Henriette Schrader-Breymann: Band 1 [2. Aufl. Reprint 2019] 9783111575957, 9783111203737


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German Pages 522 [536] Year 1927

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis von Band I
Kapitel 1. Vorfahren
Kapitel 2. Henriettes Geburt, Eltern, Umgebung, Familienleben, erste Erziehung
Kapitel 3. Der erste Unterricht in Laus und Schule
Kapitel 4. Rückkehr in das Elternhaus. Konfirmation. Die erwachsene Tochter im Lause 1841—1844
Kapitel 5. Reichenbach. Rückkehr ins Elternhaus. Schlechter Gesundheitszustand. 1844—1848
Kapitel 6. Der Sommer 1848 bei Friedrich Fröbel in Keilhau
Kapitel 7. Der Aufenthalt bei Fröbel in Dresden im Winter 1848/49
Kapitel 8. In Liebenstein
Kapitel 9. Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851
Kapitel 9. Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851
Kapitel 11. Im Watzumer Pfarrhause. 1854 bis 1864
Kapitel 12. Im Watzumer Pfarrhause: Erziehliches Leben, Unterricht, Beschäftigung
Kapital 13. Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64
Kapitel 14. Übersiedlung nach Wolfenbüttel und das Leben in Neu-Watzum
Kapitel 15. Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868
Kapitel 16. Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel
Kapitel 17. Der Krieg 1870/71. Neue Pläne. Beziehungen zu Karl Schrader. Leirat und Äbersiedlung nach Berlin 1872
Kapitel 18. Korrespondenz zwischen Henriette Breymann und Karl Schrader bis 1872
Kapitel 19. Autobiographisches von Karl Schrader
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Henriette Schrader-Breymann: Band 1 [2. Aufl. Reprint 2019]
 9783111575957, 9783111203737

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Henriette Schrader-Breymamn Zhr Leben aus Briesen und Tagebüchern zusammengestellt und erläutert

von

Mary I. Lyschinska

Zweite Auflage unter Mitwirkung von vr.Arnold Breymann

In zwei Bänden mit 8 Bildern

Berlin und Leipzig 1927

Walter de Gruyter & Co. vormals G.I. Göschen'sche Verlagshandlung / I.Guttentag, Verlags­ buchhandlung / Georg Reimer / Karl I. Trübner / Veit & Comp.

Henriette vreymann im Jahre 1868.

Henriette Schrader-Breymann Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern zusammengestellt und erläutert

von

Mary 3. Lyfchinska

Zweite Auflage

unter Mitwirkung von Dr.Arnold Breymann

Erster Band mit 5 Bildern

Berlin und Leipzig 1927

Walter de Gruyter L C 0. vormals G.I.Göschen'sche Verlagshandlung / I.Guttentag, Verlags­ buchhandlung / Georg Reimer / Karl I. Trübner / Veit & Comp.

Alle Rechte, besonders das der Über­

setzung in fremde Sprachen, Vorbehalten.

Vorwort. /Ka ist gewiß für einige Grundzüge ihres Wesens bestimmend ge^2- wesen, daß Lenriette Breymann das Licht der Welt in einem

Landpfarrhause erblickte, und zwar zu einer Zeit, in welcher dieVerkehrsmittel von heute noch gar nicht existierten und von Abgeschiedenheit und ländlicher Sülle wirklich noch die Rede sein konnte. Auf dem Dorfe Mahlum, im Lande Braunschweig, wurde Ende des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts diise ländliche Stille höchstens durch das Lorn des Kuhhirten unterbrochen, der frühmorgens um 4 Ahr das Vieh im Vorübergehen sammelte, um die Lerde dann auf die Ge­ meindeweide zu führen; oder durch das Schnattern der Gänse, die von dem Gänsejungen auf den Dorfanger getrieben wurden. Damals be­ schäftigte sich jeder in Stadt und Land, im geringeren oder im größeren Maße mit der Landwirtschaft; auch die Pfarrerfamilien waren genötigt, den größten Teil ihrer Einnahmen aus dem Ertrage von Garten,Weide und Ackerland zu beziehen. So wurzelte Lenriette Breymanns Kindheit in einer Umgebung und in einer Zeit, die wir uns heute gewissermaßen durch die konstruk­ tive historische Phantasie vergegenwärtigen; dagegen ragte das letzte Drittel ihres Lebens in eine vollständig moderne Welt in der Reichs­ hauptstadt. Sie hat den großen Umschwung, den Deutschland im 19. Jahrhundert auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete gemacht, in ihrer Person durchlebt. Eine Frau, welche diese Entwicklung ihres Vaterlandes so intensiv ausgenommen und zugleich so viel für die Bildung der Frauen der kom­ menden, neuen Zeit geschaffen hat, und die daneben ein reiches Innen­ leben voll schöner, perstnlicher Beziehungen Pflegte, eine solche Frau mußte eine üppige Naturanlage mit in dieWiege bekommen haben. Eine vielseitige, auf das Große angelegte Natur birgt aber starke Gegensätze in sich, die auf dem Boden eines leidenschaftlichen Temperaments sich stürmisch bekämpfen und ablösen, ehe sie sich allmählich durchdringen und

VI

Vorwort.

die harmonisch abgeklärte Persönlichkeit einer wirklich großen, deutschen Frau daraus hervorgeht. ' Eine solche Frau war Lenriette Schrader-Vreymann. Ihre volle Würdigung ist vielleicht der Zukunft vorbehalten, aber diese Möglich­ keit enthebt die jetzt lebende Generation nicht der Pflicht, die Bedeutung ihrer Arbeit für die Erziehung hervorzuheben und die zerstreuten Ein» drücke der Mitlebenden zu einem Gesamtbilde zu vereinigen. Sie durchlebte in und außer fich den Amschwung, den die Entwicklung und Stellung der Frau in den letzten fünfundsiebzig Jahren durchmachte; ja, sie hat diese neue Zeit auf eine eigenartige Weise gestalten helfen; daher sehen wir in ihrer reifen Persönlichkeit entgegengesetzte Strömungen zu einer höheren Einheit sich verschmelzen. Sie erstrebte die volle Emanzipation der Frau von der Bevor­ mundung des Mannes, nicht um ihm Konkurrenz zu machen, sondern als die notwendigeVorbedingung zur vollen Entfaltung der weiblichen Eigenart. Sie war es, die den sich emanzipierenden Frauen Dinge empfahl, welche sie bis heute vielleicht unterschätzen, z.B. die einheitliche Körper- und Geistespflege ganz kleiner Kinder, die praktisch« und wissenschaftlicheBeherrschung hauswirtschastlicher Tätigkeit, die Erziehung der Lausangestellten durch die Art und Weise ihrer Lausführung. So erscheint sie uns im gewissen Sinne altmodisch und neumodisch zugleich.Mit der Vergangenheit legte sie den Schwerpunkt ihres Lebens ihrer Tätigkeit, ihrer Lehre in die Familie, aber auf diesem Gebiete wandte sie ganz moderne Mittel an. Sie führte gerade dem Familienleben neue Bildungselemente zu, wodurch von innen eine Vertiefung und eine Erhöhung des Familienlebens, des ehelichen mit eingeschlossen, angebahnt werden kann. Durch die Erzählung ihrer Lebensgeschichte teils durch sich selbst, teils durch die mir auf das bereitwilligste von den Familien Schrader und Breymann zur Verfügung gestellten Papiere, ergänzt durch die eigenen Erinnerungen und durch langjährige Mitteilungen guter Freunde, hoffe ich den obigen Standpunkt annähernd begründen zu können. In erster Linie gedenke ich in Dankbarkeit meines jetzt verstorbe­ nen Freundes, des Reichstagsabgeordneten Karl Schrader, des Gatten von Lenriette Schrader, dessen Ermunterung allein mir die Aufnahme einer solchen Aufgabe möglich machte. Ebenso habe ich den Geschwistern Lenriettens für viele Mitteilungen über die alte Leimat zu danken. Einige Korrespondenzen von Freunden sind mir bereitwilligst zur

VII

Vorwort.

Verfügung gestellt, und Fräulein M. Kellner, Frau M. Balhorn, Frau Iustizrat Zwilgmeyer-Braunschweig haben sich der Arbeit unter» zogen, den I.Band meines Manuskripts von Sprachfehlern, welche eine Ausländerin sich leicht zuschulden kommen läßt, zu säubern; ihnen spreche ich hier meinen Dank aus. Viel zur Veranschaulichung des Erzählten hat Dr. Arnold Breymann, jetziger Direktor der ErziehungsanstaltNeu» Watzum, Wolfenbüttel, beigetragen, indem er mir sämtliche Klischees zu den Bildern aus seinem Besitze zur Verfügung gestellt; den Text hat er auf meine Bitte einer gründlichen Revision unterworfen und stellen­ weise mit den zugrunde gelegten Belegen verglichen. Mögen alle Freunde meiner Arbeit bei dem Lesen derselben einen Lohn für ihre dargebotene Lilfe finden. Meine Beziehungen zuKenriette Schrader-Breymann waren der» art, daß die Arbeit mir als der schönste Kindesdienst erscheint.

Den zweitenBand dieses Lebensbildes sollte der verstorbeneReichstagsabgeordnete Karl Schrader schreiben, und di« Muße eines kurzen Aufenthaltes in der Schweiz im Jahre 1912 benutzte er, um den An­ fang zu wachen. Leider ist dieser ein Fragment geblieben. Ich bitte den Leser, die in einem Anhänge gebrachte Skizze desVerstorbenen als einen Übergang zum zweiten Bande dieses Buches zu betrachten. M. 3. Lyschinska.

Inhaltsverzeichnis von Band I. Seite

Vorwort...........................................................................................

V

Kapitel 1.

Vorfahren.................................................................

1

2. Lenrtettens Geburt, Eltern, Umgebung, Fami­ lienleben, erste Erztehnug..........................................

8





3.

Der erste Unterricht in Laus und Schule

...

20



4.

Rückkehr in das Elternhaus, Konfirmation. Die erwachsene Tochter im Lause. 1841—1844 . .

28



5. Reichenbach. Rückkehr in das Elternhaus. Schlech­ ter Gesundheitszustand. 1844—1848 ....

38



6.

Der Sommer 1848 bei Friedrich Frvbel in Keilhau

47



7. Der Aufenthalt bei Fröbel in Dresden im Win­ ter 1848/49 ..................................................................

84



8. In Liebenstetn bet Frvbel



9. Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 H« 1851 .... .’.................................................. 148

........................................ 123



10. Auf der Wanderung



11.



3m Watzumer Pfarrhause: Erziehliches Leben, Unterricht, Beschäftigung...............................................178 13. Tagebuch- und Briefauszüge. 1854—1864 ... 184 14. Übersiedelung nach Wolfenbüttel und das Leben in Neu-Watzum . ....................................................... 241

„ „

1851—1854

Im Watzumer Pfarrhause.

.....................

1854—1864

...

155 165

12.



15. Auszüge aus Briefen ustv.



16.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel ............................................................ 298



17.

Der Krieg 1870/71. Neue Pläne. Beziehungen zu Karl Schrader. Leirat und Übersiedlung nach Berlin. 1872 .............................................................. 323



18.



1864—1868

...

249

Korrespondenz zwischen Lenriette Breymann und Karl Schrader bis 1872 ......................................... 329 19. Autobiographischesten Karl Schrader. (Ein Frag­ ment) ................................................................................ 503

Kapitel 1. Vorfahren, ^^ie Familie Breymann war eine von den traditionellen Pastorenfamilien; Großväter beiderseits, sowie Urgroßväter wenigstens

einerseits bekleideten das geistliche Amt.

Lenriettens Vater, Ferdinand Breymann, wurde im Pfarrhaus« zu Kirchberg, einem braunschweigischen Dorf« am Fuße deS Lärzes am

23. April 1797 geboren. Zwischen Pfarrhaus und Gutshaus bestanden freundschaftliche Beziehungen, und die Kinder beider Familien genossen denselben Unterricht und verkehrten wie Geschwister miteinander bis

zu Ferdinands Konfirmation und Abgang zum Gymnafium nach Lolz-

minden. Der lebensftohe Jüngling von schönem Äußeren und gefälligen Manieren sollte aber bald das Leben von seiner ernsten Seite kennen­

lernen.

In den kriegerischen Zeiten verloren die Eltern nicht nur ihr

Vermögen, sondern in dem russischen Feldzuge (1812) einen teuren Sohn und Ferdinand einen heißgeliebten Bruder.

Im Jahre 1814

starb dann auch der Vater. Durch diese schweren Schicksalsschläge und durch eine Schußwunde, die Ferdinand lange auf dem Krankenlager gefesselt hielt, wurde der

Jüngling ernst gestimmt, und es erwachte in ihm der Entschluß, den Beruf seines Vaters zu wählen. Durch Verhältnisse begünstigt, wurde

es ihm möglich, seine theologischen Studien in Göttingen und Lalle zu

absolvieren. Er war schon einige Jahre Landpfarrer in Mahlum und Bodenstein, als er um Luise Loffmann, die für die damalige Zeit hochgebildete

Tochter des Superintendenten und Konsistorialassessors Loffmann zu Nette, unweit Lildesheim, warb.

Lier geben die Aufzeichnungen Ledwig Breymanns (der jüngsten

Schwester von Lenriette) nach der Erzählung der Mutter ein interessantes Zeitbild des Einzugs des jungen Ehepaares in den neu zu beLyschintta, Henriette Schrader 1.

1

2

Kapitel 1:

gründenden Haushalt. Sie schreibt nach dem Diktat von Henriette wahrscheinlich: „Am 13. Dezember 1825 war Ferdinand Breymanns Hochzeit in Nette und an demselben Abend konnte der überglückliche Bräutigam seine Braut mit dem Wagen nach Lause fahren. Ohne Gefahr war eine solche Fahrt von ein und einer halben Stunde in der Jahreszeit, bei den von Schnee und Regen aufgeweichten Wegen nicht: Wagen und Pferde kamen momentan in ganz gefährliche Lagen, bald klaffte ein tiefes Loch, bald bedurften selbst kräftige Pferde eines Vor­ spanns, um in dem Arschlamm schweren Bodens vorwärts zu kommen. Anterdessen harrte die bäuerliche Wirtschafterin im Mahlumer Pfarrhause ungeduldig und wehmütig zugleich auf das junge Ehepaar. Frau 3. wußte, daß ihre letzte Stunde in der Pfarre geschlagen hatte, daß ihre Regierung nun zu Ende kam; sie sollte nur noch das neue Mädchen, welches eingezogen war, unterweisen. Sie ttocknete sich oft mit dem Zipfel der blauen Schürze die Augen, denn sie wußte es ja, daß ihr lieber junger Herr Pastor es nie wieder so gut haben werde wie bei ihr. Die stattliche Frau Kantorin brachte Gewinde aus Tannengrün und unterbrach dieRede und das Seufzen der traurigen Frau Z. Die Girlanden wurden vor den Türen angenagelt. Als sie die roten Barnsteine der Diele und die gescheuerten Fuß­ böden der Wohnzimmer im Zickzack mit weißem Sand bestreut gewahr wurden, nickten sich beide Frauen wohl zuftieden mit ihrem Werke zu. Bald schloß die Wirtschafterin der Frau Kantorin Zimmer und Koffer auf und beide ergingen sich in Bewunderung der gediegenen und zier­ lichen Ausstattung. „Ja, sie hat auch ganze tausend Taler gekostet!" Frau Z. wußte das ganz genau, und wenn das Haus, das umgebaut wurde und noch in Lehmwänden stand, erst fertig sei, dann sollte noch die prächtige Visitenstube und Visitenkammer eingerichtet werden. Der Spiegel dazu mit Gold verziert, stand schon in einer Kammer, goldene Gardinenhalter und Gardinen mit Spitzen lagen schon da. An den Möbeln aus Ahornholz arbeitete Meister Lüdicke in Volkersheim schon lange; der schwarze Wolldamast für Sofa und Stühle war in Hildes­ heim gekauft. Die Frau Kantorin hatte dabei ihre eigenen Gedanken, sie meinte, die junge Frau müsse noch reicher sein, als sie gehört. Tau­ send Taler an die Ausstattung eines Pfarrhauses zu wenden, in dem schon einige Zimmer des jungen Pastors ganz stattlich möbliert waren, bedinge doch ein größeres Vermögen als fünftausend Taler, welches die Mitgift der jungen Frau sein sollte und auck war. Die Frau Kantorin

Vorfahren.

3

wurde sicher und sicherer beim Anschauen der geschmackvollen Garde­ robe, daß dahinter mehr stecke, als man sage, und sorgte dafür, daß sich die Fabel von dem „Reichtum" der jungen Frau verbreitete und unter den Bewohnern des Dorfes festsetzte, die selten von einer einmal ge­ faßten Meinung lassen. Die Töchter der Landpfarrer in damaliger Zeit erhielten nicht immer eine so sorgfältige Erziehung, wie den drei Schwestern Hoff­ mann zuteil geworden war, so daß sie mit allen häuslichen Tugenden^, mit strenger Gewöhnung zur Arbeit eine tüchtige Ausbildung des Geistes vereinten. Sauberkeit und geschmackvolle Umgebung war ihnen ein Lebensbedürfnis, und Luise Hoffmann fand es ganz selbstverständlich, sich ihr neues Heim in gewohnter Weise auszustatten, ohne nut im geringsten die Grenzen solider Einfachheit zu überschreiten. Der kurze Tag neigte sich seinem Ende zu, der Herr Kantor pen­ delte mit dem Kirchenschlüssel in der Hand vom nahen Schulhause durch den liefen Schmutz bis zur primitiven Treppe, die zum Kirchweg führte; er wollte die Betglocke läuten. Durch di« Reihen der Frauen in runden, bunt geblümten Mänteln, auf dem Kopfe kleine schwarze zugespitzte Mützchen, an denen lange Bänder im Winde flatterten, bahnte er sich seinen Weg: „Der Herr Pastor und die Frau Pastorin kommen noch lange nicht!" rief er den Neugierigen im Vorübergehen zu und verschwand in der Kirchentür, vor welcher ein« hohe Esche stand und ihr kahles Gezweige über das Gotteshaus breitete. Der Abend wurde zur finsteren Nacht, und manchmal lauschte die Wirtschafterin ängstlich, ob sie noch keinen Wagen rollen hörte. Am andern Morgen ging wie ein Lauffeuer die Nachricht durchs Dorf, der Herr Pastor mit seiner jungen Frau sei in der Nacht, in der Geisterstund« ohne Fährlichkeit in das Mahlumer Pfarrhaus glücklich ein­

gezogen. An eine Hochzeitsreise in der Jahreszeit war damals nicht zu denken, und so ließ sich das junge Ehepaar häuslich nieder. Die ersten Wochen und Monate verstrichen rasch, wenn auch einsam für die junge Frau, welche die geliebte Schwester Christiane und liebe Nichten und Neffen vermißte. Gab es doch bald in und außer dem Hause allerlei Neues zu überlegen und zu planen. Auch wurden beide Gatten von nicht ungefährlicher Krankheit befallen. Diese trüben Erfahrungen dienten nur dazu, die Sonne ihres ehelichen Glücks um so heller leuchten zu lassen.

4

Kapitel 1:

So kam der Frühling heran und mit ihm auch ein äußerer Glücks­ fall, der die Gatten hoch erfreute. Pastor Ferdinand hatte sich einige Tage nach seiner Verlobung ein LotterieloS gekauft, das er nachher nur auf Luisens Zureden behielt. Hm Pfingsten 1826 tauschte er sein Los gegen einhundert Taler ein 1 Zu Ostern schon hatte seine Luise ihm «in stattliches Reitpferd geschenkt, welches sich auch zum Fahren verwenden ließ, und nicht wenig stolz war der junge Pfarrer auf seine Geschicklichkeit als Roffelenker. Ein Teil der hundert Taler wurde zur Anschaffung eines zierlichen Wagens verwendet und der schöne Plan einer Reise zu den Thüringer Verwandten in Gesellschaft der geliebten Schwester der Braut, Christiane, wurde zur Wirklichkeit." Senriette schrieb später über die Beziehungen zu den thüringischen Verwandten folgendes: „Thüringen, das herrliche, kräftige und poesie­ volle Thüringen mit seinen Bergen und Tälern, mit den frischen Wiesengründen, den dunklen Tannen und hohen, lichtgrauen Buchen, seinen Felsen und rauschenden Wassern und stillen Seen war das SeiMailand von Luise Breymanns Vater. Er war am 20. Februar 1747 im Pfarrhaus« zu Singen am Singerberge geboren Mit den Geschwistern und Verwandten in Thüringen wurde auch (von Rette aus) ein regelmäßiger Verkehr unterhalten besonders durch die thüringi­ schen Medizinverkäufer, die jährlich zweimal aus ihren Bergen in anderer Serren Länder wanderten und Briefe und Sendungen zwischen den Verwandten von dort und Rette vermittelten. Eine Lieblings­ schwester des Superintendenten Soffmann hatte den Pastor Fröbel von Oberweißbach geheiratet, und am 21. April 1782 wurde ihr jüngster Sohn, Friedrich Fröbel geboren, worauf sie bald gestorben war. Später war auch ein Schwestersohn des Superintendenten Soffmann, Christian Fröbel, aus Oberweißbach nach Osterode im hannoverschen Lande übergesiedelt. Die Familie Soffmann und Christian Fröbel be­ suchten einander fleißig, Johanna, Luise und Christiane Soffmann hatten sich mit ihren gleichaltrigen Cousinen Emilie, Albertine und Elise Fröbel auf das herzlichste befteundet, und diese Freundschaft blieb eine dauernde, tteue bis an ihr Lebensende." Die Reise von Senriettens Eltern im Jahre 1826 nach Thüringen war in ihren Folgen für die ganze Familie so wichtig, daß ich der jungen Frau selbst das Wort erteile. Sie schrieb darüber folgendes: „Am letzten Juli 1826 traten wir die Reise im eigenen Wäglein an und fuhren über Göttingen, Kassel, Eisenach, Gotha nach manchen beschwerlichen

Vorfahren.

5

Wegen dem Thüringer Walde immer näher. Mil dem Städtchen Königsee erreichten wir unser erstes Reiseziel. Lier wohnten zwei Neffen unseres Vaters, der Amtmann und der Bürgermeister Loffmann. Der erstere war verheiratet, und in seinem Lause fanden wir die freundlichste Aufnahme. Wir besuchten mit ihm den Geburtsort unseres Vaters, Singen, und andere Plätze, die uns aus den Erzäh. lungen unserer Kinderjahre interessant waren; auch die schönen Punkte der Umgegend, wie Paulinzelle, wurden aufgesucht. Als unsere Zeit für diesen Besuch abgelaufen war, begleiteten uns die lieben Verwandten nach Keilhau. Welch freudiges Wiedersehen mit den beiden

Familien Fröbel! Friedrichs Frau*) hatten wir schon durch ihre Briefe schätzen ge­ lernt und hatten sie infolge ihres liebenswürdigen Entgegenkommens und ihres innern Wertes bald in unser Lerz geschloffen. In diesem Kreise trat unS ein einzigartiges Leben entgegen. Den regen, belebenden Geist Fröbels hatten sich auch seine Mitarbeiter und Lehrer völlig zu eigen gemacht, und so wurde von allen Zöglingen Unterricht und Erziehung mit Frische und Liebe entgegengenommen. Man fühlte sich wie in einem großen fröhlichen Familienkreise, und da alle bemüht waren, dem verwandtschaftlichen Besuche diese Tage angenehm zu machen, so wurden sie die glücklichsten unserer Reise. Wir logierten bei unsermVetter Christian**) und brachten inseiner Familie die ersten Morgenstunden zu. Lausväterliche Geschäfte nah­ men ihn später in Anspruch, dann holte uns Friedrich zu Spazier­

gängen ab, denn wir mußten alle seine Schöpfungen, die er in der schönen Umgebung Keilhaus an geordnet hatte und die meistens von Lehrern und Zöglingen ausgeführt wurden, in Augenschein nehmen. Jeden Tag wurde ein anderer Berg bestiegen und immer neue Aussichten boten sich dem Auge dar. Wie gern hörte man Fröbels Erzählungen und Mitteilungen seiner Ideen zu; besonders wenn ein Plätzchen zum AuSruhen kam, wurde das Gespräch allgemeiner. Ich erinnere mich noch, daß er uns von einem kleinen Knaben er­ zählte, der an den Masern erkrankt gewesen war und infolgedessen an den Augen litt und keinen Unterricht nehmen durste. Wenn irgend mög•) Friedrich Fröbels erste Frau, Senriette Wilhelmine geb. Soffmeister aus Berlin. •*) Christian Fröbel war mit seiner Familie nach Keilhau überge» siedett, um seines Bruders Unternehmen finanziell zu unterstützen.

Kapitel 1:

6

lich war er stets in der Umgebung Fröbels und begleitete ihn auf seinen

Gängen. Dieser Knabe fehlte eines Abends, als die Schlafstube nach­

gesehen wurde, in seinem Bette. Er wurde allenthalben gesucht, man

konnte ihn nicht finden; endlich ging man in den großen Speisesaal, um dort nachzusehen. Da fand man ihn an Fröbels Platze schlafend auf der Erde. Dies mag ein Beweis sein, wie es Fröbel verstand, der

Kinder Kerzen in Liebe an fich zu fesseln.

Nachmittags versammelte fich der Kreis wieder, und hatten die Zöglinge einen freien Nachmittag, konnten fie ihre Zeit benutzen, wie

fie wollten, so schlossen fie fich gern einer Partie ins Freie an, die von der Familie gemacht wurde.

Wie vergnügt ging es einmal auf den

Steiger, Blankenburg zu. Viele Zöglinge hatten uns begleitet, und mit

ihnen begann Fröbel gemeinschaftliche Spiele. Nach der Rückkehr des Abends saßen wir gewöhnlich in dem großen Speisesaal, von der Fa­

milie Friedrich Fröbels bewirtet.

Die Zöglinge hatten schon früher

ihr Abendbrot eingenommen, die älteren unter ihnen, welche mit ihrem Musiklehrer eine kleine Kapelle gebildet hatten, unterhielten uns mit

Musikvorttägen.

Auch ein Gesangschor war da, der besonders im

Freien mit schönen, mehrstimmigen Liedern überraschte. Dieses ideale Leben und Wirken Fr. Fröbels und seiner Mit­

arbeiter sprach unS so an, und wir fühlten uns in diesem Kreise so

glücklich und wohl, daß wir den Bitten aller nachgaben und auf eine Weiterreise nach Weimar verzichteten, um noch einige Tage hier bei

unsern Lieben verweilen zu können. Aber der Tag der Trennung kam

doch heran; wir schieden traurig von den teuern Verwandten, die uns

noch mit vielen kleinen Andenken, meistens Arbeiten der Zöglinge be­ schenkten. Friedrich konnte sich gar nicht von uns trennen, er begleitete

den Wagen eine ganze Sttecke durch die Felder, händigte unterwegs

meinem Manne sein Buch über „Menschenerziehung" ein und sprach noch manches schöne und liebe Wort zu uns. Mit dem festen Ver­ sprechen, uns in unserer Keimst aufzusuchen, schied er von uns.

Wie tief dieser Besuch mein Kerz bewegte und stets in lebhafter Erinnerung geblieben ist, wird dadurch bewiesen, daß jetzt (1874) nach einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren mit so viel Freuden und

Leiden doch die schönen Eindrücke von damals nicht verwischt sind. Daß dieses Wiedersehen einen neu belebten Briefwechsel mit den Mitgliedern dieses lieben Verwandtenkreises nach sich zog, war ganz

natürlich. Nach zwei Jahren vor den Kerbstferien erhielten wir einen

Vorfahren.

7

Brief mit der erfreulichen Nachricht, Fröbel und Middendorf, die

innigsten Freunde, letzterer der Schwiegersohn von Christian Fröbel, würden mit den älteren Zöglingen eine Larzreise machen und bei dieser

Gelegenheit auch Mahlum aufsuchen. Unsere Freude war groß, und da auch einige von Fröbels Neffen

und der Musiklehrer 55err Karl sie begleiten wollten, mußten in unserm kleinen Pfarrhause allerlei Zurüstungen zur Aufnahme der lieben Gäste getroffen werden. Doch es ließ sich sehr gut einrichten, und bald

war alles bereit, Fröbel und seine Begleiter zu empfangen.

Das Wiedersehen war herzlich, doch drückten manche Sorgen

pekuniärer Art, und eine nahe bevorstehende Trennung der beiden Freunde lastete auf ihrem Gemüt. Manches hatte sich geändert, und Fröbels Grundsatz von der freien Entwicklung wurde angefochten. Das

alles rief ernste Gespräche zwischen den Männern hervor, doch die jungen Leute wurden dadurch nicht gestört in ihrer Heiterkeit. Wir machten in unserer hübschen Gegend verschiedene Ausflüge ynd dabei

überraschten uns oft an schönen Plätzen im Walde vierstimmige Gesänge.

Auch mein Geburtsort Nette wurde ausgesucht. Dort war meine älteste

Schwester an den Nachfolger meines Vaters, den Pastor Rauterberg verheiratet. Viele Erinnerungen an Kindheit und Jugendzeit wurden

wachgerufen, und der Vergleich von damals und jetzt rief ernste Stim­

mungen hervor. Doch wenn Kerrn Karls schöne Stimme uns mit einigen Liedern erfreute, so wurden unsere Äerzen hoffnungsfreudiger gestimmt. Ich habe mich später noch oft dieser Zeit erinnert, besonders als

wir nach einigen Jahren die Nachricht bekamen, dieser liebenswürdige junge Mann sei beim Baden in der Saale ertrunken.

In der Zwischenzeit unseres Vesuches in Keilhau und des eben­

erwähnten in Mahlum war Middendorfs und uns je ein Töchterchen geschenkt. Beide Kinder waren fast gleichaltrig. Unsere kleine Lenriette

hatte damals noch nicht ihr erstes Jahr zurückgelegt, aber ihre Lebhaftigkeil und frühe Entwicklung zogen Fröbels Aufmerksamkeit besonders

auf sich, da er ja jedes Kinderleben, das ihm vorkam, genau beobachtete.

Ein Urteil, das er über unser Kind sprach, ist wirklich ein prophetisches gewesen, und ich habe es nie vergessen können. Später habe ich Fröbel nicht wiedergesehen.

Unsere zahlreiche

Familie machte mir weitere Reisen unmöglich; aber ich blieb stets mit Keilhau in Briefwechsel. Durch unsere Kinder knüpfte sich das Band

wieder fester, und erst der Tod wird es für dieses Leben lösen."

Kapitel 2.

Lenriettens Geburt, Eltern, Umgebung, Familien­ leben, erste Erziehung. entfette Juliane Johanna wurde als erstes Kind ihrer Eltern am -v) 14. September 1827 im Pfarrhause zu Mahlum geboren. Die Familienchronik berichtet: „Das vielgeliebte Töchterchen war von An­ fang an ein Sorgenkind, denn mit auffallend langgestrecktem Körper,

still und stumm kam es zur Welt; der erste Blick dieses Kindes in das

neue Dasein schien es so erschreckt zu haben, daß es die Augen schloß,

die Glieder zusammenzog und kalt und blaß wie eine Leiche dalag. Nach energischen Belebungsversuchen verlangte der vortreffliche Arzt

ein Bad Rotwein. Der angsterfüllte Vater opferte seine besten Flaschen aus seinem Keller.

Der Starrkrampf wich, diesmal kam ein durch­

dringender, herzzerreißender Schrei, dem ein fortgesetztes Weinen folgte. Erst als man das Kind der Mutter brachte, verstummten seine Klagen,

und das Kind war für das Leben gewonnen. And dieses innige Ver-

hältnis zwischen der Mutter und ihrem ersten Kinde ist durch alle

Wechselfälle des Lebens ein wunderbar schönes geblieben." Die so erwachten, zärtlich gepflegten Lebensgeister schienen in Sen­

tierte nicht mehr einschlafen zu wollen, denn noch vor dem vollendeten ersten Jahre begann das Kind zu sprechen und sehr bald nachher zu

gehen. Der von der Mutter schon angedeutete prophetische Ausspruch Friedrich Fröbels: „Nun, liebe Muhme, da hast du eine harte Nuß zu knacken" fällt in das erste Lebensjahr der kleinen Sentierte.

Zu einem starken Triebe nach Betätigung gesellte sich ein schwäch­ licher, langsam sich entwickelnder Körper und eine verhältnismäßig alles überwuchernde Phantasie, Anlagen, welche den Eltern ihre erziehliche Aufgabe nicht leicht machten.

Glücklicherweise ist das einzelne Tun und Lassen, das einzelne Oe-

und Verbot nicht das Entscheidende in der Erziehung, sondern das ganze Sein der Eltern; die Gefamtrichtung ihres Lebens und Strebens erzeugt

Lenriettens Geburt, Eltern, Umgebung usw.

9

die Atmosphäre und gibt der äußeren Umgebung, in welche die Kinder nach und nach hineinwachsen, ihre Prägung.

Die jungen Eltern er-

gänzten sich, besonders als die Kinder klein waren, aufs glücklichste.

Beide waren in Liebe vereint, beide beugten sich in tiefster Ergebenheit

vor „dem höheren Dritten" und suchten im Leben den „Willen Gottes" zu erkennen und zu tun.

Die Mutter war eine vornehme, äußerlich zurückhaltende Natur, welche die ländliche Bevölkerung oft als „stolz" bezeichnete. Der Vater

dagegen war leicht beweglichen Temperaments, zum aufbrausenden Zorne wie zur Heiterkeit und den edelsten Freuden der Geselligkeit ge­ neigt. In allen körperlichen Übungen, wie Gehen, Reiten, Tanzen

war er gewandt und mag durch seine schöne Erscheinung und gefälligen Manieren sehr früh in Kreise gekommen sein, wo feine Amgangsformen

eine Lebensgewohnheit waren; diese blieben ihm auch als Greis eigen.

In politischer Beziehung war er streng konservativ, auf religiösem Gebiete stand er auf der Seite der rechtgläubigen Lutheraner. Seiner Gemeinde war er der warmherzige Prediger und Seelsorger, und dies trug ihm stets hohe Achtung und herzliche Freundschaft von Anders­

denkenden ein. Obgleich er nie zögerte, seinen Standpunkt zu vertteten, wenn die Gelegenheit sich bot, so war er doch eine liebenSwürdigeNatur,

jeder reinen Lebensfreude offen und ein heiterer Freund der Jugend. Als die kleine Lenriette zwei Jahre alt war, bekam sie ein Schwester­

chen, das aber innerhalb zweier Jahre starb. Noch ein Schwesterchen,

Anna, wurde in Lenriettens viertem Lebensjahre geboren, und in ihrem fünften Lebensjahre kam Karl, der erste Junge, zur Welt. Innerhalb

der folgenden vier Jahre wurde der Kinderkreis um zwei Mädchen, Marie und Albertine, vergrößert, und im Laufe der Jahre kamen noch vier Kinder dazu. Dieses zahlreich werdende kleine Volk stellte unausgesetzt For­

derungen an die wirtschaftliche,

organisatorische und erzieherische

Leistungsfähigkeit der Eltern, ganz besonders der Mutter. Diese war noch dazu eine eigene Lausfrau, die überall selbst die letzte Land an­ legte und keinen vergessenen Winkel im Lause duldete. Sie hatte ihre

Kinder viel um sich, sie überließ sie niemals einem Dienstboten in der

Nacht, selten am Tage, und sie wußte sie in froher Tätigkeit in ihrer Nähe zu halten. Dabei war sie eine Frau von wenig Worten, sie schalt nie, gab selten Befehle; aber in einigen wenigen Dingen forderte sie

unbedingten Gehorsam. Selten wurde ein Kind durch äußere Zärtlich.

10

Kapitel 2:

keit ausgezeichnet, aber wo sie sich mit dem Flickkorb und Nähutensilien

niederließ, da fand sich das kleine Volk bald ein. Ost lange unbeachtet,

spielten die Kinder um die Mutter herum, sie wußten sich geborgen; wo sie war, war man eben „zu Lause". So flößte diese stille, sanft auf­

tretende Frau ihren Kindern das unbedingte Vertrauen ein, daß nie­ mand auf der Welt sie so liebte, wie eben die Mutter. Die Lage des Pfarrhauses ließ den Kindern viel Spielraum. Das

LauS, an und für sich nicht groß, lag auf einem sanften Lügelabhange ein wenig tiefer als die Kirche. Ein kleines Vorgärtchen schützte zwei mächtige Rosenstöcke, ein weißer und ein roter, welche die Laustür um­

rankten und ihre duftende Blütenfülle bis zu den Fenstern des oberen Stockwerkes emportrugen, überschritt man die Schwelle, so gelangte man in einen verhältnismäßig großen Mittelraum, „Diele" genannt, mit steinernem Fußboden, welcher die ganze Tiefe des Laufes einnahm.

Auf diesen Mittelraum mündeten alle Wohn- und Wirtschastsräume und im oberen Stockwerk wiederholte sich ungefähr dieselbe Raumein-

teilung.

Auf der Diele wurde im Sommer das Mittagsmahl der

Familie eingenommen, während dann und wann eine Schwalbe durch

die geöffneten Fenster den Raum durchflog nach dem Garten. Dieser

dehnte sich sanft bergab hinter dem Lause bis zu dem muntern Bächlein, welches den Garten in zwei ungleiche Teile teilte. Ein wackliger Lolzsteg

stellte die Verbindung dar. Dieser Pfarrgarten war groß genug, um

den Liebhabereien der Erwachsenen wie der Kleinen zu genügen. Ein gut bestellter Gemüsegarten entsprach den Forderungen der anspruchs­ vollsten LauSftau und selbst der „Pavillon", wie alles andere im Brey-

mannschen Lauswesen, trug die eigenartige Verschmelzung des Nützlichen mit dem Schönen an sich.

Von vorn gesehen erschien der sogenannte „Pavillon" wie der Giebel eines kleinen, griechischen Tempels, von rosen - und weinum­

rankten Säulen getragen; von hinten angesehen, entpuppte sich der Bau als ein Dörrofen, um das Obst der vielen Gärten zu dörren I Ebenfalls zeugte eine andere Einrichtung int Garten von dem eminent

praktisch-ästhetischen Sinne der Lausftau und Mutter. Das muntere Bächlein, das sich durch Wiesen und Gärten schlängelte, kam im Breymannschen Garten nicht davon, ohne seinen Zoll an Arbeit zu leisten. Dicht von Sttäuchern umpflanzt wurde ein Badekasten über dem fließenden Wasser errichtet, oben und unten offen.

Lier wurde das

kleine Volk in regelmäßigen Zeittäumen abgeseist und gebadet.

Lenriettens Geburt, Eltern, Umgebung usw.

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Die Dichtung verlegt die Wiege der Menschheit in einen grünen Garten, aber die glückliche Kindheit kann jeden gewöhnlichen Lausgarten in ein Paradies verwandeln. Zeitweise entledigte das kleine Volk sich der Erwachsenen und lebte in der Phantasie ein Zigeunerleben. Man hatte keine Eltern, man war ganz allein auf der Welt, man mußte sich selber ernähren. So mußte Bruder Karl im Bache Fische fangen, die Beute wurde im Dörrofen primitiv gebacken und auf ebenso primi­ tive Weise verspeist. Lind da in großen Familien solche Spiele auf die jüngeren Kinder unmerklich übergehen, so hören wir, daß der kleine Adolf dem großen Bruder das Fischen im Badekasten mit dem Durchschlag nachmachte, dabei verlor er das Gleichgewicht, und wenn Bruder Karl nicht zur rechten Zeit Vorsehung gespielt hätte, so wäre der kleine Adolf erttunken. Ebenfalls soll das jüngste Schwesterchen Ledwig die Tiefe des Badekastens unfreiwillig, doch glücklich erprobt haben; die Fische und Flußkrebse da unten im Grunde waren gar zu verlockend für die Kinder. Der Pfarrer selbst war ein großer Gartenfteund und er behielt sich die höheren Handgriffe der Gartenkunst, des Okulierens, des Kopu­ lierens und wie sie alle heißen, selbst vor. Da er aber vor allen Dingen ein sehr ernster, gewissenhafter Seelsorger seiner Gemeinde war und sein Kirchspiel nicht nur das Dorf Mahlum, sondern die dreiviertel Stunde entfernt gelegene Filiale Bodenstein umfaßte, so hatte er viel Lülfe nötig für seine Viehwirtschaft und seine zerstreuten Gärten und Felder. Es fanden ein zuverlässiger Knecht und ein oder zwei Tagelöhner ständige Beschäftigung bei dem Mahlumer Pastor in jener Zeit. Für dieses Personal mußte gekocht werden, was den Laushalt noch mehr vergrößerte. Wie aus dem oben Erzählten hervorgeht, kamen auch die Kinder im Pfarrgarten zu ihrem vollen Recht. Was schleppte die kleine Len riette an Schmetterlingen, Käfern und Raupen in das Laus, nicht gerade zum Ergötzen der Mutter! Viele Geschichten werden aus Lenriettens Kindheit erzählt, welche das Wesen des Kindes kennzeichnen; hier mögen einig« folgen, welche teilweise von ihr selbst, teilweise von den Geschwistern und von der Mutter mir als authentisch mitgeteilt

wurden. Ein Kinderschrei der Angst: „O Mutter! Mutter!" drang an der Mutter Ohr, und als die Mutter dem Klagelaute ihres Kindes nach­ eilte, fand sie die kleine Lenriette blutend am Fuße eines Lügels im

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Kapitel 2:

Garten liegen. Das Blut ward gestillt, der kühlende Verband auf die Stirnwunde gelegt und das üppige, gelbblonde Kinderhaar sanft vom Sande befreit. Dem Schmerz, dem Schrecken folgte süße Linderung unter der sanften Mutterhand. „Aber sag, Kind, wie kamst du zu diesem Falle?"

„Ach, Mutter, ich wollte fliegen, und ich kann es nicht!" von neuem strömten die Tränen.

And

„Ich kann nicht, was unsere Tauben können! Ich saß dort oben, da kamen die weißen Tauben und flogen so hoch, so schön in den blauen Simmet; ich wollte mit ihnen fliegen, ich streckte die Arme aus und sah nach den Tauben — da fiel ich in den Grund auf diese Steine — o Mutter, lehre mich fliegen! Willst du, Mutter?" schluchzte das sechs­ jährige Mädchen leidenschaftlich erregt. „Beruhige dich erst, mein Kind, komm mit mir, ich lege dich in dein Bett und wenn du geschlafen hast, wollen wir vom Fliegen reden", erwiderte die Mutter, indem sie das Bettchen aufdeckte und die

Kleine zur Ruhe brachte. „Willst du, willst du mich auch wirklich fliegen lehren?" fragte Henriette, die Mutter groß anblickend, als wollte es der Mutter Ant­ wort aus der Seele Grund holen. „Ich werde mit dir reden über das Fliegen der Kinder, wenn du geschlafen hast." „Also können die Kinder fliegen, Mutter?"

„Ja, ich glaube, daß manche Kinder fliegen können", erwiderte die Mutter ernst und ttaurig. „O, dann lerne ich es auch und du zeigst es mir." And in diesem

Glauben schlummerte Henriette ein. Als sie erwachte, war die Sonne schon gesunken und das Dämmer­ licht wob einen grauen Schleier um das weiße Bett des Kindes und die darüber sich beugende Mutter. Noch halb im Traum ümschlangen zwei Kinderarme leidenschaftlich den Hals der Mutter; aber mit dem erwachenden Bewußtsein tauchte auch zugleich das Erlebnis vor dem Schlummer auf und die Frage: „Mutter, kann ich fliegen lernen?" Die Mutter nahm die kleine Henriette aus ihrem Bette auf ihren Schoß, hüllte die leicht gekleideten Glieder in eine Decke und reichte ihr einen Becher voll köstlicher Milch. Nachdem sie behaglich getrunken, sagte die Mutter:

LenriettenS Geburt, Eltern, Umgebung usw.

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„Nun will ich mit dir über das Fliegen reden. Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, die will ich dir erzählen. Es war einmal eine Witwe, die hatte ein einziges Kind, welcheschwer krank wurde. Als die Mutter am Krankenlager des Kindes die Nacht durchwachte, schien das Kind in einen sanften Schlaf zu fallen.

Da erwachte das Kind plötzlich, aber es war ganz bleich und es flüsterte: „Mutter, ich habe geträumt, ich könnte fliegen!" Dann schloß es die Augen wieder und war tot. Die arme Mutter weinte bitterlich, denn nun war sie ohne ihr Kind ganz allein. Da plötzlich schien die Sonne zum Fenster herein und ein Sonnenstrahl fiel auf ein Bild, welches an der Wand hing. Du kennst das Bild auch, Lenriette. Englein kommen einem Kinde entgegen, das auf Erden gestorben ist und in den Lirnrnel ausgenommen wird. Dem gestorbenen Kinde sind Flügel gewachsen, und damit eilt

es fort von der Erde, von seiner Mutter zu dem lieben Gott, von dem es der Mutter geschenkt war, ach, nur zur kurzen Freude I Aber die Mutter erinnerte sich jetzt in ihrem tiefen Schmerze, daß ihr Kind bei Gottsei. Sie fiel auf ihre Knie und betete: „Lerr, du hast es gegeben, und du hast es genommen, dein Name sei gelobt." Wir wissen nicht, mein Kind, warum das Kind zu Gott zurückkehren mußte, aber möchtest du, daß du fliegen könntest, um mich allein zu lassen? Möchtest du nicht noch recht lange bei mir bleiben, mir helfen mit deinen Länden und selbst recht viel lernen? Dich freuen an den schönen Blumen im Garten, an dem Christbaum im Winter und an allem Schönen, was der liebe Gott uns schenkt, ehe die Flügel wachsen und du als Engel dem Simmel zueilst?" Die kleine Lenriette antwortete nicht, schmiegte sich aber inniger an das Lerz der Mutter. Diese drängte das Kind nicht zum Sprechen, und nach einer kleinen Weile hörte sie an den tiefen Atemzügen, daß es eingeschlafen war. Am andern Morgen erzählte Lenriette ihrer Mutter, sie habe ge­ träumt, sie könne fliegen, und es hatten sich bei dem Kinde die Erlebnisse deS vorhergehenden Tages und die Erzählung der Mutter im Traum so verwebt, daß sie eines vom andern nicht mehr zu trennen vermochte. Aber der Wunsch, fliegen zu können, welcher sich bis zur Leidenschaft in der Kinderseele gesteigert hatte, schien verschwunden; niemals kam Len­ riette in ihren Kinderjahren darauf zurück. Im späteren Leben begriff sie, daß Tiere in vielen angeborenen Fähigkeiten den Menschen voraus

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Kapitel 2:

sind und der menschliche Geist darin seine Würde beweist durch seine Kombinationsgabe, die Eisenbahn, die elektrischen Kabel, die Vervollkommnung der Luftschiffahrt erfand und so über die Kräfte der Natur gebietet. Da erinnerte sie sich des Kindererlebnisses und verstand, wie die Sehnsucht der Menschen, sich Flügel zu verschaffen, keine phan­ tastische sei und in welcher Form sie ihre Erfüllung finden würde. Folgende Erinnerung aus ihrer Kindheit hat Lenriette später niedergeschrieben. „Mutter, bitte erzähle uns etwas aus der Zeit, als du klein warst." So lautete ost die vereinte Bitte einer Kinderschar, welche die Mutter umgab. And mit ihrer lieben, sanften Stimme erzählte sie von ihrem Kinderspiel, ihren Kinderfteuden und ihrem Kinderleid. Ganz besonders aber fühlte ich mich gefesselt, wenn die Geschichte vom Besuch des Vetters Friedrich Fröbel aus Thüringen an die Reihe kam, wie er die Mutter „liebes Mühmchen" nannte, ihren beiden Schwestern reizende kleine Sachen aus Eicheln schnitzte und mit ihnen unter den Weiden und im Pfarrgatten ganz neue Spiele spielte. Das gut deutsche, aber mir ganz ftemdartig klingende Wort „Muhme" erregte meine Phantasie. Beim Laute desselben schuf ich mir unbestimmte, schwebende, vermummte Gestalten mit faltenreichen, fließenden Gewändern; diese zogen wie geheimnisvolles Walten um den Mann, der die Mutter „Muhme" nannte und verwebten sich mit allem, was ich jemals von ihm hörte und was mit ihm zusammenhing. Ich wurde nie müde zu fragen nach dem Vetter Fröbel, und da die Mutter mit besonderer Vorliebe von ihm und den Thüringer Verwandten sprach, so entwickelte sich das Interesse für dieses Thema gewissermaßen mit meinem Leben. Es gewann auch immer neue Gesichtspuntte und neue Nahrung durch die Korrespondenz, welche beide Eltern mit der Familie Fröbel unter­ hielten. So gab die Mutter mir, ohne daß sie es ahnte, schon früh den Faden in die Land, der einst mein Leben leiten, der ihm seine Richtung geben sollte. Sie pflegte Beziehungen zwischen mir und einer Welt, in der die eigentliche Leimat meines Geistes lag. Die Mutter erzählte so gern, auch manche andere Kunst erheiterte die Winterabende um den Lampentisch. Unter anderem hatte die Mutter ein Talent zum Ausschneiden und ich, wohl fünf oder sechs Jahre alt, verfolgt« mit regem Interesse die geschickten Finger der Mutter, wenn sie Tiere und Blumen ausschnitt. Wenn dieselben aber eine Zeitlang als Spielzeug gedient hatten, ertönte von neuem die Klag«:

Äenriettens Gebuxt, Eltern, Umgebung usw.

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„Mutter, ich habe so Langeweile! Was soll ich jetzt tun?" Eine andere Lieblingsbeschäftigung von mir war das Waldbauen. Auf dem Wirtschaftshofe stand im Lolzstall, der zugleich als Wagenschuppen diente, in einer Ecke ein mächtig großes Stück von einem hohlen Baumstamme mit Sand gefüllt.. Man brauchte damals viel Sand zum Scheuern der Fußböden, Bestreuen der Hausflur und der. gleichen. Unter diesem mächtigen Sandvorrate befanden sich öfter größere feste Stücke. Diese suchten wir Pfarrkinder aus und trugen sie in einer Molle mit losem Sande in das Zimmer, wo auf dem Tische ein Wald mit Felsen gebaut wurde. Grüne Zweige wurden auftecht in den Sand gesteckt. Dann krönte die liebe Mutter die Freude der Kinder, indem sie Hirsche, Rehe, Eichhörnchen und Vögel ausschnitt und so den Wald bevölkerte. Die übrigen Kinder spielten beftiedigt mit dem Erarbeiteten und dem Gegebenen, nur mich trieb die Unruhe und die Ungeduld, bis alles fertig war. Dann war sehr bald der Reiz dahin. Einmal aber geriet ich in sehr große Erregung, als jemand einen großen lebenden Hirschkäfer als Ungeheuer in den fertigen Wald setzte. Er riß Bäume um, wirkte so zerstörend, daß der Anblick meine Phantasie auf das höchste erregte, und ich mir später ungefähr so den Untergang der Welt vorstellte. Der Fragegeist, das Bedürfnis nach Ereignissen, Er­ lebnissen, nach Erregung von außen zeigte sich ftüh und wuchs mit meinen Jahren."

Der Glanzpunkt der Winterfreuden in, Mahlumer Pfarrhause war und blieb das Weihnachtsfest, das zwar durch keinen großen Auf­ wand an materiellen Mitteln unterstützt werden konnte, das aber die stille Tiefe des religiös-sittlichen Lebens der Eltern mit einem nie verblassenden Zauber umgab. Bald merkte wohl die kleine Henriette, daß der Mutter Reisen nach Braunschweig mit dem kommenden Feste zusammenhingen, aber mit der größten Vorsicht wurde vorgegangen. Das Haus war zwar klein und die Kinderschar immer größer, dennoch erriet kein Kind etwas von den es erwartenden Freuden. Eine allgemeine Atmosphäre des Mysteriums, durchleuchtet von der fteudigen Erwartung, daß etwas ganz Außergewöhnliches geschehen müsse, das war die Grundstimmung, in welcher die Familienglieder groß und klein ihren täglichen Geschäften in der Adventszeit nachgingen. Hinter verschlossenen Türen wurden der Schneider, die Schneide-

Kapitel 2:

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rin wochenlang im Lause beschäftigt, denn jedem Kinde sollte ein

neues Kleidungsstück am Festmorgen vor seinem Bett bereit liegen. Mußte ein Kleidchen oder ein Löschen vorher angepaßt werden, so ging man diplomatisch zu Werke; das betreffende Mädel oder der Bub'

wurde beim Spiel gekapert und mit fest verbundenen Augen in daKleideratelier zur Anprobe geführt. Wieder frei gelassen, konnte das Kind weder sich noch andern Rechenschaft über den geheimnisvollen

Vorgang geben; die Eindrücke waren eben mit der allgemeinen, er*

wartungsvollen Feststimmung verschwommen. £lnb wenn es am heiligen Abend dämmerte und die Kinder unten in der Wohnstube um die alte „Giesicke" geschart, auf die ersten Töne

der Weihnachtsglocke harrten, vernahmen sie mit Spannung in dem Raume über ihnen die Schritte der Mutter, wie sie den Weihnachts­ tisch deckte. Auf einmal öffnete sich ein Deckel in der Stubendecke (eine

Einrichtung, um zwei übereinanderliegende Räume durch einen Ofen zu Heizen), und an einen Faden gebunden senkten sich durch die Öff­ nung Äpfel und Zuckerwerk hernieder.

In heiliger Scheu verspeisten

die Kinder diese Gaben, als wäre da oben das Christkind selbst in

Engelsgestalt eingekehrt. And nun ertönt die Glocke, alle Türen werden geöffnet, die Treppe wird von den größeren Kindern erstürmt, die kleineren steigen an der Land oder im Arme der Eltern hinauf, von der „Giesicken" und dem

Knecht begleitet und stehen wie verzaubert vor dem strahlenden Christ­

baume da! Die Kinder singen ihr schon vor Wochen erlerntes Lied, der Vater erzählt mit kurzen Worten etwas vom Christkinde, und ein

gemeinsamer Gesang schließt den ersten Teil der Feier.

Allzulange

wird die Geduld der Kinder nicht auf die Probe gestellt. An der Land der Eltern entdecken sie nie geahnte Schätze an Kleidung, Spielzeug, Naschwerk und sie dürfen bis zur Ermüdung unter dem Christbaume spielen. Jahr aus Jahr ein gingen die Eltern auf diese reinen Kinder­ freuden ein; bei der größten Einfachheit wußten sie den Weihnachts­

aufbau immer neu zu gestalten, und im Laufe der Zeit erwuchs ihnen

freudige Lülfe durch die ältesten Kinder Lenriette, Anna und Karl.

Viel Geschick zeigten die ersteren beim Ankleiden der Puppen, während letzterer der Weihnachtsstube einen eigenen Reiz verlieh durch die Park­ anlagen und Gärten, die er unter dem Weihnachtsbaum entstehen ließ. Ein Weihnachtsabend hebt sich ganz besonders glanzvoll in der

Erinnerung der Kinder hervor durch das Geschenk eines lebendigen

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LenriettenS Geburt, Eltern, Umgebung usw.

kleinen vstfriesischen Schafes.

Schön gewaschen und bekränzt fanden

die Kinder das Tier unter dem Weihnachtsbaume, ein Blatt um den Lals gebunden, worauf folgende Verse standen:

Des Schafes Ansprache. 1. Leut' zum Feste Bringt das Beste Was er hat, ein jeder her, Drum die Gahe Die ich habe. Ich mich selber Dir verehr'!

2. Was geschmücket. Das entzücket. Wollt' so gern gefallen dir. Ließ mich Haschen, Ließ mich waschen, Ließ auch Kränzchen machen mir.

3. Gib mir Speise Güt'gerweise Wohl bisweilen deiner Land; Dankeslieder Auf und nieder Sing in Baß ich und Diskant. 4. Doch, ob zierlich !lnd manierlich Ich mich habe noch so sehr. Wirst nicht achten. Wirst mich schlachten. Wirst mich speisen hinterher!

Laß mich den ängstlichen, jugendlichen Leser dieser Geschichte be­

ruhigen mit der Versicherung, daß das Schäfchen in der Kinderwelt kein so tragisches Schicksal zu erdulden hatte. „Chtirie" (so hieß das Schäfchen) wuchs und gedieh — ja, es wurde zahm und dreist bei der

guten Behandlung und t-ilte nicht nur das Leben mit den Kindern außer dem Lause, sondern stellte sich sehr pünktlich zu den Mahlzeiten

im Lause ein und war bereit, einem Kinde die Lagerstätte streitig zu machen. Es hatte auch von feiten der Jugend manche Geduldsprobe zu bestehen. So mußte es dem kleinen Adolf als Reitpferd dienen und,

von dem älteren Bruder Karl geneckt, warf es den Reiter auf einen

Steinhaufen, so daß er ohnmächtig liegen blieb.

In welcher Seelen-

Verfassung die arme Mutter herbeieilte, um den erlegenen Reiter physisch, dessen Bruder moralisch zur Besinnung zu bringen, können

wir uns leicht vorstellen. Eine ganz besondere Freude gewährte es den Kindern, wenn sie das Schaf vor den kleinen Wagen spannten und die Mutter einen Korb

mit reichlichem Essen und das jüngste Ledchen als Ladung auf den Wagen setzte.

So zogen Mutter und Kinder nach dem entfernten

Stück Land „Speckgarten" genannt, der ebenfalls zur Pfarre gehörte.

Dort wurde das Obst und Gemüse prüfend gemustert, die reifen Früchte Lyschtnsla, Henriette Schrader I.

2

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Kapitel 2:

sorgfältig verpackt und aufgeladen. Nach getaner Arbeit ließ man sich das Abendbrot im Freien gut schmecken und kehrte vergnügt, wenn auch schläfrig heim. Zu allen Jahreszeiten gab es der Kinderfreuden viel. Im Frühjähr wurden die Ostereier selbst gefärbt und bei schönem Wetter im Garten versteckt und gemeinsam gesucht. O, die Wonne der Kinder und der Wettbewerb um das Auffinden der ersten, duftenden Veilchen im Grasgarten 1 Im eigenen Gehölz hatten die Knaben einen Dohnenstieg errichtet und im Winter verlegten fie ihre Iagdgelüste in den Lühnerstall, wo sie mit der Dorftugend und mit der Schlinge die Sperlinge erlegten. In wehmütiger Erinnerung an das verlorene Paradies ihrer Kindheit schreibt Lenriette viele Jahre später über das Mahlumer

Leben: „Wenn wir jetzt dorthin wanderten, würden wir das Laus und seine Umgebung nicht mehr finden, wie es war, als ich dort das Licht der Welt erblickte. Das Nühlichkeitssystem, welches dem Erdboden das Möglichste abzugewinnen strebt, hat grüne Wälder und blumige Wiesen zu Feldern gemacht und die Ackerverteilung oder „Separation" Lecken und Bäume beseitigt, die Mahlums Umgebung so liebreizend machten. Vielleicht ist auch der kleine Fluß, der sich in malerischen Krümmungen durch hügelige Wiesen schlängelte, aus seinen» Bette verdrängt und in grad­ linige Kanäle geleitet und das rieselnde Bächlein, welches den Pfarr­ garten, den daran grenzenden Weg, die Eulenburg genannt und andere Gärten durchzog, mit ftuchttragendem Erdreich verschüttet. Die schmalen wackligen Stege, welche zu überschreiten zugleich Grauen und Lust in den Kinderherzen weckte, sind verschwunden oder durch höchst prak­ tisch«, unmalerische Brücken ersetzt. Und die alten Weiden auf dem Wiesenwege nach Bockenem, welche über das Wasser beugten, an deren Zweige die Pfarrkinder sich klaminerten, um gelbe Wasserlilien oder Vergißmeinnicht zu pflücken, sind gewiß in den Ofen eines Bauern gewandert. Wohlgepflegt, systematisch geordnet wird alles sein, dem Auge gleich übersichtlich, und des Mondes Dämmerlicht wird kein knorriges Geäst eines Weißdornbusches, keine hohle Weide mit ihren wunderlichen Gebilden »nehr zu Schreckbildern malen, vor denen die Breymannschen Kinder, eng aneinander ge-

Henriettens Geburt, Eltern, Umgebung usw.

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schmiegt, eilenden Laufes flohen, wenn sie oft noch abends Botenwege fitr den Vater verrichteten. Es ist jetzt alles so verständig, klar und prak­ tisch geordnet, daß es auch bald für die Kinderwelt kein Mysterium mehr geben kann mit seinem poetischen Grauen und Träumen und freiem und ungekünsteltem Spiele, wie wir es noch genossen im alten Pfarrhause zu Mahlum."

Kapitel 3.

Der erste Anterricht in Laus und Schule.

nicht nur ein

freies, ungebundenes Sich-Ausleben in und mit der Natur genossen die Kinder des Mahlumer Pfarrhauses, und ich würde ein durchaus einseitiges Bild ihrer heimatlichen Umgebung ent­ werfen, ohne der wundervollen Reinlichkeit und Ordnung zu gedenken, die jedem Mitglieds seine Stelle, seine Rechte und seine Arbeit zuwies. Die wohlwollende Zucht, welche Große und Kleine umgab, bildete eine gesunde Grundlage für die den Eltern innewohnende Liebe zur feinen Sitte. So fand das Ungestüm der urwüchsigen Kindesnatur sehr ftüh ein Gegengewicht in der Gebundenheit des Reinlichen, des Schick­ lichen, der Pflicht im Dienste der Liebe. Die Kinder wurden ftüh angehalten, Knaben wie Mädchen, an den Arbeiten im Lause wie im Garten teilzunehmen. Sie verstanden, frische Erde zu sieben für des Vaters Blumentöpfe, Blumenbeete wurden gejätet und bepflanzt und ftüh übte der älteste Sohn unter seines Vaters Leitung seine Liebhaberei, die Lerstellung von Gartenanlagen und hübschen Baumgruppen. Dann kam die schöne Zeit der Leuernte auf den Wiesen, dann kam im Lerbst die Kartoffelernte, wobei auf freiem Felde Feuer angezündet und in der Asche von den Kindern Kartoffeln gebraten wurden. Der Vater leitete selbst die Anfänge des Unterrichts des ältesten Kindes wie der nachfolgenden, und ihre Fortschritte körperlicher und geistiger Art wurden auf dem Kalender am Schreibtische neben welt­ bewegenden Ereignissen, Witterungswechsel, Terminen der Kirchenver­ waltung u. dergl. getreulich ausgezeichnet. Wie seltsam liest sich so ein verbrauchter, vergilbter Kalender von Anno 183 ..Obes auf Sinnes­ täuschung beruht, wenn man meint, an dem Kalender die Nähe des langen Pfeifenständers im Pastorenzimmer noch zu spüren? Nach einer kleinen Frist wurde Lenriette dem Schullehrer Nolte überwiesen, und als die ersten technischen Schwierigkeiten des Lesens überwunden waren, wurde die kleine Lenriette im achten Jahre wieder

Der erste Unterricht in Laus und Schule.

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von dem Vater unterrichtet. So vergingen drei Jahre, ohne daß merk­ liche Fortschritte zu verzeichnen waren. Die Methode des Lerrn Pastors mag dem lebhaften Mädchen das Wissen nicht sehr anziehend haben erscheinen lassen; auch mögen die Amtsgeschäfte des sehr ge­ wissenhaften Seelsorgers und der zunehmende gesellige Verkehr im Lause dem Unterrichte hinderlich gewesen sein. Die größte Schwierig, leit lag jedenfalls in dem schwankenden Gesundheitszustände, der be­ denklichen Blutarmut und unregelmäßigen Herztätigkeit des Kindes selbst, die jede konsequente Lebensführung, jede regelmäßige Zeitein­ teilung vereitelte. Als Lenriette vielleicht acht Jahre alt und viel durch Krankheit auf Bücher zu ihrer Unterhaltung angewiesen war, las sie Geschichten sehr gern. In diesen wurde vieles erzählt von kleinen Mäd­ chen, welche lieb und gut waren, vieles erlebten und vieles taten. Marie und ihr Bruder Heinrich wurden von Räubern gefangen, aber wieder errettet. Eine kleine Elisabeth ging zur Königin und befreite ihren Vater aus dem Gefängnisse, in welchem schlechte Menschen ihn gefangen gehalten, ohne daß er etwas Böses getan hatte. Agnes war so fromm, sie betete so gerne, und als sie krank wurde, freute sie sich zu sterben und ein Engel zu werden. Ledwig bekam eine ganze Puppen­ familie zu Weihnachten und sie lernte Puppenzeug machen und saß immer bei der Mutter, wenn diese nähte usw. Aber nur einmal kam eine „Lenriette" vor; die Geschichte hieß: „Die unvorsichtige Lenriette", und die konnte die Leserin gar nicht leiden. Es hieß darin: „Lenriette stieg mit einer Gabel in der Land auf einen Stuhl, um aus dem Fenster zu sehen; sie fiel und stach sich mit der Gabel das eine Auge aus; sie mußte viel Schmerzen leiden und war nun für das ganze Leben „die einäugige Lenriette." Das war dem Kinde zu schrecklich, weinend um­ schlang Lenriette ihre Mutter, indem sie rief: „Mutter, bitte, bitte gib mir einen andern Namen I Warum könnte ich nicht Marie heißen, dann käme ich unter die Räuber! Ich will nicht mehr Lenriette heißen!" Dann erklärte ihr die Mutter, daß dies nicht ginge, daß die beiden lieben Großmütter denselben Namen getragen, daß des Vaters liebe Mutter Gevatter gestanden bei der heiligen Taufhandlung und auch „Lenriette" geheißen habe, und viel Liebes und Gutes erzählte die Mutter, so daß nach und nach die kleineLenriette sich mit ihrem Namen aussöhnte und auf aussichtsvolleren Gebieten ihre Verbesserungsgelüste zu üben suchte.

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Kapitel 3:

Ein anderer charakteristischer Vorfall: Lenriette wurde eines Tages allein weinend in ihrer Kammer aufgefunden: „Warum weinst du, Lenriette?" fragte die Mutter besorgt: „Ach Mutter, ich bin nun doch nicht eine Prinzessin geworden!" Wahrscheinlich war das Kind über einem Märchen eingeschlafen und hatte von ihrer eigenen Umwand­ lung gettäumt; um so schmerzlicher war das Erwachen zur Wirklichkeit. Lenriette mochte neun Jahre alt sein, sie hatte eben wieder eine längere Krankheit überstanden und nun folgte ein längerer Stubenarreft. Um das Mädchen zu zerstreuen, erzählte ihr die Mutter uner­ müdlich Märchen, oder spielte mit ihr Karten, oder suchte Geschichten mit Gesprächen, die Lenriette leidenschaftlich liebte. Auch andere Leute, welche die Mutter liebten, brachten Bücher und halfen, dem kränklichen Kinde die Langeweile zu verscheuchen. In der ganzen Gegend wurde nach Märchenbüchern, nach Komödien umhergeschickt. Bei den un­ günstigsten Gelegenheiten, bei dem schlechtesten Wetter quälte Lenriette ihre Eltern, ihre Umgebung nach einem Boten; hatte sie endlich ihr Ziel erreicht, wanderte der Bote fort, dann trat Ruhe ein. Die Liebens­ würdigkeit, die das Kind zuzeiten zeigte, wurde, dann ftei, sie war, was sonst nie bei ihr hervortrat, gefällig, zugänglich, rücksichtsvoll. Aber wenn die Zeit kam, wo der Bote nach der Berechnung der Mutter heim sein konnte und doch nicht erschien, dann begann die Unruhe von neuem und steigerte sich in einem Maße zur Ungeduld, daß die ganze Umgebung mit von der Auftegung erfaßt wurde. Bald mußte das Fenster ge­ öffnet und ausgeschaut, bald mußte ftiö gehorcht werden, und endlich trieb sie den einen oder andern in Schnee und Regen hinaus, zu sehen, ob der Bote nicht erschiene. Endlich kam er, aber welch ein Leid! Pastor K.s, welche das ersehnte Buch besaßen, hatten es schon verliehen. Nein, diese Verzweif­ lung von Lenriette über getäuschte Erwartung, dieses Sttäuben der Natur gegen Ergebung, das bis zu Konvulsionen führte l Es war ent­ setzlich. Man mußte alles aus ihrer Nähe entfernen, was zerbrechlich oder zerreißbar war, es verfiel sonst dem Untergange, und als einst nichts mehr in ihrem Bereiche war, biß sie sich selbst in den Arm, daß das Blut hervorsprang, und die arme Mutter nahm eS in ihre weichen, liebevollen Arme, Lenriette weinte und schluchzte, und unter der Mutter Land brach alle Zärtlichkeit, die im Lerzen des Kindes für die Mutter lebte, hervor. Es war Abend, es schlief ein. Und am andern Morgen? Ach, die Mutter hatte Kisten und

Der erste Unterricht in Laus und Schule.

