes, dann kann ich mir sagen, daß ich daran einen Teil, wenn auch nur einen kleinen habe. Anterschähen Sie aber das Schwere, was ich zu tragen habe in der Nähe
der Schloßschule nicht, denn ich habe nicht die geringste Madonnen
anlage. Ich denke so oft daran, was Sie über sich selbst schrieben. Sie seien
nicht, was Sie den meisten Leuten schienen; Sie müssen mir das einmal, wenn auch nicht jetzt, wenn Sie keine Stimmung dazu haben, erklären. Ich las neulich in den Zeitungen, daß Sie sich mit den Sozial demokraten auf einem Standpunkte finden in bezug auf Elsaß-Loth
ringen. Jetzt wird die Zankerei losgehen. Am 6. Also die französischeRepublik ist proklamiert; man weiß noch nicht, wohin das führen wird. Die Lauptsache in solchen Zeiten ist inner liche Festigkeit, zu wissen, was man will, und die Klugheit erfordert, daß man das, was man für recht hält, den Amstärrden nach so oder so zum
Ausdruck bringt. Sie müssen mit mir über Ihre politischen Ansichten sprechen, ich muß durch Sie eine solche selbst gewinnen, nicht, daß ich Ihnen etwas nachsprechen will, aber Sie können mir Gründe geben. Was nun kommen soll, das kommt, aber der einzelne kann durch klare
Erkenntnis und geschickte Benutzung der Dinge die Entwicklung be
schleunigen. Ich halte Sie zu so etwas fähig; ich könnte das nie, aber ver stehen und würdigen und mit dem höchsten Interesse daran teilnehmen,
das kann ich. Wir müssen in unsern Konferenzen auch einmal die politischen An sichten diskutieren, damit wir der Konsequenzen unserer Grundanschau-
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872, 443 ungen nach allen Seiten hin uns bewußt werden und fest in der Einheit
stehen. Jeder Mensch hat doch einen Kreis, auf den er wirken kann, und diese Wirksamkeit in den Einzelheiten ist viel wichtiger als die Maffen-
wirkung; im einzelnen kann man sich sittliche Charaktere suchen, in der Masse gährt das unsittliche Element mit den Besseren.
Äenriette Breymann an Karl Schrader. Oker i. Larz. 15. September 1870.
(Zitat aus Byron hier: Farewell! if ever fandest prayer.) Dies mein Lieblingsgedicht von Byron fand ich zuerst in Ihrem Buche, ich nahm meinen englischen Byron mit hierher, um ihn mit der deutschen Übersetzung zu vergleichen. Es ist gut übersetzt, aber dennoch verstüm
melt. Jede Übersetzung kommt mir vor, als wenn uns ein anderer ein Liebeswort berichtet von einem geliebten Menschen; er kann die Worte wiederholen, sie können ins Äerz dringen, aber — der Zauber ist ab-
gestreift, wie der Schmelz von der Blume. Man sollte nie Poesie über
setzen. Ich höre nicht gern englisch sprechen, aber ich lese es gern, die
Sprache ist so ausdrucksvoll; bei der erscheinenden Kälte der Nation hat die Sprache Äerz, die französische nur Leidenschaft und Anmut. Wie unpoetisch sind in der deutschen Übersetzung Vers drei und vier z. B. und wie verschieben sie den ursprünglichen Gedanken, der im
Original so tiefsinnig von den Worten „Farewell, if ever fandest prayer" fortgesponnen ist. Wie schön ist: „Mine will not be lost in air, But waft thy name beyond the sky", die deutsche Übersetzung macht aus dem ursprünglich tief Ernsten etwas Sentimentales; wie un
passend ist das Wort „schwillt" angebracht, um so unpassender der vor
hergehenden Reihe gegenüber. Ein „schwellender Seufzer" ist überhaupt nur Wortgeklingel
Am 16. Ich habe „Manfred" angefangen, er erinnert an „Faust", soweit ich jetzt gelesen, aber so schön manches ist, so erscheint es doch matt in Erinnerung an den Goetheschen; auch von Schillers Cassandra haben
die ersten Verse in Manfred vieles in sich. Laben Sie wohl Cassandra einmal ordentlich gelesen? Ich liebe dieses Gedicht so sehr. Es gibt mehr
den Zustand der Seele, wenn man aus der Anbefangenheit des persön
lichen Lebens, wo das eigene Geschick uns in kindlicher Naivität der Mittelpunkt erscheint, hinaustritt ins Denken, Reflektieren, da zieht sich
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Kapitel 18:
des Lebens warmer Pulsschlag ab von den Dingen; es kommt eben die Abstraktion, man grübelt, man denkt nach, man lebt aber nicht. And doch ist diese Stufe ein notwendiger Entwicklungsprozeß, um zum höhe ren Leben zu gelangen. Cassandra sagt: „Nur der Irrtum ist das Leben und das Wissen ist der Tod", und weiter, „Zukunft hast du mir gegeben, doch du nahmst den Augenblick". Manfred: „The tree of knowledge 18 not that of life." Ich wollte, ich hätte Faust hier, ich bin durch Ihren Byron auf einmal in die Poesie geraten, ich wollte ganz andere Dinge hier treiben, und nun kann ich aus dieser Stimmung nicht herauskommen. Ich muß mich auch erst an das Rauschen des Wassers und der Tannen, an die liebe, schöne, ja, stellenweise mächtige Natur hier gewöhnen. Goethes Fischer: „Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll"; dann diese einzig poetische Dichtung „Andine" von de la Motte Fouque usw. spuken in meiner Seele, und Sie gaben mir noch den Byron, und die Naturgeister in Manfred reden mir zu, ihre Sprache ist zum Teil wunder schön, und ein tiefer Gedanke ist darin, wie die Geister der Natur nur unwillig sich dem Geiste des Menschen fügen. Reizend sind einige Gegensätze in der Sprache der Geister, ihre verschiedene Natur zu cha rakterisieren. Z. B. der Luftgeist beschreibt seine Wohnung mit den Worten: „From my mansion on the island, which the breath of twilight builds" usw. Der Erdgeist: „Where slumbering earthquake Lies pillow’d on fire, And the lakes of bitumen Rise boilingly higher. Where the roots of the Andes Strike deep in the earth" usw. Es ist recht hübsch übersetzt mit: „Wo das Erdbeben schlummert auf feurigem Pfuhl, Wo die Pechseen brodeln, qualmig und schwül. Wo die Wurzel der Anden tief abwärts sich streckt." And doch — kann man dies: „lies pillow’d on fire" so ganz wiedergeben? Wie schön ist das, was der Geist der Meerestiefe sagt: „In the blue depth of the waters, Where the wave has no strife, Where the wind is a stranger, And the sea-snake bath life. Where the mermaid is decking Her green hair with shells". Wie schön gibt Byron das Charakteristische der Meerestiefe mit seinem geheimnisvollen Leben und Weben. And dazu der Rhythmus — Wie hübsch und doch anders ist die Übersetzung: „In der blauen Wassertiefe, Wo die Woge nie sich hebt. Wo die Winde ewig fremd sind. Wo die Meeresschlange lebt. Wo die Seejungfrau ihr Schilfhaar Schmückt mit bunterMuschelpracht." Wie viel einfacher ist das Englische.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 445
Laben Sie Andine gelesen? Wenn nicht, will ich es Ihnen einmal leihen und wenn Sie auf der alten, greulichen, prosaischen Eisenbahn warten, dann lesen Sie das Buch. Gestern morgen haben meine beiden jungen Mädchen und ich einen langen Spaziergang nachRomkerhall gemacht, ich suchte den alten, verfallenen Fußweg durchs Okertal auf; da mußten wir durch rieselnde Bäche gehen, über Baumstämme klettern; aber nur so lebt man in der Natur; ich Haffe Chausseen in ihr und verabscheue eure Eisenbahnen dort. Durch den vielen Regen hat das Okertal sehr gewonnen, stellenweise kommen Anklänge an die Schweiz Ihr Gildenmeister ärgert mich aber sehr. Ich lese das schöne Gedicht von Byron: „Fare thee well, if for ever" usw. Nein, er kann das gar nicht nachempfinden. Gleich zuerst läßt er das „du" aus. Wie ganz ver schieden ist es: „Lebe wohl", oder „Leb du wohl". Dann später die schöne Strophe: „Though my many faults defaced me, Could no other arm be found, Thau the one which once embraced me To inflict ä cureless wound?"
Überseht er so: Wenn es recht war, daß ich büßte. Gab es andre nicht genug. Daß die 55and, die einst mich grüßte. Mir die Todeswunde schlug?
Das erinnerte mich an die sentimentale Kindergartenplärrerei, wo die Kinder sich hinstellen und die ankommenden ansingen, und die andern winken und singend antworten: „Wir danken euch!" Nein, Gildemeister soll nur von der Übersetzung eines Byronschen
Liebesliedes mit seinem Weh bleiben; dafür hat der gute Mann keine Empfindung. Lesen Sie doch keine Übersetzungen, wenigstens nicht ohne das Ori
ginal. Gestern und heute find so in Faulheit hingegangen. Ich will, ich mag das Gute, was ich habe, genießen; so habe ich geträumt in Poesie und Natur. Ich wollte Weiße lesen, es ging nicht, meine Gedanken waren zu luftig und lose, ich konnte sie nicht zusammenfassen. Abends. So, nun bin ich wieder ordentlich; ich habe mit Lerrn Schucht und den beiden Mädchen einen Spaziergang auf den Sudmer Berg gemacht — wir hatten eine prachtvolle Aussicht. Beim Linuntersteigen haben wir geschulmeistert und nun bin ich in meinem alten Fahr wasser und werde morgen etwas Reelles tun.
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Was haben Sie getrieben? Sie haben sich für das Wohl anderer nützlich gemachtes ist wirklich so achtungswert, und doch wäre es Ihnen so gut, wenn Sie einmal von den Menschen und ihren nützlichen Ein richtungen fort und in Muße in langen, vollen Zügen Natur trinken könnten.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 17. September 1870. Sie sitzen nun in ftiedlicher, (wohl auch in frostiger) Einsamkeit in Oker und stärken Geist und Körper durch wissenschaftliche Erkenntnis und unmittelbare Anschauung der Natur. Gewisse Naturerscheinungen werden sich Ihnen wohl in etwas aufdringlicher Weise bemerkbar machen; so denke ich, daß Ihnen für die Lehre von der Kälte und der Feuchügkeit der Luft doch schwerlich die praktischen Beispiele fehlen werden, wenn nicht Oker eine ganz ausnahmsweise begünstigte Oasis in der großen Regenwüste sein sollte. Die guten Lehren der Frau von Marenholtz in bezug auf Spazierengehen werden Sie wohl wenig beherzigen können; Sie neigen gewiß mehr dem vollständigen Gegensatze der gehenden Be wegung in freier Luft, dem liegenden Ruhen im behaglichen Zimmer zu, und start die Gegensätze zu vermitteln, werden Sie sich wohl dem einen Extrem hingeben, und erst nachdem Sie dieses und auch den Gegensatz durchgemacht haben, folgt die Vermittelung? Aber im Ernst, ich glaube, ruhiges Studieren im Zimmer ist Ihnen, da Sie noch immer erkältet sind, besser, als vieles Amhergehen im Freien. Wie Sie sich in Oker eingerichtet haben, d. h. in bezug auf Ihre Studien, schreiben Sie mir wohl. Wenn Sie wirklich nach Dresden gehen, also etwa 14 Tage in Oker bleiben können, so scheint mir aus den chemischen Studien nicht ganz viel werden zu können, wenn nicht Ihr Lehrer die für einen Praktiker nicht häufige Fertigkeit hat. Ihnen gute allgemeine Übersichten zu geben. Laben Sie denn Ihre beiden Be gleiterinnen aus Lolland und Italien mitgenommen? Ich treibe mich in dem alten Leben umher und bin in diesen Tagen noch durch Besuch eines Schwagers und eines reisenden EisenbahnKollegen, welcher Braunschweig unter meiner Führung besichtigen wollte, besonders in Anspruch genommen. Gestern abend kam hier ein großer Zug mit 200 Verwundeten, für hiesige Lazarette bestimmt, an, viele recht elende Menschen darunter, und das Elend, welches dieser Krieg gebracht hat, zugleich aber die Verpflichtung für uns, so teuer
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872 4 47 erkaufte Erfolge wirklich gut zu benutzen, trat mir wieder lebendig vor die Augen. Diese Störungen haben mich verhindert, Ihnen früher zu schreiben, und auch die Aufsätze von Lohlfeld, welche ich zu lesen begonnen hatte, durchzustudieren. Sie sind sehr interessant, und ich werde sie baldmög lichst zu beendigen suchen, damit ich, wenn ich nach Dresden gehe, etwas näher über Lohlfelds Ansichten unterrichtet bin. Latten Sie die Auf sätze nicht auch angefangen? Wenn nicht, so sollten Sie es so bald als Sie es mit Ihrem jetzigen Studienplan vereinigen können, tun, zumal sie völlig an das anschließen, was 35. Becker über Religion geschrieben hat. Diesem werden sie deshalb auch sehr interessant sein. Vor der philosophischen Versammlung in Dresden fürchte ich mich sehr; ich M-le mich der Art und Weise, wie sie wahrscheinlich die Sache behandeln, ziemlich fernstehend. Trotzdem werde ich, mag ich nun selbst kommen oder nicht, mich dadurch nützlich zu machen suchen, daß ich einen Entwurf zu den Statuten des deutschen Erziehungsvereines (als Teil des allgemeinen) ausarbeite, und für den Fall, daß ich nicht nach Dres den gehe. Ihnen oder Frau von M. zur Benutzung gebe. Jedenfalls teile ich Ihnen beiden vorher den Entwurf zur Prüfung mit. Wenn man sich in Dresden nur nicht in lange, nutzlose Redereien vertieft unt) darüber das vergißt, was mir wenigstens für jetzt das Nötigste zu sein scheint, nämlich eine feste Organisation unserer Sache zu geben. Dies sollte der erste Gegenstand der Verhandlungen sein, und ich glaube, man könnte damit recht gut am ersten Tage fertig werden, die späteren Tage könnten den allgemeinen Besprechungen, der Anknüp fung persönlicher Beziehungen und dergl. gewidmet sein. Diese zu ord nen ist natürlich Sache der hervorragenden älteren Mitglieder des Vereins, ich werde mich nicht hineinmischen, wenn mich nicht die Amstände dazu drängen, aber ich werde wenigstens mir selbst darüber mög lichst klar zu werden suchen, damit ich, wenn es sein muß, mit meinen An sichten hervortreten und sie vertreten kann. Wenn nur Fichte, der ja wohl Vorsitzender ist, energisch auf Ordnung der Verhandlungen hält! Ob wohl unsereBestrebungen bald einen nennenswerten praküschen Erfolg haben? Das heißt, ob wohl der zu gründende deutsche Erzie hungsverein an vielen Orten für die Sache tätige, strebsame Mitglieder findet? Noch sehe ich nicht recht ab, wie die Stimmung in Deutschland sein wird; ob man, wozu allerdings viele Anregung ist, sich stolz an die Brust schlägt und sagt: „Gott sei Dank, daß wir nicht sind wie jene Fran-
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zosen"; oder ob man sich klar macht, daß die Vorzüge, welche vns zum Siege vsrholfen haben, weil wesentlich auf moralischer Grundlage ruhend, nur aufrechterhalten werden können, wenn man immer weiter strebt, aber sofort verlorengehen, wenn man sich bequemen Eenüssen überläßt? Kommt man zu der letzten Überzeugung, so muß rran sich konsequent durch den Erfolg des Krieges getrieben fühlen, die Eigen schaften, welche den Sieg gegeben haben, möglichst zu vervollkommnen und zu festigen, zumal man erwarten muß, daß auch andere Vclker zu gleicher Einsicht gelangen und uns durch energischere Anstrengungen vielleicht überholen.
Von dieser Überzeugung aus sollte man mehr als je die Erziehung betonen, und auf die Äoffnung, daß wenigstens die bedeutenderen Geister der Nation diesen Standpunkt teilen und andere zu sich ziehen werden, gründe ich gerade jetzt die weitere Äoffnung, daß die Bestrebuncen für Fröbel besseren Boden finden als zuvor. Dieser Boden muß aber be arbeitet werden, und der Erfolg hängt wesentlich davon mit ab, tätige Arbeitskräfte zu gewinnen und richtig zu verwenden. Unsere Tätigkeit scheint mir für die nächste Zeit ganz vorzüglich darin bestehen zu müssen, allgemeineres Interesse für unsere Ideen zu erregen, und dazu wird man sich der Presse bedienen müssen und zwar nicht einer eigenen, philosophi schen oder pädagogischen allein, sondern auch der Journale und Zeitun gen, soweit man ihrer habhaft werden kann. Anfangs wird das fteilich nicht viel bringen, weil es uns an Kräften fehlt, aber man muß es doch im Auge behalten.
Es ist gleich 7 Uhr und ich muß schließen, wenn mein Brief noch heute abend abgehen und morgen früh in Ihre Lände gelangen soll. Baw hören Sie mehr von mir. Mit herzlichstem Gruße
Ihr
K. S.
Lenriette Breymann an Karl Schrader. Oker i. Larz. 18. September 1870.
Welch schöner Sonntagmorgen! Meine beiden Mädchen sind in der Kirche; sie schienen gerade keine große Lust zu haben zu gehen, aber ich wollte allein sein. Es scheint übrigens, als könnte ich meinem Schick sale nicht entrinnen und müßte ewig mit jungen Mädchen zusammen sein; ich bin am Ende doch gutmütig; die Kinder waren so glückselig, daß
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ich sie mitnehmen wollte, und nun mögen sie nicht wieder fort. Zuweilen ist mir auch so ein echtes Mädchengeplauder sehr angenehm; Fredy ist so ganz Natur, sie erzähl mir mit einer reizenden Naivität ihre Liebes geschichte, die ich gle ch wiedererzählen möchte; sie ist gerade so weit leichtsinnig, wie zur Anlage für ein glückliches Leben gehört, und so weit kokett, wie man es gerne einem hübschen, jungen Mädchen verzeiht. Ich halte nicht viel auf diese Tugendstücke von jungen Mädchen, die eben nur tugendhaft sind ans Armut und Mangel an Naturfrische. Auch die Italienerin ist angenehm, sie ist aber eine deutsche Natur, sie hat die Stärken und Schwächen unserer Nation, innig, tief, aber langsam und träumerisch Sie irren, wenn Sie meinen, ich läge immer auf dem Sofa, die Naturgeister sind sehr zuvorkommend gegen uns, sie lassen nur nachts regnen, am Tage senden sie uns Sonnenschein. Wissen Sie, ich bin unverbesserlich, ich muß mir das Leben ver bittern durch eine krankhaft erregbare Phantasie; wenn ich sie loswerden könnte! Wollen Sie glauben, daß ich mich geängstigt habe, weil Ihr ver sprochener Brief ausblieb? Ich denke so ost. Ihnen passiert ein Anglück; ich kann gar nicht glauben, daß Sie mir nicht so oder so genommen werden, und werrn das Vertrauen in mir feste Wurzeln faßt, dann rnuß ich denken. Sie werden sterben. And dann kommen mir die entsetzlichsten Bilder vor Augen .... dann ergreift mich eine Angst, die krank macht. Sie wissen nicht, wie verwundbar ein Lerz ist, das so viel gelitten hat, wie das meine; dem immer entzogen wurde, was es ergriff. Ich habe so ost an unsere Unterredung am Mittwoch gedacht und daß ich so manches in Ihnen noch nicht verstehe. Aber, wenn ich Ihnen so offen schreibe, wie ich über Ihr Inneres denke, so nehmen Sie das nicht für eine Aufforderung, mir zu sagen, ob ich mit meiner Vermutung recht habe. Ich sehe in Ihrem Schweigen über Erlebnisse des inneren Lebens nicht im geringsten Mangel an Vertrauen. Glauben Sie mir, ich lerne mich immer mehr in Ihre Eigentümlichkeit finden, und wenn es mir zu weilen vorkommt, als läge etwas Anausgesprochenes, Anverstandenes noch zwischen uns, dann halte ich mich an das, was ich klar von Ihnen habe und das ist so viel für mich, so wertvoll; es wirkt so ergänzend, bil dend auf mein Inneres, daß ich wirklich kindlich dankbar zu Gott bin, der Sie mir geschickt in einer Zeit, wo der Boden unter meinen Füßen wankte. And wenn ich wieder körperlich kräftiger bin, quäle ich Sie auch nicht mehr mit meinen Zwangsphantafien, wie zuweilen jetzt. AllerLys ch inska, Henriette Schrader I.
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dings denke ich zuweilen, es spinnt sich die Krankheit bei mir an, an der mein Vater gestorben sein soll; sie soll sehr erblich sein
Eben fängt wirklich das schlechte Wetter hier an, doch das stört mich nicht, ich werde trotz Wind und Regen spazierengehen. Wir essen um 1 Llhr, und ich gehe vor Tisch und nachmittags mindestens eine Stunde spazieren. Ich habe zwar sehr heftige Schmerzen an einem Fuße, er war sehr geschwollen; wenn ich vielleicht doch bald lahm und blind werden soll, so will ich noch möglichst lange den freien Verkehr mit meiner ge liebten, treuesten Freundin, der Natur, genießen. Es würde doch schreck lich sein, durch Alter oder Krankheit an freier Bewegung gehindert zu werden I Seit gestern abend fangen meine Augen wieder an, blind zu werden; ich muß jetzt aufhören zu schreiben, ich erkenne kaum noch einen Buchstaben und fühle die Anstrengung des Schreibens Am 19. September. Es kamen mit der Morgenpost neun Briefe für mich, die zum Teil gleich beantwortet werden mußten, weil sie Pen sionsangelegenheiten betrafen. Mein liebes, süßes Mütterchen schreibt mir fast alle Tage, und ihre Briefe sind so ganz sie selbst. Ich höre den trauten Ton ihrer Stimme, ich sehe ihr liebes Antlitz. Meine Mutter ist ein Edelstein, ein Schatz. Wissen Sie sich Ihrer Mutter zu erinnern? Ach, es ist so traurig, daß Sie sie so früh verloren — das Reinste, Köst lichste auf Erden ist ein wahres, treues Mutterherz! Was hat das meiner Mutter nicht alles mit mir durchlebt! Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrer Kindheit 1 Wenn ich Sie nur erst frei wüßte von dem Leben und Treiben, welches Sie jetzt führen, nicht um Sie der Welt zu entziehen, denn Sie gehören in dieselbe, aber um sich in sich selbst zu sammeln. Auch seien Sie nicht gar zu gefällig und höflich! Wenn Sie nicht so ein Philo soph wären, wie Sie sind, so müßte diese Zeit der Anbestimmtheit Sie krank machen. And Sie mit Ihrer philosophischen Ruhe, Sie fürchten sich vor den Philosophen in Dresden? Wenn Sie nicht hingehen, gehe ich keinesfalls, ich bin dieser Ideenwimmelei herzlich satt. Ich sehe Sie an als den guten Genius, der einmal eine ordentliche Brücke schlagen kann zur Wirksamkeit im Leben, und ich hoffe, Sie werden hingehen, und Sie werden sprechen; es wäre wirklich eine sehr verkehrte Löslichkeit, wenn Sie schweigen und andere unausführbare Pläne schmieden ließen. Sie sagen alles so maßvoll, daß Sie nie verletzen. Ich halte Sie für die wich tigste Person auf der Versammlung, ich bin dort vollständig unnütz, und wenn ich hingehe, so gehe ich nur, um Frau vonM. nicht zu erzürnen.
Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 451
und weil es mir Freude macht, mit Ihnen allen dort zu sein. Nützen kann ich dort und in dem Stadium gar nichts. Was Ihnen als das Wichtigste in dieser Zeit erscheint, ist mir aus der Seele gesprochen; nur müssen wir auch Bildungsstätten haben, wo der Geist, den wir vertreten, rein gepflegt und der jüngeren Generation vermittelt wird, und auch da müssen bei Frauen Männer, bei Knaben Frauen tätiger eingreifen als bisher. Ich arbeite hier mit Lerrn Schucht etwas sehr Gutes, alle Tage habe ich eine ganz bestimmte Stunde bei ihm; aber, wie ich das Durch genommene nun verwende, ist in einem Briefe schwer zu schreiben; auch höre ich in seiner Schule zu. Wenn meine Körperkraft reicht, werden meine Stunden nach den Ferien aber ordentlich werden. Wenn dieser unglückselige Krieg zu Ende wäre I Ich kann mich für Kriegstaten nicht begeistern, und wie wird es mit meinen Studien, wenn die Ärzte nicht wiederkommen? Ach, wenn wir die Rezension über Stuart Mills Buch schreiben könnten; ich möchte das so gern los sein, was ich noch immer in Gedanken über diesen Gegenstand habe; ich glaube, ich weiß jetzt ganz genau das Rechte für die Frauen, aber, ob es sich öffentlich aus sprechen, an das Buch anknüpfen läßt? Es hängt so genau mit unsern Erziehungsbestrebungen zusammen, die wir verfolgen. Ich habe Ihr Bild und das von Stuart Mill zusammen in meiner Mappe, aber Sie sehen einander gar nicht ähnlich; ich möchte. Sie täten es. Ich habe jetzt Manfred ausgelesen; es sind prachtvolle Einzelheiten darin und die Sprache durchweg wahrhaft poetisch; aber der eigentlich geistige Inhalt spricht mich nicht an, ich kann keinen Faden verfolgen und es ist mir zu phantastisch, und die Schuld, welche Manfred sich auf geladen, erscheint mir unpoetisch, weil eine Versündigung gegen die Natur; ich kann so etwas nicht nachdenken, noch weniger nachfühlen und
mag es nicht, und deshalb läßt mich die Dichtung vollständig kalt bis auf einzelne, schöne Naturschilderungen Nun noch eine Bitte: Wollen Sie mir Steins Leben schicken? und dann legen Sie dabei Fröbels „Menschenerziehung". Kommen Sie einmal in dieser Zeit? Ich habe soeben gehört, daß Ä. Becker in Goslar gewählt ist; er will unter allen Amständen die Dres dener Versammlung mitmachen. Mit herzlichen Grüßen
Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 21. unb 22. September 1870.
Ich beeile mich. Ihnen in dem beifolgenden, sauber angesertigten Pakete die gewünschten Bücher zu übersenden. Von Frau von M. und ihrer Dresdener Versammlung habe ich noch nichts vernommen, mir wäre gleich wie Ihnen eine Vertagung der Sache bis zum Frühjahr lieb, und der Sache wäre sie schwerlich schädlich, weil für jetzt das politische Interesse noch so sehr überwiegt, daß man wissenschaftliche und nur das innere Leben angehende Dinge jetzt kaum mit allgemeinem Interesse behandelt zu sehen, erwarten könnte. Indessen, wir müssen Frau von M. folgen. Leute habe ich den ersten Bogen des Neudrucks ihrer Schrift korrigiert, und diese eilige Arbeit — denn der Druck muß doch auf alle Fälle bis zum 1. Oktober fertig sein —, hat bebewirkt, daß dieser Brief erst abends geschrieben wird statt nachmittags. Sie leiden also für die Fröbelsche Sache, natürlich nur, weil Sie das Bücherpaket so viel später erhalten. Das war wohl, was ich Geschäftliches zu schreiben hatte. Nun aber meinen herzlichsten Dank für Ihre freundlichen, lieben Briefe, die mir zu meiner größten Freude zeigen, daß Sie sich, wenn auch Ihre Leiden Sie nicht verlassen haben, doch wohler und kräftiger M)len. Der Lauptzweck Ihres Aufenthaltes in Oker wäre damit er reicht. An die chemischen Studien scheinen Sie gar nicht mehr zu denken, und mit Ausnahme Ihrer pädagogischen Studien mit Äerrn Schucht werden Sie wohl nicht viel Lernstudien treiben. Diese sind Ihnen auch augenblicklich weniger nötig als eine allseitige Erfrischung und Anregung Ihres Geistes, welche Ihnen Poesie und Natur besser geben als alles andere. Die Natur des Okertals, wenn auch keine schweizerische, paßt aber zu manchen Stellen Byronischer Poesie ganz gut. Die Gildemeistersche Äbersetzung gefällt Ihnen nicht recht. Daß sie die Tiefe und den ganzen Reiz des Originals nicht wiedergeben kann, versteht sich, eben, weil sie Übersetzung ist und die Werke eines Dichters wiedergeben soll, welcher tiefen Gedanken in wenigen Worten eine schöne Form zu geben weiß. Da muß die Wiedergabe in einer fremden Sprache oft hinter dem Originale zurückbleiben und zwar meist an solchen Stellen, welche eine ganz besondere Schönheit haben. Aber Sie werden mir zugeben, daß Gildemeister den Byron ganz lesbar übersetzt, und daß gerade der Vorzug, welchen eine Übersetzung bietet, nämlich sich schneller durch ein
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größeres Stück hindurchlesen zu können, bei Byron besonders groß ist, weil dieser Dichter für jeden, der nicht der englischen Sprache ganz mäch tig ist und sich in den Byronischen Gedankengang leicht hineinfinden kann, ziemliche Schwierigkeiten bietet. Sie kommen durch Lerrn Gilde meister dazu, Sachen von Byron zu lesen, welche Sie sonst nie kennen gelernt hätten. Lesen Sie auch den Sardanapal; wäre das Stück nicht so lang, so könnte es ein sehr gut aufführbares Bühnenstück sein, voraus gesetzt freilich, daß man einen Schauspieler hat, der der originellen und großartigen Äauptrolle gerecht werden kann. Durch den „seidenen" Sar danapal muß von Anfang an der große, nur durch Sorglosigkeit und Äaß gegen Rauheit an der Entwicklung gehinderte, durch Schwelgerei zurückgehaltene, aber nicht erstickte Charakter durchleuchten. Leben Sie wohl, und genießen Sie die schöne Natur, nach welcher ich mich nicht minder sehne als Sie, mit Freuden.
Karl Schrader an Henriette Breymann.
Braunschweig. 22. September 1870.
Auf die Frage, die Sie nach mir selbst, nach meinem innern Wesen tun, füge ich noch einiges hinzu. Sie irren sich, wenn Sie annehmen, irgendein Ereignis hätte mich plötzlich zu dem gemacht, was ich bin; eine ganz allmähliche Entwicklung, die ich ganz gut verfolgen kann, hat mich gebildet. Wahres Familienleben habe ich nie gekannt; meine Mutter ist so früh gestorben, daß ich gar nichts mehr von ihr weiß; mein Vater war eine verschlossene, wenn auch von Anlage milde Natur, und war uns Kindern schon durch seinen Beruf ziemlich fremd; erst in späteren Jah ren, als ich stärker geworden war als er, den Kummer und Alter ge brochen hatten, trat ich ihm näher. Von meinen älteren Geschwistern war ich getrennt, Verkehr mit andern Familien hatte mein Vater gar nicht, so war ich allein auf meinen jüngeren Bruder und auf Freunde angewiesen. In diesem rein männlichen Verkehr habe ich mit Ausnahme der ersten Jahre nach meiner Rückkehr von der Universität fast ausschließ lich gelebt. Diese Jahre bewegte ich mich in der Wolfenbüttler Gesellig keit, die damals ganz angenehme Seiten hatte, mit ziemlich vielBehagen; ich war regelmäßiger Besucher des Klubs, tanzte und schwatzte mit den jungen Mädchen, ohne je einer ernstlich auch nur den Hof zu machen, spielte Billard, Schach und Klavier, ging mit meinen Freunden — es
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waren die beiden Spies, Schmid-Phiseldek und W. Raabe — spazieren, hatte mit ihnen regelmäßige, höchst vergnügte Kaffeegesellschaften, in denen bald ernsthafte, wissenschaftliche Fragen besprochen, bald auch Arrangements für Bälle, musikalische Abende usw. verabredet wurden und in denen ein entsetzlicher Tabakrauch und ein dem Uneingeweihten fast unverständlicher Witz und Spott herrschte. Oft wurde auch musi ziert. Dabei wurde doch ganz fleißig gearbeitet, und wir lebten mitein ander ganz fidel. Manche Sorge fehlte auch nicht, namentlich hatten wir von vornherein unsere gesellschaftliche Stellung gegen eine feindliche Partei zu wahren. Auf Universitäten hatten wir eine ganz bestimmte Parteistellung — wir waren Progressisten, d. h. wir gehörten Ver bindungen an, welche als Prinzip Sittlichkeit und Wissenschaftlichkeit aufstellten, aber dem studentischen Wesen nicht abhold waren — andere Wolfenbüttler gehörten zu der Gegenpartei und setzten den Streit auch nach Rückkehr von der Universität fort. Dadurch erhielt unsere Beteiligung an dem geselligen Leben ge wissermaßen einen geschäftlichen Anstrich; wir wollten in der Gesellschaft die Lauptrolle spielen und richteten danach unser Benehmen ein. Es gab manchen Kampf und Verdruß, und reines Vergnügen hatte man auch nicht. Schon nach einigen Jahren zog ich mich mehr und mehr zurück. Mein Vater hatte keine Freude an meinem geselligen Leben, und ihm zu liebe blieb ich immer mehr aus dem Klub und sonstigen Gesellschaften weg .... allmählich wurde ich immer einsamer, bis ich in Braun schweig fast ganz ohne geselligen, d. h. Familienverkehr war, und nun in einen immer ausgedehnteren geschäftlichen Verkehr mit der Männer welt trat. Ein solcher Verkehr macht kalt bis ins Äerz und bildet nach und nach eine Eiskruste um dasselbe, welche die innere Wärme zurückhält. Dazu kam die wenige Befriedigung, welche meine Geschäftigkeit mir brachte, das Gefühl, daß kaum irgend jemand in der Welt meiner wirk lich bedurfte und mich vermißt hätte, und ich wurde immer mehr dazu gebracht, die ganze Welt mit resigniertem Auge anzusehen und mir zu sagen, daß ich eigentlich nichts mehr auf ihr zu tun hätte. Ich ließ mir das Leben gefallen, weil ich mußte, aber es gefiel mir nicht. Die Erfahrungen, welche ich in den letzten Jahren in Braunschweig in bezug auf amtliche Stellung und öffentliche Wirksamkeit machte.
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konnten mich — so wenig ich im allgemeinen eine pessimistische Welt anschauung habe — in bezug auf meine Person nur immer resignierter machen, und wären Sie nicht gewesen, ich glaube, ich hätte ganz aufgehört zu leben im eigentlichen Sinne und wäre eingeschlasen. Sie haben mich wieder zum Leben erweckt und mich ermutigt, weiter zu streben; nur kann ich bei der leidigen Anbestimmtheit meines Geschickes noch immer nicht, wie ich möchte, meine künstigeWirksamkeit gestalten, und das gegen wärtige Treiben, aus dem ich doch noch nicht heraus kann, drückt mich zu Boden. Es sind gottlob! aber nur noch wenige Monate, dann weiß ich, woran ich bin, und bis dahin will ich mich schon durchhalten. Meine ganze Entwicklung ist hiernach sehr wenig aus die gemütliche Seite gerichtet gewesen, und ich fühle, daß ich das Versäumte schwerlich je nachholen kann. Darum werde ich mich nie an viele, an die wenigen aber um so fester anschließen und ihnen Treue bewahren, solange ich kann, d. h. solange sie von der andern Seite nicht zurückgewiesen wird. Sie müssen mich nehmen, wie ich bin, und wie ich durch Ihre Ein wirkung, die weit größer ist, als Sie denken, werde; ich bin Ihr Gegen satz, aber wir können im Zusammenwirken die Vermittlung finden. Diesen Winter machen wir uns ernstlich an die Frauenfrage. Wol len wir nicht die Verständigung zwischen uns über das zu Schreibende damit beginnen, daß wir möglichst gedrängt jeder unsere Anschauung aufschreiben und uns mitteilen? Eine Broschüre über die Frauenfrage (Erwiderung auf die Briefe von F. Lewald), von einer Frau Strom berg, habe ich behalten, um sie Ihnen gelegentlich zu geben. Neues ist nicht gerade darin, aber es wird mit Nachdruck die Verbesserung der weiblichen Erziehung in bezug auf die Bestimmung der Frau in der Familie betont. Wie lange bleiben Sie in Oker? Ich komme vielleicht einmal. Zum Schlüsse noch die Bitte, daß Sie sich recht in acht nehmen, wenn Sie auch etwas weniger lernen; Ihre Gesundheit ist die Haupt sache für Sie selbst und für Ihren, Sie herzlich grüßenden K. S. Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Oker i. Äarz. 23. September 1870. Luischen ^Schwägerinn ist noch einmal in die Schule gegangen, Arnold hat Spielgefährten gefunden, und da will ich die freie Zeit be-
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nutzen. Ihnen ein Wort zu sagen. Oft hatte ich in diesen Tagen so große Neigung, mich mit Ihnen zu unterhalten, aber meine Augen waren schlecht, es lagen manche Geschäftsbriefe vor, die Antwort verlangten. Wissen Sie, ich übe auch in den Ferien eine Art Seelsorge; es hängen manche arme Frauen- und Mädchenherzen an mir, und ich weiß, ich darf sie nicht vernachlässigen; dies gibt mir viel Arbeit, und so mußte ich mir dieser Tage die Freude versagen, mit Ihnen eine Unterhaltung zu führen. Auch war ich bei allem Lerzensfrieden sehr, sehr wehmüüg ge stimmt, indem sich mir die Gewißheit aufdrängt, daß ich meines Vaters Krankheit habe. Wenn ich nur einen Arzt kennte, der mir die Wahrheit sagte, und zu dem ich Vertrauen hätte, und den ich konsultieren könnte, ohne daß es jemand erführe. Ganz Einbildung und Nervosität kann es nicht sein, weil sich ganz bestimmte körperliche Erscheinungen zeigen, welche auch übereinstimmen mit denen meines Vaters, als das Übel sich
anspann. Ich danke Ihnen so von ganzem Lerzen für Ihre lieben Briefe; glauben Sie mir, seit einiger Zeit, besonders seit den Tagen, wo ich fürchtete. Sie verletzt zu haben, bin ich eine viel bessere Tochter, Schwe ster und Freundin geworden, als ich es je in meinem Leben war, und daß ich es mir nicht einbilde, könnte ein Brief meiner lieben, lieben Mutter beweisen; aber ich weiß es auch. Ich danke Gott, daß er mich nicht sterben ließ, ehe ich eine Erfahrung an mir selbst gemacht, die mir fehlte. Arnold hat so erheiternd auf mich gewirkt, ein so glückliches Kind ist doch etwas Wunderschönes, und wie verstehe ich immer mehr, was Jesus meinte, wenn er sprach: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht in das Limmelreich kommen." Mit Lerrn Schucht gehe ich in Mühlen und Lütten; dann suche ich mit ihm festzustellen, was Kinder bis zum 10. Jahre wissen müssen, und danach arbeite ich nun die Entwicklung vom Kindergarten bis zu diesem Alter aus; lerne auch zugleich die Dinge selbst, weil ich eine Kindergärt nerin gründlich unterrichten muß über eine Mühle, wenn ich die Ent stehung des Brotes bespreche. Sie glauben nicht, wie schön es ist, die Entwicklung einer Sache durch verschiedene Altersstufen, zu verfol gen, wie die zarten Anfänge in der Kinderstube, im Kindergarten liegen gerade wie das Keimen eines Samenkornes. Zuerst das Ganze, der Ein druck, die Darstellung des Ganzen, so daß die Kinder z. B. die Mühle fühlen in dem hübschen Spiele: „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach", und wie sie nach und nach zurErkenntnis des einzelnen gelangen.
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wie das Samenkorn allmählich sich teilt und verzweigt durch Einsaugung in den heimatlichen Boden. Wollen Sie wohl glauben, daß ich selbst anfange zu lernen wie das Kind? Ach, schwer büße ich jetzt meine frühere Faulheit — es überwältigt mich, was ich alles in mir tragen muß, um es zu beherrschen, damit es einfach wird, wie der Kindergeist; darum schwanke ich immer zwischen dem mich Schonen und strengem Arbeiten. Ich werde nur zufrieden sein, wenn ich noch etwas Ordentliches leiste, vor dem ich selbst Respekt haben kann, sonst will ich viel lieber sterben. Ich jammere auch nicht mehr nach vielen Schülerinnen, sondern nach dem Bewußtsein, einer etwas Positives zu geben, was zugleich durchdrungen ist von dem heiligen Geist der Liebe und Begeisterung. Still arbeiten, still leben und still lieben im Reiche der Meinen; junge, bildungsfähige Seelen zu haben, die den Geist in sich aufnehmen, der geläuterter in mir lebt — das, das erbitte ich von Gott. Ich fürchte mich vor Ereignissen, ich bin noch nicht fest im Glauben an das Wort: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum besten dienen". Drei Dinge stehen einem so festen Glaubensleben, wie ich es mir wünsche, im Wege: Einmal hat man mich gelehrt, an Götzen zu glauben, anstatt an den heiligen Geist; zweitens ist der natürliche Glaube meines Äerzens, als es jung war, mit Füßen getreten; drittens endlich ist ein Stück Welt in mir selbst, das zwischen dem so friedvollen Zustande sich befindet. So oft höre ich innerlich die Worte von Faust: „Die Worte hör" ich wohl. Allein mir fehlt der Glaube." Wir wollen bei dem herrlichen Wetter einen längeren Spaziergang machen. Leben Sie wohl und haben Sie lieb Ihre Ä.B. Später. O, wie schön ist das Wetter! Könnten Sie es doch einmal in der Natur genießen; könnte ich nur etwas tun, den Druck Ihres jetzi gen Lebens von Ihnen zu nehmen, aber wenn Sie ihm zu unterliegen drohen, wie Sie schreiben, dann denken Sie, daß eine Äand die Ihre saßt und hält, die nur durch Sie Kraft bekommen, noch segnend zu wir ken, wenn es Gottes Wille ist. Ich kann mich nicht so voll und rein an der schönen Natur freuen, so lange ich Sie unter dem Drucke weiß, bitte, erzählen Sie mir nur alles, viel von Ihrem eigenen Leben, das ist mir das Liebste Was Sie von meinen Arbeiten sagen, ist leider wahr, aber ich habe keinen Menschen, der mir Hilst, oder, wenn er die Kenntnisse befitzt, die
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Idee verstände, die ich verfolge und die so richtig ist, das weiß ich. Ich habe nämlich einen ganz eigentümlichen Plan*) für Studien, Unterricht und Erlebnisse der Kinder; ich kann Ihnen aber den Plan nur mündlich mitteilen, und leider habe ich noch nie die engen Grenzen meiner Kraft erfahren, wie jetzt; was soll ich tun? Soll ich immer mehr persönliche Beziehungen fallen lassen und mich fürs Lernen abschließen? Ich kann jetzt lernen, nichts ist mir zu trocken, ja, selbst das mir Schrecklichste kann ich lernen —Rechnen. Wenn ich mich aber meinen Studien ganz widme, so muß ich viele Beziehungen zu ftttheren Pensionärinnen fallen lassen. Sie können wohl berechnen, wie groß und immer größer der Kreis wird, der meinem Geiste näher tritt; ich schreibe nicht allen, aber ich fühle wohl heraus, wer meiner bedarf. Nun kann ich nicht bis in die Nacht hinein arbeiten, dann bringt eine große Familie wirklich viel Arbeit, wenn man die Fäden pflegen will; ach, und ich weiß es, ein liebes Wort, eine kleine Kilfe und Freude zu rechter Zeit tun oft Großes im Innern.
Da stehe ich nun zwischen all der Arbeit und weiß nicht recht, wohin ich mich wenden soll; egoistisch bin ich natürlich dabei auch. Ihnen muß ich schreiben, ich kann diese Freude nicht entbehren. Wie manche Stunde habe ich schon durch Briefeschreiben hier verloren, und außer an Sie und die Mutter habe ich keinen zu meiner eigenst persönlichen Freude ge schrieben; dann kam Arnold, der liebe Junge, und erst waren die jungen Mädchen hier, jetzt kommt Annette und gestern war Waldemar Beth mann hier, und seine Mutter bedarf so vieler Teilnahme; sehen Sie, ich kann die Menschen nicht verlassen, denen ich wohltun kann. And wie wird es mit Ihrem Kommen? Sie müssen sich einen Tag frei machen und mit mir in der schönen Natur verleben
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 25. September 1870. Wie beneide ich Sre, daß Sie den heutigen, prachtvollen Tag in der schönen Äarznatur verleben können; ich liebe den Äerbst sehr, die Luft an einem schönen Äerbsttage ist so rein und klar, und man fühlt sich in ihr so leicht. Dazu die wechselnden Farben der Bäume, wodurch eine so viel reichere Beleuchtung der Waldlandschast bewirkt wird. *) Die Konzentratton des Interesses auf einen Mittelpunkt, dessen Lebensbeziehungen nach verschiedenen Seiten hin verfolgt werden.
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Wie gern hätte ich diesen Tag mit Ihnen verlebt; aber es ging nicht .... ich habe Dienst bei den Verwundetenzügen und sihe, statt im Äarze, jetzt am schönsten Nachmittage auf meinem Drrektionszimmer und werfe nur zuweilen einen bedauernden Blick auf die lustwandelnden Menschen auf dem Bahnhöfe. Aber ich freue mich doch des schönen Wetters in dem Gedanken, daß Sie es genießen, und ich hoffe, daß es Ihre angegriffenen Nerven so stärken wird, daß Sie die trüben Gedanken, welche vorige Woche Sre geplagt haben, wieder vergessen. Ich glaube. Sie sind etwas Hypochonder geworden. Sie fühlen in sich das Bedürfnis, noch etwas Ordentliches zu leisten, und Sie haben sich überzeugt, daß Sie es geistig können, und Sie fürchten nun, daß Ihre Körperkräfte nicht dazu genügen. Das macht Sie auf jede körperliche Erscheinung so aufmerksam, daß Ihnen früher gar nicht beachteteDinge jetzt auffallen, und daß Sie dieselben so lange kombinieren, bis sie Ihnen die gefürchteten Tatsachen fest zu beweisen scheinen. Versäumen Sie, bitte, keine Sorge, welche Sie für Ihre Ge sundheit nehmen können, aber dann tun Sie, was die Ärzte Ihnen sagen, dann denkeil Sie sich nicht Gefahren, welche nicht existieren. Sie können sicher darauf rechnen, wenn es gutes Wetter bleibt, daß die Familie Schrader-Wolfenbüttel eines schönen Tages bei Ihnen einrückt; ob die Familie Schrader-Braunschweig mit, weiß ich noch nicht; ich kann an einen: Sonntage nie, weil ich an diesen: Tage immer Dienst bei den Verwundetenzügen habe und mich schwerlich vertreten lassen kann; vielleicht aber an einem Wochentage mit dem Mittagszuge, ich kann nicht früher abkorumen. Jedenfalls schreibe ich vorher. Ihre jetzigen Studien, wenn ich die Andeutungen in Ihrem letzten Briefe recht verstanden habe, sind hauptsächlich pädagogischer Natur: Sie suchen sich völlig sicher zu sein, was und wie Kinder bis zum zehnten Jahre gelehrt werden müssen und wollen sich in den Stand setzen, nicht bloß selbst solche Kinde-r zu lehren, sondern auch, und vorzüglich, den Lehrerinnen alles zu geben, dessen sie bedürfen, um diesen Unterricht zu übernehmen. Verlangen Sie nicht zu viel von sich? oder geht Ihre Ab sicht nicht so weit? Was Sie jetzt von den Büchern, die Sie haben, lesen, schreiben Sie nicht. Steins Leben ist Ihnen vielleicht nicht ganz ansprechend; ich habe das Buch vor zu langer Zeit gelesen, um jetzt noch genau von ihm Be scheid zu wissen; ich glaube aber, der Mensch Stein tritt in dieser Bio graphie zu viel hinter dem öffentlichen Charakter zurück — selbst für die
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Kapitel 18:
Biographie eines Staatsmannes zu viel zurück. Aber Sie werden doch finden^ daß Stein ein großer Charakter — weit größer als z. B. Matthy —, ein wahrer Edelmann mit allen starken Seiten und auch manchen Schwächen gewesen, und daß er seiner Zeit in seinen politischen Ideen weit voraufgeeilt ist. Er war ein Idealist, aber von großer, praktischer Begabung, er vermittelte in sich die Richtungen von Leuten wie Fichte, Schleiermacher, Äumboldt mit dem ganz praktischen Wirken, ja, selbst dem Detailwirken des Geschäftsmannes mit einem rein praktischen Sinne. Noch jetzt kann Deutschland in vielen Beziehungen nicht besser tun, als Steins Ideen wiederaufzunehmen, und es ist nicht zu viel gesagt, daß ein sehr großer Teil des seit 1807 gemachten Fortschritts der inneren Entwicklung unmittelbar und mittelbar ihm zu danken ist. Wieviel größer ist doch Stein als Bismarck, welcher fast nur für äußerePolitikVerständnis zeigt, und welcher die inneren, dasMenschenund Staatsleben bewegenden Kräfte gar nicht kennt und deshalb im stande sein mag, ein kräftiges Volk zu glücklichen Siegen zu führen, schwerlich aber ein besiegtes wiederaufzurichten. Ich möchte nicht, daß in den nächsten 20 Jahren Bismarck, oder ein Mann wie er, das Regiment in Deutschland führte. Wenn nur erst von unserer hohen Lerrin im Fröbelreiche etwas verlautete, damit man wüßte, ob und wann unsere Zusammenkunft zu stande kommt; ich wünsche den Aufschub bis zum Frühjahr sehr, damit wir unter uns noch klarer werden, und vielleicht noch mit einigen der Freunde der Frau von M. Verbindungen anknüpfen könnten, die uns über ihre wahren Absichten und Meinungen besser belehrten, als dies wahrscheinlich Frau von M. getan hat, die sich leicht über die Leute täuscht. Ohne gehörige Vorbereitung werden die Pläne von Frau v.M. leicht scheitern. Adieu mit herzlichem Gruß, Ihr ~ r
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 8. Oktober 1870.