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Hasten auf dem Boden durchsucht, wo alte Bücher verborgen lagen,

undLenriette, gerührt von ihrer Liebe, beschäftigte sich, Vignetten aus­

zuschneiden und nach dramatischen Szenen, d. h. nach Gesprächen in den Büchern zu suchen. Der Limmel führte eine Cousine herbei, welche

reizende Puppen zeichnete und ausschnitt, und nun fithrte die Rekon­ valeszentin Dramen mit diesen auf.

Vielleicht hatte der Vater recht, wenn er ost dem Kinde lieber

hätte die Rute reichen mögen, als ihm immer den Willen zu tun, trotz Nervenkrämpfen und andern Aushängeschildern nervöser, ungezogener Kinder; aber die Mutter, welche schon um ein dahingegangenes Töch­

terchen trauerte, zitterte für das Leben ihres Lieblings und so erging es Lenrietten (wie sie später ihren Schülerinnnen in der „Erziehungs­

lehre" eindringlich betonte) nach Jean Paul: „Kranke Kinder werden mit ihrem eigenen „ich" fett gemacht."

Wandte sich das Blättchen, oder war die Mutter einmal nicht wohl, dann kannte man das egoistische Mädchen kaum wieder; eS war

wie umgewandelt, es entwickelte eine Sorgfalt, eine Umsicht weit über seine Jahre und es erriet an der Mutter Augen, was diese wünschte, sie sorgte wie eine Mutter für die Kleinen, diese liebten Äenriette sehr, fürchteten sich aber vor ihr, verklagten sie öfter bei den Eltern und konn­ ten doch nicht ohne sie leben.

Besonders mit der ihr im Alter am

nächsten stehenden Schwester Anna konnte Lenriette sich schwer ver-

tragen. Als Kinder sehr oft und als halb erwachsene Mädchen sogar

prügelten sie sich, so daß die Mutter sie ernstlich trennen mußte, ehe der Vater, durch Annas Zetergeschrei aufgeschreckt, herbeieilte. Bei solchen Gelegenheiten weinte Äenriette gar nicht, und doch spielte das Schreien

eine große Rolle in ihrer Kindheit. Ost, wenn Mutter und Tochter ganz ftiedlich beisammensaßen, schien Äenriette von einer solchen Sehnsucht beseelt; sie wußte selbst

nicht wohin. So stürzte sie sich entweder auf ihre Mutter und drückte

und küßte dieselbe halb tot, oder sie fing an, so laut zu schreien, daß der Vater einmal in größter Angst aus seinem Studierzimmer angestürzt kam, und wenn Äenriette nicht schleunigst die Flucht ergriffen hätte, so wäre es ihr schlecht ergangen. Dann hieß es immer: „Wann wird da-

Mädchen endlich vernünftig werden!" Das Mädchen war aber zuzeiten ganz vernünftig, und waren die

Eltern abwesend, so regierte sie eigentlich das ganze Äaus. Dann scheute sie keine Arbeit, und die Kleinen sagten dann: „Du bist so gut mit uns.

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Kapitel 3:

wenn wir allein sind, Äenriette!" Ein eigener exzentrischer Zustand überfiel sie dann und wann, und sie besaß nicht die Willenskraft, des» selben Lerr zu werden. Die beste Zusammenfassung dieser ersten Periode ihres Lebens findet in den Worten der Mutter ihren Ausdruck, diese sagt: „Das Anbeftiedigtsein, das schon in der Kindheit überwiegend in Lenriette hervortrat, deutete schon auf ein nicht gewöhnliches, all­ tägliches Leben hin. Sie fand nicht, wie wohl andere Kinder in Nachahmungen dessen, was Kinder von Erwachsenen sehen, Unterhaltung. Das Spielen mit Puppen und fertigen Spielsachen ermüdete sie bald; es mußte etwas Lebendiges sein, was sie fesseln konnte. Allerlei Tiere, wie Schmetterlinge, Käfer und dergleichen wurden herbeigeholt, ihre Bewegungen und Eigentümlichkeiten gaben ihrer Phantasie reiche Nahrung. Sie konnte dieselben lange beobachten, nicht in stiller Be­ schaulichkeit, nein, sie führten ihr immer Lebensbilder vor, die mit großer Lebhaftigkeit geschaut und nach allen Seiten ausgemalt wur­ den. Sich etwas erzählen lassen, war ihr eine große Lieblingsunter­ haltung, und ich habe oft Mühe gehabt, immer Neues zu finden. Im Kinderkreise war Lenriette immer die lebhafteste. Wunderbare, ost komische Einfälle und Wandlungen ihrerseits amüsierten stets die kleine Gesellschaft, aber sie hatte auch manches Mal von ihr zu leiden, wenn ihre Gefährtinnen nicht folgen wollten oder deren Spiele und deren Treiben nicht nach Lenriettens Sinn waren. Als die Zeit des Lernens herankam, machte ihr dieselbe kein Ver­ gnügen. Es war wohl zu langweilig, beim Vater Buchstaben zu mer­ ken und das Lesen vorzubereiten. Darauf ging sie in die Dorfschule, und der Unterricht im Lause begann erst wieder, als das Lesen erlernt war. Aber ich erinnere mich nicht, daß der gute Vater über besondere Fortschritte erfreut gewesen wäre. Das schnelle Wachsen — denn immer war sie größer als ihre Altersgenossinnen — hatte ihre Gesund' heit sehr angegriffen, und es folgten einige Jahre, die das Lernen nicht gestatteten. Davon will ich schweigen, denn eine große Ansichtsver­ schiedenheit hat Lenriette und mich in mehrere kleine Dispute geraten lassen, und diese Jahre waren die schwierigsten, die ich mit ihr zu durch­ leben hatte." Der Familienarzt drang auf einen Luftwechsel, und so faßten die Eltern schweren Lerzens den Entschluß, Lenriette nach Wolfenbüttel in Pension zu geben.

Der erste Unterricht in Laus und Schule.

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Am 4. August 1838 frühmorgens stand der kleine Wagen mit dem „Fuchs" vorgespannt, vor dem Pfarrhause, der Pastor Ferdinand ergriff die Zügel, und mit einem wiederholten, schmerzerfüllten Ab» schied von Mutter und Geschwistern stieg Äenriette in den Wagen neben den Vater, und so fuhren sie durch die wohlbekannte Landschaft nach dem für die damaligen^Verkehrsmittel entfernten Wolfenbüttel. Im Laufe des Nachmittags erreichten sie ihr Ziel und kehrten bei der zukünftigen Pensionstante, Madame Koch, im Saufe der Frau Domäneneinnehmerin Brinkmeier auf der Neuen Straße ein. Nach einer kurzen Aussprache mit der Pensionsinhaberin fuhr der Vater an demselben Abend nach Mahlum zurück und ließ sein hilfsbedürftiges, verzogenes Töchterchen zum ersten Male in der Fremde allein. In ihrem ersten Briefe nach Saufe in sehr mangelhafter Schrift mit noch mangelhafterer Orthographie heißt es: „Am 5. August, einem Sonntag, war ich sehr betrübt und hatte sehr Seimweh. 6. August ging ich zum ersten Male in die Schule, ich kam in die dritte Klasse, die zweite von unten. Ach Mutter, Du kannst glauben, wie sehr ich.mich bemühe, ein recht gutes Kind zu werden und alle Eure guten Ermahnungen zu erfüllen, was nur nicht immer gleich gehen will. Ich bitte den lieben Gott auch alle Abende, daß er mich stärke, das Gute zu tun." Die Wolfenbüttler Mädchenschule war eine städtische Anstalt, nicht weit von dem berühmten herzoglichen Schlosse, dem Lessing-Saus und der alten Bibliothek an dem schönsten Platze der Stadt. Nur wenige Privathäuser, von den Sonoratioren und den höchsten Beamten be­ wohnt, teilten diese Ehre. Im Verhältnis zu seiner Einwohnerschaft erfreute sich damals Wolfenbüttel einer großen Anzahl gebildeter Familien, denn die Stadt war der Sih der höchsten Gerichte und deS Kon­ sistoriums des Landes Braunschweig. Den Bedürfnissen dieser Kreise sollte die städtische Mädchenschule wahrscheinlich entsprechen. Die päd­ agogische Leitung lag in den Sünden des Direktors Ludewig, unter­ stützt durch eine Anzahl Lehrer. Man bediente sich weiblicher Silfskräste (nicht pädagogisch gebildeter), für die praktische Unterweisung in Sandarbeiten. Das Lehrprogramm war ein reichhaltiges, welches außer Religion, Bibellesen, Sandarbeiten, Aufsatz, Literatur, Geschichte, noch Tech­ nologie, Logik und Ästhetik umfaßte. Die Schule war gewiß so gut wie

die meisten öffentlichen Mädchenschulen in jener Zeit. Senriette Breymann brachte wohl intellektuelle Anlagen, aber

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Kapitel 3:

einen gänzlich undisziplinierten Geist mit, und leider wurde ihr die nötige Schulung in der Schule nicht zuteil. Arbeitsame, rein rezeptive Naturen mögen manches an Zahlen und Daten in den Kopf bekommen haben, für das Lerz gab es wenig, gar nichts für „den bösen Buben" unter den Geistesfähigkeiten, die Phantasie, so daß diese sich selber nährte an den geheimnisvollen Erzählungen verbotener Dinge, die man einfach natürlich und an sich heilig ansehen sollte, und denen man durch einen vernünftigen naturwissenschaftlichen Unterricht viel von dem giftigen Reize genommen hätte, den sie für die Jugend haben. Der allgemein menschlichen, schöpferischen Fähigkeit der Schülerin-

nen wurde außer in der Aufsatzstunde keinerlei Spielraum geboten, und die Themata waren der Art, daß diese Schöpfungen schon zu Miß­ geburten angelegt waren. Leider blieb der übermütigen Jugend viel Gelegenheit, sich mit den vermeintlichen oder wirklichen Schwächen der Lehrer zu beschäftigen; darin leistete Lenriette gewiß mehr als ihr Teil, ja sie verleitete ihre Mitschülerinnen zu diesen Nebenunterhaltungen. So erzählte eine ihr sehr liebe Schulkameradin, wie sie durch Senriettens Betragen unverdienterweise ein schlechtes Zeugnis nach Lause bringen mußte, und wie sehr sie ihren gestrengen Vater fürchtete. Da erwachte bei Lenrietten Liebe und Gewissen. Schnell erbot sie sich, die Schulkameradin zu begleiten und dem erzürnten Vater zu erklären, daß sie ganz allein schuldig sei an dem schlechten Zeugnis. So geschah es denn auch. Die beiden Schulkameradinnen sind lebenslängliche Freundinnen geblieben. Auf diese unnütze Weise verbrachte Lenriette drei Jahre in der Schule. Die üblichen Ferien vereinigten sie mit den Ihrigen, wo der Kreis der „Kleinen" durch die Geburt des allerliebsten Adolf und später des William zahlreicher geworden war. Wenn sie sich von der Begehr­ lichkeit des kleinen Volks umringt sah und wenn die kleinen Patsche­ händchen sich um ihren Lals schlossen, dann wähnte sich das Schulkind mit dem schlechten Gewissen aller Lebenssorgen enthoben. Freilich, wenn die mangelhaften Schulzeugnisse und das Tage­ buch der Tante Koch über Lenriettens Betragen einliefen (das sich liest wie ein ununterbrochenes Sündenregister), wenn ein traurig feuchter Blick derMutter sie trafund der Vater mit bedrückter Miene stumm an ihr vorüberging, dann kamen Krisen der Reue, fast der Zerknirschung,

die dem Tagebuche anvertraut wurden. Am Ende der Ferien entließen die Eltern ihr fehlerhaftes, ältestes

Der erste Unterricht in Laus und Schule.

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Kind mit liebevoll ernsten Ermahnungen, und mit einem Handschlag gelobte das dreizehnjährige Mädchen dem besorgten Vater Besserung. Die Briefe des Vaters sind während der Schulzeit ein rührender Be­ weis, mit welcher Sorge die Eltern die Entwicklung des ältesten Kindes verfolgen; wie sie mit „Furcht und Zittern" die Möglichkeit ins Auge fassen, daß ihr ältestes Kind ein verlorenes Menschenkind werden könnte. Aber in Wolfenbüttel schien niemand in der Nähe einen überwiegenden erziehlichen Einfluß auf Lenriette auszuüben, und die entsetzliche körperliche Mattigkeit und geistige Launenhaftigkeit, der Mangel an ernsten, geistigen Forderungen in der Schule, welche den Verstand zur Tätigkeit gezwungen hätten, lastete wie ein Verhängnis auf dem zu schwachen Willen des Kindes. Wohl wußte Henriette ihre Lehrer zu nehmen; durch ihre rasche Auffassungsgabe, durch eine ge­ wisse Geschicklichkeit im Erraten und Kombinieren täuschte sie die meisten Lehrer vollständig über ihren Fleiß und über das Quantum ihres Wissens. Von dem Ergebnis ihrer Schulzeit sagte sie später selbst: „Von all den mir gebotenen Dingen lernte ich so gut wie nichts, weil selten etwas den Kern meiner Seele traf, selten mein Inneres berührte und nichts im organischen Zusammenhänge stand. Ich lernte weder richtig arbeiten, noch gewann ich nach irgendeiner Seite hin eine Grundlage, die mich später zum selbständigen Studium befähigt hätte."

Kapitel 4.

Rückkehr in das Elternhaus. Konfirmation. Die erwachsene Tochter im Lause 1841—1844. Z^ie Eltern

halten kein Opfer geistiger und materieller Art gescheut, ihrer Tochter Henriette eine gute Schulbildung zu geben, doch mit wenig Erfolg, sie kam ärmer zurück, als sie ging. Daß bei der wachsen» den Kinderzahl die pekuniären Sorgen den Familienvater manchmal drückten, können wir seinen Briefen an seine älteste Tochter entnehmen; aber in jener Zeit und noch dazu auf dem Lande, wo billige Lebensmittel in Überfülle vor der Tür, ohne bares Geld zu haben waren, zählte man im Haushalte nicht allzu ängstlich die Mäuler, die gefüllt werden

mußten. Schwieriger erschien den Eltern gewiß die Sorge uni die geistige Ausbildung ihrer Familie. Wie wenig stand einer Pastorenfamilie in jener Zeit an Bildungsmitteln zu Gebote, noch dazu wenn die Familie in einem Dorfe weit von den Verkehrsstraßen lebte I Zum Teil halfen die Dorfpastoren einander, indem sie ihre Kinder mit den Nachbarkindern in bestimmten Fächern unterrichteten, oder auf längere Zeit ihre Kinder austauschten, und der hohe Stand der Allgemeinbil­ dung mancher Landgeistlichen in der ümgegend von Mahlum ermöglichte diese Form der Selbsthülfe. Aber sie kam meistens den Knaben zugute, welche ünterricht im Lateinischen und Griechischen und in der Mathematik bedurften, und die eher den ünbilden der Witterung trotzen tonnten. Für die Mädchen war höchstens als Abschluß der Bildung ein Aufenthalt von einem Jahr in einer ftemden Familie zur Erler­ nung des Haushalts üblich. So weit war Henriette noch nicht, als sie kurz vor Weihnachten 1841 wieder von Wolfenbüttel in das elterliche Laus zurückkehrt«. Noch einmal genoß sie in vollen Zügen das kindliche Glück des schönen Weihnachtsfestes im Kreise ihrer Lieben, dann kam die Zeit, auf welche die Eltern sich ebenso innig freuten wie sie: Henriette sollte von ihrem

Rückkehr in das Elternhaus. Konfirmation.

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Vater in den Lauptwahrheiten des Christentums unterwiesen werden und so sich auf di« Konfirmation vorbereiten, welche Ostern stattfinden sollte. An der Land der Mutter sollte sie sich auch in häuslichen Ar­

beiten üben. Die Eltern sahen bald mit wachsender Freude, daß Henriette mit großem Ernst den Konfirmandenunterricht aufnahm und in sich ver­ arbeitete. Bei dem Vater war die Religion ganz Lerzensüberzengung, und da eine wunderbare Einheit zwischen Lehre und Leben bestand, so verfehlte der Unterricht nicht, eine große Wirkung auf Henriette aus­ zuüben. Zugleich regte sich aber in ihr der Fragegetst, die Intelligenz erwachte und konnte nicht einfach zurückgedrängt werden. Sie fing an, ihre religiösen Vorstellungen begründen zu wollen, und so begannen bei ihr die innern Seelenkämpfe, welche sie Jahre hindurch begleiteten, bis sie sich nach und nach zu einer freien Auffassung des Christentums durchgerungen hatte. Tief religiös veranlagt, warf sie oft Zweifel auf in der Hoffnung, dieselben widerlegt zu hören, so groß war das Be­ dürfnis zu glauben. Bei ihrer Familie, wie bei ihrer ganzen damaligen Umgebung waren aber religiöser Glaube und ein Fürwahrhalten be­ stimmter Kirchenlehren zwei sich deckende Begriffe. Mit welchem rührenden Ernst die vierzehnjährige, angehende Christin um ihr Seelen­ heil besorgt war, mögen einige Auszüge aus ihrem kindlichen Tagebuche jener Zeit veranschaulichen: März 1842. „Mich treibt es, von den letzten Tagen vor meiner Konfirmation aufzuschreiben. Der gute Vater hat seit Weihnachten mich mit so vieler Liebe in den Wahrheiten des Christentums unter­ richtet ; ich bekam über manches eine andere und wohl viel bessere An­ sicht. Er ließ es nicht an guten und liebevollen Ermahnungen fehlen, habe ich sie beherzigt und befolgt? 30.März. Der Vater gab mir meinen Abschiedsspruch: Matthäi Kap. 11V. 29. Ich will den schönen Spruch zu Kerzen nehmen, ich weiß, mie sehr mir Sanftmut, Demut, Geduld und Nachsicht fehlen. 1. April hatten wir die letzte Stunde. Der Vater gab uns noch einmal einen Überblick über die Lauptwahrheiten des Christentums. Wir gaben ihm unsere rechte Land darauf, daß wir Jesu Lehren treu bleiben wollten. Darauf knieten wir nieder und der Vater betete mit

uns.

2. April. Leute soll ich mich durch die Beichte zum heiligen Abendmahl vorbereiten. Ich freue mich darauf, morgen konfirmiert

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Kapitel 4:

zu werden, das heilige Abendmahl zu genießen; ich freue mich, Gott und Jesum recht nah zu treten, ein seliges Gefühl ergreift mich, ich bin ganz eigen gestimmt. 3. April. Mein KonfirmationstagI Noch schlief ich, als die Mutter an mein Bett kam, ihre Küsse weckten mich, ihre Tränen fielen auf mein Bett: „Es ist heute der wichtigste Tag deines Lebens, mein geliebtes Kind; auch wir, deine Eltern und Geschwister nehmen dich auf eine ganz neue Weise auf in unsere Mittel" Ich las darauf das wunderschöne Gedicht von Tiedge: „Kind GotteS, horch! Die Glocken rufen, Sie rufen dich zu seinen Altarsstufen." Mein lieber Vater ist so gut zu mir, meine inniggeliebte Mutter, Tante, alle schenken mir etwas, sogar Karl kam und sagte mir: „Ich wollte dir auch gern was schenken, Lenriette, habe aber nur das." Da hielt er seinen Bogen von der Jagd mit den ausgeschnittenen und aufgeklebten Tieren mir hin. „Du kannst es wohl gar nicht brauchen?" fragte er, „aber ich habe gar nichts weiter." Dann kam Anna mit einem Bukett. Alle find so lieb zu mir. Nachdem ich Kaffee geturnten, ging ich in Tantens Stube allein und betete für mich, dann zog ich mich an. Jetzt kam der Vater, fragte, ob wir bereit seien und sagte mir noch einige Worte. Dann sagte ich allen adieu, dankte ihnen nochmals, bat Anna um Verzeihung und schloß mich darauf den andern beiden Kon­ firmandinnen Loffmeister und Pape an, um den wichtigen Gang zu gehen. In der Kirche war mir, als wäre ich in einer andern Welt. .. Dann genoß ich noch das heilige Abendmahl zwischen meiner Mutter und meiner Tante ... noch einen Vers sangen wir und ... die Lerrlichkeit war zu Ende. Die Bodensteiner Mädchen aßen hier mit. Den Nachmittag, nachdem ich ein wenig geschlafen hatte, kam Frau Landrat von Cramm mit Ledwig und Komtesse Agnes und Julie Stollberg-Söder, auch Äerr Pastor Körner. Den Abend verlebten wir still, es wurde Punsch gemacht und ein Butterbrod gegessen, auch hatte die Mutter eine Torte gebacken. Zuletzt lasen wir eine Bettachtung, dann legte ich mich mit guten Entschlüssen zu Bett." So weit berichtet das junge Mädchen zu jener Zeit. Aber die Seelenerlebnisse der Konfirmation hinterließen lebenslängliche Spuren, und sie greifen in Äenriettens Entwickelung tief ein. Dieses ahnten ihre Schülerinnen durch die Art und Weise, wie sie dieselben verwendete

Rückkehr in das Elternhaus. Konfirmation.

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für ihren Erziehungsunterricht, und sie selbst gab nach fünfzig Jahren noch einen wertvollen Kommentar zu dieser Lebensepoche, als sie sagte: „In der Phantasie noch gläubig, meiner selbst und der Regungen zur Befriedigung intellektueller Bedürfnisse völlig unbewußt, sah ich mit innerer Spannung dem Tage meiner Konfirmation entgegen, festhaltend an dem Glauben einer, durch diesen Akt vor sich gehenden inneren Umwandlung. Einige Tage wurde ich getragen von der mich erhebenden Feier im Dorfkirchlein, wo mein Vater noch ein Vater seiner Gemeinde war, wo das Lerz zum Lerzen sprach, wo die Glocken einstimmten in die eindringlichen Worte meines Vaters: „Ja, wir sind dazu entschlossen!" Entschlossen, dem uns vorgesagten Glaubens, bekenntnisse treu zu bleiben. Dann wurden des Priestervaters Lände über uns ausgebreitet zur Einsegnung der jungen Christen. Jeder erhob sich, um wieder vor ihm niederzuknien und seinen Denkspruch zu sagen. Es ist mir, als fühlte ich heute noch die Lände meines Vaters auf meinem Laupte, wie er zu mir, wie zu jeden: Worte sprach, welche die persönlichen Verhältnisse in Beziehung zu dem Denkspruche brach­ ten, wie dann die Gemeinde mit dem Gesänge einsehte: „Du hast er­ hört das heiße Flehen Der Kinder, die hier vor dir stehen." Nun karn der Rundgang um den Altar, ich trat in der Mitte zwischen meiner Mutter und ihrer einzigen noch lebenden Schwester an den Altar, das Brot und den Wein zu empfangen, während mein Vater mit seiner schönen Stimme sang: „In derNacht, als er verraten ward —". In dem Augenblick schwieg alles bewußte Erwarten, meine Phantasie trug mich in weite Fernen, das schönste Bild, welches ich je vom Erlöser geschaut, trat vor meine Augen, und die Szene am Ölberge, wo Engel

ihn trösteten, das Abendmahl mit dem Lieblingsjünger an seiner Brust umschwebten mich — ich war umfangen von Visionen, ich war der Wirklichkeit entrückt, und ich dachte nicht. Wie mit Engelsfittigen wandelte ich gleichsam auf silbcruinsäumten Wolken dahin — und diese Traumwelt hielt mich mit ihrem Zauber, ich glaubte mich geheiligt. Aber der Sonntag glitt dahin mit seiner Innigkeit eines ganz stillen Familienfestes, nur am Nachmittage von einigen Besuchern durchbrochen. Der Montag rang sich los von dem im Dunkel versunkenen Sonntage, der Werktag aus dem Sabbat des Lerrn, der mich zum Mittelpunkte aller Lerzen der Familie gemacht, und — was war ich

geworden? Ich blieb, was ich war — ein Alltagskind mit glühendem Lerzen

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Kapitel 4:

nach etwas anderm als das tägliche Leben, mit wenig Hinneigung zur

Pflichterfüllung, zu häuslichen Geschäften, die bei uns wenigstens einen Teil des Tages eine große Rolle spielten, und die von meiner

heißgeliebten, herrlichen Mutter so treu und schön vollbracht wurden. Za, waS ich wollte und wünschte, ich wußte es nicht. Ich wollte wohl fromm sein, ich konnte es nicht. Ich war enttäuscht über die Macht der

Sakramente, ohne daß ich mir dieser Enttäuschung voll bewußt war. Von nun an wurden mir die Tage, an denen ich in Gemeinschaft mit meinen Eltern — zwei oder drei Male im Jahre — das Abendmahl genießen sollte, zur Qual. Mein Vater verlangte schon Tage vorher eine

besondere Stimmung, eine Zurückgezogenheit vom Irdischen, ein Rich­

ten auf Jesus als unsern Erlöser. Ich quälte mich redlich, diese Forde­ rung zu erfüllen, ich glaubte zuweilen in dieses Stadium eingetreten zu sein; aber plötzlich kamen mir Gedanken, Fragen, die nach meines

Vaters Ansicht sündhaft waren. Er konnte mich nicht führen, er war selbst in seinem Kirchenglauben liebenswürdig und warmherzig in seinem Wesen, und von Zeit zu Zeit warf ich mich voll kindlichen Ver­

trauens an daS kindliche Herz meines Vaters — aber trotzdem wuchsen

die Schwierigkeiten zwischen uns. Der tiefste Grund dazu lag in Keimen, welche sich in mir regten in

bezug auf eine freiere religiöse Anschauung und eine neue Stellung

des Weibes im Hause und in der menschlichen Gesellschaft. Mein Vater stand mit seinen Ansichten nah dem mittelalterlichen Geiste, mit seinem Herzen fteilich in dem Geiste der Liebe, die allzeit die

neue und die wahre ist. Er hatte mich zum Tische des Herrn geführt, mein Herz mit den höchsten Erwartungen erfüllt — und ich war ent täuscht!

So entwickelte sich (in den folgenden Jahren) ein gewisser Wider­ wille gegen die Dinge, von denen ich das „Wunderbare" erwartete und

nicht fand."

Die Konfliktselemente zwischen den beiden Charakteren des Vaters und der ältesten Tochter wurden — wie sie selbst ebenso schön, wie

wahrheitsgemäß sagt — durch die starken Bande des Familiensinnes und der Liebe im Leben gemildert; besonders machte es Henriettens große Liebebedürftigkeit ihr ganz unmöglich, einen Streit, trotz ihres

bis zum Jähzorn heftigen Naturells, lange auftecht zu erhalten. Sie war nun die erwachsene Tochter zu Hause und hatte eine be­ vorzugte Stellung ihren jüngeren Geschwistern gegenüber. Ein Schlaf­

zimmer und eine kleine Wohnstube neben der der Mutter wurden für

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Rückkehr in das Elternhaus. Konfirmation.

sie eingerichtet; man erlaubte ihr in den folgenden zwei Jahren so manche Freude des geselligen Verkehrs, und günstige Llmstände er­

leichterten ihr diesen Genuß. An die Gastfreiheit eines Pfarrhauses scheint man damals nicht

geringe Ansprüche gemacht zu haben, und in diesem Falle entsprachen sie den Neigungen, ganz besonders des Lausherrn.

In der schönen

Jahreszeit, meistens unangemeldet, fanden sich fast täglich Gäste im

Breymannschen Pfarrhause ein, und wenn der Besuch nicht gerade aus dem, eine halbe Stunde entfernten Städtchen Bockenem war, so

kamen die Familien mit Wagen, Kutscher und Pferden, oder die

Herren von der Jagd meistens mit eigenem Verwalter oder Förster und ihren Jagdhunden an. Alle wurden freundlich ausgenommen und jeder nach seiner Art in Stube, Küche, Los oder Stall untergebracht und

versorgt, eine ost unterschätzte Leistung seitens der Kausstau einer großen und wachsenden Familie. Freilich konnte ein jeder desgleichen bei andern tun. .Aus dieser

freien Gegenseitigkeit in der Geselligkeit erwuchs ein Vorteil für die

Breymannschen Töchter, augenblicklich besonders für Lenriette; sie lernte in sehr verschiedenen Kreisen sich frei bewegen. Denn zwischen

den Familien des alten Landadels und Beamtenfamilien der Gegend bestand zu jener Zeit, bei aller Bescheidenheit der materiellen Ausstattung und äußeren Lebensführung ein gleicher Grad der Bildung.

Außerdem besuchte man damals seine Verwandten, weil sie Verwandte waren, und man muß zugeben, daß der Bekannten- und Verwandten-

kreis ein ausgedehnter war. Lenriette scheint, trotz ihres unbestiedigenden Gesundheitszu-

standes mit gewohnter Energie auch das Vergnügen betrieben zu haben. Im Winter versammelte man sich in Bockenem zum Singkränzchen, oder zum Klubball, oder zu kleinen Theateraufführungen in besteun-

■beten Familienkreisen. Senriette nahm auch noch stanzösischen Unter­ richt und Tanzstunde mit der Nichte des Landrats von Cramm in

Volkersheim, zu dem sie dreimal in der Woche hinging. Im Sommer

wurden Verabredungen mit der Jugend der besteundeten Familien ge­ troffen, sich zu einem Picknick auf den Bodensteiner Klippen oder auf dem Jägerhause zu versammeln, oder man kam in Mahlum zusammen,

um in einem mit Laub bekränzten Ackerwagen einen entfernteren AuS-

siugsort zu besuchen, wo man sich an dem Inhalt der mitgebrachten, vollbepackten Körbe erstischte.

Lvichintla, Hcnriette Schrader l.

3

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Kapitel 4: Nachdem im Walde am Bergesabhange das Mahl eingenommen

war, unternahm man gruppen- oder paarweise Streifzüge in der Um­ gegend, wobei die üblichen harmlosen Neckereien zutage kamen. Man sammelte Feldblumen, man wand sich und andern Kränze und spielte Gesellschaftsspiele mit Pfändern; man gab die recht schönen mehrstim­ migen Lieder, die man des Winters im Singkränzchen eingeübt hatte, zum besten, und so bekränzt und singend fuhr man auf dem mit Lam­ pions und Laub geschmückten Ackerwagen bei hereinbrechender Dunkel­ heit nach Lause. Die erwachsene weibliche Jugend führte damals häufig ein ver­ träumtes, zielloses Leben, aber sie amüsierte sich leicht; ein jeder trug das Seinige zur Unterhaltung bei, und alles wurde dankbar angenommen. Unserer Lenriette wurde es nicht schwer, mitzuspielen; ihre schlag­ fertigen Antworten und eine gewisse Erfindungsgabe in der Lerstellung von Gelegenheitsversen und dramatischen Szenen, lebenden Bildern knit improvisierten Kostümen für den Familiengebrauch machte sie sehr bald zu einem gern gesehenen jungen Gast in der Nachbarschaft. Lenriette war in diesen Jahren nicht hübsch zu nennen; sie war hoch gewachsen und dabei sehr mager geblieben, auch fehlten ihr die frischen Farben der jugendlichen Gesundheit. Ihr üppiges, aschblondes Laar und seine Pflege bettachtete sie als eine schwere Last, die zu der matten Schwere des Körpers sich gesellte. Kam aber ihrem ungemein sensitiven Naturell «ine unerwartete Anregung, so färbten sich ihre Wangen, die tiefliegenden grau-blauen Augen überkam ein eigentümlicher Glanz, die Schlaffheit in der Laltung machte einer ungewöhnlichen Energie Platz, und bei der angeborenen Eigenheit in ihrer sehr einfachen Toilette sagte man damals, sie sei „eine pikante Erscheinung". Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Kirchenvisitationen, die Geburts­ tage der Eltern oder guter Freunde, wie des Landrats von Cramm, das fünfundzwanzigjährig« Dienstjubiläum des musikalisch hochbegabten Onkels Rauterberg, das sogenannte „silberne Jubelfest", alle diese Tage ergriff Lenriette selbstverständlich als ebensoviele Gelegenheiten, ihre Talente zu üben, indem sie für die besondere Ausschmückung der Räume, fiir eine entsprechende Neuaufstellung der Möbel, für die Unterbringung und Beschäftigung der jüngeren Geschwister Sorge trug; oder sie hatte irgend eine kleine Überraschung inszeniert.

Sie hatte auch ihre schriststellerischenNeigungen entdeckt und nährte ihre glühende Phantasie an den deutschen Klassikern und an Bulwer-

Rückkehr in das Elternhaus.

Konfirmation.

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schen Romanen, aber ihre selbständigen dichterischen Erzeugnisse waren leider häufig das Ergebnis schlafloser Nächte. Dem Vater waren die geselligen Talente seiner ältesten Tochter

teilweise sympathisch, denn erhalte ein kindlich frohes Gemüt und liebte,

die Freunde bei sich zu sehen. Wie stolz waren die erwachsenen Töchter und ihre jungen Freundinnen, wenn er einer von ihnen die Land bot und den Reigen eröffnete! war seine Erscheinung!

Wie anmutig waren seine Bewegungen,

Wie ritterlich benahm er sich allen Frauen

gegenüber, wie hoch stellte er feilte Luise als Weib, als Mutter, als Lausfrau I Gerade hierin lag zugleich der Grund seiner zunehmenden

Unzufriedenheit mit dem Leben, welches seine älteste Tochter jetzt führte;

Lenriette entwickelte sich zu etwas ganz anderm, als ihre Mutter. Er

suchte bei ihr vergebens die Tugenden, die er an seiner Frau, ihrer Mutter, so hoch schätzte: die Sanftmut des Auftretens, den Gleichmut des Temperaments, die Sorgfalt und Treue im Kleinen, dabei die

Tüchtigkeit in allen häuslichen Dingen. Lenriette konnte in dieser Zeit kein Interesse an häuslicher Ar­

beit und ihren täglich wiederkehrenden Pflichten finden, und da nach

Ansicht des Vaters jede Frau ihren Wirkungskreis im Lause finden

nmß, und er sich scheute, seine Erziehungsprinzipien riicksichtslos im

eigenen Lause durchzuführen, so eröffnete er nach zwei Jahren dieses

vornehm pläsierlichen Lebens seiner Tochter, er habe einen neuen Lebensplan für sie in» Sinne: sie sollte in neuer Umgebung, in der

Familie des geliebten „Onkels Fritz", in dem entfernten Sachsenlande

eine große, ländliche Wirtschaft kenne»» und dort kräftig im Lause zugreifen lernen.

Sie sollte das väterliche Laus nicht wiedersehen, bis

sie sich ein vollständig zuftiedenstellendes Zeugnis in wirtschaftlichen

Dingen erarbeitet habe. Dem verzogenen Mädchen erschien dieser Entschluß des Vaters

einen» Verbannungsurteil gleich, und nur der Name des „Onkel Fritz"

konnte sie einigermaßen mit diesem unerwarteten Schicksale aussöhnen. Der von Kindheit her bekannte und geliebte Onkel, einzig lebender Bruder des Vaters, hatte sich im Jahre 1837 mit einer geborenen Warnatz verheiratet und seinen Wohnsitz vo>» Seesei» nach Reichen-

bach bei Camenz im Königreich Sachsen verlegt.

Somit war er aus

den» Lorizont der Breymannschen Kinder verschwunden bis zum Jahre 1844, als er seinem Bruder zuliebe und mit Lülfe seiner Frau Lenriette in sein Laus aufnahm.

Kapitel 5.

Reichenbach. Rückkehr ins Elternhaus. Schlechter Gesundheitszustand. 1844—1848. £j^er Pastor Ferdinand Breymann unternahm es, selbst seine Tochter nach Reichenbach zu führen. Die dreitägige Reise mit ihrem fortlaufenden Personen- und Szenenwechsel half Lenrietten über das nagende Gefühl des Leimwehs zuerst hinweg. Damals fuhr man schon von Wolfenbüttel nach Dresden mit der Dampfbahn, doch wurde das Nachtquartier in Wolfenbüttel, Lalle und Dresden bestellt. Eine solche Reis« machte matt nicht ohne Nebenbesichtigungen, denn man glaubte, aller Wahrscheinlichkeit nach nur einmal im Leben den fremden Ort besuchen zu können. In Dresden kam der geliebte „Onkel Fritz" den Reisenden ent­ gegen und unter seiner Führerschaft waren sie in einigen Stunden am Ziel. Lerr Friedrich Breymann bewirtschaftete selbst die Domäne Reichenbach. Die Familie zählte außer den Eltern noch drei kleine Kinder, Alfted, Max und Molly, von sechs, vier und zwei Jahren, bei denen Lenriette sich am glücklichsten fühlte. Sie war aber vor allen Dingen da, um die Wirtschaft kennenzu­ lernen und der Betrieb war ein großer. Der Wechsel war ein recht un­ vermittelter, für Lenriette eine harte Schule, und fit behagte ihr gar nicht. Bei aller Wohlhabenheit waren die Lebensgewohnheiten derber, und sie vermißte die feineren Lebensformen ihres Elternhauses. Ihr Lechmut fühlt« sich sehr verletzt, wenn bei der Verrichtung häuslicher Arbeit eine Magd ihre Fehler hervorhob und ihr Tun kritisierte. Es half aber nichts, die Tante war unerbittlich und die einzige Rettung war, es besser machen zu lernen. Was für trostlose Briefe schrieb das verwöhnte Mädchen an ihre Mutter l Welche durchweinten Nächte und bleischweren Tage ver­ lebt« sie fern von ihren Lieben 1 Aber auch die Eltern gewährten ihr keine andere „Erlösung" als die, welche sie sich selbst erringen sollte.

Ferdinand vreymann.

Luise vreymann, geb. Hoffmann.

Reichenbach.

Rückkehr ins Elternhaus.

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Ihre Klagen, chr Selbstmttleid, ihre Gefühlsergüffe vertraut« sie ihrem Mädchentagebuche an, hiervon ein Beispiel: 1. Ach, dort in weiter Ferne Da liegt ein Dörflein klein; Wie möcht' ich doch so gerne In diesem Dörflein sein!

3. Ihr Schwestern und chr Brüder Wie glücklich müßt ihr sein. •©, kehrt' ich nur erst wieder In eure Mitte ein!

2. Sier schleichen meine Tage Voll Leid und Kummer hin, And oft tönt meine Klage Aus tiefbetrübtem Sinn.

Doch ruhig will ich leben. Der schönen Hoffnung treu, Gott wird mich wieder geben Den Meinen all' aufs neu 1

4.

Henriettens Tagewerk verlief folgendermaßen in Reichenbach: „Ich stehe so früh auf wie möglich, damit ich um 5 Ahr unten bin; dann liest Onkel eine Andacht, wir trinken Kaffee und stricken ein wenig. Nach dem Kaffeetrinken mache ich mein Bett und ordne mein Zimmer, schöpfe Milch ab, oder verrichte sonst ein häusliches Geschäft. Am 8 Ahr decke ich den Tisch zum Frühstück, das gewöhnlich aus Butterbrot und Käse, oder auch ein wenig Fleisch besteht. Nachher findet fich allerlei Arbeit. Ans Kochen komme ich wenig oder gar nicht, denn alles wird auf eine andere Weise zubereitet als bei uns, und höchst, höchst einfach, wobei ich mich aber recht wohl befinde. Geg en 1 Ahr wird gegessen, nachher fege ich die Stube aus, dann ziehe ich mich an, wenn ich vor dem Essen nicht dazu kam; bald wird Kaffee getrunken. Entweder findet fich eine häusliche Beschäftigung, oder wir fahren Molly und den Jungen spazieren. Abends lese ich gewöhnlich „der Leute Sabbat" vor und trage dann unser Butterbrot mit Käse und Bier auf, gehe mit der Vögtin ins Gewölbe zum Melken, gebe Kaffee heraus und lege mich vor zehn, meistens recht müde ins Bett".... Von dem geselligen Verkehr ist fie mit wenigen Ausnahmen auch nicht entzückt: „Nachmittags waren Pächter S. und Familie hier; sie haben für nichts weiter Interesse als für Ökonomie. O Sachsen, wenn deine Felder nicht grünen und blühen, für deren Gedeihen so manche ihr Leben opfern, dann sollte es mich wundern. Kühe, Schwein«, Hühner, Dienstboten sind die ganze Anterhaltung der Damen hier,

wenn sie zusammenkommen." — . Etwas später kommt Henriette mehr zur Selbsterkenntnis, sie sagt: „O Gott, wie sind mir die Augen geöffnet! Ich glaubte, Tante und

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Kapitel 5:

Onkel wären so ziemlich mit mir zufrieden, und nun höre ich aus beider Munde, daß dies gar nicht der Fall gewesen ist! Ach, ihr armen, armen Eltern!

Ich sehe schon die Tränen meiner guten Mutter, ich höre den Seufzer des lieben Vaters, wenn sie dieseNachricht von Onkel erhalten! Ach, ich habe mich zu manchen Arbeiten so gezwungen, ich habe mir so manches versagt, manches getan, wozu ich mich im elterlichen Lause nicht überwunden haben würde, und doch mangelt mir so viel! Ach, ich sehe es ja recht gut ein jetzt... ich bin zu mißvergnügt bei der Ar­ beit, alles will ich recht vornehm haben, lasse mir nicht gern etwas sagen. Gott, hilf mir in meinem Kämpf, der mir recht, recht schwer wird." ....

Später heißt eS: „Onkel hat mir für die erste Kuh, die ich ganz allein melke, 8 Groschen, für das erste Paar Strümpfe gestrickt 8 Groschen versprochen. 12. August. Ich habe eine Kuh (Iurelante) bis auf ein Tassen­ köpfchen voll ausgemolten; o, ich bin einmal glücklich heute abend!" .. . Wohl gab es wieder trübe Tage und Wochen für Lenriette, aber nach und nach lernte sie in die gegebenen Verhältnisse sich fügen, mehr noch, sie griff ihre Arbeit mit Energie an und machte sie ihrer eigenen Ausbildung nutzbar, und so errang sie mit der Zeit ein besseres Zeug­ nis von ihren Verwandten.

Ungefähr ein Jahr blieb sie in Reichenbach, und erst Mitte April 1845 kehrte sie in ihre geliebte Leimat zurück. Über die vorhergehende und diese Reichenbacher und folgende Zeit urteilte sie fünf Jahre später folgendermaßen: „In meiner Jugend hat es mir gefallen, kränklich zu sein, man machte es mir so sehr angenehm, liebkoste mich und hätschelte mich auf alle mögliche Weise, und ich war es, um die sich das ganze Laus drehte. Das ging fort bis zu meinem 17. Jahre; man hielt mir vieles zu gut, verlangte keine Arbeit von mir und suchte mir obendrein Freuden zu verschaffen, die mir sonst nicht geworden wären. Ich habe mich oft recht behaglich in meiner Kränklichkeit gefühlt.

Als ich nach Reichenbach kam, wandte sich das Blatt; man nahm wenig, ost gar keine Rücksicht auf meine Gesundheit, ich mußte arbeiten und war in jeder Linsicht auf mich allein angewiesen; es wartete mir niemand auf, ich mußte andere bedienen, ach, wie mancher Seufzer ist

Reichenbach. Rückkehr ins Elternhaus.

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mir entschlüpft, wie manches Gebet um Erlösung aus diesem Jammertal emporgesandt I Wie ost habe ich mir den Tod gewünscht, und ich mußte dennoch leben — und arbeiten 1 Aber ich kehrte mit roten Backen und ganz blühend und hübsch, wie man mir sagte, in mein Vaterhaus zurück, auch mit einem Kerzen voll guter Vorsätze." Am 23. April 1845 an des Vaters Geburtstag lag Lenriette wie aufgelöst vor Freude wieder in den Armen der Ihrigen. „Gott sei Dank", schreibt sie, „alle, alle habe ich sie wieder, ich bin in dem Käuschen, welches das Teuerste, was ich auf Erden besitze, birgt, ich fühle

die heimatliche Lust um mich wehen, hör« wieder die Glock« des Kirch­ leins, das noch da steht auf dem Berge und in unser Fenster schaut; ach> ich kann mich noch nicht satt sehen an dem Leben meiner Lieben — es ist die seligste Stunde meines Lebens I" Als nun der Freudenrausch vorüber war und die Alltäglichkeit mit ihrer unerbittlichen Eindringlichkeit das unruhevolle Gemüt des 18jährigen Mädchens umgab, da war das Ergebnis ihrer Prüfungszeit nicht groß, hauptsächlich ein negatives. Kenriette war wohl eine andere geworden, ihre Gesundheit war besser, ihre Willenskraft war erstarkt, ihr Pflichtgefühl erwacht, ihre Liebesfähigkeit vertieft; aber die Verhältnisse waren im wesentlichen dieselben geblieben, und die traditionellen Anschauungen ihres Kreises in bezug auf die weibliche Bestimmung übten einen mächtigen Druck auf sie aus. Die über alles geliebte Mutter konnte der unbefriedigten Seele ihrer Tochter keinen Weg aus diesem Labyrinth des weiblichen Daseins weisen, sie stand selbst erschreckt vor den Fragen, welche die Tochter ihr zuweilen stellte, und mahnte zur häuslichen Pflichterfüllung. Durch eine Reihe steudiger und auch trauriger Ereignisse in dem Verwandten­ kreise war die Mutter gezwungen, in diesem Jahre längere Zeit vom Kaufe abwesend zu sein, und da die Kinderzahl eine große war, mußt« Kenriette die Leitung und Besorgung des Kaufes zeitweise allein über­ nehmen, um so mehr, da ihre Schwester Anna in Kildesheim zu ihrer Ausbildung weilte. Freilich kamen die fürchterlichen Szenen nicht mehr vor, wenn Kenriette in die Küche gehen sollte. Rach ihrer eigenen Aussage machte ihr Kochen jetzt viel Freude, weil sie besser als die andern dem Essen Wohlgeschmack zu geben verstand, und dies ihre Eitelkeit nährte. Sollte sie aber Feuer anzünden, Kartoffeln schälen, einen Topf reinigen (wobei die Künde, auf deren Weiße sie damals

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Kapitel 5:

sehr stolz war, beschmutzt wurden), dann hatt« ihre Umgebung den

Genuß einer Komödie, wobei das Mienenspiel die Hauptsache war.

Wenn dann die Mutter ärgerlich sagte: „Geh' nur fort, ich mache alles allein!" oder wenn die Mutter sie traurig anblickte, da kapitulierte

Lenriette vollständig, und tief reuig nahm sie der Mutter das Messer oder den Löffel aus der Land, denn der Mutter Trauer über ihr Wesen

konnte sie keinen Augenblick vertragen. Dagegen erzeugten des Vaters Ermunterungen auf diesem Gebiete kein wohltuendes Gefühl; ein Lob von ihm über eine saubere Stube weckte einen inneren Grimm, der sich

in der Einsamkeit durch lautes Aufschreien oder durch einen Biß in den eigenen Arm Lust machte. Gänzlich ununterrichtet über Naturvorgänge, geistig

selbster-

nährt an den großen Dichtern und schlechten Romanen, die sie nachts

verschlang, konnte Lenriette keine Vermittlung finden zwischen ihrem

Geistesleben und der konkreten Welt, und doch wohnte im Grunde ihrer Seele eine tiefe Sehnsucht nach Lebensharmonie. Was sie tat, wollte sie begreifen, und sie begriff nicht, weshalb man aß und trank

und sich mühte in mechanischer Arbeit, um zu leben, und weshalb man lebte, um zu sterben, ohne besonders glücklich zu sein, und über diesen

engen Lorizont eines solchen Daseins hatte noch niemand ihren grü­ belnden Fragegeist hinausführen können. In späteren Jahren hat sie über diese Periode ihres Lebens selbst gesagt: „Vor allen Dingen konnte meine Seele keine Befriedigung finden

in häuslichen Beschäftigungen, die sich stets wiederholten, ohne ein für mich verständliches, höheres Ziel, und deren Verrichtungen mir hin­

gestellt wurden als die natürlichen Pflichten des Weibes, ganz abgesehen davon, ob sie höheren Zwecken dienten oder nicht. Alles, was bei den­

selben Verstand und Lerz in Anspruch nahm, war mir verborgen und genommen, denn meine geliebte Mutter, die selbst eine so vorzügliche,

sorgsame Lausstau war, überließ mir keine Verantwortung. Ich sollte unter ihr „lernen", d. h. nach ihren Vorschriften in allen Einzelheiten handeln; so blieb mir wenig mehr als ilfcung von Landfertigkeiten, bei

denen ich mir nichts denken konnte, und das haßte ich von ganzer Seele. Ich habe kaum einen Menschen mehr geliebt als meine Mutter, aber

dennoch gab es in der Zeit Schwierigkeiten für meine Mutter, meiner Natur gerecht zu werden. So verfiel ich in den alten Schlendrian; ich

schrieb nachts Romane und begann meine Tage auf dem Sofa."

Diesem Drange, ihrem unruhevollen Seelenleben Gestalt zu geben.

Reichenbach.

Rückkehr ins Elternhaus.

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haben wir es zu verdanken, daß so manches Selbsterlebnis, verschleiert durch fingierte Namen und Verhältnisse, niedergeschrieben wurde. Lier ist ein solches Fragment, welches jedenfalls das Verhältnis des Vaters zur erwachsenen Tochter und seine Stellung als Familienhaupt treffend charakterisiert: „Johanna saß mit ihrem Nähkorbe auf der Veranda und sah träumend die Gartenallee hinunter, an deren Ende die Gartenpforte sich befand. Der Bote, der zur nächsten Station geschickt wurde, Briefe und Zeitungen abzuholen, erschien. Weshalb klopfte ihr Lerz, als sie ihn erblickte? Sie hatte keinen Brief zu erwarten, der sie besonders inter­ essierte, aber vielleicht gerade darum erregte sie die Erscheinung des Boten jedesmal, denn es war ihr immer, als müßte endlich etwas Besonderes in ihr Leben eintreten, nachdem sie 18 Jahre geworden, ohne irgend etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben. Der Bote er« schien ihr als der Vermittler zwischen ihrem Stilleben und der Außen« weit, und ihr Lerz klopfte jedesmal vor Erwartung. Die Postmappe wurde in des Vaters Zimmer gelegt, der allein den Schlüssel zu ihr hatte, und so ging alles durch seine Land, was sie enthielt, und gewöhnlich wurde um 5 Ahr zur Kaffeestunde die Mappe geleert. „Ei, ei! Was ist denn das?" rief heute der Vater seiner Frau zu, indem er ein goldumrändertes Kuvert musternd der Empfängerin aus« händigte. „Die Frau Doktor ladet Mutter und Tochter zum Kaffee ein und bittet dringend um beider Erscheinen; müssen wir gehen?" ftagte die Mutter im schüchternen, die Tochter im abwehrenden Tone. „Ja, liebe Kinder, ich glaube, wir können das nicht ändern, wir sind den Leuten jede Freundlichkeit schuldig; morgen nachmittag */,4 Ahr steht der Wagen bereit", und damit war die Sache abgemacht. Mutter und Tochter standen andern Tages einige Minuten vor der festgesetzten Zeit in des Vaters Zimmer, um Abschied zu nehmen. Johanna ordnete vor dem Spiegel die kornblumenblaue Schleife und legte den weißen Mullüberwurf über dem einfachen Seidenrock von der­ selben Farbe wie die Schleife, in Falten, damit er nicht zerdrücke während der Fahrt, während die Mutter sich vergeblich bemühte, ihre Landschuhe zuzuknöpfen. „Nun, Johanna," rief der Vater im Ein­ treten, „siehst du nicht, daß deine Mutter deiner Lülfe bedarf?"

„Liebes Kind" (zu seiner Frau sich wendend), „wann willst du es

Kapitel 5:

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endlich genießen, daß du eine erwachsene Tochter hast, die dich jetzt

im kleinen wie im großen bedient? Du wirst sonst erleben, daß die sorg­ samste, fleißigste, umsichtigste, rücksichtsvollste Frau, die es nur geben

kann, eine Tochter hat, welche in allen diesen weiblichen Tugenden der

Mutter nicht gleicht."

Der Ton, in dem diese hart klingenden Worte gesprochen waren, gab ihnen einen ganz anderen Charakter, als sie an und für sich trugen,

und der Ausdruck seines Gesichts hob fast den Tadel auf, so liebend

schaute er sein treues Weib an, über deren zartes Gesicht sich eine sanfte Röte verbreitete.

An seine Tochter sich wendend: „Mädchen, Mädchen! werde wie deine Mutter, sonst kannst du keinen Mann glücklich machen!" Dabei

sah er stolz und zärtlich zugleich auf die schlank gewachsene Tochter vor ihm.

„Aber Vater," erwiderte die Tochter, „wenn es Männer gäbe, die

eine Frau möchten, gerade wie ich bin?" Der Vater schnitt diesen Dialog kurz ab, indem er mit einer komi­ schen Vorsicht der Toilette wegen Mutter und Tochter nacheinander

umarmte und ungeduldig rief: „Nun macht, daß ihr fortkommt, da

hält der Wagen vor der Tür."

Stillschweigend fuhren Mutter und Tochter dahin, in der Mutter Lerzen zitterte noch das Lob des von ihr geliebten Mannes nach." Auch folgendes ist ein Erlebnis der erwachsenen Tochter im elter-

lichen Lause. „Einmal sollte ein größeres Fest auf Schloß Söder zur Feier des Polterabends der Gräfin Maria stattfinden.

Die Gräfin

Stolberg lud die Familie Breymann in Mahlum dazu ein.

Gern folgte man der Einladung, und Eltern und Kinder freuten sich auf den 3. August. Tagelang vorher wurde die Toilettenfrage von

allen Seiten beleuchtet und durch emsiges Schneidern und Aufbügeln

sehr einfach, aber geschmackvoll gelöst. Der Festtag kam und mit ihm zwar sehr schönes, aber heißes Wetter. Der Wagen war bestellt, da ent­

schied der Vater, Lenriette sollte entsagen lernen, sie sollte zu Lause

allein bleiben; er meinte das in der besten Absicht, aber ganz unmotiviert. Lätte die Mutter ihrer Lülse bedurft, dann wäre es Lenrietten

nicht schwer geworden, aber so? Innerlich ergrimmt, sich wie ein kleines Kind behandelt zu sehen, machte der Ärger sich bei ihr in Tränen Lust.

Alle übrigen Mitglieder der Familie bestürmten den Vater mit Bitten,

schließlich gab er nach,so fuhrLenriette mit und amüsierte sich köstlich."

Reichenbach.

Rückkehr ins Elternhaus.

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Auf diese Weise verbrachte Lenriette ihr Leben bis 1847. Eine Jugendfreundin nach der andern verlobte, verheiratete sich. Mädchen, denen sie unentbehrlich schien, zogen mit dem Bräutigam fort und fanden ihr ganzes Lebensglück in dem Manne begründet. Sehnlichst wünschte sich Lenriette den erlösenden Mann herbei, der, wie eine über sie waltende Vorsehung sie aus der Zwecklosigkeit ihres Daseins hinaus­ führen würde. Mit der Anmittelbarkeit eines natürlichen jungen Mäd­ chens malte sie sich in Gedanken die Szene aus, wo die entscheidende Frage an sie herantreten und was sie darauf antworten würde. Aber mit der glühenden Phantasie paarte sich wohl eine warme, doch keine üppige, geschweige denn eine überwuchernde Sinnlichkeit, und so blieben ihre Empfindungen ohne jeglichen konkreten Unterbau, und die Männer in ihrer Nähe schienen keinen bleibenden Eindruck auf die Seele des jungen Mädchens gemacht zu haben. Einmal ist vielleicht wohl ihre Eitelkeit, ihre Gefallsucht, aber niemals ihr Lerz in Anspruch genommen gewesen. Ja, sie war sogar in dieser Zeit zu der festen Über* zeugung gekommen, daß der für sie passende Mann gestorben sei, sie würde vielleicht einmal erfahren, wo er begraben liege. Der einzig feste Punkt, der Gestalt in ihr gewonnen, war eine innige, ja leidenschaftliche Liebe zu ihrer Mutter, eine große Anhäng­ lichkeit an ihre ganze Familie und die liebe, traute Äeimat, und wohl war die Familie dieser Liebe wert. War auch nicht alles zur Äarmonie durchgerungen, gab eS auch Dissonanzen im Zusammenleben so sehr verschiedenartiger Charaktere, so herrschte doch viel gesunde Natur und

viel Liebe vor, und in der Mutterseele so viel Tiefe, daß Henriette einen schönen Anhaltepunkt fand für ihre ruhelose Seele. Durch ihr ganzes Leben hindurch konnte man bei Henrietten eine rasche Wechselwirkung zwischen seelischen Zuständen und körperlichen Vorgängen wahrnehmen. Oft wenn der Körper erlahmte, brachte eine neue Idee, eine an sie herantretende Aufgabe eine vollständige UmWandlung in ihrem körperlichen Befinden hervor, und umgekehrt wirk­ ten die Stürme ihres geistigen Lebens störend auf di« körperliche Gesundheit zurück. So traten denn im Sommer 1847 wieder die angsterregenden Erscheinungen von tiefen Ohnmachten, Krämpfen usw. auf, und die besorgten Eltern schickten die Tochter nach Pyrmont ins Bad. Dort kam sie in einen sehr pietistischen Kreis, und da sie in einer solchen Familie sehr fteundliche Aufnahme fand und mit der Tochter

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Kapitel 5:

besonders befreundet wurde, so bekam Henriettens Leben eine neue Wendung. Diese Freundin hatte eine schöne Altstimme, aber sie sang nur geistliche Hymnen. In Gesellschaft von Damen und Herren ein Liebes­

lied zu singen, ja, sich künstlich in die Stimmung zu versetzen, die der

Vortrag eines solchen Liedes erfordert, sei, nach der Aussage dieser Freundin, von einem jungen Mädchen unkeusch. Sie vertraute Henrietten an, daß sie nie in die Küche träte, ohne ein

brünstiges Gebet gen Himmel zu senden, daß die Speise unter ihren Händen gelingen möge. Dagegen meinte Henriette, es sei doch kleinlich, Jesu Namen mit jederÄußerlichkeit des täglichen Lebens zu verknüpfen, worauf ihre pietistische Freundin in sie eindrang mit der Frage:

„Was ist klein, was ist groß im Leben? Wir messen mit einem rein konventionellen Maßstabe." Durch die ernsten Gespräche, welche selbst die Jugend in diesem Kreise führte, durch die Harmonie und den innern Frieden, die dies«

religiöse Richtung über seine Mitglieder scheinbar zu ergießen ver­ mochte, war Henriette in ihrer damaligen Seelenverfassung natürlich

sehr beeinflußt. Hier war nun eine religiöse Lebensgemeinschaft, von der man sich ttagen lassen konnte, während sie aus eigener Kraft und deshalb so

ftuchtlos, den Frieden erringen wollte. Nach Hause zurückgekehtt, nahm es Henriette eine Zeitlang tief ernst mit ihrem neuen Sinn. Gar ost hat sie vor Gott auf den Knien gelegen und ihn gebeten, er möge

ihr lieber den Verstand nehmen, sie ganz dumm und einfältig machen,

damit sie glauben könne.

Gegen ihren geduldigen Vater verging sie

sich so weit, daß sie ihn» das unschuldige Whistspiel am Sonntag abend

zum Vorwurf machte, und wie sie selbst später urteilte, „anstatt der Romane dichtete ich Büßlieder". Henriettens Natur war aber zu reich, zu vielseitig, die künstlerische

Ader in ihr zu stark, als daß sie auf die Dauer in dem pietistischen Lager

eine geistige Heimat sich hätte schaffen können. So glichen ihre pietistischen Anwandlungen einer geistigen Kinderkrankheit, welche im Schoße

ihrer liebenden Familie mit Nachsicht ertragen wurde und durch eine moralische Sanierung von selbst bald verschwand.

And ehe ich auf einen neuen, wichtigen Abschnitt ihres Lebens «ingehe, will ich einen Rückblick, den sie selbst über ihr« verträumte Jugend machte, in ihren eigenen Worten wiedergeben:

Reichenbach. Rückkehr ins Elternhaus.

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„Wie danke ich dem füllen, frommen Ernste, der streng bürger­

lichen Rechtlichkeit meines Vaters, der wahren aufopferungsvollen Lingabe meiner Mutter an ihre Kinder, welche dieser Anruhe, An­

geduld und Lülfsbedürftigkeit meines Wesens ein Gleichgewicht gaben, dem allein ich es verdanke, daß ich nicht elend wurde!

Diese treuen

Eltern »rührten mein Gemüt, gaben der idealen Richtung meiner Seele reiche Anterstützung, flößten mir ein unnennbares Etwas ein, das sich zum sittlichen Kern meines Daseins gestaltete. And wenn der (Eigen-

artigkeit meiner Natur nicht volles Verständnis, nicht immer der rechte

Boden wurde, in welchem sie zum glücklichen Gedeihen wurzeln konnte, wen darf ich anklagen? wen verantwortlich machen? Niemanden als das Leben der Menschen und seine Entwicklungsgesetze, die Grausamfeiten in sich schließen, bei denen ich allerdings weinenden Auges und gequälten Lerzens frage: Warum das unsagbar Schwere der Ent­

wicklung -um wahrhaft menschlich Schönen? Wir fehlen so viel aus reinem Angeschick, wir unterdrücken aus ganz verkehrtem Pflichtgefühl

das Beste, was wir haben; wie ost ist das in mir geschehen, Ich haßte den Mechanismus, ich wandte mich vom Materiellen, durch welches

jeder Gedanke gehen muß, wenn er den Menschen zugute kommen soll, und doch wollte ich nicht lernen, nicht studieren, nicht von Gedanken zu Gedanken fliegen. Ich wollte mich in persönlichen, vom leidenschastlichen Gefühl getragenen Verhältnissen ausleben, überhaupt leben, er­

leben wollte ich; eine Romanheldin oder eine Schauspielerin zu werden,

war mein glühendes Verlangen.

Glücklicherweise wurde weder das

eine noch das andere mir vom Schicksal gewährt; aber ich hatte den Segen erfahren, daß meine Mutter früh der Gegenstand meiner heißen Liebe war, daß wir stüh Freundinnen wurden.

Sonst hatte ich in

meiner Jugend nicht viel Glück mit Menschen; sie tadelten mich ent­

weder einseitig meiner Fehler wegen,... an diesen Fehlern sollte ich nun herumarbeiten, sie ablegen —; aber die Erwachsenen wußten nicht,

wieviel Mangel an Befriedigung des Bessern in mir diese Anlagen in mir steigerten. Anderseits wurden mir Schmeicheleien gesagt, ohne

daß ich einen Menschen gefunden hätte, der die Entwicklungsgesetze des menschlichen Wesens mir enthüllte.

Aber während der Vater den ganzen Ernst und die Sttenge väterlicher Autorität aufbot, um mich zur Pflicht als erwachsene Tochter im Lause zu führen, hegte die Mutter den Wunsch, daß noch mehr

für meine geistige Ausbildung geschehen sollte. In der Sorge um mich

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Kapitel 5:

dachte sie an Keilhau, an Fr. Fröbel, dessen Leben und Wirken sie immer gefolgt war. Als ich nach Keilhau ging, wohl schon früher, waren die Genüsse, die ich suchte, höherer, feinerer Art, aber das blieb sich gleich: Ich war genußsüchtig, ich mochte mir nichts versagen, obgleich ich andern ein Kummer war und niemandem etwas nützte. Ich fühlte schmerzlich die Kluft zwischen meinem schönen Schwärmen und jämmerlichen Tun; ich sehnte mich nach dem Tode, weil von früher Jugend an ein tiefer, dunkler Drang nach Harmonie in mir lag. Das wurde anders, als ich nach Fröbel kam."

Kapitel 6.

Der Sommer 1848 bei Friedrich Fröbel in Keilhau. ^^as Jahr 1848, welches in den meisten Kulturländern Europas so -^-^schöpferisch an neuen Idealen fiir die menschliche Gesellschaft gewor­

den ist, wurde auch für das innere und äußere Leben Lenriette Breymanns ein bedeutsames Jahr. Zum erstenMale tritt sie wirklich aus der idyllischen Abgeschlossenheit ihres Familien- und Freundeskreises in eine ganz andere Welt, welche nicht unberührt war von den Kämpfen nach neuen, politischen und sozialen Zielen. Nach der hoch konservativen, orthodox-christlichen Atmosphäre des Elternhauses umwehte Äenriette Breymann in Keilhau und Dresden die fortschrittliche, frei­ religiöse, z. T. auch demokratische und materialistische Luft der 48er und 49er Stürmer und Dränger, welche auch in dem Fröbelschen Kreise vorhanden waren. Einen geistigen Klimawechsel, wie man ihn nicht größer denken kann, leitete die klugsorgende Mutter für ihr ältestes Kind ein, denn ihre eigenen intellektuellen Bedürfnisse eröffneten ihr das Verständnis für den in der Tochter sich jetzt stark regenden Trieb nach Fortbildung. Wie schon erwähnt worden, pflegte die Mutter freundliche Be­ ziehungen zu den Keilhauer Verwandten, und so entstand sehr natür­ lich die Frage, ob «ine jüngere Tochter, die 13 jährige Marie, als Schülerin in Keilhau ausgenommen werden könnte. Diese Anfrage erweckte ein außerordentlich freundschaftliches Entgegenkommen von feiten der Keilhauer; nicht nur Marie sollte als Schülerin «intreten, sondern die älteste Schwester Lenriette sollte den lang versprochenen Besuch endlich einmal ausführen: „Du warst so freundlich," lautet Frau Middendorfs Antwort an die Frau Pastorin Breymann, „Alwine zu Dir einzuladen; sie ist leider in Dresden. Wie wäre es, wenn wir das Blättchen umkehrten, wenn Du Lenriette [mit Mariens hierher schicktest? Wie würden wir uns alle freuen, das liebe Mädchen bei uns zu sehen; wie würde sich

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Kapitel 6:

gewiß der Oheim freuen, wenn sie durch Anschauung Euch genauere Kunde geben könnte von dem, was sein ganzes Leben jetzt bewegt und treibt!" Die Ausführung dieses verheißungsvollen Planes verzögerte sich um einige Wochen infolge der politischen Anruhen, welche bis an die entlegensten Teile des Landes hohe Wellen schlugen. Das Dörfchen Mahlum sowie die ganze Amgegend war in Aufimhr. Ich fiige zwei zur Zeit geschriebene Briefe von Sentierte an die abwesende Schwester Anna hier ein, welche die allgemeine Ansicher, heit in den Verhältnissen veranschaulichen:

Senriette an die Schwester Anna. Mahlum, März 1848. „Viel erzählen und wenig Zeit! Eben kommt ein Mann von der Sötte, um die Kartoffeln abzuholen, eine halbe Stunde bleibt er, und ich will die Gelegenheit benutzen, um Dir zu sagen, wie es hier steht. Wohl sind wir. Gottlob, alle; SedchenS* AuSschlag scheint durch das Baden wirklich besser zu werden, und das Zahnfieber hat sich gegeben, -aber — aber welche Anruhe! Auch wir waren sehr bedroht, denn da die Revolutionäre den Steuerbeamten zu Leibe gehen wollten, so konnte man nicht wissen, wie es uns in der Nähe des Serrn Landrats erging, den sie schon eines Abends mit den schrecklichsten Schimpf­ worten herausgefordert hatten. Wir wurden eines Abends gewarnt, hatten schon alles Zerbrechliche fortgepackt, doch außer einigem Ge­ schrei von Fremden bekamen wir nichts zu hören. Desto schlimmer ging es in Volkersheim. Der Landrat kam von einer Reise zurück und er­ fährt, daß sich alle Bauern gegen ihn zusammenrotten; er geht selbst zu ihnen inS Wirtshaus, wo sie schon halb betrunken beisammen sind. Sie fassen ihn beim Arm und schütteln ihn gewaltsam. * * sagen sie die abscheulichsten Dinge und beleidigen ihn sehr. Der Landrat sieht, daß es schlimm hergehen wird, denn dreizehn Punkte haben sie aus­ geschrieben, die er bewilligen soll und unmöglich kann. Er packt mit Vaters Sülfe Silberzeug, Papiere usw. ein, schickt nach dem Amte um Landdragoner und erwartet, was da kommen soll. Der Assessor ist beim Landrat als Vermittler -wischen ihm und den Bauern, da kommt die Rotte singend: „Ein freies Leben führen wir" auf den Sof. Der Landrat hält eine Rede, klipp, klapp fliegen die Steine und nur des

*) Die jüngste Schwester, geb. 1847.