Sie und Ihre Mutter haben mir eine große Freude durch Ihr gestriges Geschenk bereitet, das mir zeigte, wie Sie meiner fteundlich gedacht haben; noch größere Freude haben Sie mir durch den Brief gemacht, welchen ich heute erhalten habe. Er beruhigt mich über Ihr Befinden, das mir wirklich Sorge bereitet .... Seien Sie nur dem
Korrespondenz zwischen Sx Breymann und K. Schrader bis 1872. 461 Arzte folgsam, damit Sie mit frischen Körper-- wie Geisteskräften Ihre neue Tätigkeit beginnen können. Könnte ich das nur bald von mir sagen 1 Mich plagt die Un entschiedenheit meines Geschickes deshalb so sehr, weil sie mir alle Nei gung raubt, irgend etwas ernsthaft zu beginnen oder auch nur sortzu-führen. Wunderbar, daß uns beiden das gleiche begegnen muß; Ihnen ist in der Schloßanstalt die Anstalt entzogen, auf welche Sie Ihre Laupthoffnungen setzten, mir nimmt man meine amtliche Tätigkeit, und wir müssen uns beide einen Boden zu neuem Wirken erst schaffen. Ihnen ist es im gewissen Sinne gelungen; Sie sind sich klar über den Anfang und die Art einer neuen Tätigkeit, welche Sie innerlich durch die vorangegangenen Kämpfe gereinigt und gestärkt jetzt schon beginnen; ich bin noch nicht so weit, und, was ich dabei am schwersten empfinde, das ist, daß bei mir diese innere Läuterung sich noch nicht vollzogen hat. Ich weiß sehr wohl, wie ich handeln sollte und den meisten scheint auch, daß ich so handele, aber es ist nicht der Fall. Wer, wie ich es nun einmal getan habe, sich mit Aufopferung anderer Dinge einer öffentlichen Täügkeit gewidmet hat und dabei von dem gewöhnlichen Ehrgeize frei ist, kann sich nur befriedigt fühlen, wenn sein Wirken nicht Ausfluß persön licher Neigung, sondern eines aus wahrer Nächstenliebe und Religion hervorgehenden Pflichtgefühles ist. Nur dann wirkt er nicht bloß in die Breite, sondern auch in die Tiefe, nur dann nicht vorübergehend, son dern dauernd, und nur dann kann ihn Mißerfolg und Verkennung nicht entmutigen. Aber ich sehe ein und bekenne es Ihnen offen, daß es gerade in dieser Beziehung bei mir gefehlt hat und noch fehlt; theoretisch weiß ich alles, aber es wird no ch nicht, so wie es sollte, praktisch in mir. Das ist Folge meiner früherem Entwicklung und des Amstandes, daß ich bis auf Sie keinen Menschew gefunden habe, dessen öffentliches Wirken nicht von den allergewöhnllichsten Motiven eingegeben war; ich interessierte mich auch nur für das allgemeine Wohl, weil es mir Vergnügen machte, die meisten andernMenschen, mit denen ich zusammen kam, eines äuße ren Vorteils halber. Erst Ihrem Beispiel und Ihrer Freundschaft verdanke ich bessere Einsicht und vorzüglich den Entschluß, auch nach ihr zu handeln, aber es wird mir schwer, das Werk manches Jahres so bald zu zerstören. Wenn Sie mir helfen, hoffe ich weiterzukommen; ich habe auch jetzt wieder
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Kapitel 18:
Zutrauen zu mir, obgleich mir gerade in dieser Zeit immer wieder gezeigt wird, wohin meine Art zu sein und mich zu geben, führt .... Lassen Sie uns einander sicher und treu sein, und ich verspreche Ihnen gern noch ausdrücklich (was sich eigentlich von selbst versteht), daß ich, wenn sich etwas zwischen uns stellen sollte, auch darüber sogleich gegen Sie offen sein werde. Legen Sie mein Schweigen niemals als aus solchen Moüven hervorgehend aus; ich bin jetzt nicht selten solcher Laune, daß ich nicht gern Ihnen schreibe, und oft bin ich gerade um die Zeit, wo ich Ihnen schreiben wollte, anderweit in Anspruch genommen. Dies soll nun auch meinerseits die letzte Klage gegen Sie sein, nicht, daß ich nicht klagen würde, wenn ich das Bedürfnis fühlte, aber ich hoffe, daß ich dahin kommen werde, mich und mein Wirken immer mehr so zu gestalten, wie es sein sollte, und wie ich es möchte. Auch ich fühle, daß ich vieles nachzuholen habe, und daß ernste Arbeit in jeder Richtung mir nötig ist. Wenn ich in nächster Woche komme, so erzählen Sie mir noch von Ihrem neuen Anterrichtsplane, ich kann Ihnen dagegen noch von Frau von Marenholtz manches sagen. Nicht wahr, jetzt hat man Sie immer bei der Mutter zu suchen? Ich freue mich sehr darauf, sie nun auch mehr kennenzulernen, als bei unsern bisherigen Begegnungen möglich war. Danken Sie ihr doch in meinem Namen recht herzlich für die Schachtel, und leben Sie recht wohl. Seien Sie recht faul, damit ich Sie wohl und munter treffe. Ihr
K. S.
Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu--Watzum. 9. Oktober 1870.
Niemand kann wohl besser nachfühlen als ich, wie drückend und zum Tode ermüdend Ihr jetziges Leben ist, und mit innerer Sorge sehe ich der Entwicklung der Dinge entgegen. Soweit ich Sie jetzt kenne, denke ich. Sie müßten mindestens ein Jahr einmal vollständig sich selbst leben, aber dann wieder zur Eisenbahndirektion zurückkehren. Ich meine damit. Sie sind fürs öffentliche Leben geschaffen, und die Menschen haben zu jeman dem, der in rein praktischen Dingen Tüchtiges leistet, auch Vertrauen, wenn er ideale Bestrebungen zu fördern sucht. Auch müßten doch die vielen Arbeiten, die Sie in der Eisenbahnlaufbahn gemacht haben, noch ein äußeres Ziel erreichen? Erlauben Ihre Privatverhältniffe nicht, ein--
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 463
mal eine Zeitlang ganz für sich zu leben? Würde es Schwierigkeiten mit sich bringen, wieder in die Eisenbahnverwaltung zu treten? Wohl wür den Sie dann nicht in B. bleiben, aber das innere Ziel muß den äußeren Boden bestimmen. Ich würde mich in alles finden, was zu der möglichst freien vollkommenen Entwicklung Ihres Wesens und der daraus hervor gehenden Wirffamkeit für die Welt notwendig ist. Der innere, von der Natur des Individuums bestimmte Beruf ist des Mannes Schicksal; keine persönliche Liebe, keine Annehmlichkeit des Lebens kann dem wah ren, echten Manne Ersatz oder Trost geben, wenn er seinen eigentlichen Beruf verfehlt, und wie viele haben dieses Schicksal, weil die Eltern, die Mütter so wenig des Knaben, des Mannes Natur verstehen; darum geraten so viele auf Abwege, andere verdorren. Ach, ich weiß das, wir können nicht wider die Natur, aber durch sie hindurch zum geistigen Leben. Und was die innere Erneuerung Ihres Wesens betrifft, so müssen Sie ja Geduld mit sich selbst haben; auch das weiß ich, wie notwendig es ist, um nicht mutlos zu werden. Ich glaube nicht, daß man sich durch einen gewaltigen Schritt umbilden kann, das wird nur langsam, und ich hoffe. Sie werden mich lieb genug haben, um mir auch vorzuklagen, wenn der Mißmut Sie erfaßt, denn er wird noch öfter über Sie kommen. Dinge, die wir im Innern überwunden haben, hängen uns lange nach durch Gewohnheit, und die Konsequenzen unserer Art und Weise zu sein folgen uns nach, wenn wir längst anders geworden sind. Man muß alles in der natürlichen Entwicklung erkennen, um nicht mutlos zu werden. Denken Sie sich, ich bin so kühn zu glauben, daß, wenn Sie sich nach und nach uns innerlich nähern, wenn Sie sich selbst erlauben, Einfluß über die eine oder die andere Persönlichkeit unseres Kreises zu üben; wenn Sie mit teilnehmen an den Freuden und Leiden der Meinen — kurz, wenn Sie reicher und reicher werden am Nehmen und Geben von persönlichem Interesse, daß ein warmes Gefühl für die Menschheit von selbst Ihr Inneres durchdringt. Sie werden schon bemerkt haben, wie meine Familie unser Freundschaftsverhältnis als selbstverständlich auffaßt; sie haben doch die Fähigkeit und Freiheit des Geistes, die Innerlichkeit, die wir in Anspruch nehmen, zu begreifen. And meine Mutter — nun, ich will nichts mehr über sie sagen — sie vereint mit der Größe der Natur eine Anspruchslosigkeit und eine Anscheinbarkeit nach außen, die sich wohl nicht leicht zweimal wieder zusammenfindet in einer
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Kapitel 18:
Person. In der Intimität des Lerzens stehe ich noch mit Annette Sche--
pel und Mary Lyschinska, von denen ich Ihnen wohl ost gesprocken; sie nehmen teil an meinem innern Leben, also auch an unserer Freund
schaft, und sie verstehen ein solches Verhältnis so ganz; sie verstehen, wie im Reiche der Geister — Familien sich bilden, wie unabhängig oon
Banden des Blutes — wie ja Mary und Annette wirklich meine Kinder sind. Ich habe auch alle diese Beziehungen nur höher und schöner erfaßt,
seitdem ich Sie kenne. Ich weiß auch jetzt, daß, wenn Sie sich einmal verheiraten, was ich ja wünschen muß. Sie nur eine Frau wählen können,
die geistesverwandt mit mir ist, die mich lieben wird, die ich lieben kann,
und^wenn Sie Ihres Lebens vollständige Erfüllung finden, wird mir die Geistesverklärung werden — doch davon wollen wir jetzt nicht reden, jetzt wird es noch nicht sein; aber Sie müssen mich nicht eines Egoismus
fähig halten, den ich mir selbst nie vergeben könnte. Wir lassen uns aber die Freude unserer Freundschaft nicht unterdes verMmmern, was die
Welt auch darüber sagt; ich mache mir über sie keine Illusionen mehr, und namentlich wird mich ihr Neid und Mißgunst treffen; so wie man den Mut haben muß, zu entsagen, wo das innere Gottesgesetz uns dies
auferlegt, so muß man den Mut haben, zu genießen, wo der Genuß nur erwärmend und veredelnd auf unser Sein und Wesen wirkt. Warum soll
man geizen mit der Liebe, die rein beglückt, ohne irgendwo zu beeinträch
tigen? Man beglückt viel zu wenig, man versteht nicht zu leben im
innersten Sinne des Wortes. Die Welt, die Schleiermacher in seinen
Monologen vor uns aufschließt, ist doch wunderbar schön, und wenn die Subjektivität und Individualität, deren voller Entfaltung er das Wort
redet, sich vollständig unterordnet unter „das höhere Dritte", wie es Fröbel nennt, so entgeht man der Gefahr, beeinträchtigend in die Rechte
anderer einzugreifen und kann unverkümmert am eigenen Selbst in Reichtum und Fülle desselben dem andern geben, für ihn leben. Äenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 11. bis 13. Oktober 1870. Lier bei der Mutter ist es himmlisch; ich bin noch nicht im großen Lause gewesen, morgen darf ich wieder ausgehen. Ich habe jetzt Lust,
faul zu sein und bin ost zweifelhaft, ob ich faul oder müde bin. Ich habe
das Gefühl, als hätte ich lange in einem Boden gestanden, der hart und kalt war, und wäre wieder in ein Erdreich geflanzt, in dem ich die Nahrung
finde, der ich bedarf.
Korrespondenz zwischen 35. Breymann und K. Schrader bis 1872. 465
Neulich hatte ich einen Brief von Mary, sie schreibt unter anderm: „Lore einmal, ich habe eine Bitte an Dich, nämlich, daß Du mir das Bild des Lerrn Assessors schickst. Sieht der Lerr A. im Katholizismus denGrund von Frankreichs Verfall? überhaupt sage mir hierüber etwas, es interessiert mich aufs höchste, besonders da ich gerade aus dem Lande komme." Also, schicken oder bringen Sie mir ein Bild für Mary; das müssen Sie. Mit einem gewissen Widerwillen gehe ich immer an Lektüre über die Frauenfrage. Leute kam mir die Broschüre von Mathilde ReichardtStromberg in die Land, und heute wollte ich sie nicht ungelesen wieder weglegen. Wie schade, daß so vielWahres und Gutes, was in dem Buche gesagt ist, mehr von Stolz, ja Lochmut als von Liebe diktiert zu sein scheint, und zwar vom Lochmut des Glücks .... And doch, ich fürchte, ich wäre ebenso geworden wie diese Art Frauen, wenn ich früh ein selbsteigenes Familienglück gefunden; darum bin ich ganz ausgesöhnt, daß ich zu menschlichen Geschöpfen gehöre, „die in der großen Kette des Lebens wie ausgelöste Glieder sind und dem ersten und höchsten Naturgesetze gegenüber als unvollendet dastehen", wie Frau Mathilde die unverheirateten Frauen bezeichnet. Denn, wie stark in mir das Be dürfnis nach persönlichem Glück stets gewesen ist, daneben war ebenso stark das Bedürfnis, Anglücklichen zu helfen; helfen tut man nur durch tief eingehendes Verständnis und Interesse; Liebe, solche Liebe macht immer demütig; die Lerablassung, die Liebe sein soll, tut viel weher als die Nichtbeachtung: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und be laden seid, ich will euch erquicken", sagt Jesus, von ihm müssen, können wir lieben lernen, wenn wir sein großes, menschlich-göttliches Lerz ver stehen. Frau Mathilde nennt das Vorhandensein vieler unverheirateter Frauen eine Krankheitserscheinung unseres Kulturzustandes und ver gleicht sie mit krankhaften Ablagerungen, die durch gestörten Blutumlauf erzeugt sind. Bis zu einem gewissen Grade hat Frau M. recht, aber sie hat wiederum nur halb recht. Ich glaube, daß, soviel Krankhaftes unsere sozialen Verhältnisse auch haben, dieses dazu dienen kann, in das eigentlich geistige Wesen der Dinge einzugehen, es ans Licht zu ziehen und dessen Lerrschaft vorzubereiten .... Bitte lassen Sie uns die M.St. und „Die Lörigkeit der Frau" zusammen lesen, und dann unsere Arbeit anfangen; ich muß die Sache los sein, sie hindert mich an anderer, freier Tätigkeit. Die Frauenemanzipation ist keine für sich stehende Frage, sie fühtt zurück auf die Grundlagen des Christentums und der L y s ch i n s k a, Henriette Schrader I.
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Vermaterialisierung des Christentums durch die Kirche. Z. B. weil der Stoff vergeistigt werden sollte, so meinte die Kirche, man müsse sich von. ihm trennen, ihn zurückweisen (Mittelalter, Klöster). Man belog sich in bezug auf die Vergeistigung und Heiligkeit furchtbar; Luther, der sehr wahr war, und die Sinnlichkeit nicht leugnete, nannte sie eine „Schwäche" und hielt sie für den Teil des gefallenen Menschen; lesen Sie einmal Luther von Freytag. Diese Ansicht geht noch durch alle protestanüschen Kirchen und dadurch entsteht die furchtbarste Lüge und Annatur. Dieser entspringt wieder die Sehnsucht nach dem Rechten, nach der Aufhebung des Dualismus, ohne in den Materialismus zu verfallen. Wir müssen die Sinnlichkeit als solche ihrer „Sündhaftigkeit" und „Schwäche" entkleiden, sie ist unsereNatur, sie ist ja unser Bisdungsst off; wir sollen doch nicht etwa den Schöpfer korrigieren wollen? Ist es nicht Sinnlichkeit, wenn eine Mutter mit stiller Freude ihren Kindern eine Lieblingsspeise bereitet, und diese sich so wohl und so glücklich bei dem kleinen Mahle fühlen? Ist es nicht Sinnlichkeit, wenn man das Be streben hat, auch den einfachsten Dingen im Lause eine harmonische, schöne Zusammenstellung zu geben? Ist es nicht Sinnlichkeit, wenn man ein geliebtes Kind, überhaupt eine geliebte Persönlichkeit in seine Arme schließt, an sein Lerz drückt? Ja, es ist Sinnlichkeit, aber wer kann das Schwäche nennen? Die Schwäche liegt in der Sinnlichkeit ohne Geists ohne Gewissen; wenn ich mich nicht in jeder zärtlichen Lingabe an eine geliebte Persönlichkeit zugleich liebend in Gott und der Welt fühlen kann, so ist der Dualismus da und somit die Sünde. Es ist keine Kleinigkeit, sich durch alles Abgelebte, Annatürliche, Verdrehte auf den einfachen, natürlichen Standpunkt zu stellen, auf das Arsprüngliche zurückzugehen; entkleiden wir die Dinge vorerst der Lüge, alles andere findet sich von selbst, jedenfalls wird es leichter, das Rechte zu treffen. Sie meinten gestern, Frau Mathilde wolle, was ich wolle; ich will das und noch viel mehr als sie. Ich will den Frauen das Verständnis geben für dasWesen derDinge, sie zu Trägerinnen des Geistes in der Natur machen, wohlverstanden, den verschiedenen Altersstufen und Ständen Rechnung tragend, wie es auch die Natur tut; erst regt sich der Keim, dann die Knospe, bis die volle Blüte erscheint, welche gesunde Frucht trägt. Somit ist die Frau des Volkes nur eine unentwickelte Stufe desselben Stammes. Die natürliche Ehe, die natürliche Mütter lichkeit soll stets der schönste, glücklichste Durchgangspunkt, aber eben
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nicht der einzige Zielpunkt sein. Was will Frau M. mit den Mädchen ansangen, die nun erzogen sind nach ihrer Weise und nicht heiraten? Ich könnte ihr Wort in vielen Dingen gegen sie kehren, indem sie sagt: „Ich kann nicht stolz sein auf etwas, bei dem mir das Lerz weh tut" . . . Ich will den Geist der Ehe, den Geist der Mütterlichkeit; wie viele Frauen leben in Geistesehe mit ihren Männern? Wie viele Mütter geben ihren Kindern geistiges Leben neben den physischen? Es ist immer eine nicht zu leugnende Traurigkeit, wenn man nicht verheiratet ist,
wenn man keine eigenen Kinder hat; aber wenn man Amschau im Kreise seiner Bekannten hält, mit wem möchte man tauschen? Ich finde saft durchgängig, daß die Ehe lähmend gewirkt hat. Es gehört ein sehr starker, klarer Geist, eine wunderbar kräftige Liebe dazu, wenn die An vollkommenheiten des irdischen Lebens, die anderseits nirgends stärker auftreten als in der Ehe, nicht lähmend wirken. Wieviel mehr Kraft gebraucht der Mann, aus Aberzeugungstreue zu handeln, wenn er für Frau und Kinder Brot schaffen soll! Wieviel mehr Geistesstärke ge braucht die Frau, wenn sie unter den wiederkehrenden Kleinigkeiten, unter Körperschmerzen und Plagen, ihren Geist mit den Kindern weiterbilden will! Wie leicht läßt die Ermattung des Körpers die Bequem lichkeit des Geistes rmchfolgen, und was hilft ihr alle Bildung, wenn nicht eines voranging: Verständnis für die Kindesnatur, für die not wendige Verarbeitung des Stofflichen, Sinnlichen in der Erziehung? Aber wir müssen ihr die Mittel reichen, damit sie das Stoffliche beherrscht und verwandeln kann bei der Erziehung ihrer Kinder. Wenn die Frau die geistige Mütterlichkeit sich errungen, dann ist sie ftei; d. h. sie erfaßt das Leben groß, sie sieht die Gegenwart mit der Zukunft im Zusammen hänge, und wenn sie nicht in der Ehe steht, wenn sie keine leiblichen Kin der geboren hat, so ist sie doch nicht als ein „ausgelöstes Glied der Kette der Menschheit" zu betrachten. Wir Frauen bleiben eben Frauen, wenn wir persönlich Liebe geben, Liebe wecken; aber damit wir bei aller Per sönlichkeit frei werden, brauchen wir die Wissenschaft, die Kunst, nicht um ihrer selbst willen, sondern um sie wieder persönlich zu verwenden. Wir müssen uns alle fühlen als Mütter der Menschheit, als Teil des weiblichen Prinzips, das dem männlichen Wirken für das große Ganze seine Ergänzung gibt. Der fteiere, geistige Verkehr der Geschlechter wird auch so ungemein fördernd wirken, wie man das jetzt kaum ahnen kann, somit kann man gar nicht wissen, wie die äußere Wirksamkeit der Frauen für spätere Zeiten sich gestaltet. Wir müssen unsern lieben Stuart Mill
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zum Verständnis zu bringen suchen, er ist eine reine, wahre, großartge Seele, und solche tun not in unserer Zeit. Die Hauptsache aber ist, Boden zu schaffen, daß sich die Natur der Frau entfalten und vergeistigen und somit befreien kann Ich will Ihnen etwas sagen, wenn Sie erst in Ruhe sind, könnten Sie eigentlich hier Stunden geben; bei Lehrern von Fach habe ich mich nun halb tot gequält und geärgert, nun will ich es mit Menschen wie Eie versuchen; Lermann Becker könnte es auch versuchen und Lerr Schucht; Lerr Fricke ist ausgezeichnet .... Ja, ja. Sie müssen Stunde geben, es wird schon gehen. Suchen Sie etwas aus, was ins Nationalökonomische schlägt; oder wie wäre es, wenn man die Geschichte des Brotes finden könnte ? Sie können glauben, die Art und Weise des Anterrichtes*, wie sie mir vorschwebt, wirkt ungemein vorbildend zur Aufhebung des Dualismus und gibt für alle Stufen den Abschluß. Aber, wenn mir nicht ordentliche Männer helfen woller:, so nruß ich gewiß an dem Ge danken sterben. Noch etwas: Ehe ich die Methode irgendeines Zweiges lehre, muß ich ^den Erwachsenen^ einen Überblick über die Geschichte des Zweiges geben; lesen Sie im Buche der Erfindungen die Geschichte des Schreibens und Lesens, und Sie werden sofort die Fröbelsche Methode verstehen in bezug aus diesen Zweig. Leben Sie wohl für heute.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 15. Oktober 1870.
Sie haben mir gesagt. Sie müßten am Sonntag einen Brief von mir haben und aus angeborenem Widerspruchsgeiste möchte ich gerade dieses Mal nicht schreiben; ich könnte Ihnen erwidern, kein Mensch müsse müssen und mich durch diese Phrase gegen Sie decken; ich behalte es mir auch vor, aber heute will ich noch einmal gut sein, natürlich sine praejudicio, d. h. ohne daß Sie daraus für zukünftige Fälle eine An erkennung meiner Verpflichtung folgern dürften und nur deshalb, weil ich mich doch für die schönen Stunden verpflichten muß, welche ich Donnerstag mit Ihnen und Ihrer Mutter verlebt habe. Es war das erstemal, daß wir uns ruhig über alles, was uns interessierte, aus-
*) Das Prinzip der Einheitlichkeit auf den Anlerricht der Erwachsenen wird hier angedeutet in bezug auf den kulturgeschichtlichen Unterricht.
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sprechen konnten, ohne gestört zu sein, und ich habe das kleineÄaus Ihrer Mutter jetzt viel lieber als Ihr großes Neuwatzum.
Sie haben recht, wenn Sie meinen, wir sollten die schöne Zeit nicht blos zum Schwatzen, sondern auch dazu benutzen, zusammen zu lesen und zunächst Stuart Mill; ich bringe ihn deshalb das nächste Mal mit, und wir können dann wohl auch ein Stück in unserem gemeinsamen Pro jekte über die Frauenfrage weiterkommen; meine Ansichten notiere ich jetzt schon. Damit ich aber wiederkommen kann, was doch nicht mehr in den Ferien geschehen kann, müssen Sie mir schreiben, welche Nach mittage Sie für sich haben, damit ich Ihnen nicht in Ihre Stunden Hineinfalle. Sie schlagen mir vor, Ihren jungen Erzieherinnen Stunden zu geben, ohne recht daran zu denken, daß das gar nicht leicht ist. Zwar interessiere ich mich sehr dafür, nationalökonomische Dinge von popu lärer Seite zu betrachten, und ich habe einige Studien darin gemacht, aber nur in einer Richtung, welche nicht für Ihre Zwecke paßt. Jetzt kann ich es nicht, später, wenn ich mehr Muße haben sollte, läßt sich wohl darüber reden. Es lassen sich selbst für junge Mädchen in interessanter Weise und recht wohl verständlich Dinge aus der Theorie und der Ge schichte der Gewerbe und der Nationalökonomie besprechen, aber dazu gehören ziemlich umfassende Studien, da man sehr gut unterrichtet sein muß, um klar und verständlich zu sein. Gewiß läßt sich an das Brot z. B. sehr gut eine Schilderung der Vervollkommnung der Nahrungsmittel, ja, der Ernährung der Völker überhaupt, der Gewerbeverfassung usw. anschließen, aber es ist nicht so leicht, es gut zu machen, und macht man es nicht gut, so schadet es nur, weil dann die Lernenden zurückgeschreckt werden. Darüber, wie es zu machen ist, sprechen wir bei unserer nächsten Begegnung noch mehr. Dann bringe ich auch die Briefe von Ihnen mit, in welchen Sie Ausführlicheres über die Frauenfrage gesagt haben, und ich freue mich schon, beim Aussuchen so manches wieder zu lesen, was mir früher beim Empfange derselben Freude gemacht hatte. Warum soll ich mich des Genusses berauben, mich lebhaft an Früheres zu erinnern und die Briefe vernichten?
Keute morgen besuchte mich Ihr Bruder, gestern abend sah ich Ihre Schwägerin und Anna; alle waren sie sehr liebenswürdig gegen mich. Grüßen Sie diese, vor allen aber Ihre Mutter herzlich,
Ihr
K. S.
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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 28. Oktober 1870.
Ihr letzter, lieber Brief, für den ich vielmals danke, hat mich wegen der Übeln Nachrichten über Ihr Befinden recht betrübt Gern tröstete ich Sie morgen, aber ich kann nicht fort von hier. Alles drängt fich jetzt zusammen, Abbruch des Alten und Aufbau des Neuen soll in unserm Eisenbahnwesen eiligst gemacht werden, aber es fehlt an nötigem Geschick, und beides wird nichts als elende Polterei. Leute ist mein Kollege Dr. S. nach Straßburg abgereist, um aufWunsch des preußischen Landelsministers als Mitglied in die dortige Betriebs kommission für die elsässischen Eisenbahnen einzutreten, vorläufig als beurlaubter braunschweigischer Beamter, aber mit der festen Aussicht, in den preußischen Staatsdienst definitiv einzutreten. Er hatte sich mit meinem Wissen und meiner Unterstützung schon lange um Übernahme in den preußischen Dienst bemüht und hatte auch vor Monaten die Zu sage demnächstiger Erfüllung seiner Wünsche erhalten. Jetzt ist dem so plötzlich entsprochen, daß seine Pläne in bezug auf seine Leirat etwas gekreuzt werden. Wahrscheinlich bleibt seine Braut mit ihrer Mutter in Braunschweig, und sobald er Wohnung in Straßburg gefunden hat, verheiratet er sich. Seine Arbeit müssen nun wir andern tun, die wir freilich auch herz lich wenig Lust mehr dazu haben. Über meiner Stellung waltet noch die alte Anklarheit; die Dinge gestalten sich vielleicht sogar so, daß ich mir noch einmal den Eintritt in das Direktorium hier zu überlegen habe, weil die entfernte Möglichkeit vorliegt, daß die von mir erhobenen Bedenken noch beseitigt werden. Aber ich wünsche diesen Ausgang der Sache doch nicht .... Bei meiner Anwesenheit in Berlin ist mir nämlich eine sehr angenehme und ehrenvolle Offerte gemacht, zu deren Erläuterung ich etwas weiter ausholen muß. Schon seit Jahren ist in den Kreisen der Eisenbahndirektoren dar über Klage geführt, daß die Interessen der Eisenbahnen in der Presse und gegenüber den Staatsbehörden sehr schlecht vertreten sind; der erste Adelstand folgte daraus, daß die über Eisenbahnwesen eigentlich allein
Sachverständigen, die Mitglieder der Eisenbahndirektionen, zu beschäf tigt sind, um eine größere schriftstellerische Tätigkeit zu üben, und der zweite daraus, daß es an einer paffenden Organisation derPrivatbahnen — für sich — getrennt von den abhängigen Staatsbahnen — fehlte.
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 471
"Nun ist in letzter Zeit durch meine Gesinnungsgenossen unter den Privat-Eisenbahnfaktoren ein besonderer, hauptsächlich die gemeinsame In teressenvertretung nach außen vertretender Verein aller deutschen Privatbahnen gebildet, und der zufällig gerade während meiner Anwesenheit in Berlin dort tagende Ausschuß dieses Vereins hat mir den Vorschlag gemacht, eine schriftstellerische Tätigkeit im Interesse desselben zu unter nehmen. Diese würde keinen großen Teil meiner Muße beanspruchen und mich in Verbindung mit dem Eisenbahnwesen halten, und zwar des halb sehr angenehm, weil ich mich, nur mit wichtigen Dingen zu beschäf tigen und von meiner Selbständigkeit nichts aufzugeben brauchte; ich könnte mir durch meine Tätigkeit selbst eine hervorragende Stellung im deutschen Eisenbahnwesen erwerben und mir die Brücke zu einem Ein tritt in den Reichstag bauen. Voraussetzung der Annahme dieses Vor schlages ist allerdings meine Pensionierung, ich habe mich deshalb nicht definitiv erklären können, während man von feiten des Ausschusses nicht zurücktreten wird, da mich alle Mitglieder fast persönlich kennen, und eine andere durch ihre Vorkenntnisse gleich geeignete Persönlichkeit nicht existiert. Jeden Tag erwarte ich, daß die Frage meines Eintritts in das Direktorium in einer Weise angeregt wird, welche eine definitive Ent scheidung herbeiführt, aber es kommt immer noch nicht. Nächste Woche hoffe ich doch einen Tag für Sie herauszufinden; morgen abend werde ich suchen in dem Klub zu sein, für den Fall, daß Ihr Bruder kommen sollte. Grüßen Sie die Ihrigen, namentlich die Mutter vielmals. Da ich morgen nicht komme, hoffe ich zum Sonntag schreiben zu können.
Ihr
K. S.
Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum (kleines Laus). 29. Oktober 1870.
Gestern abend hörte ich indirekt, daß Ihr Lerr Kollege S. versetzt wäre, da dachte ich mir gleich, daß Sie nun viel zu tun hätten und nicht kommen würden. Diese Zeit ist wahrhaft qualvoll für Sie, es gehört eine Selbstbeherrschung dazu, wie Sie sie ausnahmsweise besitzen, um nicht krank oder toll zu werden bei einem solchen Provisorium. Aber um so erfreulicher hat es für Sie sein müssen, daß sich in Berlin für Sie neue und ehrenvolle Aussichten boten zu einer Tätigkeit, die Sie doch in Ver-
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bindung mit der Eisenbahnarbeit hält. Natürlich ist auf meine Gefühle nichts zu geben; aber ich habe so entschieden in mir den Wunsch gehabt^ Sie möchten in der Eisenbahnlaufbahn bleiben oder doch wieder in die selbe eintreten, selbst wenn Sie dadurch weiter von mir entfernt würden; ich kann mir es gar nicht anders denken, als daß Sie noch Früchte von den ernsten Arbeiten, die Sie in diesem Zweige gemacht haben, ernten. Wie mag es nun noch werden? Sie können denken, daß diese Frage mich viel und lebhaft beschäftigt, es hängt ja so viel für den innern Frie den des Menschen davon ab, wo und mit wem und was er arbeitet. Daß Sie für Ihre Person gleichgültig sind, ob Sie viel oder wenig Geld be kommen, finde ich sehr natürlich bei der ganzen Art und Weise Ihres Seins; aber, wenn man mit der Realisierung seiner Ideen vorwärts gehen möchte, so sind Rang und Geld ein Wesentliches. Nicht in bezug aus die innere Wirksamkeit, aber in Rücksicht aufNesultate nach außen; materielle Mittel erleichtern dem Menschen die Arbeit, und man soll sie nicht unterschätzen. Der Weg, den Sie und ich verfolgen, ist kein ebener, leichter; es ist so wahr, was Sie mir einmal schrieben, daß die Verwirklichung von Idealen aus der Ferne viel schöner aussieht, als es in Wirklichkeit sei. Ich möchte den Gedanken gar nicht, daß Sie nun irgendein Beamter in dem kleinen, wenig rührigen Lerzogtum würden und ertrug ihn nur als Mittel zum Zweck, Ihnen innere Muße zu verschaffen. Nun, wie es auch kommen mag, ich habe das feste Zutrauen zu Ihnen, daß Sie^ soweit das dem Menschen möglich ist, das Rechte für sich zu wählen, das tun werden. Anter dem Worte „das Rechte" meine ich natürlich, das für Ihre Individualität Entsprechende, das auch zu gleich Mittel wird, Ihren höheren Zwecken zu dienen. Vor allen Dingen bitte ich Sie darum, für die Entwicklung Ihres innern Wesens zu sorgen; das scheint wie Egoismus, ist es aber nicht; gerade Sie werden um so vollkräftiger wieder für das Allgemeine leben, wenn Sie einmal den besonderen, persönlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. Nicht wahr. Sie schreiben mir, wenn auch nur in kurzen Notizen, wie die Sachen verlaufen und sich entwickeln und kommen Sie nicht, wenn es nicht gut paffen will. Ich kann meine körperliche Widerstandskraft nicht auf den alten Standpunkt bringen, aber mit meinen Arbeiten bin ich zufrieden. Leben Sie wohlTGötfhelfe Ihntzn, das Rechte zu finden. Mit herzlichem Gruße 55. B.
Korrespondenz zwischen L>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 473 Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 27. Dezember 1870.
Also Neigung zur Grausamkeit*) ist der Äauptzug meines Charak ters? Ich glaube, trotz Ihrer psychologischen Studien haben Sie sich geirrt .... Daß ich etwas hart bin, weniger von Naturell als durch meine Entwicklung, will ich nicht leugnen .... Ich bin weit entfernt davon, meine Lärte für eine Vollkommenheit zu halten und ich strebe danach, mich von ihr zu befreien, d. h. da, wo sie nicht hingehört, aber ganz leicht ist es nicht. Geändert habe ich mich schon und zunächst durch Sie. Ich wehre mich also Wir lernen beide voneinander; Sie machen mich frei von all dem Schmutze, den ein praktisches Leben, mag man es noch so ideal auffassen wollen, auf uns häuft, und ich flöße Ihnen etwas von meinerRuhe, und, soweit es nötig ist, von meiner Verachtung der Menschen ein. Nun soll ich Ihnen auf zwei Fragen antworten: 1. ob ich mich erkältet habe am Sonnabend, 2. ob ich meine Eisenbahnangelegenheit zur Zufriedenheit geordnet habe. Auf die erste antworte ich nein, auf die zweite ja, sofern es sich auf die braunschweigische Eisenbahn bezieht. Ich werde am 1. Januar pensionrert, das Dekret ist schon längst ausgefertigt. Inzwischen habe ich mein Pensionsdekret erhalten und bin wohl zufrieden damit, materiell, weil es mir augenblicklich mein jetziges Ein kommen läßt und mich frei macht, formell, weil es so rücksichtslos gefaßt ist, daß ich nicht die leiseste Anwandlung von Dankbarkeit gegen meine Vorgesetzten haben kann Die Eisenbahnangelegenheit, die ich in Berlin habe, wird erst näch stens entschieden, d. h. der Form nach, denn der Sache nach ist sie fertig. Ich übernehme die Geschäfte, welche ich Ihnen früher bezeichnet habe, was ich aber aus der Stellung machen kann — die ich ganz neu schaffen muß — das wird die Zeit lehren. Dümmer werde ich dadurch nicht, darum kann ich die Mühe jedenfalls, selbst, wenn sie keinen großen pekuniären Gewinn bringt, übernehmen. Meine Zeit denke ich mir vor läufig so einzuteilen, daß ich die Morgenstunden zum Lernen (zunächst Jurisprudenz, Nationalökonomie, Eisenbahnwesen, Erziehung), die Nachmittagsstunden zur Erledigung meiner Korrespondenz, kleinerer *) Der Schreiber war während der Festtage nicht nach Neu-Watzum gekommen, weil er eine größere Arbeit während der Weihnachtstage 1870 fertigstellen wollte.
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geschäftlicher Arbeiten, den Abend zur Produktion resp, zu größern Arbeiten benutze. Der Entschluß, in das große Laus zurückzukehren, wird für Se schwer sein, aber ich erkenne seine Notwendigkeit an; halb kann man en solches Geschäft, wie die Beaufsichügung einer Pension, nicht tun. ?n der Zeit bis Ostern werden Sie wenig Zeit zum Arbeiten haben, wem Sie die drei Dinge, die Ihnen obliegen, Leitung der Pension, Unter richten der Lehrerinnen und Leitung des Kindergartens ordentlich machen wollen. Ihre Kraft müssen Sie aber schonen, denn Sie müssm die großen Ideen, die Sie gefunden haben, noch verwirklichen, und dazu gehört Gesundheit; vielleicht tun Sie es auch wohl einem Freunde zuliebe. Was Sie Ostern beginnen wollen, muß zeitig vorher feststehen und darf nicht wieder etwas Laibes sein. Bleiben Sie in Neu-Watzum — und wenn es irgend geht, möchte ich dies vorziehen — so muß Ostern die Trennung von der Pension erfolgt sein, so daß darin nichts mehr zu ändern ist, wenn auch das Neue noch nicht vollendet sein kann. Was besser ist, lassen Sie uns reiflich überlegen, wenn ich irgend kann, komme ich zu dem Zwecke, d. h. zu der ernsten Überlegung mit Ihnen. Was Sie von den Menschen sagen, die sich um uns bekümmern, so bin ich übrigens ganz Ihrer Ansicht; sie werden bald einen andern Stoff für ihr Geschwätz finden und uns nicht mehr belästigen. Wir wollen und werden einander treu sein, werden uns gegenseitig helfen zu eigener Freude und eigenem aber auch zu anderem Nutzen. Wir wollen zusammen arbeiten und uns die Arbeit einander dadurch erleichtern, daß jeder nicht nur der Lilfe, sondern auch der Liebe des andern sicher ist. So lassen Sie uns im neuen Jahre mit Mut und Leiterkeit an die uns bevorstehende Arbeit gehen. Sie an die Grundlegung Ihrer in ganz neuem Geiste gedachten Fröbel-Ideen, ich an die Vertie fung meiner Kenntnisse und die Vorbereitung einer späteren, größeren Laufbahn. Ein Larmonium will ich mir aber nicht anschaffen, und Flöte will ich auch nicht spielen, obwohl Sie letzteres so sehr wünschen, aber ich möchte mich wohl mit einem Zweige der Naturwissenschaft oder mit einem Teile der Kunst näher befassen. Für das erste habe ich mehr Nei gung, schon weil es mich wieder in die Natur hinausfuhrt und weil ich glaube, daß ich ziemlich bald so viel lernen kann, um Freude daran zu haben. Überlegen Sie doch, welchen Zweig der Naturwissenschaft Sie im Fröbelschen Sinne für den wichtigsten halten, oder, womit ich Ihnen
Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 47 5 am meisten helfen kann. Laben Sie nicht etwas über Ihre Exkursion zur Tanne mit dem Kindergarten ausgeschrieben? Ich möchte es so gern haben und die Erlaubnis dazu, es mit dem Leern E. zu besprechen und es ihm zu zeigen, wenn ich es sür passend halte. Es freut mich, daß Sie von den Eltern der Kindergartenkinder Anerkennung finden, darf ich nun einmal den Kindergarten besuchen? Vielleicht werde ich dadurch weniger grausam. Aber sehen Sie, es wäre wahrscheinlich von den Eltern Anterstühung zu erwarten, wenn Sie eine Elementarschule an legen wollten, und wenn Sie mit Ihnen noch mehr verkehren, so gewin nen Sie sie immer mehr. Glauben Sie nur nicht, daß Ihre Art aristo kratischen Wesens hinderlich ist; wahre Aristokratie, wenn sie von Ler-zensgüte begleitet ist, gewinnt die Menschen viel mehr und viel dauernder als das Lerabsteigen zu dem Standpunkte der Menge. Leben Sie wohl, und um das alles zu können, schonen Sie mir zuliebe Ihre Gesundheit.
Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 31.Dezember 1870. Leute schreibe ich Ihnen als aktiver Staatsdiener, denn noch hat man uns nicht aus dem Tempel hinausgejagt, aber in wenigen Stunden habe ich Abschied genonrmen von einer zehnjährigen Tätigkeit, die mir trotz vieler Unannehmlichkeiten doch im ganzen Freude gemacht hat. Der Entschluß dazu war kein leichter, jetzt habe ich mich aber so vollstän dig hineingefunden, daß ich kaum noch an Gegenwart und Vergangen heit, sondern fast nur noch an die Zukunft denke, und nun mit aller Ruhe das Fazit dieser zehn Jahre ziehe, daß sie mir viel genützt haben, wenn ich verstehe, das in dieser Zeit Begonnene und Erlebte zu ver werten. Mit ftischem Mut will ich ein neues Leben beginnen, will von neuem lernen, damit ich demnächst zu meinem und der Menschheit Segen wirken kann. Wie wunderbar trifft auch hier unsere Entwicklung zusammen! Fast gleichzeitig entschließen wir uns zu einer Änderung unserer bisherigen
Tätigkeit, beide ausgehend von einer in den Grundlagen gemeinsamen Anschauung des Lebens und der Ziele derMenschheit,und unserWirken so zu gestalten, daß wir uns gegenseitig zu helfen vermögen. Beide wissen wir wohl, was wir wollen, aber beide haben wir die Form, in welcher es auszuführen ist, noch nicht ganz bestimmt. Das Jahr, in das wir jetzt Eintreten, soll und wird uns auch hierin Bestimmtheit, wird uns (lassen
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Sie uns es hoffen) der Erreichung unserer Zwecke näher bringen. Wav das vergangene Jahr eine Zeit des Suchens nach dem Ziele, so wollen wir in dem neuen, da wir es jetzt gefunden haben, ihm rüstig entgegen streben. And lassen wir es uns in der freudigen Gewißheit tun, daß nicht nur gemeinsames Streben, daß uns eine wahre, innige Freundschaft fest verbindet, und daß sie uns helfen wird, wo der einzelne sich zu schwach suhlt in dem Treiben des Lebens. So wollen wir mit frohem Mute das neue Jahr beginnen, und alle Beschwerden, allen Kummer, welchen es uns bringen mag, gemeinsam und darum um so leichter tragen. Bald bekomme ich auch von Ihnen einen Brief, in welchem Sie lnir hoffentlich melden, daß Ihr Rheumatismus Sie nicht mehr plagt. Lassen Sie diesen ungebetenen Gast mit so manchen anderen Sorgen im alten Jahre zurück! And nicht wahr. Sie werden im neuen Jahre recht vorsichtig mit Ihrer Gesundheit, ich will auch dafür in jeder Be ziehung ordentlich werden und will suchen, meine „Grausamkeit" (die ich Ihnen aber doch nicht als solche zugebe) abzulegen. Den Ihrigen bitte ich meinen herzlichen Glückwunsch zum neuen Jahre zu sagen. Ihrer lieben Mutter wünschen Sie in meinemNamen, daß wir bald Erich wieder unter uns haben. Dann zanken wir uns ge wiß nicht mehr über Politik, weil dann das Mitleid mit dem furchtbaren Leiden der Besiegten die Oberhand gewinnt über die gerechte Erbitte rung gegen die frivolen Erreger, und die durch sie hervorgerufene, un nötige Grausamkeit des Krieges. Von morgen beginnt mein neues Leben, und morgen früh ist das Studium der Erziehung an der Reihe; ich werde dann Ihre Ausarbei tungen studieren und mir die nötigen Notizen für mich, und wenn sich die Gelegenheit zeigt, auch Bemerkungen für Sie machen. Die Äefte werden Sie rechtzeitig zurückerhalten. Leben Sie wohl, bis ich Sie hoffentlich bald wiedersehe, und begin nen Sie das neue Jahr froh und mit einer fteundlichen Erinnerung an Ihren treuesten Freund K. S. Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 2. Januar 1871. Gestern äußerten Mutter und Anna beide den Wunsch, Sie möch ten gemeinsam mit uns eine Beratung über die zukünftige Gestaltung der Pension und meiner Stellung zu derselben halten, ich meinte aber.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K.Schrader bis 1872. 477 Sie würden nur dann gern kommen, wenn die Mutter Sie aufforderte, denn ich kenne Ihre große Zurückhaltung und Diskretion. Es freute mich so, daß Anna gern einmal mit Ihnen sprechen wollte, ich wünsche so, daß sie Ihnen näher tritt, denn ich liebe sie alle, ja, so sehr, dann könnte ich nichts tun ohne Sie, aber ebensowenig könnte ich es leicht er tragen, wenn unsere Freundschaft mich isolierte von den Meinen, und das tut sie auch nicht, je mehr Sie die Meinen kennen, oder vielmehr, je mehr Sie sich gegenseitig kennenlernen; aber Sie, die Mutter und Anna sind so zurückhaltende Naturen, und man muß dem Dinge Zeit lassen. Ich hatte so gewünscht, daß Anna sich verheiraten würde, und es schien auch so, aber es wird doch nichts werden; ich erzähle Ihnen gelegentlich die Sache. Es gibt so eigene Dinge, die sich zwischen das Glück zweier Menschen stellen; ich bin so fest überzeugt, daß Anna mit dem bestimmtenManne glücklich geworden wäre. Ich habe wieder so viel zärtliche Liebe von der Mutter und auch Anna erfahren, auch Karl und Luischen sind so nett. Ich glaube, die beiden ersten würden doch sehr leiden, wenn ich einer unbestimmten Zukunft entgegenginge, und obwohl niemand hier, auch meine Mutter nicht, den einen Punkt, meine leiden schaftliche Liebe zur Fröbelei versteht, so sind sie doch alle eben gute Menschen — und meine Mutter ist noch mehr, sie ist eine unzerstückt treue Mutter, so daß die rein menschlichen Bande, die mich hier fesseln, so gewaltig sind. Ich denke, ich sollte versuchen, hier meine Pläne auszuführen; aber mit so wenig Kostenaufwand als möglich, damit ich im Fall eines Mißlingens hier nicht durch pekuniäre Opfer an die Pension gefesselt bin. Sind Sie eigentlich praktisch in Geldgeschäften? Ich glaube es nicht. Sie haben nie die Erfahrung gemacht, arm zu sein, aber ich weiß, was es heißt. Jetzt erst verstehe ich meinen guten, seligen Vater in seiner Sorge, die ich so oft für kleinlich hielt, in seiner Liebe zur Mutter, der er unter allen Umständen ein kleines Kapital sichern wollte, was sie selbst mehr als einmal für uns hingeben wollte, um sehnliche Wünsche zu erfüllen. 55ätten wir die Pension nicht gehabt, so hätte das kleine Ka pital für Adolf und Erich geopfert werden müssen, und es hätte vielleicht nicht gereicht, damit sie ihre Studien vollendeten .... Man gebraucht zum idealsten Zweck doch die materiellen Mittel .... Die Mutter mahnt mich zum Aufhören; es ist so traurig, daß diese rheumatische Ge schichte so langweilig ist, ich darf nicht daran denken, Donnerstag Stun den zu geben, aber nach Tränen, Sorgen und Traurigkeit komme ich ins Stadium der Geduld
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Braunschweig. 17. Januar 1871. Als ich Sie Freitag verließ, hatte ich schon das Gefühl, daß es für Sie nicht an der Zeit sei, Pläne zu machen, und was Sie mir schreiben, macht es mir vollständig gewiß. Sie sind gerade in einer Zeit zur klaren Erkenntnis dessen gekommen, was sür die Frauenerziehung zu tun, und welches das Ihnen durch Ihre Begabung für dieselbe zugewiesene Wirken sei, in welcher Sie zu ruhiger Schätzung Ihrer Kraft nicht imstande waren. Früher konnten Sie sich begnügen, die leitenden Gedanken über das zu geben, was Sie ausgeführt haben wollten, weil Sie in bezug auf die Ausübung sich auf zuverlässige, Ihre Ideen verstehende und befolgende Lilfe stützen konn ten. Der Tod und Entfremdung haben die Verhältnisse verändert, und Sie sahen sich vor die Notwendigkeit gestellt, das, was Sie wollten, auch selbst in allen Einzelheiten durchzuführen. Dabei mußten Sie aber zu gleich die Erfahrung machen, daß es ein anderes ist, die Grundideen zu verstehen und ein anderes, sie in allen Einzelheiten durchzuführen; daß das letzte nicht bloß verstanden, sondern geübt sein will. Dieser ersten Entdeckung folgte bald die zweite, nämlich, daß Ihr Wissen in manchen Dingen noch unzulänglich sei; auch das hatte hauptsächlich darin seinen Grund, daß gerade das, was Ihnen fehlte, andere, die Ihnen geholfen, besessen hatten. Aber trotz körperlichen Anwohlseins machen Sie fortwährendPläne zur Verwirklichung Ihrer Idee, arbeiten Sie mit Eifer an der Aus füllung der Lücken in Ihrem Können und Wissen. Jetzt sehe ich klar, wohin diese fortwährende Äberanstrengung und Aufregung führen mußte, und ich sehe ein, daß ich mehr als ich getan. Ihnen hätte zureden sollen, einen andern Weg zu verfolgen. Ich habe das Maß Ihrer Kraft über- und in noch höherem Maße die Ihnen durch die Pension täglich obliegende Arbeit unterschätzt. Sie machten Pläne mit allem Feuer einer Gesunden, und, wenn Sie an die Ausführung gehen oder sie vorbereiten wollten, dann fühlten Sie, daß Ihre Kraft in dem Augenblicke des Versuches nicht ausreichte. Statt, wie es recht war, sich klarzumachen, daß dies ein vorübergehender Zustand sei und statt, wie Sie nach ruhiger Überlegung zu finden glaub
ten, daß Sie einer längeren Vorbereitung zu der Ausführung Ihrer Pläne bedurften, sich die dazu erforderliche Zeit ruhig zu nehmen.