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Ketlhau.

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recht beliebten Assessors Gegenwart und die Dragoner verhindern eine

völlige Demolierung des Laufes. Doch die Bauern haben schon ihren Lohn: Die kleinen rottieren sich gegen die großen und verlangen von den großen, was diese vom Landrat verlangen. So ist es rund um uns her. 3m Larz liegen 130 Soldaten, in Lutter hat Superintendent S. flüchten müssen, daß Bockenem nicht verschont blieb von Krawall, kannst Du Dir denken. Die Prediger werden hart bedroht, aus S. und L. sind sie samt den Schulmeistern weggejagt. Natürlich wird und kann dies nicht bleiben. Pastor K. wollen sie auf300 Taler herabsetzen und sind wütend auf ibn; Vater wollen sie einen Teil der Gemeindelasten auf seinen Pfarrmeierhof legen, weil sie sonst nichts finden können; der Kantor soll keine neue Schule haben und Pastor SS. soll ganz fort. Ob wir reisen fnach Keilhaue? Ehe Ruhe ist, gewiß nicht. Ich erhielt von Bambergs*) eine Einladung, den ganzen Sommer bei ihnen zu bleiben, auch dort war es sehr schlimm. Von Keilhau er­ warten wir täglich Briefe, was mag es dort geben? Ich bin sonst kaum aus dem Lause gewesen, aber heute kann ich den Bitten der Kinder und dem köstlichen Wetter nicht widerstehen, sie auf den Bockenemer Markt zu führen. Gestern hatte ich einen Brief von Luise und Julius**), letzterer ist unter dem Freikorps in Rendsburg. O, Schles­ wig Lolstein darf nicht verloren gehen, sonst ewige Schande über Deutschland 1 Wäre ich ein Mann, ich stände auch unter den freiwilligen Scharen I Wenn wir nur erst einen deutschen Kaiser haben! Dies ist mein größter Wunsch. Ein jeder hier trägt eine Kokarde, schwarz, rot, gold 1 Unser Lerzog ist wirklich höchst liebenswürdig K. schrieb gestern, es würde gut sein, eine Predigersynode zu berufen, eine Petition zu überreichen und ihre Rechte zu schützen. Wird es schlimm, fahren wir nach Amerika, es finden sich noch mehrere, vielleicht gehen Meiers***) mit. Nach den Auftritten in Volkersheim sind die Bauern zum Pastor N. gegangen und haben ihm verboten, über die Vorfälle zu predigen, sonst gingen sie alle aus der Kirche.

Mahlum 1848.

März.

Schon sind zehn Tage dahin, seit ich Dir die ersten Zeilen schrieb, eine ereignisvolle Zeit, wo fast jede Stunde uns eine neue Schreckens»

*) Familie in Rudolstadt, Thüringen. **) Der bekannte Julius Fröbel, Neffe von Friedrich Fröbe l. •**) Pastor Meter, später in Wackersleben bet Oschersleben. Lvlchi»»k-, tzenrlett« Schröder I.

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Kapitel 6.

künde aus dem unruhigen Frankreich bringt. Was soll daraus werden? Ich glaube fiir uns nichts, obgleich alle Politiker hier, vor allen der Landrat, das Schlimmste befiirchten. Ich kann nicht leugnen, ich möchte Zeuge dieser Umwälzungen sein. Obgleich ich des Volkes Verfahren nicht ganz billige, so hat es doch seine schöne, erhabene Seite, dieses Streben nach Kommunismus, und mufi Lamartine nicht einen starken, großen Geist haben, wenn er dasteht, ruhig das wütende, brüllende Volk anschaut und es mit seiner begeisternden Rede zu Tränen rührt? Gestern vor acht Tagen waren Marie, Maria Kadanova und Mademoiselle Loupert*), die kleine Französin, hier. Die L. erzählte uns viel von Paris und der königlichen Familie, daß alle bis auf die Serzogin von Orleans höchst schlecht und verachtet wären. Doch für diese Dame schwärme ich auch ein wenig. Aus der tief trauernden, verlasse­ nen Witwe, der angstvoll sorgenden Mutter, wird plötzlich die kühne, heldenmütige Fraul Doch, waS schreibe ich Dir von Dingen, die Dich vielleicht gar nicht interessieren? Was machen Eure revolutionären Bauern? Seit ich zuletzt schrieb, geht alles ohne besonderen Vorfall in unserm Kreise seinen Gang. Sonntag mußte Vater nach Kirchberg und hätte abends bei dem Sturme recht unglücklich werden können. Der Wagen wehte in den Graben, das Pferd schlug um, und Vater und Bartels hatten die größte Mühe, es aufzurichten. Unterdes flog Vaters Lut aus der Schachtel in die weite Welt; wer ihn gefunden, wird sich freuen. Vater kam ganz abgemattet an, gerade als die Französinnen abfuhren.

Bald wird unsere Abreise vor der Tür sein. Freitag hatten wir einige Lerren hier und ein wunderschönes Essen, und gestern, als ich in die Küche kam, stand schon wieder ein« Kutsche vor der Tür... Nun zum Schlüsse noch die innigsten Wünsche zum 18. März, Deinem 17. Jahre, es ist ein schönes Alter, in daS Du trittst, Gott segne es Dir und gebe Dir ein ftohes Lerz l Stets in Liebe gedenkt Deiner Lenriette.

Die Unruhen legten sich und die Reise der beiden Schwestern nach Rudolstadt und Keilhau wurde ohne große Fährlichkeit vollbracht. Während die jüngere Schwester Marie als Schülerin gleich in die geordnete Lebensweise der Anstalt in Keilhau eingeführt wurde, genoß Lenriette als Erwachsene und al- Besuch eine herrliche, sorgenlose

*) Erzieherin bei dem Lerrn von Cramm.

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keil hau.

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Zeit des freien Verkehrs mit den Leitern und Lehrkräften der Anstalt und ihren Familien. Jede Familie wohnte in einem eigenen Lause; Barops waren im großen Lauptgebäude des Instituts, Middendorfs und Christian Fröbels bewohnten das sogenannte „Unterhaus", Friedrich Fröbel hatte seit zwei Jahren eine dritte Wohnung bezogen, um sich ganz der neuen Idee der Frauenbildung für die Kleinkindererziehung zu widmen. Einige erwachsene Schüler und Schülerinnen Fröbels, sowie einige Lehrer der Knabenanstalt lebten verstreut im Dorfe und ver­ sammelten sich zu den Mahlzeiten oder zu geselligem und festlichem Verkehr in dem großen Lauptgebäude. In diesem bildete für intimere Geselligkeit die „Lausstube" oder (bei schönem Wetter) der Kaffeetisch der Lausfrau unter der Linde im Garten, für größere Veranstaltungen der geräumige Saal den Sammelpunkt des Kreises. Vergegenwärtigt man sich das abseits liegende Dörfchen Keilhau, in seinem Bergkeffel gebettet, mit seiner verhältnismäßig großen An­ zahl gebildeter Familien und Einzelpersonen, welche durch geistige wie materielle Interessen eng verbunden waren, so hat man das Vorbild der heutigen Landerziehungsheime vor Augen. Sie bildeten eine viel gegliederte Welt in sich, wo man einerseits fleißig arbeitete, ander, seits heitere und fröhliche Feste feierte und viel in der freien Natur lebte. In einer Linsicht war derMonat Mai nicht gerade der günstigste Zeitpunkt für Lenriettens Kindergartenstudien, denn Fröbel gab im Winter diesen Unterricht, und den Sommer benutzte er zu Reisen nach verschiedenen Orten Deutschlands, um Propaganda für die Gründung von Kindergärten zu machen. So traf eS sich, daß er bei Lenriettens Ankunft von Keilhau abwesend war. Anderseits war es fiir ihre Entwicklung ungemein fördernd, daß sie in geistig reger Gemeinschaft mit den Leitern der Anstalt und ihren Familien und Lehrern verkehren konnte ohne bindenden Seminarunterricht, mit wenig Lernstunden und viel Aufenthalt in der frischen Luft. Lenriette war kaum acht Tage in Rudolstadt, als die gesellschastlichen Zerstreuungen der kleinen Residenz vor den Bildungsmöglich­ keiten in Keilhau verblaßten. Von dem friedlichen Lintergrunde des Keilhauer Aufenthaltes (in den nur dann und wann das Wetterleuchten der Revolution hinein­ blitzte) hoben sich besonders einzelne Männergestalten ab, welche in 4*

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Kapitel 6:

der Zeit einen bildenden Einfluß auf Lenriette gewannen; ja, für den Augenblick tritt selbst Fröbel in den Lintergrund vor Middendorf, Bagge, Bendsen; letzterer ein Deutsch sprechender Däne, welcher in der Anstalt weilte. Er war ein blonder Lüne von Gestalt, mit schönen Gesichtszügen, innerlich überreif für seine (20) Jahre. Mit geistigen und materiellen Mitteln gut ausgestattet, scheint er an allerlei Wissenschaft genascht zu haben, ohne ein Studium zu irgend welchem greifbaren Resultate zu fithren. Eine gewohnheitsmäßige Nichtbeachtung seiner weiblichen Umgebung im allgemeinen verlieh ihm einen Nimbus, welcher ihn leicht zum Gegenstände jungfräulichen Interesses erhoben haben mag. Bei der verhältnismäßigen Abgeschlossenheit des Keil­ hauer Kreises konnte es kaum ausbleiben, daß kleine, harmlose Liebe­ leien zwischen den Lehrern und den erwachsenen weiblichen Mitgliedern des Kreises stattfanden. Mit Lenriette war das nicht der Fall, davor schützte sie die Tiefe und Leidenschaftlichkeit ihrer Natur; aber es kam

bei ihr anders. Als Lenriette in Keilhau weilte, hieß es allgemein, der junge Däne stände mit Wissen der Eltern mit einer abwesenden Tochter Midden­ dorfs in Korrespondenz, und er sei ihr Verlobter. Kaum war Lenriette einige Tage in Keilhau, so widmete sich der junge Däne dieser neuen weiblichen Erscheinung in durchaus vornehmer Weise. Er, der geistreiche, reifere junge Mann stand dem in Lebenserfahrung unmündigen Kinde gegenüber. Bald erkor er sich selbst zu ihrem Lehrer, Mentor, geistigen Führer. Mit der naiven Unbefangenheit eines reinen, nie betrogenen Gemütes und von dem glühendsten Wissensdurst beseelt, lauschte sie den geistvollen Gesprächen ihres selbst erwählten Lehrers. So entspann sich in voller Offenheit und Unbefangenheit ein Freund­ schaftsverhältnis zwischen Lenriette und dem jungen Bendsen, welches wenigstens zuerst für beide Teile einen großen Gewinn bedeutete. Dieses Verhältnis bildete sich unter den Augen der väterlichen Freunde, Middendorf und Fröbel, ohne daß diese es für nötig erachteten, irgendwie bestimmend einzugreifen. Selbstverständlich wußten Lenriettens Eltern von dieser Freundschaft, vorzugsweise war die Mutter in dieser Angelegenheit von Anfang bis zu Ende die Verttaute ihrer Tochter. Alle Schwingungen eines reich besaiteten Gefühlslebens werden hör­ bar in der Korrespondenz mit der Mutter und dem Freunde in den nächstfolgenden Jahren. Das Bedürfnis nach Mittellung war überhaupt bei Lenriette

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Kellhau.

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Lebensbedingung; das hing mit ihrer wunderbaren Fähigkeit zusam­ men, die Eigenart anderer Persönlichkeiten mit Liebe zu erfassen, sie suchte und gab viel Sympathie, eine Naturanlage, welche für sie ein nie versiegender Quell großer Freuden und Leiden wurde. Unter dem Banne der Sympathie wurden bei ihr alle andern Geistesfähigkeiten erhöht produktiv, Freunde und Verhältnisse wurden idealisiert bi- zu dem Moment, wo der scharfe Verstand sein Recht behauptete und ein großer Ernüchterungsprozeß einsetzte. Daß daS Freundschaftsverhältnis mit Bendsen von Lenriettens Seite wenigstens in keinem Widerspruch stand zu dem früher einge­ gangenen -wischen Bendsen und Alwine Middendorf, geht aus der Tatsache hervor, daß Lenriette sofort zu ihr in nähere, schriftliche Be­ ziehung trat, obgleich sie Alwine noch nicht persönlich kannte. Diese schwesterliche Korrespondenz dauerte viele Jahre hindurch und hörte erst mit dem Leben einer der Beteiligten auf. Die strebsamen Gemüter einer jungen Generation fühlten sich eben geistesverwandt; sie wurden getragen und verbunden durch den Fröbelschen Geist in Keilhau, der lange Jahre hindurch in dem Kreise wirkte und zu einer gewissen sozial gewordenen Stellungnahme führte gegenüber den großen Lebensftagen der Religion, Erziehung, Frauenemanzipation, Kunst und Politik. Lenriettens geistiger Lorizont wurde ungemein erweitert durch den schön gestimmten, freien Verkehr mit der Männerwelt Keilhaus, durch das Freundschaftsverhältnis mit Bendsen. Ohne jede Vorbereitung hätte sie Fröbels späteren Unterricht weder aufnehmen noch verarbeiten können. Es erschien Lenrietten damals, als dächten die Männer in Keilhaü ganz anders über die Frauen, als in der übrigen Welt. Lier waren sie bereit, in der Frau den Menschen, den Eben­ bürtigen zu sehen; ja, mehr, sie boten ihr helfend, unterstützend die Land, damit sie sich bilde und sich tüchtig mache, ihre eigenartige Auf­ gabe in der Welt zu erfüllen: „FreiheitI o, die himmlische Freiheit Keilhaus l" Wiederholt erklingt dieser Ruf bei ihr, worunter sie aber durchaus keine äußere Befteiung von den Fesseln ihres elterlichen Laufes verstand, sondern die Erlösung im Innern von dem halb be­ wußten sozialen Druck, der auf der bürgerlichen Stellung der Frau lastete, und an dem jedes stärkere, weibliche Wesen bewußt oder halbbewußt mit schleppte. Lenriettens Verkehr mit den jüngeren Mitgliedern des Lehr­ kollegiums gruppierte sich vielfach um das Lesen klassischer Stücke in

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Kapitel 6:

verteilten Rollen. Daran reihten sich oft interessante Debatten und feine Analysen einzelner in den Stücken vorkommender Charattere. Schleiermachers Monologe lernte sie in dieser Zeit kennen, sie bildeten fortan ihr Andachtsbüchlein auf einige Jahre. Mit Lülfe des letzt­ genannten Buches undMiddendorfsReligionsunterrichts begann ihre religiöse Vorstellungswelt eine ganz andere zu werden als die ihres Vaters. Ein Freundschaftsverhältnis zwischen einem jungen Mädchen und einem jungen Manne, mag es noch so bildend und gegenseitig fördernd gewesen sein, war in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen etwas Ungewohntes, und Lenriette mußte die Kritik und die vielfachen Ermahnungen der Verwandten und guten Freunde ertragen lernen. Die innere Entwicklung und Umwandlung dieses Verhältnisses bis zu seinem Abschluß entzog sich naturgemäß den Augen des Bekanntenkreises, und so war ihr guter Rat von keinem Belang. Glücklicherweise war und blieb die Mutter die intime Freun­ din ihrer Tochter und bewährte sich als ihr Schutzengel in der Stunde der Gefahr. Für den jetzigen wichtigen Abschnitt in Lenriettens Entwickelung ist mir ein reiches Material übergeben worden und selbst auf Kosten der Einheitlichkeit der Erzählung werde ich soviel wie möglich die nächst» beteiligten Personen ihre eigenen Erlebnisse erzählen lassen. Teilweise ist das Material fiir einen kleinen Kreis schon im Druck erschienen; meine Aufgabe wird in der Hauptsache eine ordnende, verknüpfende, ergänzende sein. Ich bringe zunächst die als „Erinnerungen an Fried­ rich Fröbel" bekannten Auszüge verkürzt aus Briefen und Tagebüchern von Lenriette aus diesen Jahren zum Abdruck. Sie schreibt: „Mai 1848. Rudolstadt. Wohl hast Du geglaubt, meine teuerste Mutter, Marie und ich seien schon in Keilhau und dennoch sind wir noch hier. Aber nun ist alles beseitigt, was uns verhinderte, unsern eigentlichen Bestimmungsort zu erreichen. Der Koffer ist endüch angekommen und ich habe meine Erkältung überwunden. Aber wie geht eS Euch, geliebte Mutter? Seyd Ihr alle wohl? Leute ist es Sonntag. Du bist gewiß gerade jetzt in unserm lieben Kirchlein, denkst an Deine beiden fernen Kinder und schließt sie mit ein in Dein Vater­ unser. Meine Mutter, wie schön ist es hier! Mir fehlt nichts in dieser herrlichen Natur als Dein und des Vaters tteues Lerz. Wenn ich nur in Eurer Mitte all' das Schöne, was mir geboten wird, genießen könnte.

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Welch' ein Glück wäre das I Aber es beschleicht mich oft ein wehmütiges Gefühl, wenn ich daran denke, daß ich Dir nun gar nicht helfen kann bei Deiner vielen Arbeit für die Kinder und das LauS, und daß denn dem Vater so manche Kosten erwachsen durch unsere schöne Reise. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ich nun so viel tüchtiger zu Euch -urückkehren und Euch helfen werde, nachdem ich hier ein so köst­ liches Dasein in der mich entzückenden Natur eingeatmet habe. Montag. Nun sind wir in Keilhau. Gestern kamen wir hier an, jedermann empfing uns freundlich. Zuerst begrüßte uns Frau von Born, Barops Schwester, die hier wohnt, um sich nicht von ihren Söhnen zu trennen, welche in der Anstalt erzogen werden. Dann kamen Barops fünf Töchter, alle gesunde, kräftige Mädchen mit dunk­ lem Laar und braunen Augen. Sie sind merkwürdig ländlich und einfach gekleidet, aber es erscheint mir, als müßte das hier so sein. Ein großer, ernster, stattlicher Mann ist ihr Vater. Er trägt daS schwarze Laar etwas lang, gerade gescheitelt. Der Eindruck, den er macht, ist vor­ wiegend respekteinflößend; auch er hieß uns freundlich willkommen. Recht warm wurde eS mir erst ums Lerz, als Elise Fröbel erschien.

Wie heiter und liebevoll blickte sie uns an, wie tätig und frisch scheint sie hier zu wirken. Sie und ihre Gehülfin im Lauswesen, Malchen, führten uns in den Eßsaal, wo das Abendbrot eingenommen werden sollte. Lauter Jubel schallte unS dort entgegen. Unter einer großen Anzahl von Knaben saßen viele junge, bärtige Männer im fröhlichen Geplauder. Wir aßen Kartoffelsalat und kaltes Fleisch, das uns vortrefflich schmeckte. Sobald ein Knabe seinen Lunger gefüllt hatte, durfte er hinausstürmen auf den Los, und bald war die ganze Jugend dort im fröhlichen Spiel versammelt. Frau Barop ist krank, wir haben sie noch nicht gesehen. Nach dem Essen gingen wir zu den Großeltern, d. h. zu Christian Fröbel und dessen Frau. Sie wohnen im „untern Lause". Der Großvater ist ganz erblindet, aber trotzdem frisch und gesund. Er legt und rollt alle Wäsche und Hilst hie und da, soviel er vermag. Die Großmutter ist eine zierliche kleine Frau, sehr rührig, sie scheint scharf und klug zu sein. Beide sind ein ehrwürdiges Paar. Viel mußten wir erzählen, und viel erzählte auch der Alte von den lieben Großeltern in Nette, daß der Großvater ein so feiner, kluger Mann gewesen, und daß er mit ihm manchen schönen Karpfen ver­ speist und manch gutes Glas Wein getrunken habe. Dann erschien auch

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Kapttel 6:

Frau Middendorf, die hatte ich mir nun freilich ganz anders gedacht. Auch sie scheint heiter und vergnügt zu sein. Es kommt mir hier alles so frisch, froh und kräftig vor.

Marie und ich haben ein reizendes kleines Dachstübchen.

Ein

sanfter Regen rieselte abends, als wir zur Ruhe gingen, vom Simmet herab, und das Tropfen desselben über unserm Saupte klang wie Musik,

unter der wir bald in tiefen Schlaf versanken. .

.

Seute machten wir reizende Spaziergänge. Wir waren auch auf dem Kolm, dem Berge, der sich dicht hinter der Anstalt erhebt und Eigen­

tum derselben ist. Die Knaben haben dort mit ihren Lehrern fleißig gearbeitet, schöne Anlagen und bequeme Fußwege geschaffen, ihn mit Sütten, Einsiedeleien und kleinen Burgen bebaut. Jetzt in den Pfingst-

ferien leben die Zöglinge fast den ganzen Tag dort oben. Wir fanden

sie sehr beschäftigt. Einige bepflanzten ihre Blumenbeete, andere repa­

rierten oder erweiterten ihre Sütte, wieder andere kochten auf selbst-

gemauertem Serbe Kartoffeln, backten Eierkuchen usw. Später waren wir auch noch auf dem „Steiger", der Söhe, von welcher man in ein neues Tal blickt.

Wäret Ihr dort oben, geliebte

Eltern? Ja gewiß wäret Ihr dort, denn hier ist der schönste Punkt von

Keilhaus Umgebung.

Ich schaute in ein reiches, schönes Tal, von

blauen Bergen begrenzt, hinter mir rauschten die Tannen, ich schloß

die Augen einen Moment und fühlte mich wie von Fittichen getragen in dieser köstlichen Luft, welche mich umwehte. Es ist etwas so Eigen­ artiges, so Unbeschreibliches in dieser Natur, ich glaube, das kommt von

dem Geiste, der von Keilhau auSgeht und alles durchdringt. Mir ist es, als müßte er auch mich zu einem neuen Leben führen, als müßte daS

Chaos von Gedanken und Gefühlen, das oft in meinem Innern wogt

und wallt, sich hier lichten und mich zu klaren Söhen des innern Daseins erheben. Dienstag. Gestern abend saßen wir noch im Mondschein unter

einer herrlichen Buche auf dem Kolm. Könnte ich Dir, teure Mutter, alles sagen, was ich Dir sagen möchte; aber es ist so viel Unaus­

nur

sprechliches, was mich bewegt in diesem so ganz eigentümlichen Leben.

Es ist mir, als würde so vieles in mir frei, als ginge mir für so mancheim Leben ein Verständnis auf, und doch kann ich das alles noch nicht in Worte fassen.

Es kommt mir vor, als wäre hier in gewisserweise

meine Seimat, als wäre ich schon lange hier gewesen, und dennoch fühlte ich mich mit allen Fasern meines Serzens an Euch, an mein

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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wirkliches Vaterhaus gebunden. Jedermann ist hier so lieb und gut zu uns, und ich bewege mich schon ganz frei in dem neuen Kreise. Bald

bin ich oben im Lause, bald unten bei den Großeltern, ich finde immer etwas zu tun, zu helfen und man gibt mir dies und jenes, woran ich

mich betätigen kann, in die Land. Die Anstalt ist jetzt in hoher Blüte. Zwanzig Pensionäre hat man zu Ostern abweisen müssen; aber ich begreife auch, wie gern Eltern ihre

Kinder hierher schicken mögen. Du solltest nur sehen, wie gut es allen schmeckt, die großen Milchtöpfe und Körbe voll Brot, die schon zum Frühstück zutage kommen und rasch verschwinden, und so ist es mit dem

Mittags- und Abendbrot; alles ist so reichlich und kräftig.

Freilich

gibt es keine Leckerbissen, aber manches, was ich zu Lause nicht gerade mit Vergnügen gegessen hätte, mundet mir hier prachtvoll. Ich glaube, das kommt von dieser würzigen Bergesluft, der vielen Bewegung im

Freien, und weil man auf äußere Dinge hier gar keinen Wert legt. Man ist immer mit geistigen Interessen beschäftigt.

Jetzt wird hier viel politisiert, aber die eigentlichen Stürme deS politischen Lebens dringen nicht hierher. Keilhau liegt so still und fried­

lich von seinen Bergen umschlossen, und in der Natur ist kein Zank, kein Streit, die Bäume rauschen mir Larmonie ins Lerz, der blaue

Limmel macht mich so hoffnungsvoll, die herrliche Sonne über den schattigen Bäumen erwärmt mir meine ganze Seele, und Mond und Sterne überstrahlen mich in stiller Nacht mit mildem Frieden. Ich glaube, diese Reise hierher, dieser Sommer in Keilhau ist ein Glanz­

punkt in meinem Leben. Später. Trotz meiner stillen Beobachtungen habe ich noch nicht

recht erfahren können, was man eigentlich in bezug auf das politische

Leben will, welcher Partei man zugehört. So viel habe ich verstanden, eö soll ein einiges, freies Deutschland sein; aber was verstehen sie hier unter „frei" ? Recht erschreckt hat mich ein Bild von Wislicenus *), das

in einem Zimmer hängt mit der Unterschrift : „Gegen die Wahrheit kann man nicht zeugen." Wenn sie das Bild dieses Mannes hier auf­

hängen, so ist das doch wohl ein Zeichen, daß sie seinen Ansichten *) Wislicenus, ein freidenkender, protestantischer Geistlicher. Er hatte erklärt, die Bibel könne nicht ihrem Wortlaute nach länger die uns beherrschende Autorität sein, sondern dies« Stelle gebühre allein dem denkenden Geiste. 1846 wurde er seines Amtes entsetzt und spielte in den Revolutionsjahren eine Roll« unter der freidenkenden Partei.

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Kapitel 6:

beipflichten. Wäre das möglich? Man scheint doch hier wahrhaft fromm zu sein; doch heute kann ich nicht weiter darüber schreiben.... Marie mit ihrem heiteren frischen Wesen scheint zu gefallen und es gefällt ihr hier. Wenn sie sich erst ganz eingelebt hat, dann kehre ich noch einmal nach Rudolstadt zurück und ziehe erst später ganz hier ein. Middendorf und Fröbel sind noch nicht von ihren Reisen zurück. Wie geht es denn den Kindern, dem dicken Erich und dem süßen Ledchen? Last Du Dich nicht auch sehr gefreut über die wunderhübsch ausge­ schnittenen Sachen, welche Du mir von Adolf schicktest? Sie werden hier sehr bewundert, und man meint, er müsse sehr viel Talent zum Zeichnen haben, da er alles aus freier Land geschnitten hat. Doch nun lebe wohl, geliebte Mutter, lebt alle wohl. Marie schreibt noch selbst Rudolstadt. Mitte Mai. Tagebuch. Leute waren wir in der Kirche. Das Gotteshaus ist groß und schön gewölbt, aber die Aus­ stattung ist so bunt, so unruhig. Einen tiefen Eindruck machten aber die Worte auf mich, welche in goldenen Buchstaben auf schwarzem Marmor über dem Altar angebracht sind: „Lerr bleibe bei uns, denn es will abend werden." Ja, wir haben es gerade jetzt so nötig uns an den Limmel zu halten, da die Erde in Aufruhr ist mit sich selbst. Aber ich möchte jetzt nicht sterben, sondern erleben, wie daS Knäuel sich ent­ wirrt. Gott sei Dank, daß ich keiner von denen bin, die den Anstoß geben zu dieser Verwirrung, in der so mancher sich selbst verliert und durch den Sturz einer der kämpfenden Parteien so viele nach sich reißen wird. Aber sind diese Menschen, die den Aufruhr bringen, nicht vielleicht Werkzeuge in Gottes Land? Wenn, ach wenn ich nur wüßte, wie alles zusammenhängt und alles enden wird? Der Lerr Oberpfarrer sprach auch von der jetzigen Zeit und knüpfte seine Rede an einen Psalm Davids: „Der Lerr wird die Gott­ losen verderben, wenn sie auch eine zeitlang glänzen und sich's wohl sein lassen." Was hat mir diese Predigt innerlich gegeben? Ich fühlte mich so unbefriedigt, ich ging so leer heim. Ich suche immer etwas in der Kirche und finde es nicht, ich suche klares Verständnis der Bibel und Anwendung desselben auf unser Leben, aber es bleibt mir so vieles dunkel. Ich kann mit so vielen Sprüchen nichts anfangen und die ein­ dringlichen Ermahnungen des Lerrn Oberpfarrers, uns von den Gott­ losen abzuwenden, bleiben so ganz ohne Wirkung. Wer ist denn gott­ los? Wer hat ein Recht den andern so zu nennen?

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Es mag schwer sein, die Bibel richtig auszulegen, die Menschen zu begeistern für das Gute, aber ich denke, wer mit inbrünstiger Liebe

und heiligem Eifer seinem Gotte dienen will, der ist nicht nur ein Pre­

diger auf der Kanzel, sondern auch ein Seelsorger in der Welt. Ich denke mir, wenn ich ein Prediger wäre, und säße am Sonnabend

abend in heiliger Sülle vor dem Buche aller Bücher und blickte gen

Limmel mit der heißen Bitte um Erleuchtung, sollte sie mir versagt

werden? Nein, o nein! Es ist noch alle Jahre Pfingsten geworden, das Fest des heiligen Geistes, und jeder kann sein eigenes Pfingsten

feiern, wenn er den Geist der Erleuchtung auf fich herniederfleht. Ein

gläubiger Christ begeht oft die Feste der Kirche im eigenen Kerzen.

Daß ich doch ein Mann wäre und gelernt hätte, wie ein Mann,

und reden dürste von allem, was mein Lerz bewegt. Doch ist es besser für mich, ein Weib zu sein. Die Schranken, die einmal unserm Geschlecht

gezogen sind, dämpfen die Leidenschaftlichkeit meiner Seele, sie führen mich zur Demut, sie beugen unvermerkt den stolzen Sinn. Ist es auch weniger schön, still zu halten, still zu wirken und zu dulden, als stark zu ringen und zu streiten?

Ein Weib zu sein in stiller Würde ist wohl

etwas Kohes — wurde nicht Jesus von einem Weibe geboren? Kat

diese Tatsache nicht eine hohe Bedeutung? Waren es nicht Frauen, die ihm treu blieben bis zum Tode, die zuerst seine Auferstehung verkündeten mit dem Rufe: „Der Lerr ist auferstanden, er ist wahrhaftig

auferstanden I" Ja, auch wir Frauen sind nicht ausgeschlossen von dem

KöchsteN, dem Kerrlichsten auf Erven — das ist mein Trost. Keilhau 2. Juni (Brief). Ich bin wieder auf einige Tage hier

Marien zu besuchen, morgen gehe ich nach Rudolstadt zurück.

Die

Keilhauer Bauern feiern ein Fest so ähnlich wie in Mahlum, „MaibaumShochzeit". Aber es ist hier viel einfacher. Anten vor der Anstalt

tanzen sie auf dem Rasen um einen Baum, daneben sitzen diejenigen

Bauern, die Musik machen, zuweilen kommt auch ein Lehrer dazu, welcher die Baßgeige streicht, und wir tanzen alle mit. Gestern am Sonntage war eS sehr lustig und heute dauert das

Vergnügen noch fort. Die Kinder wollen so gerne stet haben, aber der sanfte Middendorf blieb unerbittlich: „Nach getaner Arbeit ist gut

tanzen", sagte er mit steundlicher Miene und die Bittenden zogen auch schließlich ganz vergnüglich ab. Dieser Middendorf hat so etwas Erquickendes, er erinnert mich an den Pastor W., aber Middendorfs Erscheinung ist viel idealer.

Kapitel 6:

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Elise Fröbel wird mir immer lieber, sie macht auf mich den Ein­ druck, als könnte man sich auf sie stützen, ich glaube, sie hat mich auch lieb.

Mir ist, als sei ich immer hier gewesen. Ich habe doch sonst so das Vornehme und Aristokratisch« geliebt, wie es bei v. Cs. war, und Ihr

seid oft böse auf mich gewesen, daß mir nichts gut genug sei — nun hier ist keine Spur von Aristokratischem — selbst das Ästhetische fehlt, und wenn ich die Einrichtungen und das Leben ganz nüchtern betrachte,

würde ich vieles nach unsern Begriffen bäuerisch nennen, aber ich weiß nicht, wie es kommt, es berührt mich nicht unangenehm, und hätte ich

Kinder, die ich von mir ließe, an keinen andern Ort würde ich sie geben, als hierher.

Ihr glaubt nicht, wie alle, die hier waren, an Keilhau

hängen und ihr Hiersein für die glücklichste Zeit ihres Lebens halten.

Täglich kommt Besuch und mehrere der früheren Zöglinge verweilen hier wieder eine Zeitlang.

Wie freue ich mich, wenn Bruder Karl mich besuchen wird, solch*

ein Leben wird ihm ganz etwas Neues sein. Wir waren letzte Woche auf Iustinshöhe, um uns an den Freuden­ feuern und Feuerwerken zu ergötzen, die zur Eröffnung des Parla­

ments brannten. Wenn die Mitglieder beim Schluffe desselben nur nicht die Asche auf ihr Haupt streuen müssen. Die Menschen sind ganz närrisch in Rudolstadt, ein jeder will es besser haben, als er es hat,

was sollte daraus werden, wenn jeder bekäme, was er wollte? Wie ist doch der Egoismus schuld an allem Anheil I And statt dem Freiheitsgeschrei sollten sie lieber daran arbeiten, die Wurzel alleÜbels auszureißen, dann würde schon der Baum der Freiheit grünen. Ich interessiere mich gar nicht mehr für Politik, doch höre ich die Herren

hier gern darüber sprechen, und es amüsiert mich, wie sie oft wütend gegeneinander werden, aufspringen, auf den Tisch schlagen, und schließ, lich einander anschreien, um sich recht deutlich zu erklären. Besonder­ ist ein Lehrer, Schweizer und Republikaner, Herr Z. eifrig in seinen

Reden gegen König und Königtum.

Der Oheim ist noch nicht da, wie begierig bin ich, ihn zu sehen.

Ich weiß nicht, wie er zu allem hier steht, er hat doch die Anstalt

gegründet, das Ganze ist sein Werk, aber außer Middendorf spricht

eigentlich niemand so recht herzlich von ihm. Auch in Rudolstadt scheint er gar nicht so recht anerkannt zu werden wie Barop und Mid­ dendorf, Onkel und Tante B. sind sehr für die beiden letzteren einge­ nommen, aber Fröbel nennen sie einen ganz unpraktischen Idealisten

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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und hatten es für ein Glück, daß er sich von der Leitung der Anstatt Keilhau zurückgezogen hat, die, wie sie meinen, ohne Barop und Middendorf untergegangen wäre. Mit dem Onkel Loffmann in Königssee steht Fröbel auch gar nicht mehr freundschaftlich; letzterer wollte immer Geld von ihm leihen, und da der Onkel ihm nichts mehr geben wollte, wurde Fröbel ganz böse, trotzdem er noch nicht einmal seine Schulden an ihn bezahlt hatte. Ihr glaubt nicht, liebe Eltern, wie weh es mir tut, wenn ich dies alles höre, vielleicht hängt aber die Sache doch anders zusammen, als es erscheint, denn wer für die Menschen wirken will, wie der Oheim, wird doch gewiß zuerst an sich selbst arbeiten und vor allem streng bürget» lich rechtlich zu Werke gehen. Nun lebt wohl, meine Geliebten! Ain 1. Pfingsttage 1848 in Keilhau (Tagebuch). Wir waren in der Kirche, aber ich habe mich nicht erbaut. Nachmittags las uns Middendorf aus Robert Blums Lebens» geschichte vor und später auch vom Prediger Wislicenus. DaS hat mich beunruhigt und erschreckt — denn, wenn Middendorf solcher Leute Freund ist, dann ist mein Teil der Verehrung für ersteren dahin. Ich darf Middendorfs Neligionsstunden beiwohnen und werde wohl hören, waS seines Lerzens Meinung ist. Er muß, er muß ein Christ sein, so wie er ist, denke ich mir den wahren Christen, und er sollte keinen rechten Glauben haben? Nachmittags machteMiddendorf mit einigen Lehrern, Zöglingen, den Mädchen und uns anderen Frauen einen schönen Spa­ ziergang nach „Küsters Tränke", reizenden Anlagen über Eichfeld. Dort lagerten wir uns. Middendorf las ein Blumenmärchen vor, und mir war es selbst, als sei ich in einem Zaubergarten. Abends gaben der Musiklehrer 55. und die Zöglinge ein Konzert. Mir war so wohl heute, wie seit lange nicht, kein Kopf» und Lalsschmerz quälte mich, ich fühle mich so leicht, als schwebte ich durchs Leben. Dienstag. Wie heiter war der gestrige Tag. Die Zöglinge hatten Vogelschießen und abends war der Schützenball. Nach dem Mittag» essen ordneten sich die Schützen. Die großen Zöglinge zogen mit ihren Lehrern nach dem Turnplätze, die kleineren mit Middendorf auf den Kolm. Nach 4 Ahr folgten wir: Elise, Luise usw. und ich, den ersteren mit Kuchen beladen, und nachdem dieser ausgeteilt war, banden wir vier Kränze für die beiden Könige und die Königinnen des Festes. Noch waren wir bei unserm Geschäfte, als Trommelschlag den besten Schützen unter den großen Zöglingen mit ihren Lehrern verkündete.

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Kapitel 6:

Einer der letzteren, Lerr G. hatte das letzte Stück vom schwarz-rotgoldenen Adler getroffen und er bat Luis« Lewin *), mit ihm die Ehr« des Festes als seine Königin zu teilen. Luise hat sicher dem Laushalte hier mit vorgestanden, sich aber seit vergangenem Winter dem Unterrichte des Oheims gewidmet und sucht jetzt eine passende Stelle als Kindergärtnerin. Sie ist so gut und fürsorglich für-mich. Elise krönte das Königspaar mit unsern Blumenkränzen. Len 55., der Musiklehrer und Schützengeneral, ließ vor dem König und der Königin das Gewehr präsentieren und ihnen ein Vivat bringen, dann marschierte der Zug, Turnlieder singend, ab, wir hinterdrein. Vor dem Lause angelangt, wollten die Republikaner, deren An­ führer Lerr Z. war, gegen das Königtum sich erheben, sie wurden aber besiegt, und man teilte die Geschenke an die besten Schützen und die Schützenkönigin aus. Lerr G. erhielt eine Taffe, Luise ein Tuch, eine Scheere und einen Bindlochstecher, alles sehr hübsch und geschmackvoll gewählt. „Der König und die Königin sollen das Volk belustigen", rief Lerr Z. und alle stimmten ein, und die beiden mochten wollen oder nicht, sie mußten im Saale nach ganz taktloser Musik drei Tänze Solo tanzen unter heiterem Gelächter der Zuschauer. Während dieser Zeit erschienen auch die Kleinen und Marie war die Königin. Wir aßen dann im Freien, doch hatten die Zöglinge keine Ruhe, sie eilten, um Toilette zu machen und bald schimmerten im Saale weiße Beinkleider und Helle Landschuhe, es duftete nach eau de Cologne und eau de mitte fleurs und der Ball begann. Erst als schon das Grau des Morgens schimmerte und Lerr L. mit den Kleinen die Ferienreise antrat, schlossen wir den Kotillon. Keilhau d. 17. Juni 1848 (Brief). Teure Eltern! Der Oheim ist da 1 Ich war nach den Pfingsttagen wieder zurück nach Rudolstadt gegangen. Freitag abend wurde mir folgendes Zettelchen von MariuS Bendsen gebracht: „Der Oheim ist zurückgekehrt und sehnt sich sehr, Fräulein Lenriette Breymann zu sehen, vielleicht morgen. Bitte meine Freiheit zu entschuldigen. B." Wie erregte mich diese Nachricht! Ich beschloß andern morgens hinauf nach Keilhau zu wandern, denn die Motte: „vielleicht morgen" schienen an Eile zu mahnen. Mein

*) FröbelS spätere zweite Gattin.

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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liebes Mariechen Bamberg und ihr Bruder begleiteten mich, und schon

5 Ahr morgens waren wir unterwegs.

Aber so schwer wie diesmal

wurde mir der Weg noch nie. Allgemeine Verwunderung über mein

frühes Erscheinen empfing mich und B. lächelte. Der Oheim hatte ihm nur aufgetragen, mich von seiner Rückkehr zu benachrichtigen, wenn er

mich in Rudolstadt sähe, wohin er Freitags gegangen war. Endlich kam der Oheim, er schloß mich in seine Arme und sein

Blick ruhte lächelnd auf mir. „Ich habe mich recht nach Dir gesehnt, mein liebes Kind",sagte er, „und danke dir, daß du schon gekommen bist".

Nach dem Frühstück nahm er meine Land und führte mich ins Freie: „Ich kenne Dich schon, mein Kind, auS Deinen Briefen, die Du

an Luise schriebest, und aus manchen Gesprächen mit ihr. Vertrauen zu mir.

Labe auch

Sieh', ich glaube in Dir eine suchende Seele zu

finden, und ich kann Dir vielleicht geben, was Du suchst, ohne daß Du dies selbst kennst — sage mir aufrichtig, was wünschest Du Dir als Ziel

des Lebens?" Ich weiß nicht, wie mir ward, als der Oheim so zu mir sprach. Ich

sagte ihm alles, alles; daß ich mich so schwach fühlte an Körper und Geist, daß ich eine unendliche Sehnsucht habe, Gutes zu tun, aber bis­ her wenig vollbrachte. Ja, geliebte Eltern, ich gestand ihm, daß ich so

wenig Lust bezeigte zu den täglich wiederkehrenden Geschäften des

häuslichen LebenS; daß ich es oft so langweilig fände, meine Pflicht

im Lause zu tun, und es mir auch so sauer würde — und doch, doch möchte ich Euch so gerne Eure Sorgen um uns Kinder erleichtern. Ich sagte ihm, daß ich mich oft zum Sterben schwach fühle, und auch

oft glaubte, der Tod sei für mich das Beste, das Erlösende I

Er ließ mich ruhig ausreden und als ich bewegt schwieg, schloß er mich in seine Arme.

„Mein Kind", sprach er zu mir, „ich bin kein

Vater im gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber darum kann mein

Leben andern gewidmet sein, und auch Dir will ich ein Vater werden. Gott hat nicht ohne Absicht Deinem Geiste größere Stärke gegeben als Deinem Körver, widerstrebe nicht der Natur. Dein Geist ringt nach

Klarheit, sucht eine Arbeit. Viele Menschen kranken am Körper, weil der Geist sich nicht befreien kann. Mache den Deinen frei, und Du sollst sehen, die Seele ist mächtiger als der Körper, sie wird über ihn siegen.

Nein, wünsche nicht, ihm zu entfliehen. Ehe Du ein Engel des Limmels werden kannst, mußt Du einer auf Erden sein. Ich will Dir helfen, es zu werden, und Du wirst da- Glück, den Frieden finden, den Du suchst."

Kapitel 6:

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Er sprach so schön, so vertrauensvoll zu mir, o, könnte ich Euch nur

alles wiedergeben, was in meiner Seele nachklingt von seinen Worten. Er eröffnete mir eine neue Welt, er ließ mich hineinschauen ins Innere

des Menschen, und ich begriff, daß ja niemand, niemand umsonst auf Erden ist und was es heißt: „Gott ist in den Schwachen mächtig." Ja, die Menschheit ist ein Ganzes und jedem ist seine Stelle angewiesen, wenn er sie nur erkennen will und soll; jetzt verstehe ich mein Leben. Ich bin am Wendepunkt meines Daseins angelangt, ich erkenne seinen

hohen Zweck und plötzlich ist es klar vor meinen Augen, was ich will

und soll: Mein Leben der Pflege der Kinderseelen widmen. Nicht wahr, geliebte Eltern, so helfe ich Euch auch. Ich kann meine

Geschwister, mein süßes Kedchen vor der Langeweile schützen, die mich als Kind und durch mich Dich, teure Mutter, so gequält hat. Ich kann

Adolf, Wilhelm, Erich unterrichten, und so Dir, Vater, eine Stütze sein. And wenn, wenn es sein müßte, wenn es Euer und Gottes Wille ist,

könnte ich mir auch in der Fremde meinen Unterhalt erwerben. Mein Plan ist nun, mich ganz des Oheims Lehren zu widmen,

dann dabei noch Französisch und Englisch usw. zu tteiben. Mit welcher Seeligkeit erfüllt mich der Gedanke an ein bestimmtes Lebensziel. Ich vertraute Luise den Plan, sie stimmte mir bei, sie will mit dem Oheim alles besprechen. Keilhau. Juni 1848 (Tagebuch). Ich habe einen langen Brief

an meine Eltern geschrieben und ihnen meinen Lebensplan mitgeteilt. Ob er Erfüllung finden wird? Gott gebe es. Endlich, endlich würde ich mich dann befreit fühlen, ich würde dann einen bestimmten Beruf haben, der mir das Recht gibt, zu denken, meinen Geist auszubilden, dessen Ausübung mich nicht von meinen Geliebten in der Leimat zu

trennen braucht, der mich im Gegenteil erst recht befähigen wird, eine gute Tochter und Schwester zu sein. 3ch habe viel mit Luisen gesprochen,

wir treten einander immer näher und nennen uns jetzt auch „Du". Sie will alles für mich tun, meine Wünsche zu fördern, sie will mit

Middendorf sprechen, ob ich noch verschiedene wissenschaftliche Stunden in der Anstalt mitnehmen kann usw.

Luise erzählte mir, daß ich einen tiefen Eindruck auf den Oheim

gemacht habe. Er sagte zu ihr: „Die Lenriette ist eine von den Ansrigen, das weiß ich schon, und haben Sie bemerkt, wie ihr Inneres sich ausdrückt in ihrer äußeren Erscheinung, in ihrer Art sich zu kleiden?" Ich trug, als der Oheim mich zuerst sah, ein blau- und weißgestreistes Kleid

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Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

und Blau ist seine Lieblingsfarbe. Die Taille blusenartig gemacht, schloß um den Aals mit einer Krause von Spitzen und blauer Atlas­ schleife ab, sowie eine solche am Gürtel und in der Mitte der Taille an­ gebracht war. In jeder dieser Schleifen steckte eine silberne Nadel mit einem Knopfe in Würfelform, und dieses Letztere hatte Fröbel so be­

sonders gefreut. „Der Würfel", fügte Luise hinzu, „ist ein Teil von Fröbels Sym­ bol für den Grundgedanken seiner Erziehung: Die Vermittelung der Gegensätze." Fröbel stellt diese Idee bildlich dar in der zweiten Spiel­ gabe für das Kind: „Kugel, Walze und Würfel." Luise sagte mir manches in bezug darauf, aber eS erscheint mir vieles so dunkel, so geheimnisvoll; ich habe niemals von solchen Ideen gehört oder gelesen, aber gewiß werde ich alles begreifen, wenn ich des Oheims Schülerin werden darf. Wenn nur der Kursus nächsten Winter hier zustande kommt und ich in Keilhau bleiben kann. Fröbel wohnt in einem Bauernhause der Anstalt gegenüber. In seinem Wohnzimmer ist es recht gemütlich. Luise erzählte mir, daß des Oheims verstorbene Frau eine so fein gebildete Dame war und so sehr das Bedürfnis hatte nach einer geschmackvollen Umgebung. Von ihr stammen so manche schöne Sachen, die der Oheim in hohen Ehren hält. Luise schmückt sein Zimmer stets mit frischen Blumen, die ihm ein wahres Lebensbedürfnis sind; solange es Lilien gibt, dürfen sie in seinem Zimmer nicht fehlen. Die Lilie und Kalla nennt er seine Lebensblumen, letztere Pflegt er immer in Töpfen, sobald er sich irgend­ wo häuslich niederläßt. Er hat Luisen schon viel an.dieser Pflanze erklärt in bezug auf die Gesetze des Lebens. Wenn ich das nur alles be­ greifen könnte I Ich habe ja bisher die Natur über alles geliebt, aber nie studiert, niemand hat mich je darauf hingewiesen. Fröbel meinte auch, ich solle mich viel mit den Pflanzen beschäftigen, und er sagte ein­ mal zu mir: „Die Pflanzen in ihrer Gebundenheit und Stille offen­ baren vielmehr die Gesetze des Lebens als Tiere und Menschen in ihrer freien Bewegung, Leidenschaftlichkeit und freiem Willen. Durch letzte­ ren irren die Menschen so oft und bringen Verwirrung in daS Leben." Auch auS den Steinen, den Kristallen liest der Oheim so viel zum Verständnis der Menschenseele, und nach der Bildung der ersteren stellt er ein Gesetz auf fitr Lebensentwicklung. Luise zeigte mir einen Kasten mit verschiedenen Formen auS Kolz, den „Körperkasten", woran der Oheim daS alles im Kursus erklärt. Ob ich daS je ergründen LVlStn»»«, Henriette Cckraber I

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Kapitel 6:

werde? Jetzt bekomme ich Kopstveh, wenn ich mich mit diesen mir so wunderlich erscheinenden Dingen beschäftige. Früher hatte der Oheim eine Anstalt für Kindergärtnerinnen in dem nahen Städtchen Blankenburg; aber sie ist eingegangen. Ich höre darüber so manches. Er soll für dieselbe so große Geldmittel von Barop und Middendorf verlangt haben und sei dabei so unpraktisch und herrschsüchtig gewesen. Luise ist oft so traurig, daß der Oheim so wenig verstanden wird. Sie hängt an ihm mit töchterlicher Liebe, sie sorgt für ihn so viel wie möglich und glaubt an die Größe seiner Ideen; aber die übrigen Frauen Keilhaus scheinen das nicht zu tun. Ich fühle etwas wie Bitterkeit bei ihnen durch, wenn vom Oheim die Rede ist. Übrigens sehe ich die Frauen bei längerem Liersein sehr wenig. Sie

sind ganz mit ihrer Wirtschaft und ihrer Familie beschäftigt; sie kochen selbst und wechseln darin, wie in andern häuslichen Beschäftigungen, ab. Auch meine herrliche Elise hat so viel zu schaffen in Keller und Küche, in Waschhaus und Garten. Wie schade, daß sie nicht mehr unter den Knaben und Lehrern sein kann 1 Sie hat eine Sicherheit, einen Takt, mit allen in rechter Weise zu verkehren, und jeder freut sich, wenn sie einmal eine Stunde mit ihrer Landarbeit oben ist. Man fühlt in ihrer Nähe so etwas Wohltuendes, einen gewissen schönen Ein­ fluß auf alle In der Lausstube befindet sich ein altes, aber bequemes Sofa, das einzige, welches ich bis jetzt überhaupt in der An» statt gesehen habe. Das ganze Zimmer ist von äußerster Einfachheit, ohne irgend welchen Schmuck, oder nur einen Schimmer von Schön­ heit, aber ich liebe diese Lausstube. Der eine und der andere, welcher ein freies Stündchen hat, ein wenig lesen oder plaudern will, wenn er zufällig Gesellschaft trifft, findet sich dort ein Ich bin den ganzen Tag im Oberhause, im Eßsaale, der Lausstube oder im Garten. Auch mache ich fast jeden Tag einen herrlichen Spaziergang häufig schon nachmittags nach dem Kaffee, sonst nach dem Abendessen zwischen 7—8 Ahr. Ich suche mir immer eine der Frauen zur Begleitung: Elise, Luise, Frau von Born oder Malchen, und wenn sit sagen, daß sie keine Zeit haben, helfe ich ihnen bei der Arbeit, damit sie sich für eine Wanderung in der so herrlichen Natur frei machen. Es schließen sich öfter einige Lerren an, und es gibt häufig eine lebhafte Unterhaltung. Gestern abend führte mich der Oheim auf den Kolm, mehrere andere folgten uns, es war ein echter Sommerabend. Die Bäume rauschten nur leise, und Leuchtkäfer zogen still durch das warme Däm-

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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merlicht. Man hatte mir einen herrlichen Strauß von duftenden Rosen geschenkt und ich setzte einige Leuchtkäfer in ihren Kelch. Wie war das feenhaft I Der Oheim steckte mir eine dunkelrote Rose ins Laar und freute sich des magischen Leuchtens auf meinem Laupte" (Brief) an die Schwester Anna. „Ein interessantes Gespräch mit Marius Bendsen, welcher Elise und mich auf dem Spaziergange begleitete. Dieser junge Däne ist jetzt mein Lehrer, er führt mich auf Löhen und in Tiefen, die ich wohl geahnt, aber nie so klar geschaut habe. Diese Belehrungen durch Lesen und Gespräche werden nur leider oft durch Besuche gestört, es vergeht kaum ein Tag ohne Besuche hier."..

(Tagebuch.) „Sonntag abend lasen wir Don Carlos. Marius Bendsen hat mir die Rolle der „Elisabeth" zugeteilt, Karl Bagge war „Marquis Posa". Wie ist doch so ein gemeinschaftliches Lesen viel erhebender, eindringender, als wenn man allein liest, die Charaktere zeigen sich da weit mehr in ihrer Eigentümlichkeit. Marius Bendsen zeigte mir die Stelle in dem Gespräch mit Philipp und Posa: „Ich kann nicht Fürstendiener sein", und fügte lächelnd hinzu, ob sie mein Lerz nicht verwunde? Ich weiß nicht recht, was ich von diesem Manne eigentlich denken soll. Er behauptet, er habe vollkommene Ruhe im Innern, aber sein ganzes Wesen zeigt nicht einen ruhigen GotteSfrieden; er will bald fortreisen. 28. Juni. Gestern abend bekamen wir Don Carlos aus. wurde viel darüber gesprochen.

Es

Abends. Ich hatte eine interessante Unterhaltung mit Marius Bendsen über die jetzige Seit. .. . Ich hätte es lieber gesehen, wenn Matchen nicht mit dem Suckerschlagen, Luise Lewin nicht mich abzu­ holen gekommen wären; ich spreche gern mit Äerren und lasse mich durch sie belehren Leute morgen hielt Bagge die Andacht und die Religionsstunde. Dieser Mann gefällt mir sehr, er ist klar und fest, bestimmt aber milde und gewiß auch sehr gescheut und fein gebildet.... Ich spreche wenig mit ihm, aber er geht gern auf meine Worte ein, wenn ich mit den Frauen am Kaffeetische mich unterhalte, und ich freue mich, wenn Middendorf und er zusammen sprechen, dann fällt auch für mich ein Körnchen ab, was ich auftese und pflanze. Er ist immer so zart aufmerksam, so ehrerbietig und zurückhaltend Gestern abend kam Ottilie Bäring mit einer nicht sehr erfteulichen Nachricht: Der Oheim wollte nämlich die bildenden Kinderspiele ein» 5*

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Kapitel 6:

führen in die Bewahranstalt in Rudolstadt und Luise Lewin dort be­ schäftigen; alle stimmten ihm bei, doch nun hat es die Fürstin Mutter abgeschlagen. Der Oheim war mit Marius Bendsen in Saalfeld, eben wollten wir in unser „Kloster" (Laus) einziehen, als die Leeren von ihrer Tour zurückkamen, beide so vergnügt und heiter. Der Oheim brachte eine schwarz-rot-goldene Blume mit und für uns herrliche Stiefmütterchen; er war zu fröhlich, als daß man ihm hätte die unangenehmeNachricht mitteilen können Marius schlug vor, auf den Kolm zu gehen, und wir waren gern dabei, Luise, er und ich zuerst, dann gesellten sich Elise und Matchen zu uns. Wir wanderten nach der Familienbuche, kamen von dem Monde auf die Sterne, von diesen auf die Unsterblichkeit zu sprechen; wir stritten über den Aufenthalt nach dem Tode. Was Marius Glaube ist, weiß ich nicht recht, nur ist sein Glaube nicht der meine „Keilhau. Juni. (Tagebuch). Der Oheim ist unermüdlich tätig, er schreibt Tag und Nacht Briefe und ist dazwischen viel unter­ wegs. Er und einige Männer von auswärts, die er gewonnen hat, be­ rufen für den Monat August eine Versammlung von Erziehern und Lehrern nach Rudolstadt, auch Damen werden dazu eingeladen. Des Oheims Ideen über Kinder- und Frauenerziehung sind in vielen 3eitungsblättern besprochen; aber, wie mir Luise sagt, werden sie noch wenig verstanden und häufig angegriffen. Auf der Versammlung soll nun eine offene Aussprache über die Kindergätten stattfinden, und ob­ gleich Luise etwas sorgenvoll diesem Tage entgegensieht, so hat fie doch festen Glauben an den Sieg der guten Sache. Wenn fie irgendwie Zeit findet, so Hilst fie dem Oheim schreiben, aber es wird ihr ost schwer, ein Stündchen zu erobern, es gibt stets etwas für die Wirtschaft zu tun, und Luise ist verpflichtet, in derselben zu helfen. Weshalb richten die Frauen die Wirtschaft nicht etwas anders ein? Warum widmen fie fich nicht mehr dem Erziehlichen bei den Knaben? Auch die jungen Männer, Lehrer und früheren Zög­ linge, deren letztere i m Sommer ost auf Monate zurückkehren, freuen sich immer ß>, wenn wir Frauen unter ihnen sind. Ich unterhalte mich so gern mit dem einen und dem andern, und auch ihnen scheint der Aus­ tausch u nserer Ideen Freude zu machen. Wie schön ist doch ein solcher Verkehr! DeS Oheims verstorbene Frau soll das geistige Leben im

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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Kreise der Männer sehr gepflegt und sich der Knaben so mütterlich angenommen haben.

Middendorf verehrt sie hoch, aber die Frauen

sagen, sie sei zu fein gewesen, sie habe die Laushaltung nicht praktisch

genug geführt.

Ob es denn nicht möglich ist, geistvoll und praktisch

zugleich zu sein?

Sonnabend abend war ich mit Luise beim Oheim und habe auch etwas beim Abschreiben von Briefen geholfen; aber ich muß gestehen,

ich wäre lieber spazieren gegangen Der Oheim gönnt sich keine Ruhe; gegen abend wandert er oft

mit einer Zahl von Kindern von Keilhau nach Eichfeld und Schaale, um Spiele einzuüben, welche der Lehrerversammlung vorgeführt wer­

den sollen.

Es werden einige seiner früheren Schülerinnen erwartet,

um dabei zu helfen. Dies wäre mir unmöglich, ich könnte nicht öffent-

lich spielen; bin ich nun sehr egoistisch? Der Oheim denkt so hoch über das Spiel der Kinder, er sagte zu mir: „Des Kindes Spiele sind seine

ersten Taten. Wir müssen ihm unvermerkt Stoffe in den Weg legen, an denen es sich zum Sinnigen und Nützlichen heranbildet; wir müssen

sein Spiel zum Schönen hinleiten, damit das Spiel seines Lebens edel werde.

Wenn wir mit Kindern spielen, dürfen wir sie nicht zu uns

Heraufziehen, sondern müssen in ihre Seele hinabsteigen und müssen

Kind mit ihnen sein, aber Kind mit Bewußtsein. Wir sollen füll und

sinnig ihren Neigungen und Trieben nachforschen, und indem wir dies tun, wirken wir, dem Kinde unbewußt, auf sein Inneres, daß es sich schön entfalte. Pflegen müssen wir des Kindes Gemüt von seiner

Geburt an, ja pflegen — das ist Eure Sache. Ein Erzieher muß sein wie ein Gärtner, der in die Zukunft schaut.

Er weiß, daß der Samen später ganz anders aussehen wird, als zur Zeit des SäenS, aber er ist nichts Neues, nichts anderes geworden, es

ist nur entwickelt, was in ihm lag — so ist es mit dem Kinde im Ber-

hältnis zu dem Erwachsenen. Das Kind ist der Mensch in seiner Knospe, es muß Euch heilig sein in seiner Lülfsbedürstigkeit; das müßt Ihr verstehen, und wenn

Ihr es versteht, habt Ihr das Knäul der Ariadne in der Land, dessen

Faden durch das Labyrinth des Lebens führt. Ja, Ihr Jungfrauen und Frauen habt ein Großes in Eurer Land. Es regt sich überall Neues und Ihr seid berufen, in der neuen Zeit Neues und Großes zu

leisten."......................... Wie kommt es nur, daß die meisten unserer Lerren über das Spielen

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Kapitel 6:

des Oheims mit den Kindern und über den Kindergarten oft spöttische, abfällige Bemerkungen machen? Ich muß freilich gestehen, daß ich nicht immer ganz böse über ihre Äußerungen werden kann, ja, zuweilen mit ihnen lachen möchte; aber, wenn ich den Oheim dann wieder sprechen höre, schäme ich mich recht von Kerzen dessen, dann sehe ich alles anders an. Der Oheim kann meine ganze Seele ergreifen mit feinen Gedanken; könnte ich sie nur so ganz zusammenbringen mit den Spielen, die mir auch etwas sonderbar vorkommen. Aber es wird mir gewiß noch das rechte Licht über dieselben aufgehen in dem Kursus, der im Oktober beginnen soll, und dann kann ich den Kerren gegenüber „Lerrn Fröbels" Sache anders verteidigen als jetzt. Ich werde sehr fleißig bei dem Oheim arbeiten, aber jetzt will ich noch die himmlische Freiheit genießen, die mir wird. Ich will tief, tief atmen in der Luft, die mich hier umgibt, in welcher Geist und Natur so wunderbar ver­ schmelzen Brief an die Schwester.

Daß Du so lange auf meinen Brief warten mußt, mein guteMädchen, ist nicht Mangel an Deingedenken, aber viel wogt jetzt in meinem Innern, daß ich oft gar nicht zum Schreiben gestimmt war; denn der Geist muß alle die Eindrücke erst ordnen, die Gefühle erst be­ ruhigen, ehe man klar zu andern sprechen, sich ihnen mitteilen kann. And dann lebe ich einmal jetzt ganz mir selbst, ich fühle mich frei, ich schweige mich oft ins Anendliche aus und möchte darin so verschweben. Als ich vor einigen Tagen Middendorf meine Besorgnis äußerte, daß ich niemanden auf Erden mit meinem jetzigen Leben nütze, antwortete er mir: „Können Sie ausatmen, ehe Sie eingeatmet haben?" Diese Worte haben mich wunderbar berührt. Ja, ich atme ein in vollen, vollen Zügen, ich bin jetzt wie ein Feld im Sonnenschein, über das freilich auch dunkle Wolken und Regen hinziehen müssen, wenn es reifen soll. Fragst Du, wer mein Sonnen­ schein und wer meine Wolken sind? Besonders Middendorf und Fröbel. Daß ich Dir ein Wehen ihres Geistes schicken könnte, ist mein Wunsch; erzählen kann ich eigentlich nichts, aber sagen möchte ich Dir viel, doch es ist besser, ich warte noch damit, bis ich selbst in Klarheit bin; o ich habe geahnt, daß ich einmal aus dem Chaos zum Licht treten würde, daß sich Kimmel und Erde voneinander scheiden müssen in mir, und nie bin ich der Wahrheit näher gewesen als jetzt

Der Sommer 1848 bei Fröbel In Keilbau.

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Keilhau i m August. (Brief). „Wärest Du doch bei mir, mein Vater I" Diese Worte hat mein Äerz oft gerufen in den letztvergange­ nen Tagen, „wäre ich jetzt bei Dir, meine teure Mutter, bei Euch allen im Vaterhaus« 1" Es wogt und wallt noch dunkel in mir. Käme doch ein Lichtstrahl, das Chaos meines Innern zu durchbrechen 1 Ich bin wieder um vieles reicher und älter geworden in meiner Seele in den letzten Wochen, ich bin durch manches Dunkel hindurchgedrungen und, wenn ich bedenke, was ich schon alles durchdacht, durchkämpft habe in den kurzen Jahren meines Lebens, dann wird mir bange bei dem Ge­ danken, was ich noch alles zu erfahren habe, bis ich das klare Licht der Wahrheit schauen darf. Ich sehne mich nach Ruhe, ich möchte mein Sein still in das ewige Licht der Wahrheit versenken; aber ich frage mich

dann: wird die Seele jemals ruhen? And die Antwort lautet: „Nein"; denn ich kann mir keinen Geist denken ohne Tätigkeit. Bei diesen Gedanken an ein ewiges Arbeiten und mühevolles Ringen werde ich so müde, sehne ich mich nach einem langen Schlaf des Todes, ohne Träume, ohne Bilder, tief in der kühlen, stillen Erde, das Licht der Sonne, den Duft der Blumen, das Rauschen der Bäume über mir. ES ist mir wieder recht klar geworden, daß ich nicht gemacht bin, im großen Leben zu stehen und zu schaffen, ich kann das Fahrzeug nicht führen auf dem bewegten Meere der Welt. Nur wo ich alles be­ greifen, alles ergründen kann, nur da kann ich glücklich sein und glück­ lich machen. And wenn ich am stillen Bache verweile, fließt er nicht in das große Meer, mischen sich seine Tropfen nicht mit dessen hohen Wellen, die sich im ewigen Wechsel senken und heben? 3. September. Vorstehendes schrieb ich schon vor längerer Zeit, als noch die Eindrücke der Lehrerversammlung in Rudolstadt vom 17., 18. und 19. August in meinem Innern durcheinander wogten. Vierzehn Tage sind seitdem verflossen; ich will heute am stillen Sonntag morgen, wo ich recht heiter und ruhig in mir bin, versuchen, so viel ich es vermag. Euch eine klare Übersicht dessen zu geben, was ich kürzlich erlebt und was jetzt vielseitig besprochen und durchdacht wird; aber habt Nachsicht mit mir, ich bitte Euch, wenn ich manches nicht in gehöriger Reihenfolge mitzuteilen vermag. ES war ja das erstemal in meinem Leben, daß ich so etwas wie eine Lehrerversammlung mittnachte, und da bin ich von allem, was ich sah und hörte, tief bewegt. Wohl mit Recht kann ich sagen, ich bin hier im Kerzen, von dem

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Kapitel 6:

alles Leben ausgeht, das sich auf Erziehung bezieht, und man erkennt hier als dringendes Bedürfnis unserer Zeit, daß sie eine andere, eine neue werden muß. Es ist um mich her ein reges Treiben. Die alten Schulmeister erwachen aus ihrem Schlafe, und man sieht recht wohl «in, daß ein neuer, ein einiger Geist des Volkes nur erzeugt werden kann durch allgemeine Nationalerziehung, und die Fröbelschen Kinder­ gärten sind als Grundlage derselben auf der Lehrerversammlung an­ erkannt. Sie sind das Einigungsmittel zwischen Familienleben und Schule, und durch sie werden die Kinder in lebendigen Zusammenhang mit dem großen Ganzen gebracht, das sich wie ein Baum aus dem Kern eines heiligen Familienlebens entwickelt. Fröbels Erziehungsideen waren wohl hie und da, aber doch nicht allgemein bekannt und verstanden, und deshalb hatte man die drei vorerwähnten Tage festgesetzt zur Besprechung der Kindergärten, zur Beratung über allgemeine Einführung derselben, und wie dies zu geschehen habe. Fröbel hatte gewaltig gearbeitet, die Versammlung zustande zu bringen. Es war ihm kein Weg zu weit, kein Wetter zu schlecht ge­ wesen, um alles zu ordnen und einzurichten.- Zwei- bis dreihundert Menschen hatte er in Rudolstadt Quartier verschafft, und mit Freuden nahm man sie dort auf. Auch wir in Keilhau hatten Besuch von einigen früher bei Fröbel gebildeten Kindergärtnerinnen und alles war in lebhafter Bewegung. Doch auf uns, die wir tteu zu Fröbel stehen, lag es schwül. Wir fürchteten seine Eigentümlichkeit im Reden; denn es quellen ihm immer neue Gedanken, indem er spricht, und seine Rede verwickelt sich da oft in lange Perioden, wird weitschweifig und unklar, und wer würde auftreten, ihn andern verständlich machen? Luise, Amalie Krüger und die andern Kindergärtnerinnen fürchteten sich, öffentlich in Der Versammlung mit den Kindern aus Keilhau und Eichfeld zu spielen, denn in beiden Orten besteht kein eigentlicher Kindergarten. Die Kleinen waren jetzt nur besonders eingeübt, um den Leuten die praktische Ausführung der Fröbelschen Kinderspiele zu zeigen. Der große Tag brach endlich unter Zittern und Zagen für uns alle an, und alles zog gen Rudolstadt. Am Donnerstag waren nur Vorbereitungen. Dr. Sommer aus Salzungen und Dr. Kell aus Leipzig wurden zu Präsidenten und Vizepräsidenten gewählt, sowie acht Protokollführer, unter denen auch

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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Middendorf sich befand. Abends war Musik auf dem Anger (ein Ver­ gnügungsort der Rudolstadter). Am andern Morgen um 7 Ahr war ich schon bei Frau B-, um etwas von Middendorf, welcher auch bei Bambergs wohnte, zu be­ stellen. Bei ersterer hatten sich die Kindergärtnerinnen versammelt, und ich fand sie in größter Aufregung. Ich suchte sie zu trösten und zu beruhigen uiib hatte große Mühe, sie zu rechter Zeit aus dem Lause zu bringen. Am 8 Ahr waren wir im Gasthof „Zum Ritter", wo der Lehrertag stattfinden sollte. Schon hatte sich eine zahlreiche Versammlung eingefunden, und der Kindergarten aus Saalfeld kam mit seinen Spielführerinnen auf einem bekränzten Wagen angefahren. Den unteren Raum des Saales nahmen hauptsächlich Lehrer ein, die Logen und Galerien waren mit andern Wißbegierigen oder Neugierigen gefüllt, und vor den Türen des Laufes hielten Rudolstädter Bürger Ehrenwache. Anter der herrschaftlichen Loge war eine Tribüne errichtet, mit Blumen geschmückt und bekränzt, auf welcher die Präsidenten und Protokollführer ihre Sitze einnahmen. Über dieser Bühne hing das Bild: Christus die Kinder segnend, und zu beiden Seiten desselben in Nahmen gefaßte Sprüche. Leider habe ich nur den einen behalten, er lautete: „Kommt, laßt und unsern Kindern leben 1" Nachdem alles geordnet war, erhob sich die Versammlung, und wir sangen mit bewegtem Lerzen das von Middendorf verfaßte Lied zu der schönen Melodie: „Eine feste Burg ist unser Gott." Ein Rudolstädter Gymnasiallehrer begrüßte nach Beendigung des Liedes die Versammlung, und der Präsident erklärte dieselbe für er­ öffnet. Er sprach dann einige kurze, klare Worte, daS Bedürfnis einer neuen Grundlage für die Erziehung betreffend, und gab dem Wunsche der Anwesenden Ausdruck, den wahren Geist des Kindergartens kennen­ zulernen und zu prüfen, ob derselbe diese neue Grundlage bieten würde. Nun erhob sich Fröbel, doch ehe er zu sprechen begann, legte er den Kopf in beide Lände und zitterte einen Augenblick heftig; dann aber richtete er sein Laupt empor, sein bald siebzigjähriges Auge strahlte im Glanze der Begeisterung, und ruhig und fest stand er da. Er führte ein kleines Mädchen mit seiner Mutter an einen Tisch, auf dem verschiedene seiner Beschäftigungsmittel standen und ließ das Kind bauen. Ganz unbefangen blickte das liebliche Wesen in der Versammhing umher und barg dann sein Köpfchen an der Mutter Brust.

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Fröbel sprach zu dem Kinde, das bald ganz vertraulich mit ihm wurde. Er sprach zu der Versammlung, und sein Thema war: „Ich führe Sie jetzt ein in das Heiligtum der Familie." Nun kann ich Euch im einzelnen seine Worte nicht wiedergeben, ich fühlte mich von seiner Red« ergriffen, ohne jedoch klar dem Gange derselben folgen zu können. Doch erinnere ich mich, daß er unter anderem sagte: Die neue Erziehung müsse auf ein neues Entwicklungsgesetz gegründet werden, es fehle der Kindheit und der Jugend jetzt an Stoffen für die herauswirkende Tätigkeit. Das Kind bildet sich nicht allein durch die Lehre, sondern durch Schaffen, und der Tätigkeitstrieb sei überhaupt der Trieb zu

aller Entwicklung. Nun kamen die größeren Kinder mit Gesang in den Saal, geleitet von den Kindergärtnerinnen: Luise Lewin, Ehristiane Erdmann, Amalie Krüger, Auguste Steiner, Ida Weiler, Auguste Lerold und einigen andern, und Fröbel führte uns aus dem Familienleben in das Gemeindeleben. Zwar dehnte Fröbel die Spiele ein wenig zu weit aus; seine Er­ klärungen und Deutungen derselben schienen mit nicht immer recht klar, doch die Gemüter waren bewegt und erschlossen. Die rührende Unbefangenheit der Kinder, ihre Hellen, zarten Sümmchen hatten alle zur Liebe füt die Kindheit erweckt, und die Liebe glaubt und hofft nicht allein, sie duldet auch. Es schien eine gewisse Befriedigung auf der Versammlung zu ruhen. Einzelne Gedanken über die Spiele schrieb ich im Augenblicke in mein Noüzbuch nieder, als Fröbel sie aussprach, und ich will sie hier folgen lassen. Die Bewegungsspiele sind ihm sehr wichtig als Symbol von Gedanken, welche die Kinder als solche noch nicht fassen können. 3. B. deutet er ein Kreisspiel, bei dem ein Kind in der Mitte steht, dahin, daß di« größte Verschiedenheit sich einen kann, wenn sich alles auf einen Mittelpunkt bezieht. Einmal stellten die Kinder drei ineinander ge­ schlossene Kreise dar. Sie sollten den Baum vorstellen mit Rinde, Kolz und Mark, gleichbedeutend mit Freude, Eintracht und Liebe. Durch sinnige Darstellungen will Fröbel die Larmonie im Menschen vorbereiten. Durch sie werden die Grundtäügkeiten der Seele: Wille, Verstand und Gemüt angeregt und durch die Gliedertäügkeit, durch Wort und Rhythmus in die Tat umgesetzt. Ich habe von jeher bemerkt, daß so selten körperliche und geistige

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Keilhau.

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Tätigkeit im rechten Einklang« stehen; es neigt sich der Mensch entweder ganz zu der einen oder andern Seite. Wie höchst notwendig ist doch für das echte Weib die Vereinigung der häuslichen und geistigen Arbeit und wie selten erscheinen sie in Larmonie I Nur wie einzelne Sterne in trüber Nacht leuchten uns solche Frauen.

Würde ich nur

ein Abglanz der einen, meiner edeln, treuen Mutter! Fröbels Spiele scheinen mir dazu gemacht, diesem großen Mangel

Einhalt zu tun. Das Kind wird nicht in abstrakte Welten geführt, son­ dern es findet in der paffenden Körperbewegung die praktische Aus­

führung einer Idee.

Körper und Geist verschmelzen zur Larmonie.

Fortsetzung des Briefes an die Eltern.

Dr. Kell zog aus

dem Vorgeführten und Fröbels Worten einliegenden Äauptgrundsatz

und die sich daran knüpfenden Einteilungen. jetzt dem Originalbriefe nicht mehr bei.)

So schloß der erste Morgen.

(Leider liegen dieselben

Der Nachmittag war wieder zur

Vorführung von Spielen der größeren Kinder bestimmt. Sie versam­

melten sich im Freien auf dem.früher erwähnten Anger.

Fröbel trat

unter sie und geriet in einen solchen Spieleifer, daß er keine erklärenden

Worte zu den Vorführungen gab. Die Zuschauer fühlten sich etwas gelangweilt und verstimmt.

Es wurde von verschiedenen Seiten der

Wunsch laut, daß Middendorf, dessen sympathisches Wesen alle Äer-

zen gewonnen hatte, in den Kinderkreis treten und sich der Sache annehmen möge. Aber dieser hielt sich liebenswürdigsterweise zurück. Er kannte Fröbels Eifer, der es nie ertragen haben würde, einen andern

an seinem Platz zu sehen.

Ja, hätte Fröbel Middendorfs Wesen!

Letzterer erscheint mir wie ein wahrer Christ, immer voll Liebe und Ver­ ständnis für andere. Fröbel lebt auch für andere; er opfert ja alles für seine Idee, von deren Ausführung er Segen erwartet für die Mensch-

heit. Aber dem einzelnen Menschen, besonders dem lieben edeln Midden­ dorf gegenüber, der doch sein treuester Freund ist, tritt er oft herrisch, ja tyrannisch auf.

So war denn der Nachmittag recht unerquicklich und peinlich. Wir fürchteten, daß Fröbels Sache wieder im Sinken sei, während wir am Morgen das beste hofften. Allerlei spöttische Bemerkungen der

Umstehenden wurden laut.

Fröbel war in schrecklicher Anruhe und

Aufregung und vergaß alles um sich her.

So schön dieses Vergessen

einerseits ist, so wirkte es an diesem Tage sehr störend, und ich muß gestehen, mir wollte es auch nicht in den Sinn, daß dies« endlosen Spiele

Kapitel 6:

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hauptsächlich Fröbels Idee darstellen sollten.

Ja, ich muß sagen,

einiges erschien mir sogar lächerlich. Es kommt mir so eng, so begrenzt, so klein vor, daß so vieles Spielen nach Vorschrift den Menschen veredeln soll.

Endlich, endlich kam das Schlußlied.

Die armen Kindergärt-

nerinnen, besonders meine gute Luise, waren sehr erschöpft, und ein Äerr, der sich unS angeschloffen hatte, schlug vor, in den „Ritter" zu

gehen, um uns etwas zu erquicken. Wir bestellten Tee und freuten uns auf ein Ruhestündchen nach der vielfachen Aufregung. Aber es fanden sich bald mehrere Lerren und auch einige fremde Damen zu uns, und in kurzer Zeit waren wir in ernste Debatten über Fröbel und seine

Sache gezogen. Wir fühlten wohl heraus, daß ernstliche Stimmen gegen ihn auf»

treten würden, und es bangte uns sehr.

Besonders unbehaglich war

mir das Gefühl des Zwiespaltes in bezug auf das, was ich selbst über

die Sache empfand. Während der Spiele am Nachmittage saß ich bei einer Dame, Fräulein Johanne Küster *) aus Dresden, sie ist die dritte Tochter deS Sanitätsrats Küster und Glied einer großen Familie.

Sie war mit

des Oheims Freundin Thekla von Gumpert zur Versammlung gekommen. Schon morgens hatte ich sie, ohne zu wissen, wer sie war, mit Interesse bewachtet. Ihre kleine, zarte Figur, das blaffe, nicht gerade schöne, aber edle Gesicht, aus dem Verstand und Lerz sprachen, zogen mich sehr zu ihr hin, und ich hegte den Wunsch, ihr näher zu

treten.

Der Nachmittag bracht« desselben Erfüllung.

Nur einer

Stunde bedurfte es, um uns zu erkennen und zu lieben. Unsere Seelen

flogen schnell einander zu, und ich zähle sie zu dem Kreise meiner nahen Geistesverwandten.

Wie sich diese kleine innere Welt, in der ich hier lebe, nun erweitert I Johanne hat schon seit ihrem 16. Jahre ihre jüngeren Geschwister unterrichtet; aber stets quälte sie ein Gefühl der Leere in ihrem Lerzen, sie fühlte, daß sie nicht das Rechte ttaf in der Erziehung. Sie nahm zu meiner Freude teil an unserm Tee und an den Debatten, welche nach

und nach einen etwas heiteren Charakter annahmen, da wohl alle des

ernsten Stteites müde wurden. Besonder- zog ein sächsischer Abgeord­

neter, Lerr Zetsche, in witziger Weise gegen die Damen zu Felde, daß *) Später die Frau von Karl Fröbel, Neffen Friedrich FröbelS.

Der Sommer 1848 bei Fröbel in Ketlhau.

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sie eine ganz andere Stellung al- bisher in der menschlichen Gesellschaft einzunehmen hätten. Gegen 8 Ahr versammelten wir uns wiederum im Rittersaale, doch nicht zum Stteite, sondern zu schönster Harmonie. Die Rudolstädter hatten für ihre Gäste ein schönes Konzert arrangiert, aber das Pro­ gramm war für mich gar zu reichhaltig, ich sehnte mich nach allem, was meinen Geist in Anspruch genommen hatte, hinaus in die stille Natur. Ich machte Luisen den Vorschlag, uns leise aus dem Saale und dessen drückender Schwüle zu entfernen, und wie ftoh war ich, einen erquicken­ den Atemzug zu tun. Middendorf und einer seiner jungen Freunde waren uns gefolgt. Aus der Ferne hörten wir noch den Schlußgesang des Konzertes von einem kräftigen Männerchor. Wir sahen dann die Meng« aus dem „Ritter" strömen; ach, ich war so müde von Menschen und wandte mein Auge den füllen, dunkeln Bergen zu. Mond und Sterne schienen zwischen weißen Wölkchen hernieder. Die Musik hatte schon die Stürme meines Innern beruhigt, und die laue Nacht sentte vollends Frieden in mein Herz. Still gingen wir nebeneinander. O, Ihr Teuern, das waren köstliche Minuten I Keilhau im September 1848 (Brief). Der Sonnabend­ morgen verkündete einen heißen Tag. Wir fürchteten Gewitter und Regen, und die Schwüle der Lust lag drückend auf uns. Die Versammlung war noch 'zahlreicher besucht, als am vorhergehenden Tage, und die Verhandlungen sollten schon um 7 Ahr beginnen. Wir waren pünktlich im „Ritter", doch zögerte sich der Anfang der Debatten bis gegen 8 llhr hin. 55te und da standen Gruppen im eifrigen Gespräche für und gegen Fröbel, endlich schienen alle versammelt, und der Prä­ sident eröffnete die Sitzung. Ich versuchte die verschiedenen Reden in meinem Noüzbuche festzuhallen; aber oft war ich von dem Inhalte derselben so innerlich bewegt, daß ich total vergaß, mir Noüzen zu machen, und es tut mir jetzt sehr leid, daß ich Euch, geliebte Eltern, die Verhandlungen nicht ganz vollständig wiedergeben kann, wenn sich auch die wichügsten Punkte derselben fest in meine Seele eingeprägt haben. Dr. K. war der erste, welcher sprach: „Wir sind gewiß alle einverstanden, daß die Gründung von Kindergärten eine Notwendigkeit ist, daß man in ihnen schon bet den Kleinen von 2—6 Jahren einem friedlichen Zusammenleben verschiedener Stände vorarbeiten, daß man die Familienerziehung ergänzen, dem Lause zu Hülfe kommen muß.

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Kapitel 6:

und daß eine möglichst gleichmäßige Vorbereitung auf die Schule atu zubahnen ist. Aber so groß und bedeutend mir diese Ideen erscheinen, so wenig entspricht denselben nach meiner Auffassung die Praxis des Kinder, gartens, in die wir gestern eingeführt wurden. Fröbel ist eine stark subjektive Persönlichkeit, und dementsprechend gestaltete sich auch sein erzieherisches Wirken. Eine ganze Generation wird daran zu tun haben, die Kindergartenpraxis zu vereinfachen, sie von dem Mathematisch. Philosophischen und dem vielfach Symbolisierenden zu erlösen. Ich halte es geradezu für ein Anrecht an der kindlichen Natur, sie so früh zur Reflexion zu führen, wie z. B. zur Betrachtung und Anterscheidung geometrischer Formen am Würfel, am Faltblatt usw. Die Fröbelschen Gaben, wie sie dem Kinde geboten werden sollen, sind zu sehr mit dem Seziermesser philosophischer Ideen zerlegt. Fröbel wird nicht eigensinnig bei seiner Manier beharren, wenn wir ihm eine richtige, natürliche Gestaltung seines Kindergartens zeigen, wenn wir von einer gewissen Künstelei in demselben zurücktteten und ihn mehr auf den Boden einfacher Natürlichkeit stellen." Fröbel antwortete in kurzer Rede, der ich mit größter Spannung folgte. Er bewies, daß seine Erziehung sowohl mit den Naturgesetzen wie mit dem Christentum in Übereinstim­

mung und deshalb einfach sei und den Entwicklungsgesetzen im Kinde entspreche. Seine Wotte waren klar und fanden vielen Beifall. Darauf redete ein junger Lehrer aus Dresden, der von dem dortigen Ministerium geschickt war, die Fröbelsche Sache zu prüfen. Er sprach: „Fröbel steht vor uns als Kind, Mann, Äeld, Steifer, auch als Dulder und Vater, und mit dem letzten Namen wollen wir ihn nennen. Seine Sache ist wie ein reicher Quell, aus dem wir viel schöpfen können, aber was er un- bietet, bedarf der Klärung. Ich schaue in Fröbels schöpferischen Geist wie in ein heiliges ChaoS; ihm quellen

unaufhörlich die Gedanken, und eS bleibt ihm nicht Zeit, jedem einzelnen die einfache, verständliche Form zu geben; er ist der Schöpfer des Kindergartens, aber nicht dessen Bildner. Seine Sache bedarf noch sehr der Modifizierung, und seine Philosophie, wie das, was er sein System nennt, find mir ganz unklar. Wir wollen gar kein System für das Zusammenleben kleiner Kinder, es graut mir vor einem solchen, wie vor Fröbels Kindergatten-Philosophie. Doch möchte ich vorerst die Frage aufiverfen: Wird im Kindergatten gespielt oder gearbeitet?" Fröbel erhebt fich von Zorn gerötet und verbittet sich den Namen

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„Vater" von denen, die ihn nicht verstehen und ihn nicht verstehen wollen. Sein System sei klar, seine Philosophie sei einfach für die, welche den Zusammenhang des Weltalls und seine Gesetze erkennen, auf denen dieser Zusammenhang beruht. Nach diesen Gesetzen muß schon das kleinste Kind geleitet werden, denn es ist ein Teil des großen Ganzen. Diese Gesetze müssen auch sein Spiel durchdringen, denn das Kind trägt sie in sich. Das ganze Tun der Kleinen ist symbolisch, und dem entsprechen die Kindergartenspiele und Beschäftigungen. Die Ge­ setze derselben, denen das Kind durch die richtige Leitung der Erwachsenen unterworfen ist, bereiten dasselbe auf sein Handeln im späteren Leben vor. ES ahnt diese Gesetze schon in unschuldvoller Sin­ nigkeit, es stellt sie symbolisch handelnd dar in Sittigkeit, und so be­ gründet der Kindergarten die Sittlichkeit, welche dem Göttlichen in jedes Menschen Natur entspricht. Es wird im Kindergarten gespielt, aber dem Spielen liegen Weltwahrheiten zugrunde, so wird das Kind spielend auf den rechten Lebensweg geleitet. „Aber woher nehmen wir die Frauen, welche imstande sind, Fröbels Lehren zu verstehen und in seinem Sinne auszuführen, wo und wie werden sie gebildet?" warf einer der Versammelten ein. „Als Napoleon tüchtige Generäle brauchte, fand er sie, so werde ich tüchtige Gärtnerinnen finden, wenn man mir nur Gärten gibt", erwiderte Fröbel. Der Abgeordnete aus Dresden meldete sich wieder zum Worte: „Fröbel erwartet, daß seine Kindergärten, von denen er so große Er­ folge für die Hebung der menschlichen Gesellschaft verspricht, von Frauen geleitet, daß also seine philosophischen Ideen von Frauen ausgeführt werden sollen. Ich muß aber sagen, mir graut vor philosophischen Weibern." Er führte diesen Ausspruch noch weiter aus, und es entspann sich darauf eine längere Diskussion über die Bildung der Frauen. Mein Herz klopfte fast hörbar, ich hätte meine Empörung auSsprechen mögen über die Männer, die, wie ich durchfühlte, uns als untergeordnete Wesen betrachteten. Wir sollen in erster Linie den Männern dienen, sie wollen über uns herrschen, uns unsern Lebensweg vorschreiben, wir sollen ohne sie nichts sein? Wohl gibt eS nichts Höheres und Schöneres in der Welt, wie ich denke, als wie einem Manne zu dienen, den man liebt und verehrt, aber wie könnte es mir einfallen, vor dem Manne Respekt zu haben, mich ihm gegenüber als untergeordnetes Wesen zu fühlen, nur weil er ein Mann ist und ich eine Frau bin, wenn

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ich ihn dumm, albern oder unmoralisch finde, und leider kenne ichnne ganze. Anzahl dummer und alberner Männer. Es hat meinem Kerzen Frieden gegeben, daß Fröbel und Midden­ dorf so ganz anders von uns Frauen denken wie viele, wohl die mesten Männer; daß sie uns würdig erachten, auch außer der Ehe eine ehren­ volle Stellung als Pflegerinnen der Kindheit einzunehmen, daß wir auch als Unverheiratete mit Verständnis und Bewußtsein mit arbeiten dürfen an der Veredlung der menschlichen Gesellschaft, daß wir für uns filbst etwas sind und werden können. Ich wünschte zu den Herren Reinern zu gehen, ihnen zu sagen, was ich Euch hier schreibe, aber ich glaubt, ich brächte es nicht über mich, je öffentlich zu reden. Wer wollte uns crme Wesen nun vertreten? Da erhob sich Johanne Küster. Tiefe Stille herrschte, als sie mit kurzen klaren Worten verlangte, daß auch wir Frauen als ganze Menschen behandelt werden müssen, und daß wir eine ganz andere Biltung wie bisher beanspruchen können, daß wir befähigt seien, wissenschaftliche, philosophische Studien zu treiben. Mit diesen Worten wandte sic sich an den Redner, dem philosophische Weiber ein Gräuel sind. ES tarn aber zu keinem Abschluß, die Bildung und Lebensstellung der Frauen betreffend, man wandte sich wieder den Erörterungen über die Art und Weise der Kindergarten-Beschäftigungen, über die Gefahr von spielerischer Arbeit und Vermengung von Reflexion mit dem Spiel zu. Dann wurde von einem Redner die Notwendigkeit der Gründung voll Kindergärten überhaupt bestritten. Er führte aus, daß die Familie der einzig richtige Boden für die Erziehung des Kindes im vorschul­ pflichtigen Alter sei, und daß bei ihm das zu ftühe Keraustreten der Kleinen aus dem engen Kreise große Bedenken betreffs der natürlichen Entwicklung des Kindes errege. Ein anderer Herr wollte den Kinder­ garten nur da gestatten, wo ungesunde häusliche Verhältnisse sich finden, wozu er auch rechnet, daß die Mutter auch außer dem Lause mitarbeitet für den Lebensunterhalt. So wurde bis um 2 Ahr hin und her geredet. Gegen die Gründung von Kindergärten überhaupt erhoben sich nur ganz vereinzelte Stim­ men, man stritt nur über die Möglichkeit der Ausführung und um daS Wie der Organisation und Leitung und Einverleibung in den Schulorganismus usw. Endlich wurde für die Einrichtung von Kinder­ gärten in Stadt und Land gestimmt. Aber das Wie? die definitive Be­ antwortung dieser Frage wurde bis zurRachmittagssihung verschoben.

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DieMänner, welche so sehr gegen die Art und Weise der Fröbelschen Kindergärten sprachen, was kannten sie von denselben? Einige Stun­ den hatten sie Kinder spielen, bauen, flechten, falten sehen, wie konnten sie schon so aburteilen über eine Sache, die wohl jahrelanges Studium erheischt? Dies sagte ich ganz offen nach Schluß der Sitzung zu dem Lerrn Abgeordneten aus Dresden, mit dem Luise und ich darauf in ein längeres Gespräch gerieten. Wie erschrak ich am Nachmittag, als dieser Herr seine Rede begann: „Sehr geehrte Damen haben gemeint, ich sei gar nicht imstande, ein fertiges Arteil über Fröbels Sache zu fällen, aber ich bin hierher geschickt, um dieselbe kennenzulernen und zu prüfen, und nach dem, was ich gestern und heute gesehen und gehört, kann ich kein Wort von dem, was ich gesagt habe, zurücknehmen. Aber wohl will ich zugestehen, daß mir die Dinge vielleicht nicht vollständig und nicht im rechten Lichte vorgeführt sind" usw. Noch öfters führte er die „sehr geehrten Damen" an und blickte dann lächelnd auf uns. Ich freute mich schließlich, daß unsere Reden doch nicht ganz ohne Wirkung auf ihn geblieben waren. Trotzdem kam es an diesem verhängnisvollen Nachmittage noch zu einem heftigen Streite zwischen Fröbel und seinen Widersachern. Es wurde mir angst und bange. Lättet Ihr gehört, gesehen, wie der Oheim rang und kämpfte, als man ihm seine Ideen entreißen, den Kindergarten zu einer Art Bewahranstalt machen wollte I Ich konnte es kaum aushalten. Ich habe ja selbst oft ein Widerstreben gegen manche Seiten von FröbelS Praxis, aber ist darum die Entwicklung derselben abgeschlossen? And es ist doch ein großer Anterschied, ob man di« Fröbelsche Erziehungsphilosophie etwas anders, als er es tut, auSführt, oder ob man sie überhaupt verdammt, und das tat man. Man wollte wohl Kindergärten, aber nur ganz äußerlich. Fröbel selbst sollte womöglich gar nichts damit zu tun haben. Aber seine Weltanschauung ist so eng mit seinem Kindergarten verbunden wie Körper und Geist, sie sind nicht zu trennen, und täte man es, man würde ihn töten. Bisher hatte Middendorf gar nicht gesprochen; aber in dem Augenblicke, als Fröbel anfing, zu wanken, wollte er sich erheben. Er wollte, wie er mir später sagte, die Schülerinnen Fröbels auftufen zur Be­ stätigung, daß dessen Lehren ihre Lerzen erleuchtet und ihnen ein größeres Verständnis für die Kinderseelen aufgeschlossen, daß sie selbst Friede und Freude in ihrer Arbeit gefunden und das wahr« Glück der Kinder erhöht haben. L.hschintka, Henriette Schrader I.

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Kapitel 6:

In diesem, ich kann sagen, für mich schrecklichen Augenblicke be­ kam die Debatte eine ganz neue Wendung. Die Aufregung und Er­ regung Fröbels schien zu weichen, sein eben noch so blitzendes Auge strahlte in ruhiger Klarheit und er bot die Land zum Frieden. Die Art und Weise, wie er es tat, fand Widerhall in vielen Lerzen, man kam einander mehr und mehr entgegen und der Schlußantrag, welcher mit großer Mehrheit angenommen wurde, lautete folgendermaßen: „Die deutschen Regierungen, svwie die Reichsregierung sollen ersucht werden, die Idee der Kindergärten in ernste Erwägung zu ziehen und mit Benutzung des reichen Fröbelschen BeschästigungSstoffs die Gründung von Kindergärten, sowie die Bildung von Kindergärt­ nerinnen, wo nötig auch durch Geldmittel zu fördern." Nachdem der Anttag formuliert und verlesen war, brachte man dem Vater Fröbel ein donnerndes Loch, welches gleichsam das Siegel unter die Erlebnisse der verhängnisvollen Tage in Rudolstadt drückte. Die Türen wurden geöffnet, die Mitglieder der Versammlung strömten hinaus in duftende Kühle. Später am Abend wurde der Anger herrlich illuminiert, wir saßen draußen unter Linden und Kastanien in bunter Reihe. Das Volk drängte sich um uns, der Bierkrug kreiste, ohne den man in Rudolstadt nicht ftoh sein kann. Es wurde gesungen und es tat mir so wohl, meine Gefühle in Tönen auszuströmen. Wäret Ihr da gewesen, geliebte Eltern, dieser jubelvolle, harmonifche Abend nach den heißen Kämpfen des Tages war einzig schön, ich fühlte mich so von Glück und Liebe gettagen, und meiner Seele wurde in einem Momente die Offenbarung von der Liebe und Versöhnung aller Menschen. Aber dieser Moment war so heilig, erfüllte mich mit solcher Seligkeit, daß ich ihm keine Worte, überhaupt keinen äußer­

lichen Ausdruck geben kann. Anter dem Mantel des Scherzes flogen noch hin und wiederReden zwischen dem Oheim und seinen Gegnern und das Schlußwort lautete: „ES lebe Fröbel, die Frauen und die Zwiettacht." Von der schönen Partie, die wir andern Tags machten, nach Schwarzburg und Paulinzelle über Blankenburg und Keilhau zurück, kann ich Euch heute nicht mehr schreiben, aber alle- wird in mein Tagebuch eingetragen, und wenn ich wieder in Eurer Mitte bin, erlebe ich diesen reichen Sommer mit Euch noch einmal Tag für Tag und freue mich noch einmal mit Euch, glücklich in der Erinnerung

schöner Stunden."

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„Das wichtigste Resultat der Lehrerversammlung im August 1848 in Rudolstadt war, daß eine größere Anzahl von Persönlichkeiten auS Dresden Fröbel den Antrag machten, für den Winter dorthin zu kom­ men, um Vorträge über seine Erziehungsideen zu halten. Es wurde eine gewisse Summe für seinen Lebensunterhalt dort garantiert, und Adolf Frankenberg, ein früherer Schüler und Mitarbeiter FröbelS, stellte feinen in Dresden gegründeten, von ihm und feiner Gattin ge­ leiteten Kindergarten zur Einführung in die Praxis zur Verfügung. Daß Fröbel diesen Vorschlägen mit Freude, ja, mit Begeisterung zu­ stimmte, war natürlich; eröffnete sich doch für ihn ein weites Feld der Tätigkeit; wurde er doch erlöst aus den engen Banden, die ihn jährelang gefesselt hatten. Für mich persönlich lag die Sache anders. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, in der mir so lieben und vertrauten Umgebung KeilHaus Fröbels Schülerin zu werden, gemeinsam mit dort gewonnenen Freunden, von denen sich ein schöner Kreis zusammengefunden hatte, unter dem Oheim zu arbeiten. Nun versanken diese reizenden Zukunfts­ bilder ins Dunkel und es blieb für mich der Ernst der Sache und keine Aussicht auf persönliches Glück und Freude. And doch entschloß ich mich, mit Fröbel zu geben. So schied ich mit schwerem Äerzen von Keilhau, wo mir ein GeistesftÜhling aufgegangen war, begleitet von vielen Segenswünschen und besonder- ermutigt durch meinen innig verehrten, väterlichen Freund, Wilhelm Middendorf."

Kapitel 7.

Der Aufenthalt bei Fröbel in Dresden im Winter 1848/49. /Ziegen Ende Oktober 1848 reiste Lenriette in Fröbels Begleitung v/ nach Dresden, um seine Kursusschülerin zu werden. Rastlos tätig arbeitete dort der achtundsechzigjährige, rüstige Greis. Morgens von 9—12 Ahr versammelte er eine Anzahl junger Mäd­ chen bei sich, die teils aus Dresden selbst, teils aus verschiedenen andern Orten gekommen waren, um sich bei Fröbel zu Erzieherinnen zu bilden, oder um überhaupt den der Frau so nahliegenden Beruf der Erziehung näher und bestimmter ins Auge zu fassen. Abends von 5—7 Ahr kam ein zweiter Kursus zusammen, bestehend auS Lehrern und älteren Damen. Selbst noch von 8—10 Ahr abends suchten einige Personen, welchen nicht eher eine Stunde zu freier Benutzung schlug, bei Fröbel Belehrung. Für jeden ersten Sonntag im Monat hatte Fröbel eine gesellschaftliche Zusammenkunft seiner Schüler und Schülerinnen, sowie aller dortigen Kindergartenfteunde angeseht. Sie wurde immer zahlreich besucht. Die erste Lälste des Abend- war ernsten Anterhaltungen sowie der Vorführung verschiedener gymnastischer und Ballspiele gewidmet; die zweite verfloß unter Spiel und Tanz. Es herrschte in diesen Gesellschaften ein heiterer, ungezwungener Ton, aber auch eine würdige Laltung, wie sie sich nur da findet, wo eine große Idee die verschiedensten Geister und Individualitäten ver­ bindet. In diesem Winter beschloß Fröbel, sich ganz von Keilhau zu trennen, seiner zuerst gegründeten Anstalt, die er von seinen Verwandten wohl geleitet wußte, um sich ausschließlich der Ausbildung von Erzieherinnen hinzugeben. ES folgte dem Rufe Fröbels keiner der Keilhauer Freunde oder Freundinnen, und so mußte Lenriette ohne Familie, ohne fteundschastliche Beziehungen, ohne die Natur, in der sie ihr lebelang geschwelgt, allein dem Ernste ihres erwählten Berufes leben. And dennoch zögerte sie keinen Augenblick in ihrer Wahl.

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Das Bewußtsein, ein klares Ziel im Leben zu haben, hatte ihre Willens­ kraft außerordentlich gestählt. Sie stellt die größten Forderungen auch an ihren Körper mit dem festen Entschluß, die immer sehr schwankende Gesundheit durch Arbeit entweder zu befestigen oder zugrunde zu richten und zu sterben. 3n der Dresdener Zeit tritt sie ganz in den Bann des Fröbelschen Geistes; sie sieht in ihm den -weiten Leiland der Menschheit, und sie wird erfaßt von dem glühenden Eifer des Apostels und will Freundes- und Verwandtenkreis bekehren; ja, Eltern, Geschwister, alle, alle sollen ihren LebenSplan unter dem Gesichtswinkel

des Fröbelschen Evangeliums betrachten und ändern I Sehen wir die Att und Weise des Fröbelschen Unterrichts näher an, insoweit sie uns überliefert ist, so muß man sich wundern, daß die Schüler und Schülerinnen etwas gelernt haben; es muß ihnen oft recht schwer geworden sein, zu folgen. Der Kursus zur Ausbildung bauerte sechs Monate. Unterricht im gewöhnlichen Sinne des Wortes waren Fröbels theoretische Darlegungen nicht. Wohl hatte er innere An­ schauungen über das Wesen deS Kindes und der Frauennatur und ihre Entwicklung, welche von großer Tragweite für die Erziehung in der Zukunft werden würden, aber er hatte keinen methodischen Gang, um die höchst genialen Einblicke dem Durchschnittsmenschen zu über­ mitteln. Unbekümmert um den Standpunkt des einzelnen Schülers streute er seine Goldkörner zwischen viel Lypothetischem und wissen­ schaftlich Unbewiesenem aus; er sprach ost überzeugend, begeisternd, zuweilen auch nicht. Jedenfalls wurde den Lernenden eine ungeheuere Arbeit zugemutet, und nur solche, die eine gewisse Vorübung im Denken hatten, die eines erweiterten Überblicks Über das Leben fähig waren, konnten mit FröbelS theoretischen Erklärungen etwas anfangen. Für die größte Mehrzahl mußten die praktischen Übungen im Kindergarten und die Erlernung der Beschäftigungen und Spiele als die Lauptsache erscheinen. Aus allem, was Lenriette später Über Fröbels Unterricht erzählte, geht hervor, daß er nach dem Ausdruck für seine Gedanken ost rang. 2hm stand auch die Rede nicht zu Gebote, oder, wie Lenriette später erklärte: „Fröbel dachte weiter, während er sprach." Den Verständnisvollsten Freunden seiner Sache erschien es damals, als ob noch ungehobene Schätze in seinem Innern tief verborgen lägen, welche ihrer

Besteiung harrten. „Fröbel liebte die Kunst in jeder Form mit der warmen Glut

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Kapitel 7:

seines Lerzens," sagte Sentierte später, „ich erinnere mich so mancher Momente in Dresden, wo mir dies entgegentrat. Ich sehe ihn noch mit vorgebeugtem Saupte und verklärtem Auge einer ganz besonder­ großartigen Aufführung der 9. Symphonie von Beethoven lauschen. Sicher ist eS ihm schwer geworden, fein Inneres zu verbergen und nicht jubelnd mit einzustimmen in die rauschenden Klänge der Symne: „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Weltl" Ich sehe ihn noch fast betend vor der sixtinischen Madonna stehen, und ich höre ihn sagen: „Ja, das ist es", ein Wort, welches mir damals noch dunkel war. Ich entsinne mich noch ganz genau, daß Fröbel in seiner ersten Vorlesung, die ich in Dresden hörte, auf die Mutter Gottes hinwies als schönstes Symbol dessen, was er für uns erstrebte. „Ihr Jung­ frauen", sprach er, „die ihr um mich versammelt seid, ihr seid berufen, das Göttliche in dem Kinde zu schauen und zu pflegen. Ihr seid berufen als Mütter der Kindheit zu wirken." Es fiel ein wunderbarer Lichtstrahl in meine Seele, und der erste Schimmer von der Bedeutung der geistigen Mütterlichkeit in der Frau und ihrer tätigen Wirkung in der Kinder­ welt, die nicht im engsten Sinne ihre eigene ist, ging in mir auf. Ich ahnte, was Fröbels Ruf „Kommt, laßt uns unsern Kindern leben" bedeutete. Ich ahnte die ganze neue Zeit, die für die Frau herauf­ dämmerte, wie sie einen neuen und schöneren Mittelpunkt des Sauses bilden müsse als bisher, und wie sie anderseits die zu engen Schranken eines subjektiven Lebens überwinden und das weitere Leben zu durchdringen habe, mit dem, was ihm so gänzlich mangelt: Dem Geiste der Mütterlichkeit in seiner tiefsten Bedeutung und in den verschiedensten Formen. Ich ahnte das in Dresden bei Fröbel, aber ich lernte erst viel später im einzelnen verstehen, was dies heißt und welche Mittel wir bedürfen, zu diesem Ziel zu gelangen." So begeistert Sentierte als junges Mädchen von dem geistigen Sintergrunde der Sache war, so wenig behagte ihr die Einführung in die Praxis, wie sie in Dresden geübt wurde. Mit ihrer üblichen Offen­ heit sagte sie einmal zu Fröbel, Ye fände zwischen seinem Unterrichte und der Praxis im Kindergarten oft große Widersprüche. Er umarmte sie zärtlich und erwiderte: „Du hast ganz recht. Sentierte, und du bist berufen, einst diese Widersprüche aufzuheben." Durch die Äußerungen der Zuschauer der Kinderspiele: „Wie nett spielt diese mit den Kindern l Wie fesselnd weiß jene zu erzählen I Wie versteht sie die Kinder an sich zu ziehen l" wurde eine gewisse Keuschheit des Gemüts in ihr verletzt.

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Nie in ihrem Leben waren Kinder ihr Puppe und Spielzeug gewesen; der Verkehr mit ihnen berührte stets das Beste, das Innerste in ihr, und sie bedurfte einer gewissen Frist, um mit Kindern bekannt zu werden. So wurde das Beste, was sie den Kindern hätte geben können, wäre sie allein mit ihnen gewesen, zurückgedrängt durch eine Art Schau­ stellung, welche einer seminaristischen Bildung leider sehr nahe liegt. Fröbels Lehre über die Kindesseele, über die Geistesnahrung, deren sie bedarf, waren ihr hoch und heilig. Wenn er die Symbolik seiner Spiele und Beschästigungsmittel erklärte, so fühlte sich Henriette in innerster Seele erfaßt, und sie malte sich gewissermaßen einen neuen religiösen

Kultus aus als Symbol der Heiligkeit der Erziehung. Aber die Praxis entsprach ihrem Phantasiegebilde wenig, und das gesunde, freie Familienleben im Elternhause mit den Geschwistern machte es ihr noch schwerer, das Gekünstelte in dem Verkehr mit den Kindern in jenem Kindergarten zu erlernen. Die Einübung der Bewegungsspiele von erwachsenen Schülerinnen erschien zuerst geradezu lächerlich und erweckte in ihr eine gewisse Spottlust und Frivolität, so daß Fröbel öfter ernstlich zürnte, denn sie störte vielfach den Kreis. Ermahnungen und Standreden von feiten der ehrbaren älteren Schülerinnen brachten das „enfant terrible" der Gesellschaft zur Besinnung, so daß die. Episode in Heiterkeit und Zärtlichkeit von Henriettens Seite auslief. Nicht allein unter dem Banne des Fröbelschen Einflusses, sondern durch ihre erweiterte Kenntnis des Lebens reiste Henriette Breywann zum Weibe heran. Anter dem väterlichen Schutze Fröbels kam sie mit künstlerischen, literarischen und politischen Kreisen des damals in geistiger Gährung begriffenen Dresden in Berührung. Die erweiterten Ein­ blicke in das menschliche Leben eröffneten ihr Abgründe, vor denen sie oft schaudernd stille stand, und in dieser Periode ihres sich auflösenden kindlichen religiösen Glaubens, bei der näheren Berührung mit dem Laster und der Tragik des menschlichen Schicksals vertieft sich daS be­ glückende Bewußtsein, daß der Beruf, vor allem der erziehliche Beruf auch für die Frau ein Anker im Sturme werden kann. Siet folgt LenriettenS eigene Erzählung ihrer Dresdener Er­ lebnisse, wie sie sie zu jener Zeit niederschrieb. Henriette an die Eltern. (Brief.) Dresden (Liliengasse 1), Anfang November 1848. .... Gott sei Dank, daß die ersten acht Tage dahin sind, sie waren für mich schrecklich, es war kein Heimweh, es war Erbitterung zwischen

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mir und der Welt. Wenn man von Keilhau nach Dresden geht, da wird es einem klar, wie Adam und Eva einst getrauert haben, als man daS Paradies hinter ihnen schloß. Ich stand vor der Madonna und war einen Augenblick glücklich, denn mir war es klar, wie ein Weib in seiner Vollendung sein müsse. Da gedachte ich des Schöpfers dieses Bildes, wie er selbst die Frauen so erniedrigte, und ein schmerzlicher Mißton störte die Äarmonie meiner Seele; ich hatte mich selbst »er* loten, ich ging umher unter den Menschen, ohne ein anderes Gefühl zu haben als das eines bitteren Schmerzes. Da sprach der Oheim von der hohen Bedeutung, von der Würde, von der Göttlichkeit des Menschen, und was für Menschen begegneten mir l Da sprach er von dem heiligen Augenblick, wo ein Kind- ins Dasein tritt, und ich hörte, daß es ost mit Flüchen von der Mutter begrüßt wird. Dies alles wühlte in mir, und keine Vermittlung war zu finden; ich hatte ja niemand, niemand, dem ich mich aussprechen konnte. Ich konnte mich nicht einmal an der Erinnerung erfreuen, ich hatte ganz das geistige Band verloren. Kein Buch, kein steundschastliches Wort, das man mir zum Andenken ge­ geben, vermochte ich zu lesen, noch zu sehen. Dazu kam die drückende Sorge, daß ich doch nicht den Nutzen, welcher die großen Opfer von Euch, Ihr Teuern, aufwiegt, von Fröbel haben würde. Seit gestern ist mir wohler. Ich drang plötzlich ein in des Oheims Motte, und seitdem sind unsere Kinder, besonders das liebe gute Kedchen, mein einziger Gedanke gewesen. Lenriette sendet allen guten Kindern, besonders dem lieben Adolf einen herzlichen Gruß und Kuß. Lehret doch Ledchen meinen Namen sprechen. Ich muß austichtig ge­ stehen, ich habe in Keilhau der Kinder nicht viel gedacht, doch jetzt möchte ich zu Euch, zu ihnen eilen, sie mit meinen tteuen Schwester­ armen umfassen und Euch des Oheims Denkspruch zurufen: „Laßt uns unsern Kindern leben 1" Nein, es rührte mich zu Tränen, wie er über Mutter und Kind sprach, ich begreife nicht, wie er, ein Mann, der nie Kinder gehabt hat,, so in das innerste Wesen derselben hat eindringen können. Wenn er von der Mutterliebe spricht, gedenke ich Deiner, teure Mutter, und als er sagte: „Reichet mit jedem Stück Brot dem Kinde eure Liebe. Denn wie der Magnet das Eisen anzieht, so zieht eure Liebe, die aus dem Auge strahlt, das Kindesherz zu euch, und habt ihr das und seid euch klar in eurer Seele, einig mit euch und eurem Gott, dann habt ihr einen fruchtbaren Boden, in dem ihr nur zu säen braucht", dann dachte ich meiner stüheren Lieblosigkeit, und ich

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errötete vor Scham.

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Was bin ich den Kindern gewesen, und waS

hätte ich ihnen sein können! .... Später. Mit den Schlußworten unserer heutigen Stunde be­ ginne ich wieder: „Sehet die Blumen des Lerbstes, die Aster, die Georgine, die Strohblume, sie trotzen den Stürmen. Warum? Weil mehreres zu einem Ganzen verbunden ist in ihnen. Menschen, werdet auch ein Ganzes, verbindet euch zur Allgemeinheit und strahlet so alwärmende Sonne, dann folget ihr Christum nach, denn das ist das­ selbe, was er uns sagt« in den Worten: „Liebet euch untereinander." Könnte ich Euch sagen, mit welcher Freude ich ost denke: O, welch' ein Glück, ein Mensch zu sein, aber ein Mensch in seiner ganzen Be­ deutung I Was mir nun bis jetzt als drei Lauptsachen des wesentlichen Nutzens der Kindergärten hervortritt, ist: Die Vermittlung zwischen Schule und Laus wird dadurch hergestellt; das Kind wird früh in das bürgerliche Leben «ingeführt, und durch die Spiele wird das Gleich­ gewicht zwischen Körper und Geist erhalten; es wird nichts in die Kinder hineingelegt, sondern die Seele wird ruhig aus sich heraus ent­ faltet, wie eine Blume aus der Knospe, der Baum aus dem Kern sich entwickelt. Ich habe eine Loffnung für die Zukunst, die aber zu schön in ihrer Wirklichkeit wäre, als daß ich ihr viel Raum gäbe: Mahlum, mein geliebtes Mahlum zum Orte meiner Wirksamkeit zu machen, wenn mir nur ein mäßiges Gehalt ausgesetzt würde, daß ich meine Bedürf­ nisse an Kleidung bestreiten könnte, denn Ihr sollt mir nichts schenken. Ich richt« dann einen Kindergarten dort ein in Verbindung mit einer Industrieschule, wo ich auch zugleich konfirmierte Mädchen zu Kinder­ mädchen bilden wollte, die nur ein geringes oder gar nichts zahlen sollten, aber mir dafür in der Beschäftigung der Kleinen Hülsteich zur Land gingen. Ich will nun ftanzösische und englische Konversations­ stunden weiter nehmen, damit ich meine Heranwachsenden Geschwister darin unterrichten kann. Ich lese Geschichte und Naturgeschichte und bin wirklich recht fleißig, ja, abends ost totmüde; meinem Körper aber bekommt das recht gut. Mein lieber Vater, sollte es ein leiser Wunsch Deines Letzens sein, daß ich zu stemden Leuten gehe, nun, da will ich auch nicht murren. Ich will mich hier schon um eine Stelle bemühen, und Du wirst mir die Träne der Wehmut verzeihen, die ich Mahlum nachweine. Aber ich

so

Kapitel 7:

will stark sein, ich will Euch Freude machen. Es ist ganz anders in mir, wie sonst, dieser Sommer in Keilhau, die Menschen dort haben mein Innerstes ergriffen, o, daß ich allen, allen meinen Dank darlegen

könnte I Am noch einmal auf meine ausgesprochene Idee zu kommen; gib doch dem Kantor das Buch von M., aber ich muß sagen, es ist nur ein Schatten von Fröbels eigener Lehre, erforsche seine Meinung darüber. Auch v. Bernstorfs und F. v. Cramm wird es gewiß interessieren. Vielleicht kann ich Euch Weihnachten eine Ausarbeitung der Vorttäge schicken/ die, so mangelhaft sie auch sein mag. Euch doch vielleicht einen Schein des Lichtes gibt. Auch werde ich Euch diesmal mit ganz neuen Geschenken erfreuen. Doch habe ich Euch noch gar nicht gesagt, wo ich eigentlich logiere Nun wohne ich Fröbel gegenüber und bin ganz wohnlich eingerichtet, habe drei Treppen hoch ein Vorzimmer für meine Sachen, ein Stübchen und eine Kammer, einfach aber ganz nett. Man hatte mir Blumen auf meinen Tisch gesetzt, und eben bringt Frau K. drei blühende Röschen .... Ks. sind eine wohlhabende Kauf, mannsfamilie, vier artige niedliche Kinder machen mir oft Freude. Morgens um 6 Ahr weckt mich das Mädchen, s/«8 bringt sie mein Frühstück und macht mir das Kleid zu. Am 8 Ahr beginnt der Anterricht bei Fröbel, um 10 Ahr komme ich nach Laus, schreibe, oder mache Be­ suche; um lx/2 Ahr wird gegessen und nachmittags gehen wir ein Stündchen spazieren. Später werden wir fast den ganzen Tag mit Zeichnen, Ausschneiden, Falten usw. beschäftigt sein. Von 5—7 Ahr gehe ich wieder zum Oheim, um 8 Ahr essen wir, und weil ich oft recht matt bin, bleibe ich unten, später werde ich keine Zeit dazu haben. Nun bekomme ich recht, recht bald Briefe von Euch, nicht wahr? Laßt uns das Band der Liebe recht, recht innig und fest ziehen, denn die Liebe gibt zu allem Kraft und Mut. Wenn Ihr Anna und Karl meine Briefe mitteilen könntet, wäre es mir lieb, denn ich möchte die Guten auch wissen lassen, wie es ihrer Schwester geht Was habe ich Euch alles mitzuteilen, wenn wir uns Wiedersehen, worüber müssen wir uns aussprechen, verständigen! O, meine Mutter, des abends im Bette, mein Vater, mittags und abends bei Tisch, oder Sonntags, wenn Du von Bodenstein kommst, auf dem Sofa bei uns sitzt, dann wird geplaudert, gestritten, vermittelt. Eine Stelle aus den Monologen von Schleiermacher richtete mich letztens recht auf: „Beginne schon jetzt dein ewiges Leben ... Sorge

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nicht um das, was kommen wird, nicht um daS, waS vergeht; aber sorge, dich selbst nicht zu verlieren, wenn du dahintreibst im Strome der Zeit, ohne den Simmel in dir zu tragen". ..... Du hast oft gesagt, Vater, ich sei ein sonderbares Mädchen, und darin stimmen viele mit Dir überein; aber sie finden sich doch zu mir, und aus den verschiedensten Tönen wird doch eine schöne Sarmonie. Ich habe doch ein recht reiches Leben! Nun muß ich von Euch scheiden, Ihr guten teuern Eltern! Eure Senriette. November 1848 (Tagebuch). Unsere Stunden sind nun voll­ kommen eingeteilt: 8—9 Uhr morgens Vortrag; 9—10 Ball-, Kugel­ oder Bewegungsspiel; 10^/,—11 für uns Keilhauer oder in Keilhau angemeldet (Stieler, Sabicht, Krell, Johann« Küster, Dahlenkamp und ich) Wiederholung; 11—12 Singstunde. Dann habe ich Dienstags, Mittwochs und Freitags 12—1 französische oder englische Stunde, erstere bei Mlle. George. Nachmittags wieder von 2—3 Zeichnen, 3—4 Singen, von 5—7 können wir die Stunden nach Belieben be­ suchen. Bei Serrn Lehmann 7—8 Turnstunde .... Ich habe noch Montags von 3 bis 6 englische Stunde; dann noch so viel zu schreiben, Ausarbeitungen für die Stunden, Briefe, Tagebuch usw., aber eS macht mich glücklich." November. Bußtag. (Tagebuch.) Es ist heute Bußtag auch für mich. Ich bin gar nicht, mit mir zufrieden, ich bin manchmal so leichtsinnig, so gefallsüchtig und nicht streng wahr. So, als ich letztens inS Theater ging, wollte ich die 8 Groschen sparen dadurch, daß ich die englische Stunde versäumte. ... Ich glaubte, es sei nicht nötig, sie absagen zu lassen, weil ich mich für die letzte wegen Unwohlseins hatte entschuldigen lassen. Ich ging also ohne Bedenken, nachdem ich alle Überredungskunst angewandt hatte, daß E. S. und Frl. M. mich be­

gleiten sollten. Es gelang mir und beide wußten es mir Dank, sowie auch ich entzückt war von dem Spiel, von der ganzen Darstellung. Als ich nun Mittwochs zu Miß G. kam, schien sie sehr empfindlich über mein Ausbleiben zu sein. Ich fragte, ob das Mädchen mich nicht ent­ schuldigt habe; sie sagte, es sei niemand bei ihr gewesen, und sie habe sich so beeilt, zu rechter Zeit zu Sause zu sein. Ich merkte wohl, daß sie vom letzten Male sprach, ich bezog mich aber immer auf meine Entschuldigung für die vorletzte Stunde; das war wirklich recht schlecht. Miß G. ist immer so freundlich, so herzlich zu mir, und sie so zu betrügen l Ich

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Hütte ihr wenigstens eine Marke für die versäumte Stunde geben sollen und tat auch dies nicht, weil ich nun einmal die Idee hatte, mir dadurch daS Theatergeld zu ersparen, aber ich will jedenfalls das noch tun, denn schwer drückt mich diese Schuld. So erscheine ich ihr noch in einem edeln, schönen Lichte, denn sie sprach zu einer Dame also: „Miß Brey' mann ist bloß 18 Jahre alt und ist so gut; sie ist hier diesen Winter, um sich vorzubereiten und will später für ihre Geschwister arbeiten." O, Gott! sie weiß nicht, wie viel ich gutzumachen habe; wie es keine Güte von mir, sondern von meinen Eltern ist, daß ich diesen Winter hier sein darf. Noch etwas muß ich beichten. Wenn die Menschen fragen, wie alt ich sei, suche ich sie glauben zu machen, ich sei 19 Jahre, und weil ich es nicht geradezu sage, so denke ich, es sei keine Lüge I And in der AnterHaltung erzähle ich manchmal Geschichten, die ich gar nicht erlebt habe... Das fähtt mir so im Augenblicke heraus. Es sind Kleinigkeiten, aber es ist doch nicht die reine, schöne klare, Wahrheit, die so den kleinsten Blutsttopfen durchdringen sollte, die ich so hoch schätze. Ich suche mir einen recht vornehmen Anstrich zu geben, ich „lüge" nichts, aber stelle manches in einem solchen Lichte dar, obgleich es mir auf der andern Seit« nicht schwer wird, den Leuten geradezu zu sagen, daß wenn mein Vater stürbe, ich ganz auf mich angewiesen wäre. Ach, alle, die ihr dies vielleicht leset, glaubet mir, ich muß dafür büßen mit bitterer Reue! Ach, Briefe 1 mein Atemzug .... Ich habe die Tante B. gebeten, mir ein Darlehn zu schicken. Ich komme in die größte Verlegenheit, wenn sie es nicht tut. Der Monat ist um, und ich muß Kostgeld bezahlen; ich hab« so manche andere Aus­ gabe. Sötte ich mit nur einen einfachen S5ut nehmen sollen und mir von dem Louisdor, den ich freilich zu diesem Zweck bekam, mehr als20 Gr. sparen können. Der reizende, einfache blaue Samthut gefiel mir so sehr, ich mußte ihn haben und dachte in dem Augenblicke: vorn 20 Groschen hängt auch noch keines Menschen Glück ab, aber das meint an dem Lute? O, ich bin so traurig über mich und so verstimmt. Senriette an ihre Eltern.

Dresden, Ende November? 1848. Meine Eltern! Wohl noch nie habe ich Euch mit dem Gestthl an­ geredet, welches heute mein ganzes Wesen bei dem schönen Namen

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durchdringt; denn noch nie war es mir so klar, daß Ihr auch Eltern meines Geistes seid, als wie seit einigen Stunden, wo ich vom Oheim kam und er lange allein mit mir redete. Es sind solche Stunden die Weihen meines Lebens. So stehe ich nun am Wendepunkt meines Lebens, und ich habe keinen sehnlicheren Wunsch, als daß Ihr mir Eure Land reicht zu einem Bunde, welcher Seit und Tod überdauert. .... Fröbel hat mit mir nie oder selten über das Christentum gesprochen und erklärt mir ohne Worte die heilige Schrift. Ich habe mich lange mit der Idee herum­ getragen, einmal Kinder zu erziehen, die nie etwas von Gott und Jesu hören sollten, die selbst dahin kommen müßten; denn es war mir immer entgegen, wie die Menschen die Religion als Sache, auffäßten, be­ trachteten, oder höchstens im Gefühl ergriffen; doch zu der Erkenntnis sind wenige oder keine gekommen. Vor dem Oheim liegt dies alles klar. Es war beim Unterrichte von keinem Gott, von keinem Jesu die Rede; er ging in seinen Vorträgen von dem nackten, hülflosen Kinde aus, wie es nach seiner Geburt vor uns liegt; das Kind in seiner Anberührtheit ist aus der Liebe hervorgegangen, muß also Gott in sich tragen. Ihr versteht mich gewiß, wenn ich sage, das Leben in seiner Mitte erfaßt ist die Liebe, ist Gott. Er ist das Arleben, das Arw^sen, dasWissen und das Sein... IesuS ging hervor aus der Liebe und klar sind mir die Worte: „Also hat Gott die Welt geliebt" usw. Jesus, hat seine hohe Aufgabe gelöst, er hat uns die Kindschaft errungen, er hat uns unser Verhältnis zum Arsein klar gemacht und unS erlöst von der Furcht und dem Aberglauben. Er hat die ganze Welterlösung ausgesprochen, aber sie ist nicht verstanden. Jehl lebt ein Mann, der sie verstanden hat in seinem Innersten, und dieser Mann ist Fröbel, mein Großoheim. Er wird ein neuer Mittler werden, d. h. einNachfolger Jesu, der den Keim seinem innersten Wesen nach erkennen und pflegen wird. Fröbel will Natur und Geist, die Menschen untereinander verbinden. Schreit nicht alles nach Erlösung? Er hat die Liebe, die nicht das Ihre sucht, denn alles hat er geopfert, er ist ein echter Nachfolger Christi. Am seinetwillen wird er geschmäht, verfolgt. Er hat mich zu seiner Jüngerin auserkoren, ich folge ihm, wohin es sei. Ja, ich kann jetzt Vater und Mutter verlassen, um der hohen Idee zu leben. Nicht nur meinetwillen gab mir Gott Gemüt und Verstand, son­ dern um den Menschen zu nützen. Vater und Mutter, meine Trauer

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soll in Freude verwandelt werden; ich fühle mich stark, den Kämpfen

der Welt entgegenzutttten, denn ich liebe die Menschen.

Der Oheim sucht seine Getreuen um sich zu versammeln, denn, so

wie alles (in der Natur) von einem kleinen Mittelpunkte ausgeht, so will auch er den Menschen diesen Mittelpunkt in unserm Zusammenleben zeigen. Es sind Luise Lewin, Marius Bendsen, Alwine Midden­

dorf und ich, die einander im gemeinschaftlichen Zusammenleben stärken wollen

Fröbel erwartet gerade viel von den Frauen, er

will chnen den Platz anweisen, der ihnen gebührt. Sie sollen nicht mehr als Sache, oder höchstens im Gefühl behandelt werden, nein, in klarer

Erkenntnis sich selber veredelnd in das Leben der Männer eingreifen, und er erlaubt ihnen auch zu denken. O, wie schön muß sich's in einem Lause wohnen, wo der Geist die Lände treibt, wo nichts mehr mechanisch oder aus dem schrecklichen Pflichtgefühl gekocht und gewaschen wird, sondern alles mit Sinnigkeit, Freude, Friede und Freiheit (geschieht).

Mutter, Du schriebest in einem Briefe, Du wünschest Dir einen ähnlichen Wirkungskreis, wie sie in Keilhau haben, und wer weiß, wie

nah die Erfüllung dieses Wunsches liegt, wenn Ihr dem Oheim ent­ gegenkommt. Er hält Euch beide noch im lieben, treuen Andenken, und Worte von Dir, mein Vater, die Du einst gesprochen, sind gedruckt als Motto im „Sonntagsblatt" von Fröbel. Gott, wenn es möglich

wäre, meine Eltern, uns zu einem gemeinsamen Wirken zu vereinigen? Der Oheim sagte mir vor einiger Zeit, er würde dafür sorgen, daß ich Ostern gleich in eine Tätigkeit einttete; er wollte mich zu Euch be­ gleiten und sehen, inwiefern es dott einzurichten sei. Wo nicht, dann

wolle er anderweitig für mich sorgen und sobald wie möglich sich selbst aus dem großen, lauten Leben in den Kreis einiger Verttauter zu­ rückziehen. Zu diesen zählt er mich. Dann wollen wir tüchtig arbeiten, unsere verschiedenen Gaben und Kräfte vereinigen und unS bestreben,

eine Musterfamilie und die Erziehung von der zattesten Kindheit bis zum Jünglings- und Iungftauenalter der West anschaulich darzu­

stellen.

Wäre eS möglich, daß Du, lieber Vater, an den Oheim schriebest?

Ich ermatte mit Sehnsucht Briefe von Euch. Soviel ich apch jetzt zu

denken habe, so rasch die Zeit mir auch entflieht, kann ich doch die Sehnsuchl nach der teuern Leimat nicht unterdrücken, sondern möchte sie und mit ihr Euch, meine Geliebten, an mein künftiges Wirken fesseln. Ach, bedenkt es recht, ob Ihr nicht dem Oheim die Land reichen könnt.

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ehe es zu spät ist. Er fragte mich nicht ohne Grund, ob Ihr wohl Ver­ trauen zu ihm heget und bat mich, es in Euch zu wecken. Er sagte, der erziehende Geist liege ganz in unserer Familie und habe sich nun in mir gewaltsam Lust gemacht; er hat mir das so wunderbar klar bar­ gelegt .... WaS Ihr für gut findet, andern mitzuteilen, um sie auch anzuregen für die hohe Idee, das tut. Ich möchte wohl so voll Be­ geisterung der ganzen Welt predigen!

Lenriette an die Eltern. Dresden. Dezember 1848. Karls Entschluß hat mich tief erschüttert, aber man wünscht von allen Seiten Glück! Marinesoldat oder Volksschullehrer sei das einzige, was den jungen Leuten noch einige Aussicht böte. Laßt ihn ruhig seinen Weg gehen. Ich weiß aus Ersahrung, wie leicht der Baum schief wächst, wenn man ihn von einer Seite drückt. . . Das Ideal meines Lebens, einen Landprediger in Karl verwirklicht zu sehen, viel­ leicht mit ihm in Gemeinschaft zu wirken, ist nun dahin. Aber mir ahnt, als müßte dieser Stand noch durch tiefe Nacht, ehe er in dem Lichte er­ scheint, der ihm gebührt; denn einige herrliche Ausnahmen abgerechnet,

ist er ganz ausgeartet und tief gesunken

Lenriette an die Eltern.

(Brief.)

Dresden. Dezember 1848. Es ist nun fest bestimmt, daß ich Weihnachten nach Reichenbach gehe. Vorgestern bekam ich wieder einen Brief, worin man mich dringend bittet, zu kommen Ich fühle wohl die Opfer, die mein Beruf von mir verlangt, aber auch die Stärke, sie zu ertragen. And wer weiß, vielleicht fordert er ja keine Trennung von Euch. Mein Lerz ist auch ganz mit dem Eurigen verwachsen, und wie es mir traurig ist, so ganz au- dem engen Fa­ milienkreise gerissen zu sein, bei diesem schönen Feste nicht mit jubeln zu können, keine kleinen Heimlichkeiten, keine kleinen Überraschungen zu bereiten, kann ich Euch nicht sagen. Aber auf der andern Seite ... ist außer Fröbels Lehre so manches, was mich mit einem steund. lichen Lichte umgibt. Ich schrieb Euch wohl, wie glücklich ich sei, über-

all gute Menschen und Liebe zu finden Leute wollen wir jungen Mädchen Fröbel einen Tee geben, da bei ihm alle vier Wochen eine große Abendunterhaltung ist, woran

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jeder Eingeführte teilnehmen kann. Morgen gehe ich mit den andern zum Direktor Georgis, Vorsteher des Blindeninstituts, wo wir mit den Kindern spielen. Ich war schon einmal dort und könnte Euch viel von diesen Unglücklichen, die doch glücklich sind, erzählen; von ihrem wahrhaft himmlischen- Gesang, von der Sinnigkeit, Liebe und Dank» barkeit der Kleinen. Die Frau des Direktors ist sehr interessant, und wir treffen dort andere, die auf Fröbels Ideen eingehen. Ihr seht, so sehr ich mich zu­ rückhalte, weil ich wirklich so viel zu tun habe, so kann ich doch manche Freundlichkeiten durchaus nicht zurückweisen. Auch tut mir ein freier Austausch der Gedanken wohl und erhält den Geist frisch. Bei meinen Hauswirten bin ich, soviel sie mir zeigen, auch gern gesehen, und die Kinder hängen mit Liebe an mir, besonders die älteste, ein liebes Mädchen; sie ist mir ost ein rechter Trost. Ich wurde sehr gebeten, das Weihnachtsfest bei ihnen zu bleiben, habe auch schon andere steundliche Einladungen zu den Festtagen; aber es ist des Oheims ausdrücklicher Wunsch, daß ich nach Reichenbach gehe Am 15. Dezember. Der Oheim beschied mich eben zu sich und bat mich, nebst den herzlichsten Grüßen Euch folgendes zu schreiben: Er beabsichttgt seine Kraft nicht mehr durch tägliches Reden zu zer­ splittern, sondern denRest seiner Tage in ruhigemÄandeln zu beschließen, auch eine Musteranstalt ins Leben zu rufen, die den Menschen das zeigen soll in der Anschauung, was er ihnen bis jetzt gepredigt. Er gebraucht dazu Lülfe und besonders die der Frauen, aber solcher Frauen, mit denen er ein Leben in größter Offenheit und Klarheit beginnen und durchführen kann, und das sind die, von welchen ich Dir bereits gesprochen habe. Aber er sagt, ich sei in einem so schönen töchterlichen Verhältnisse zu Euch, daß er dies auf keinerlei Weise in seiner Entwicklung stören wolle. Auch sage ihm sein Äerz, daß Ihr ihm vielleicht auf die eine oder die andere Weise die Land zu einem Bunde bieten würdet, aus dem etwas Schönes, Großes hervorgehen könne. Er bittet Dich nun, lieber Vater, ganz offen und frei Deine Ansicht zu sagen, ob Du wohl Lust und Mut habest, in einen Lebensverband mit ihm zu tteten, und ob sich vielleicht Mahlum zu dem Wirkungskreise eigne, den er sich jetzt schaffen kann; welche Mittel Du ihm dazu bieten könntest, und was überhaupt Deine Ansicht über mein späteres Wir­ ken sei, denn er halte es für ganz notwendig, daß ich gleich nach Ostern in eine ernste Tättgkeit ttete.

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O, wenn ich mir denke, wir wären alle von einem Geiste beseelt­ wirkten alle an einem Orte, und Kirche und Schule ginge auf eine schöne Weise Land in Land 1 Ich will nur keine Pläne machen, sie werden ja gewöhnlich so jämmerlich zertrümmert. Wir könnten ja ganz klein in dem PfarrHause anfangen. Ihr lacht mich wohl aus; aber eS wäre auch gar zu schön, wenn ich dann mein ganzes Leben bei Euch bleiben könnte und wir alle in Offenheit und Vertrauen die wahre, die echte Einheit in das Leben riefen! Über Fröbel und viel aus den herrlichen Vorträgen schrieb ich in

Briefen an Dich, mein Vater, einen an Dich, meine Mutter und einen an Anna. Wenn sie sich wiederfänden 1 Kier sind sie auf der Post gar nicht besonders eingetragen. Lebt wohl. Eure Kenriette. An Marius Bendsen.