Korrespondenz zwilchen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 479 schoben Sie das, was in den Verhältnissen lag, auf eigene Versäumnis. Sie sagten sich, wenn Sie Ihre ftüheren Jahre so angewendet hätten, wie Sie jetzt möchten, dann manche Vorbereitung schon gemacht sein würde. Sie klagen sich selbst bitter an, weil Sie glauben, Ihre Pflicht nicht im vollen Maße früher getan zu haben. Ich will glauben, daß Sie früher mehr arbeiten und leisten konnten, aber ich meine auch, daß Sie sich weitaus zu bittere Vorwürfe darüber machen, weil Sie in Ihrer Ver stimmung das, was Sie geschafft und was Sie sich geistig erworben haben, nicht genügend würdigen. Schon früher habe ich Ihnen gesagt, wie viel mehr Sie zur Aus führung Ihrer Ideen schon an Fähigkeit besitzen, als was Sie noch zu erwerben haben. Was Ihnen noch fehlen mag, sind einige, in verhält nismäßig kurzer Zeit zu erwerbende Kenntnisse; den unendlich wich tigeren Teil besitzen Sie jetzt schon in weit reicherem Maße, als die aller meisten Personen, welche an ähnliche Aufgaben herantreten. Wie Sie sich selbst jetzt unterschätzen, habe ich recht daran gesehen, daß Sie nach zwei, in ungünstiger Zeit gemachten Versuchen schrift stellerischer Arbeit glauben, daß es Ihnen überhaupt an Fähigkeit dazu fehle. DerVersuch im Schriftstellern, den Sie gemacht haben, war gerade ein Programm eines neuen Anternehmens, und es war gerade hierbei vorzüglich nötig, Rücksicht auf das Publikum zu nehmen. Meine Aus stellungen bezogen sich gerade darauf, daß dies in der Begeisterung des Schreibens nicht genügsam geschehen war. Nichts kann leichter nachgeholt werden, nichts lernt sich leichter als diese Rücksichtsnahme. Dieser Mangel ist ein ganz untergeordneter, und ich bin fest überzeugt, daß Sie mit großer Wirksamkeit schriftstellern können, wenn nicht eine andere Tätigkeit Sie davon zurückhält. Wenn ich glaube, daß Sie in Ihrev gegenwärtigen Stimmung Ihre Fähigkeiten unterschätzen, so will ich Sie in Ihrem Entschluß nicht wankend machen; nur dagegen möchte ich reden, daß Sie das Erworbene zu gering anschlagen. And wenn Sie das Fehlende sich angeeignet haben, zur Ausführung Ihrer größeren Idee, dann wird sich auch ein Weg gefunden haben, alle Ihre Pflichten richtig zu vereinigen. Darum seien Sie frohen Mutes auch für die Zukunft, und sollten Sie bei Ihren Fröbelplänen später auf solche Linderniffe stoßen, daß ihre Ausführung unterbleiben müßte — was anzunehmen aber gar kein Grund vorliegt — so bedenken Sie, daß Sie in der neuen Weiter bildung Ihres Wesens selbst schon ein großes Gut erworben haben, das die manchen vorausgegangenen inneren Kämpfe wohl wert ist.
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Deshalb tun Sie Ihre Arbeit, aber auch mit aller Ruhe, mit welcher man ein gutes, freudig übernommenes Werk tun soll; streifen Sie die fieberhafte Angeduld ab, mit welcher Sie in der letzten Zeit an alles ee-gangen sind, und verachten Sie nicht, vernachlässigen Sie nicht, was Lie früher erworben. Freuen Sie sich, daß Sie imstande sind, voller als andere das Schöne des Lebens zu genießen, und genießen Sie es auch. Dann wird sich Ihre Gesundheit schnell wieder kräftigen, und Sie werden schneller als bei der größten Eile das, was Sie wollen, erreichenAnd lassen Sie mich, soviel ich kann. Sie dabei unterstützen, das Recht, sich gegenseitig zu helfen, ist ja das schönste Recht der Freunde. Ohne es bestimmt zu beabsichtigen vielleicht, haben Sie mir schon viel geholfen, und ich bin überzeugt, daß auch einst die Reihe an mich kommen wird, von meinem Rechte, von Ihnen Äilfe zu fordern, einen größeren Gebrauch zu machen. Das nächste praktische Resultat scheint mir nun zu sein, daß die letzt gemachten Pläne für Ostern vorläufig aufgeschoben sind, und daß weiterer Erwägung vorbehalten bleibt, wie und wann sie ausgesührt werden, und daß auch andere Dinge, z. B. unser religiöser Verein neu erwogen werden. Jetzt muß Plan und Ziel und Tätigkeit für alle unsere Bestrebungen klarer festgestellt werden, und ich halte es für ganz richtig, daß Sie bis auf weiteres mehr als passive, de:rn als aktive Teilnehmerin gerechnet sein wollen. Schon deshalb möchte ich, daß die nächste Zu sammenkunft mit L. Becker erst in der folgenden Woche stattfindet. Ich würde schwerlich kommen können, da große Durchzüge von Franzosen von morgen ab beginnen, und ich am Freitag bekanntlich bei den Zügen Dienst habe. Äalten Sie es für gut, so lassen Sie 55. Becker abschreiben, ich werde mich dann über die künftigen Pläne mit ihm zunächst schriftlich in Verbindung setzen. Morgen komme ich, aber vielleicht etwas später. Leben Sie recht wohl, und seien Sie guten Mutes. Mit herzlichsten Grüßen Ihr K. S. Laben Sie sich wieder erkältet? Dann wehe Ihnen!
Lenriette Breymann an Mary Lyschinska. Neu--Watzum. 6. Februar 1871. Wenn die Mutter nicht heute vor acht Tagen lotkrank geworden (an einem entzündlichen Brustkatarrh und Luströhrenentzündung), so hättest Du ... schon wieder einen Brief von mir bekommen. Ach Mary^
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 481
welche Angst, welche Sorgen haben wir gehabt, und kaum sind dieselben von uns genommen, die Krisis ist überstanden, nun kommt die Mutter in das Stadium großer Mattigkeit, aber der Doktor sagt, sie wird es über winden. Wohl wird sie in wenig Wochen 70 Jahre, aber ihre Natur ist
normal und elastisch. Ans sucht das Leben ost schwer heim, und doch meine ich, nachdem
die Angst um Mutters Leben von mir gewichen ist, es sei alles schön und herrlich um mich her; es ist wie ein Jubeln in der Seele über ein großes, herrliches Geschenk.
Gestern war der Assessor eine Stunde hier, zum zweiten Male seit Mutters Krankheit, sich nach ihr zu erkundigen; das erstemal stand es
'schlimm, und er war so traurig, gestern waren wir so vergnügt I Wie
schön ist unsere deutsche Sprache: Teil-nahme, was drückt dieses Wort
nicht alles aus! und ich habe den Sinn in seiner vollendeten Schönheit durch den Assessor erfahren. Ernennt sich kalt und hart, und ich habe ihn stellenweise dafür gehalten; aber er ist es nicht, er hat nur kalte
Gewohnheiten; er war so einsam mit einem so tief und sein fühlenden
Äerzen, mit einem so idealen Sinne, und so legte sich eine Kruste um
sein Inneres. Wenig, sehr wenig Menschen können teilnehmen, dazu gehört eine
gewisse Tiefe der Empfindung, deren wenige fähig sind. O Mary, ich
möchte ihn einmal in den Arm nehmen und an mein Lerz drücken, so lieb habe ich ihn. Ob Du ihn möchtest? Ich glaube, zuerst würdest Du
Dir nichts aus ihm machen; er ist entsetzlich verschlossen und zurückhal tend und sieht rücht sehr großartig aus, eher ein bißchen schlau. And wenn er einmal einen Strahl seines tiefen Gefühles aus dem Lerzen entläßt,
so scheint er sich förmlich über sich selbst zu erschrecken, aber ich halte diesen Strahl fest. Er schrieb mir neulich, er fühle seine Lärte schmelzen, und das
bewirke nur ich. Der Welt, was man die Welt nennt, gegenüber ist er stolz und Gott gegenüber so bescheiden, fast zu bescheiden. Ich fürchte auch immer, er überschätzt mich, er hält mich für was Besonderes, und das
bin ich eigentlich nicht, nur was Ordentliches. Er meint, ich bedürfe seiner
nicht so zu meiner Entwicklung, wie er meiner — ach, er weiß nicht, wie ich mich innerlich umgestalte I
Doch Mary, ich will dies Kapitel schließen, aber ich habe ihn durch seine Art und Weise in Mutters Krankheit noch so anders lieb gewonnen
als früher, und es quillt diese Liebe in meiner Seele wie ein befeuchtender, erquicklicher Quell, und da ich Dir schreibe, so mußte ich es Dir sagen. Lhschinska, Henriette Schrader l.
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Kapitel 18:
Lebe wohl, ach komme nächsten Sommer, o komme, ich muß Dich einmal wieder Äerz am Kerzen fühlen.
Wie immer Deine treue Kenriette. Kenriette Breymann an dieselbe.
Neu-Watzum. Februar 1871.
. ... Zu meiner Hochzeit soll ich Dich einladen, sagst Du? Ja, liebe Mary, ob dieselbe jemals stattfinden wird, das glaube ich nicht. Ich sage nicht nein, nicht ja; ich überlasse unser schönes, wunderschönes Verhältnis ruhig dem Gange der Entwicklung. Mir ist es so klar, daß ich alles für ihn tun könnte, was ihn glücklich machte, und darum ist mir jede Form unseres Verhältnisses recht, die ihm die liebste ist, denn jede wird in sich rein und edel sein, wie er selbst. Die Liebe ist der Wendepunkt im weiblichen Leben, weil es bei ihr, bei uns vor allem auf das G lück des andern ankommt, und das, was den andern beglückt, hängt von seinem Sein und Wesen ab. Ich wiederhole, wäre ich 10 bis 20 Jahre jünger, als ich bin, so könnte ein solches Verhältnis wie meines zu ihm nicht stattfinden, denn die Jugend verlangt bei einer Liebe, wie ich für ihn fühle, auch den Besitz; ich würde nicht diese große geistige Freiheit mit derMacht der Liebe zugleich empfinden können, wie es jetzt ist. Darum sage man mir nichts aufs Alter, nur sei man natürlich und habe Gott vor Augen und im Herzen; so ist jede Stufe schön. Auch die Leidenschaft der Jugend, die das Herz bewegt, hat ihre wunderbare Schönheit; die Anruhe ohne Berechtigung und die heißeste, leidenschaftlichste Liebe, wenn sie wahr empfunden ist, birgt eine echte Perle auf ihrem Grunde. Ach, wie sind die Menschen verrückt und voll Annatur, wie kann man es als eine Schwäche bezeichnen, was ein Naturgesetz ist, daß es das Weib zum Manne, den Mann zum Weibe zieht I Die Schwäche liegt in der Art und Weise des Verkehrs, nicht in der Sehnsucht nach Verkehr. Aber, weil die Menschen einerseits so roh sinnlich sind, so müssen sie um so zimperlich unnatürlicher anderseits sein, und die Natur verstecken unter der Lüge. Die Besserung derMutter schreitet so erwünscht als möglich weiter, und es ist eine Welt voll Glückseligkeit, das kleine Haus, das Zimmer, welches uns das teure Leben meiner Mutter birgt. Erich geht es auch gut. Zuletzt stand er bei Le Mans; er hat den
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 483 Zug von Metz nach Chantillon, Vendome und Le Mans mitgemacht und war oft in großer Lebensgefahr; jetzt ist er vergnügt, ja, er kann sogar etwas Geld sparen; er liegt bei einem alten, reichen Ehepaare in Quartier, die ihn sehr nett behandeln.
Lenriette Breymann an Karl Schrader.
Neu-Watzum. 3. Oktober 1871. Sie haben es so richtig erfaßt, was ich will: EinenMittelpunkt, wo die neue Zeit — nennen Sie sie Fröbel-Krausisch oder wie Sie wollen — gelebt wird. Ich bleibe dabei: Wenn Sie wollen, daß die Ideen von Staat und Kirche und vom höheren sozialen Leben Wirklichkeit werden sollen, aber tiefe, wahre Wirklichkeit, so müssen Sie die Frauen dafür bilden. Ich begreife nicht, daß wir so wenig aus derGeschichte lernen, in bezug auf Tüchtigkeit etwas zu vollbringen .... Es fehlt unserer Zeit Charakterbildung; die Menschen, die Idealität haben, kommen nicht viel weiter als zu einem Gemütsgedusel, und es ist wie ein Schrei meines Lerzens nach der Übereinstimmung im Fühlen, Denken und
handeln. Ich will die Sache im Innersten angreifen, und soweit als möglich vollständige weibliche Charaktere bilden. Charaktere bildet man nicht allein durch die Wissenschaft und ge mütliche Einwirkung, sondern ganz besonders durch das Tun. Das Feld der Arbeit und der Tat der Frau ist aber das Laus und die Kinderwelt, und deshalb muß ich einen guten Kindergarten und eine vollständige Schule haben, sonst fehlt mir das Äbungsfeld; doch wird es durch die beschränkte Zahl und durch das abgeschlossene Pensionsleben eine viel idealere Gestaltung annehmen können als im Schlosse. Ich muß dieMöglichkeit haben, die Mädchen häuslich zu bilden, wodurch ich einen Vor zug vor der Schloßanstalt habe. Ich fühle die Kraft in mir, in der tiefen Bedeutung des Wortes suchenden Frauenseelen eine geistigeMutter zu sein, unbemittelten Mäd chen ihren vielleicht aus Not gewählten Beruf zu verschönen, ihn ihnen lieb und wert zu machen. Ich weiß, daß der Mensch gut und glücklich werden kann, wenn er alle, aber auch alle seine Geistes- und Körper kräfte mit Energie ausbildet und zu einem schönen Ziele benutzt; ich weiß, daß ich einzelnen dazu helfen kann in einer Weise, daß von ihnen 31*
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Kapitel 18:
aus wieder eine stille Wirksamkeit weitergeht; aber ich brauche dazu noch mancher Äilfsmittel .... Meiner Meinung nach hat das Leben nur Frische und Freudigkeit, wenn man genau weiß, was man will, und für dieses alles einseht; aber dann ist das Leben doch schön, und dazu braucht man sich nicht zum Märtyrer zu machen; dies bestimmte Wollen und Landein kann die einfachste Familie verfolgen, wie der größte Staatsmann — es ist ja einfach nichts anders, als ein sittlicher Charakter zu sein — ein solcher war meine Marie .... ich habe sie nie tiefer betrauert als jeht. Es wird mir jeht immer begreiflicher, wie die Menschen zu der An sicht kommen, daß der Mann des Weibes Lerr sei, weil scheinbar ein Aufgeben ihrer selbst in der Ehe ein Aufgeben ihrer Interessen in die des Mannes gefordert wird, wie sie mit ihrem Namen in dem seinen ver schwindet. Aber diese Auffassung kommt von der Äußerlichkeit derMen-
schen, daß sie diese Ansicht hegten, indem derMann nach außen hin das vertretende Prinzip ist; aber wenn die Frau ein weiblicher Charakter ist, so hält sie gerade mit aller Macht das allgemeine Wahre, Schöne und Gute fest, kann es fester halten wie der Mann in ihrer geschützten Stellung, während er so hart zu kämpfen hat mit denr grob Stofflichen in der Welt, und so schafft sie die unsichtbare und doch mächtige Atmo sphäre, in der der Geist den Lauch der Sittlichkeit einatmet. Diesen Charakter braucht sie so gut in wie außer der Ehe; denn er wird sie, wo sie alleinsteht, auch mit einer Atmosphäre umgeben, die schützender wirkt als Mauern, Schloß und Riegel. Es ist ein Unterschied im Geistesleben der Geschlechter, und das Streben, ihn aufzuheben, wird die traurigsten Folgen nach sich ziehen, während man das Eigentümliche so recht entwickeln sollte; aber das hat man so gar nicht getan. Eigentümlichkeit des Weibes ist aber nicht Lilf-losigkeit und Schwäche; wohl aber tiefe Innerlichkeit, Weichheit, Bieg samkeit und Beweglichkeit. Dies äußerlich aufgefaßt und unentwickelt gelassen, entartet zur Oberflächlichkeit, Flatterhaftigkeit und Lilflosigkeit. Aber fteilich kann sie die wahre Weiblichkeit nicht entwickeln, wenn nicht zugleich die wahre Männlichkeit gebildet wird — denn was wird aus einem tatkräftigen Weibe in Amgebung von Männern, die nicht ihre Schuldigkeit tun? Lieber Karl, glauben Sie, daß ich die Mittel zusammen bekomme, das Material, welches ich gebrauche zur Verarbeitung für die Frauen bildung ? Das ist es, was ich suche, und wenn ich mich totquälte, ich kann
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 485
es nicht allein bewältigen. Ich kann den Mädchen nicht die Wissenschaft lichkeit, die Schule bieten, denn meine Kraft liegt in der Verarbeitung dieses Rohmaterials für die Frau; ich kann dieses Material mit Liebe, Wahrheit und Begeisterung durchdringen, und es so ihnen zu eigen machen. Ich fühle mich darin oft mißverstanden; bin ich vielleicht hoch mütig ? Schonen Sie mich nicht, sagen Sie mir, worin ich verfehle I
Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 9. Oktober 1871.
Fassen Sie die Sache einmal mehr objektiv I Ihre Geschwister haben kein volles Verständnis für Ihre Ideen und haben andere Interessen als Sie, aber ich bin fest überzeugt, von ihnen ist ohne zu große Schwierig keiten alles zu erreichen, was Sie wünschen, wenn man ihnen nur zeigt, daß durch Ausführung Ihrer Ideen ihre Interessen nicht geschädigt werden. So viel Interesse und Verständnis für Ihre Ziele haben sie doch, um sie für die rechten zu halten und sie selbst zu fördern, wenn es der Pension nicht schadet An Ihnen liegt es, zunächst die Verhandlungen in den Gang ruhi ger Erwägung zu bringen ohne Gereiztheit und diese Verzweifelung. Sprechen Sie mit Ihren Geschwistern zunächst; sagen Sie ihnen gerade zu, daß Sie gar nichts gegen die Pension haben, sie gar nicht in ihrem Bestände schädigen wollen; daß Ihre Pläne sie sogar noch fördern; sagen Sie, daß, wenn Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen (in billiger, ihre Anstalt nichts angehender Pension) hinzukommen, sie nur eine Ver mehrung der Einnahmen durch deren Schulgeld haben, und daß die Kosten sowohl der Schule als auch der Kindergärtnerinnen und Lehre rinnen teils durch die von ihnen gebrachte Mehreinnahme, teils dadurch, daß die neuen Lehrkräfte auch der Pension mit dienen, wieder eingebracht werden und daß Sie gern bereit sind, einen extraordinären Beitrag zu leisten. Sagen Sie ihnen geradezu, daß Sie Ihr Lebensziel in der Bildung erwachsener Frauen fänden, und daß Sie das jetzt mit Energie verfolgen müßten, am liebsten zusammen mit den Geschwistern, sonst aber allein und mit völliger Trennung von der Pension, ja selbst an einem andern Orte. Zeigen Sie dabei Ihren Geschwistern die volle Liebe, die Sie zu ihnen haben; das haben Sie Sonnabend nicht getan
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Kapitel 18:
Die Frau M. K., bei der ich gestern zu Tische gesessen habe, hat mir ihr Leid geklagt über Fräulein 21., namentlich darüber, daß sie sich so ganz und gar auf das Anterrichten der Kinder beschränke, und nie etwas anderes im Lause tun wolle, auch für die Kinder nicht. Ihre Schüle rinnen werden sich mehr im Lauswesen beschäftigen lernen späterhin. Grüßen Sie die Mutter und Mary herzlich, seien Sie ruhigen Mutes und behalten Sie lieb gßren treucn
Karl.
Karl Schrader an Lenriette Breymann.
Braunschweig. 9.Dezember 1871. Was ich Ihnen, liebe Lenriette, neulich geschrieben hatte, war, glaube ich, lückenhaft, ich möchte noch über unsern Leseabend und über 2ldolf etwas mehr sagen. Wenn man Adolf reden hört über Kunst, so sollte man meinen, er wäre ein Realist der schlimmsten Sorte, während er in der Tat völlig so sehr Idealist ist, als der echte Künstler sein soll. Er sucht und sieht — wie früher die griechischen Meister — das Ideale im Realen, er stellt, wie Krause sagen würde, das Göttliche in den Dingen dar, aber diese Dinge, die er darstellt, sind darum nicht weniger, sondern mehr wirklich. Darum, weil ihn seine reine, seine Natur von allem Gemeinen sernhält, und ihn alles Gewöhnliche ganz unbewußt idealisiert sehen läßt, ist er völlig sicher, nie von dem Wege wahrer Kunst abzuirren, und wenn er jetzt in Worten mehr technisches Können, Auffassen und Darstellen der Natur betont als den höheren Inhalt der Kunst, so ist dies eine ganz natürliche Oppositton gegen eine Richtung, welche sich Ideale rein ab strahierte aus ihrem Geiste, und den Boden des Realen ganz verließ. Wenn einmal das Extrem der realistischen Richtung ihm entgegentritt, so wird er sich ihm ebenso wie dem Exttem der idealistischen entgegen stellen. Ich habe eine große Achtung vor Adolf als Mann und als Künst ler, und weiß gewiß, daß er, wenn er gesund bleibt, noch Großes schaffen wird. Er ist eine so tüchtige, selbstbewußte und doch bescheidene Natur und so harmonisch, daß er auch in der Kunst, wo es doch so leicht ist, seine Kräfte falsch zu schätzen, nie Dinge, die seiner Natur nicht ent sprechen, versuchen, das Begonnene aber schön vollenden wird. Wollen und Können sind bei ihm im schönsten Einklänge.
Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 487
Wie schade, daß er nicht bei Ihnen in Neu-Wahum bleiben kann!
Sie sind beide füreinander geschaffen, um sich zu vergnügen
.....
Aber er muß fort, an einen Ort, wo er größeres wirken kann, denn er ist dazu berufen. Leute wird er hier sein, vielleicht kommt er heute abend in
den Klub.
Geht es Ihnen gut und sind Sie heiter? Sie sollten es, denn so manches Sie auch zu tragen haben an den augenNicklichen Verhält
nissen und an der Sorge für die Zukunft, so ist doch vieles gut, und Sie können hoffen, daß es immer besser wird, weil Sie selbst es werden. Bald
haben Sie das Gleichgewicht Ihrer Natur schöner wiedergefunden; denn Sie werden sich immer klarer, was Sie wollen, könne»» und sollen, und gelingt nicht alles im äußeren Leben gleich, wie wir es möchten, so zeigt
sich doch manche Blüte und Frucht, an die wir nicht gedacht hatten. Ich arbeite ganz heiteren Mutes. Ein Exemplar des Korrespondenz blattes des Erziehungsvereins werden Sie heute erhalten haben; Lohl-
feld schreibt mir, daß die Vorträge in Dresden immer mehr Beifall fin den, er stellt in Aussicht, daß er i»n Sommer seine Vorträge für den
Druck bearbeiten will. Außerdem teilt er mit, daß er an dem Landwörterbuch für den deutschen Volksschullehrer von Petzoldt »nitarbeitet,
und daß das erste Lest erschienen ist. Der Pastor Lirsche aus Larnburg ist hier. Gestern abend habe ich ihn im großen Klub flüchtig gesprochen und mich auch ein bischen mit
ihm gezankt. Auf meine Behauptung, daß hier im Schulwesen in Braun
schweig manches zu bessern sei, rühmte Lirsche Braunschweig im Ver gleich zu andern Städten; mit der Zustimmung mehrerer Anwesenden
hielt ich ihin entgegen, daß das, was geschehen sei, längst nicht genug, und daß mehr zu leisten gar nicht so schwer sei, wenn man nur guten Willen und richtiges Verständnis habe. Leider konnte das Gespräch nur ganz kurze Zeil dauern, weil Lirsche schon im Fortgehen war; vielleicht kann
heute die Unterhaltung wieder begonnen werden, was mir um so lieber
wäre, als er dem Lamburger Erziehungsvereine angehört, den für den Allgemeiaen Erziehungsverein zu gewinnen sehr wünschenswert ist.