Dresden, 2Z. Dezember 1848. Wie leid tut es mir, daß ich nicht in aller Ruhe bei Dir sein kann, mein geliebter Bruder. Es war gestern ein so bewegter Tag, und ich komme jetzt vor der Abreise zu Dir. Wir waren gestern bei Frau Dr. §>erz und trafen dort mit Menschen zusammen, von denen ich Dir viel erzählen könnte Cs war ein merkwürdiger Abend, und es sollte mich wundern, wenn nicht etwas Besonderes von ihm ausginge; mir war so eigen zumute Besonders interessant ist mir der Umgang mir Frau Dr. Äetj; sie hat jedes Talent fürs Laus und hohe Geistesbildung, ebenso wie ihr schöner, liebenswürdiger Mann, erster Demokrat in Dresden. Beide sind begeistert für Fröbels Ide« und wirken dafür. Ich verlebe dort manchen interessanten Abend und putze den Christbäum für 19 arme Kinder, zum Besten derer Frau Dr. Lerz neulich «in Konzert gab Gestern war ich bei Fräulein Küster zu Tisch, um meinen Herrn Vetter, Karl Fröbel aus Zürich, kennenzu­ lernen. Neffe und Oheim stehen sich nicht gut; es ist eine lange Ge­ schichte Karl Fröbel hat sich genau nach mir erkundigt, ich glaube, ja, ich weiß es wohl gewiß, er wünscht mich in seine Anstalt in Zürich zu führen, aber ich werde nicht darauf eingehen. Ich will mich nicht mehr in ein Meer von Zweifeln stürzen, denen ich kaum entronnen bin. Dieser Mann scheint mir ein „Mann" zu sein, und er macht einen sehr angenehmen Eindruck; aber ein Etwas tritt nach der ersten Ber y I ch t n »k a, Henriette Schrader I. 7

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grüßung zwischen uns, das ich nicht beschreiben kann; es ist das Gefühl, daß eine Seite meines Wesens von ihm nie verstanden werden wird. Diese Empfindung hatte ich von der ersten Stunde an. Ich habe sie noch, nachdem ich einen ganzen Nachmittag und Abend mit ihm ver­ lebte. Ich gehöre zunächst mir selbst, Fröbels Sache, und wo ich glaube, dieser zu nützen, dahin gehe ich. Obgleich ich innig gewünscht hätte, Neffe und Onkel könnten sich einigen und alle Kräfte zusammen wirken, so sehe ich jetzt wohl ein, ein äußeres Sich-die-Lände-Reichen ist zu nichts nütze und die innere Einigung des Lebens wohl unmöglich

An di« Mutter. Januar 1849. Ich sage es Dir, meine Mutter, ich sammle Schätze ein, die weder Motten noch Rost fressen, nicht allein durch des Oheims Lehren, nein, auch das Leben trägt mir Erfahrungen zu, die ich durch kein Geld erkaufen kann. Es ist in mir jetzt die Gewißheit, ich werde noch längere Zeit leben und zwar gesund leben. Mir ist jetzt mein früherer Zustand klar. . . . Als ich mich neulich so verwundert über meine Gesundheit aus­ sprach, sagte Dr. 55erj: „Nichts ist natürlicher als dies. Geist und Körper gehen Land in Land. Sie haben als Kind und später sehr viel gedacht*), doch meistens abstrakt. Dadurch hat sich IhrGehirn viel früher als der Körper entwickelt, weil Sie für Ihre Gedanken keine Taten hatten. Lätte man Sie gewähren lassen, so wären Sie zu einer Löhe emporgestiegen, die Sie binnen einiger Jahre dem Tode zugeführt hätte. Verlangte man aber eine körperliche Tätigkeit, die zu Ihren Gedanken keine Beziehung hatte, die nicht dessen Tat war, so trennte man Körper und Geist, und es war nichts natürlicher, als daß Sie krank wurden. Jetzt findet Ihr Geist mehr Nahrung und durch die Spiele legen Sie Ihre Gedanken tätlich dar, also einigen sich Körper und Geist, und solange Sie das festhalten, Ihren Gedanken Gestalt zu geben, so lange werden Sie gesund sein Es ist nicht die körperliche Bewegung allein, es ist die Einheit zwischen Denken und Landein. Sie wären bei der körperlichen Bewegung allein nie gesund, dagegen wird Ihnen jetzt ein Feld eröffnet, wobei Sie geistig und körperlich er­ starken werden." *) Als 13 jähriges Mädchen schrieb sie ein« Abhandlung über den Satz: Cs gibt keine Gegenwart.

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Wie ist mir jetzt mein Elendsein so klar, dieses schreckliche Miß­ behagen, wenn ich mich zu den häuslichen Beschäftigungen überwand, und dennoch war ich auch nicht zufrieden, wenn Du sie selbst tatest. Jetzt würde es ganz anders sein, ich würde mit Freuden häusliche ®e» schäfte verrichten, wenn sie mit meinem Berufe zusammenhingen, denn ich weiß jetzt, diesen eine höhere Bedeutung zu geben. Ja, Mutter, das Leben ist doch schön, wenn man eS recht erfaßt, das sage ich trotz der kleinen Sorgen, die mich jetzt bedrücken. Ich habe eine solche Zuversicht zu der göttlichen Vorsehung, zu dem geistigen Bande, welches uns alle umschlingt, ich glaube so fest an das geistige Ineinandergreifen, daß ich mich ruhig einer höheren Leitung überlasse. Ich finde jetzt an allem Freude, nicht nur da, wo ich verwandte Seelen finde Onkel in Reichenbach schenkte mir einen Dukaten, dafür bin ich unter anderem im Theater gewesen und habe die Oper „Oberon" gehött. Dort haben wir so gelacht, daß ich mich heute fast schäme. Ich dachte so viel an unsere Kinder, als die kleinen Elfen in der Luft schweb­ ten und einmal eine ganze Gesellschaft Mohren zu tanzen anfing und Purzelbaum schlug (anstatt den Scheiterhaufen anzuzünden und einen Ritter und seine Braut zu verbrennen) Die Musik und die Dekorationen waren herrlich. . . . . . . Wir haben jetzt einen sehr hübschen Kreis und sind alle in Liebe verbunden. Keule verläßt uns Amalie Krüger, um nach Hamburg zu gehen zu einem reichen Juden, der aus eigenen Mitteln einen Kindergarten errichten will; er heißt Beit. Morgen wollen die Äerren Minister zu uns kommen und den Stunden beiwohnen. Fröbel hat die Hoffnung, daß in jeder größeren Stadt Sachsens ein Kindergarten ins Leben gerufen wird, und Du glaubst nicht, wie er jetzt anerkannt wird von denen, die ihn nur ahnend verstanden. Es melden sich immer mehr Personen, welche seinen Kursus besuchen wollen; nächstens kommen zwei junge Damen aus weiter Ferne hierher. Auch besuchte uns neulich ein junger Amerikaner, der will hier in Dresden einen andern Kindergarten für ganz arme, ver­ wahrloste Kinder ins Leben rufen. Frau Dr. Lerz soll die Oberleitung übernehmen. Das alles geht durch, ttotzdem die Königin geäußert haben soll: Es fehlte noch, daß der Pöbel gebildet würde, dann könnte man ihn noch viel weniger regieren. Ein Herr aus Wien, der seinen Sohn nach Keilhau brachte, be7»

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suchte uns und hat die ganze Reihenfolge der Spiele gekauft. Er versprach seinen ganzen Einfluß darauf zu verwenden, daß Fröbels Idee ins Leben trete. Sachsen wird wohl Fröbel selbst ein ganzes Jahr in Anspruch nehmen. Doch er will es nur unter der Bedingung tun, daß sie ihm eine große Summe zum besten der Kindergärten bewilligen. Mich soll wundern, ob sich alles so herrlich entfaltet, wie es zu knospen beginnt, oder ob einmal wieder ein plötzlicher Nachtfrost das ganze knickt, so daß es erst wieder neue Keime treiben muß. Die Wurzel kann niemand antasten, die liegt zu tief, zu sicher. Nächsten Sommer wird wieder «ine große Lehrer- und LehrerinnenVersammlung stattfinden in Arnstadt, nicht weit von Keilhau. Ich bin schon zu einer sehr reichen Dame, der Rätin Schubert, eingeladen, die mich in Keilhau gesehen hat. Aber daran darf ich nicht denken, o, das Geld, das leidige Geld 1 Ich habe einen so lieben Brief von Mariechen Bamberg"), sie rech­ net fest darauf, nächsten Sommer in Mahlum zuzubringen, entweder soll ich sie, oher sie mich abholen. Ich wollte, ich könnte bei Euch einen Kursus für Mütter halten, wie Alwine in Lamburg, an dem sogar Herren teilnehmen. O, ich wollte schon viele begeistern, es ist mir doch schon in Reichenbach gelungen. Die Pastorin war neulich hier und hörte in der Stunde zu. Sie wird nächstens mit ihrem Mann wiederkommen und die Spiele kaufen. Ach, ich freue mich über jeden blanken Taler, den der arme Mann bekommt. Er müßte eigentlich einen Vormund haben, denn Geld kann er nicht in den Händen behalten, es fliegt alles den Kindern zu. Der Vater scheint zu glauben, ich werde in seine Fußtapfen treten. Ja, hätte ich ein Eigen­ tum, dann könnte es wohl sein; doch so bin ich wirklich ängstlich sparsam und habe seit meinem Eintritte in Dresden jeden Pfennig sorgsam auf­ geschrieben, sage das dem güten Vater. Ich habe in Dresden erst erkannt, wie mich die große Geldsorge drückte, und wie eS um das Leben auSsieht. Der Gedanke, mir von Ostern an meinen Unterhalt selbst verdienen zu können, wenn Ihr es wünscht, wird mir den herben Schmerz, Euch lange, lange nicht zu sehen, um etwas mildern.... mir kommt es wie ein Anrecht vor, daß wir unS trennen sollen, die wir so glücklich zusammen leben könnten. Es wäre sö schön, wenn Anna die Wirtschaft, ich die Kin­ der besorgte, damit Ihr Euch nicht mehr so zu quälen brauchtet. Ach, *) Spätere Frau Professor Klußmann in Rudolstadt.

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teure, teure Mutter, laßt mich kommen I Aber ich wollte stark sein und Euch nicht so bitten. Fröbel wird Euch heute nicht schreiben können, ich wollte den Brief

mitAmalia bis Lalle schicken. DemOheim ist auch sehr daran gelegen, daß seine Idee auch in unserer Gegend verbreitet wird, und er wird es Euch ganz überlassen, wie und wo ich wirken soll. Schreibt mir recht bald, denn Gewißheit ist immer besser. Was ich diese Zeit alles durchlebt habe, kann ich Dir gar nicht schrei-

ben. Ich habe das Leben von einer Seite kennengelernt, wie ich es mir wohl durch Lesen gedacht, aber niemals selbst erlebt habe .... ach, Mut­ ter, ich habe bisher meinen einseitigen Idealen nachgestrebt; ich wollte

keine Menschen, nein, vollkommene Wesen und ich habe die Tugend zu hoch, das Laster zu tief gestellt. Ich wollte über dem Leben stehen und be­

dachte nicht, daß es im Leben noch so unendlich viel zu tun gibt. Ich werde aber immer glücklicher werden, weil das Leben immer

verständlicher und weil es mir gelingen wird, meinen reinsten Gedanken eine menschliche Form zu geben. Solange wir Menschen sind, müssen wir das können, wenn wir uns befriedigt fühlen wollen.

Von meinen Freunden hier glaubt niemand an die Göttlichkeit unseres Herrn, auch Fröbel nicht, und Dr. Herz ist ganz Naturalist. Aber all sein Wissen, Denken und Forschen, seine herrlichen Talente

bringen ihm keinen Frieden. Er ist ein schöner, liebenswürdiger Mann, erleichtert Tausenden (das Leben,) ist geehrt und geliebt von seiner Partei und jetzt Landtagsabgeordneter. In letzter Zeit hatte ich ein ernstes

Gespräch mit ihm. Er sagte mir so ruhig die Wahrheit, wie sie mir noch nie ein Mensch gesagt. Er sagte: „Von Ihnen muß noch viel, viel herunter, ehe Sie zur wahren Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Lebens

kommen." Als ich ihm erwiderte: „Ich habe mir oft gewünscht, zu sterben, um klar zu werden", sagte er: „Das ist nicht wahr! Es lebt niemand lieber

als Sie eS tun."

Ich antworte ihm: „Als ich es jetzt tue, das ist wohl wahr, aber Sie werden wohl auch den Wunsch zu sterben nicht begreifen, da wir beide

auf einem entgegengesetzten Standpunkte stehen in religiöser Hinficht,

und daS erscheint mir der Schlüssel zu dem großen Geheimnis, daß so viele Menschen, die ich achte, in ganz verschiedenen Ansichten ihren

Frieden finden."

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11 Vg Ahr. Ich komme eben von Frau Dr. Lerz, doch ich muß Dir

darüber gleich schreiben, teuerste Mutter. Lerr Loffmann ist gekommen, fitr dessen Kindergarten in Lamburg Fröbel mich bestimmt hat. Der

Mann hat einen guten Eindruck auf mich gemacht.... Er hat seine zwei hoffnungsvollen Kinder verloren, ist mit seiner Frau allein. Seine große Liebe zu den Kleinen hat ihn Fröbels Idee zugeführt. Er ist der einzige

Sohn eines wohlhabenden Handwerkers, ein wissenschaftlich gebildeter

Lehrer und soll — sehr hübsch dichten I Dann wünscht Frau Dr. Lerz, sobald mich Fröbel entläßt, meine Hülfe. Fröbel kam mit Lerrn 55 off-

mann zu uns, und wir verlebten einen genußreichen Abend. Ich stehe jetzt an drei Wegen, wohin soll ich gehen? Ich möcht« zu

Euch, möchte Hamburg sehen. Bin ich nicht bei Euch, so möchte ich so viel verdienen, daß ich Euch keinen Pfennig koste, denn ich muß gestehen, das ist der Punkt, der schwer wiegt in der Wagschale ... Es ergehen so viele Anforderungen an Fröbel, es zeigt sich ein so reges Leben, daß er

selbst nicht über seine Zukunft bestimmen kann. Fröbel trägt seine Idee gleichsam abgerundet, umstrahlt von hoher Heiligkeit in sich; er fühlt, wie sie die Menschheit beglücken muß und wird; er ist seinem Jahrhun­

dert voraus, darum steht auch er über de n Schwierigkeiten der jetzigen Zeit.

Mein Verhältnis zu ihm ist wunderbar: Ich stehe ihm geistig so nahe, wir verstehen uns, ohne zu reden. Aber unsere Verwandtschaft beruht nur im Geiste, nicht im Gemüt. Ich habe vollkommenes Verttauen

zu ihm; ich kann ihm jederzeit meine Seele mit all ihrem Guten und

Schlechten darlegen; aber diesem Verttauen, diesem Verstehen ist nicht das Gefühl der Liebe beigesellt. Ich liebe ihn, aber auf eine Art und Weise, daß ich es kaum Liebe nennen kann; nicht wie ein Kind den Va­ ter, nicht wie eine Freundin den Freund, nicht wie die Schwester den Bruder und — wenn ich alle Verhältnisse durchliefe — es paßt keins.

Von Euch, von meinen Freunden ist mir die körperliche Nähe lieb, wohltuend, beglückend, von Fröbel nicht. Sein Geist ist gleichsam das Licht des meinen, hingegen seine Persönlichkeit stößt mich oft ab oder berührt

mich unangenehm. Der Oheim und Middendorf haben Alwine so zugeredet, sich nicht mit Bendsen zu binden, es beschränke die geistig« Freiheit, und ich gebe

ihnen recht. Ist die Liebe wahr, so wird sie sich durchkämpfen ohne Wort.

Ist aber nur dasW ort, was sie bindet, dann möchte auch ich eine solche

Vereinigung nicht. Ich würde nie zu einer Verlobung raten, wenn man

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sich nicht in kurzer Zeit verheiraten kann, wohl aber niemand verbieten, zu sagen: „Wir lieben uns." Warum sollen Mann und Frau so schroff sich gegenüberstehen? O, wenn die Ehen erst in geistiger Freiheit geschloffen werden, dann wird es anders in der Welt, aber eher nicht. Darum muß der Frau notwendig eineLaufbahn eröffnet werden, in der sie allein fortwandeln kann; dann wird es der unglücklichen Familienverhältnisse weniger geben. Auch dazu kommen uns die Kindergärten entgegen; man ist ja da Lausfrau, Mutter und wird sich hüten, einen Mann zu heiraten, der nicht in vollständiger Larmonie zu Geist und Lerzen spricht. O, wie danke ich Gott, daß ich frei bin! And ehe die Menschen die geistige Freiheit er­ ringen, können sie die äußere nie ertragen. In dieser inneren Freiheit liegt die wahre Emanzipation der Frauen, daß sie auch ohne den Mann eine Stellung im Leben einnehmen können, die ihrem Berufe, „Mutter" zu sein, vollkommen entspricht. Eine andere Emanzipation mag ich nicht. Ein glückliches Familienleben an der Seite eines geliebten Mannes erscheint mir freilich als das höchste irdische Glück, aber ich fordere vielmehr,als es jetzt gewöhnlich gibt,und kann ich das nicht erreichen, werde ich nicht unglücklich sein. Teilt Ihr wohl Anna oft etwas mit aus meinen Briefen? .... Mit meinem Geschreibsel müßt Ihr rechte Nachsicht haben, es ist in einer inneren Anruhe, einer Anklarheit und zu verschiedenen Zeiten ge­ schrieben. Schreibt mir nur fest und bestimmt Euren Willen . . . Ich habe oft lange Besprechungen mit Fröbel, sie nehmen mir viel Zeit weg ... Leute bin ich wieder mit dem Oheim so wunderbar vereinigt, heute habe ich ein Gefühl der Liebe zu ihm. Ach, der Mann steht so hoch, so einzig groß da, seine Idee ist heilig!

Am 25. Zum April arbeitet Lerr Loffmann zu Fröbels Geburts­ tage ein recht hübsches Stück aus mit Frau Dr. Lerz zusammen; wir führen es auf und wollen Fröbel zeigen, daß er einige treue Freunde, einige Verehrer hat. Wir haben uns schon so manches Schöne aus­ gedacht, es kommt Gesang und Spiel vor, kurz alles, was er liebt.

Ich stehe mitten in einem Kampfe gegen die Schein-Fröbelianer... Die werden keine Intrigen unbenutzt lassen, um 9£... nicht an das Ru­ der kommen zu lassen. Sie fürchten für sich, weil sie nicht in des Oheims Sinne wirken und ein Verleumden hin und her, ein Schmeicheln hier.

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eine Falschheit da .... Es macht mich so müde, es verstimmt mich, die hohe, heilige Sache so behandelt zu sehen. Ach, Mutter, das Leben ist schön, aber oft schwer .... Eure Kenriette. Kenriette an den Vater.

Dresden, Ende Jan. (?) 1849. Sobald ich einige liebe Zeilen von Dir, teurer Vater, oder der Mut­ ter habe, werde ich diese zur Post tragen, denn ich muß eine Sache von großer Wichtigkeit darin behandeln. Es ist wieder viel durch mein Inneres gezogen, und beinah wäre ich dem gewaltigen Zuge meines Lerzens gefolgt und nach Mahlum in Eure Arme geeilt. Denn mich packte das Keimweh mit heftigem Schmerz und nagte einige Tage sehr an meinem Kerzen, bis meineNerven sich wieder beruhigten Es würde zu weitläufig sein. Euch die Begebenheit zu erzählen, die mich so unglücklich machte, aber es war mir ganz klar, daß ich gerade den Menschen, vor denen ich gerade geflohen wäre, nützlich sein könne, und darum blieb ich und bin wieder ruhig. Keute abend von 8—10 Ahr beginnt der neue Kursus. Wie hätt« ich gewünscht, daß Fröbel nach Volkersheim gekommen wäre, doch es sollte nicht sein, und er wird wohl nach Liebenstein bei Eisenach gehen und dort seinen großen herrlichenPlan realisieren. Frau Kunhe hat große Lust, mit ihren vier Kindern auf einige Monate mit­ zuziehen, während ihr Mann für ein halbes Jahr in Geschäften nach England und Amerika geht; sie interessiert sich lebhaft für die Sache. Koffmann wird sich mit seinem Gelde und seiner Frau, seinen schönen, literarischen und Sprachkenntniffen mit Fröbel vereinen, ebenso Kerr Krell mit seinem Vermögen und schönem musikalischen Talent und Ma­ rius mit seinem tief denkenden Geiste. Wilhelm Middendorf (Sohn) soll, ehe er zur Universität geht (um Medizin zu studieren), von Ostern an ein Jahr bei Fröbel lernen und auch bei Kandwerkern in die Lehre gehe», um alle Spielmaterialien selbst anfertigen zu können. Luise Levin und Alwine Middendorf kommen auch, und wenn Ihr einwilligt, folg« auch ich ihm. Wir haben denn gleich das Ganz«, so wie es für uns nötig ist, und Fröbel hat schon einen Plan entworfen. Geht Frau Kunhe mit, so haben wir gleich vier Kinder und können am andern Tage beginnen. Nun kommt meine Bitte: Es war Dir und der lieben Mutter heiliger Ernst und ist eS noch, nach Kräften für die so hohe, herrlich« Idee zu

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wirken. Wie ich es mir vor einiger Zeit ausmalte, ist es nun freilich den Umständen nach nicht möglich. Es steht Euch noch ein anderer Weg offen, und der ist durch die Kinder. Gebt uns Albertine, Adolf und William, und bezahlt für sie, was Euch irgend möglich... .Ist sie Gottes Sache, so wird sein Segen darauf ruhen. Fröbel wird uns, die wir jetzt mit ihm arbeiten, die Anstalt mit allen irdischen und geistigen Gütern hinterlassen; das hat er mir gestern gesagt. Seine Absicht ist nun, eine Anstalt ins Leben zu rufen, die mit dem Kindergarten beginnt, an den sich die Bildung von Müttern und Kin­ dermädchen schließt, sowie eine Knaben- und Mädchenschule für jedes Alter bis zur Universität. Er hat die Absicht, wohlhabende Waisenlinder vom zartesten Alter an hinzunehmen, deren leibliche Pflege Luise Levin, den Kindergarten Alwine übernehmen soll. Den Laushalt wird Frau Loffmann, eine Landwirtstochter, besorgen. Ihr Mann über­ nimmt den literarischen und Sprachunterricht, Bendsen die Buchfüh­ rung und das Schreiben über die Sache. Ich soll die Korrespondenz mit den auswärtigen Kindergärten führen und die Eltern der Kinder und Freunde empfangen und, wie Fröbel sagt, „aller Freundin sein". O Vater, siehst Du hier nicht ein herrliches Gemälde? Doch den guten Krell habe ich vergessen. Ihm ist der Elementarund Musikunterricht vorbehalten. Liebenstein ist ein mäßig besuchtes Bad, und dies ist der Sache gün­ stig; es soll wahrhaft reizend da sein. Wenn wir nun unsere und Kunhens Kinder hätten, so wäre dies von wesentlichem Nutzen, die Menschen sehen gleich was und gewinnen Verttauen. Ich komme dann Ostern und hole unsere Kinder. Anna muß dann mit nach Lause reisen, Karl kommt, und wir sind dann alle vereint auf kurze Zeit l Ich richte mich so «in, daß ich vier Wochen bei Euch blei­

ben und soviel wie möglich mitteilen kann.... Wenn Ihr dahin wirken könntet, uns Kinder oder junge Mädchen zuzuschicken, so würdet Ihr sehr viel für die Sache tun, denn auch im Laushalte können sie ganz ausgebildet werden,-da Lerr Loffmann ein Grundstück kaufen will, damit wir alles, was wir brauchen, selbst bauen. Seine Frau ist eine sehr erfahrene tüchtige Wirtin und sehnt sich immer

wieder nach dem Lande und der Landwirtschaft. Wann werden wir Dresden hinter dem Rücken haben? es ist mir schrecklich, ich weiß nicht warum Geht Ihr auf meine Vorschläge ein, so komme ich Ostern und

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mache es möglich, bis zum 1. Mai bei Euch zu bleiben . . . Wie merkwürdig, am l.Mai 1848 reiste ich von Euch fort. Teurer Vater, ich habe einen schweren Kampf gekämpft, ehe ich zu dem Entschluß kam. Euch auf so lange zu verlassen und nun vielleicht noch Euch Kinder zu entziehen,.. aber der Menschheit muß geholfen werden, und Fröbel kann ihr helfen, und ich höre, ich sehe die Worte so deutlich: „Du sollst Vater und Mutter verlassen um meinetwillen", und ich tue es seinetwillen, auch Fröbel tut es um Jesu Willen, wenn auch in anderer Form. Ihm ist sein, mir mein Glaube notwendig, und wir einigen uns beide in denWorten: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", und „so ihr Liebe untereinander habt, seid ihr meine rechten Jünger". O, Vater, je tiefer ich in Fröbels Lehre eindringe, desto größer er­ scheint sie mir; aber auch desto banger wird mir, wie wenige es gibt, die sie verstehen. Es wundert mich auch nicht mehr, wie Fröbel bisher so von den Menschen zurückgedrängt wurde, denn er rüttelt sie aus ihrem Schlafe, er wischt ihnen unsanft die Augen, er öffnet ihnen die Ohren, damit sie endlich einmal sehen und hören und durch die Sinne in den Geist eindringen, mit ihm eins werden. Ich kann mir gar wohl seine Bitterkeit, seine anscheinende Lärte er­ klären, die manchmal gegen die Menschen hervortritt, wenn sie mit neu­

gierigen Blicken kommen, ein paar Tage sehen und hören, dann den Kopf schütteln und mit höhnischer Miene sprechen: „Ach, der Mann ist sich selbst nicht klar, es mag recht gut sein, was er will, aber es paßt nicht in dasLeben. Vielleicht kann ein anderer noch einmal etwas Praktisches aus dem Chaos seiner Ideen schaffen!" Fröbel sollte ihnen vergeben und denken: „Sie wissen nicht, was sie tun", er würde es auch denken, lebte er nicht mit seinem Geiste ein Jahr­ hundert voraus. Aber er kann sich nicht in den kleinen Gesichtskreis der meisten Menschen hineindenken. Mit tiefer Scham denke ich an den Tag zurück, als ich von dem Standpunkte des verständnislosen Publikums aus Fröbels Tun betrach­ tete. In Keilhau riet mir Lerr Bagge ab, mit Fröbel nach Dresden zu ziehen: „Fräulein Lenriette," sagte er, „ich furchte. Sie bereuen diesen Schritt und geraten in eine große Verwirrung. Ihr Geist wird nicht nur alles annehmen, was geboten wird, sondern wird sich kritisch dagegen auflehnen. Aber wenn Sie sich befriedigt fühlen sollten, dann möchte ich die Sache von Ihnen vorgetragen hören." Ich antwortete: „Es muß etwas Wahres darin liegen und das will ich, muß ich erforschen." Dies

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habe ich allen erwidert, die mir abrieten, mit Fröbel zu gehen, worunter viele der jungen Setren in Keilhau waren. And wunderbar hat sich nach und nach der Kreis meiner Anschau­ ungen erweitert. Zuerst sah ich in den Spielen ein Schuhmittel vor der Langenweile; dann eine gleichmäßige Ausbildung von Körper und Geist, die Grundlage zu den Wissenschaften und den industriellen Fertigkeiten; dann erkannte ich in ihnen große Naturgesetze und nun auch die des Geistes. Mein eigenes früheres Leben, mein innerer Zustand, meine ein­ seitige, darum auch nicht befriedigende Richtung sind mir ein treuer Spiegel dessen, was Fröbel sagt, und ich werde gewiß imstande sein.

Euch noch alles klar darzulegen. Die Welt hat unrecht, wenn sie (Friedrich) Fröbel einen Demo­ kraten nennt, weil er uns die geistige Freiheit erringt, aber sie wissen nicht, was sie sprechen. Die Welt erscheint uns oft wunderbar, aber sie ist dennoch ganz natürlich; je mehr wir zu unserer Mutter Natur zurück­ kehren, desto klarer erkennen wir ihre Gesetzmäßigkeit. Aber unsere gute Mutter Natur hatten wir verloren, ebenso ihre Tochter die Maria, (die Mutter Jesu.) Wir haben (im Protestantismus) den Vater und den Sohn nur, und daher kam es, daß den Frauen eine ganz falsche Stellung im Leben gegeben wurde; von den glücklichen Ausnahmen rede ich natür­ lich nicht. Fröbel will durchaus nicht die Frauen zu Männern, sondern zu echten Frauen und wahren Müttern bilden, und wenn ihm dies ge­ lingt, so wird es auch besser um die Männer stehen. Sonnabend. Ich muß noch ein Blättchen zur Land nehmen, da ich vergessen habe, Dir über beifolgenden Aufsatz etwas zu sagen. Er ist nämlich aus der Feder einer Frau geflossen, die der letzten (Fröbel-) Gesellschaft mit beiwohnte und durch unsere Spiele und Ausstellung der Spielmittel, bei denen Fröbel einige, ernste Worte sprach, dazu getrieben wurde, beifolgende Zeilen drucken zu lassen. Sie ist die Frau des Musik­ meisters Lecerf, bei dem ich Singunterricht nehme, und dessen Nichte zu Fröbel kommt. Fröbel ist meiner Meinung, daß Du den Aufsatz in ein dortiges Blatt aufnehmen läßt und vielleicht mit einigen Worten Deine eigene Ansicht mit Deiner Anterschrift hinzufügst. Doch muß dies natür­ lich Deinem Gutachten überlassen werden. Bis jetzt stehen die Sachen sehr gut; man sucht Fröbel für immer an Sachsen zu fesseln, doch er wird sich nicht binden. In einer gemeinschaftlichen Beratung von gestern abend, an der §>.K. und ich teilnahmen, sagt« Fröbel: „Es tut der Welt die Anschauung eines ideellen Staates

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im kleinen not, und diesen Staat will ich in das Leben rufen." Er macht sich auf Feinde, Lunger und Kummer gefaßt; aber er wird über dies alles durch seine Idee getragen. Ja, Vater, Fröbel ist ein großer Mann. Er hat Frau Dr. Lerz bis Keilhau begleitet und wieder neue Spiel­ materialien bestellt. Sie ist dann weiter zu allen Kindergärten gereist, und ich erwarte sie Ende dieser Woche zurück. Er brachte mir tausend Grüße von Keilhau und die besten Nach­ richten von Marie. Lerr Bagge hat einen Aufsatz, von Marie geschrie­ ben, den andern Lehrern gezeigt, verwirklich bewunderungswert gewesen wäre; er hatte so etwas von einem Kinde in diesem Alter noch nie ge­ lesen. „Du würdest Dich unendlich über das Mädchen freuen", sie ist ganz prächtig und so liebenswürdig geworden, auch scheinen alle mit ihr zu­ frieden", sagte Fröbel zu mir. Dies wird Euch, Eltern, eine große Be-

friedigung sein. Laß Dir von der Mutter erzählen, daß der alte Großvater Christian Fröbel mit allem, was er hatte, seinem Bruder bedingungslos beitrat, um nur für Kinder und Kindeskinder geistig zu sorgen. Wann ich Euch sehen werde, wird Euer nächster, baldiger Brief be­ stimmen. Gruß und Kuß von Eurer Henriette. Henriette an die Mutter.

Dresden, 6. Feb. 1849. Kaum habe ich Deinen Brief ordentlich gelesen. Du teure Mutter, so sitze ich schon wieder hier an meinem Arbeitstischchen, Dir zu schreiben. Ich bin wieder frisch, freudig und frei, und daS verdanke ich Deinen Wor­ ten. O, wie ist es doch schön, so im Einklänge zu leben! Die Trennung soll die inneren Bande nicht lösen, nein, immer fester ziehen und uns vereinen. Ja, so ist es denn beschlossen, zwar fern von Euch, aber mit Euch und durch Euch werde ich wirken, und es kommt nun noch auf Dein und des Vaters Antwort an, wann ich Euch sehen soll und mein ganzes volles Herz mit all seiner innigen Liebe darlegen kann. Ach, es soll dies eine schöne, herrliche Zeit werden!...

Bestimmt ist es jedenfalls, daß ich am 24. April hier abreise, so lange bei Euch bleibe, bis der Oheim eingerichtet ist, und dann, entweder allein, oder mit meinen lieben, lieben Kleinen über Keilhau nach Lieben­ stein reise und Marie von Keilhau auch mit dort hinnehme. O, Mutter, wenn ich meine Geschwister dort mit hätte, ich wäre ganz glücklich I Und

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denke einmal, Alwine, Luise, Frau Loffmann und ich, wie gut werden wir sie erziehen; welch enges Band zieht sich dqnn zwischen uns! Manschen Bamberg und ich reisen also am 24. April von hier fort, am ersten Tage bis nach Wackersleben, bleiben eine Nacht dort und neh­ men andern Tages Anna mit uns. And den glücklichen Tag des Wieder­ sehens, Donnerstag in sieben Wochen eilen wir in Eure Arme! O, meine Mutter, welche Freude I Ja, nun bin ich wieder froh und freudig, denn ich soll Euch Wiedersehen I

Karl muß uns diesen Sommer in Liebenstein besuchen.

Wir erwarten Frau Dr. Äerz Ende dieser Woche zurück, und wir werden dann gleich (mit einem Plan eines Kindergartens) beginnen. Ich habe schon ein anderes ,sehr liebes Mädchen im Sinne, die ich dann an meine Stelle zu bringen wünsche. Es ist die Tochter des RegierungsrateS Glöckner*), mit der ich schon gestern abend darüber sprach

Leute wünsche ich Frau Dr. Lerh zu dem Spaziergange, den wir Fröbelianer zu unternehmen gedenken. Das Wetter hat sich gleich mei­ nem Lerzen aufgeklärt, und alles lacht dem Frühlinge entgegen. O, die Bäume sehe ich in Mahlum blühen I Seltsam, ich träumte es diese Nacht. Ich werde zu Lause für unsere Freunde, die es interessiert, einen kleinen Kursus halten, ihnen wenigstens einen kurzen Aberblick über die

ganze Sache geben, und wir beide, gutes Mütterchen, wollen recht zu­ sammen studieren. Soll ich Euch nicht eine Reihenfolge der Spiele mit­ bringen? Denn ohne sie ist freilich nichts zu machen, für Bernstorfs Kin­ der, sowie für die Gräfin selbst vielleicht wären die Spiele ansprechend. Einer jeden Mutter, einem jeden Mädchen wünsche ich einen Kursus bei Fröbel durchzumachen. Vorgestern kam die Frau Kuntze und sagte: „Ich fühle schon ganz anders für meine Kinder", und sie ist nicht etwa eine schwärmerische Frau, und oft waren di« Kinder ihr eine Last. Sieh, das sind schöne Freuden. Ich sehe schon Deine lieben Augen glänzen bei dem Buche: „Mutter und Koselieder."

Leute morgen, ehe ich Deinen teuern Brief erhielt, habe ich ge­ dichtet. Weißt,Du worüber? Aber DeinMutterherz, Dein Mutterauge, Deine Mutterhand 1 0, ich lebe mit Euch, lebt wohl, Ihr Geliebten in der Leimat. Alle, alle lebet wohl! Eure Lenriette. ') Berta Glöckner, siehe Band II.

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Kapitol 7: .Henriette an die Mutter:

Dresden, 27. Feb. 1849. Das herrliche Frühlingswetter, die schönen Dichtungen und Spiele, die Frau Dr. Hertz heute morgen zum besten gab; das gemütliche Leben hier im Hause ließen den Druck ein wenig von mir weichen, der mich, so­ lange ich mich hier in Dresden befinde, selten verlassen hat. Es ging mir das Herz auf in Fröhlichkeit. Ich glaube kaum, daß mein Aufenthalt im Lertzschen Hause mir Schaden bringen könnte*), sondern er wird mich bereichern anMenschenkenntnis. Was Euch zur Beruhigung dienen wird, ist, daß ich seit dem Amgange mit Frau Dr. Hertz ungemein viel an Selbsterkenntnis, an innerer Bildung gewonnen habe. Was sie sagt, ist auS ihrem wunderbaren erfahrungsreichen Leben gegriffen und findet im Leben seine Beftätigung. Ehe ich zu ihr hinzog, sagte mir der Oheim, er habe sich nach der Familie erkundigt, sie genössen von allen Hochachtung. Sie ist ein überreich begabtes Wesen und dabei so praktisch im Leben, daß ich stündsich von ihr lernen kann. Mit dem Herrn habe ich nie wieder über Religion oder Politik gesprochen. Ich sehe ihn nur beim Frühstück, um 9 Ahr gehe ich fort, bin bis 11 Ahr beim Oheim, von 11—12 Ahr habe ich Singstunde, dann gehe ich nach Hause in mein schönes, freundliches, sehr ordentliches Zimmer, esse mit Frau Doktor meist allein, weil ich von 2—4 Ahr wieder Stunden habe und die Sitzungen int Landtage meist sehr lange währen. Nachmittags habe ich bei Herrn Hoffmann ohne Bezahlung französische Stunde und abends kommen die jungen Mädchen zu mir. Wir arbeiten dann das Tagespensum noch einmal durch oder üben uns jetzt etwas Schöne- ein, womit wir den Oheim bei seiner nächsten Monatsgesell­ schaft überraschen wollen; Dichtung, Komposition, alles ist aus unserm Kreise. Es fehlt mir durchaus nicht an geselligen Vergnügungen; denkt Euch, neulich habe ich bis in den grauenden Morgen getanzt, und damit mir meine Toilette nichts kostete, habe ich den Ausputz von meinem blauen Samthut geschnitten, abends zu einem Kopfputz verwendet und andern tags wieder auf den Hut genäht. Ich habe viel getanzt. Es war nämlich Stiftungsfeier des Erziehungsvereins, wo auch die Frau Doktor Hertz Mitglied ist. *) Der Vater fürchtete, die naturalistischen Anschauungen des Hauses könnten der Tochter ihren Glauben nehmen.

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Sonntag abend war ich bei der Schriftstellerin Thekla von Gumpert zum Tee; sie hat Kinderschriften geschrieben. Eine Frage von ihr regte mein Inneres sehr auf: „Tut man auch recht, die Kindergärten so zu fördern, da sie doch wohl nicht auf dem echt christlichen Standpunkte ruhen?" Ich antwortete: „Ich kann bis jetzt alles, was Fröbel sagt, mit dem Christentum vereinen, seine ganze Lehre erscheint mir Christentum, in­ dem er spricht: „Ich habe nur einen Gedanken in meinem Leben zur Aus­ führung bringen wollen, der ist: „Gegensätze durch die Vermittlung zu einen, und aus der Einheit die Allheit zu entwickeln, und die Allheit zuo Einheit zurückzuführen. And wird nicht jeder Kindergarten auf festem Christusglauben ruhen können, wenn die Gärtnerin diesen im Lerzen trägt?" Die Frau des Demokraten Blödel spricht: „Das Gebet ist, was unsern Vorfahren die Reliquie war, sie trugen sie auf der Brust, um vorGefahren geschützt zu sein. Die Natur gehorcht aber Gesetzen und darf von ihren Gesehen keinen Finger breit abweichen; wozu soll ich denn beten?" Sie ist die Freundin und Genossin von Johanna Küster*), und diese fühlte sich wiederum ganz befriedigt von Fröbels Lehre; nur hinge er zu sehr an den alten Formen, d. h. Fröbel stellte uns die Maria und Christus als Vorbilder dar, er legte seiner LehreBibelsprüche zugrunde. Fröbel hat gegen .... Karl Fröbel und seinen Bruder eine entschiedene Abneigung, sie kämpfen im stillen einen bitteren Kampf. Der Oheim will Gott, die Familie als Grundlage der Erziehung, sein Neffe Karl spricht öffentlich: „Solange Ihr noch an einen Gott glaubt, solange ihr durch Familienbande gefesselt seid, seid ihr Sklaven, aber ihr sollt frei werden." Beide (Onkel und Neffe) wollen die Emanzipation der Frauen. — Der Oheim will, daß das Weib anerkannt werden soll als ein Wesen, welches das Löchste in sich trägt; er will in ihr selbst das Bewußtsein ihrer hohen Würde Hervorrufen; doch sie soll im innern wirken, im stillen schaffen, während der Mann nach außen strebt... Seine Neffen, sowohl der Züricher als der Frankfurter, wollen das Weib in das öffent­ liche Leben führen, wollen ihr den Weg zum Doktorhüte, zum Pro­ fessorentitel bahnen. Nun, die Frauen, welche darin Ruhe und Frieden finden, mögen den Weg wandeln. Ich sehne mich nach einer Men Wirksamkeit, nach einem Kindergarten, dessen Mauern mir nicht beengend *) Spätere Frau Karl Fröbel.

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werden sollten, denn ich werde innerhalb derselben mir einen Limmel schaffen. O, wenn doch Frau von Cramm etwas in der Art beginnen wollte! Es ist doch ein herrliches Leben in der Gemeinsamkeit, in der Aus­ sicht auf eine Wirksamkeit, die meine kühnsten Wünsche und Ideen realisieren kann. Fröbel ist von seiner Reise zurückgekehrt und wird Euch selbst das Resultat derselben mitteilen. Die Frau Dr. Lertz und ich haben während seiner Abwesenheit die verschiedenen Kurse beschäftigt, indem wir einige Bewegungsspiele einübten, die Frau Dr. Hertz auf ihrer Reise bei dem berühmten Turner Spieß kennenlernte. Sie hat auch zu einer Turn­ übung*) folgendes Liedchen gedichtet und allerliebst komponiert: 1. Die Töne sind das Wasser — seht, Wie ruhig unser Schifflein geht. Der Wellen Spiel Gibt Freuden viel. Der Ton verweht, Das Schifflein steht.

2. Der Sang beginnt von neuem nun. So darf das Schifflein auch nicht ruh'n. Es führt uns froh zurück zum Strand, Das Lied ist aus, wir sind am Land! Land! Land! Land!

Leute abend 5 x/2 Ahr, als der Abendkursus begann, versammelten wir uns alle und führten dem Oheim das Spiel vor. Er war ganz ge­ rührt und eröffnete uns seinen Plan (nach Liebenstein und Mariental zu ziehen.) Allgemeiner Jubel und Glückwünsche kamen ihm entgegen. O, wie wurde ich beneidet! Wie schön paßte das Lied (zu der Situation:) Wir sind am Strand! Land! Land! Land!

Lenriette an Luise Levin.

Dresden, 22. März 1849. ......... Der Oheim paßt durchaus nicht in das öffentliche Leben, er kann nur von denen würdig geliebt und beurteilt werden, die ihn länger *) Wiegengang.

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und im traulichen Kreise kennen. Es ist ihm nun einmal nicht gegeben, einen Teil seiner Idee klar darzulegen, man kann sie nur erfassen, nur be­ wundern, wenn man sie ganz kennenlernt. Glaube mir, gute Luise, durch solche Vorträge, wie er auch letztens hier im Erziehungsverein hielt, schadet er der Sache der Kindergärten sehr; denn die Menschen verstehen ihn nicht, und gerade solche Leute zucken spöttisch hie Achseln, denn sie sind weit entfernt zu glauben, -aß es noch außerhalb ihres Kreises etwas Gutes gibt. Du mußt mir zugeben, Fröbel ist kein gewandter Redner; aber die Menschen in Städten wie Hamburg sind sehr äußerlich. Fer­ ner kennst Du ihn besser als ich und weißt, welche unruhig« Natur er ist, wie nötig es ist, beruhigend auf ihn einzuwirken, damit sein Geist nicht erzittere, sondern ihn uns klar spiegeln kann; aber, wenn man hier in Dresden schon an ihm zerrt und zupft, wie wird das erst in Hamburg sein, wo die Partei von Fliedner") sich gegen ihn auflehnen würde. Du und ich und noch andere wissen, daß Fröbel ein Christ ist; aber die Menschen, die nach Worten urteilen und vielleicht nach Worten urteilen müssen, werden ihn verdammen. Ja, sie werden ganz irre an ihm werden, denn er widerspricht sich oft in bezug auf seine religiösen An­ sichten, ja, ich zittere förmlich, wenn ich denke. Fremde urteilen danach. Nein, nein, Fröbel darf nicht nach Hamburg. Willst Du meine Meinung klar und offen hören, die ich Dir aber als Rat nie aufdrängen werde: Fröbel gehört in die Familie, in die Natur! Er sollte Dich heiraten, mit Dir nach Mariental oder wo «S sonst sein mag, ziehen, einen Kindergarten einrichten und dort Sommer und Winter einen Kursus halten. Er sollte sich dazu verstehen, wohlhabende Waisenkinder aufzunehmen und so aus diesem Keim den Baum sich entwickeln lassen, den er schon längst im Geiste mit seinen Blüten und Früch­ ten sieht. Nur ja nicht gleich so großartig anfangen, so einfach, so klein, wie nur möglich. Er weist uns ja selbst nach, wie das Größte aus einem unscheinbaren Punkte sich entwickelt. Wem es rechter Ernst um die Sache der Kinder ist, der kommt oder schickt jemand zu Fröbel. Wie ganz ander- ist es, wenn er die Menschen in seinem Hause versammelt, und ich bin fest überzeugt, es werden nicht die schlechtesten Menschen sich bei Euch melden, und diese werden ihn von einer Seite kennenlernen, die uns bisher noch unbekannt war. Als Haupt einer großen Familie, denn dort werden sie sich all« als seine Kinder fühlen.

*) Gründer von Kaiserswert, die orthodox-kirchliche Partei, v y s ch 1 n - k a, Henriette Schrader I.

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Wenn er dann mit ihnen hinaus in die schöne Natur geht, wie er es hier einmal mit uns tat, wenn er sein ganzes Laus mit seinem tiefen Geist belebt, wenn Du es allen so behaglich machst; ja, Luise, wie ich auch hin und her denke, ich finde nichts, was für die ganze Sache, für Fröbels eigene Person, für uns, die ihm nahstehen (geeigneter wäre...) DieMutter an Lenriette. Mahlum 26. März 1849. .... wir sind nun durch Deinen und des Oheims Briefe ganz be­ ruhigt und damit zufrieden, daß Du bis zu Deiner Abreise im Lerhschen Lause bleibst ....

Lenriette an die Mutter. Dresden, 28. März 1849. .... Obgleich am entferntesten von allen Deinen Kindern, so war ich doch gewiß die erste, welche Dir zu Deinem Geburtstage Glück wünschte. Es war morgens zwischen 2 und 3 Ahr, als ich aus einer lauten, fröhlichen Gesellschaft kam. Da saß ich hier ganz allein und dachte mit tiefer Sehnsucht an die Leimat und besonders Deiner .... Fröbel gab eine große Gesellschaft von einigen 70 Personen in einem schönen, großen Saale der „Stadt Wien". Es waren viele gelehrte Köpfe dort, und ich hatte das Vergnügen, eine Rede zu halten; dann wurden einige Spiele aufgeführt und dann getanzt. Alle waren

sehr heiter. Ein junger Maler, den ich einige Male in Gesellschaft gesehen, ließ mich durch eine mir bekannte Dame bitten, ob ich ihm zu einer Madonna sitzen wollte; ich schlug es ihm ab unter dem Vorwand«, daß Ihr es mir zu Laus nicht erlaubt haben würdet; ja, es schon einem andern Maler abgeschlagen hättet. Gestern abend traf er mich in einer Vorlesung, ich ging ihm immer aus dem Wege, aber er verfolgte mich und hörte nicht auf zu bitten; doch ich schlug es ihm bestimmt ab. Er erwiderte, er würde es nicht wagen, mich abzuzeichnen, aber ich könne es ihm doch wohl zu Gefallen tun, eine halbe Stunde zu sitzen, er wolle nur meinen Kopf im Schatten sehen. Ich antwortete: „Ich kann nicht so lange sitzen, dann mache ich Fratzen", und damit lief ich fort. Nicht wahr, es ist Euch doch recht, daß ich es nicht getan habe? Nun ist die Prüfungszeit bald zu Ende, doch lange werde ich nicht

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bei Euch verweilen können, länger als einige Wochen keinesfalls, d. h. wenn Ihr Eure Zustimmung gebt, daß ich, falls Fröbels Plan nicht zur Ausführung kommt, hier nach Dresden zurückkehre in eine andere Stelle.

Ich habe Euch von der Familie Marquard erzählt, daß ich mich dort so heimisch fühle. Dieser Mann richtet nun zum 1. Mai einen Kindergarten neben seinem kleinen Institute ein und hat Fröbel um meine Lülfe gebeten. Fröbel und ich haben ihm vorgestellt, daß ich schwer­ lich jetzt schon zur praktischen Ausführung und vorzüglich zu der Ein­ richtung seines Kindergartens tauge; doch er will nicht davon lassen, und so habe ich ihm versprechen müssen, nach Ostern, wenn Fröbels Plan sich entscheidet, ihm eine bestimmte Antwort zu geben .... Ich glaube, ein Jahr in seiner Anstalt wäre in jeder Linsicht von unendlich großem Nutzen für mich, noch dazu, da er mich ganz in den Elementarunterricht einzuführen gedenkt, der sich dann unmittelbar an seinen Kindergarten anschließt. Wenn mich Fröbel nicht gleich nötig hat, will Dr. Marquard an den Vater schreiben ... Seit einiger Zeit bin ich wieder leidend, ich sehne mich nach Lause und ehe ich nicht einmal frei aufatmen kann an Deiner teuren Brust, in derLeimat bin, werde ich nicht wohler. Leute über 4 Wochen kann ich reisen. Solch einen kurzen, schlechten Brief, wie diesen, hast Du von mir noch nie bekommen, meine Mutter. Du kennst mich. Du liebst mich und weißt, wie ich eS meine. Du bist meinem Lerzen so nah, so ganz mit ihm verwebt, ich wollte, wir beide könnten einstmals zusammen sterben

Lenriette an die Eltern. Dresden, 16. April 1849. Nun ist es entschieden; Fröbel geht nach Liebenstein, ich folge ihm. Später, wenn die Wohnungen eingerichtet sind in Mariental*), ziehen wir dorthin. Wohl muß ich Deine Freude wieder um etwas trüben, gute Mutter, denn wahrscheinlich muß ich den 5. Mai dott eintteffen. Fröbel grüßt Euch herzlich, geliebte Eltern, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch schreibe ich noch einmal. Leute über 8 Tage reise ich ab, um so bald als möglich bei Euch zu sein. Lätte ich nur Nachricht, ob und wann unsere Kinder kommen; ich erwatte sie jeden Tag. *) Ein Jagdschloß des LerzogS von Meiningen, welches Fröbel gemietet hatte.

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Ernste Fragen habe ich an Euch zu richten, und es ist gut, wenn Ihr

vorher Zeit habt, sie zu überlegen. . Soll Marie nicht mit uns gehen? And wollt Ihr uns Albertine

geben?... Es sind schon mehrere Kinder bei Fröbel angemeldet, ich gebe

Euch die feste Zusicherung, sie sollen und werden in keiner Weise vernach­

lässigtJetzt hängt natürlich das Gelingen von Fröbel^ Plan vom Vertrauen ab, welches man ihm schenkt. Besonders wünsche ich ihm mehrere junge Mädchen, da er gleich einen Kursus beginnt; einige haben sich hier

schon gemeldet. Alle, die bei Fröbel waren, sind versorgt, die geringste

Stelle einer Kindergärtnerin ist bei ganz freiet Station 40 Taler; die

beste über 100 Taler. Es ist jetzt ein sehr reges Leben in der Sache, und der Plan der Frau

Dr. Lerh ist vomMinisterium angenommen und wird weit auSgebreitet; es sollen vier Volkskindergärten eingerichtet werden, Frau Dr. Lertz

wird die Oberaufsicht erhalten. Ich werde Dir, liebe Mutter, daSNähere von ihrem ganzen Plane mitteilen. Fröbel wollte man hier behalten; eS sollte sich an die Anstalten ein Lehrkursus schließen, weil der Staat mehrere junge Mädchen ausbilden

lassen will. Fröbel hat es abgeschlagen, weil er nicht Staatsdiener sein will, und das freut mich. Aber, ob dieLerren ihm die Mädchen dennoch hinschicken werden, ist fraglich. Ehrgeiz und Sparsamkeit sind Lauptlugenden der jetzigen Machthaber.

DaS halbe Jahr kostet alles in allem 120 Taler. Natürlich habe ich

bei Fröbel in Liebenstein ganz freie Station, und Fröbel wird den letzten Pfennig mit mir teilen, davon seid überzeugt. Meine Sachen werden mit Fröbel- fortgeschickt. Bitte, liebe Mutter, sorge dafür, daß wir unS recht ungestört haben

können; wenn nur kein Besuch kommt und man nicht von mir verlangt, daß ich auSgehen soll. Laß mich bei Dir schlafen, damit wir keine Minute womöglich gettennt werden. ES ist mir, als sähen wir unS lange nicht wieder, und die Zeit mit Euch soll mir förmlich heilig sein.

DaS Leben spricht recht ernst zu mir, denn wenn ich so recht bedenke, waS ich nun beginne, da stehe ich mit meinen Gedanken fülle, fühle aber

einen unerschütterlichen Mut in mir, eine Kraft, die mich zu den größten

Entbehrungen fähig macht. Fröbel sagt mir: „Ich kann dir auf der einen Seite nur Opfer und Entbehrungen bieten, auf der andern Seite Freiheit, Wahrheit, Liebe!" Für dieses bin ich bereit zu sterben.

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dies muß ich haben, wenn ich leben soll, wie ich das Leben verstehe. Diese drei Worte sind auch Marius Bendsens Wahlspruch, er schrieb darüber einen sehr hübschen Aussatz. Er ist wohl tot, seine Briefe bleiben aus.... ich bin ganz ruhig. Diese Woche wird eine stürmische werden, denn am 21. wird Fröbels Geburtstag gefeiert und dazu sind Proben usw. nötig. Ich stelle ein lebendes Bild, die Mutter der Gracchen Cornelia dar, dann in einem Lustspiel eine weise Erzieherin und habe vielleicht noch in der Begrü­ ßungsfeier zu sprechen. Wir schenken Fröbel Correggios „Nacht" als Lichtbild, eine Tasse mit der Ansicht von Dresden und einen Lorbeer­ kranz. Es ist ein Festkomitee gewählt von drei Serien und drei Damen, wozu auch ich gehöre; mir siegt also viel ob, mündlich mehr von allem. So lebt nun wohl! Zum letzten Male rufe ich eS Euch zu aus Dresden. Über 8 Tage bin ich hoffentlich meilenweit von hier entfernt, ge­ denke aber eine Nacht in Braunschweig zu bleiben, komme also vielleicht am 24. über SlldeSheim Sier in des Oheims Zimmer füge ich noch hinzu, was er mir soeben sagte: „Es ist mir lieb, wenn du eine kleine Ausstattung mitbringst; übrigens sollst du keine Forderungen an deine Eltern mehr machen. Ich habe mich gefreut über deine vernünftige Sparsamkeit und bin ge­ wiß, du wirst diese beibehalten. Deine ganze Erscheinung, das Verhält­ nis, in welches du bei mir eintrittst, fordert ein edeles Äußere, einfach aber edel werde ich dich immer kleiden und dein« andern Bedürfnisse befriedigen, so daß du für nichts zu sorgen hast; denn das gehört dazu, um deine Natur frei zu entwickeln. Kommen einmal Sorgen, so weiß ich, du wirst nicht klagen. Sage also deinen Eltern, für eine anständige Existenz würde ich, solange du bei mir bist, sorgen. Was dein Verhältnis in Beziehung auf mich betrifft, so wirst du im Anfang natürlich helfen, wo Not ist. Sind wir ganz eingerichtet, dann erhältst du eine Stellung, die deiner Individualität entspricht, und ich glaube, das ist die literarische. Du sollst mit den geistreichen Frauen unserer Bekanntschaft in schriftlichem Verkehr stehen und mit an einer pädagogischen Zeitschrift arbeiten. Wir wollen keinen Bund machen; es kümmert sich keine Rose, keine Lerche um die andere, aber eine jede blühet schön herauf, well sie nach einem klaren Gesetze handelt; dies Gesetz soll jeder von uns klar in sich finden und es andere lehren; das ist die Aufgabe unseres Zusammen-

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seins. Du sollst keine andere werden, als du bist, aber du sollst ganz werden, was du bist. Doch um die Traube zu reifen, die Blume zu er­ schließen, brauchen wir die Litze des Sommers, und so wird die Arbeit des Lebens dich zu dem machen, was du bist.

Wollen mir deine Eltern ihre Kinder anvertrauen, gut; ich kann ihnen ohneEigennuh nichtsBefferes raten. Wollen sie eS nicht, auch gut, sie müssen es am besten wissen, und ich brauche ihr Vertrauen nicht." (Versteht dies aber nicht falsch und beschließt nicht eher etwas, bis Ihr mich, Lenriette, gesprochen!) „Daß Marie zu uns kommt, rate ich unbedingt, denn es fehlt in Keilhau das Weib, doch auch das überlasse ich deinen Eltern ganz, denn der Mensch muß sich aus sich frei bestimmen. Ans liegt ein großes Werk ob, mein teures Kind; es zu erfüllen, erfordert den heiligsten Ernst, erfordert Opfer. Aber Opfer werden nicht mehr Opfer sein, wo der Grundstein die Liebe ist. Nicht die weichliche Sympathie, die begehrt zu besitzen, nein, die starke Liebe mit geistigem Erkennen, die versteht zu entsagen, aber aber auch zu nehmen." Dies un­ gefähr waren seine Worte. Er war ruhig, klar und bestimmt, daß dies mich sehr über seine Zukunft beruhigt, und ich bin recht glücklich, daß Ihr mir Euren Segen gebt, ihm zu folgen. Ja, teure Eltern, ich hoffe, Ihr habt noch einmal Eure Freude an mir. Olefs, wie ist es doch schön, daß wir uns so lieben! Denn heilig kann ich es Euch versichern, ich glaube die Idee rein in mir zu tragen, ihr allein und keinen Nebenabsichten zu folgen, und dies gibt mir meine Ruhe, meinen Mut, ja, dies wird mir auch meine Freudigkeit geben. Ich wünsche sehr Cramms zu Lause zu treffen. Ich kann mir für die Frau Landrätin nichts Besseres denken, als sie nähme sich ein bei Fröbel gebildetes junges Mädchen, teils zur Gesellschafterin, teils zur Führerin eines Kindergartens in Volkersheim. Es erwüchsen ihr daraus gewiß süße Freuden; teile ihr dieses noch einmal mit. Auf Wiedersehen l Eure Lenriette.

Ehe der Dresdener Kreis von Fröbels Schülern, Freunden und Gönnern für immer auseinanderging, vereinigten die Mitglieder sich zu einem feierlich ftöhlichen Feste in dem Gasthofe zur „Stadt

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Wien". Ein reichhaltiges Programm hatte man aufgestellt und viele talentvolle Mitglieder zur Mitwirkung herangezogen. Als deklama­ torische, dichterische Kraft, als Schauspielerin und lebende Figur in den zu stellenden Bildern wurde Lenriettens Äülfe inAnspruch genommen. Die Tagesordnung verlief ungefähr folgendermaßen: Man versammelte sich 4 Ahr nachmittags im kleinen Saale der „Stadt Wien" und sang gemeinschaftlich ein „Einigungslied". Sodann wurde Fröbel durch einzelne Sprecher, sowie durch ein Chorsprechen feierlich begrüßt. Nach diesem Akt ging man zu Kaffee und Kuchen in einen Nebenraum, wo man bis gegen Abend in verttaulichem Gespräch beieinander blieb. Während der Zeit entfernten sich diejenigen, welche bei den nun folgen­ den „lebenden Bildern" tätig sein sollten. Als alle Vorbereitungen ge­ troffen waren, wurde die Gesellschaft hinauf geführt in den großen Saal, wo eine Bühne errichtet war. Die Bilder sollten die antike Welt, das Mittelalter und die neue Zeit vorführen. Einleitende, erklärende Verse gingen jedem Bilde voran, ein Wahlspruch sollte jedem Bilde zugrunde liegen. In dem ersten Bilde „dieMutter derGracchen„ stellte Äenriette die Äauptfigur dar, und mit keckem Anachronismus legte man diesem Bilde den Spruch zu gründe: „Kommt laßt uns unsern Kindern leben 1" Dann folgte „Elisa­ beth von Thüringen als Repräsentantin des Mittelalters". Ein drittes Bild stellte einen Kindergarten dar, Schillers Ausspruch: „Gar hoher Sinn liegt oft im kind'schen Spiel" war die Grundidee der erläuternden Verse. 3m Anschluß an dieses letzte Bild wurde Fröbel auf seinem Platze im Zuschauerraum unter Gesang mit Girlanden umwunden und bekränzt. Daran schloß sich ein einfaches Abendeffen, und ein Lustspiel: „Nach 50 Jahren" bildete den Schluß dieses festlichen Tages. Das Osterfest verlebte Äenriette in Dresden, am Palnffonntag hatte sie mit Fröbel die schon erwähnte herrliche Aufführung*) der IX. Symphonie von Beethoven genossen. Der lang ersehnte Tag des Wiedersehens rückte immer näher; Vater und Mutter waren im Geiste nicht minder ungeduldig als die Tochter. So heißt es bei dem Vater: „Gott geleite Dich und bringe Dich mit denselben frommen Gesinnungen wie ehemals wieder in unsere Arme." Am 25. April gelangte Äenriette glücklich in die Äeimat. Leider war die Freude des Wiedersehens getrübt durch Unwohlsein der Mutter, Äenriette empfand die Abwesenheit der *) Siehe Seite 85.

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Kapitel 7:

verständnisvollen, nachgehenden Mutter doppelt schwer, da der Vater sie gleich zu Besuchen bei seinen aristokratischen Freunden aufforderte und sie sich aus der freien, demokratischen Geselligkeit Dresdens in eine entgegengesetzte Welt versetzt fand. Dieser Verkehr war in dem Augen­ blicke peinlicher als sonst, denn die plötzlich ausgebrochene Revolution in Dresden hatte die Gemüter sehr erregt, und die Ansichten platzten heftig aufeinander. Fröbels weitgehende Pläne fitr das Sachsenland erlitten einen schweren Schlag durch die obenerwähnten politischen Anruhen, ja, man fitrchtete nicht ohne Grund für seine Person. Lenriette bemerkt unter dem 10. Mai d. 3. folgendes: „War Fröbel in Dresden, als der Lärm sich erhob, so fürchte ich für sein Leben, denn seine Begeisterung steht der eines Jünglings nicht nach und ebensowenig sein Mut. Mit Angst sehe ich der Totenliste entgegen, ob ich nicht jemand darunter finden werde, dem ich eine besondere Träne nachweinen muß. Ich kannte in Dresden manchen hoffnungsvollen Jüngling, manchen reich begabten Mann, die sich meine Achtung und Freundschaft erworben, und wenn ich die fallen sehe und an die andern Opfer denke, die schon gefallen sind und vielleicht noch fallen werden, bemächtigt sich eine Erbitterung meiner Seele, die sich für «in Weib nicht ziemt und die ich in ruhigen Stunden bereue." Fröbel hatt« sich glücklicherweise schon früher nach der Thüringer Heimat zurückgezogen, wo die Fürsten und Machthaber seiner erzie­ herischen Tätigkeit durchaus fteundlich gesinnt waren. Henriette fand ihr Gleichgewicht wieder in dem Verkehr mit den jüngeren Geschwistern, in dem beseligenden Gefithl, sie besser als früher zu verstehen, und sie. leiten zu können. Sie sagt hierüber: „Wenn es sein sollte, so würde ich auch hier.volle Befriedigung in der füllen Ausübung von des Oheims Lehre finden, wenn ich mich nicht noch sehnte- manchen Mängeln in der Praxis abzuhelfen . . . Aber dessen bin ich gewiß, das Leben mit dem Oheim wird mich nicht von dem Kerzen meines Vaters trennen, das haben mich unsere Kinder gelehtt, die so glücklich bei den Spielen sind."

Fassen wir das Ergebnis deS Aufenthalts bei Fröbel in Dresden kurz zusammen. Was hat Henriette Breymann unter den Erfahrungen deS LebenS, sowie unter dem Einflüsse des Fröbelschen Unterrichtes und

Der Aufenthalt bei Fröbel in Dresden im Winter 1848/49.

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dem Verkehr mit der Kinderwelt unter Fröbelscher Leitung Bleibendes

gewonnen? Mehr als die meisten Frauen ihrer Zeit mußte Lenriette an dem gänzlichen Mangel einer wissenschaftlichen Schulung des weiblichen Intellekts leiden. Ihre Naturanlage neigte zur Gedankentiefe und diese ward (wie wir schon wissen) durch das Elternhaus ftüh angeregt, durch ihre lange Kränklichkeit und intellektuelle Einsamkeit sehr genährt, ohne daß die Vorbedingungen zu einer philosophischen Bildung erfüllt werden konnten. Ihr fehlte der positive Stoff des Wissens und damit das Material zum Denken. So arbeitete der denkende Geist wie eine sich bewegende Dreschmaschine, welche man mit leerem Stroh speist. Wahr­ lich, Tantalusqualen hat Lenriette durchlebt in ihrem Ringen nach einem für sie annehmbaren „Sinn des Lebens". Nach dem Aufenthalt bei Fröbel war dieser Entwicklungsprozeß noch lange nicht abgeschlossen, aber in dem bewegten Strom der Impulse, Gefühle und Gedanken bildet sich gewissermaßen ein Kristallisationspunkt, um welchen die Gesamt­ heit ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens sich bewegen. £lm den Wende­ punkt ihres geistigen Seins kurz zu bezeichnen, sagen wir: Sie gewinnt die Clemente ihrer späteren Lebensanschauung. Wir sehen aus ihrer Korrespondenz, wie die christlich-kirchlichen Dogmen ihres Elternhauses sich allmählich auflösen, indem sie in Berührung kommen mit der Fröbelschen Anschauungsweise der Gesetzmäßigkeit aller menschlichen Ent­ wicklung. Eine Zeitlang will Lenriette die „Versöhnung von Glauben und Wissen" gefunden haben, und sie sucht parallele Gedankenreihen in der Fröbelschen Erziehungslehre mit dem Neuen Testament. Allmählich bedient sie sich einer mehr philosophisch angehauchten Sprache, bei welcher die Terminologie der damals auf dem Gebiete der Geisteswissen­ schaften noch immer herrschenden philosophischen Schule unverkennbar ist. In ihrem mühsamen Tasten und Suchen nach einer wissenschaft­ lichen Grundlage für die Erziehung ahnt sie schon die Bedeutung der Naturwissenschaft für ein vertieftes Studium des menschlichen Wesens und fleht einen Freund an, ihr Unterricht in der „Anthropologie" zu geben, damit man mit dieser Lülfe „die Umrisse des inneren Menschen erkenne". Welche Fülle von neuen Anregungen dem empfänglichen Geiste des jungen Mädchens von 22 Jahren auch geboten ward, diese bewegten sich dennoch an der Peripherie ihres WesenS. Die Zenttalerkenntnis, welche der Umgang mit Fröbel und seinem Kreise zeitigte, war daS er»

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Kapitel 7.

wachende Bewußtsein der hohen Würde des weiblichen Geschlechts als Trägerin einer erziehlichen Mission in der menschlichen Gesellschaft. Diese Erkenntnis sollte keine Auflehnung gegen die Natur sein, mit welcher das weibliche Wesen so viel unmittelbarer verknüpft ist, als da­ männliche; wohl sollte sie aber eine innere Befreiung erzeugen, wenn die Naturgesetze in ihrer Enge als eine Fessel empfunden werden. Nicht die Gebärerin allein, sondern die Erzieherin eines brauchbaren Men­ schenkindes wird man im weiblichen Wesen der Zukunft ehren.

Kapitel 8.

In Liebenstein. Einleitendes,

rödel hatte bereits einigeWochen seinen vorübergehenden Wohnsitz in Liebenstein bezogen, als er wiederholt an Henriette schrieb und sie aufforderte, ihm zu folgen. Nur den Bitten der Eltern zufolge zögerte sie, die Reise anzutreten; die politischen Unruhen gaben den Eltern Anlaß zu Befürchtungen. In der dritten Woche des Monats Mai langte Henriette in Liebenftein an und ergriff mit Mut die Zügel des Haushaltes bei Fröbel, um sie Mitte September desselben Jahres in die Hände von Luise Levin, der späteren Gattin Fröbels, zu legen. Das Leben in Liebenstein wurde von Henriettens Seite mit Begeisterung begonnen und mit einem für ein Mädchen von 22 Jahren eminent praktischen Blick durchgeführt; dafür reden die schlicht erzählten Tatsachen in Henriettens Briefen an die Eltern. Sie hatte aber wieder­ um ihre Körperkräfte überschätzt. Am so bedauerlicher war es, daß der Aufenthalt mit einem Bruch zwischen ihr und Fröbel endigt«. Zwar war die äußere Veranlassung zu dem Zerwürfnis trivial*), daß es sehr bald durch eine Versöhnung ausgeglichen werden konnte. Aber Henriette wurde durch den Vorfall hellsehend und lernte gegenüber gewissen Schwächen in Fröbels Charakter sich zur Wehr setzen. Jene schmerzliche Erkenntnis zerstörte weder ihren Glauben an die Wichtigkeit seiner Erziehungslehren noch das Gefühl tief empfundenen Dankes für den neuen Lebensinhalt, der ihr durch die Bekanntschaft mit Fröbel geworden. Ein weiterer Amstand trug dazu bei, den Aufenthalt in Liebenstein zu einer Zeit körperlicher und seelischer Erschütterungen für unsere Sennette zu machen. Dieser lag in der Umwandlung des Verhältnisses zum jungen Bendsen.Während eines Jahres hatte er ein vollständiges Still*) Fröbel wollte Henriettens Aufenthalt in den Ferien bestimmen und sie von den ihm entgegenwirkenden Einflüssen in Ketlhau fernhalten.