Außerdem ist Lirsche in der Schuldeputation in Lamburg, hat also dort gewiß vick Einfluß.
Wie geht es Ihrem jüngsten Kinde Mary? Ist sie wieder gesund,
so daß sir Mittwoch Krause mit hören kann? Bei sich werden Sie sie schwerlick behalten können; sie muß zu ihren Eltern zurück Grüßen Sie Annette und Mary beide herzlich von mir
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Kapitel 18: L. Breymann an K. Schrader.
Neu-Watzum. 21. Dezember 1871.
So glücklich wie gestern bin ich nie gewesen, in meinem ganzen langen Leben nicht, und noch nie habe ich eine so schöne Sicherheit^ ein so tiefes Verbundensein mit Ihnen empfunden als seit gestern; ich bin heute nicht traurig, mein Äerz konnte sich Ihnen ganz geben, wie es ist, und ich fühlte das Ihre in meiner Seele. Immer höre ich Ihre Worte: „Vertrauen Sie mir!" und ich tue es, Karl — o wissen Sie, was es heißt, jemandem vertrauen —, ja, denn Sie vertrauen auch mir. Ich habe dieses, das Frauenherz so beruhigende Gefühl, in Ihnen einen Schutz zu haben, in Ihrem Äerzen volles, ganzes Verständnis zu finden. Llnsere Liebe steht klar in Krause geschrieben und mit dem Bewußtsein im Äerzen, in Äbereinstimmung zu sein mit den edelsten Geistern und demGeiste in der Natur wollen wir auch festhalten an einander und mit Mut die Konsequenzen tragen, die uns treffen, weil wir unsere Wege gehen, sie in Übereinstimmung zu bringen suchen mit
Gott, aber nicht uns sinnlose Gesetze diktieren lassen von einer unnatür lichen, lügenhaften Welt Wir müssen für die neue Zeit kämpfen mit Wort und Tat, mit Dulden und Ertragen; nicht nur ein rein persönliches Gefühl leitet uns in unsere Verhältnisse, sondern ein Bewußtsein, im neuen Leben zu stehen. Sowenig das Wort „Individualität" in seinem Inhalte be griffen wird, ebensowenig das Wort „Larmonie", sowohl der Geistes kräfte untereinander, als Äarmonie zwischen Geist und Sinnlichkeit; und ich glaube, darum paßt die Frau vor allen Dingen zur Erzieherin, weil ihre Land zart genug empfindet, um von vornherein die so feinen Fäden zwischen Sinnlichkeit und Geist zu weben, die diese beiden großen Faktoren des Lebens zusammenhalten. Es ist der Naturanlage des Weibes so vertraut, das Sinnliche und Geistige in schönem Zusammen hänge zu verweben, weil sie das Größte zu leisten hat im allgemein Menschlichen, während der Mann in einzelnen Richtungen seine Auf gabe findet, und es ihm daher viel leichter wird. Sinnliches und Geistiges zu trennen Glauben Sie mir, wenn wir junge Mädchen dazu erziehen, mit wirklicher Liebe ftir die Kleinen, die nicht ihr eigen sind, zu arbeiten, so erwecken wir im Weibe das instinktive Gefühl der Mütterlichkeit; sie weiß es nicht, aber dennoch liebt sie ihr künftiges Kind — o so viel
Korrespondenz zwischen 55, Breymann und K. Schrader bis 1872. 489
mehr als sich selbst, und wir können einem Weibe in allen Lagen des Lebens einen Schutzengel mitgeben, wenn sie Kinder liebt und versteht; es umgibt sie eine stille Glorie, die ganz etwas anderes ist als Anstandsund Schicklichkeitsregeln, welche wie ein übertünchtes Grab erscheinen; sie weiß es nicht und soll es gar nicht wissen, wie alles, was sie für andere Kinder tut, sich still nach innen wendet und dort, ihr selbst un geahnt, bei vollem, frischen Mädchenleben die Glorie der Mutterwürde vorbereitet, und was kann ein solches Mädchen dem Manne sein! Es ist vielleicht ein Zeichen von dem starken Egoismus meiner Natur, daß Liebe zu einer teuren Mutter, zu lieben Geschwistern und Schüle rinnen nicht in mir schaffen konnte, was Liebe zu dem geliebten Manne bewirkte. Vielleicht sind andere Frauen darin besser veranlagt, ich will mich nicht besser darstellen, als ich bin, sondern der Wahrheit die Ehre geben und sagen, daß mein Lerz der Liebe zu einem Manne be durfte, um den natürlichen Egoismus nach und nach zu lösen in ein schönes Bedürfnis der Äingabe an andere. — Ich habe dies auch vor meiner Liebe zu Ihnen empfunden, und die Sehnsucht danach gehabt; aber es beginnt jetzt erst organisch und still meine Natur zu durch brechen; und so kann ich selbst vor Gottes klarem Angesichte kein An recht in dieser Liebe und ihrer Äußerung finden; kann nichts in ihr finden, was ich meiner Stellung, meinem Berufe zu opfern schuldig wäre; um so weniger, da ich gerade meinen Beruf so innerlich erfaßt und immer Menschen bilden wollte, wie ungeschickt ich es auch oft anfing; so strebte meine Natur auch menschlich zu sein, und dem bin ich gefolgt, das ist alles I And wenn mich auch manches trifft, was schwer zu ertragen ist, so ist das nicht Folge meines Verhältnisses zu Ihnen, sondern Folgen mancher Schwächen meiner Natur überhaupt, die zu ungeduldig, un ruhig, erregbar ist; Folge von dem Widerstreben meiner Natur, sich in den Mechanismus zu bequemen, ohne welchen doch kein Idealismus gründlich in der Welt wirken kann. Ich habe auch tapfer gegen diese gekämpft und kämpfe auch weiter; diese ändern sich auch mit dem Wachstum und der Vertiefung unserer Liebe; je klarer wir beide wissen, welch eine wirkliche Stütze wir aneinander haben, desto felsenfester gründet sich unser Vertrauen ineinander und miteinander in Gott, und dies heilt von Grund aus die Anruhe hier und gibt vielleicht eine schöne Beweglichkeit dort.
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Kapitel 18:
Und so, mein lieber Karl, wollen wir miteinander ruhig die Kon sequenzen unserer Liebe tragen, mag eine Zeit schwerer Prüfung über mich Hereinbrechen. Nichts, Karl, nichts wollen wir rein äußerlich nehmen, nicht, was man ängstliche Vorsicht nennt, üben; aber wir wollen klar und klarer werden, was wir wollen, und diesem höheren Wollen, diesem innersten, göttlichen Sein wollen wir unser Leben unterordnen. Laben wir es objektiv für recht erkannt, wie wir leben, und lernen wir einander immer tiefer und inniger verstehen, so wollen wir unsern Mitmenschen und der Nachwelt durch unser Leben ein größeres Recht auf individuelle Freiheit, die Larmonie zwischen Natur und Geist, dem jedesmaligen äußern Verhältnisse angemessen er kämpfen, indem wir unser inneres Glück nicht mit Füßen treten, aber dasselbe wiederum ausstrahlen lassen in Liebe für andere. Ist das Christentum, sind Krause, Fröbel eine Wahrheit — nun wohl, Karl, so lassen Sie uns versuchen, sie zu l e b e n. Sie und ich können überhaupt nur leben, wenn wir streben, Charaktere zu sein, d. h. wenn wir Larmonie zwischen Landein, Denken und Fühlen Herstellen, eine Larmonie von Geist undNatur, den jedesmaligen Verhältnissen ange messen. And was wir fortan füreinander tun, wie wir einander stärken durch persönliches Leben und Beisammensein, durch persönliche, zärt liche, warme Liebe, wir sind nicht allein getrieben von dem Zuge unserer Lerzen; nicht nur aus dem Bedürfnis, einander der Zusammengehörig keit zu versichern; sondern wir tun es im Bewußtsein des Rechtes; im Bewußtsein, daß Gott Mann und Weib für-, nicht gegeneinander ge schaffen; füreinander in den verschiedensten Verhältnissen, und daß jedes Verhältnis zwischen Mann und Weib in sich unschuldig be schlossen und rein ist, wie Krause sich ausdrückt, wenn es seiner jedes maligen Natur gemäß ist, und jeder innern Entwicklung die äußere Form folgt, die ihr gemäß. Jedes Alter hat auch seine besonderen Grenzen und Freiheiten, die eben ganz in der Natur der Sache liegen, und die Lauptsache bei dem Verhältnis der Geschlechter ist eben die: Die Menschen erziehen zur innern Sittlichkeit und Larmonie, und dann zwei Menschen, die in sich reif und entwickelt sind, aus der Vormundschaft der Welt zu ent
lassen. Fühlen z. B. zwei Menschen, die sich innig, herzlich, aber fteundschastlich lieben, daß ihre Liebe eine andere wird, die nur in der Ehe
Korrespondenz zwischen $5» Breymann und K. Schrader bis 1872 491 ihr volles Ausleben finden kann, so werden sie entweder eine solche schließen oder alles vermeiden, was sie leidenschaftlich erregt. Ja, ich meine, es muß den Menschen gestattet sein, besonders in späteren Jahren zusammen zu leben, zu wohnen, ohne verheiratet zu sein; man muß endlich dahin kommen, den beiden Menschen vollständig Vertrauen zu schenken, ihr inneres Leben in Äarmonie mit dem äußeren zu gestalten. Doch so weit sind wir noch lange nicht, und doch glaube ich, daß mit größerer Freiheit größere Sittlichkeit einzöge. In dem Zwange, der jetzt herrscht, schleicht sich in vieles, was berechtigt ist, fast immer eine Angerechtigkeit mit ein, und dies empört und treibt die Menschen oft zu einer Leidenschaftlichkeit, die sich nie entwickelt hätte, wenn nicht der Druck den Gegendruck hervorriefe. And so Karl, wollen wir wohl anhören, „was die Leute sagen", denn „die Leute" sind auch Menschen, aber wir wollen sie allmählich erziehen zu größerer Freiheit des Geistes. Ich bin ebenfalls für einen freieren herzlichen Verkehr zwischen jungen Leuten beiderlei Geschlechts, ohne daß sie sich Äeiratsversprechen geben. Wissen Sie, mein lieber Karl, was meine Lebensaufgabe ist? Nicht absolut eine Erziehungsanstalt oder ein Institut oder irgend dergleichen zu haben, sondern ein Leben und Streben, das Arbild der Menschheit aus seiner Verzerrung mehr und mehr ans Licht zu ziehen. „Der Mensch in seinem dunkeln Drange" gilt auch von mir. Keine Stellung paßt für mich, in der ich den Krause-Fröbelschen Ideen un treu werden müßte; denn sie ermöglichen die Realisierung des Christen tums. Von vornherein lag der Keim in mir, dem Arbilde der Mensch heit zuzustreben, aber mit ihm trug meine Natur viele, viele Schwächen, die um so stärker wirkten, weil niemand mein eigentliches Wesen ver stand, niemand mich erzog. Was die Welt uns Trübes schafft, was wir in ihr bekämpfen, habe ich nicht viel davon in mir selbst? Ich weiß jetzt, daß manche Schwäche schon hinter mir liegt, und wenn mein eigent liches Wesen reiner ans Licht tritt, so verdanke ich es vor allem meiner Liebe zu Ihnen K. Schrader an L. Breymann. Braunschweig. 19. Januar 1872. Daß Sie keinen Brief heute morgen erhalten haben, daran ist Ihr Bruder Karl schuld, der gerade die Zeit mir wegnahm, als ich schreiben
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Kapitel 18:
wollte. Von Ihnen habe ich auch keinen Brief erhalten, weil Sie gestern durch andere Gedanken zu sehr in Anspruch genommen waren. Sie haben gewiß etwas Kanonenfieber gehabt, und Ihrem Lesen merkte man an, daß Sie ängstlich waren. Trotzdem haben Sie, abgesehen da von, daß Sie die Stimme zuweilen zu sehr sinken ließen, sehr gut ge lesen; ost fühlte man die Begeisterung, die Sie beim Schreiben einiger Stellen beseelt hatte, durch. Seit ich Sie das Buch*) habe lesen hören, bin ich noch mehr als vorher überzeugt, daß es auf alle, die es lesen, einen großen Eindruck machen wird. Der Gedankengang ist klar, der Ausdruck so präzis, wie man es nur wünschen kann, so daß die Schwierigkeiten des Gegen standes und der Behandlung gar nicht gefühlt werden. Ich habe die allerbeste Loffnung für den Erfolg des Buches auch in weiteren Kreisen; neugierig bitt ich, was Kohlfeld dazu sagen wird. Vielleicht bekommen Sie heute oder morgen den ersten Bogen zur Korrektur, so daß wir morgen nachmittag — wenn Sie meinen Besuch nicht abbestellen — sie zusammen machen können. Vielleicht kann ich noch einige Llrteile über Ihr Buch sagen, die ich heute wohl von andern höre. Gestern war ich sehr stolz darauf, liebste Äenriette, daß Sie mich so lieb haben; ich fühlte, wie Sie bei einigen Stellen Ihres Manuskripts beim Schreiben und beim Lesen an mich dachten, und wie sich so manches auf unsere Liebe zurückführen ließ. Nicht wahr, ich habe recht? . Behalten Sie mich ferner so lieb zunächst einmal bis morgen. Koffentlich treffe ich Sie dann von einer Sorge, die Sie gequält hatte, erleichtert und wohlauf K. Breymann an K. Schrader.
Neu-Watzum. 21. Januar 1872. Was soll ich Dir sagen, mein einziger, lieber Karl, mein Äerz ist so voll, meine Seele nur ein Glück! Ich denke nichts, ich fühle nur in Dir l Was ist das Leben so wunderbar, da arbeitet man, da müht man sich ab um die Menschen, da ringt man mit der Welt und leidet tausend Schmerzen, und dann findet man in einer Seele alles, alles, was die Welt nicht geben kann, und in ihr vergißt man sie und die Sorge um sie............
*) Grundzüge der Ideen Friedrich Fröbels, angewendet auf Kinder stube und Kindergarten. Braunschweig, Schwetschke und Sohn (Bruhn) 1872.
Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 493 Wie können die Menschen existieren ohne Liebe, Karl, ich begreife
-es nicht; aber nur, weil sie nicht wissen, was sie ist, weil sie nie das zweite, eigentliche Leben lebten, so vegetieren sie fort in dem ersten und nähren sich an armseliger Kost und bilden sich ein, glücklich zu sein. Ich denke mir den Übergang vom irdischen Leben zu einem andern Dasein
nach dem Tode wie den Schritt von einem Leben ohne Liebe ins Reich derselben, und gestern habe ich zum ersten Male die ganze Äerrlichkeil
dieses Daseins empfunden . . . Die Wirklichkeit hat mich ergriffen in ihrer ganzen Schönheit und ein Gleichgewicht in mir begründet zwischen
Sinnlichkeit und Geist, was das Löchste ist, das die menschliche Natur
erreichen kann Karl, ich glaube wir sind doch gute Menschen, sonst könnten wir
nicht so glücklich sein. Du bist auch glücklich in mir, wie ich in Dir, mich quälen keine Zweifel mehr, keine Angst erfaßt mich, daß Du mich nur
liebst, weil ich Dir mein Äerz mit seiner Liebe gezeigt; Du sagst. Du
hast mich schon so lange liebgehabt, und das muß ich doch durchgefühlt
haben, trotzdem Du eine starre Decke der Zurückhaltung und Kälte darüber breitest; aber nun ist sie geschmolzen und wollte und könnte
sie je sich wieder bilden, ich küßte sie hinweg; denn ich weiß ja mm,
welch ein tief liebendes Äerz Du hast. O, suche es nicht mehr zu ver
bergen, Karl, Gott hat uns füreinander geschaffen; wir gehören ein ander für alle Ewigkeit, diese Wahrheit ist so tief und still, und doch so
laut in meinem Äerzen. Mein ganzes Wesen wird von Dir befreit, es
ist, als wäre ich gewisser Bande los geworden und stände voll und ganz im schönen Boden der Natur, die, vom Geist geheiligt und verklärt, ihre Auferstehung feiert. Weißt Du, was es ist, sich wirklich fühlen? Ist es nicht bei Dir dasselbe, bist Du nicht vom Schein ins Sein getreten? £), zehn Vorträge wollte ich halten mit all den scheußlichen Ängsten
für einen Tag wie gestern und, Karl, wie gern will ich arbeiten, wenn ich
Dich habe, mit Dir immer tiefer eindringen ins Leben mit diesem wundervollen Verständrlis unseres Seins. O, die Menschen freveln an Gottes Güte, die die Sinnlichkeit verdammen, wo sie mit dem Geiste vermählt, das Äerz zum Äerzen zieht; da ist Gott selbst mit seiner Liebe.
Nein, ich glaube, Gott hat sie uns gegeben dem Geiste zur Stütze, denn die Zärtlichkeit gibt uns vom Wesen des andern mehr als Worte es
können, und wo die Geister so zusammengehören wie die unsrigen, da ist es eine stille, heilige Konsequenz, daß auch die „rein leibliche Liebe",
wie Krause sagt, dem Geiste seinen Körper gibt. War es nicht besser. Du
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bliebest gestern hier, als daß Du in den Landwerkerverein gingest? Karl, verachte die Natur nicht; ich will Dich nicht Deiner Pflicht ent ziehen, aber laß uns klar sehen, wo wir andern am meisten nühen. Denke an Dein fnrheres Leben, was wäre aus Dir geworden, wenn es so weiterging mit dieser Llnterdrückung Deiner Natur — nicht wahr, wir wollen Fröbelisch sein und die Vermittelung der Gegensätze suchen? Wir wollen für andere arbeiten, aber nicht die Möglichkeit von uns weisen, selbst glücklich zu sein; ich will alles tun, was Dein wirkliches Glück begründet, und wenn Du mich weit fortschicktest, und es Dir wirklich nützen könnte, so ginge ich. Willst Du es glauben, wirklich glauben, daß ich einmal einen Menschen mehr liebe als mich selbst? .... Du weißt, ich liebe Dich über alles, über diese Anstalt, über meine Familie, über alles, was ich mir denken kann, und wenn ich Dir nicht mein ganzes, ganzes Leben weihe, so ist es nicht mein persönlicher Wille, Du weißt es wohl. Ich habe meiner Natur nach das tiefste Bedürf^nis, jedem innern Zustande eine entsprechende äußere Gestaltung zm geben und finde mich schwer in unser Leben, wie es jetzt sich macht. K. Schrader an L. Breymann. Braunschweig. 25. Januar 1872.
Meine liebe Lenriette!
Zum ersten Male schreibe ich an Dich als meine liebe Braut, bie mir ganz gehören will, wie ich ihr. Wir haben gestern die Seligkeitt empfunden, die darin liegt, mit einem geliebten Menschen sich so ganz; verbunden zu wissen, verbunden in aller Lebensgemeinschaft zu ge meinsamer Verschönerung und Veredelung des Lebens. Fühlten wir: nicht beide, daß für uns, obwohl wir doch nicht tatenlos durch die Weltt gegangen sind, das wahre Leben, das nur in der vollen Gemeinschaft^ von Mann und Weib besteht, erst beginnen soll, daß wir beide vom einem Zwange erlöst werden, der unsere Naturen zusammenschnürte,, bis sie schmerzten? Wir freuen uns, nun einmal Menschen für uns^ nrchtt bloß nützliche Werkzeuge für andere sein zu können. Wenn wir uns, mehr wie es andere vermögen, versichert haltens können, daß wir einander wirklich glücklich machen können, und wennc wir deshalb mit weit mehr Mut wie andere in die Zukunft blicken kön nen, so wissen wir doch auch, daß wir sowenig wie andere ohne Prufu ng, und ohne Kummer durch das Leben gehen werden. Wir kennen bem
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Ernst des Daseins und empfinden voll, was es heißt, wenn wir uns ver sprechen, ewig einer dem andern ganz zu gehören, und Leid und Freude zusammen zu tragen. Nicht mit dem Leichtsinn der Jugend, als ge reiste Menschen, die wohl wissen, was uns das Leben bringen kann^ haben wir uns unser Wort gegeben; alle die Deinigen fühlten mit uns,, daß wir einen ernsten Schritt taten, und neben aller Freude wurden uns ernste, ja traurige Gedanken nicht erspart. Gleich vom Anbeginn müssen wir wieder nicht bloß für uns, son dern auch für andere sorgen; wir müssen ja die Verpflichtungen, die unser früheres Leben uns auferlegt hat, achten Sieh, liebe Lenriette, es ist nicht der jubelnde Rausch der Freude, wie sie andere, weniger ernste Brautleute empfinden mögen, aber es ist um so heiligere,, tiefere Wonne, die uns beseelt. Sind wir nicht wunderbar zusammen geführt und zusammengehalten trotz aller Linderniffe, die uns im Wege lagen? Sehen wir nicht jetzt, wenn wir die letzten Jahre überblicken, wir auch Traurigkeit und Schmerz dazu hat dienen müssen, uns enger zu verbinden und uns füreinander umzugestalten? Sollen wir nicht darin eine Fügung Gottes erkennen, die uns so zusammengeführt hat, und darum auch die heilige Verpflichtung, unserer Bestimmung nachzugehen? Wenn morgen kein Teeabend wäre, so käme ich; es ist aber besser, ich komme Sonnabend ... jetzt müssen wir öfter voneinander hören. Lebe wohl, liebste Äenriette, und behalte lieb Deinen, nun ganz Deinen
Karl.
Äenriette Schrader an ihre ehemaligen Pensionskinder inNeu-Watzum.
Berlin. 23. 25. Mai 1872. Meine lieben, jungen Freundinnen!