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Kapitel 8:

schweigen Lenrietten gegenüber beobachtet, trotzdem er sich die Erlaubnis erbeten hatte, eine Korrespondenz mit ihr zu führen. Wie die Sache

zusammenhing, wußte man nicht; der Krieg mit Dänemark und BendsenS notwendig gewordeneReise in die Leimat erschienen eine genügende Erklärung. Plötzlich erschien der verlorene Freund in Liebenstein ohne vorhergehende Ankündigung seinerRückkehr. Er erklärte, sein Verhältnis zu Alwine Middendorf sei vorbei, er wolle von jetzt an sich den Fröbelschen Bestrebungen anschließen. Fröbel brauchte junge Kräfte und

überttug ihm das Amt des Herausgebers seines eben zu gründenden Blattes. Bei Lenriette mußte die Frage aufkommen, ob sie ohneWissen und Willen nicht dazu beigettagen habe, Alwinens Glück zu zerstören. Allein Alwine selbst sowie der Bruder und Vater Middendorf sprachen Lenriette frei, und so mußte sie annehmen, die veränderten Beziehun­ gen beruhten auf Alwinens freiem Entschlüsse. Wenige Monate später verlobte sich diese mit einem andern Lerrn in Hamburg, den sie auch heiratete. Nicht wenig wurde die Anbehaglichkeit des Liebensteiner Aufent­ halts zuletzt gesteigert durch FröbelS eigene Anruhe, durch den fortwäh­ renden Wechsel in seinen Plänen für die allernächste Zukunst. Lenriette Breymann sollte an nicht weniger als fünf verschiedenen Stellen für seine Idee arbeiten innerhalb der Zeit vom Frühjahr 1849 bis zum Sommer 1851, und kaum hatte sie das Interesse der Eltern und Freunde für ein Projekt in Beschlag genommen, Beziehungen angeknüpst und andere Leute angeregt, Veranstaltungen zu tteffen, so tauchte ein neuer Plan auf, der sich nicht immer mit den schon eingegangenen »ertrug. Wenn man auch dem Genie Rechnung tragen muß, das, von einer unbezwinglichen Gewalt getrieben, sein Werk der Welt zu offenbaren sucht; wenn man sich auch die innere Anruhe Fröbels damit erklären kann, daß einem beinahe 70 jährigen Greise wenig Zeit zur Sicherstellung seiner Ideen bleibt, so sahen doch die Freunde seiner Sache mit Trauer, wie er oft sein eigenes Werk durch hastiges Vorgehen und Abspringen wieder zerstörte. Namentlich wurden einfacher veranlagte Naturen, denen eS nicht gegeben war, Fröbels genialem Schwünge zu folgen, trotz der redlichsten Absichten, ihn zu verstehen, an ihm irre. Lenriette Hal fortan lange Jahre hindurch mit dem steigenden Mißttauen ihresVaters gegen alles, was von Fröbel herrührte, zu kämpfen gehabt. Nach einer heftigen Szene mit Fröbel und Luise Levin war Lenriette stoh, das wahrhast mütterliche Angebot der Tante Lindau^

In Liebenstein.

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bei ihr in Mühlhausen (Thüringen) eine Zeitlang zu verweilen, anzu­ nehmen. Anter den beruhigenden Einflüssen eines geregelten, wohl­ habenden Laufes wurde Lenriettens Zustand sehr gehoben; aber auch den seelischen Bedürfnissen des jungen Mädchens brachten Tante und Onkel Lindau ein liebevolles Verständnis entgegen, indem sie die Gast­ freiheit ihres Laufes auf Bendsen erstreckten und zugleich in Lenriette die Loffnung anregten, daß ihre Gegenwart in Mühlhausen für die Einführung der Kindergärten wirksam werden konnte. In Mühlhausen wurden in lebhaftem Briefwechsel mit den Eltern in Mahlum, in freiem vertraulichen Austausch mit dem Ehepaar Lindau, die Lebensaussichten und -Pläne von Lenriette und dem jungen Bendsen besprochen. Letz­ terer wollt« auf Lenriettens Umgang nicht verzichten, sowenig wie er sich darauf einlassen wollte, sich irgendwie fest zu binden. Ebenfalls erklärte sich Lenriette gegen jedeS Versprechen, welches der freien Ent­ wicklung eines Verhältnisses eine Fessel werden könnte. Mehr dem Drängen der Eltern und Verwandten als dem Wunsche der nächst Beteiligten entsprechend, kam es zu einer Verlobung zwischen Lenriette Breymann und Marius Bendsen. Der Vater Breymann besonders verlangte „eine allgemein verständliche Form des Verkehrs", und so kehtte Lenriette als Braut in das elterliche Laus zurück. Innerhalb deS eben skizzierten Zeittahmens in Liebenstein bewegt sich ein für die Erziehungsgeschichte interessantes Leben, welches Len­ riettens damals geschriebene Briefe getteulich widerspiegeln. DieÄuße-

mögen über Fröbel muß man als Augenblicksbilder betrachten, die vielleicht in späteren Jahren mit größerer Objektivität gezeichnet worden wären; doch auch die unmittelbaren Eindrücke von einer geschichtlichen Persönlichkeit haben ihren großen Wert, wenn man sie eben als solche zu benutzen versteht.

Brief«.

Lenriette an ihre Mutter. Bad Liebenstein, 31. Mai 1849. Es tut mir wirklich leid. Euch und besonders Dich, geliebte Mutter, so lange ohne Nachricht gelassen zu haben... Die Natur hat hier alles getan, um des Oheims Anlernehmen zu fördern; «S ist reizend hier, viel schöner als in Keilhau. Wenn nur die Menschen das ihrige tun, dann wird das Werk schon gelingen, aber die neuesten Ereignisse*) greifen *) Revolution in Dresden.

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Kapitel 8:

vorerst bitter in die äußeren Verhältnisse ein, und Fröbel ist nicht der Mann, der sie an der rechten Seite anzufassen vermag. Lätte ich nicht diese und noch eine schwere, drückende Sorge, dann wäre ich hier recht glücklich. Bekommt Fröbel fürs erste Schülerinnen, dann wird schon alles gut werden; bleiben diese aber aus, dann begreife ich nicht, wie eS werden soll. Doch er spricht: „Die Sachen werden sich einzig schön machen" und scheint sehr heiter und vergnügt. Doch ich weiß schon, wie ich es anzufangen habe Mutter, ich habe hier eine sehr wichtige Stellung, wenn ich nur Einsicht genug besitze, sie auszufüllen. Es war hohe Zeit, daß ich kam, denn es bestanden Einrichtungen, die in keiner Weise so bleiben durften und konnten. In meinen Sorgen finde ich nun freundliche Unterstützung an der Frau Inspektorin Müller, einer würdigen Matrone, und Emma B othmann, einem feinen, beschei­ denen Mädchen und auch in gewisser Weise an Wilhelm*). Mit der Frau Müller habe ich heute eine lange Unterredung gehabt und sie gebeten, mir mit Rat beizustehen, wie ich die Einrichtung am billigsten machen kann. Bisher haben sie, denke Dir, an der Table d'hote gegessen, sich von morgens bis abends bedienen lassen. Dies habe ich erst einmal abgestellt und werde bis zu Luisens Ankunft ungefähr folgende Einrich­ tung treffen: Mittags lassen wir uns speisen: Suppe und noch ein Gericht. Unser einfaches Abendessen, sowie Kaffee und die übrigen kleinen häuslichen Geschäfte besorge ich selbst. Ich werde auch Sonn­ abends in Eisenach die notwendigsten Einkäufe an Lausgcrät machen, da es sehr teuer kommt, wenn wir uns dieses alles leihen. Nächste Woche werde ich auch Zeichen- nnd französischen Unterricht mit zwei Mädchen und einem Knaben beginnen, die uns später gewiß ganz übergeben werden, wenn die äußerenVerhältnisse**) nur etwasbestimmterwerden. O, meine gute Mutter, es macht mir innige Freude, nicht bloß für die schöne Idee der Kindergärten zu sprechen, sondern auch körperlich zu arbeiten, zu entbehren I Frau Müller hat mir recht guten Mut eingesprochen, und der Badearzt, leider ein junger, unverheirateter Mann, interessiert sich ungemein für die Fröbel-Sache und hat sich schon erboten, über alles, was in sein Fach schlägt, Vortrag zu halten. Leute hatte ich die unendlich große Freude, eine Schar Keilhauer *) Wilhelm Middendorf Sohn. *♦) Fröbel wollte nach einigen baulichen Veränderungen das Jagd­ schloß Mariental mieten, Luise Levin heiraten und dort sein Leim gründen.

In Liebenstein.

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mit ihrem Lehrer Lermann hier zu sehen und von meinen dortigen Freunden und unserer Marie zu hören. Sie frühstückten bei uns: Dresbettet Geburtstagstorte und Wein; mittags aßen wir an der Tadle d'höte (im Kurhause). Ach, an Briefen und Besuchen ist kein Mangel 1

Ich bin so voller Sorgen und Gedanken, daß ich kaum schreiben kann, aber dies drückt mich nicht nieder, nein, es erhebt, es trägt mich I Wenn unser Werk gelingt, wird man sagen: „Ja, die Lenriette ist doch treu." Mißlingt es, so spricht man achselzuckend: „Nun, die Lenriette lebte immer nur in Idealen und hatte Lust zu Abenteuern" Dr. Lertz ist gefänglich eingezogen und mit dem Kindergarten der Frau soll es sehr mißlich stehen. K. ist in London, sonst ist, soviel ich weiß, alles beim alten. Wie gesagt, ich bin gar nicht gesammelt zum Schreiben Denke Dir, Alwine ist so leidend, daß sie ganz ihrer Gesundheit leben soll, und ztoar wünschen ihre Eltern, sie soll nach Lochgräfes gehen; ich habe aber heute mitWilhelm gesprochen, und wir sind beide derMeinung, daß er seinem Vater vorschlägt, man solle Alwine die Wahl lassen, ob sie hier oder in Keilhau leben will. Am 1. Juli kommt Luise; o, wäre sie schon dal Eben kommt Wilhelm ganz in Eifer, mir den Plan auszureden, selbst die Besorgungen zu übernehmen. Er glaubt, ich würde wenig er­ sparen. Als ich ihm sagte, Frau Müller verlange 100 Gulden für ein halbes Jahr Miete, meinte er, ich solle ein anderes eben leer stehendes Laus nehmen, ohne dein Oheim ein Wort vorher zu sagen, er würde dann schon folgen. Wilhelm ist ein kluger Kopf, aber das Feuer der Ju­ gend lodert noch darin und man muß ihn etwas leiten. Ich will jetzt einen Gang auf die Burg machen, um mich an dem herrlichen Abend zu erquicken. Mutter, Marie und Anna, auch Dorette bekommen bald den ver­ sprochenen, lustigen Brief; ich werde morgen wieder anfangen, an Eüch zu schreiben. Allen Kindern einen zärtlichen Kuß. Wie und wann kommt Karl wieder? Dem Vater viele, viele Grüße.

Mit diesem Briefe wirst Du so wenig zufrieden sein, wie ich es bin, aber es ist mir nicht möglich, mehr und vernünftiger zu schreiben. Könntest Du mir doch meinen Nähtisch mitschicken; meine aus­ gearbeiteten Vorträge muß ich haben. Lebe wohl. Du teure guteMutter.

Ewig Deine Lenriette.

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Kapitel 8:

Lenriette an die Mutter. Bad Liebenstein, 12. Juni 1849

Es hat mich diese Tage schon immer gemahnt. Dir zu schreiben,

meine Mutter, mein früherer Brief von hier war so unvollständig. Denn zu neu, zn fremd ttat mir alles hier entgegen, und das äußere Leben war wenig geeignet, mein Inneres zu ordnen und zu beruhigen.

Ich bin nun gestern schon 14 Tage hier und fühle mich glücklich und zufrieden, denn ich wirke aus Liebe und Freiheit; aus Liebe zu der

Idee und aus eigener Selbstbestimmung habe ich alle die kleinen Sorgen und Geschäfte übernommen, welche die Führung unseres Laushaltes erheischt.

Der Oheim ist auf der einen Seite nicht einmal recht damit

-uftieden; er sähe lieber, daß ich ganz frei wäre; aber ich habe ernst

drein gesprochen, daß wenn wir die kleinen, äußeren Dinge nicht beach­

ten, wir nimmer zu den großen gelangen, welche er seinem Plane nach ausführen will. Er sagte mir mehrere Male, ich sollte mich nach einer hübschen, flinken Bedienung umsehen, aber bis jetzt habe ich alles selbst übernommen, was im Lause zu tun war. Die Zeit, ehe ich kam, hat ihm schon so viel getestet, daß er zusetzen muß, obgleich er bei einer sparsa.

meren Einrichtung wohl hätte auskommen können. . . . Ich will Dir nun erzählen, wie ich bis jetzt meine Tage verlebt, und wie ich sie künftig zu verleben gedenke. Wir wohnen auf dem Gute, kaum 5 Minuten von dem schönen Kurhause. Ein großer geräumiger

Los, dessen vierte Seite von diesem Gutshause gebildet wird; der Laupt» eingang ist vom Lose aus, eine breite, steinerne Treppe führt hinein,

links von dieser steht eine schöne Linde und unter ihr eine Bank. Das Laus ist groß, geräumig, aber unvorteilhaft gebaut, da fast jedes Zim­ mer nur einen Eingang hat. Rechts und links vom Laupteingange sind

zwei lange Gänge, auf welche die Zimmer münden; die letzte Tür des rechten Ganges fithrt in mein Bereich; links die Gesindestuben und die

Küche, dann die Treppe. Das obere Stockwerk gleicht dem unteren und der Oheim hat die beiden Zimmer oben, welche wir unten bewohnen. Da aber im oberen Stock die eine Kammer größer ist, wollen wir morgen mit den Wohnungen wechseln, weil ich Freitag die beiden Gössels,

Rosalie Reinhard und Amalie Mattfeld abholen werde; später kommt

Luise, und Amalie Mattfeld wird den Kindergarten hier leiten. Diesen Sommer ist dieses wirklich reizende Bad sehr besucht, wir sind daher etwa- beschränkt mit der Wohnung, Überhaupt ist daS Leben

In Liebenstein.

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hier nicht billig, überall Badepreise, aber dafür manche Annehmlich­ keiten, die kein Dorf, keine Stadt vereinigen. Der Winter wird es ausgleichen, wo die Leute froh sind, wenigstens etwas zu verdienen. Die Frau Inspektorin Müller ist Pächterin des ganzen Bades und dieses Gutes, welches ihr Sohn mit seiner jungen Frau bewirt­ schaftet; sie wohnen hier im Lause. Die Kurhäuser und Anlagen sind einzig schön, und ich kann es den Leuten nicht verdenken, die hier zu ihrem Vergnügen leben. Doch, ich möchte in keinem anderen Lause wohnen als hier, es liegt abseits des Badelebens in ländlicher Stille; man kann gehen, wie und wo man will. Dicht hinter dem Lause führt ein hübscher breiter Sandweg in ein nahes Tannenhölzchen, und hinter diesem Wege erhebt sich ein Nasenhang, auf dem schöne, kräftige Obstbäume grünen und reiche Früchte tragen. Anter diesen nicken die hohen Noggenähren im Lauch der Winde, und wenn man einen schmalen Fußsteig in dem Felde die Berglehne hinauf gestiegen ist, ruht man unter schlanken, jungen Birken. Dieses Wäldchen zieht sich eine ziemlich lange Strecke am Felde entlang, und man hat dort den reizendsten Spaziergang. Es ist immer meine schönste Stunde, wenn ich dort durch die Anlagen am Kurhause den dunkeln Buchengang zu den Trümmern der Burg Liebenstein wandle, oder im tiefen Tale sitze und dem schäumenden Wasserfalle zuschaue, der wohl so hoch wie unser Laus hinunterstürzt. Ach, es gibt der schönen Partien hier so viele, daß man jeden Tag einen andern Ort in seiner eigentümlichen Schönheit aufsuchen könnte. Wilhelm ist gewöhnlich mein treuer Begleiter; wir vertragen uns sehr gut, sprechen viel von Keilhau, von Alwine, von Marius, oder raisonieren über dieses und jenes, und da haben wir oft herzlich gelacht. Auch morgens in der Stunde platzen wir nach vergeblichen Anstren­ gungen, unsere Fröhlichkeit zu mäßigen, oft los, und ich wundere mich nur, daß der Oheim nicht böse darüber wird. Emma Bothmann muß oft wider Willen lächeln und es freut mich allemal, wenn sich ihr melancholisches Gesicht einmal erhellt. Nun zu den kleinen Geschäften des Tages: Morgens stehe ich selten vor, aber gleich nach 6 Ahr auf, mache mein und des Oheims Bett, fege seine Stube und Kammer und die unsrige. Dann mache ich den Kaffee, ziehe mich um, und Emma und ich gehen mit dem Kaffee hinauf. Während desselben liest der Oheim aus dem Laienbrevier vor und erklärt es zu unserer größten Qual. Wenn wir halb damit fertig L y s ch i n s k a, Henriette Schröder I.

9

Kapitel 8.

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sind, kommt gewöhnlich Wilhelm, und zum Entsetzen aller beginnt der Oheim von vorn wieder. Wir geben uns die größte Mühe, nicht zu

lachen. Von 9—11 Ahr haben wir Stunde, von 11—12 kommen die

Kinder, unter denen zwei von der Frau Inspektorin und zwei vom

Postverwalter sind. Am 12 Ahr spüle ich die Gläser und Tassen, bringe

stcischeS Wasser in di« Zimmer, putze Messer und Gabeln, mache Kaffee für später, decke den Tisch, und eS finden fich hie und da noch kleine

Geschäfte, so daß es gewöhnlich 1 Ahr ist, bis ich alles in Ordnung habe. Dann kommt unser wirklich sehr gutes Mittagsessen aus dem Kurhause. Nach demselben bringe ich gleich den Kaffee, spüle dann

alles Geschirr und ruhe mich ein bißchen aus. Von 5—6 kommen die

Kinder wieder, da ziehe ich mich aber gern zurück und lasse den Oheim allein, oder mit Emma, denn ich backe oder brate fitr den Abend etwas aus. den Resten d«S Mittagessens und bin schon oft wegen meiner

Kochkunst sehr gelobt. Besonders schmeckt dem Oheim das kalte Rind­ fleisch in der Eiersauce sehr, und dies macht mir nun wirklich Freude. Ich habe mir nun kleine Vorräte angeschafft und bin verzweifelt sparsam. Wenn aber Luise kommt, will ich ihr dies Regiment mit Freuden abtteten. Ich fürchte mich schon, für die vielen Personen etwas

herbeizuschaffen, doch da lasse ich mittags zwei Portionen weniger als

Personen holen, denn wir bekommen sehr reichlich und nehmen dafür abends einiges; im Kurhause kann man alles haben. Nach dem Abendessen räume ich alles wieder fort und gehe dann bis gegen 10 Ahr spazieren oder schreibe. Wilhelm kommt gewöhnlich

gegen abend, wir gehen zusammen, oder auch mitE-, wenn sie Lust hat. Letztens waren wir auf der Burg und sahen ein Gewitter heran­ ziehen; das war ein herrücher Anblick. Lebhafter wird es durch die neu hinzukommenden Mädchen, aber

ob angenehmer? .... Auf eine lustige Reisebeschreibung nach Eisenach, teilweise zu Fuß könnt Ihr Euch freuen, aber Ihr müßt Geduld haben; auch in Mühla waren wir, ganz nah Mühlhausen,

wo Tante und Onkel Lindau wohnen. Wenn es also dem Vater Freude macht, daß ich die Verwandten besuche, so kann ich das von

hier in einem Tage tun.

Nächstens will der Oheim mit mir nach Meiningen, und wenn Wilhelms Augen sich bessern, wollen wir zusammen nach Keilhau. ..... Noch etwas, liebe Mutter, ich bitte um ein Dutzend grob leinener Tücher zum Trocknen des Geschirrs; ich habe es bis jetzt mit

In Lieben stein.

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meinen Küchenschürzen getan, es wird aber so nicht mehr gehen, und Luise kommt nicht vor 3 Wochen. Sie wird Euch Ende Juni oder Anfang Juli besuchen. Da sie über Osterode reist, habe ich sie darum gebeten . . . Teure Mutter, meine Briefe an Dich sind für Dich, nicht wahr, es werden darin Verhältnisse berührt, die ost leicht mißverstanden werden könnten .... Die jungen Mädchen bei Dir müssen mir alle Witze schreiben, ich freue mich darüber. Lebt wohl. Es liebt Dich immer und ewig Deine Sentierte.

Senriette an die Eltern. Dad Liebenstein, d. 29. Juni 1849. Unsere Sache, meine teuren Eltern, nimmt nach außen hin einen so guten Fortgang, wie ich es nur zu hoffen wagte. Jede Woche mehren sich die Schülerinnen und wir erwarten mit den ersten Tagen des Juli außer unserer Luise noch zwei andere junge Damen, und so wie nach außen, findet auch hier in dem Orte die Sache vielen Anklang. Der Oheim ist schon aufgefordert, von den hohen und höchsten Herrschaften, einen öffentlichen Vortrag zu halten, dagegen bin ich ent­ schieden. Warum ich Euch heute schreibe, ist besonders wegen einer Frau v. Marenholtz-Bülow aus Braunschweig. Sie zeigt eine ganz außer­ ordentliche Teilnahme und nimmt selbst mit ihrer Stieftochter teil am Kursus. Sie bearbeitet die Herzöge von Meiningen und Weimar für unsere Pläne, und wenn Gott seinen Segen weiter gibt, so wird die Sache wohl gelingen. Ob die große Anstalt hier zur Ausführung kommt, ist noch die Frage, da es gänzlich an Lokalen fehlt und das Bad sehr besucht ist; aber ein Kindergarten und eine Bildungsschule für Mädchen wird wohl hier für immer bleiben. Wir sind hier im Äerzogtum Meiningen, und der Herzog ist so gedrückt, steht so schlecht, daß es ihm kaum möglich ist, mehr für die Sache Fröbels zu tun, als ein Lokal für den Kindergarten zu geben. Anders ist es mit dem Herzog von Weimar und vielleicht kommt noch vor den Toren seiner Hauptstadt, oder in Eisenach die Idee zur Ausführung; doch bis jetzt wird alle- für Liebenstein angenommen. Gestern war Ihre Hoheit Herzogin Ida nebst Tochter hier, und, wie wir von Frau v. MarenHoltz hörten, soll sie sehr befriedigt sein. Sie wohnt im Sommer hier im Bade, Mariechen Bamberg wird Euch schon Auskunft geben, wer sie ist. Der Oheim war schon mehrer« Male zu ihr gerufen, sie harte 9*

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Kapitel 8:

sich nach allem sehr genau erkundigt und gewünscht, daß ich ihr vorgestellt würde. Unser Kindergarten ist im besten Gange und A. M. seit dem 15. hier, um ihn -u führen .... Vor 3 Wochen war eine Frau Ehlers mit ihrem Gemahl aus Hamburg hier, und diese Dame schreibt vor einigen Tagen an Fröbel wie folgt: „Ich kann meiner Tochter Helene keine bessere Ausstattung zu ihrem künftigen Beruf als Gattin und Mutter mitgeben, als wenn ich sie einführs in das, was dem Weibe Bestimmung ist. Obgleich nur wenige Augenblicke mir vergönnt waren, bei Ihnen zu sein, so bin ich doch von dem geregelten, naturgemäßen Gange Ihrer Methode ergriffen und begeistert, und ich kann es mir nicht versagen, selbst einige Zeit in Ihrem Kreise zuzubringen und auch meiner Helene den Abschied von den Ihrigen zu erleichtern. Bei Ihnen wird sie finden, was ihr not tut für ihr späteres Leben, und ich bitte Sie, sie als Ihre Schülerin aufzunehmen." Daß man des Oheims Idee von dieser Seite auffaffe, war lange mein Wunsch, und da ihm Äambürg entgegenkommt, so können wir viel hoffen, denn dort finden sich Mittel zur Ausführung seiner Ideen und Wünsche. Was für Pläne der Oheim für die Zukunft hat, weiß ich noch gar nicht. Von andern (nicht von ihm selbst), hörte ich, er habe mit dem Dr. Dettmer abge­ schlossen, den Winter in Hamburg zu lehren, da man ihm höchst ange­ nehme Vorschläge gemacht habe. Als ich ihm sagte: „Nun, dann kann ich wohl zu Laus schreiben, daß ich Michaelis wiederkomme", ant­ wortete er mir: „Im Gegenteil, ich brauche tiichtige Menschen, die meine Sache hier fortführen, und es kommen Männer her, die mich ersetzen werden. Ja, ich könnte Dir das ganze innerste Leben offenbaren, aber wozu Dein Gemüt mit unnötigen Sorgen beschweren; gehe Du dem Leben ruhig nach." Was für Männer dies nun in aller Welt sein mögen, weiß ich nicht; doch es ist mir einerlei, mag da kommen, waS da will, ich bin jetzt leider (oder gottlob) in einer kalten, indiffe­ renten Stimmung .... Wenn Luise kommt, wird es mir in jeder Hinsicht wohler werden. Auch körperlich fühle ich mich recht angegriffen, und Ihr seid gewiß damit einverstanden, daß ich, wenn sie es auch für nötig hält, eine Badekur gebrauche. Jetzt bliebe mir dazu keine Zeit, so wie ich später keine Lust dazu habe; aber es ist mir unangenehm, den Leuten als erschrecklich eigenfinnig zu erscheinen, denn jeder, der mich sieht, meint, es sei meine erste Pflicht und Schuldigkeit, etwas Besonderes für meine Gesundheit zu tun. Es ist nur Bleichsucht, mein altes

3n Liebenstein.

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Leiden .... Meine Luise wird mir eine pflegende Mutter werden; wir erwarten fie Sonntag über 8 Tage. Es ist gut für mich, daß ich so viel zu tun habe. Wenn Luise kommt, wird fie, denke ich, ein Mädchen mieten und selbst kochen; es wird dies votteilhaster sein. Jetzt habe ich nur eine Frau zum Schuhputzen und mittags und abends zum Abwaschen, ich wollte Luisen in keiner Weise vorgreifen .... Gute Nacht, schlaft wohl! Es wird von Euch träumen Eure Lenriette.

Lenriette an die Mutter. Bad-Liebenstein, 9. Juli 1849. Meine liebe, teure Mutter. Es sucht heute bei der drückenden Litze Deine Lenriette eine Erquickung in dem Schreiben an Dich, und ich fühle schon neue Frisch« in mir bei dem lebhaften Gedanken an Dich. Reich waren die letzten Tage für mich in Freude jeder Art; ich fiihle mein Lerz wieder warm schlagen, fähig zu Lust und Schmerz. Am Donnerstag erhielt ich Eure lieben Briefe und die Kiste, und jedes Stück sprach von Eurer Liebe und weckte in mir innigen Dank für alles, alles. Lerzlich danke ich Dir, meine Mutter, meinem Vater, den Schwestern und Freundinnen, sprich ihnen allen Dank in meinem Namen aus. Freitag kam Luise.... Leute mußte ich mich mit Frau von Marenholtz unterhalten ... wieder kamen zwei Damen, die sich zum Kursus meldeten. Denke Dir, die Frau Lüttenmeister Breymann aus Oker ist hier mit zwei Knaben, wenigstens so erzählte mir der Doktor; ob ich sie wohl aufsuche? Suche doch Rauterbergs zu bewegen, ihre Reise hierher auszuführen. Ach, wenn nur bald noch junge, geistreiche Männer, die die Sache mit Energie ergreifen würden, in den Kursus eintteten und dann in daS Leben einführen wollten! Der Oheim ist doch schon recht ält, und es wird mir bei jedem kleinen Anwohlsein so angst. Amalie sagte mir: „Mir ist bange um Fröbel, ich glaube nicht, daß er nach Lamburg kommt, und meine Ahnungen haben mich selten betrogen I" O, dies wäre ein harter Schlag! Doch, Gott wird alles zum besten leiten. Der Doktor nimmt sein jetziges Anwohlsein sehr leicht, hat ihm nicht einmal Medizin verordnet. 11. Juli. Vorerst Dank, tausend Dank fltr Eure Liebe, die mir heute so unerwattet entgegenttat. Es ist nun auch mein erstes Geschäft,

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Kapitel 8:

diesen Brief zu vollenden. Wie reich, wie unendlich reich bin ich immer,

wie fühl« ich dies jetzt wieder von neuem aus tiefster Seele I

Mit dem Oheim geht es bedeutend besser, und auch ich fühle mich wohl; es waren wohl die Folgen der anstrengenden Touren, die wir ge­

macht. Was möchte ich Dir nicht alles schreiben, nun will ich Dir wenig­

stens Deine Fragen beantworten ... Ich habe kein Vertrauen, auch keine Luft zu der Badekur, und da Luise mich so viel wohler, gesünder

findet, als in Keilha«, so kann ich eS vorerst unterlassen, werde aber die

5 Taler vorerst für solche Fälle sorgfältig aufbewahren. O, wie hat mich Eure rührende Sorge erfreut. Ach, ich bin viel zu geringe aller der Treue und Barmherzigkeit, die Ihr an mir tut. Ja, wahrlich, Ihr Geliebten, das fühle ich in solchen Stunden mit beschämender Demut. Ja, meine Mutter, Du sollst stets meine erste, mein vertrauteste Freundin sein ... Henriette an die Eltern.

Bad-Liebenstein, Juli 1849. Meine geliebten Eltern! Immer interessanter, immer reger wird hier das Leben. Ein neuer Stern ist an unserm Kimmel aufgegangen und beginnt für uns zu

strahlen. Es ist der Dr. Diesterweg. Die bisher größte und stillwirkende Opposition gegen Fröbelsche Kindergärten ist durch einen Vortrag Fröbels gewonnen, und Diesterweg ist jetzt hier, um zu hören, zu lernen und später für Fröbels Ideen zu wirken. Am 10. d. M. war ein recht bewegter Tag. Schon morgens um

10 Ahr versammelte sich ein Kreis teilnehmender Frauen: Frau von Marenholtz, Frau Dr. Ascher, Frl. Gräser, die beiden Töchter von Die­ sterweg, sowie er selbst. Ich muß gestehen, ich setzte mich nicht ohne Zagen nieder, denn ich weiß, wie leicht Fröbel mißverstanden wird, ehe man ihn einmal verstanden hat, und wie schwer es ihm wird, einen Gedanken

ruhig zu Ende zu führen, da ihm immer neue Gedanken quellen. Doch, noch nie war seine Rede so kurz, so klar, wie an diesem Morgen; noch nie

seine Anschauungen so verständlich, und ich schreibe dieses erfreuliche Resultat dem geschlossenen Kreise zu, aus dem keine störenden Elemente

verneinend auf den Oheim einwirkten. Man konnte sagen, der Samen

fiel auf guten Boden, und war auch hie und da kein klares Verständnis, so wurden doch die Worte gewiß füll im Kerzen behalten, und müssen sie

auch lange im Dunkeln, scheinbar leblos liegen, ein späterer Sonnenstrahl

ruft die Keime, Blätter, Blüten und Frucht dennoch einmal ans Licht.

In Liebenstein.

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Diesterweg war gewonnen und hatte sich sehr eingehend darüber

gegen Frau von Marenholtz ausgesprochen: „Es muß ein kräftiger Kern zu Grunde liegen, ich will ihn erforschen." And er ist entschlossen, noch längere Zeit hier zu bleiben, um nur ganz der Fröbelsache zu leben

und in sie einzudringen. Lier wird es angebracht sein, eine kurze Beschreibung von dem Manne zu geben, der als einer der ersten Pädagogen jedem wenigstens durch seine Schriften und Lehrbücher bekannt ist. Es war mir höchst interessant, sein Gesicht während des Vorttages zu beobachten. Er ist mittlerer Größe, untersetzt gebaut, trägt einen

blaugrauen Rock, und sein Gesicht macht, besonders im Profil den Ein­

druck eines in sich und über die Außenwelt klaren Menschen. Seine Stirn ist hoch, schön gewölbt, die Nase scharf gebogen, die Augen klar,

klein, blitzend. Der Mund ist klein, scharf zusammengekniffen, und der Zug, der um diesen spielt, der sich oft spöttisch, oft bitter, oft freundlich,

oft lustig zeigt, dieser Zug der Mundwinkel, kann einem Physignomiker

eine ganze Geschichte erzählen: Von hohen Triumphen, welche ein Mensch genießen, von bitterer Zurücksetzung, welche jemand erfahren kann, und daß es dennoch trotz Kämpfen und Stürmen im menschlichen Leben möglich ist, eine heitere Anschauung von demselben zu behalten

oder besser, sich über dasselbe zu erringen; wie es aber auf der andern Seite zuweilen nötig ist, sich in den Mantel der Kälte und des Spottes

zu hüllen, um sich nicht bitter enttäuscht zu finden. Diesterwegs ganze Erscheinung macht den Eindruck eines genialen,

originellen Menschen, und ich habe schon einigeMale Gelegenheit gehabt,

zu bemerken, daß ich mich nicht irrte. Der Vorttag von Fröbel und die praktische Darlegung der darin

ausgesprochenen Lebenswahrheiten befriedigten alle. Ich habe nach No-

tizen den Vortrag ausgearbeitet. Frau von Marenholtz wollte den Vor­ ttag von mir haben und ihn der regierenden Herzogin vorlegen, welche

es sehr bedauert haben soll, daß sie an dem Morgen nicht anwesend war. Sie kam nachmittags mit der Herzogin Ida und deren beiden Töchtern, und alle sahen dem Spiele der Kinder zu. Unsere Cousine aus Oker mit ihren beiden Knaben war auch hier, und da es später abends so sehr regnete, ließen die hohen Gäste zwei Wagen kommen und fuhren die Cou­

sine mit vor ihre Wohnung, welche nicht weit vom Palais ist. Die Herzogin von Meiningen hat auf mich einen angenehmen Ein­

druck gemacht... Die hohe, feste Gestalt, die fast männlichen, doch nicht

136

Kapitel 8:

unschönen Züge drücken vielleicht mehr Stolz als Herrschsucht aus. Die

Prinzessinnen, eine 20, die andere vielleicht 22 Jahre, sind ganz niedliche, seine Gesichter und schlanke, hohe Figuren, die eine blond und die andere dunkel. Ob sie sich auf irgend eine Weise auszeichnen, oder zu den Men­

schen gehören, die sich auf der Oberfläche des Lebens dahin treiben lassen,

weiß ich nicht. Sie begrüßten mich alle sehr freundlich als Großnichte Fröbels und erkundigten sich nach meinem Befinden. Es ist überhaupt lächerlich, wie alle Menschen sich so teilnehmend um meine Gesundheit

bekümmern, ehe sie mich selbst einmal kennen! Ich fürchtete an diesem Tage für den Oheim, denn am vorhergehenden hatte er erst das Bett verlassen; doch von seiner Sache zu reden, muß ihm Lebenslust sein,

denn je mehr er sprach, desto frischer, heiterer wurde er. Äerrn F., welcher

nachher kam, wies ich ab, doch diese Vorsicht nützt« nicht viel, denn es war bald Mitternacht, als der Oheim seine geschriebenen Briefe schloß.

Es ist merkwürdig, diese rastlose, immer weiterstrebende Tätigkeit. An­ dern Tags, schon früh morgens kam Diesterweg wieder mit Frau von Marenholtz, und ich erlebte eine schöne Stunde, indem ich, während der

Oheim zu den beiden redete, Sophie von Marenholtz aus meinen aus­

gearbeiteten Vorttägen vorlas und fühlte, wie alles in ihr«'. Seele nach­ klang. Dies Mädchen zieht mich ungemein an.

Ich hatte sehr fleißig an dem Vortrage zu schreiben, weil ich Frau v. M. versprochen, ihn ihr nachmittags zu bringen. Es kam allerlei Ab­

haltung, und als ich endlich fertig war, kam ein so heftiger Gewitter­ regen, daß es mir unmöglich war, meine Arbeit fortzutragen. Herr F. forderte uns auf um 8 Llhr abends in ein Konzert zu

gehen, welches die Steinbacher Natursänger im Konversationssaale des Kurhauses geben wollten. Da der Regen nachgelassen und der Abend recht schön war, schlossen sich mehrere von uns unter dem Schutze von Frau Ehlers ihm an, und wir bekamen die letzten Stühle. Ich hatte es nicht erwartet, eine so geputzte, steife Gesellschaft zu finden. Ziemlich ver-

wundert, fetzte ich mich nieder, ohne mich umzusehen. Als ich mich nach­ her orientieren wollte, erblickte ich im Sofa die Herzogin Ida und Frau

v. M., daneben ihre Tochter und die zwei Prinzessinnen. Wie ich sie ansah, grüßten sie steundlich und erhoben sich in einer Pause und kamen zu uns, um einige Wotte mit uns zu wechseln. Da standen wir Glücklichen, Beneideten inmitten des glänzenden Publikums, welches sich auch erhob.

Dieser Abend gab der Liebensteiner Dade-Klatschgesellschast viel Stoff zu Vermutungen, zu neidischen Reden, wovon mir das Gespräch des

In sieben stein.

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Äerrn Dr. M. am andern Morgen beim Spaziergange den Beweis lieferte. Denn außerdem, daß die Fürstinnen zwei Mal zu uns kamen, mit uns zu reden und sich nachher gnädigst empfahlen, saß Dr. Diester­ weg in unserem Kreise und ainüsierte mich mit seinen höchst witzigen, treffenden Bemerkungen, öfter lehnte sich der interessante Freund an

meinen Stuhl und flüsterte mir manches über das Publikum zu, was mich zum Lachen reizte, und den guten Leutchen wohl ein kleines Ärger­

nis gab. Doch am meisten amüsierte es mich, als Frau v. M. zu Diester­ weg kam, um ihn der Herzogin vorzustellen, über die er sich soeben in witzigen Redensarten ergangen. Er folgte mit dem ungeniein lächerlichen Zuge im Gesichte, mit Achselzucken, in seinem grauen Rocke, und indem er Frau v. M. an ihrem Caschmiermäntelchen zupfte und im kurz abgebrochenen Tone fragte: „Was muß ich denn sagen: Äoheit? Äoheit?" Nach einer Viertelstunde kam er ebenso lächelnd wieder mit den Worten: „Hab' wohl recht dummes Zeug gemacht, bin eher gegangen, als die Frau Herzogin mich entlassen, bin auch immer ein so einfältiger Kerl, na, muß mich trösten". Von dem Konzerte selbst hörte ich nur wenig, nur rief das letzte Quodlibet manch' alten Klang vergangener Zeiten in mir wach, und als wir gratis noch zu hören bekamen: „In einem Tale friedlich stille", dachte ich an mein liebes Schwesterlein Anna und konnte mich eines stillen Lächelns nicht erwehren. Aber andern Tages, als wir oben auf dem Altenstein in einer Grotte saßen, wo uns sanfte Dämmerung umgab und in das ernste Rauschen der alten Fichten vor derselben die zauberhaften Klänge einer Äolsharfe sich mischten, deren Saiten in der Spalte der Felsen aufgezogen waren; als ich da saß und die Augen schloß, da zog eilte tiefe, tiefe Sehnsucht in mein Äcrz, nach Euch, meine Geliebten in der Heimat; daß Ihr bei mir sein könntet, damit ich Herzen fände, an die sich das meinige in seinen mannigfachen Freuden und Schmerzen vertrauend anschließen könnte I Aber auch damit Ihr Euch mit mir freuen möchtet des mannigfachen Schönen, welches Eure Henriette hier genießt. Wer je einmal in der Märchenwelt gelebt, den müssen die Töne einer Äolsharfe das ganze, lustige bunte Zauberland der Elfen,

Feen und Gnomen vor die Augen führen; o, es war eine zauberische Stunde die ich dort in der Grotte auf dem Altenstein verlebte .... Diese kleinen Fürstentümer sind reich an herrlichen Landsitzen. Wenn ich Fürstin wäre, würde ich anstatt um äußere Herrschaft mich herumzu­ schlagen, das Land auf eine andere Weise zu erobern suchen, ein neues

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Kapitel 8:

Land zu entdecken suchen, ein zweites Amerika mit seinen Goldgruben und Schätzen. Ich würde einen Kindergarten im umfassenden Sinne in- Leben rufen. Frau von Marenholtz spricht darüber so sehr schön in einer kleinen Abhandlung über Oheims Bestrebungen, welches neben einem Anhänge von Wilhelm und mir gedruckt wird, betitelt: „Stimmen über Fröbels Bestrebungen Bad-Liebenstein im Juli." Sie hatte diese kleine Schrift Diesterweg zugeschickt, ohne ihren Namen zu nennen, um von ihm sein aufrichtiges Arteil zu hören; er schickte eS zurück mit der Bemerkung, die Schrift sei tadellos. Ich hoffe bestimmt. Euch diese Schrift, sowie meinen letzt ausgearbeiteten Vorttag schicken zu können, vielleicht wenn die Frau Breymann abreist. In ihr habe ich ein recht zartes, lieblicheS Wesen gefunden, die auch voll Vertrauen zu Fröbels Sache ist, die sie in ihrem reinen Gemüte schön erfaßt. Ihre Kinder besuchen häufig die Spielstunden und find sehr davon entzückt; sie sind recht aufgeweckt und munter. Die Mutter ist recht bekannt mit Diesterwegs geworden; es freut mich, auch ihr in unserm Kreise etwas bieten zu können, was ihr anziehend und ftisch entgegen tritt. Für mich ist es auch eine große Annehmlichkeit, auf meinen Morgenpromenaden in ihr eine liebe, an­ genehme Gesellschaft zu finden, denn seit 8 Tagen brauche ich die Molkenkur . . . Darf ich denn Anna, Karl und Mariechen Bamberg zum Setbft hier erwarten? Karl muß jedenfalls in seinen Ferien hierher kommen; es wird ihm in anderer Weise als in K. gefallen. Du würdest mich sehr erfreuen, wenn Du mir Pater Clemens und Dunallan schicken wolltest; wenn Marie aus Keilhau nach Saus reist, sollst Du die Bücher jedenfalls wieder haben. Nun lebet wohl und liebt ewig Eure Senriette. Bad Liebenstein, August 1849.

Die Spielstube ist jetzt immer mit Besuch überfüllt, kurz, es ist ein sehr reges Leben. Daß der Erbgroßherzog von Weimar bei uns war und der Oheim bei der Serzogin Ida zum Tee, wo er ihr einen Vorttag hielt und Spiele vorsührte, habe ich Dir wohl geschrieben. Ich wünschte. Du könntest die lieben Verwandten in Oker selbst sprechen, sie würden Euch manches erzählen, und es läge mir daran, ihr Urteil durch Euch zu hören. Infolge der hohen Besuche ist dem Oheim das Versprechen abgenommen, seine Anstalt im Großherzogtum Weimar auszufiihren.

In Lieben stein.

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Dies weckte die Rivalität, und Meiningen läßt ihm jeht Mariental an­ bieten, um daS er so viele vergebliche Schritte getan, das ihm erst zu­ gesagt, dann vorenthalten wurde. Diese Domäne liegt reizend, wie zu einer Anstalt geschaffen, doch Weimar darf der Oheim nicht fallen lassen. Mich soll wundern, wie es nächsten Winter hier wird; Luise, deren Nichte und ich bleiben hier, bis Mitte Dezember auch Gössels, und der Oheim hat sich verpflichtet am 1. November in Kamburg zu beginnen. Er erwartet in October einen jungen Mann, Luisens Neffen, der bisher in einer Buchhandlung in Berlin war; dieser soll auch im Winter hier sein und das Industrielle hier besorgen. Wenn die Herzogin nun nicht Schritte tut, einen Dorfkindergarten ins Leben zu rufen, dann kommt mir die Sache etwas seltsam vor, da ich nicht recht weiß, was ich hier be­ ginnen soll. Nach außen hin scheint es so sonderbar, obgleich ich einige ruhige Wintermonate nötig hätte zu ordnen, zu arbeiten und ich mir von Luisen noch manche praktische Fertigkeiten aneignen könnte, um die wir in Dresden betrogen sind. Vielleicht nehme ich bis zum Frühjahr eine Stelle an, woinöglich in Hamburg; wäret Ihr damit einverstanden? Entweder Ostern kommenden Jahres oder nie tritt Fröbels Anstalt ins Leben. Vis jeht beschränkt sich alles nur aufAusbildung der Schüler und Schülerinnen, und mir ahnt, als würde es sich nie weiter ausdehnen. Ich wünsche eS auch für Fröbel nicht, ich furchte für ihn dabei. Dastehen muß aber eine solche Anstalt, wie sie in seinem Innern lebt; denn der Mensch, der Staat, die Menschheit muß ein Vorbild haben. Der Oheim zweifelt noch keinen Augenblick an der Ausfiihrung und war wohl nie ge­ wisser in der Loffnung als jeht, da man ihm entgegen kommt, wie noch nie. Ich weiß nicht, ich erfahre immer mehr Täuschungen im Leben und sehe, wie die glänzendsten Hoffnungen nur leuchtende Luftgebilde wur­ den. Ich bin fest in mir, mich in der Sache der Kindergärten allseitig tüchtig zu machen, und dazu fehlt mir noch viel. Vor dem Friihjahr kehre ich nicht zurück in meine Leimat, wenn Ihr damit zufrieden seid; doch dann möchte ich für immer bei Euch bleiden und mit Euch gemeinsam wirken, d. h. wenn Fröbels Anstalt nicht so ins Leben tritt, daß es uns und der Sache förderlich wäre, wenn ich an ihr bleibe. 25. Übermorgen reisen nun die lieben Breymanns fort; ich kann

wohl sagen, eS tut mir sehr weh, wir haben uns recht an einander an­ geschlossen

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Kapitel 8:

Was hat sich, seitdem ich die letzten Zeilen schrieb, wieder in mir durchgearbeitet! Gottlob, ist mir manches klar geworden. Ich gehe jedenfalls diesen kommenden Winter fort von hier, ja, vielleicht in 14 Tagen l Was werdet Ihr dazu sagen? Doch Eurer Zustimmung bin ich gewiß, wenn ich Euch sage, daß Lindaus mich mitnehmen wollen, wenigstens erst aus einige Wochen zu Besuch. Es kann ja sein, daß wenn die Sachen sich in Mühlhausen gut machen, ich länger bleibe. Leute ist der Onkel Lindau gekommen. Ich sah ihn nur erst einige Minuten, da schloß er mich in seine Arme und sagte: „Komm, gib mir einen Kuß und denke, ich wäre Dein Vater 1" O, wie sie Dich alle so lieb haben, mein teurer Vater I Immer sieht mich die Tante Lindau so innig an und sagt: „Deine Augen versetzen mich so ganz in meine Jugendzeit I" Ich soll Dir, Vater, so ähnlich sehen. Der Oheim hält es für sehr wichtig, Mühlhausen zu gewinnen. Es ist keine andere, der es dort so leicht werden würde, wie mir. Die Zahl der Schülerinnen hier hat sich um zwei vermindert (Julie und Amalie gehen fort), Luise hat Zeik die übrigen zu beschäftigen. Die Kurgäste vermindern sich täglich, und ich sehne mich, in eine größere Tätigkeit zu taten, denn da die jungen Mädchen sich alle praktisch hier in den Spielstunden beschäftigen, so bleibt mir nur nach Amalien- Fortgang die Leitung überlassen, aber doch nicht das eigentliche Wirken. Es wäre auch wirklich unrecht von mir, hier den Winter in halber Antätigkeit zu verbringen, während so viele Anfragen wegen Schülerinnen an den Oheim gemacht werden. Er ist auch ganz mit mir einverstanden, und so schnüre ich bald mein Bündel. Es heißt, ich gehe zum Besuch, aber Gott gebe seinen Segen. Tante Lindau ist auch ganz für Fröbels Sache eingenommen, kommt täglich, tritt sogar beim Spiel mit ein und hebt den Gesang durch ihren schönen Alt. Leute war es wahrhaft erhebend; denke Dir, die Kin­ der brachten der Amalie Blumen und Kränze und es rührte alle An­ wesenden. Überhaupt bemerken wir mit Freuden eine große Veränderung an den armen Kindern; sie gehen jetzt nie mehr ungewaschen, ungekämmt; ja, ich hoffe FröbelS Wirken in Liebenstein wird vielen Segen bringen! Jetzt ist wieder eine Frau Goldschmid aus Lamburg hier, Dich­ terin und Schriftstellerin. Sie hat unter andern geschrieben: „Mutterfreuden und Muttersorgen", mit einer Vorrede von Diesterweg. Sie ist Jüdin und berühmt, weil sie die ersten Schritte getan zur Einigung

Zn Liebenstein.

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zwischen Juden und Christen. Sie ist die Laupttriebfeder, den Oheim nach Lamburg zu ziehen. Ich werfe alles durcheinander, es ist schon späte Nacht, und ich bin von den Ereignissen des Tages sehr aufgeregt. Gute Nacht! Lenriette an die Mutter.

Bad-Liebenstein, Ende August 1849. .... Wenn der Oheim fort ist, wird auch jede äußere Anregung fehlen. Du glaubst nicht, welches Interesse seine Idee hier erweckt, oft ist das Lehrzimmer in den Unterrichtsstunden so angefüllt, daß wir kaum Platz haben. Vor einigen Tagen waren 21 Fremde hier, und als ich nach der Stunde das Spiel anfuhren mußte, da klopfte mir doch sehr das Lerz. Bitte, bitte laßt Euch von Breymanns erzählen, sie haben an allem so regen Anteil genommen. Es tat mir sehr weh, sie scheidei» zu sehen, wir hatten hier einen so liebenswürdigen Kreis guter, geistreicher Menschen um uns, und durch sie und Lindaus ist mein Leben hier recht verschönt; ich danke es ihnen immer von Kerzen. Sonnabend kam der Onkel Lindau und blieb bis Montag; er hat mein ganzes Lerz gewonnen, ich freue mich unendlich darauf, wieder in einer Familie zu leben. Ja, Mutter, das Lerz fordert auch seinen Teil Du fragst nachFröbelsPlänen, ich möchte sagen, er hat gar keine, aber die Menschen haben viele mit ihm. Man sucht ihn an drei Orten für sich zu gewinnen: Meiningen, wo man ihm jetzt mehrere Male Mariental angeboten, Weimar und Lamburg. In letzter Stadt sind wieder mehrere Parteien, von denen jede den Oheim zu sich hinüberziehen will. Karl Fröbel aus Zürich siedelt samt Frau und Amalie Krüger nach Lamburg über, um dort eine Lochschule für Mädchen zu errichten. Schon im Spätherbst trifft er dort ein, und sie spannen schon alle Segel auf, Friedrich Fröbel an sich zu ketten. Gott mag wissen, wo, wie und wann und ob seine Ideen sich realisieren werden. Es wird hier immer leerer, immer stiller ... Auf den Promenaden sieht man jetzt nur vereinzelte Spaziergänger, Diesterwegs, Frau von Marenholh und einzelne andere. Einige Schullehrer aus der Amgegend besuchen Fröbels Vorträge; bald wird er ganz auf seine Schüler und Schülerinnen allein angewiesen, für die letzteren ist dies ein Glück, denn bei den vielen Fremden sind sie etwas stieftnütterlich behandelt worden;

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Kapitel 8:

sie haben aber auf der andern Seite wieder manche Anregung dadurch; so sucht daS Leben immer einen Ausgleich. Es erscheinen jetzt oft Aufsätze über des Oheims Wirken, und es fängt jetzt überall an zu blühen. Die „Stimmen aus Liebenstein", „das Quodlibet" ist von Frau von Marenholtz, Wilhelm und mir zusammen­ gestellt, d. h. ich habe nur einiges hinzugefiigt, was W. nicht wissen konnte. Die Erfahrungen müssen nun derBeleg zu unsern Worten sein, und da kann ich Dir von unserm Wirken einige recht schöne Erfolge mit­ teilen: Ein kleiner Knabe weinte bitterlich, weil niemand zu Lause sei, der ihn kämmen konnte. Derselbe ist so von Glück erfüllt, daß er uns Blumen und abgefallene, unreife Äpfel mitbringt und neulich Luisen, als sie über die Straße ging, ein Steinchen, das er rasch vom Boden auf­ hob, schenkte. Während vorigen Sommer der Frau Inspektorin Müller so viele Birnen hier am Lause abgeschlagen sind, bemerken wir jetzt daS fast nie mehr, weil die Strafe besteht, daß sie nicht mitspielen dürfen, wenn sie es tun. And der Kindergarten bringt Poesie in das Leben; wie rührend ist es, wenn der Klang vieler, zarter Stimmchen zu unserm Fen­ ster hereindringt und die Kleinen sich Mühe geben, die gelernten Spiele allein auszuführen Lenriette an die Eltern.

Mühlhausen i. T., 19. September bis 9. October 1849. .... An Frö.bel habe ich einen kurzen Brief geschrieben; er hat sich sehr seltsam benommen, doch es wirkten da noch andere Triebfedern. Ihm, ja, selbst Luisen, rechne ich es nicht zu. Er handelte wenigstens nach bester Überzeugung ... Er fürchtete nämlich die Nähe von Keilhau für mich mit allem, was sich dort befand. Er hat Angst, daß mich jemand von seiner Sache abziehen könnte, hat er doch schon auf Euch den größten Verdacht. Fröbel zu dienen, liegt mir freilich fern; aber der Idee zu dienen, zu opfern, wenn es Not tut, ist mein fester Wille. Sie steht mir so hoch, sie ist die Grundlage meiner Liebe, ist das Ziel derselben. Das kann Fröbel freilich nicht begreifen, aber er wird es über kurz oder lang verstehen, wir wollen es ihm beweisen. Ich habe mich von jedem innern und äußeren Einfluß seinerPerson frei gemacht, wir sind aber in zärtlichster Umarmung geschieden ... Die Lerzogin hat Plan und Kostenanschlag eines Kindergartens gefordert, und Fröbel hofft auf die Einrichtung desselben. Er schreibt, es sei nicht bestimmt, ob er nach Lamburg geht, doch wahrscheinlich.

In Liebenslein.

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Mir tut es recht wohl, daß ich aus diesem Wirrwarr heraus bin. Du hast recht, teure Mutter, es fehlt dort die Grundlage, die Familie. Diefterweg hat eine sehr gute Broschüre geschrieben. Er und Frau von Marenholtz sind noch dort; die eine Tochter von Diesterweg, ver­ mine, sagte mir beim Scheiden: „Ich hoffe Sie noch inBerlin, in unserm Kreise tätig zu sehen. Wir rechnen auf Siel" Doch daraus wird nichts, Berlin zieht mich nicht an. Frau von Marenholtz war sehr zärtlich mit mir, sie konnte sich garnicht von mir losreißen: „Sie werden noch viel wirken", sagte sie. O, möchte sie die Wahrheit prophezeit haben I Das waren freundliche Sonnenblicke in diesem traurigen Sommer... Ich wollte noch einige Zeit hierbleiben, durch mein Wort wirken so viel ich vermag, dann mit Tante Bambergs gütiger Erlaubnis vier Wochen nach Rudolstadt zu ihnen gehen, den Kindergarten dort be­ suchen, das Weihnachtsfest in Keilhau feiern und nach Neujahr in Dresden eintreffen, um mich auf ein Jahr fest zu binden; denn ich glaube, das ist nötig für mich. Diesen Plan teilte ich auch Lindaus mit; sie sind beide entschieden dagegen. Tante L. meinte, es könnte sich in einigen Monaten ein Wirkungskreis für mich hier finden, außerdem sei es unbedingt not­ wendig, daß ich im Winter meiner Gesundheit lebe. „Erst bleibe Du noch hier", sagte der Onkel,,, dann gehe Du nach Aause". Bin ich es meiner Gesundheit schuldig, ihr ganz allein zu leben, oder wird sie sich bei einer kräftigen Geistestätigkeit stärken? Sehr schwer wird es mir zuerst werden, das weiß ich, einen Kindergarten zu leiten; ich bin jetzt sehr schwach, jede kleine äußere Bewegung, jedes Außer­ gewöhnliche ruft mein altes Äbel hervor. Aber was hat auch alles an meinem Innern gerüttelt. Jetzt habe ich auch wieder meine innere Ruhe, und ich werde auch eine ganz geregelte Lebensweise führen. Die liebe Tante L. kommt mir auch so liebreich entgegen. Sie glaubt, wenn ich diesen Winter so recht sorgsam mit meinem Körper umgehe, würde ich zum Frühjahr frisch und kräftig sein. Ich denke, ich lasse den Arzt hier entscheiden, Ls. haben einen sehr geschickten Lomäopathen hier. Grüße und Küsse von Eurer treuen Tochter Lenriette.

An C. Bothmann.

Mühlhausen i. Thüringen. Mittet?) Oktober 1849. . ... Ich habe das schöne Bewußtsein, daß hier mein schwaches Wirken nicht ohn« Erfolg sein wird,... es ist wenigstens ein lebhaftes Interesse für die Kindergattensache da, und der hiesig« Reftor wird sein«

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Kapitel 8:

nächste freie Zeit benutzen, um Kindergärten und Keilhau zu besuchen;

heute will ich dem Äerrn einige Adressen und Drucksachen schicken, sage das doch Fröbel.... Glaube mir, will man die Leute für die Fröbelsche Sache interessieren, so muß man sie nicht gewissermaßen mit Reden

überfluten, eine gewisse Zurückhaltung ist viel klüger; ich habe hier recht viel gelernt in diesem Punkte und die schöne Erfahrung gemacht, daß,

wenn man nur den redlichen Willen hat zu nützen, Gott seinen Segen

gibt; ich gehe ohne Zagen in den engen Kreis meiner Familie zurück. Fröbel ist darüber sehr böse, aber (Emma, ich sage Dir, halte fest an dem Geist der Sache, aber um Gotteswillen ganz selbständig ....

Die Nähe unseres Lehrers reißt uns fort zu einem Enthusiasmus zu dem

höchsten, aber sie überfliegt das Kleine und Kleinste, aus dem alles her­ vorsteigen muß, wenn es Grund und Boden haben soll. Dieses ist ge­

wissermaßen der Körper, ohne den nun einmal nichts auf Erden für uns sichtbar ist. Bedenke wohl, es muß alles ideell-reell sein, was wirklich

Segen bringen soll. Dies ist nicht nur Redensart, es ist das Ergebnis eigener, sehr schmerzlicher Erfahrungen, die ich Dir gern ersparen möchte, wenn es möglich wäre. Der Sommer in Liebenstein war ein hartes, aber gewiß segenreiches Lehrjahr. Noch eins, wonach Du gewiß gefragt wirst:

„Ruht Fröbels Erziehung auf christlichen Prinzipien?" Du könntest ge­ trost „Ja" sagen, aber man soll nicht sprechen, worüber man selbst nicht

klar ist, und verzeihe mir, ich glaube, es ist Dir noch nicht klar, welchen Standpunkt seine Lehre in religiöser Beziehung einnimmt. Man kann von Fröbel sagen: Er ist nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten

aufzulösen, sondern zu erfüllen. Laß Dich aber überhaupt nicht auf dies Kapitel mit Leuten ein, die Du erst gewinnen willst; darüber darfst Du erst mit denen reden, die ganz gewonnen und überzeugt sind. Sage den Außenstehenden, sie sollen alles prüfen, ob etwas Widerchristliches in

Fröbels Lehre sei, etwas waS nicht mit Jesu heiligem Wort und Leben

übereinstimme, dann sollten sie es Dir sagen .... Wir aber wollen stre­

ben, es erst an uns selbst und somit auch an andern zur Tat werden zu

lassen. O, welch' reiches, weites Feld liegt da vor uns, wie könnte ich so kleinmütig sein, mir den Tod zu wünschen I... Mir kommen die Lichtfreunde und die freien Gemeinden vor wie die emanzipierten Weiber im

Übeln Sinne desWortes. Es liegt ein gewisser Drang nach Freiheit zu Grunde, aber er nimmt einen falschen Weg. O, es liegt in der Fröbel-

schen Zdee etwas sehr Großes I Fröbel istReformator des Familien- und

somit des ganzen staatlichen Lebens. Diese äußeren Revolutionen dienen

145

In Liebenstein.

nur dazu, um auf das Innere hinzuweisen. Sitte Dich vor und halte Dich

frei von jeder Partei I Ich möchte Dir noch vieles sagen, aber meine Zeit geht zur Rüstet.... Senriette an Luise Levin.

Ende Oktober oder Anfangs?) November 1849.

Mühlhausen i. Th. Es ist mir lieb, meine liebe Luise, daß ich Deinen Brief nicht eher erhielt, ehe ich nicht ganz fest in mir entschieden war, was ich für die nächste Zukunft zu tun habe; er würde mich sonst vielleicht wiederum be­

unruhigt haben, da ich so sehr geneigt bin, den Stimmen anderer mehr zu gehorchen, als meiner eigenen. Der Oheim muß Marius und meinen

Brief noch nicht erhalten haben, sonst hättet Ihr wohl die Antwort daraus gelesen. Ich will Dir dennoch meine Gründe vortragen, welche mich bestimmen, diese Stelle nicht anzunehmen.

Ein Grund, der alle andern schon in den Sintergrund stellt, ist

meine Gesundheit. Mein Körper ist schon von Natur schwach; durch daS rasche Wachstum hat er nicht die gehörige Festigkeit erlangen können;

jedoch weiß ich, daß mein Geist imstande ist, ihn aufrecht zu halten, wenn

er ruhig, klar und kräftig, gleichsam als eine Stühe für den Körper da­

steht. Was Wunder also, wenn er drohte, bei den schrecklichen Gemüts­ erregungen, die ich den letzten Sommer durchzumachen hatte, zusammen­ zubrechen? Bei diesen Kämpfen, die niemand begreifen wird und kann,

als ich allein. Mein Befinden ist im ganzen ungleich besser als im Som-

mer, aber das Leiden hat sich auf einen Teil des Körpers geworfen, und ich darf mir und andern das Bedenken nicht verhehlen, welches dabei

aufsteigt. Ich bin übrigens ganz ruhig darüber, fühle aber nur zu wohl, daß ich einer neuen geistigen Anstrengung nicht gewachsen bin. Durch

gänzliche Ruhe und ärztliche Silfe muß man der geschwächten Natur zu

Sülfe kommen

Zweitens ist es mir immer klar geworden, daß man sich nicht

ferne Pflichten auferlegen, einen größeren Wirkungskreis suchen soll, ehe man seine nächsten erfüllt hat. Was liegt mir wohl näher als meine

Eltern, meine Geschwister? And sie haben es um mich verdient, daß ich ihrem Wunsche, den Winter bei ihnen zu sein, nachkomme, da meine

Mutter ganz allein sein wird und die Pflichten der Sausfrau und Mut­ ter unmöglich zugleich vollkommen erfüllen kann. Jedoch hätte ich den­ noch der Aussicht, den Winter mit den Meinen zu verleben, entsagt, LyIchInSka, Henriette Schrader I.

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Kapitel 8:

wenn ich nicht in mir selbst die Ruhe und die Kraft gefühlt hätte, der

Verweichlichung des Geistes zu widerstehen, der ich früher im glücklichen Kreise meiner Familie oft unterlag.

Es ist Fröbels heilige Aufgabe, die er auch lösen wird, als Refor­

mator des Familienlebens und somit des staatlichen Lebens der Welt Keil und Segen zu bringen. Ist also seine Lehre wahr, habe ich sie in

dem rechten Geiste ausgenommen und durchgearbeitet, so muß ich mich auch im engsten Kreise glücklich fühlen und andere beglücken können.

Auf der andern Seite muß ich mich nicht scheuen, hinauszugehen, den Menschen dieses Evangelium zu predigen, wenn Gott mich dazu beruft. Jetzt weist er mich aber klar und deutlich in den engen Kreis meiner

Familie und zeigt er mir da nicht ein Feld zu bestellen? O, gewiß, wenn ich nur festhalte an den Grundgedanken meines Lebens, alles Lebens, Fröbels heiliger Idee. Drittens. Es ist nicht mein Plan, Erzieherin zu werden in der

Weise, wie es die Stelle in Holstein erfordert, sondern nur Kinder-

gärtnerin, aber im großen Sinne dieses ernsten Wortes. Es ist nicht damit gesagt, daß ich immer praktisch an einem Kindergarten wirken will;

nein, das werde ich nur ein Jahr; aber dann ganz fest und bestimmt und zwar nicht an einem selbst eingerichteten, sondern unter der Leitung eines umsichtigen, denkenden Mannech und ich glaube, daß ich diesen in vr.Marquard finde. Erlaubt es daher meine Gesundheit, so gehe ich zu

diesem im Frühjahr ... Dann kehre ich zu den Meinen zurück, bis mich vielleicht eine besondere Stellung zu dem Allgemeinen auf immer von

ihnen ruft. So ist mein Denken, ich ordne mich und mein Denken aber einem Höheren unter, der mich so wunderbar geführt hat.

Ich weiß nun nicht, liebe Luise, ob Du und der Oheim dieses billigt;

aber ich muß mich selbst Eurer Anzufriedenheit aussetzen, denn ich kann

nicht anders. Für die Blätter danke ich herzlich, ich werde sie gut gebrauchen

können... Am das Eine muß ich Dich noch bitten: mir in Mahlum von Eurem geistigen Leben Nachricht zu senden. O, Luise, es war doch kein

leeres Lustgebilde, dieses geistige Band, das uns alle in Liebe um­

schließt? Wie wird es mit dem Kindergarten in Liebenstein? Wie sehnlichst wünsche ich diesen Wirkungskreis für Dich, ganz besonders bei Fröbels

Abwesenheit, wird die Arbeit Dich Deiner Selbständigkeit näher führen. And wie not diese Selbständigkeit tut, sehen wir alle Tage und nicht eher

147

In Liebenstein.

kommen wir in diesen schrecklichen Wirren zum Frieden eher wir sie er­

langt haben; das wollen wir beide uns recht oft sagen. Ich freue mich so, daß ich Marius jetzt so frei gegenüberstehe. Ich fühle mich stark, ohne ihn leben zu können, wenn er die Idee verließe,

die unS zusammengeführt. Liegt eine künftige Leimal mit ihm in unserer beiderseitigen Entwicklung, so würde ich ihm mit eben der Ruhe die

Land als Gattin reichen, wie jetzt als Braut. Glaube doch nicht, daß ich mich über den natürlichen Gang der menschlichen Entwicklung erheben

wolle, da ich die Ehe heilig halte. Aber das will ich eben zeigen und be­

weisen, daß sie heilig ist Ich hoffe, ich wirke und handle, wenn auch körperlich fern, im Geiste unseres LehrerS. Lebe ivohl Luise

in Liebe

Deine Lenriette.

Kapitel 9.

Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851. Einleitendes. enriettensBrautstand änderte die äußere Gestaltung ihres Lebens so wenig, wie die ihres Verlobten. Er schwankte noch immer weiter zwischen den Berufen eines praktischen Arztes und eines Erzichers. Lenriette kehrte in die ländliche Sülle des elterlichen Laufes zrrück, um dort sich der Erziehung ihrer kleineren Geschwister eine Zeülang zu widmen. War sie später entbehrlich, erlaubte es später ihre Gr undheil, so hegte sie den Plan, noch einmal fern von Lause Fachstudien für ihren erziehlichen Beruf zu machen. Ihr Verlobter studierte unterdessen nach augenblicklichem Enfall bald an dieser, bald an jener Universität Naturwissenschaften oder bei Fröbel Pädagogik. Diese Studien wurden durch Besuche im Mah­ lumer Pfarrhause angenehm unterbrochen, wo er von allen, groß und klein als Lenriettens Verlobter, als Mitglied der Familie ausgenom­ men wurde. Diese Familienangehörigkeit scheint er durch den Zauber seiner Erscheinung und die Liebenswürdigkeit seines Wesens im Verkehr erwidert zu haben. Aber während des Brautstandes verwandelten sich die inneren Beziehungen von Lenriettens Seite. Zu der Freundschaft gesellte sich das Ineinanderaufgehen der Liebe. Aus Freundschaft und Liebe schuf Lenriettens Phantasie ein Idealbild erziehlicher Täügkeit, in welcher eine innige Wechselwirkung der männlichen und weiblichen Psyche als Grundbedingung erschien. Weil ihre weibliche Eigenart von jcht an so stark zum Bewußtsein kam, suchte sie die entsprechende Ergänzung und das Gegengewicht durch die Männer. In ihrer Liebe war eben ein doppeltes Leben: Zuerst daS eines liebenden Weibes, wie die Natur es uns gegeben, dann aber auch das eines strebenden Geistes, der ein Bestimmtes erfaßt, es halten, es för­ dern möchte; in diesem Falle eine große erzieherische Begabung, welche

Die Rückkehr in das Mahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851.

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nach Betätigung drängte. An der Seite des geliebten Mannes, als seine Frau, als Mutter ihrer und seiner Kinder, als seine Lausftau

und Lebensgefährtin wollte sie Mittelpuntt einer erweiterten erzieh­ lichen Wirksamkeit bilden. Sie wollte auch eine edle Geselligkeit pflegen

und Fröbels Ideal „erziehender Familien" durch die Tat näher kommen. In einem solchen Stteben innerhalb der Ehe hätte Äenriette weder

Mühe, Entbehrung noch Kampf gescheut. Aber der männliche Träger dieses Ideales war nicht fähig, dem zu entsprechen. Lenriette liebte ein Phantom, und sie erwachte glücklicherweise zu der Erfassung der Wirk­

lichkeit, ehe es zu spät war, aber auch zu einer der herbsten Enttäuschungen ihres Lebens.

Doch kehren wir zurück zu dem Augenblick ihrer Leimkehr in das Mahlumer Pfarrhaus als Braut.

Das nächste Ziel ihrer Wünsche war die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister. Zwar weilten die drei ältesten von ihnen fern von der

Leimal, aber es blieben noch fünf Kinder ihrer Lülfe bedürftig:

Albertine damals zwölf, Adolf zehn, William acht, Erich sechs. Lebwig zwei Jahre alt; wahrlich eine vielseitige Aufgabe I Den Unterricht

der drei erstgenannten hatte der Vater in den Pausen seiner amtlichen Tätigkeit notdürftig besorgt und hoffte auf Lenriettens ergänzende Lülfe. Schon damals fing William an zu kränkeln, und so durste er eher zu den jüngeren zählen, die durch den Familiengeist der Liebe

und Pflichterfüllung erzogen, ihre besonderen kleinen Aufgaben an der Mutter Schoß fanden. Lenriette war als gereistes Weib ernst ent­ schlossen, ihren wachsenden Fähigkeiten entsprechende Aufgaben zu stellen. Zwar mußte sie auS dem Fröbelschen Kreise manche mißbilli-

gende Bemerkung über die verweichlichende Wirkung ihrer „Familien­ anhängerei" erdulden; aber sie war innerlich selbständig geworden und

wußte sich selbst davor zu schützen. Aus der Gefahr der „Familien­ anhängerei" entwickelte sich gerade bei ihr die Schnellkraft des geläu­

terten Muttergefiihls und sie durfte schon damals von sich sagen: „Die

älteste Tochter einer großen Familie erlebt an der Land der Mutter die köstlichsten Mutterfreuden, die tiefsten Mutterschmerzen, ehe sie

selbst ein Kind ihr eigenes nennt." Der Verkehr mit den Kindern brachte ihr inniges Glück, und das Bewußtsein, den Eltern nötig zu sein, tiefe Befriedigung. Die Rück-

kehr in die gewohnten Verhältnisse diente ihr auch zugleich als Maß­ stab ihrer eigenen Entwickelung.

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Kapitel 9:

Sie machte sich von Anfang an eine strenge Tageseinteilung, die sie getreulich hielt. Im Winter erwacht sie früh morgens, während die Sterne noch in klarer Pracht funkeln. Sie weckt das Mädchen, welcheihr bald ein wärmendes Feuer in dem Stübchen neben ihrer Schlaf­ kammer anzündet. Die köstliche Morgenstille benutzt sie zu ihrer Korrespondenz, zu ihrer geistigen Sammlung und Bildung. Sie bereitet sich nach bester Einsicht auf den zu gebenden Unterricht vor und sucht „männlichen" Rat bei dem Verlobten. Er empfiehlt ihr das Studium von „Rottecks Weltgeschichte". Der Kaffeetisch vereint sie mit den Eltern, dann hilft sie der Mutter, die Kinder anziehen; sie bringt ihrer Mutter und ihr eigenes Schlaf- und Wohnzimmer in Ordnung. Liernach beginnen die Stunden der älteren Kinder, oder, wenn diese zum Klavierunterricht nach Bockenem geben, kocht Lenriette daS Mittags­ essen. Räch Tisch wird eine Ruhepause innegehalten, und hiernach sitzen Mutter und Tochter in ttaulichem Gespräch über dem Nähkorb beisammen. Um 5 Uhr meldet sich das kleine Volk zu den Fröbelschen Spielen und Beschäftigungen, welche zuerst im Pfarrhause auf der Diele stattfinden. Sonntag nachmittag- versammelt sie eine größere Zahl Dorfkinder zum Spielen und Stricken im Schulhause. 3m Som­ mer werden die Spiele im Freien gespielt und gelten später als typische Nummer im Programm eines Dorffestes. So reiht sich ein Tag an den andern, gleich Gliedern einer goldenen Kette des Glücks und des Friedens. Nie hatte Lenriette so ganz in der Gegenwart gelebt wie jetzt, nie so klar gewußt, waS zu tun und zu lassen ihre Stellung forderte; nie so freudig so unmittelbar aus sich heraus gelebt. Eine schöne Larmonie bestand jetzt zwischen ihrem äußeren und inneren Leben, und dieser Aufenthalt im Mahlumer Pfarrhause vom Kerbst 1849 bis Mai 1851 erscheint.geradezu typisch für ihr ganzes späteres Wirken. Die männliche, ergänzende Kraft, den Führer in ihrer eigenen, wie der Kinder intellektuellen Bildung sucht sie in dem Bräutigam viel eher als in dem Vater, der mit den Jahren auch auf dem Gebiet der Schule konservativer wurde. Er fand seine alten Schul­ bücher auch für seine Kinder gut und lehnte dieNeuerungen in derPädagogik als demokratisch und irreligiös angehaucht ab. Dennoch erkannte er mit väterlichem Stolze an, wie durch Lenriettens Wirksamkeit in Mahlum die Beziehungen der Gemeinde zum Pfarrhause immer fteundkichere, engere wurden; wie ein persönliches Interesse an den Kindern ein mächtiger Lebe! für die kulturelle Bildung der Eltern werden kann.

Die Rückkehr in daSMahlumer Pfarrhaus. 1849 bis 1851.

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Wie Lenriette ihren Beruf als Erzieherin im häuslichen Kreise fachgemäß und ernst betrieb, bezeugen ihre Aufzeichnungen über jedes einzelne Kind. Welche psychologisch feinen Charakterzüge liegen schon in diesen Skizzen! So übte sie in der Stille ihr Talent, ihr eigener Charakter war im Strom der Welt in Dresden und Liebenstetn -um rela­ tiven Abschluß gekommen. Ihr Schaffen und Wirken ruht jetzt auf der Grundlage des innigsten Familienlebens, es zieht aus ihr neue Nahrung, aber e- ist nicht auf sie beschränkt; es wächst über sie hinaus, ohne diesen Boden zu verlassen. Folgender Auszug aus einem dieser Briefe dieser Zeit wird wiederum den oben angedeuteten Nahmen lebensvoll erläutern. Äenriette an Marius Bendsen. 17. November 1849 Mahlum. .... In dem Buche von Frau G. finde ich einige sehr gute Lehren von der Erziehung, doch müssen diese alle mit Berücksichtigung der Individualität des Kindes angewandt werden. Ich finde, eigentlich sind solche Bücher nur dazu da, anzuregen. Es wird so viel über Er­ ziehung geschrieben, und es hat wohl den eben erwähnten Nutzen. Ich muß aufrichtig gestehen, es spricht mich selten etwas ganz an; ich mache selten von dcmGelesenenAnwendung.. .Wer kann das eigentliche Wesen der Erziehung in Worte fassen? Ich wenigstens vermöchte es nicht. Dies muß die ewig unsichtbare und doch so wohl zu erkennende Mitte sein, die alleS Leben an sich zieht, und diese müssen wir unsern Kindern geben durch unseres ganzen Wesens Erscheinung. Doch darüber läßt sich kein Buch schreiben, das kann ich Dir nur mit Schillers Worten sagen: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr." Das Leben mit unsern Kindern tut mir unendlich wohl, sie sind so rein und unverdorben, ja, ich möchte fast sagen, ganz frei von Anarten. Ich begreife nicht, wie ich mich früher über sie habe ärgern können. Abends von 5—7 Ahr beschäftige ich mich auf Fröbelsche Weise mit ihnen und sogar Albertine eilt dabei zu sein, und Äedchen ist dabei wieder das Band. Ihre reizenden Äußerungen der Freude,

ihr kluges Aufmerken auf alles, was ich tue und sage; ihre himmlische Anschuld und die daraus folgende Anmut könnte mich ost zu Tränen rühren. Das zieht nun die andern herbei, die den Spielen längst entwachsen sind, und ich möchte. Du sähest unsere Freude! Wenn es an zu dämmern fängt, versammeln sich alle stillschweigend um meinen

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Kapitel 9:

Stuhl. Erich geht wohl dann zu der Mutter und sagt leise: „Wenn

wir doch nun spielen wollten." And wenn es ihm zu lange dauert,

überfällt er mich mit seinen derben Liebkosungen. Hedwig bittet: „Äensette, nun piele", ich stehe auf, die Jungens stürmen voran und Hedwig jubelt förmlich: „Nun jetzt! Nun jetzt!" Wenn wir uns zum

Kreise gestellt haben, ist sie eifrig bemüht, ihre kleinen Füßchen aus­ wärts zu setzen. Wir singen dann ein Anfangslied und spielen Bewe-

gungs- und Ballspiele. Wenn wir die Fischlein als Fingerspiel ge­

macht haben, ruft Hedchen: „Nun will ich Fislein sein!" Fröbel würde

sich freuen, wenn er es sähe und hörte und vielleicht weniger grimmig auf mich sein. Lächerlich ist des dicken Erichs Angeschicklichkeit, aber

rührend sein Eifer und seine Ausdauer. Nach den Bewegungsspielen falten sie, und Hedchen besieht während der Zeit die Bilder in „Mutter

und Koselieder" .... Begreifen kann ich aber nicht, wie man 50 Kin­ der leiten kann. Ich habe mit meinen fünfen genug zu tun, wenn ich

ein jedes anhören, auf ein jedes eingehen soll. Aber einige möchte ich

sehr gern zu bett unsrigen haben, es wäre gut für sie. Ich möchte für alle eine Reihenfolge der Spiele haben und hoffe, der Vater ist Weih­ nachten so gütig, sie uns zu verehren. Frage einmal Fröbel, ob man sie von Liebenstein oder Hamburg schicken lassen soll ... . Ich bin jetzt in Bezug auf meine innersten Lebensbeziehungen klar:

Das HauS — aber nicht im engen Sinne des Wortes allein — ist mein

Wirkungskreis, das sehe ich täglich mehr ein. Wenn ich höre, daß diese

und jene heraustreten aus diesem Kreise, wie die Ä. z. B., welche jetzt sehr interessante Vorträge in Dresden hält; wie die Frauen in Ham­ burg . . ., da möchte ich mich immer mehr und mehr zurückziehen. Wenn ich mir vorstelle. Du könntest mir eine Broschüre widmen und

ich gedruckt lesen sollte: „Fräulein Henriette Breymann in Liebe gewidmet", ich glaube, ich könnte sie Dir vor die Füße werfen ....

Mache Du über Fröbel*), daß er sich nicht solchen Menschen in

die Arme wirft,... es würde seiner Sache unendlichen Schaden tun. Was für eine Welt voll stillen und lauten Kampfes! Was sollte aus mir werden nur, wenn ich Dich nicht hätte 1 In manchen Augen­ blicken fühle ich einen schweren Fluch der Zeit, und wenn ich mein

liebliches Hedchen ansehe, möchte ich Gott bitten, sie hinweg zu nehmen

von dieser Erde ....

Friedrich Fröbel war den Winter in Hamburg.

Die Rückkehr in das Mahlurner Pfarrhaus. 1849 bis 1851.

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Das Weib steht in einem furchtbaren Entwicklungskampfe, es erhebt sich von einer Sache zum Menschen, und ich weiß aus eigener Erfahrung, wie dieser Druck, den es erlitten, in geistiger Sinsicht so leicht jene krüppelhaften Erscheinungen ins Leben ruft, die ich verab­ scheue. Meine Liebe zu Dir ist der Ruhepunkt, wo ich wieder Mut und Lebensfreudigkeit erlange, der mir nötig ist in dem Kampfe um die Unabhängigkeit meiner inneren Welt von den Vorurteilen der äußern. Ich weiß nicht, ob ich nicht unterliege, es ist so entsetzlich schwer, sich allein zu fühlen, und der Gedanke quält mich, ich sei abgewichen von der Bahn des Schicklichen und wahrhaft Weiblichen; denn ich, die ich einen Schauder vor jenen Emanzipierten habe, fühle mich als Emanzipierte unter den hiesigen andern Frauen und Mädchen, als Freisinnige unter gläubigen Christen! .... Ja, die Kinder sind ein Schatz für mich, Sedwig fast zu reizend. Du solltest sie einmal spielen sehen, die schönsten Ballspiele führt daS klein« Ding mit den andern durch, und sie jauchzt immer vor Freude. Denke nur, sie singt sogar mit, sie kann mehrere Melodien auswendig. Dabei kann sie noch nicht sprechen, nur die Endreime und sie singt schon früh morgens im Bette. Sie baut auch die Spiele weiter fort ganz nach ihrem eigenen Sinne; Fröbel würde sich freuen, wenn er dieses Kind mit seinen reinen klaren Sinnen sähe, wie sie auf alleeingeht. Meine Verehrung und Dankbarkeit gegen Fröbels Geist sind groß, die mich die reinsten, schönsten Freuden des Lebens kennen lehrte; mein Zustand ist ganz Gebet in den Augenblicken, in denen meine

Mutter eine Freudenträne im Auge zerdrückt. Wenn es nichts gäbe, als die Liebe, so gäbe es genug .... Doch, wie nah beieinander Freud und Leid im Familienleben liegen, sollte Sentierte bald erfahren. Nicht nur heitere Arbeit, sondern tiefen Schmerz teilte Sentierte in dieser Zeit mit den Ihrigen. Am Krankenbette deö neunjährigen, verheißungsvollen William hielt sie mit den Eltern abwechselnd Wache. In den schützenden Armen der ältesten Schwester wurde der kleine Patient nach Sildesheim gebracht in der Soffnung, daß ein zweiter Arzt noch das Leiden heben könnte. Leider war der Aufenthalt in der Stadt bei den mittrauernden Ver­ wandten vergebens. Der kleine William kam sterbend nach Sause zurück und verschied daselbst am 19. August 1850. Seit 20 Jahren war es die erste Lücke in dem Familienkreise. Der liebliche Bund der Brüder war zerrissen, und die beiden kleinen, Adolf und Erich, betrauerten den

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Kapitel 9:

Verlust in ihrer kindlichen Weise. Am Morgen des Begräbnisses waren sie früh in den Wald gelaufen, um Moos und Eichenlaub zu einer Girlande zu holen; diese schmückte auch den kleinen Sarg. Land in Land folgten die Brüder dem Sarge neben dem tiefgebeugten Vater, welcher im Chorrock den Liebling zur letzten Ruhestätte auf den Boden­ steiner Kirchhof geleitete. Lange konnte die zärtlich liebende Mutter den Verlust nicht verwinden, wenn sie auch den Bitten der ihr noch gebliebenen Lieben nachgab und im folgenden Winter das gastfreie Pfarrhaus festlich schmücken, seine Räume weit öffnen ließ für die zahlreichen Verwandten und Freunde, welche die silberne Lochzeit des Breymannschen Eltern­ paares feiern wollten. Lierbei war Lenriette wiederum Lauptangeberin und Ausführerin des Programms, in welches GesangSvorträge, ein Theaterstück und lebende Bilder ausgenommen wurden. Auch den fern weilenden Geschwistern wurden Rollen zuerteilt. Ohne Vorwissen der Eltern sollten sie an dem betreffenden Abend in den ihnen überwiesenen Rollen zum ersten Male erscheinen. Die Auf­ regungen eines Theaterintendanten wurden Lenrietten nicht erspart; in Lolzminden hatte der älteste Bruder, Karl, den nötigen Arlaub bekommen, aber die Post verfehlt. Die einzige Möglichkeit, an dem Abend noch mitwirken zu können, war, daß er den vierzehnstündigen Weg zu Fuß zurücklegte. Mutig schnallte der Gymnasiast den schweren Tornister auf denRücken und kam (amRücken und an den Füßen wund), gerade zur rechten Zeit an, um seinen Platz hinter dem aufgehenden Vorhänge einnehmen zu können!

Kapitel 10.

Auf der Wanderung.

1851 bis 1854.

o kam das Frühjahr 1851 heran und mit ihm einige, für Len-

e

riette schwere Jahre des Suchens nach einem günstigen Boden für ihre und für ihres Bräutigams Tätigkeit. Die Jahre der politischen Ernüchterung und Reaktion, welche jedes aufstrebende Leben niederhielten, sollten auch bleischwer aufLenriettens idealem Geistesflug lasten. Freilich ahnte man davon im Mahlumer Pfarrhause gar nichts, als die Kinder hoffnungsfreudig das Weite suchten. Die beiden Knaben, Adolf und Erich, sollten fern vom eiterlichen Lause den üblichen Gang der Gymnasialbildung antreten. Lenriette war also zu Lause entbehrlich, und sie selbst hatte das glühende Verlangen, ihr erzieherisches Talent wissenschaftlich und praktisch tiefer zu begründen. Einige äußere Umstände kamen ihren Wünschen fördernd entgegen. In Schweinfurt hatte der Frauenverein einen Kindergarten er­ öffnet und wollte eine konfessionslose Schule daran angliedern. Er wandte sich um die nötige Lülfe an den Keilhauer Kreis, und Fröbel und Middendorf verwiesen den Verein auf Lenriette Breymann, welche augenblicklich frei war. In einem eigens dazu gemieteten Saale mit einen» Garten sollte die Schule eröffnet werden. Zehn bis zwölf Mädchen, meistens die Töchter einiger Fabrikbesitzer und auch einige Töchter der Fabrikarbeiter bildeten die Klaffe, welche Lenriette in Schweinfurt unterrichten sollte. Sie sollte eine möblierte Wohnung mit der Kindergärtnerin beziehen und sonst ihren eigenen Laushalt und ihr Leben frei gestalten. Die pekuniären Bedingungen waren für die damalige Zeit sehr annehmbar und Lenriette willigte, gegen den Rat ihres Vaters, freudig ein. Nur zwei Bedingungen glaubte sie stellen zu müssen: Erstens, daß sie noch zwei Monate vorher die Or­ ganisation einiger Privatschulen und Anstalten studieren dürfe, und zweitens, daß sie nicht zur „freien Gemeinde" in Schweinfurt sich zu bekennen brauche.

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Kapitel 10:

Auf ihre Bedingungen ging man bereitwillig ein. Äenriette reiste nach Dresden und machte sich bekannt mit mehreren öffentlichen und Privatschulen, unter andern mit der ausgezeichneten Erziehungsanstalt des Dr. Marquard, einem der wissenschaftlichsten Schüler Friedrich Fröbels. Von dort traf sie am 2. Juni in Schweinfurt ein in der freudigen Erwartung, vor einer neuen, schönen Aufgabe zu stehen, zu deren Lösung sie eine steigende Kraft in sich fühlte. Aber im Grunde wußten weder sie noch.ihre Eltern Näheres über die kirchlichen und sozialen Verhältnisse in Schweinfurt, in welche sie als „Ausländerin" (nicht bayrisch) hineingeraten war. Die ganze Stadt teilte sich in zwei feindliche Lager; die orthodoxen Machthaber (katholische und evangelische) und die Anhänger des Liberalismus. Die letzteren bildeten natürlich auch einen Bestandteil der „freien Gemeinde", sowie des „Frauenvereins". Henriette suchte mit aller Energie ihre Neutralität zu bewahre» und sich nur ihrer erziehlichen Aufgabe zu widmen, doch unter den obwaltenden Verhältnissen war das schwer, ja, schließlich unmöglich, da die Schule und der Kindergarten bald den Zankapfel bildeten. Henriette war nun einmal von dem liberalen Frauenverein berufen, und so mußte sie sich gefallen lassen, gesellschaftlich mit ihren Vorge­ setzten boykottiert zu werden. Obgleich sie gar nicht mit der religiösen Auffassung der „freien Gemeinde" harmonierte und zu der Zeit durch­ aus nicht mit dem Vorgehen des „Frauenvereins" einverstanden war, mußte sie eben für eine Sache leiden, die ihren innersten Überzeugungen zuwiderlief. Von seinem Standpunkte aus hätte ihr Vater für sie nichts besseres wünschen können, als daß sie nach Schweinfurt ging; die religi­ öse Bewegung der „freien Gemeinden" hatte für sie fortan keinenReiz. Dagegen war ihre berufliche Tätigkeit dasjenige, waö sie über alle Widerwärtigkeiten der sozialen Zustände emporhob. Von Tag zu Tag gewann sie die Schulkinder lieber, und das schöne Verhältnis beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Kinder versagten sich ein Vergnügen, um in die Schule zu gehen und hingen an ihren Lippen, wenn sie Anterricht gab. £lnt so mehr ist es zu bedauern, daß die Freunde der guten Sache ihre edeln Bestrebungen von vornherein durch Anbesonnenheit dem Untergänge weihten. Sie hatten den Kindergarten und die Schule eröffnet, die Kinder der öffentlichen Schule und dem Konfirmandenunterrichte entzogen, ohne vorher bei der Regierung um die nötige Konzession zu einer Privatschule einzukommen. Durch den Massen-

Auf der Wanderung. 1851 bis 1854.

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austritt aus der Kirche und die Eröffnung der Privatschule waren die orthodoxe Geistlichkeit und Lehrerschaft zur Opposition übergegangen, und ihren offenen und geheimen Umtrieben zufolge erschienen eines Sonntags zwei Gendarmen vor dem Eingänge der Lalle der freien Gemeinde. Diese gestatteten nur fünf Personen den Eintritt, weil die Regierung den Verein als einen politischen Verein ansah, und als solcher durften nur fünf Personen auf einmal zusammenkommen. 3m folgenden Winter wurde ebenfalls der Frauenverein von der Regierung aufgelöst und mit ihm der Kindergarten. Zwar durfte letzterer auf Kosten einiger Privatpersonen, ohne den Namen „Kindergarten" zu führen, fortbestehen. Nicht besser erging es der angefangenen Mädchenschule. Auf Lenriettens Rat wurde ein Lehrer gesucht, der den Behörden gegenüber als Direktor dienen und einige wissenschaftliche Stunden geben sollte. Kein „inländischer" Lehrer wagte, sich um diese Stelle zu bewerben, aus Furcht, nicht befördert zu werden, und die „ausländischen" Kräfte wurden nicht genehmigt. Lenriette mußte schließlich in täglicher Erwar­ tung leben, landesverwiesen zu werden und wollte das Komitee aller Verbindlichkeiten sich gegenüber entheben. Allein, ihr erwartetes Schick­ sal ttaf nicht ein, und die interessierten Familien stellten es als eine „Fahnenflucht" ihrerseits dar, wenn sie vor der verabredeten Zeit ihren Posten verließe. So blieb sie in Schweinfurt bis zum Frühjahr 1852, und als die Schule als solche geschlossen wurde, war sie als Privat­ lehrerin einiger befreundeten Familien tätig. Den erbitterten Kampf führten die Eltern bis zu Ende. Die Kinder warfen sich schluchzend in Lenriettens Arme, als die Polizei erschien, um sie in die öffentliche Schule zu bringen. Ebenso ließen es die Eltern darauf ankommen, die Kinder durch die Polizei in die Kirche und den Konfirmandenunterricht zu fithren, und bei der Konfirmation sollten die Kinder auf Befehl ihrer Eltern „nein" sagen. Schreckliche Auftritte mußte man zwischen den Machthabern und der Bevölkerung erwarten. Die standesamtlichen Ehen wurden für ungültig erklärt. Die Kinder galten als „Leiden"- wenn die kirchlichen Formen (gleichviel ob katholisch oder protestantisch) bei der Taufe nicht beobachtet wurden. Ein Polizeibeamter stand Sonntags an den Kirchentüren und notierte die Zahl der Einttetenden; natürlich wurden die Fehlenden als Dissidenten gebrandmarkt; so wurden die Leute mit Gewalt zur Kirche getrieben. Aus demselben Geiste geboren war das ministerielle Verbot der

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Kapitel 10:

Kindergärten in Preußen, welches sich kurz vorher ereignete. DieNachricht traf Lenriette in Schweinfurt. Mußte es ihr nicht erscheinen, als wären alle Mächte der Finsternis im Bunde, um sie an der Erreichung ihres Lebenszieles zu verhindern? Nach dem ministeriellen Verbot der Kindergärten mußte Kenriette sich fragen, ob ihr persönlicher Groll gegen den Oheim noch einen Sinn habe; besonders da sie fest entschlossen war, seiner Idee zu leben. In dieser Seelenverfassung erhielt sie die Aufforderung Diesterwegs, die Lerbstferien zu einer Reise nach Liebenstein zu benutzen. Dort wollten alle Freunde der bedrohten Sache gemeinsam mit dem Meister beraten, was zu tun sei, um den Fortbestand seines Lebenswerkes zu sichern. Lenriette entschloß sich, demRufe zu folgen, und von ihrer Seite wenig« stens alles zu tun, um den Frieden anzubahnen. Den inneren Zweck ihrer Reise erreichte sie, indem der freundliche Verkehr mit Fröbel und seiner Gattin *) wieder hergestellt wurde. Nach den öffentlichen Verhandlungen unter dem Vorsitz DiesterwegS weilte Lenriette auf Fröbels Wunsch bei ihm und seiner Frau in Mariental, freute sich für Fröbel der behaglichen Läuslichkeit und der gediegenen Amgebung, in welcher der rastlose Greis seine letzten Jahre in erzieherischer Tätigkeit zubringen konnte. Leider stand Fröbel vor dem Entschluß, für den ganzen Winter nach Lamburg zu gehen, um dort wieder ein öffentliches Leben voll Widerspruch und Streit zu führen. Lenriette kehrte von Mariental für den Winter nach Schweinfurt

zurück. Wähtenddessen hatte das Leben ihrer Familie manche Verände« rung erlitten. Der Vater hatte sich schon im Sommer dieses Jahres um eine andere Pfarrstelle beworben. Nach mehreren Monaten ent­ schied das Braunschweigische Konsistorium die Frage zu seinen Gunsten. Die Familie siedelte nach sechsundzwanzigjährigem Aufent« halt in Mahlum in das Watzumer Pfarrhaus über, und obgleich Len« nette in der Ferne weilte und nur in Gedanken die Veränderung mit« machte, so empfand sie diesen Wechsel lange Zeit hindurch als eine Art „Entwurzelung" ihres ganzen Wesens. Ich glaube nicht, daß die jüngeren Geschwister, außer Anna, dieses Leimatsgefühl in bezug auf Mahlum in dem Maße empfanden wie Lenriette. *) Fröbel hatte sich am Pfingstfeste 1851 mit Luise Lewin verheiratet.

Auf der Wanderung. 1851 bis 1854.

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In nichts sieht man den Unterschied zwischen damals und jetzt deutlicher, als in der gesteigerten Leichtigkeit, mit welcher die Menschen heutzutage den Wohnort wechseln. Der Umzug der Familie Breymann von Mahlum nachWatzum vollzog sich innerhalb 12 Tagen, und zwar mit Ackerwagen, welche hin und her fuhren. Jedes Möbelstück (von Glas und Porzellan gar nicht zu reden), mußte sorgfältig in Leu und Stroh usw. verpackt werden, so daß das Laus tagelang vorher das Aussehen einer halbgefüllten Scheune hatte, in welcher eigentlich nur die Kinder ein frohes Gemüt bewahrten. Mit der letzten Ladung kam dann die ermüdete Lausfrau, mit ihr die kleinsten Kinder, «ine Katze im Sack und eine Glucke mit Kücken in einem Korbe. Um von einem Teile des Landes Braunschweig zum andern zu gelangen, mußte man die Grenze Lannovers*) passieren und sich einer Zollrevision unterziehen. Das wirtschaftliche Lerz der Lausftau lehnte sich in Empörung auf gegen Zahlung der 22 Taler Zollgebühr, welche sie für den von ihrem Manne aufgehobenen Wein bezahlen mußte, und nach Frauenart bedauerte sie, die Lälste des Weines nicht durchgeschmuggelt zu haben. Der scheidende Pastor Breymann hatte an dem letzten Sonntage seine Abschiedspredigt gehalten, und an demselben Abend war es auf­ fallend still im Dorfe. Später kam der Frau Pastorin das Gerücht zu

Ohren, daß nach der Predigt in manchem Laushalte nicht zu Mittag gespeist wurde. Der Fortgang des Pfarrers aus dem Dorfe Mahlum nahm einen fast feierlichen Charakter an: Pastor Breymann ging allein zu Fuß die Lauptstraße entlang. Links und rechts standen in langer Reihe die meisten Bewohner; sie wollten ihm noch einmal die Land drücken oder ihm ein Geleitwort zurufen. Die Anteilnahme im Dorfe war allgemein und einige Kluge überlegten ernstlich die Frage, wie sie gegen seinen Fortgang gesetzlich einkommen könnten. Für eine so zärtlich liebende Tochter wie Lenriette Breymann war es schmerzlich, die oben geschilderten Familienereignisse aus der Ferne betrachten zu müssen. Allein, zu der Zeit hatte sie auch so manche Erfahrung, welche für die Zeit charakteristisch war, für sich zu verarbeiten. Zu der schon erwähnten Konferenz in Liebenstein war ein Dr. Ge­ orgen- erschienen, der mit vielem Schwünge und mit einer gewissen

*) Lannover war damals außerhalb des Zollvereins.

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Kapitel 10:

Großzügigkeit seine Pläne für die neue weibliche Erziehung entwickelte. Wo Henriette geistig Verwandtes wähnte, da öffnete sie ihr leicht ent­

zündbares Herz der Begeisterung, und Dr. Georgens wurde es nicht schwer, ihr ein Versprechen abzugewinnen, ihn in Baden zu besuchen.

Das geniale Ehepaar Georgens stand mit dem Fröbelschen Kreise in

Verbindung, obgleich Dr. Georgens den Anspruch machte, seine Be­ schäftigungsmittel für Kinder selbständig und unabhängig von Fröbel erfunden zu haben. Er und seine Frau hatten eine Erziehungsanstalt

in Baden-Baden eröffnet, welche ganz großartig der Idee nach aus-

gebaut werden sollte. Die Anstalt sollte die männliche und weibliche Jugend vom Kindergartenalter bis zur Llniversitätsreife bilden; an

diese Schule sollte sich eine zweijährige Ausbildung für Erzieher und Erzieherinnen resp. Lehrerinnen gliedern.

Außerdem leitete seine

Frau ein Pensionat für Schülerinnen und Lehrerinnen der Anstalt.

Dr. Georgens scheint die Gabe besessen zu haben, wissenschaftliche

Kräfte für sein Anternehmen zu gewinnen, und die Anstalt nahm einen

glänzenden Anlauf. Man sagte damals, die Hülfskräste hätten den Ruf der Anstalt in Baden begründet.

Henriettens Besuch ereignete sich im Frühjahr 1852, als sie einsah,

daß in Schweinfurt der Boden für eine erzieherische Wirksamkeit für sie unmöglich war. Nach Saufe wollte sie nicht eher gehen, bis sie die

Kenntnisse und Fertigkeiten sich angeeignet hatte, welche sie befähigen würden, an der Seite ihres Gatten eine eigene erzieherische Wirksamkeit zu schaffen. Baden-Baden erschien ihr der Ort, wo sie am leichtesten zur Erlernung fremder Sprachen gelangen konnte. Von dort hoffte sie

nach Frankreich zu gehen. So reiste sie hin und wurde freundlich in der Georgensschen Anstalt ausgenommen, deren Organisation sie gründlich

kennenlernen wollte. Leider erkrankte die Kindergärtnerin der Anstalt bald nach ihrer Ankunft, und auf inständiges Bitten des Direktors nahm sie deren Stelle

ein, und so wurde die Zeit zu ihrer eigenen Ausbildung eingeschränkt. Dr. Georgens hatte eine Eigenschaft vieler genialen Plänemacher,

ihn plagte keine kleinbürgerliche Sorge, woher er die materiellen Mittel nehmen sollte, um seine ausgezeichneten Lehrkräfte entsprechend zu hono-

rieten und seine schönen Einrichtungen zu bezahlen. So dauerte der Glanz der Georgensschen Ära nur bis in den Sommer 1852. Da ergriff der Direktor die Flucht, und die Gläubiger rückten ein, um eine öffent­

liche Auktion in den Schulräumen zu halten. Die Anstalt stand vor dem

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Auf der Wanderung. 1851 bis 1854.

Bankerott, und nur durch den Großmut eines der Lauptlehrer imVerein mit den Eltern der Kinder kam man zu einer Einigung mit den Gläu­ bigern, wodurch die Schule innerhalb eins sehr eingeschränkten Rahmens unter der Leitung des oben erwähnten, in Baden sehr geachteten Lehrers, Dr. Waldeck, fortgeführt werden sollte. Dieser Len suchte sich zugleich Lenriette Breymanns Lülfe zu sichern. Sie sollte den Kinder­ garten und den ersten Schulunterricht versehen, sowie auch den Verkehr mit den Eltern der Zöglinge und die geselligen Beziehungen pflegen. So blieb Lenriette noch in Baden, bis die Leitung der Anstalt im Lerbst 1853 in andere Lände überging. Dann kam sie in das elterliche Laus zurück auf kurze Zeit, wie sie dachte. Es war die trübste Zeit ihres Lebens. Sie kehrte gewissermaßen als Schiffbrüchige in die Leimat wieder, denn zu dem äußeren Mißlingen ihrer Anternehmungen in Schweinfurt und Baden kam ein für sie noch viel herberes Schicksal hinzu, die Auflösung ihrer Verlobung. Anumstößliche Tatsachen zwangen Lenriette nach geduldigem Larren und nach unsäglichem Leiden zu der Einsicht, daß ihr Verlobter ihrer Liebe ganz unwürdig war, daß eine Verbindung mit ihm beiden den Antergang bereiten und das Anglück einer ganzen Familie bedeuten würde. In ihrer inneren Verzweifelung legte sie ihr Schicksal in die Lände der treuen Eltern, indem sie den Abschiedsbrief an den Verlobten den Eltern schickte. Diese sprachen sie jeder Verpflichtung frei. So wurde sie mit liebender Teilnahme in das elterliche Laus ausgenommen; das Maß ihrer Leiden schien voll. Lenriette verlor ihren Verlobten auf eine Weise, welche jede wehmütig schöne Erinnerung ausschloß, denn sie hatte etwas geliebt, was nie da gewesen war. Am so grausamer war daS Erwachen. Die Grundpfeiler ihres Lebens schienen mit dem Verluste ihrer Liebe zu wanken, eine ganze innere Welt versank im Chaos, und wenn schließlich der Geist Gottes über dem Chaos schwebte und sprach: „Es werde Licht", so war das Entstehen einer neuen, grünenden Erde ein Prozeß der Jahre. Da LenriettenS Liebe mit ihrem innern und äußern Lebensziele verwebt war, so mußte der Verlust ein doppelter für sie sein. Denn, obgleich sie der Erziehung tteu blieb, so war ihr schönes Ideal eines gemeinsamen Wirkens des männlichen und weiblichen Prinzips in der Erziehung zertrümmert. Sie war sich fortan bewußt, nur ein Stückwerk in der Erziehung gestalten zu können, und Jahre hindurch, bis zur Zeit, als ihre Brüder erwachsen waren, und bis ihr geliebter ältester Bruder sich filr den Erzieherberuf entschied, empfand sie diesenMangel in ihrem Lylchlntka, $enctette.Sdjtabet I.

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Kapitel 10:

persönlichen Leben wie in ihrer Wirksamkeit. Die Grundrichtung ihres Wesens blieb bei aller inneren Selbständigkeit ein Suchen nach dem männlichen Gegengewicht, nach Ergänzung. Sie wollte, fteilich nicht in der knabenhaften Form vieler Männer, aber innerlich ihren Meister anerkennen, sich vor seinem Wesen und Können beugen, von ihm ge­ bildet werden und ihn wiederum bilden. Vielleicht liegt gerade in diesem offenen, erwartungsvollen Sinn der Männerwelt gegenüber (welche Lenriette trotz einer persönlichen, bitteren Erfahrung ihr Lebenlang be­ wahrte), in dieser intuitiven Anerkennung der männlichen Psyche als etwas Ursprünglichen, Anderen, Notwendigen zur vollen Gestaltung des Lebens, die Erklärung ihres Einflusses über viele Männer. Auf der andern Seite verhinderte sie ihre Selbständigkeit der Auf­ fassung, die ursprüngliche Wahrhaftigkeit ihres Wesens, die kleinlichen Lockmittel vieler Frauen zu gebrauchen. Damals galt aber eine starke Beobachtungsgabe und die Bildung eines selbständigen Urteils in einer Frau für „männlich", und so konnte Kenriette, auch ohne es zu beabsichti­ gen, manchen Männern unbequem werden. Sie war eben schon in dieser Periode ihres Lebens halb eine Frau der Zukunft. So war es mit dem innern Menschen bestellt bei Kenriettens Wiederkehr in die Keimst. Die äußere Lage war auch nicht glänzend. Zwar kehrte sie zurück mit dem Entschluß, nur einige Wochen bei den Eltern zu verweilen, um dann nach Frankreich, wo ihr eine Stelle in Paris angeboten war, aus­ zuwandern, um als Erzieherin in einer Familie die Sprache zu erlernen.

Sie glaubte sich gestählt genug dazu. Doch einmal unter den Ihrigen, war sie umringt von Liebe und Zartgefühl, und das verwundete Gemüt ward erweicht und empfänglich für Familienglück. Alle die Widerwärtig­ keiten, die sie in der Fremde erduldet, traten im Kinblick auf ein reines, gesundes Familienleben um so dunkler hervor, Kenrietten wurde es schwer, ja fast unmöglich, sich wieder auf längere Zeit von den Ihrigen zu trennen. Ihr Intellekt hätte sie dann auf Kosten ihres liebebedürftigen, lirbegebenden Äerzens befriedigt, und an diesem Zwiespalte wäre sie zugründe gegangen. Doch auch im Familienkreise gab es manches äußere Bedenken,

welches wohl erwogen werden mußte. Drei erwachsene Töchter umstanden die Eltern, zwar weilte eine, Marie, noch in der Ferne, doch hatte keine von ihnen andere Bande ge­ knüpft, als die mit dem Elternhause. Die Eltern hatten viel für ihre Er-

Auf der Wanderung. 1851 bis 1854.

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ziehung getan, die Jahre nahten, in denen die Söhne viel kosten würden, da erfaßte Lenriette als älteste den Entschluß, mit den Eltern die Sorge um die jüngeren Geschwister zu teilen. So stieg in ihr wiederum die Idee eines Erziehungsunternehmens im elterlichen Lause auf. Die Eltern wie die ältesten Schwestern erklär­ ten sich bereit, es nach Kräften zu fördern, jeder nach seiner Weise. Sie hofften, einige Kinder von 7—9 Jahren als Gefährtinnen für die kleine Ledwig, auch ältere junge Mädchen, welche eben der Schule entwachsen waren, zu bekommen. Diese sollten etwas Anterricht haben, daneben aber sich im Laushalte unter der Mutter Anweisung beschäftigen. Der Vater, der Dorffchullehrer und Lenriette wollten den Elementar- sowie wissenschaftlichen und literarischen Unterricht und Musik geben. Anna sollte den Landarbeitsunterricht und die Ordnung im Lause versehen. Eine Ausländerin wollten sie noch ins Laus nehmen, welche den £lnterricht in einer modernen Sprache geben konnte. Sollte dieser Plan sich lebensfähig erweisen, so wollte Marie, welche augenblicklich bei Marquards in Dresden war, dort einen Kindergarten leitete und sich daneneben für Klavier und Gesang ausbildete, nach Lause kommen. Lenriette und ihre Schwestern machten sehr bescheidene Aussprüche auf Gewinn, selbst für die damalige Zeit der billigen Lebensmittel war das Kostgeld niedrig; sie wollten nur nach Bestreitung der Auslagen ihren kleinen Bedürfnissen an Kleidung genügen! Ihr Leben im eiterlichcn Lause war immer ein einfaches, aber niemals ein ärmliches ge­ wesen; durch die Aufnahme von Pflegetöchtern veränderte sich die Laushaltung gar nicht, sie blieb wie sie immer war. Der neue Plan mußte erst bekanntgemacht werden, und da Lennette sich immer weit stärker im Landein, als imWarten erwies, so betrieb sie die Propaganda mit einer fieberhaften Last und Angeduld. Da trat eine liebe, edele Frau und Freundin der Breymannschen Familie mit einem Vorschläge an fie heran, welcher in der Zeit des Wartens erlösend wirken mußte. Lenriette sollte als Erzieherin des kranken Töchterchens Clärchen auf daS Gut in Groß-Winnigstedt ziehen, eine Stunde von Watzum entfernt. Sie sollte an keine Zeit gebunden sein, sondern so oft sie es für wünschenswert hielt, nach Lause fahren können. Sollten sich Pensionäre im Pfarrhause melden, oder die Brüder in den Ferien in der Leimat ihre Lülfe nötig machen, so war sie ftei zu gehen, dagegen sollte ihr kranker Zögling soweit hergestellt fein, so sollten beide zusammen nach Watzum übersiedeln.

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Kapitel 10.

Anter diesen Bedingungen wurde Lenriette in die Familie von Lantelmann ausgenommen. Sie hat während der Zeit des Wartens den Segen einer bestimmten Beschäftigung dankbar empfunden, welche zugleich die pekuniäre Unabhängigkeit von dem väterlichen Geld, beutel ermöglichte. Zu dem kranken Kinde wurde auf Anregung der Frau v. L. zuweilen die siebenjährige Ledwtg Breymann geholt, was sehr zur Belebung des Unterrichtes beitrug. Zu jenen Fahrten zwischen der Domäne in Groß-Winnigstedt und dem Pfarrhause in Watzum be­ liebte Lenriette sich der sogenannten „Milchpost" zu bedienen. Diese mußte um VaS Ahr morgen- auf dem Wege nach dem an der Bahn lie­ genden Städtchen Schöppenstedt nicht weit von Watzum vorüberfahreit. Der Kutscher spähte gewohnheitsgemäß auf dem Rückwege um sich, ob er Damenbegleitung zu erwarten habe. Auf diese Weise verging da- erste schwere Jahr der Resignation auf die verlorene Liebe, deS Karrens auf die erhofften Pensionärinnen. Es interessierten sich viele fiir LenriettenS Schicksal, wie für ihre Zukunft-Pläne im guten wie im bösen Sinne. Einige kluge Leute hatten es längst gesagt, wie eS kommen würde; Kenrietten fehle jede Kingabe an die Fröbelsche Idee, sie denke nur an sich selbst. Andere verfolgten den Berlauf ihre- Leben- mit mehr innerem Verständnis, aber niemand war so recht damit einverstanden, daß sie sich in den beschränkten Wirkungs­ kreis deS elterlichen LauseS zurückziehen wollte. Solche fürchteten, Lennette könne selbst in einem ErziehungSunternehmen bei den Eltern keine Beftiedigung finden; sie gehöre in die Welt, in ein größere-, bewegtereLeben, sie müsse anregen und angeregt werden usw. Oberflächlich be­ obachtet, mögen die letzteren recht gesehen haben, aber Kenriette ließ sich nicht von solchen guten Freunden beirren; sie folgte der Stimme ihre» Kerzen- und nahm die äußere Beschränkung deS Lebens auf sich. Zum Kerbst 1854 wurde die erste Pensionärin fest angemeldet, eine liebliche Mädchenerscheinung von 15 Jahren und weitläufige Berwandte der Familie, Luise Mirow*), zu ihr kamen nach einigen Monaten andere hinzu, und so wurde Kenrietten» Gegenwatt im elterlichen Lause notwendig.

*) Spätere Gattin Karl Breymanns.

Kapitel 11.

Im Watzumer Pfarrhause.

1854 bis 1864.

Äußerer Verlauf des Unternehmens.

enriette hat sich zwar nie mit der prosaischen Umgebung Watzum­ ganz aussöhnen können, auf die Fruchtbarkeit des Landstrichs an» spielend, verglich sie ihn in launiger Stimmung mit „einem dickge­ strichenen Butterbrote", und dennoch war diese Gegend eine vorzügliche Pflanzstätte für ein Familienunternehmen, wie es Breymanns beab­ sichtigten. Das geräumige Pfarrhaus stand inmitten eines großen eige­ nen Gartens, welcher in einen großen bepflanzten Los auslief. Damals lag das Dorf selbst gebettet in wogenden Korn-, Mais- und Flachs­ feldern in einer fruchtbaren Ebene, die wie mit einem Winkelmaß durch, schnitten wurde von der vielleicht 4 Kilometer langen Chaussee, welche den Lauptverkehr zwischen Watzum und dem Ackerstädtchen Schöppen­ stedt vermittelte. In ziemlicher Entfernung erhob sich im Norden eine sanfte Anhöhe von dem historisch berühmten Laubwald, dem „Elm" ge­ krönt, während im Westen die Asse mit den Ruinen der Asseburg, im Süden in nebliger Ferne der Brocken mit seinem Gebirgsgefolge den Horizont abgrenzte. Watzum war zu der Zeit noch ein Ackerdorf; die Goldgrube der Zuckerrübenfabrik hatte sich noch nicht aufgetan. Die Dorfbewohner waren wohlhabende Bauern, jeder bewirtschaftete sein Gehöft selbstän­ dig mit Lilfe ter Familienglieder und einiger ständiger Knechte. Ein wechselndes Arbeiterpersonal gab es nicht einmal auf dem im Dorfe befindlichen Rittergute. Die ältere Generation trug noch ihre ländliche Tracht und die niedersächsische Mundart war bei allen wichtigen Erleb­ nissen siegreich über das schulgelernte Lochdeutsch. In diesem sozialen Milieu wurde das Pfarrhaus zu Watzum ein Mittelpunkt erziehlichen Strebens, welches nicht ohne kulturellen Einfluß auf das Dorf blieb und Jahre hindurch der Aufgabe der Kirche fördernd zur Seite stand. Während der ersten zwei Jahre fanden sich neun ftemde, junge

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Kapitel 11:

Hlädchen im Pfarrhause ein, welche den Unterricht und das Leben mit den jüngsten Ächtern, Albertine und Ledwig, teilten. DerRahmen des häuslichen Lebens wurde durch die Aufnahme fremder Kinder auch hier

nicht geändert. Nicht nur örtlich und äußerlich, sondern durch Gemüt

und Willen wurden die fremden Elemente bald so mit dem Leben im Pfarrhause verwoben, daß das vertrauliche „Du", das übliche „Tante"

und „Onkel", mit welchen man die verehrten ältesten Mitglieder der Breymannschen Familie anredete, als selbstverständlich erschienen und höchstens den Außenstehenden auffiel. Ein aus dem Jahre 1854 stammender, von Henriette geschriebener Entwurf der Tagesordnung des häuslichen Lebens im Dfarrhause mag

hier seinen Platz finden: 3m Sommer wird um 5 Ahr*), im Winter um Vz7 Ahr*) geweckt;

in ersterer Jahreszeit werden Arbeiten für die Lehrstunden gemacht. Am 7 Ahr wird das erste Frühstück eingenommen. 3m Winter werden die

Vorbereitungen für die Lehrstunden des Nachmittags nach dem Kaffee von 4—6 Ähr gemacht.

Alle erscheinen zum ersten Frühstück in einem ordentlichen Morgen­ anzüge und mit dem Strickzeuge. Es wird vom Vater ein Gebet gelesen,

dann Kaffee getrunken, später werden Taffen und Gläser gespült. Am 8 Ahr muß alles wieder in Ordnung sein. Von 8—10 find Lehrstunden. Es soll in diese ausgenommen wer­ den: Deutsche, englische und französische Sprache, Literatur und Geschichte, Naturkunde und Geographie. Es ist bei diesem Anterrichte der

Zweck, die Lücken auszufüllen, welche etwa die Schulbildung gelassen, besonders aber die Mädchen auf alles Schöne und Große hinzuweisen,

sie dafür empfänglich zu machen, eiteleSWiffen zu verbannen, zum selbst­ ständigen Denken und Verarbeiten des Gegebenen anzuleiten, damit,

was sie aufnehmen, auch ihr eigen werde und seine Wirkung auf das wirkliche Leben sichtbar mache. Von 10 Ahr an werden die Mädchen unter Anleitung der Mutter in daS Lauswesen, besonders in die Küche eingefühtt. Diese häuslichen

Geschäfte werden so eingerichtet und verteilt, daß für 8 Tage zwei allein

die Küche, zwei sonstige häusliche Beschäftigungen übernehmen, wobei den letzteren so viel Zeit bleibt, Klavier zu spielen oder zu zeichnen, wenn sie solche- gern anfangen oder fortsetzen wollen.

*) Später geändett, um */*7 und um 7 Ahr wurde aufgestanden.

3m Wahumer Pfarrhause. 1854 bis 1864.

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Am 12 Ahr müssen die Dienstboten essen, um 1 Ahr ist für uns

Mittagstisch, bei welchem alle außer der einen, die das Anrichten der

Speisen zu besorgen hat, fertig angezogen erscheinen und auch dies« nur den Morgenrock mit dem Kleide zu vertauschen hat. Bis 2 oder V23 Ahr muß alles möglichst ruhig im Lause sein, weil die Mutter gewohnt ist, da ein kleines Schläfchen zu halten. Dann aber

versammeln sich alle in Mutters Zimmer mit dem Nähzeuge. Es wird unter unserer Anleitung da gearbeitet, und es versteht sich von selbst, daß die feinen Arbeiten so lange zurückstehen müssen, bis die ordentlich geübt

sind, welche für das Laus nötig sind. Am 4 Ahr wird Kaffee getrunken. Bei der Arbeit wird öfter etwas vorgelesen zur Belehrung oder Anterhaltung, wie das gerade die ®e» legenheit mit sich bringt.

Am 6 Ahr wird von denen, welche die Woche haben, die Vorberei-

tung zum Abendessen gemacht; die andern beschäftigen sich nach Belieben.

Am 7 Ahr wird gegessen. Nach Tisch wird im Sommer bei schönem

Wetter spazieren gegangen; im Winter muß das mittags geschehen.

Fällt der Spaziergang fort, so wird gelesen, musiziert oder sonst etwas vorgenommen, was zur Anterhaltung und Freude dient. Im allgemeinen ist 10 Ahr die Zeit des Schlafengehens, aber besondere Veranlas­

sungen gestatten auch gern eine Ausnahme. Anser ganzes Zusammenleben hat den Zweck im Auge, die Mäd­ chen zu befähigen und zu vervollkommnen für ihren, von derNatur an-

gewiesenen Beruf: Pflegerin des Läuslichen, die leitende oder helfende Land in der Sorge für der andern leibliches und gemütlichesWohl, Er-

zieherin der Kleinen in der eigenen Familie oder der ihnen sonst anvertrauten Kinder zu sein. Wir wollen darauf hinwirken, daß ihre Wirk­ samkeit im Lause eine segensreiche, ihre ganze Erscheinung eine wohl-

tuende sei. Wir möchten sie auch Hinweisen auf das Elend und Anglück

außerhalb eines glücklichen Familienkreises, damit wir uns nicht selbstsüchtig in demselben abschließen, sondern da draußen trösten und helfen

nach unsern Kräften."

Im Lerbst 1855 mußten schon bauliche Veränderungen im Innern des Pfarrhauses gemacht werden, um acht Pensionärinnen auf­

nehmen zu können; währenddessen unternahm Lenriette eine Studien­ reise nach Dresden und besuchte ihre Schwester Marie. Im Frühjahr

1856, trotz Erhöhung des Kostgeldes hatten sich neun Pensionärinnen

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Kapitel 11.

eingefunden, und die lieb« Lausfrau mußte ein zweites Dienstmädchen nehmen; im Lerbst desselben Jahres mußte ein Zimmer im oberen Stockwerke des Schulhauses gemietet und eingerichtet werden zur Auf. nahm« von Pensionärinnen oder Gästen. Zm September 1856 kehrte Marie Breymann in das elterliche Laus zurück, um Lenriette bei derPension zu helfen, und mit ihr begann eine neue Ära in dem erzieherischen Leben im Pfarrhause. Außer den von Lenriette schon begonnenen Sonntagsspielen und der Nähschule für die Dorfjugend spielte Marie Breymann täglich eine Stunde mit den kleinen Dorfkindern; ferner leitete sie jeden Mittwoch und Sonnabend unentgeltlich einen Kindergarten in Schöppenstedt, wozu die Stadt nur das Lokal stellte. Neue Prospekte, in welchen die Fröbelschen Prinzipien als Grundlage der gesamten weiblichen Erziehung und des Unterrichts anerkannt wurden, ließ das Schwesterpaar

drucken und veröffentlichen. Lenriette glaubte damals durch eine Mädchenpension allein di« Segnungen der Fröbelschen Erziehungsweise der Mädchen- und Müt­ terwelt teilhaftig machen zu können. Sie wollte eigentlich damals nicht im Pfarrhause eine berufliche Ausbildung des Mädchens als Kindergättnerin und häusliche Erzieherin übernehmen, einmal aus der oben erwähnten Auffassung der Mädchenpension, dann auch aus Rücksicht auf die alternde Mutter, welcher der Gedanke, erwachsene Frauen als Lernende im Lause zu haben, höchst unsympathisch war, und schließlich weil die Ausbildung während weniger Sommermonate mit ungenügenden Lehrkräften für Lenriette eine Qual bedeuten mußte. Doch die Verhältnisse zwingen den Menschen zuweilen, vorübergehend eine nur un­ vollkommen zu lösende Aufgabe aufzunehmen, um Schlimmeres zu verhüten. So war es in diesem Falle. Gegen Ende der fünfziger Jahre schien das Interesse an der Fröbelscheu Sache zuzunehmen. Man sprach und schrieb zuversichtlich über die Absicht Bethmann-Lollwegs, das Verbot der Kindergärten in Preußen aufzuheben, und man schrieb das Verdienst allgemein dem Einflüsse der Frau von Marenholtz-Bülow zu. Die Beziehungen der Breymann» schen Familie zu dieser Frau bestanden seit dem Jahre 1849, aber jetzt wurden sie reger und reger. Von 1856 an verging kaum ein Jahr ohne einen längeren Besuch der Frau von Marenholtz im Pfarrhause zu Watzum. Sie brachte zuweilen andere Damen mit, für welche Breymanns Logis, Beköstigung und praktische Unterweisung im Kinder-

Im Wahumer Pfarrhause. 1854 bis 1864.

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garten in Schöppenstedt und im Dorfe Watzum finden sollten. Frau von Marenholtz schien die Absicht zu haben, aus der Pension eine Pflanz­ stätte für die berufliche Ausbildung der Kindergärtnerinnen zu machen, und erteilte während ihrer Anwesenheit mit Henriette zusammen den Unterricht in der Fröbeltheorie. Beständig drang sie auf Henriette ein, rasch das Lehrpersonal zu vergrößern und die Zahl der jüngeren Mäd­ chen zugunsten der Erwachsenen einzuschränken. Mit fieberhafter Energie wollte sie den leitenden Persönlichkeiten in Watzum beweisen, wie man in der Sturm -und Drangperiode der „Idee" lebe, wie man rasch die Kräfte ausbilden müsse, welche demnächst überall nach Aus­ hebung des Verbotes in Preußen, von Kindergarten- und Frauen­ vereinen verlangt werden würden. Dem Breymannschen erziehlichen Genius entsprach eine rein äußerliche Erweiterung der Ziele der Anstalt auf Kosten des inneren Zusam­ menhanges und der Einheit der Auffassung gar nicht. Auch war ein voll­ ständiges Eingehen auf Frau von Marenholtz' Forderungen unter den obwaltenden Familien- und Wohnungsverhältnissen auf dem Dorfe, weit von einer größeren Stadt, unmöglich. Mehr um dem Drängen der Frau von Marenholtz entgegenzu­ kommen als aus eigener Initiative wurden Zimmer im Dorfschulhause gemietet für zwei erwachsene Damen, und ein Fröbelkursus wurde im Oktober 1857 eingerichtet. Zu dem Fröbelkursus wurden später auch die reiferen der jungen Mädchen im Pfarrhausc zugezogen. Dieser Unter* richt wirkte auf die gesamte Mädchenwelt wohltuend zurück. Die älte­ ren fühlten sich gehoben, würdiger, dem Ernste des Lebens näher gerückt; die jüngeren sahen scheu hinauf zu denen, welche einen Unterricht ge­ noffen, dessen sie noch nicht würdig erachtet werden konnten. Die praktische Anleitung im Kindergarten in Schöppenstedt, später auf dem Pfarrhofe übernahm Marie Breymann, welche selbst eine Volkserzieherin von Gottes Gnaden war und zugleich den erzishlichen Zielen der Schwester feines Verständnis entgegenbrachte. Im Kinder­ garten mußte man Marie Breymann den Kindern eine Geschichte in plattdeutscher Mundart erzählen sehen (denn einige Zuhörer sahen die Wirkung, begriffen wohl den Sinn im ganzen, ohne die einzelnen Worte zu verstehen). Oder man mußte bei den Kreis- und Laschespielen die improvisierten Ausbrüche eines unbändigen Humors erlebt haben, um eine Ahnung zu bekommen, wie die Fröbelsche Erziehungsweise in genialer Handhabung volkserzieherisch wirken kann.

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Kapitel 11:

Mit Marie Breymann Arm in Arm einen Spaziergang durch das Dorf zu machen, war zu jeder Zeit ein Genuß. Rechts und links ein un­ geniertes, aber herzhaftes Kopfnicken, Mühenlüsten, Anreden auf „Du und Du". Man begrüßte weniger die Pastorentochter als die Freundin der Jugend und deren Eltern. Gern machte man ihr am Feierabend auf der Bank vor der Äaustür einen Platz frei, wenn sie nahte; herzlich er­ freute es eine bäuerliche Hausfrau, wenn sie mit einer der vielen „Fräu­ leins" am Sonntag nachmittag in ihre gute Stube einkehrte zu einer Taffe Kaffee mit „Prillecken". Wie wußte Marie durch ihr frisches, hei­ teres Wesen, durch ein kerniges, plattdeutsches Wort den Leuten gleich nah zu kommen, ohne selbst zu wissen, wie. — Etwas Volkstümliches lag ihr im Blute; ihr Geburtstag gestaltete sich mit den Jahren fast zu einem Dorffeste. Im vertraulichen Gespräch mit Henriette, halb scherzend und doch im Grunde ernst, wies Marie Breymann auf den sehr einflußreichen Volksschullehrer, Herrn Schuchs in Oker, hin und sagte: „Sieh, Lenriefte, ich hätte so einen Schullehrer heiraten müssen und mit ihm Schule halten mögen und mich quälen mit ihm, und so mit ihm im Volke leben— das wäre eigentlich meine Sphäre gewesen I" Marie Breymann war viel umworben von Männern, doch die Liebe zu ihrer Familie, ganz besonders zu Henriette, ließen Heiratsgedanken bei ihr schwer aufkommen. Als sie einmal einen sehr ehrenvollen Äeiratsantrag bekam, übte sie gerade Klavier. Nachdem sie den Brief gelesen, händigte sie denselben ihrer Schwester mit denWorten: „Wollen wir, Henriette?" And als die Schwester erwiderte: „Ich glaube, er hilft uns nicht in unserer Lebensarbeit", sagte sie ganz gelassen: „Nun, dann n i ch t" und spielte ganz ruhig weiter. Sie hat den Antrag auch abgewiesen. Anfang des Jahres 1858 hatte Senriette den Plan gefaßt, einer Freundin der Familie ihre Stelle in der Pension zu übertragen, um auf sechs Monate nach Paris zu reisen. Dort wollte sie eine größere Beherrschung der Sprache erlangen, sich an den reichen Kunstschähen erfreuen und auch bilden. Doch, ihr Ziel sollte sie auf eine andere Weise erreichen. Kaum waren die Vorbereitungen zu dem Plane eingeleitet, als eine Anfrage von feiten des belgischen Anterrichtsministeriums an sie gelangte, ihren Aufenthalt in Brüssel zu nehmen, um dort Vorträge über die Fröbelschen Ideen in stanzösischer Sprache zu halten und in einer Schule die Methode praktisch einzuführen.

Im Wahumer Pfarrhause. 1854 bis 1864.

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Sentierte mochte aus Familienrücksichten und aus übergroßer Ge­ wissenhaftigkeit sich sträuben. Erwachsenen eine berufliche Ausbildung als Kindergärtnerinnen zu geben, immer wieder wurde sie durch die Verhältnisse auf diese Bahn gedrängt. Dem so ehrenvollen Anträge der belgischen Negierung mußte sie ihren 1. Plan opfern. So reiste sie Mitte April 1858 nach Brüssel. Frau von Marenholh war daselbst seit Monaten tätig gewesen in dieser Angelegenheit und hatte das Ministerium so weit gewonnen, daß dasselbe 15,000 Frs. bewilligte, um in einer Mädchenschule Brüssels (ecole des peres de famille) die Sache praktisch einzuführen. Die äußeren Bedingungen, unter denen Sentierte lebte, waren: eine Entschädigung von 800 Frs, freie Station und ein eigenes Zimmer in einer gebildeten Familie, wo man ihr täglich unentgeltlich französischen Unterricht gab. Ihre Stellung ihrem Publikum gegenüber war eine sehr angenehme; niemand bezahlte etwas, sogar alles Unterrichtsmaterial wurde frei geliefert auf Kosten des Unterrichtsministeriums. In der Mädchenschule in der Vorstadt Brüssels, St. Josse-ten-Noode sollten die verschiedenen Lehrkräfte aus den Bewahranstalten sich ver­ sammeln; dort sollten sie mit den Mitteln'und Grundsätzen Friedrich Fröbels bekannt gemacht werden. Die ganze Einrichtung dieses Kursus bot Sentierte große Schwie­ rigkeiten. Die Schüler und Schülerinnen und Inspektoren, welche den Kursus besuchten, standen auf den verschiedensten Stufen der Bildung. Dreimal wöchentlich abends von 6 bis 7% Ahr war der theoretische Unterricht, die Mitglieder waren meistens müde, denn sie hatten von morgens um 8 Uhr bis nachmittags um 4 Ahr gearbeitet, und der Weg zu dem Versammlungslokal war für viele eine Stunde weit zu gehen. Zweimal die Woche von 2 bis 4 Uhr nachmittags war der praktische Kursus, an welchem außer dem Personal der Schule fast keines der übrigen Mitglieder teilnehmen konnte, da sie anderweitig beschäftigt waren. Sehr bald nachdem der erste Kursus begonnen hatte, kam eine zweite Aufforderung an Sentierte; man bat sie, einen Kursus im Semi­ nar für Lehrerinnen zu halten. Dieser Kursus bereitete Sentierte sehr viel Freude, da der Zuhörerkreis ein vorgebildeter, geschlossener war. Ebenso kamen Anfragen von Klöstern, und selbst mehrere meres superieures und trores schlossen sich dem Unterrichte an. Sentierte mußte umSUfe bitten, denn ihre Kräfte hielten mit ihrem guten Willen nicht

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Kapitel 11:

Schritt. Eine Französin,Mademoiselle Champs Renaud, welche in der Marquardschen Schule in Dresden und auch bei Breymanns in Wat­ zum Fröbel praktisch und theoretisch studiert hatte, kam Lenrietten zu Äilfe, und diese beiden Frauen arbeiteten den ganzen Sommer hindurch in schönster Larmonie an ihrer schwierigen Aufgabe. In diesem Jahre befand sich in Belgien das berühmte liberale Mi­ nisterium Rogier am Ruder, welches sich um die Äebung des VolksUnterrichtswesens schon in einer früheren legislativen.Periode große Verdienste erworben hatte. Da die Verfassung Belgiens nach englischem Muster eine konstitutionelle Monarchie war, so war die Mehrheit im Unterhaus« ausschlaggebend für den Charakter des Ministeriums (ob klerikal oder liberal). Daraus erklärt sich die Tatsache, daß die ganze politische und soziale Strömung für die Fröbelsche Reform damals weit günstiger als in Deutschland war. Gesellschaftlich kam man der begeisterten Großnichte Friedrich Fröbels sehr freundlich entgegen. Zuerst durch die Empfehlung der Frau von Marenholtz, später gewiß um ihrer selbst willen wetteiferten einflußreiche und vornehme Familien miteinander, diesen Typus frischer, deut­ scher Weiblichkeit den Aufenthalt in Brüssel angenehm zu machen. Überhaupt beschäftigte!» sich dort die tüchtigsten Männer, die gebildet­ sten Frauen mit den Fröbelschen Anschauungen; die Sache wurde mit einem Ernst und Eifer betrieben, welchen man damals in Deutschland auf diesem Gebiete nicht kannte. Kenriette erreichte durch den Aufenthalt in Brüssel ein doppeltes Ziel: Sie kam in die denkbar günstigste Schule zur Erlernung der fran­ zösischen Sprache, denn man lernt eine fremde Sprache am leichtesten, wenn man sich ihrer bedienen muß, um geistige Werte zu vermitteln. Sie schrieb die Vorbereitungen zu ihren Vorträgen nieder, über­ setzte diese mit Lilfe eines LehrerS und lernte die korrekte Übersetzung

auswendig. Diese fortgesetzte große Arbeit bildete später den Haupt­ bestandteil eines sehr brauchbaren und weit bekannten französischen Handbuches: „Manuel pratique des jardins d’enfants“, worunter Henriette ihren Namen nicht drucken lassen wollte. Nach einem Aufenthalte von einigen Wochen in Paris mit Frau von Marenholtz, wohin sie zu ihrer Erholung nach getaner Arbeit reiste, kehrte sie am 19. November d. I. in ihre stillere Wirksamkeit nach Wat­ zum zurück mit dem ruhigen Bewußtsein, daß einige einflußreiche Persönlichkeiten von der Richtigkeit der Fröbelschen Grundsätze überzeugt

3m Wahumer Pfarrhause. 1854 bis 1864.

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feiert und mit unerschütterlichem Mut und geschickter Land an der Ne. alisierung derselben in der öffentlichen Erziehung arbeiten würden.