Der Schritt ist getan, ich habe ein altes Leben verlassen und bin in ein neues eingetreten; der 30. April war mein Lochzeitstag. Von diesem Tage weiß ich Euch wenig oder gar nichts zu sagen^ als daß ich von vieler Liebe Zeugnis erhielt, und mit tiefer Freude und heiligem Ernste meinem lieben Manne die Land reichte, mit dem ich schon seit Jahren in Freundschaft verbunden war, mit dem ich alle meine geistigen Interessen geteilt hatte und mich in diesen von ihm ver-
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standen fühlte, wie von niemand früher. Wir kannten einander, und so war es nicht der Lochzeitstag, welcher uns den ganzen Ernst des Schrittes den wir taten, besonders nahe gebracht hätte> der mir der Schmerz der Trennung brachte — nein, der Ernst unserer Verbindung war schon gelebt, und der Schmerz der Trennung von den Meinen, von einem Werke, an dem ich lange Jahre Mitarbeiterin gewesen, hatte sich seit meiner Verlobung still innerlich vollzogen. Andere werden es übernehmen. Euch von dem, was eine Lochzeit mit sich bringt, zu erzählen; ich rate Euch aber nur Augenzeugen zu glauben, denn die gute Stadt Wolfenbüttel hat sich allerhand Märchen erdacht .... von verschwenderischer Pracht; von alledem ist nichts wahr. Mein Mann hatte mir eine hübsche, aber an sich einfache Toilette geschenkt: Ein lila Sammetkleid und einen weißen Brüsseler Spihenschleier; ganz ohne Schmuck von Gold, Perlen oder Diamanteir war der Anzug, und meine lieben Geschwister schmückten das Laus mit Grün und Blumen; das war alles, aber die einfachsten Dinge geschmackvoll geordnet, machen oft den Eindruck von etwas Besonderem, und an die schöne Larmonie des Arrangements von Turnhalle, Eßsaal, Empfangs räumen knüpfte wohl die müßige Einbildung Wolfenbüttels das Weitere an. Es ist eine eigentümliche Erscheinung im geselligen Leben, wie die Menschen so selten sich an dem Glück anderer wirklich freuen, wie sie so selten einfach bei der Wahrheit bleiben, und wie sich das Interesse, das sie an andern nehmen, so leicht verzerrt, und sie der Individualität nicht ihr Recht lassen. Wie sie über Dinge richten, an ihnen zerren und kritteln, die sie doch nichts angehen im Grunde, und wie sie am wenigsten vertragen können, wenn man aus alle dem nichts macht, ruhig seinen eigenen Weg geht und in eigener Weise glücklich ist, ohne andere zu fragen. Das Wahre, Schöne und Gute hat nicht nur eine Form, sondern viele; wie sich das einfache Weiß in tausend Schattierungen von Farben bricht, und gerade dieMannigfaltigkeit dem Leben seinenReiz verleiht; so sollen wir auch lernen, uns am Wahren, Schönen und Guten, ja, schon am Streben danach zu erfreuen, trete es auf in welcher Form und Gestalt es wolle. Der Mensch ist ein beschränktes Wesen, er kann sich hauptsächlich nur in einem Typus ausleben; aber er kann sich unendlich bereichern in sich selbst, wenn er liebevoll auf andere eingeht und in Liebe sich das
Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 497 bei andern zu eigen macht, was er in seiner Beschränktheit nicht leben kann. Die wahre Mitfreude am Glück anderer, das wahre Mitleiden bei ihrem Leiden vervollständigt das eigene Leben und macht es reich und schön. Später. Lier wurde ich unterbrochen von dem Besuche von Agathe Toberenh, einer früheren Schülerin von mir; sie lebt hier mit ihrer Schwester, und da sie in ihrer eigenen Läuslichkeit wenig zu tun, für niemand besonders zu sorgen hat, so arbeitet sie in einem Volkskindergarten, weil sie das Bedürfnis fühlt, mehr und Ernsteres zu tun, als sich selbst zu leben. Die eine oder andere von Euch hat sie wohl ge kannt und freut sich, von ihr zu hören, daß sie frisch, wohl und heiter war; ich werde sie Sonnabend, wo mein lieber Karl zu einer Konferenz nach Magdeburg reisen muß, besuchen; mein erster Besuch in Berlin. Wir lebten bis jeht ganz still für uns, außer daß wir die Freude hatten, Adolf, Dr. Schrader und Frau und Lerrn Professor von Bar bei uns zu sehen. Sie haben unsere Läuslichkeit kennengelernt, finden unser Leben gemütlich, gar nicht wie man es sich in einem Lotel denkt; es ist auch hier anders, indem meist Leute hier logieren, welche längere Zeit in Berlin bleiben. Wir haben drei hübsche Zimmer, die Aussicht in einen Park, und somit bin ich nicht getrennt von der Natur, von Bäumen, die ich so liebe. Auch in den Zimmern ist es behaglich; ich mache morgens und abends den Tee, koche Eier usw. und besorge schon manches kleine, häusliche Geschäft, was mir ordentlich wohltuend ist. Meine Gedanken haben dabei Zeit auszuruhen, wie sie überhaupt einmal von andern. Dingen in Anspruch genommen werden, als früher. Karl spricht gern mit mir von seinen Geschäften; ich interessiere mich für dieselben und freue mich, daß ich alles verstehen, ihm in seinen Gedanken und Ar beiten folgen kann, und daß ich das Leben von einer neuen Seite kennenlerne. Er dagegen geht auf alles ein, was mich in bezug auf Erziehung beschäftigt, macht Pläne mit mir, wie wir etwas tun können, den Men schen zu helfen. Dann lesen und studieren wir manches zusammen, vor allem augenblicklich die Werke des Philosophen Krause, wozu wir be sonders in Dresden, wo wir kürzlich waren, neue Anregungen be kamen. Karl hatte dort am letzten Freitage Konferenz, wir fuhren heute vor 8 Tagen dorthin, wir hatten vorher im Lotel Bellevue Zimmer be stellt. Dort fanden wix ein schönes Bukett von Rosen, Adolfs Gabe, L y s ch i n s k a, Hmriette Schrader I.
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und auch einen Brief von Mary Lyschinska auf dem Tische; es ist so schön, wenn man an einem fremden Orte von Zeichen der Liebe be grüßt wird; man fühlt sich so heimisch. Bellevue ist ein reizendes Äotel; wir aßen abends im Glassalon, in dem man die schönste Aussicht auf die Elbe hat; ein Freund Karls, Dr. Lo hlfeld, war unser Gast, und ebendieser Mann, mit dem wir viel zusammen waren, hat uns viel Anregung und Stoff zum Denken ge geben; er ist einer der tüchtigsten Lehrer Dresdens, schon zehn Jahre an einem Realgymnasium, und feine freie Zeit wendet er zum Teil an, Frauen Vorträge zu halten, indem er in der tüchtigen geistigen Bil dung der Frau einen Äaupthebel zum Fortschritte des Menschenge schlechts sieht. Dieser Dr. Lohlfeld findet nun in Krause einen Philo sophen, der es versteht, die großen Gegensätze und Widersprüche des Lebens, die den Menschen ost packen und zersplittern, stiedlich zu ver schmelzen, und der die konzentrierten Wahrheiten des Christentums er weitert und verständlicher macht. Krause und Fröbel gehören zusam men, ersterer hat die wissenschaftliche Grundlage gegeben, Fröbel die direkte Anwendung der Gedanken auf die Erziehung kleiner Kinder. Ich habe Äohlfeld gebeten, die Krauseschen Werke oder wenigstens einiges von ihm zu bearbeiten, daß sie auch jungen, ernst denkenden Mädchen zugänglich sind, und nicht nur, wie jetzt, Männern von Fach und Wissenschaft. Am Freitage, wo mein Mann eine Konferenz hatte, führte mich Bruder Adolf in die Bildergalerie. Wir erlebten dort schöne Stunden, nahmen einige italienischeMeister durch, z.B.PaulVeronese,Correggio, Tizian, Raphael, und Adolf, der ja zwei Jahre in Italien war, er öffnete mir für manches ein Verständnis, indem er mich auf vieles auf merksam machte, was dem, der das Land nicht kennt, in welchem die Schöpfungen entstanden, leicht entgeht. Am Nachmittage fuhren wir von Dr. Kohlfeld geleitet zum Stiftungsfeste des Freimaurer-Institutts, wo eine große Mädchenpension von 70—80 Zöglingen ist; sie führten einen wunderschönen Neigen auf; der Turnlehrer war zugleich Tairzlehrer und zeigte wirklich in der Praxis, wie bei jungen Mädchen d. Breymann und K. Schrader bis 1872. 499 Sonnenuntergang entzückte uns, undNatur und Geist, den die Levren in interessanten Diskussionen entwickelten, verschmolzen zu wunder barer Schönheit ineinander. Mir traten zuweilen unwillkürlich die Tränen in die Augen; es war mir, als trieben mich die Wellen der Schönheit des Lebens so still dahin, und mit tiefem Atemzuge der Seele genoß ich das Glück, das mir durch mein neues Dasein geworden — so sicher zu ruhen in der Liebe, Treue und in dem vollen Verständnis eines andern Äerzens und im Verein mit ihm die Blumen edeln Ge nusses pflücken, die uns geboten wurden — das war volles, schönes Leben. Die Äerren aßen mit uns im Bellevue zu Abend, und da entspann sich ein lebendiger Streit zwischen Dr. Äohlfeld und mir, der bis spät hin dauerte, sich aber schließlich in Verständnis auslöste; wir stritten über die Art und Weise, durch andere Biwung der Schauspieler das Theater zu veredeln. Sonnabend machten wir noch einen Besuch bei Adolf, eine Spazierfahrt im großen Garten, aßen dort zu Mittag und fuhren dann dem lieben Neu-Watzum zu. Nur bis Dienstag konnten wir bleiben, aber die kurze Zeit unseres Dortseins war mir wie ein lieber, sanfter Kuß, so schön, so wunderschön war es dort. Ich habe nie das Glück gering geschätzt, eine geliebte Familie zu haben; aber erst jetzt empfand ich den Segen in einer neuen Verklärung; meine teure, verehrte Mutter und die lieben Schwestern und Brüder wiederzusehen, wo ich nicht mehr für immer unter ihnen weilte, wo ich zu der Liebe, die ich immer für sie gehegt, noch ein neues, reiches Liebesleben bringen konnte, war fast Seligkeit; auch mein Karl war so vergnügt, und so feierten wir ein herrliches Pfingstfest. Ich muß und darf es offen gestehen, daß durch Albertine und Werner Amsinck ein Element in die Pension gekommen ist, das ihr zum großen Segen werden kann. Karl und Luischen können sich nun ganz auf den Anterricht konzentrieren und werden die Klassen gut leiten. Albertine mit ihrer Milde, Aufopferung und Tüchtigkeit bringt so das wahre mütterliche Element, sie nimmt Anna so vieles ab, so daß ich diese viel freier und heiterer fand, und Werner ist so frisch und heiter; wir haben herzlich gelacht über seine Einfälle. Albertine und Antretle Schepel haben ihren Liebesbund von ftüher erneuert, sie sind einander viel, und das ist mir für beide eine große Freude. Annette weiß so ganz, was ich erreichen wollte mit den jungen Mädchen^ sie ist Alberüne eine Stütze, und Albertine versteht auf Annettens reiches inneres Leben ein32*
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zugehen. So wird Annette wohl vorerst in Neu-Watzum bleiben, und es ist mir für meine Schwestern und für die Pension ein Trost, wenn sie bleibt. Bei mir ist aber immer ihre Leimat; in der neuen Wohnung,, die wir zum Oktober beziehen, wird ihr Zimmer eingerichtet, sie ist mit Rücksicht auf Annettens Zusammenleben mit uns gemietet, und jeder zeit findet fie bei uns eine heimatliche Stätte. Ich freue mich recht auf meine eigene kleine Äaushaltung, Aug uste wird zu uns kommen, und dann nehmen wir noch einen Burschen. Karl hat es nicht gern, wenn ich mich selbst viel mit Einzelheitem im Lause beschäftige, aber er weiß wohl eine gute Führung desselbem zu schätzen, und die kann nur stattfinden, wenn die Frau alles versteht, und so muß ich meine Zeit zu Rate halten. Am 10 Ahr geht Karl auf das Bureau, da werde ich mit Auguste 2—3 Stunden wirtschaften und alles so einrichten, daß Karl es gemütlich findet und doch meine Gegenwart nicht entbehrt, wenn er kommt. Sein Bureau ist Askanischer Platz 7, unsere künftige Wohnung auf demselben Platze Nr. 4, ich habe dort eine schöne Aussicht ins Freie, in liebe grüne Bäume, ich hoffe alles behaglich einzurichten und werde mich'unendlich freuen, wenn Ihr mich aufsucht in meiner neuen Leimat. Leider muß ich den Sommer über noch eine Kur gebrauchen, da mein rheumatisches Leiden, wenn auch viel besser, so doch nicht geho ben ist. Wann, ist noch nicht bestimmt; der Gedanke an diese Trennung von meinem lieben Manne und meinem neuen Leben hier zieht wie ein Wol kenschatten über mein schönes, stilles Glück; ich spreche so aus voller Seele mit der Prinzessin in Taffo: „Was ich besitze, mag ich gern be wahren : DerWechsel unterhält, doch nützt er kaum." Für die Jugend ist es anders, der Drang, das Leben zu verstehen, äußert sich auf verschie dene Weise, sie liebt den Wechsel; aber im reiferen Alter, wenn man da Ar beit, Befriedigung in seinem häuslichen Leben findet, fürchtet man eher die Anterbrechung, als daß man sie willkommen heißt, auch ohne eine schmerzliche Trennung, wie sie Karl und mir bevorsteht. Wir leben hier so still und häuslich^und wissen kaum, daß wir in der Weltstadt sind. Am 2 Ahr essen wir in meines Mannes Zimmer; während der Kellner abräumt, sind wir in meiner Stube und plaudern, oder lesen Zeitungen. Gegen 4 Ahr geht Karl noch einmal zum Bureau, oder läßt sich eingegangene Arbeiten hierherbringen. Er hat es gern, wenn ich in seinem Zimmer bin, wenn er arbeitet, oft liest er mir vor, was er geschrieben, läßt mich Akten lesen und führt mich so in seine Ge-
Korrespondenz zwischen 35. Breymann und K. Schrader bis 1872. 501 schäfte ein. Gegen abend machen wir einen Spaziergang, um 1/29 trinken wir Tee, und wenn wir nichtBesuch haben, liest Karl mir noch vor, wobei ich flicke oder dergleichen. Was es in Berlin Sehenswertes gibt, sparen wir uns auf, bis wir Besuch haben; nächstens erwarten wir einen so lieben, lieben, meine geliebte Annette; Karl und ich studieren Kunstgeschichte mitBezug auf dasMuseum, um Annetten gute Führer zu sein. Auf dieseWeise haben wir selbst vielNuhen von unserm Besuch, und niemand braucht zu fürchten, daß wir uns aufopfern, wenn wir mit ihm ausgehen; wir verbinden damit unser eigenes Vergnügen. Karl fteut sich immer, daß er keine Frau hat, die noch wenig in der Welt gesehen und die nun gern von ihm ins Theater und Konzert ge führt sein möchte; er liebt die gemütliche Häuslichkeit, gemeinsame ernste Arbeit und ein ernstes, ruhiges Gespräch sowie heitere Plauderei über alles, und denn stimmen unsere Neigungen so ganz zusammen. Karl sagt oft, junge Leute sollten vor der Ehe reisen, tanzen, sich amüsieren, damit sie diese Seite des Lebens ausgelebt haben und mit der Leirat in den Lasen ruhiger, schöner Läuslichkeit einlaufen, die sich gründet auf ernste, ttchtige Arbeit. Nun habe ich Euch so viel vorgeplaudert, daß Ihr wohl ganz müde seid zu lesen, und deshalb will ich für heute Abschied nehmen, meine lieben Kinder. Ich grüße Euch herzlich und hoffe bald von jeder zu hören, an die dieses Schreiben gelangt. Lebt wohl! Eure Lenriette.
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Autobiographisches von Karl Schrader. (Ein Fragment.) ^T^^einVater Ludwig Schrader war ein angesehener Arzt inWolfen-
büttel, wo ich [am 4. April 1834] geboren und erzogen bin und das ich erst 1861 mit Braunschweig vertauscht habe. Aus früherer Ehe waren schon drei mit mir noch zusammen lebende Kinder vorhanden, von denen aber eines früh verstorben ist; ich hatte noch einen jüngeren, rechten Bruder, Adolf, der mit mir aufwuchs. Kurz nach dessen Geburt starb meine Mutter, eine geborene Bar aus Kannover; ich bin also ohne Mutter aufgewachsen. Mein Vater war ein ernster, in sich gekehrter und stark beschäftigter Mann, den wir Kinder sehr achteten und liebten, der in jeder Beziehung für uns sorgte, aber nicht verstand, zu uns, als wir älter wurden, in ein rechtesVerhältnis zu kommen. Wolfenbüttel war ein kleines Städtchen von nur 8000 Einwohnern, aber ein vornehmes. Es hatte nämlich eine Anzahl von höheren Staats behörden in seinen Mauern, das Landeskonsistorium, das oberste Ge richt, ein Mittelgericht und zwei untere Gerichte, eins für die Stadt, eins für einen Landbezirk, und eine Kreisdirektion, die Verwaltungs behörde des Kreises. Dazu kam von Beamten, was daran hing, zahl reiche Advokaten und Notare, Anwälte und Ärzte und junge Juristen. Das gab eine verhältnismäßig große gesellige Oberschicht, welche sich in sich abschloß. Dazu kamen noch viele Beziehungen zur nahgelegenen Residenzstadt Braunschweig. Das humanistische Gymnasium der Stadt war nicht groß; zu meiner Zeit zählte es nicht viel über 100 Schüler in allen Klassen; die oberen waren zum größten Teil von den Söhnen der Beamten besucht. Die Stadt war eine Beamtenstadt ohne nennenswerte Industrie und Kandel, die Kaufleute und Kandwerker lebten von dem örtlichen Verbrauch und von dem wegen der vielen Behörden starken Verkehr
mit den Landesbezirken.
Autobiographisches von Karl Schrader.
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Die Amgebung ist ländlich mit nahgelegenen großen Wäldern. Meine erste Jugendzeit, die ich mit meinem um 21l2 Jahre jüngeren Bruder Adolf gemeinschaftlich verlebte, war sehr friedlich. Mein Vater hatte vor dem Tode meiner Mutter große Geselligkeit gepflegt, und ein großes Laus erworben mit geräumigem Lose und einem kleinen Garten. Er behielt es nach dem Tode meiner Mutter, aber wir bewohnten nur noch die Parterreräume, die obere Etage war völlig möbliert, doch un bewohnt; ein großes Nebenhaus war ganz unbenutzt. Wir Jungens hatten also Raum genug in Laus, Los und Garten und konnten uns dort frei bewegen; wir hatten Pferd und Lunde, der Garten stieß an Nachbargärten, zu deren Kindern Beziehungen freundschaftlicher, auch wohl feindschaftlicher Art bestanden. Es wurde Krieg geführt und Friede geschlossen. Anserer Gesundheit bekam dies Leben gut. Mein Vater sorgte dafür, daß wir Leibesübungen trieben wie Turnen, Schwimmen, Laufen, in späteren Jahren wurde auch Fechten gepflegt. Ansere Ernährung war reichlich und gut, aber es gab weder einen Überfluß von Fleischnahrung noch irgendwelchen Alkohol. Ich galt für ein schwächliches Kind, entwickelte mich aber in diesem Leben gut; eine Krankheit außer den Masern habe ich nie gehabt; Kuren nicht ge braucht; ich habe mich so gekräftigt, daß ich bis zu dem Augenblick, wo ich dieses schreibe, Krankheit nicht gekannt habe. Auf dem Gymnasiunr waren wir beide Brüder gute Schüler, die ihre regelmäßigen Klassen absolvierten, beide machten wir gute Abiturientenexamina. Das Gymnasium war nicht durch besonders geistreiche Lehrer aus gezeichnet; manche ließen sowohl in Disziplin als auch iu Wissen und Anterrichtskunst zu wünschen übrig, aber die Schüler der oberen Klaffen bildeten sich, eben weil sie meist gleichartige und unter sich schon bekannte Knaben waren, ganz gut von selbst. Dazu trug eine eigenartige Einrichtung viel bei: Das Turnen war in jener Zeit als demagogisch in Preußen verboten, auch im Lerzogtum Braunschweig kein Teil des Schulunterrichts, aber es hatte sich am Braunschweiger und am Wolfenbüttler Gymnasium als eine Einrich tung der Schüler erhalten. Diese bildeten in Wolfenbüttel eine eigene, von dem Gymnasium und dessen Lehrern völlig unabhängige Turn gemeinde mit eigenem Turnwart, Vorturnern, eigenen Turngeräten und Kostüm, sogar mit eigener, nur durch ihre selbstgewählten Leiter, ohne jegliche Verabredung mit der Lehrerschaft geübte Disziplin. Die
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Primaner und Sekundaner stellten Turnwart und Vorturner; einen Turnlehrer hatte man nicht, die Turnkunst wurde durch Tradition über tragen. Große TurnWnste leisteten wir nicht, aber wir hatten desto mehr Gelegenheit zum Laufen und Springen, denn der Turnplatz war im Walde.
Wir haben dabei frühzeitig gelernt unseresgleichen zu gehorchen und zu befehlen, und das ist im späteren Leben uns vielfach zugute gekommen, das Verhältnis war dadurch auch ein besonders kamerad schaftliches. Die Turner waren nicht nach Schulklaffen, sondern nach Alter und turnerischer Fertigkeit abgeteilt; alle Schüler des Gym nasiums duzten sich gegenseitig.
In meine Schuljahre fiel die Revolution von 1848. Das Land Braunschweig hat keine größeren Anruhen erlebt; die Regierung setzte der Reichsregierung kaum Widerstand entgegen; die Soldaten wurden auf dieReichsverfaffung vereidigt, Abgeordnete zumReichstage wurden gewählt. Aber dabei blieb es nicht. Der verständige Staatsminister von Schleinitz schuf selbst freiheitliche Reformen sowohl für Verfassung als auch für Gesetze der Landesverwaltung und Justiz. Die Reaktior' blieb natürlich auch für Braunschweig nicht aus; aber sie kam doch nur in sehr milder Form. Der Äerzog hielt sich zurück, ließ das Land durch seine Minister regieren, und diese waren auch nicht geneigt, große re aktionäre Maßregeln zu treffen. Schon vorher hatte man mit der Ablösung der grundherrlichen Lasten, mit der Aufteilung des ländlichen Grundbesitzes und damit ver bunden mit einer zweckmäßigen Zusammenlegung der Äcker begonnen,
zum größten Vorteil des Landes, das dadurch schon früh einen stark begüterten Bauernstand und eine blühende Landwirtschaft erhielt.
Wir Schüler wurden von allen diesen Dingen, wenn wir auch nicht daran teilzunehmen hatten, berührt, und die Ereignisse der späteren Jahre ließen uns in die Revolutionszeit verständnisvoller zurückblicken. Als die Zeit der Berufswahl herankam, war weder für mich noch für meinen Bruder ein Zweifel daran, daß wir Juristen werden mußten; das ergab sich aus unserer ganzen Amgebung. Der Vater drängte uns nicht zum ärztlichen Berufe; er kannte dessen Mühen und Schatten seiten zu gut, der älteste Sohn hatte ihn auch schon ergriffen.
In der Prima waren zu meiner Zeit nur 10 Schüler.Nach heutigen pädagogischen Begriffen trieben wir schreckliche Dinge. Wir hatten zwei
feindliche Verbindungen, die miteinander zankten. Sie duellierten sich mit stumpfenRapieren, aber ohne rechte Schutzdeckung; wir gingen auch gelegentlich in die Kneipen und hielten eine Art Kommers, aber wir waren dabei durchaus fleißig und ordentlich. In der kleinen Stadt, wo wir jungen Leute alle gut bekannt waren, gab es zu Exzessen keine Ge legenheit. In der Prima spielten die studentischen Beziehungen und Gegen sätze schon eine Rolle. Die schon studierenden Bekannten suchten die jüngeren für ihre Richtung einzufangen. Die einen gingen zur Aniversität als angehende Füchse der Korps, die anderen als Anhänger ber Progreßverbindungen. Die letzteren waren ein Ergebnis derRevolution, welche das Jahr 1848 auch den Aniversitäten gebracht hatte. Diese richteten sich gegen den alten Komment der Korps und gegen den Duell zwang; es waren in Göttingen — unserer Landesuniversität — all gemeine Ehrengerichte eingerichtet, um das Duell zu beseitigen. Es bildeten sich Verbindungen, die Progreßverbindungen, welche das Duell entweder ganz untersagten oder doch nur unter besondern Voraus setzungen erlaubten und jedenfalls keinen Duellzwang zuließen. Ich und meine näheren Freunde, wir waren entschlossen, nach Göttingen zu gehen und in eine Progreßverbindung, die derNeubraunschweiger, einzutreten, während die andern in das Korps der Altbraun schweiger im Sommer 1853 eintraten. In unserm Kreise waren sehr viele nette und tüchtige Leute, die es zu etwas in der Welt gebracht haben. Wir waren fröhliche Studenten, die gern kneipten, aber ihre Studien nicht ganz vernachlässigten und sich gegenseitig dazu anregten. Meine Kollegien besuchte ich ziemlich regel mäßig, und ich arbeitete auch immer so viel, daß mein Kollegbesuch frucht bar war. Ich bekam Interesse für die Jurisprudenz und lernte juristisch denken. Dabei hals mir namentlich mein Vetter, Louis von Bar, der sich sehr früh juristisch auszeichnete. Neben juristischen Kollegien hörte ich auch nationalökonomische. In ein näheres Verhältnis trat ich zu keinem derProfessoren. MitV orliebe trieb ich die Fechtkunst, aber ich hielt daran fest, das studentische Duell für töricht zu halten und vermied die Gelegen heit zu kontrahieren. Von anderer Seite suchte man sie nicht; man wußte, da ich sehr viel auf dem Fechtboden zu sehen war, daß ich alle Waffen zu fuhren verstand. Im dritten Semester gingen Vetter von Bar und ich nach Berlin; auch mein jüngerer Bruder begann dort seine Studien.
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Studentisches Leben gab es nicht in Berlin, dazu war die Stadt schon zu groß, und das Dutzend Göttinger Bekannten, das dort zu sammen hinging, fiel schnell auseinander infolge der Verschiedenheit unserer Studien und Interessen. Wir drei Vettern blieben und wohnten zusammen. Das Berliner großstädtische Theater u. dergl. lernten wir kennen, arbeiteten aber fleißig. Im vierten Semester gingen wir nach Göttingen zurück und blieben zusammen, bis ich im Frühjahr 1856 meine drei Jahre absolviert hatte. Mein erstes juristisches Examen bestand ich leicht und gut und machte dann in Wolfenbüttel den dreijährigen Vorbereitungskursus durch und lernte das, was durch eigene Arbeit zu erlernen war. Die Anleitung der Beamten, denen ich überwiesen war, ließ manches zu wünschen übrig, aber durch Praxis und eigenes Weiterarbeiten in der Jurisprudenz lernte ich so viel, daß ich dem zweiten Examen ohne Sorge entgegensah. Das gesellige Leben der Stadt gestaltete sich für die jüngeren Ju risten sehr angenehm; allerdings große Gesellschaften gab es nicht, die allermeisten der für die Geselligkeit in Betracht kommenden Familien waren Beamte, die nicht viel mehr als ihr Gehalt hatten. Ihre Söhne lebten, solange sie nicht selbst ein Amt hatten, von dem, was ihre Eltern ihnen geben konnten. Der Kreis der Geselligkeit war ein ziemlich ex klusiver; zugelassen waren nur die Familien der akademisch gebildeten Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Geistliche und nur einige durch Ver wandtschaft mit diesen verbundene Kaufmannsfamilien; das Militär spielte eine geringe Rolle, weil Wolfenbüttel nur eine kleine Garnison hatte und die Offiziere ihre Beziehungen mehr in Braunschweig hatten. War die Geselligkeit nicht gerade mannigfaltig — so war sie doch hu wesentlichen, da es sich um alteBekannte handelte, harmlos, und nament lich entwickelte sich zwischen den jungen Leuten beiderlei Geschlechts ein ganz gemütlicher Verkehr. Sein Zentrum hatte er in dem sogenannten großen Klub, in wel chem sich im Winter Sonntag abends der Kreis zusammenfand. Es wurde vorgelesen,Musik gemacht, getanzt; daran schlossen sich allerhand sommerliche Vergnügungen. Ich habe da viele freundschaftliche Be ziehungen zu jungen Damen gehabt, an die ich mich gern erinnere, im Augenblick, wo ich dies schreibe, im 79. Lebensjahre, sind von ihnen wenige noch auf dieser Welt. Anter ihnen war eine, die ich deshalb erwähne, weil sie im Leben meiner Frau eineRolle gespielt hat: Anna Vorwerk, die Tochter des Obergerichtsrats Vorwerk, ein sehr gescheites.
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gebildetes Mädchen, auch recht musikalisch; wir verkehrten viel mitein ander, ohne uns näher zu kommen. So ging es der jungen Generation überhaupt. Die jungen Männer, in der Mehrzahl Juristen, hatten kein Vermögen und mußten lange auf Anstellung warten; die Mädchen konnten auch auf keine großeVermögensmitgabe rechnen. So amüsierten wir uns ohne ernste Liebesgedanken miteinander.
Mein jüngerer Bruder studierte weiter in Göttingen und Äeidelberg, und als er damit zu Ende war, kam er auch in dasselbe Leben in Wolfenbüttel. Die Verschiedenheit unseres Charakters und Wesens bil dete sich früh aus. Ich hatte das Leben leicht genommen und verlangte eigentlich nicht mehr von ihm, als daß ich anständig und erfolgreich den gewöhnlichen Gang der Beamtenlaufbahn durchmachen könnte; ich strebte auch nicht nach persönlicher Anerkennung, aber ich fand sie desto leichter, weil ich fiir mich nichts Besonderes wollte und anderen entgegenkam. Das Gegenteil war mein Bruder. Er wollte als ein tüchtigerMann und besonders als tüchtiger Jurist geschätzt werden und war gegen andere oft abstoßend. Das Leben hat er sich dadurch erschwert; dazu kam, daß seine Gesundheit nicht die beste war, seine Augen waren schwach usw. Alles dies war bei mir in bester Ordnung, und es war mir deshalb schon leicht, ein freundlicher, liebenswürdigerMensch zu sein. Aber so leicht, wie es nach dem Gesagten scheinen könnte, war das Leben unsBrüdern doch nicht.
Mein Vater war früh ein alter Mann geworden. Er hatte sich an ein völlig einsames, der Geselligkeit nicht zugängliches Berufsdaseirr gewöhnt; es fehlte ihm an Anregung. Einen großen Stoß hatte seine Gesundheit erlitten durch die Cholera-Epidemie, die im Jahre 1850 in Wolfenbüttel herrschte und in wenigenWochen von den 8000 Einwohnern 500 dahinraffte. Alle Ärzte
der Stadt waren außerordentlich beschäftigt, die Krankheit beschränkte sich keineswegs auf die ärmeren Klassen, sondern griff stark auf die der Wolfenbüttler Gesellschaft angehörigen Kreise über und trat mit solcher Heftigkeit auf, daß sie oft in einem Tage verlief, so daß der Tod fast ohne Krankheit eintrat. Das brachte denÄrzten zu der Arbeit noch viele starke Gemütserregungen. And dazu kam, auf das äußerste niederdrückend, die vollständigeRatlosigkeit der Krankheit gegenüber. Die Praxis meines Vaters ging zurück; er mußte sich einschränken, und die Ausgaben für uns Söhne wuchsen. Glücklicherweise hatten wir
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ein kleines mütterliches Vermögen, welches in der Verwaltung der Brü der meiner Mutter, des Geh. Finanzrats von Bar und des Oberforst meisters vonBar, beide hannoverscheBeamte, stand. Aus diesem wurden meinem Vater Erziehungsbeihilfen gewährt. Anser Aniversitätsstudium wurde daraus bestritten; wir bekamen dadurch eine selbständige Stellung. Der Vater litt schwer unter unserer Abwesenheit während der Llniversitätszeit, er wurde immer mehr ein einsamer, trübsinniger Mann, was er freilich in seinem ärztlichen Berufe niemals zeigte, aber uns Söhnen machte er manches Mal das Leben schwer, wenn er über unsere Teilnahme an diesem oder jenem Vergnügen traurig war. Die Rücksicht auf meinen Vater hat denn auch für uns Brüder einen Schritt verhindert, der mein Leben vielleicht völlig verändert hätte. Mein Onkel der Geh. Finanzrat, der ein sehr angesehener Mann in Hannover war und bei dem König in besonderer Gunst stand, schlug uns vor, in den hannoverschen Staatsdienst zu treten, wir lehnten ab, um den Vater nicht allein zu lassen. Nach seinem Tode, als ich schon mein zweites Examen gemacht hatte, trat dieselbe Frage wieder an uns heran. Mein Bruder nahm an, ich lehnte ab, denn ich hätte nicht in den Justizdienst übertreten können, ohne das hannoversche zweite Examen zu machen; das hätte aber mehrere Jahre gekostet; für mich war also der Verwaltungsdienst übriggeblieben, der mir aber nicht paßte, weil ich dann aus besonderer Begünstigung ausgenommen worden wäre und in einen Dienst, der meinen politischen Überzeugungen nicht zusagte.
Seit dem Ende der fünfziger Jahre versagte die Gesundheit und Kraft meines Vaters unter wiederholten Schlaganfällen immer mehr; ich trat ihm damals besonders nahe und habe ihn auch in seiner letzten Krankheit mit gepflegt. In diese Periode fiel meine Vorbereitung zu meinem zweiten Examen; neben dem Krankenbette meinesVaters mußte ich studieren. Die schriftliche Arbeit sollte ich einreichen, und ich erfuhr bald, daß sie genügend befunden sei, als man mir anbot, mit Rücksicht darauf, daß man annahm, mein Vater würde sterben zu der Zeit, in welcher das mündliche Examen stattfinden sollte, dieses hinauszuschieben. Ich lehnte dankend ab, weil aus der Verschiebung anderen, welche mit examiniert werden sollten, Schaden erwachsen wäre, und weil es fich für mich nach meiner Überzeugung nur darum handelte, ob ich eine bessere
oder schlechtereNummer bekam. Ich habe die letzte Arbeit, die in 8 Tagen abgeliefert werden mußte, amBegräbnistage meinesVaters, am 8.März 1861 erhalten und das Examen gut bestanden.
Wir jungenWolfenbüttler Juristen waren nicht politisch tätig, aber doch lebhaft im freiheitlichen Sinne interessiert. Die Bewegungen des Jahres 1858, 59, die Gründung des Nationalvereins, hatte uns stark ergriffen. Ein etwas älterer von uns, AlbertBaumgarten, hatte sich an einer Versammlung des Nationalvereins beteiligt, er wurde dafür zur Rechenschaft gezogen, schied aus dem Staatsdienste aus und wurde an der Stelle seines Vetters, Lermann Baumgarten, in LeidelbergMitarbeiter an der von Gervinus herausgegebenen Geschichte des XIX.Iahrhunderts.Wir andern begnügten uns damit, unsere freiheitlichen Über zeugungen, die uns übrigens nicht verübelt wurden, auftechtzuerhalten, ohne einen praktischen Anteil an derPolitik zu nehmen. Lier, wo die erste Periode meines Lebens abschließt, mögen noch einige Worte über meine Beziehungen zu meinen Geschwistern und zu meinen hannoverschen Verwandten Platz finden. Mit den Geschwistern aus erster Ehe bestand ein durchaus ge schwisterliches Verhältnis trotz des ziemlich großen Altersunterschiedes. Die erste Frau meinesVaters war eine Schweizerin ausBex imWaadtlande, sie brachte ftanzösisches Blut in die deutsche Familie. Das machte sich weniger bei meiner Schwester als bei meinen Brüdern geltend. Meine Schwester hatte sich früh verheiratet mit dem Oberförster duRoi aus einer angesehenen, seit langem in Braunschweig ansäffigenRefugieFamilie. Sie haben bis zu ihrem im hohen Alter schnell nacheinander erfolgten Tode in glücklichster Ehe gelebt (nur Töchter hinterlassen, die sich nicht verheirateten und von welchen nur eine noch lebt). Mein älterer Bruder Louis war ftüh Arzt in Wolfenbüttel ge worden. Seine Jugend fiel in eine Zeit, in welcher die jungen Leute dort ein ungebundeneres Leben führten als zu meiner Zeit; es wurde damals von vielen lustig gelebt, mehr Geld verbraucht, als da war, Schulden gemacht und gespielt. Manche von ihnen sind an den Folgen jenes Lebens zu meiner Zeit zugrunde gegangen. Mein Bruder, der ein geist reicher und liebenswürdiger Mann war, hatte mitgemacht. Als Student hatte er sich in die Tochter einesMalers verliebt und heiratete sie, die in das Wolfenbüttler Leben wenig, zu meinem Vater gar nicht paßte. Er erwarb sich eine Praxis, die ihn ausreichend ernährte; das einzige Kind war eine Tochter, welche noch lebt. Mit meinen hannoverschen Verwandten war ich auf dem besten Fuße. Mit Louis von Bar, dem Sohne meines älteren Onkels, blieb ich stets sehr befteundet. Louis' Vater sah es gern, weil er in mir einen
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weltgewandten Mann sah, der seinen geistig viel bedeutenderen Sohn in mancher Weise ergänzen und ihm helfen konnte. Seine Schwester^ die, ein Jahr älter als ich, ein sehr schönes, geistreiches Mädchen und viel umworben war, betrachtete mich stets wie einen Bruder. Sie ist auch schon lange tot. Weniger nahe kam ich den Kindern des Oberforstmeisters von Bar, aber mit einem Sohne, der als Major gestorben ist, und einer kürzlich verstorbenen Tochter stand ich doch wie mit meinen beiden Onkels selbst auf dem besten Fuße. Mit dem Sommer 1861 beginnt die zweite Periode meines Lebens. Nach den Bestimmungen für die braunschweigischen Beamten mußten die Referendare (so hießen sie damals nach abgelegtem zweiten Examen, vorher führten sie den Namen Auditoren), bei braunschweigi schen Behörden sich beschäftigen, ohne Anspruch auf irgendeine Be lohnung. Faktisch dauerte es einige Jahre, ehe sie das klägliche Tagegeld von einem Taler erhielten. Auf die erste Anstellung konnten sie manches Jahr warten; bis dahin mußten sie von ihrem Vermögen leben; ich konnte es aber nicht von den Zinsen allein, sondern nur aus dem Kapital selbst. Vor dem Examen war ich bei dem Kreisgericht in Wolfenbüttel, ich blieb auch nachher dort. Mein Onkel, der meine schlechten Aussichten sehr bedauerte, riet mir, mich einmal an einen ihm gut bekannten hohen Beamten in Braunschweig zu wenden, den Generaldirektor der braunschweigischen Staatsbahnen, von Amsberg. Dieser nahm mich freundlich auf und schlug mir am Schluß unserer Anterhaltung vor, doch bei seinerVerwaltung einzutreten. Das konnte ich in gleicher Weise wie bei einer andern Staatsbehörde ohne Entgeld und ohne irgendwelchen Anspruch auf Anstellung. Ich nahm an und siedelte im Juli nach Braunschweig über; eine entscheidende Wendung in meinem Leben war damit eingetreten. Die eigentliche Verwaltung der Eisenbahnen lag in den Länden des Finanzrats Kuntze und des Finanzasseffors Wolf als administrativen Dezernenten und des Baurats Scheffler als technischem Dezernenten, alle drei tüchtige Leute, der letztere ein ausgezeichneter Techniker von vielseitigem Wissen. Amsberg, der in früheren Jahren wirklich geleitet hatte, war geschäftlich mehr zurückgetreten; er war alt geworden, befaßte sich mit den Einzelheiten nicht mehr, aber er hatte der Verwaltung eine eigenartige Selbständigkeit demMinisterium gegenüber verschafft, so daß dieses fast gar nicht in die Verwaltung eingriff.
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Bald sah ich, daß ich einen großen Entschluß gefaßt hatte, ich wurde besonders von den beiden administrativen Beamten als ihr Äilfsarbeiter freundlich ausgenommen und kam allmählich in ihre Geschäfte hinein und damit eigentlich aus den braunschweigischen Verhältnissen heraus. Die braunschweigische Bahn war eine der ältesten deutschen Eisen bahnen und die erste Staatsbahn in Deutschland. Amsberg hatte sie durchgesetzt; die erste Strecke ging von Braunschweig nach Larzburg über Wolfenbüttel; dort schloß sich eine zweite Strecke an bis über die preußische Grenze bei Oschersleben hinaus und eine dritte Strecke nach Kreiensen; eine vierte Strecke von dort nach Äolzminden war, als ich eintrat, im Bau. In Oschersleben schloß sich die den Namen Magde-burg-Lalberstädter Bahn führende Privatbahn nach Magdeburg an, dort die nach Berlin fichrende Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisen bahn. Von Braunschweig über Peine war durch die hannoversche Staatsbahn die Verbindung bis Minden, durch die Köln-Mindener Eisenbahn die Verbindung bis Köln und über Köln mit Frankreich hergestellt. Die braunschweigische Eisenbahn war also ein Teil der ersten großen, durch den Norden Deutschlands führenden, den Osten mit dem Westen verbindenden WelLstraße geworden und damit in den großen Verkehr hineingezogen. Meine Erlebnisse in dem Eisenbahnwesen zu schildern, liegt nicht in dem Rahmen dieser Erinnerungen; ich habe dies nur hervorgehoben, um zu zeigen, daß ich durch den Eintritt in dieseVerwaltung in ganz andere und viel weitere Interessen hineingeführt wurde, als irgendeine andere Stellung mir hätte bieten können. Aber daß ich in dieser Laufbahn bleiben würde, war lange Zeit ungewiß. Zwar bekam ich nach einigen Jahren mein Tagegeld von einem Taler, wurde mit dem Titel Finanzsekretär definitiv angestellt und lebte in den angenehm sten Verhältnissen mit meinen nächsten Vorgesetzten, auch dem General direktor von Amsberg, mit diesem aber nicht immer. Ich hatte in der Verwaltung einen Gegner, einen sehr tüchtigen Subalternbeamten, dem ich im Wege war, und der mich hinunterzudrücken versuchte und ver hindern wollte, daß ich in die Stellung eines Mitgliedes kam. Dies gab mancherleiReibung, so daß ich mehr als einmal vor dem Entschluß stand, wieder in den allgemeinen Staatsdienst einzutreten. Ich kam aber immer mehr in die Geschäfte hinein, nahm nicht bloß an den innern Angelegenheiten, sondern auch an den Verhandlungen mit andern Eisenbahnen teil, lernte das Eisenbahnwesen kennen und machte viele
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angenehme Bekanntschaften bei andern Verwaltungen, was mir später sehr nützlich war. Eisenbahnwesen, Verkehr und wirtschaftliche Fragen nahmen jetzt weit mehr als die Jurisprudenz mein Interesse in Anspruch, daneben aber auch soziale Fragen. In wenigen Jahren hatte ich viele Bekannt schaften in der Stadt gemacht, war in manche öffentlichen Angelegen heiten hineingezogen. Ich wurde Mitglied und Vorstandsmitglied des Männerturnvereins, der wesentlich aus Landwerkern und jungen Sub alternbeamten, aber auch einigen älterenMännern, die im Jahre 1848 in das öffentliche Leben eingetreten waren, bestand. Als Fechtwart des Vereins bin ich bis zu meinem Fortgang von Braunschweig tätig ge wesen, und ich habe als solcher nochBajonettfechten gelernt, um im Jahre 1864, als die polttische Begeisterung für Schleswig-Äolstein den Ge danken einer Beteiligung an dem dortigen Kriege in vielen erweckte, die jungen Leute darin mit ausbilden zu können. Einen Zweigverein des in Berlin von Lette begründeten Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, einen Spar- und Vorschuß verein, eine Gesellschaft für den Bau von Arbeiterwohnungen brachte ich mit einigen Freunden und Bekannten aus den verschiedensten Kreisen zusammen; auch einem Erziehungsverein trat ich bei. All mählich wurde ich für gemeinnützige Angelegenheiten eine führende Persönlichkeit, teils weil ich in meiner amtlichen Stellung ziemlich un abhängig war, teils werl es gar wenig Leute in der Stadt gab, welche sich mit solchen Dingen befassen mochten. Das Jahr 1866 brachte mir noch eine andere Ausgabe. Die Er fahrungen des Krieges hatten bewiesen, wie schlecht für Verwundete und Kranke der Leere gesorgt war; der Vaterländische Frauenverein nahm sich der Beschaffung und Ausbildung der Pflegekräste an. Ein Zweigverein wurde in Braunschweig gegründet, vornehme Damen, an ihrer Spitze die Frau des Staatsministers von Campe, bildeten denVorstand, ich trat als Schriftführer ein. Der Verein widmete sich seinen Aufgaben mit Ernst, beschaffte eine Pflegestätte, nahm Pflegerinnen an und arbeitete im Jahre 1870/71 eifrig an der Verwundetenpflege mit; ich konnte dabei in meiner doppelten Eigenschaft als Vorstand des Vereins und alsMitglied der Eisenbahnverwaltung leitend mittätig sein. In dem Verein hatte ich durch meine Stimme die Entscheidung dafür gegeben, daß nicht weltliche Pflegerinnen, sondern Diakonissen angestellt wurden, nicht aus Vorliebe für das Diakonissenwesen, son-
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dern weil, wie die Dinge damals lagen, aus diesem Kreise allein brauch bare Pflegerinnen bezogen werden konnten. Nach meinem Abgänge hat sich daraus ein großes Diakonissenhaus entwickelt, das der Stadt gute Dienste leistet. Diese öffentliche Tätigkeit lenkte indessen meine Tätigkeit von meiner Dienststellung nicht ab, ich behauptete mich und wurde schließ lich als ordentliches, stimmführendes Mitglied der Generaldirektion der Eisenbahnen mit dem Titel Assessor und mit dem glänzenden Ge halt von 700 Talern angestellt. Dabei wurde mir gesagt — und es war richtig — daß ich eine besonders gute Karriere gemacht habe. Mein soziales Interesse habe ich auch für die Eisenbahnverwaltung nützlich zu machen gesucht. Angeregt durch die Pariser Ausstellung des Jahres 1867 hatte ich mich mit den Mühlhausener Bestrebungen für den Bau von Arbeiterwohnungen beschäftigt. Daraus ging ein völlig ausge arbeiteter Plan hervor, nach welchem die Braunschweigische Eisenbahn verwaltung für ihre Arbeiter und Beamten Wohnungen bauen sollte. Die Direktion wurde dafür gewonnen, derPlan wurde demMinisterium vorgelegt, es wurde ihm aber keine Folge gegeben, weil inzwischen die Verwaltung selbst verschwand. Die Braunschweigische Eisenbahn, die bis Äolzminden ausgebaut war, war jetzt ein durchaus rentables Unternehmen, das in jeder Finanzperiode große Überschüsse brachte und gegen deren Leistungen
und deren Beförderungspreise keinerlei Beschwerden geführt wurden. Allerdings waren ihre Verhältnisse in einer Beziehung geändert. Zur hannoverschen Eisenbahnverwaltung hatte sie in nahen, durch die geographische Lage herbeigeführten Verhältnissen gestanden; nach der Eroberung Äannovers durch Preußen und Einsetzung einer preußischen Staatseisenbahndirektion unter Leitung des Präsidenten Maybach hatte dies zwar aufgehört, aber beide Netze blieben aufein ander angewiesen. Neue Projekte, welche Konkurrenzen zu bringen drohten, waren im Gange, namentlich der Bau einer Eisenbahn von Berlin über Lehrte, die eine zweite Berlin-Kölner Verbindung her gestellt hätte; dagegen wendete sich ein anderes Projekt, an dem die Braunschweigische Eisenbahn sich beteiligte, nämlich der Bau einer Linie aus der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahn bei Eils leben über Lelmstedt, und eine Verbindung zwischen Berlin und dem Rhein über die braunschweigische Bahn Oschersleben—Lolzrnirrden nach Elberfeld und Aachen bestand auch schon. Eine gewisse VerkehrsL y s ch i n s k a, Henriette Schrader I.
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Leitung mußte also eintreten, fteilich ernstliche Verluste hatte die Braun schweigische Bahn davon nicht zu befürchten. Aber der Generaldirektor von Amsberg hatte solche Befürchtungen oder äußerte sie wenigstens gegenüber demMinisterium und veranlaßte dieses zu einem Anträge an die Landstände, die Eisenbahn an eine Privatgesellschaft zu verkaufen. Diese Gesellschaft hatte sich aus der Berlin-Potsdam-Magdeburger-- und der Bergisch--Märkischen Eisenbahngesellschast unter Beteiligung der Darmstädter Bank gebildet. Die Landstände lehnten den Plan ab, weil sie gar keinen Grund ein sahen, daß das Äerzogtum ein gutes Unternehmen und den großen Einfluß, den dieses ihm auf die Wohlfahrt des Landes gab, ver äußern sollte. Im Jahre 1870 wurde derPlan wieder ausgenommen und dadurch durchgeseht, daß man für den Fall, daß das Äerzogtum Eigentümerin der Bahn blieb, fürchtete, den Besitz an Preußen zu verlieren, besonders aber dadurch, daß ein großer Teil des bar zu zahlenden Kaufpreises zu einer Dotation der Kreise verwendet werden sollte. Dadurch wurden die sehr einflußreichen ländlichen Grundbesitzer gewonnen. Die Mitglieder der Direktion waren in ihren Ansichten geteilt ge wesen. Mit dem Generaldirektor war einer der administrativen Dezer nenten, FinanzratWolf und der Baurat Scheffler für den Verkauf, ich mit dem Finanzrat Kuntze stimmten gegen denselben. Eine unsre An sichten darlegende Druckschrift hatte ich ausgearbeitet. Als der Verkauf durchgesetzt war und die Direktion gebildet werden sollte, wurde ich von den Vertretern der Käufer — mit denen ich seit langem in den besten Beziehungen stand — gefragt, ob ich bereit sei, zu Bedingungen, die natürlich erheblich bessere waren als meine bisherigen, in die Direktion einzutreten; zugleich erklärte man mir, daß sie den Finanzrat Kuntze nicht wählen könnten, da dagegen von der Negierung Widerspruch erhoben sei. Kuntze hatte nämlich als Mitglied des Landtages gegen den Verkauf gestimmt. Ich lehnte ab, weil ich mein Schicksal von dem Kuntzes nicht trennen wollte. Nach dem Ver kaufsvertrag hatten die nicht übertretenden Direktionsmitglieder auf Lebenszeit ihren vollen Gehalt, soweit er nicht durch die staatliche Pen sion gedeckt wurde, aus Mitteln der Gesellschaft zu beziehen. Ich wurde pensioniert mit der Begründung, daß eine für meinen Rang — alsMitglied einer obersten Landesbehörde — geeignete Stelle im Lande Braunschweig nicht vorhanden sei.
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Ich wußte dies vorher und war darauf vorbereitet, in anderer Weise für mich sorgen zu müssen. Am liebsten wäre ich Politiker ge worden, denn ich hatte mich in den letzten Jahren viel mit Politik be schäftigt und im Lerzogtum eine gewisse politische Bedeutung auch durch meine Laltung gegenüber dem Eisenbahnverkauf gewonnen. Den Gedanken, der ausgesprochen wurde, mich in den Reichstag zu wählen, lehnte ich ab. Es war inzwischen wieder etwas in mein Leben eingetreten, das ihm eine neue Wendung gab.
^Äier bricht das Manuskript leider ab.]
Druck von Hermann Böhlaus Nachfolgern, Hof-Bnchdruckerei in Weimar.