Nach der Rückkehr aus Brüssel wurde der Winter 1859/60 auf eine für Lenriette befriedigende Weise zugebracht, indem sie sich mit erneu­ tem Eifer in die erziehlichen Aufgaben im Lause vertiefte. Sie arbeitete auch mit an einem deutschen Landbuche über die Fröbelsche Methode, welches von Dr. Karl Schmidt, Schulrat und Seminardirektor in Gotha redigiert werden sollte. Zu einer ganz besonders patriotischen Feier gestaltete sich der 100jährige Geburtstag Schillers in diesem Jahre, an der Lenriette mit ihrer jugendlichen Schar teilnahm. Sie führte ihre jungen Mädchen nach Braunschweig, wo sie für eine Nacht Quartier bestellt hatten, um die Feier imRathause und im herzoglichen Theater mit zu genießen. Der Sommer 1860 brachte wiederum Frau von Marenholtz als Gast ins Pfarrhaus und mit ihr sieben Erwachsene als Fröbelschülerinnen, welche im Dorfschulhause untergebracht wurden; Frau Adele von Portugall befand sich unter diesen letzteren. Die Lerbstferien benutzte Lenriette zu einer Fröbelpropagandareise mit Frau von Marenholtz zusammen. Das Ziel der Reise war die Schweiz, und Bern, Lausanne, Genf wurden besucht. Bei dieser Gelegenheit sah Lenriette zum ersten Male die Alpen und genoß in vollen Zügen die Natur im großen Stile, als nähme sie etwas Verwandtes in sich auf. Lange wirkte die Freude an der großartigen Natur nach. Während derReise wuchsen die Briefe an die Ihrigen zu einem kleinen Buche zusammen, welches von Land zu Land ging und der Familie viel Unterhaltung gewährte. Ja, man beschloß im Scherz einstimmig, in Zu­ kunft Lenriette zu bitten, auf gemeinschaftliche Kosten jedes Jahr eine Reise zu unternehmen, damit sie allen Mitgliedern ergötzliche Briefe nach Lause liefern könne. DaS Jahr 1861 wurde nach verschiedenen Richtungen hin ein Jahr innern und äußeren Wachstums für LenriettenS Persönlichkeit, wie für ihre Bestrebungen. So kam ein ehrenvoller Auftrag von der russisch­ finnischen Regierung: vier gebildete Frauen (zwei Finnländerinnen und zwei Russinnen) sollte Lenriette in die Fröbelsche Erziehungsweise einführen; diese sollten sspäter in ihrem eigenen Lande, in der Volksschule ihr Können verwetten.

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Kapitel 11:

So mußten im Schulhause zu Watzum eine ganze Reihe Zimmer für die Erwachsenen gefunden werden. Ebenfalls wurden in den langen Ferien (Sommer- und Lerbstferien wurden zusammengelegt), im Pfarrhause selbst neue Räume ausgebaut zur Aufnahme von zwanzig jungen Mädchen. Ja Lenriette mußte viele Eltern mit dem Ver­ sprechen trösten, ihre Töchter ganz bestimmt in einem Jahre aufnehmen zu können. Da kamen zwei Väter in diesem Jahre auf den Gedanken, keine ab­ schlägige Antwort abzuwarten, sondern mit ihren zu erziehenden Töch­ tern einfach nach Watzum hinzureisen. Der eine meinte, ein so kleines Mädchen brauche nicht viel Platz, und es ließe sich ein Eckchen finden; der andere dachte dadurch die Aufnahme seiner Tochter zu sichern, daß er neben dem üblichen Kostgeld noch eine beträchtliche Summe zum Ausbau eines Zimmers für seine Tochter niederlegte. Die still schaffendeMutter und Laussrau, zeitweise durch ihre Töch­ ter Anna und Albertine unterstützt, trug die tägliche Sorge für das leibliche Gedeihen von dreiunddreißig Personen in dieser Zeit, während Marie sechsundfunfzig, Lenriette sechzig Stunden wöchentlich arbeitete 1 Daneben wurde der gesellige Verkehr mit den Eltern der Zöglinge, mit Nachbarn und befreundeten Familien in Braunschweig und der !lmgegend nicht vernachlässigt, und kaum ein Sommersonntag verging ohne Besuch. Der Winter erlitt weniger Unterbrechungen von außen, doch für das Recht der Jugend auf Vergnügen wurde innerhalb des Laufes reichlich im Winter gesorgt. Lenriette benutzte die verhältnismäßige Ruhe des Winters zum Studium und zu schriftstellerischen Arbeiten auf pädagogischem Gebiete. Ernstere Aufsätze von ihrer Land erschienen in dem Braunschweigschen Echulblatte, auch in dem von Schmidt (Köthen) redigierten Blatte „Erziehung der Gegenwart" und erregten die Aufmerksamkeit der Schul­ behörde in ihrem engeren Vaterlande. Besonders für die KindergartenPropaganda tätig war der Konsistorialrat Lirsche, welcher der pädago­ gischen Abteilung des braunschweigschen Predigerseminars damals vorstand. Leider folgte er einem Rufe als Lauptpastor nach Lamburg und sein wichtiger Einfluß ging für die Fröbelsche Sache im braunschwei­ gischen Lande verloren. Auch leichtere literarisch« Versuche, wie Kindergeschichten, Allegorien, Märchen schrieb Lenriette, und diese fanden in den Bänden von „Lertzblättchens Zeitvertreib" und andern Jugendschristen jener Zeit

Im Wahumer Pfarrhause. 1854 bis 1864.

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willige Aufnahme und wurden auch honoriert; sie sind leider anonym erschienen, wie es damals unter Frauen vielfach Sitte war. Mit den bekanntesten Vertretern der Fröbelschen Sache stand Lennette in ständiger Korrespondenz; zeitweise weilten ihre Schwestern Anna und später Ledwig in der Schweiz, der Bruder Karl in Berlin, Adolf und Albertine trieben Kunststudien in Dresden, und mit allen diesen Familienmitgliedern führte sie einen regen Briefwechsel, wobei di« ungewöhnliche Geschwindigkeit, mit welcher sie Situationen und Charaktere zeichnete, ihr sehr zustatten kam. Durch die treue, unermüdliche Unterstützung der Eltern und Schwe­ stern war das Erziehungshaus in Watzum zu einer unerwarteten Blüte gediehen. Das Unternehmen konnte innerhalb des jetzigen Rahmens un» tnöglich weiter wachsen; mit zwanzig jungen Mädchen im Pfarrhause und zwölf erwachsenen Fröbelschülerinnen im Dorfe war die äußerste Grenze erreicht. Trotz Erhöhungen des Kostgeldes mußten Breymanns in den Jahren 1862 bis 1864 fast jedes Semester zwischen zwanzig und dreißig Anmeldungen abweisen; außerdem waren für zwei Jahre im voraus alle Plätze belegt. Unter diesen Umständen wurde die Frage der Verpflanzung der Erziehungsanstalt auf ein eigenes Grundstück immer dringender. Auf die alternden Eltern mußten die Kinder Rücksicht neh­ men; besonders lastete die Führung eines so großen Laushaltes von Jahr zu Jahr schwerer auf der Mutter. Lenriette stand nun in der Mitte ihres Lebens. Mit ihrer wachsenden Kraft und einem immer klarer werdenden Ziele auf dem Gebiete weiblicher Erziehung fühlte sie, daß die Zeit reif war für eine äußere Trennung des Unternehmens vom eiterlichen Lause, aber wohin? Sollten sie im Dorfe ein Grundstück zu er­ werben suchen und bauen? Sollte man in einer reizvolleren Gegend sich neu ansiedeln? oder in der Nähe einer Stadt oder gar in eine Stadt ziehen, groß genug, um die wissenschaftlichen und künstlerischenLilfströste für den Unterricht liefern zu können? Es wurde in den letzten beiden Jahren lange hin und her beraten und mancher Ort in dieser Absicht besucht, ohne zu einem Entschluß zu kommen. Manche Familienereignisse sollten in der Wahl des Ortes ein Wort mitsprechen. Der älteste Sohn und Bruder, Karl Breymann, hatte im März 1862 sein letztes theologisches Examen absolviert, war aber immer noch nicht ganz schlüssig, ob er in der Tätigkeit des Landpastors oder der des Erziehers das Schwergewicht seiner Lebensarbeit suchen sollte. Er neigte

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Kapitel 11.

zu letzterem und Sentierte sah in seiner Mitwirkung ein Ideal ihres Lebens — die männliche Mitwirkung in der Erziehung — erreicht. Außerdem war er mit Luise Mirow verlobt; diese arbeitete seit einigen Jahren als geschätzte Lehrerin in Deutschland und England. Die jüngere Schwester Albertine mit P.W.Amsinck, Landwirt von Beruf, bildeten

ein zweites Brautpaar in der Familie. Der Wunsch Sentierten^, etwas Gemeinsames zu unternehmen, schien auf die zuletzt aufgenommenen Mitglieder der Familie überzugehen. Sentierte entwarf einen herrlichen Zukunstsplan; leider setzte derselbe eine Reihe ineinandergreifender Verhältnisse voraus, welche schwerlich gleichzeitig an einem Orte zu finden sind. Aber der Entwurf entsprach einem Ideal in Sentiettens Seele: Eine vielseitig gegliederte Tätigkeit verschiedener Berufe, die sich gegenseitig unterstützen und dem Zweck der Menschenbildung dienen. Dieser Traum schienzuweilen gar nicht unmöglich zu realisieren, so einig war das Streben der Familie; doch die Vorbedingungen und Verhältnisse ließen sich nicht zwingen. Während die Familie diese wichtigen Fragen erörterte, wurde Sen­ tierte wiederum dringend gebeten, im Frühjahr 1864 nach Genf zu kom­ men, um Freunden der Fröbelschen Ideen bei der Begründung eines Erziehungsvereins behilflich zu sein. Sie entschloß sich, diesemNufe zu folgen, denn ihr Bruder Karl, der von einem längeren Aufenthalte in Lausanne nach Deutschland zurückkehrte, harte sich bereit erklärt, ihren Teil des Unterrichts zu übemehmen, und die erziehliche Leitung blieb in den Sünden der Eltern und Schwestern. Auch verboten es die Räum­ lichkeiten, einen Fröbelkursus in Watzum zu beginnen, da im Laufe dieses Jahres die Anstalt aller Wahrscheinlichkeit nach verpflanzt werden mußte.

(nach einer Zeichnung von fiedroig vreymann).

Das Pfarrhaus zu Watzum

Kapitel 12.

3m Watzumer Pfarrhause: Erziehliches Leben, Unterricht, Beschäftigung. auch die geniale, treibende Kraft von Henriette Breymann a usging, welche ihre eigene Familie sowie alle ftemden Elemente zu einem Ganzen zusammenschweißte, so hatte sie viele Milerzieher; sie stand trotz aller Schwierigkeiten auf dem glücklichsten Boden, dem der eigenen sie liebenden, sie verehrenden Familie. Schon die Anwesenheit des ehrwürdigen, rüstig noch schaffenden Elternpaares, zu denen die Pensionärinnen, wie zu Großeltern vertrauensvoll hinaufsahen; dann die Schwestern, alle jung, talentvoll, nach dem damaligen Maßstabe gebildet und einig im Streben, gaben demGanzen einen familienhaften Charakter. Sehr schätzte Henriette den Besuch der Brüder und ihrer Freunde als Erziehungsfaktor im Verkehr mit den jungen Mädchen. Trafen die Brüder in den Ferien ein, so gewannen meistens der Harmlose Scherz und die Neckerei die Oberhand im Verkehr mit den anwesenden Pensionärinnen; waren sie während der Schulzeit im Eltern­ hause anwesend, dann reihte sich neben die Heiterkeit auch der Ernst des Lebens; der angehende Mediziner mußte die Elemente der Physiologie in bestimmten Stunden vortragen, der zur Schweigsamkeit neigende Bildhauer mußte wenigstens mehreremal jede Woche Modellierstunde geben und sein redseliger Freund übernahm die kunstgeschichtlichen Vorträge; der Kandidat der Theologie war, wie schon erwähnt, nicht abgeneigt, mit den Schwestern gemeinsame Sache zu machen und trat zeitweise fitr den Vater oder für Henriette in die Anstalt ein. Die Anwesenheit verschiedener Generationen, der beiden Ge­ schlechter, der verschiedenen Altersstufen drückte dem ganzen Leben den Stempel eins edeln Familiengeistes auf, .welcher manchen technischen Mangel des Unterrichts wohl aufzuwiegen imstande war. Die Macht der genialen Erzieherin ist schwer zu analysieren, so sehr gleicht sie Lyschl ntka, Henriette Tchrader I.

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Kapitel 12:

einem Schöpfungsakte in ihrer Betätigung. Will man das Wesen von Lenriette Breymanns Einfluß auf dieMädchen- und Frauenwelt näher bezeichnen, so ist es wohl auf ein warmes, aber zugleich immer mehr sich läuterndes Muttergefühl, verbunden mit großen intellektuellen Fähigkeiten und starkem Willen zurückzuführen; sie selbst nennt cs: „Geistige Mütterlichkeit." Nicht als ob hier ein Abstrahieren alles Irdischen von ihrer reichen Naturanlage für sie in Anspruch genommen werden sollte, im Gegen­ teil: Henriette Breymann war in der Blüte ihrer jugendlichen Kraft, als Leiterin einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen nie ein äußeres Musterbild. Es bestand sogar eine ständige Spannung zwischen dem, was die Welt sich unter einer „Vorsteherin" denkt und Henriettens Naturell. Es gab Zeiten, wo sie der Pension „einen Fußtritt hätte geben können", um der in ihr noch nicht verbrauchten Kraft freien Lauf zu lassen. An den Bedingtheiten des bürgerlichen Lebens hat sie ge­ rüttelt mit elementarer Kraft, sich oft gegen dieselben aufgelehnt, jedoch ohne sie zu zerttümmern. In bezug auf ihren Verkehr mit der Jugend in der Pension möchte ich als charakteristisch hervorheben, daß er nichts Anstaltsmäßiges, Konventionelles an sich hatte. Henriette überging alle kleinen Maßregeln, welche die Erzieherin und Leiterin der Jugend gegenüber als ein Wesen höherer Ordnung erscheinen lassen sollen. Weder im Unterrichte wollte sie als allwissend, noch im Leben für unfehlbar gelten. Sie konnte dem natürlichen Zornaffekt über eine jugendliche Ungezogenheit oder Bummelei freien Lauf lassen. Ihre Zöglinge fürchteten sich vor ihrer Heftigkeit, aber weit mehr noch vor der Entziehung ihrer Liebe. War aber der erste Sturm ihres Miß­ fallens vorüber, war eine Besserung angestrebt seitens der Getadelten, so gab es himmlische Momente der Versöhnung, der inneren Erhebung, hervorgerufen durch daS Hindurchleuchten der Sonne ihres liebenden Interesses, durch ihren unvertilgbaren Glauben an die unerschöpften Möglichkeiten des Guten im junge»« Menschen. Sie hatte eben ein ganz intensives Interesse an allen psychischen Vorgängen im Menschen und einen intuitiven Blick für den Seelenzustand jeder einzelnen ihrer Schutz­ befohlenen. Sie fühlte ihre Macht über die Gemüter und freute sich derselben. Wie sie selbst auf dem Boden ernsten Sttebens die Welle des Lebens fluten ließ durch ihre bewegte Seele, so ersparte sie ihren Zöglingen nicht den Wellenschlag äußeren und inneren Erlebens. Di« Zöglinge waren auch im Verhältnis zu ihrer Erzieherin bald:

Im Wahumer Pfarrhaus«.

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„Limmelhoch jauchzend. Zum Tode betrübt. Glücklich allein Ist die Seele, die liebt."

Ja, eine Berliner Freundin ihres Wirkens charakterisierte ihr Verhältnis zur Jugend noch in ihrem reiferen Alter als das „des Rattenfängers zu Lameln", so groß war ihre Anziehungskraft, so unbe­ grenzt war das Verttauen, welches ein großer Teil der Jugend ihr entgegenbrachte, ohne daß sie sich besonders darum bemüht hätte. Man filhlte eben das warme Interesse einer mütterlichen Frau durch an dem Werdenden im Menschen. In bezug auf die intellektuelle Bildung machte Lenriette auf ihre best unterrichteten Schülerinnen in dieser Zeit nicht den Eindruck einer Persönlichkeit, welche über ein großes Wissen verfügte, aber was sie lehtte, ob französische Grammatik oder deutsche Geschichte oder Metrik, alles hastete. Sie entwickelte, sie verknüpfte das Gelernte mit dem Leben, es erhellte den Blick für die Außen- und Innenwelt; es waren Steine, die sich im Innern zusammenfügten zu einem größeren Gesamtbau, wenn es auch die Lernenden nur dunkel ahnten und erst später erkannten. Äenriette hatte eben selbst einen gewaltigen Einheitstrieb, und sie hatte an der Zusammenhanglosigkeit des Schulwissens in ihrer Kindheit und Jugend schwer gelitten. Ihre unerbittliche Wahrhaftigkeit war jedem Scheinwissen, jedem Schlagworte, welches mit einem ,,-muö" endigte, gefährlich. Wehe dem Mädchen, welches als „höhere Tochter" aus der „Selekta" zum ersten Male ein solches Wort laut werden ließ, wenn sie nicht Red« und Antwort stehen konnte über dessen Bedeutung! Anter Lenriettens Leitung gruppierte man verschiedene Disziplinen in parallel laufende Kurse, welche sich gegenseitig ergänzten und in Beziehung zueinander gehalten wurden. Zu dem Gebiete der deutschen Geschichte (welches Lenriette zu dieser Zeit in den Mittelpuntt stellte) gehötten Literatur- und Kunstgeschichte, Mythologie und Geographie. Ebenso verfuhr man mit der Gruppierung deS Stoffes, der sich an den stemdsprachlichen Anterricht anknüpste in der obersten Abteilung, nur waren die Lülfskräste britischer oder stanzösischer (schweizerischer) Rationalität selten fähig, diesen vielseitigen Anterricht zu erteilen, woraus eine große Arbeitslast für die Leiterin erwuchs, indem sie ihre Lülfskräste selbst heranbilden mußte zu einem solchen Anterricht«. Naturwissenschaft lehtte Matte; im Sommer wurden botanische 12«

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Kapitel 12:

Spaziergänge dem Unterrichte angegliedert. Man benutzte noch das Linnäsche System, und die Schülerinnen legten Äerbarien an. 3m

Winter lernte man etwas Zoologie und Physik; letztere gefiel den meisten wegen der interessanten Experimente; die Schülerinnen stellten die einfachsten Apparate dazu selbst her in der sogenannten „Papp­ stunde", unter der Aufsicht des erfinderischen Buchbinder-, des Lerrn Layder, aus Schöppenstedt; die Anweisung dazu gab Marie Breymann. 3n Albertinens Länden lag der Zeichen- und Malunterricht, und diese viel angeschwärmt« Lehrerin wußte manches blinde Auge sehend zu machen für die Schönheit der Pflanzenwelt. Im Winter wurden perspektivische Studien an Geräten, Möbeln und Zimmern, auch an den Fröbelschen Baukästen getrieben. Auf Larzpartien und sonstigen Ausflügen in die Natur forderte Albertine ihre vorgerücktesten Schülerinnen zum Wettkampf im Zeichnen auf, innerhalb einer bestimmten Zeit sollten sie eine Skizze nach der Natur zeichnen. Anna Breymann leitete den Landarbeitsunterricht und sorgte für die Ordnung im Lause. Am Sonnabend war die obligate „Flickstunde", wo alles während der Woche Zerrissene zum Vorschein kam, und wenn der Schaden bei Lichte besehen wurde, rief er manchen Seufzer von Anna Breymann hervor! Denn — zum Schaden der Kleider streifte die Jugend stet durchs Dorf und über- Feld; im Sommer nach der Turn­ stunde wurde im Turnkostüm in der Dämmerung „Räuber und Gen­ darmen" gespielt, oder Ball - und Laschespiele wechselten damit ab. Im Winter lief die Jugend Schlittschuhe auf dem Teiche im Gutsgarten mit freundlicher Erlaubnis des Besitzers, oder sie sauste auf Landschlitten einen kleinen Berg hinunter, von der Dorfjugend treulich begleitet. Eine frühere Schülerin schreibt: „Auch im Lause gab es regelmäßige, kleine Dienste, welche die älteren jungen Mädchen jede Woche neu verteilten. Da gab eS die „Tischdeckwoche" einschließlich des Auftragens der Speisen und des Abdeckens, ferner die „Stubenwoche", wobei für Ordnung und Abwischen in den Wohn- und Lehrräumen der Schülerinnen gesorgt werden mußte. Nicht angenehm war die „Ofenwoche" im Winter. Wer „Küchenwoche" hatte, mußte auch Tassen und Gläser spülen. Die „Lampenwoche" war wenig begehrt. Die eigenen Schlaftäume mußten natürlich auch selbst in Ordnung gehalten werden. Wer sein kleine- messingenes Hllämpchen Sonnabends

blitzblank geputzt hatte, war stolz darauf. Montags bürsteten die größe­ ren Mädchen ihr Zeug selbst aus."

3m Wahumer Pfarrhaus«.

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Alle diese häuslichen Pflichten wechselten mit den Lehrstunden ab, sie waren so verteilt, daß sie niemals störend in den Unterricht eingriffen. Der Onkel Breymann war in seiner Mußezeit wie sicher der große Gartenfreund und weihte auch in Watzum die Pensionärinnen in die Gartenkunst zeitweise ein. Die Kleineren dursten als große Gunst mit der Tante Breymann ein Spargelbeet abernten, Bohnen oder Erbsen pflücken oder für den Onkel Erde durchsieben. Die ganze Front deS Pfarrhauses war mit reich tragendem Wein bewachsen; nahte die Zeit der Reife, so kam der Knecht mit der Leiter und bedeckte jede Traube mit einer blauen Papiertüte, was nicht gerade dem ästhetischen Sinne Kenriettens entsprach. Überhaupt waren Vater und Tochter über die Anlagen im Garten ost verschiedener Meinung; er sah nur die Schön­ heit im einzelnen, sie wollte das Landschaftliche im Garten mehr ge­ pflegt wissen. Im Winter wurde Lenriettens leicht fließende Feder oft in An­ spruch genommen, um zu einem „Amüsement-Abend" die Theaterstücke eines Kotzebue, Iffland oder Benedix den Umständen und dem Können der Zöglinge anzupassen. Bei größeren Festlichkeiten, wozu Eltern und Geschwister, sowie besteundete Familien aus der Nachbarschaft «ingeladen wurden, ertönte wohl Annas liebliche Sopranstimme und Mariens herrliche Altstimme in einem Singspiel von Körner oder in einer Szene aus dem „Freischütz" und ergänzten den Chorgesang ju­ gendlicher Stimmen auf das schönste. Auch an Szenen aus klassischen Stücken, sowie an längere Gedichte von Schiller wagte sich die Jugend ost mit Zittern und Zagen heran, denn die Proben wurden von Lennette mit großem Ernst vorgenommen. Um ihren künstlerischen An­ sprüchen zu genügen, mußte man durch eine Art Fegefeuer der Kritik gehen in bezug auf Kleidung, Gebärden und Sprache. Die jungen Mädchen kamen oft weinend aus den Theaterproben, aber fasziniert waren sie doch, denn man fühlte, wie sehr viel man lernte, und mit wie brennendem Eifer Lehrende wie Lernende bei der Sache waren. Dem musikalischen Unterricht standMatie Breymann vor, denn sie war von Natur, wie durch ihre Vorbildung dazu befähigt. Ja, eS gab eine Zeit in ihrem Leben; wo ihre Liebe zur Musik und der Besitz einer wirklich schönen Altstimme, gepaart mit viel Grazie der Bewegungen ihre Gedanken auf die Bühn« als Beruf lenkten, und nur die entschiedene Mißbilligung des erschrockenen VaterS brachte die Tochter auf eine andere Verwendung der in ihr ruhenden Talent«.

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Kapitel 12:

Marie Breymann hatte selbst einen gediegenen Vorttag als Klavierspielerin, aber ihre vorgerückteren Schülerinnen führte sie gern Künstlern wie Richter und Blumenstengel in Braunschweig zu; sie blieb aber allen die Verkörperung des Musikalischen im Lause, die Verknüpfung der Musik mit dem Leben. Ganz besonders würde von ihr der Chorgesang im Pfarrhause gepflegt, und er trug viel bei zur Steigerung der Lebensfreude im allgemeinen. Selbst der Gottesdienst in der kleinen Dorfkirche zu Watzum erfuhr eine Bereicherung durch den Pensionschor; an besonderen Festtagen erhöhte ein Psalm oder ein anderer, nicht schwerer Festgesang die Andacht, so daß mancher Dorfbewohner, welcher sonst für kirchliche Vorgänge nicht empfänglich war, sich doch beim Gottesdienste einstellte, wo „die Fräuleins wie die lieben Engelein im Simmel" sangen. Bei Picknicks im Walde oder nach getaner Arbeit in der Gartenlaube, erhellt durch eine mattbren­ nende Ampel oder durch den hellsten Mondenschein erscholl ein fröhkicher oder feierlicher Chorgesang je nach vorherrschender Stimmung. Marie Breymann war eine durch und durch musikalische Natur, sie wählte die denkbar einfachsten mehrstimmigen Lieder, schrieb sie für drei Frauenstimmen oft um und brachte das Einfache in möglichster Vollendung in bezug auf Ton, Rhythmus, Motte zur Darstellung. So gingen alle Beteiligten mit Freude und Eifer an das Einüben, da sie sich ihrer Aufgabe gewachsen fühlten. Marie VreymannS vielseitige Begabung wurde von ihrer Liebesfähigkeit und seltenen Aneigennühigkeit des Charakters übertroffen. Sie stellte ihre Talente und ihre Person bedingungslos in den Dienst von Lenttettens Lebensbestrebungen, und dennoch blieb sie von Lenriette im Charakter wie im Temperament eine grundverschiedene Perstnlichkeit, welche ihre Eigenart nie verleugnen konnte. Dies war ein Glück für ihre gemeinsame Wirksamkeit, denn durch dieses sich ergänzend« Schwesternpaar kam eine Fülle von Anregungen, eine Frische und ein Schwung in das tägliche Leben, welche der Jugend die Pflichterfüllung leicht machte und den Freunden und Gästen einen geselligen Reiz mehr bot in dem viel besuchten Pfatthause. Fast symbolisch für das innige Verständnis der beiden Schwestern erscheint der im Jahre 1861 vorgenommene Ausbau einer unbenutzten Scheune auf dem Pfarrhofe zu einem Dorfkindergatten; Bau und Einrichtung wurden von Lenriettens und Mariens ersten Ersparnissen bestritten, und eine kleine Feier, wozu die Dorfbewohner eingeladen

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wurden, fand bei der Eröffnung des zweckmäßigen, wenn auch beschei­ denen Raumes statt. So befand sich Äenriette im Laufe von zehn Jahren an der Spitze einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen, sowie einer beginnenden Ausbildungsklasse für Erwachsene für die Kleinkindererziehung, An­ stalten, welche sich eines wachsenden guten Rufes erfreuten. Sie hatte das Leben der Eltern und Schwestern mit ihrem Unternehmen innig verwebt, als es ihr allmählich zum Bewußtsein kam, was zu der Leitung einer solchen Anstalt eigentlich noch fehlte. Vieles hatte dieNatur gegeben, aber doch nicht alles, und je größer die Erfahrung, desto klarer wurde ihr Blick für die Mängel, desto stren­ ger ihre Selbstkritik. Schaut man von dem heutigen Standpunkte der Bildungsmöglichkeiten für Frauen zurück auf die Mitte des 19. Jahrhunderts, so könnte einen ein tiefes Mitleid erfüllen für die denkenden Frauen jener Zeit. Anter welchen äußeren Schwierigkeiten und inneren Seelen schnierzen haben sie ihren Wissensdurst gestillt, ihre berufliche Tüchtig­ keit errungen! Äenriette Vreymann hat alle Leiden der Frauen ihrer Zeit reich­ lich durchgekostet, so auch in bezug auf mangelndes Wissen. Beide Schwestern, Marie und Äenriette haben während der ersten zehn Jahre ihres Erziehungsunternehmens die Ferien konsequent benutzt, die eine um ihre musikalische Ausbildung, die andere um ihre wissenschaftlichen Kenntnisse zu erweitern. Auch suchte Äenriette mehr Einsicht in die innere Organisation anderer Erziehungsanstalten zu gewinnen, wobei sie sich nicht allein auf Mädchen beschränkte, sondern auch Knabenschulen besuchte, wenn die Gelegenheit sich bot; denn ein Äauptsah ihres Erziehungsglaubens war, die Erziehung der Geschlech­ ter für einander anzubahnen. Durch die Erziehung der jüngeren Brüder hatte sie auch darin manche reiche Erfahrung gewonnen.

Die folgenden Briefe und Auszüge aus Tagebüchern werden die obige Skizze des Lebens im Pfarrhause lebensvoll ergänzen.

Kapital 13.

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64. Brüssel. Juli 1858. Tagebuch.

Ojy^an nährt uns Frauen in Deutschland zu viel mit Gefühlen oder mit Eitelkeit, und entweder das eine oder das andere ist bei uns maßgebend in der Liebe. Wir bedürfen zu sehr der Anschließung, wir heiraten im Manne mehr den Vater unserer Kinder, als den Gefährten unseres ganzen WesenS, und eine gute Familienmutter schließt sich ab in den Grenzen ihrer Ääuslichkeit; die Kinder bilden den Mittelpunkt ihres Lebens. Der Mann verfolgt seine geschäftlichen Interessen und kehrt heim, um zu ruhen. So bleibt die Entwicklung des Geistes dahinten, und tut die Frau einmal eine Frage, die über das Gebiet des häuslichen Lebens hinausgeht, so schließt der Gatte ihr den Mund mit einem Kusse und den Worten: „Mein Kind, das verstehst du nicht; bekümmere dich nicht darum, du hast genug zu tun mit deiner Küche und deinen Kin­ dern." And diese Ehen sind noch die glücklichsten! Man fühlt keinen Mangel, weil man schläft, und weil so vieles unentwickelt bleibt in der Seele des Weibes... Sie braucht nur den sogenannten „guten" Mann, d. h. der sich nicht betrinkt, keine Liebesverhältnisse anknüpft; der für ihren und ihrer.Kinder Lebensunterhalt sorgt, zu Lause kommt, um zu essen und zu trinken, zu schlafen, mit den Kindern zu spielen und die Frau zu liebkosen; der daran denkt, für seine Kinder Zukunft, d. h. eine Brotstelle in Aussicht zu haben. O, das ist ein guter, ein herrlicherMann, und das liebe Kind, seine Frau, ein glückliches Weib I Ost habe ich gedacht, ich wolle auf diesen Weg gehen; aber nein, nur der Reiz der Neuheit würde mich einige Zeit unterhalten; einmal dieser verflogen, und ich wäre das elendste Geschöpf auf der Welt. Denn es lebt in mir eine Kraft, die kann eine Zeitlang eingeschläfert, aber nie unterdrückt werden, und ich glaube, diese Kraft ist was Gutes in mir, ich kann daS größere Ganze schauen und für die Menschen leben und arbei­ ten. Ich habe in meinem Lause gearbeitet, ich habe in meinem Stübchen gedacht und geschrieben, ich habe ost di« Schmerzen der ganzenWelt,

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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oft ihre Seligkeit gefühlt, wenn ich mich auffchwang in die Regionen, wo wir der Vollendung unserer Entwicklung uns nähern. Ich habe aber auch verstanden, wie das Weib der kleinen, häuslichen Sorgen braucht, um in ihrer Sphäre zu wirken; ich konnte mich nicht meiner Weiblichkeit entäußern, ich konnte nicht hinausstürmen in die Welt, alle persönlichen Rücksichten vergessend. Ich bin daheim geblieben, habe die kleinen häuslichen Sorgen mit den Meinen geteilt, aber mit aller Kraft aus sie ge­ drängt, nicht in solchen unterzugehen. Ich habe zuweilen von einem Manne geträumt, der mich nötig, hätte, nicht nur zu seinem persönlichen Glücke, aber auch um eine Lebensausgabe mit mir zu lösen; der sich meiner Bildung annähme, der den Durst nach Wahrheit in mir stillte, der mich besser erziehen wollte, und den ich zu Taten anfeuern, zu seinem Berufe begeistern könnte. Wie mich vor vielen Jahren das Leben des Aerzens zu dem des Geistes ge­ führt — so könnte nur noch einmal die Liebesfähigkeit in mir sich auf eine Person heften, wenn zuerstdas Anpersönliche uns zusammenführte. Die Anschauung des großen Ganzen, die Arbeit im Linblick auf dasselbe hat mir allein wieder Lebenskraft gegeben. Ich habe mich der Idee der weiblichen Erziehung gewidmet und bin ihr im ganzen treu ge­ blieben; habe für sie gearbeitet, wenn auch in einzelnen Tagen mein Leben auf und ab wogt, Licht und Schatten wechselt, ich oft rechts und links ausweiche, so hat mich doch nichts von der Bahn fortgetrieben, in die mein Schicksal mich geführt. And jetzt sollte ich sie aufgeben, um rin ganz persönliches Leben zu führen?*)Nimmermehr; es würde mein Tod sein. O, mein Gott, du weißt, wie stark das Bedürfnis nach Liebe in mir ist; Liebe zu geben, zu nehmen, wie es mich bis zur Schwäche treibt; wie ich geweint habe, daß ich nie ein Kind haben würde, das mich liebt, wie ich meine Mutter liebe; wie ich auch die Schwachheiten meines Geschlechtes besitze, um auch unangenehm berührt zu werden von dem Ge­ danken, eine „alte Jungfer" zu heißen; wie ich das alles durchdacht und durchfiihlt habe. Doch ich besitze noch ein anderes als ein bedürftiges Lerz, das ist ein nach Wahrheit durstender Geist, und ich darf das erstere nie auf Kosten des andern beftiedigen. Wir Frauen sind gar nicht anspruchsvoll genug an die Männer; wir sind zu leicht zuftiedengestellt. •) Sie bekam einen sehr ehrenvollen Äeiratsantrag von einem Belgier.

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Kapitel 13:

Äentiette an den Bruder Adolf, in Dresden, Bildhauer.

Pfarrhaus Watzum 1859. Dein Brief war eine Äerzenserquickung für uns, wir hatten lange darauf gehofft, der Vater fürchtete. Du würdest krank sein; ich ängstigte mich um Deine Arbeit und glaubte. Du wärest traurig und niedergegeschlagen. Gottlob nicht, lieber, glücklicher Adolf, danke Gott, daß er Dich auf den Weg Deines wahren Berufes geführt hat, denn für einen verfehlten Beruf gibt es nur einen Trost: den der Resignation. In un­ serm Berufe sollen wir unser eigentlich Göttliches darstellen, sei es im Bilde oder in Lande! und Wandel; alles in seiner Tiefe aufgefaßt und rein bewahrt, schließt Göttliches in sich. Ich will Dir was erzählen, obgleich Du mich auslachst wahrschein­ lich. Ich habe nämlich traurige Stunden gehabt, indem es mir nun ganz bestimmt zum Bewußtsein kam, daß mein Beruf war: Schauspielerin zu werden. Ich habe immer Lust gehabt, aber jetzt weiß ich, daß ich die Fähigkeit dazu habe; es ist das nie so recht herausgekommen, aber sie ist da. In diesen Tagen ist mir die Wahrheit des psychologischen Satzes recht klar geworden, daß geistig Verwandtes, einander nah gebracht, sich gegenseitig anregt und entwickelt. Ich habe nämlich mit dem Schau­ spieler und Sänger S. dieser Tage verkehrt.... ich weiß nicht, ob er in meinem Sinne sehr bedeutend ist, jedenfalls ist er nach vielen Seiten hin unentwickelt. Er hat aber viel Sinn für das Edle in der Kunst, nur hat er, glaube ich, den Künstlern mehr ab gelernt, er hat zu viel Manier, als daß er an der ewig frischen Quelle der Natur studiert. Ich hasse Manier und suche danach, waS Schiller in den Worten ausdrückt: „And Schön'res find' ich nicht, so lang ich wähle. Als in der schönen Form die schöne Seele."

Diese schöne Form, von der die Rede ist, ist ein Ausfluß des innern Menschen, sie ist gleichsam die Äußerung der Kraft. Ihr Künstler, wenn

Ihr originell sein wollt, versenkt Euch in die Natur, lauscht ihr Eure Töne, Eure Farben, Eure Formen ab; geht ins Leben, in die Gefäng­ nisse, die Irrenhäuser, an das Kranken-, das Totenbett; auch dahin, wo bei glücklichen Menschen noch Naivität gefunden wird; letzteres wird wohl am schwersten zu finden sein. Wenn ein Künstler den Meister kopiert, so geht es wie mit dem Ab-

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klatsch eines Schriftstückes; es wird matter und matter, bis es endlich erlischt.... Am auf mein Erlebnis zurückzukommen. Wir lasen zusam­ men Kamlet und Ophelia, Maria Stuart und Mortimer usw. Obgleich

der Mensch mein Interesse wenig fesselte, so atme ich die Atmosphäre der Kunst dabei ein, welche für mich etwas ungemein Anregendes hat. Ich

kam einmal in die Stimmung, als ob ich der Pension und aller Regel­

mäßigkeit unseres Lebens hätt« einen Tritt geben und hinaus wandern mögen in die weite, weite Welt.

Sieh, Adolf, die Ausübung der Kunst ist ja in einer Beziehung der Drang, Inneres äußerlich zu gestalten. Verborgenes ans Licht zu zie-

hen, und es drückt das Äerz, wenn man es nicht loswerden kann, weil es

eben nur als Kunstwerk sich von uns loslöst. Ich trage nun an diesem

Druck mein lebelang und habe daran getragen. Meine Natur bedarf des Szenenwechsels, des Lebens und der Bewegung; wo hätte ich dies im reicherenMaße gefunden als auf der Bühne?Weil ich in meinenRollen gelebt hätte und das Leben genossen nach allen seinen Richtungen, die

düsteren wären mir Traum geblieben, die lichten mein Leben geworden. Aber doch danke ich Gott, daß es so ist, wie eS ist, denn mit meiner Seele

voll Ideale und mit meinem Kerzen wie es ist, wäre es gebrochen. Schau­ spielerin und Erzieherin haben viel miteinander gemein; ja, das haben sie, und es ist der Fluch der Menschen, daß sie die Einheit des Lebens zerstücken. Aus der Kirche ist unser Theater hervorgewachsen; mit der

Kirche wird es, wenn auch in anderer Weise als früher, nach Jahrhun­

derten wieder verschmelzen. Wenn ich früher jammerte, daß man mich keine Kunst gelehrt, so

tröste ich mich wieder, daßErziehen die größte Kunst von allem sei, und das ist doch wahr. Aber sieh, Adolf, was mich drückt, ist eben, daß

man auch in der Erziehung nie ein Ganzes, nur immer ein Stückwerk schafft. . Du lachst wohl über meine vielen Zitate aus Schiller, aber ich lebe so

mit ihm und erfrische meine dürstende Seele in dieser Einsamkeit am himmlischen Quell seiner Poesien! Welch' ein Geist, der für uns wächst, indem wir selber wachsen! Ich freue mich, daß Du Shakespeare liest;

als Dramatiker ist er von keinem unserer Dichter erreicht, und das Dra­

matische muß befruchtend auf den Geist des Bildhauers wirken, denn

zum Teil fällt eS ihm zu, dasselbe zu bannen, die Wellen des Lebens fest-«halten, die sonst im Augenblicke verschwinden, indem sie sich erneuern, und wiederum muß der Mime an der Plastik studieren

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Kapitel 13:

Denk«, wenn ich zu Schillers und Goethes Zeit gelebt und Schau­ spielerin gewesen wäre auf der Bühne, welche sie als veredelnde Anstalt betrachtet wissen wollten 1 Wie hätte ich tausendfache Übungen im Schweiße meines Angesichts gemacht, um den Leib so in meine Gewalt zu bekommen, daß er rein ein kristallenes Gefäß geworden wäre, durch welches der Geist in ungetrübter Klarheit durchleuchtet I Ich bin nicht schön, aber meine Figur, mein Gesicht paßt für die Bühne, und das Kostüm wirkt mächtig bei mir .... Du bist gewiß ganz verwundert über diesen Brief, aber, lieber Adolf, waS ich schreibe, ist der Ausbruch eines lange verhaltenen Kummers, den ich selbst nicht verstand und nun kenne. Ich weiß noch, daß mir noch als Kind in Wolfenbüttel verboten wurde, Theater zu spielen und in das Theater zu gehen, weil es mich dermaßen aufregte, daß ich nachts nicht schlief. Nun, Adolf, auch Du hast Deine Schmerzensnächte durchwacht, ehe Du den Weg klar vor Dir sähest, den Du wandelst; und so wirst Du mich vielleicht nicht auslachen, sondern trösten. Und ich kann getröstet werden, wenn wir unsere Anstalt zu der Vollendung bringen, wie sie in meiner Seele lebt Wie freue ich mich auf Dein Kommen, Adolf; mehr als je wollen wir die Zeit ausnützen. Du mußt mir helfen, mein Auge aufzuschließen für das Technische der Kunst; ich bin da noch oft so blind, ich kann nur beurteilen, ob die Idee entsprechend wiedergegeben wurde. Ich möchte so gern in jeder Einsicht ein klares Auge für Deine Kunst gewinnen. ES liegt darin eine gewisse Befriedigung. Alle haben so große Lust ettvas aufzuführen, wenn Du hier bist, ich möchte es auch, aber etwas Ordentliches, wovon man Nutzen hat. Nun sind die Kostüme so schwer für die klassischen Stücke unserer Dichter; sollen wir nicht etwas aus dem Altertum nehmen? Man kann griechische Gewänder leicht Herstellen, z. B. Phedra von Racine, übersetzt von Schiller; es paßt gerade für uns in den Ferien. Ich denke mir di« Derteiln ng der Rollen so: Theseus — Erich Theramen — Amsinck — Marie Phedra — ich Oenone Ismen« Kypolit — Du — Ledwig — Anna — Albertine Aricia Panope

Bitte schreibe mir gleich, ob Du damit zufrieden bist, weil wir dann anfangen wollen, nach und nach zu lernen. Oder willst Du was anderes.

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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so schlage es vor. Später zeichnest Du wohl die Kostüme auf und sagst, welche Farben, welchen Stoff wir nehmen müssen. Wir machen natür­

lich Kronen von Goldpapier. Zeichne einige Schmuckgegenstände auf, damit der Buchbinder, Lerr Layder, sie schneiden kann

Lenriett« an den Bruder Karl. Watzum, 15. März 1860.

soeben haben wir in den Unterhaltungen von Gutzkow die Geschichte eines weiblichen Arztes gelesen, die mit den fürchterlichsten

Opfern es sich erkaufte, studieren zu können und jetzt ein Frauenhospital in Amerika gegründet hat.... Alles, was sie sagt, ist so fern von falscher Emanzipation, atmet solche Opferfreudigkeit, daß es wirklich einmal wie eine Erquickung in mein Lerz fiel, überhaupt habe ich von Amerika aus

schon herrliche Auffätze, auch von Männern, über die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne gelesen; aber eben als„Entgegengeseht-Gleiches", wie Fröbel das in seinen Werken ausspricht....

Fest und fester wird der Entschluß in mir, nächsten Winter nach

Berlin gründlich in die Schule zu gehen.... Was ich lese, die Tatsachen sind wie die Schale, die ich nicht genug beachte, d. h. ich zieh« mit meinen eigenen Gedanken zu schnell Schlüsse daraus. So lerne ich für meine

eigene Entwicklung rasch, aber dies ist eine unglückliche Disposition des Geistes für die Schulmeisterei. WaS ich höre, ist anders; ich muß einmal von jemand unterrichtet werden, der den Stoffbeherrscht. Sieh', Karl,

ich kann mir keine größere Wonne denken, als wie für Stunden bei einem tüchtigen Lehrer zu studieren; o, ich habe dieses Glück n i e genossen 1 Ver­ stehst Du mich recht, ich tue das alles, um Fröbels Idee der Frauen­

erziehung zu realisieren. Ich weiß auch jetzt endlich, was Fröblisch unter­ richten heißt, ünser Dorfschullehrer gibt recht guten Unterricht in der

deutschen Sprache, aber er genügt mir nicht; aber zu einer gründlichen Verbesserung muß ich den Stoff beherrschen. Glaube mir, wenn es mir nicht gelingt, mich tüchtig zu machen, so werde ich an diesen Halbheiten sterben, wenn nicht körperlich, so geistig, und das ist keine Redensart

Der Vater wird außer sich sein, wenn er von meinem Entschlüsse

hört

27. März.... einmal aus einer gewissen Selbstzufriedenheit aufgeschreckt, in die ich gewiegt war, weil ich sah, ich machte meine Sache

besser als manche ander«, ist mir ein große-Ziel aufgegangen, und ich jammere davor herum, aber ich weiß, mir fehlt die Geduld. Ist es etwa

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Kapitel 13:

so leicht, Karl, aus der Menge des Wissens das Rechte herauszufinden für die Mädchen von 14—16 Jahren, sich diesem kritischen Lebensalter anzupassen? Am nach meiner Methode ihnen Kenntnisse einzupauken, wäre ich am Ende so verlegen nicht. Aber ich habe noch nicht den rechten Standpunkt für meine Schülerinnen gefunden, ich habe noch nicht die verschiedenen Zweige zu einem Ganzen abgerundet, so daß eine Stunde der andern dient, und das Gehörte Fleisch und Blut bei ihnen werde. Doch es geht schon besser. Nur, wenn man alles durch sich selbst finden muß, so kann es nicht ausbleiben, daß man herumprobiert, und das peinigt mich Henriette an den Bruder Adolf in Dresden. Watzum, 17. März 1860. ..... And wenn es möglich ist, mein Adolf, mein innigst geliebter Bruder, Dich rein zu erhalten; wenn eS möglich ist. Dein Wesen zu durchläutern mit Demut unt> Sanftmut — und es ist möglich —, dann wird das fortwirken bis ins tausendste Glied. Das ist ein Teil meines Glaubens, daß kein gutes Gefühl wirkungslos verlorengeht, noch peniger eine gute Tat. Ich rufe Dir wieder zu: Werde Dein eigener Künstler, vereinige den Künstler mit dem Menschen I Versenke Deinen Geist in die hohen Vorbilder der Vergangenheit, aber schmeichele Deinen Schwächen nicht mit den ihrigen, denn wir leben so viel später, und was ihnen zu verzeihen war, uns ist eS nicht. Dir wird es nicht leicht. Deinen Lebensweg unsträflich zu wandeln, denn Du gefällst den Menschen, und das ist immer eine gefährliche Klippe; aber Gott gab Dir viele Festigkeit. Was am schwersten zu überwinden ist, ist Spott, Verkennung, Einsamkeit. Aber nur Mut, mein Adolf; hier schlagen die Kerzen, ach, die ihr Blut hingeben könnten. Dich wahrhaft glücklich zu machen. Ich liebe Dich so unendlich, und wenn jemals ein Opfer nötig ist zu bringen, o, Adolf, sei nie zu stolz. Dich mir anzuvertrauen; mein Leben gehört zunächst Euch, Dir 1 — Mit Albertine führe ich ein herrliches Leben, sie versteht meine Bestrebungen, sie überwindet den Schlendrian, der nun einmal an unser Laus sich geheftet, und der oft mein Blut in Wallung gebracht. Sie geht ein auf meine Gedanken über Erziehung, die mehr bezwecken, als äußer­ liches Artigsein und auswendig gelernte Kenntnisse. Ich will die Frauen zur Liebe erziehen, aber zur großen, ganzen, kräftigen Liebe, die nicht das ihre sucht. Führt ihnen dann Gott einen Mann zu, für den sie leben

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sollen, um so durch ihn für das große Ganze zu leben, dann konzentriert sich dies Leben der Seele auf einen Punkt und entzündet ein heiliges Feuer der Liebe.

Ach Adolf, es ist meine Aufgabe, ohne Reibungen mit dem Vater

durchzukommen, und seitdem ich klar bin über vieles, geht es schon besser;

es wird noch ganz gut gehen. Am drückendsten sind mir die Mängel des Instituts. Ach, was fehlt alles, was fehlt mir selbst! And in dieser Erkenntnis stehe ich sehr allein.

Doch ich will mich nicht in unnützen Klagen ergießen; ich bete und ar­ beite Fürchte nicht, daß ich zu große Hoffnungen auf Dich setze; nein,

mein Adolf, ich erwarte nur eins von Dir und dem wirst Du entsprechen: daß Du treu Deinen Beruf erfüllst, ob dieser sein wird, der Nachwelt

einen Namen zu überliefern, oder im engeren Kreise ein fleißiger treuer

Arbeiter zu sein, wie es Gott will. Die Gaben, die er uns verliehen, machen den Stand, und Du bist vernünftig und fromm genug, nichts

erzwingen zu wolle», was Dir nicht gewährt wird. Aber behalte immer das höchste Ziel vor Augen.

Das Genie äußert sich sehr verschieden. Oft tritt es auf mit stür­ mischer bahnbrechender Gewalt; oft still, fast verstohlen sich entwickelnd.

Scheue nur keine Anstrengung, gründlich zu studieren, Talent hast Du offenbar, um bei tüchtigen Kenntnissen irgendwelche ehrenhafte Stel­ lung einzunehmen, selbst wenn das Genie Dich nicht mit seinem Flam-

menkusse berührt hätte. Mache aber immer wieder und wieder selbstän­ dige Kompositionen, „scheue das Anvollkommene nicht, wenn Du das Vollkommene erreichen willst". Rege Deine Phantasie an, aber nicht

auf krankhafte Art, das straft sich immer wieder. Lies die Alten, lies Shakespeare, bitte versäume das nicht; er ist der größte Dramatiker, den wir außer der alten Zeit haben Henriette an den Bruder Karl.

Watzum, Mai 1860. Welche Blicke tut man in die Familien, in die Herzen der jungen Mädchen, wo mit 16 Jahren schon die Blasiertheit eingekehrt ist, wo

einem 14jährigen der Name „Kind" ein Greuel ist, und wo die Kon­ firmation auch nur als Einlaßkarte in die Gesellschaft der Erwachsenen

betrachtet wird! Welche idealistischen Begriffe hat der Pastor Meier Über den Herzenszustand unserer jetzigen Mädchenwelt! Ich habe viel mit ihm

192

Kapitel 13:

gesprochen, ich stehe mit ihm in Korrespondenz, die so eingerichtet ist,

daß sie Dir zukommen wird.

Eine wunderbare Erscheinung drängt sich mir auf, daß fast keine Eltern ihr Kind kennen; wo ich nach allen Richtungen hin erziehlich wirken soll, muß ich doch vorerst den Menschen kennen. Welch ein großer Weiser war Fröbel 1 Ich könnte weinen, daß ich ihn kennenlernte, als ich noch ein Kind in meiner Entwicklung war, und daß mich sein Charakter,

seine persönliche Art und Weise zu sein, so störte. Karl, ich habe einen Gedanken gehabt, den ich Dir bei dieser Ge-

legenheil mitteilen will: Das Gewissen oder der Funke Gottes in der

menschlichen Natur ist der einzig ursprüngliche, unsterbliche Teil im Menschen, und er findet hier oder dort Gelegenheit, fich zu entwickeln.

Von allen schönen Eigenschaften des Geistes und des Lerzens gehört ihm nur so viel, als er sich davon zu eigen macht. Wie wird manches Genie, das auf Erden glänzte, nackt und arm dastehen in jenem Leben, wo gerade das, worauf er pochte, gegen es zeugt 1 Denn das Genie gehört

der Menschheit, der Charakter nur dem Menschen. Allerdings wird dem,

welchem ein Genie zu tragen auferlegt wurde, die harmonische Aus­ bildung seines Charakters schwerer werden als jedem andern, aber sie wird

auch glänzender hervortteten und das Genie unterstützen. Man hat immer gesagt, wenn ich unglücklich war, große Männer unmoralisch zu sehen: „Trennen Sie doch die Person von dem Genie." Ich konnte das nicht, weil ich nie verstand nachzusprechen, und erst jetzt habe ich es be­ griffen. Es löst sich mir das Rätsel in der Unterscheidung von Menschen und der Menschheit. Warum wählt Gott das unreine Gefäß zum Träger

seiner Gedanken, so daß sie uns unreiner erscheinen durch den getrübten Kristall? Da ist ein Mysterium. Sie fließen hinein 1 Wie? Ein vielleicht

für die Nachwelt zu lösendes Problem

Abends. Keule ist S). Becker mit seiner jungen Frau in Barnstorf angekommen, und Vater, Anna und Marie sind hingegangen, sie zu be­ grüßen. Ich mußte eines schlimmen Fußes wegen zu Kaufe bleiben und nun will ich meinem Briefe etwas hinzustgen.

Es ist wirklich recht ttaurig, daß ich mich noch gar nicht recht in die

neuen Pensionärinnen einleben kann und es mir auch scheint, als passe ich garnicht mehr wie früher zu meinem Berufe. Ich kann die meisten Mädchen nicht eigentlich lieben, das schöne Verttauen, welches ich zu ihnen

hatte, hat einem gewissen Mißttauen Platz gemacht. Ich kann es noch nicht überwinden, daß E. G. und K. K. so schreckliche Keimwehszenen ein-

193

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

führten und erstere sogar fortlief! Ich finde, selbst die Zurückgebliebenen sind im Ganzen ihres Wesens zurückgegangen, wenigstens helfen sie mir

nicht, wie ich es sonst gewohnt war, alles in das gewohnte Gleis zu

bringen; sie ziehen sich zurück. Auch der schöne Sängerchor der Mädchen, über den sich so viele gefreut, ist zerstört; die Neuen können oder wollen keine andere als erste Stimme singen, und Marie ist auch nicht erbaut von

unserm jetzigen Wirken. Es war aber auch so wunderhübsch vor den

Ferien. Nun, vielleicht wird es besser, ich verlange vielleicht zu viel in der kurzen Zeit. Sonst geht alles gut. Für Michaelis sind wieder alle Stellen besetzt, aber mit Grauen denke ich an den Wechsel.

Eine Arbeit habe ich, die mir recht erquickliche Stunden gewährt; ich gebe nämlich Neligionstunde anstatt Erziehungslehre und schreibe zu

dem Zwecke „Die christliche Religion in ihrer besonderen Anwendung auf das weibliche Leben". Einleitung: Einige psychologische Bemerkungen

über Geist, Seele,Vernunft usw. Dann komme ich vom allgemeinMensch-

lichen auf das besondere Weibliche und weise die weibliche Bestinnnung nach 1) aus derNatur: hebe dabei hervor, daß man nicht Zartheit mit Schwäche, nicht kleine Dinge, in denen die Frau ihr Reich hat, mit Klei­ nigkeiten verwechseln darf. Man kann dem entgegenarbeiten, weiln man

im Kleinen dasGroße erkennt, und somit jede scheinbar niedrige häusliche Beschäftigung eine Weihe erhält — die der Liebe. 2) in der Offen­

barung: durch das Gewissen, welches durch die schöne, die heilige Sitte spricht. 3) durch die Geschichte: Zu diesem Teil muß ich viele Studien

machen. Ich komme dabei zum Christentum, indem ich daran knüpfe: Christus mit Maria und Martha.Dann nehme ich die Bergpredigt, doch

so weit bin ich noch nicht. Was ich schreibe, könnte als Grundriß zu einem größeren Werke dienen, wenn ich so glücklich wäre, jemarrd zu finden, der mir hülfe. Ich kenne genau das Feld meiner Tätigkeit, kommt mir nicht eine gediegene männliche Kraft zu Lilfe, so wird vieles verlorengehen,

womit ich wohl hätte nützen können. Doch ich will nicht ungeduldig sein, habe ich doch schon die schöne Loffnung, Dich, meinen Karl, hier für längere Zeit zu haben. Bitte, bitte, führe Deinen Plan aus, es wird Dich

nicht gereuen, und uns könntest Du unendlich nützen.

Sonnabend mittag. Ich habe ausBrüssel so schöneNachrichten. Der manuel ist sehr gut ausgenommen, alle Blätter sind seines Lobes voll, und man hat von der Regierung Lerrn Jacobs gesagt, daß er dem !ln

terrichtswesen einen großen Dienst erwiesen habe. Mademoiselle de Vadder hat mir wieder geschrieben, daß sie im September kommen will. WahrLyschinska, Henriette ?ck»rader I.

13

194

Kapitel 13:

scheinlich reise ich mit ihr nach Dresden und womöglich auch nach Berlin. Bitte richte es so ein, das Du im September da bist. Frage Dr. Besser, ob et die Zeitschrift kennt: La Science des meres ou l’öducation har-

monique par l’ötude de la nature et l’application des jardins d’enfants, Paris, librairie de la vie morale, 5 rue de la barque;

Frau von Marenholtz schreibt viel darin. Dein Brief hat mir wieder eine Bestätigung gegeben, wie tief wir uns im Grunde verstehen, und Deine Ansicht von der Fröbelschen Idee macht mich glücklich. Ich kann Dir leider keine Kindergärtnerin empfehlen. Unter meinen Schülerinnen ist keine, die geneigt wäre, praktisch zu wirken. Auch sind sie viel zu jung, und ich kann ihnen nur die Knospe der Idee geben, weil sie selbst noch Knospen sind. Meiner Meinung nach sollten Mädchen, wie wir sie hier haben, nur so weit in die Idee eingefühtt werden, als sie praktisch im Kindergarten hülfen, und einer reiferen Epoche müßte der eigent. liche theoretische Kursus vorbehalten bleiben. Karl, hätte ich Mittel und eine tüchtige männliche Hilfskraft zur Seite, dann Marien, ich glaube, ich könnte etwas Ordentliches leisten. Dies hier ist zu großes Stückwerk, und ich glaube, daß die Erkenntnis davon mich entmutigt. Indessen nein, das ist zu viel gesagt. Gott hat mich hierher gestellt, und bin ich nur treu, so darf ich mich um den Erfolg nicht grämen. Aber ich würde keinen Augenblick zögern, mein LauS hier zu verlassen und nach Berlin zu kommen, wenn z. B. der Staat sich der Kindergärten annimmt und mir eine Staatsanstellung gäbe, wobei ich den theoretischen Kursus, Marie den praktischen hätte, und wir die Kindergärten inspizieren müßten, sowie die Prüfung der Kindergärtnerinnen abhalten. Ich würde dann drei Kurse geben: 1. Für Mütter, 2. Für Lehrerinnen, 3. Für Dienstmädchen. Ich glaube, ich habe die verschiedenen Standpunkte klar im Geiste, von denen ich auSgehen müßte. Grundgedanke den Müttern gegenüber: geistige Mütterlichkeit. WaS ist wahre Mutterliebe? Sie zu entwickeln und darauf das ganze Fröbelsche System zu bauen. Bei den Lehrerinnen: „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst", denn sie stehen in einem allgemeinen Verhältnis der menschlichen Gesellschaft gegenüber. Den Dienstmädchen gegenüber arbeite ich, ihnen den niedrigen Knechtssinn zu nehmen. Grund von allem ist Religion. Die Fröbelei ist Stütze von außen, das Christen, tum zu realisieren. Ich glaube, Karl, eine solche Stellung wäre ganz meinem Wesen entprechend, aber ich müßte frei sein, nicht von einer Menge Weiber, sondern nur vom Staate abhängen und eine sorglose Häuslichkeit nach ge-

195

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

tonet Arbeit finden. Ich müßte einen gediegenen Arzt und überhaupt ge­ diegene Männer zur Seite haben, die mir die Schätze ihrer positiven

Kenntnisse zu Gebote stellen.

Dann mit Marie vereint mit ihren musikalischen Talenten, ihrer Zeichenkunst und Naturkenntnis hätten wir alles vereinigt

Tagebuch. 3. Nlärz 1861. Wenn man ein Ideal vom Leben in sich trägt, wie es sein könnte, und

man um sich blickt und sieht, wie es ist, so wird man mit tiefer Traurigkeit

erfüllt, selbst in der stillen Zurückgezogenheit des Landlebens. Der Bauer unserer Tage ist ein ganz eigener Schlag Menschen. Er ist in einer Übergangsperiode begriffen, die so recht tief das Unbehagliche

empfinden läßt, was eine solche Zeit mit sich bringt.

Seit dem Jahre 1848, wo er seine Abgaben an di« Güter und Herzog,

ltchen Domänen abgelöst, wo er Sitz und Stimme mit dem Prediger

im Schul- und Kirchentot, wo sich ein besonderer Schulrat gebildet hat; seitdem die Felder separiert und er reich und reicher geworden ist, strebt er mit Macht nach dem äußeren Flitter der Bildung. Die Männer gründen Lesegesellschasten, worin Sttauß' „Leben Jesu" und Ähnliches vorkommt, wie naturwissenschaftliche Bücher auf materialistischer Grundlage. Die Frauen legen ihre reizende National-

ttacht ab und stecken sich in Krinoline und umrahmen das sonnenver»

brannte Gesicht mit einem Lut von Seide und Blumen. Sie gehen Sonntags in die Kirche, um den Putz zu zeigen, die Män.

ner, um die Predigt zu kritisieren. And bei all dem bleiben Roheiten und Llnsittlichkeiten wie vorher. Wenig Sinn für Ordnung herrscht in den Läufern, über die der Sonntagsflitter auSgebreitet wird, wie bei den

Männern gelehtte Redensarten ttotz noch mangelnder Bildung.

So ist unsere Bauernaristokratie, die viel starrer an ihren Rechten hält, als die gebildete Klaffe. Sehr streng wird die Rangordnung eingehalten unter dem Landvolke, und es kann eher Vorkommen, daß ein

Prinz eine Bürgerliche zu seiner rechtmäßigen Gemahlin erhebt, alS daß

der Besitzer eines Ackerhofes die Tochter eines Tagelöhners zur Gattin wählte. Nur in roher Ansittlichkeit stimmen alle bis auf wenige Ausnahmen

überein, und immer mehr verschwindet der jungfräuliche Kranz vom Laupte der Braut. Ja, selbst wenn sie ihn trägt, ziert er sie ost nicht mit

Recht.

iS*

196

Kapitel 13: And doch wird alle Sonntage gepredigt, wird zweimal die Woche

Betstunde gehalten. Es wird getauft, konfirmiert, eingesegnet, es wird mit seltener Treue das lautere Evangelium verkündet, es wird Schule und

Kinderlehre gehalten. Die Alten kehren mit Nühlichkeitsgesprächen auö dem Gotteshause

heim, die Kinder lärmend und oft mit unanständigen Späßen, und die

erwachsene Jugend benutzt gerade den Sonntag, um in Muße roher sinnlicher Lust nachzugehen. Was soll man dagegen tun, da das Predige, des Wortes nichts

hilft? Bei dem zarten Kinde müssen wir anfangen, ihm Gelegenheit geben, fich ftüh im Guten zu betätigen. Durch die Kinder müssen wir uns den Eltern nähern, durch die Kerzen der Kleinen die der Erwachsenen ge­ winnen. And hier können gerade Gattin und Töchter des Seelsorgers

ihm hilfteiche Land leisten. Wenn man eine Gruppe spielender Kinder betrachtet, so schleicht sich neben der Freude, welche wir empfinden, auch das Gefühl des

Schmerzes ein, indem wir innewerden, wie schon ftüh Roheiten und schlechte Gewohnheiten die guten Keime niederhalten, die in den Kindern

schlummern und nach Entfaltung drängen. Es scheint mir nun, als müsse man eben das Kind da angreifen, wo es seine ganze Natur entwickelt und zeigt: beim Spiel, bei der Beschäfti-

gung. Von diesem Grundsatz getrieben, haben wir einen Kindergarten für dieDorssugend gegründet. Ans stehen wenigeMittel zu Gebote; aber man

kann schon mit wenigem einen Anfang machen.

So versammeln wir denn zweimal die Woche 15 bis 20 kleine, noch nicht schulpflichtige Kinder auf unserer Diele im Pfarrhause; die größeren

kommen auch eine Stunde und bilden eine höhere Abteilung. Wir benutzen rein gewaschene Kartoffeln zu Bällen, zugeschnittene

Schwefelhölzchen zu Legehölzchen, alte Schulhefte zu Faltformen, aus

Pappe geschnittene Dreiecke zum Legen der Formen usw. Die Liebe, aber

auch der feste Wille, etwas Gutes zu tun, macht erfinderisch. Anser nächstes Ziel ist nun, ein unbenutzt stehendes Gebäude um-

zubauen und alle Tage darin Kindergarten zu halten.

Weihnachten 1860 hielten wir eine Bescherung. Ansere lieben

Schülerinnen hatten uns dabei kräftig unterstützt. Auf der Diele wurde

aufgekramt: Kleidungsstücke, Puppen, Spielsachen und Eßwaren. Zwei reich behängte Bäume strahlten im Hellen Glanze und beleuchteten daS

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

197

schöne Bild von Richter, wo Engel den Christbaumiragen. Die Mütter

und Schwestern der Kinder waren versammelt, die Glocke ertönte und herein stürmte die fröhliche Kinderschar. Nachdem sie alles bewundert und

angestaunt hatten, sprach mein Vater einige Worte an die Eltern, dann

an die Kinder. Zum Schluß ertönte aus dem Nebenzimmer ein mehrstimmiger Choral, und mancheMutter drückte uns bewegt die Land, und

tiefe Sülle herrschte einen Augenblick in der Versammlung. Dann wur­ den die Gaben verteilt, Tische, Stühle wurden fortgeschafft, und die Kin­ der spielten und tanzten, und alle nahmen teil an ihrer Freude. Jahrelang muß dieses Leben fortgesetzt werden, um die Resultate zu erzielen, welchen wir entgegen arbeiten, denn eine Kindergärtnerin ist keine Fee mit dem Zauberstabe Aber auch jetzt zeigen sich erfreuliche Er­

folge unserer Bestrebungen. Das alte, schöne Verhältnis zwischen dem

Pfarrer und seiner Gemeinde, welches Dichter in mancher Idylle besingen, ist nicht mehr, wenn es je bestanden hat. Die Kindeshand führt

uns nun den Lerzen der Eltern näher, sie sind selten unempfindlich für das, was man den Kleinen tut, und so ist eine segensreiche Folge deS

Kindergartens die Annäherung zwischen Predigerfamilie und den Leu­

ten des Dorfes; wir haben ein gemeinsames höheres Interesse gewonnen. Die Kinder selbst springen uns jetzt freudig entgegen, anstatt uns blöde

auSzuweichen, sie haben uns gern, weil wir ihnen Freude machen. Die Eltern finden, daß sie artiger werden, und daß sie sich nützlich zu beschäfti-

gen wissen. Sie schicken sie immer reinlich und wohl gekämmt zu den bestimmten Stunden, in denen eben höhere Gefühle geweckt werden, um der rohen Naturkrast ein Gegengewicht zu geben. Wie wenig es auch sein

mag, was wir erreichen, so ist es doch immer etwas und unserm Wahl­ spruche treu: „Scheue das Anvollkommene nicht, wenn du das Voll­

kommene erreichen willst." Fahren wir fort, an dem großen Werke der Menschenbildung zu arbeiten.

Kenriette an den Bruder Karl im Predigerseminar Wolfen­

büttel.

Watzum. 3.März 1861. Teurer Karl,

Dein Schweigen macht mich nachgerade besorgt. Ich möchte so gerne zu Konsistorialrat Kirsche, aber nicht ohne den Aufsatz, bitte, schick ihn mir

gleich zurück.

198

Kapitel 13: Ich bin sehr frisch und vergnügt im Geiste. Mein nächstes Streben

geht dahin, ein besondere- Zimmer außerhalb des Laufes zu gewinnen

und den Dorflindergarten alle Tage zu halten; dann Vorträge für den Kursus zu haben in Anthropologie, Psychologie, Geschichte derPädago-

gik, Mathematik. Ich denke. Du kommst alle 14 Tage und gibst zwei oder drei, Erich vier Stunden. Aber Anthropologie? Da müssen wir uns mit

Büchern behelfen. Es entwickelt sich alles nach und nach und es ist gut so,

man bekommt die Sache in die Gewalt

Lenriette an denselben.

Watzum. Sommer 1861. Mein bester Karl,

Wie kommst Du nur zu der Bitte, daß ich Dir gut bleiben möge? Ist es möglich, daß ich Dir nicht gut bleiben könnte? Meine Leftigkeit am

Pfingsttage hat Dich gewiß mißttauisch gegen mich gemacht. Es war mir nach Jahren der Opposition, die ich gefunden, nach beständigem Miß.

Verständnis eine Wonne, endlich in Dir Zustimmung zu finden, und dann sah ich mich so" getäuscht, weil ich Dich mißverstand I Da wallte und

siedete und zischte es in mir auf. Ja, dieser Zorn, den ich noch gar nicht bändigen kann, er fuhrt mich noch möglicherweise inS Elend, wenn Gott nicht gnädig seine Land über mir hält, bis die Wellen sich legen. Ich bin noch ein Sklave meiner Leftigkeit, und doch, und doch, Karl, will ich sie

nicht brechen, denn ich breche mit ihr eine Kraft, die mir unendlich teuer ist; aber ich will sie zu leiten suchen. Wir arbeiten in sehr verschiedener Weise an uns, und ich kann mich

nicht zu Deinem Systeme bekennen; ja, ich kann es mcht einmal anerken­ nen, ich sehe es als gefährlich an, als Zerstörerin der Originalität, als Lemmnis jenerNatürlichkeit und Wahrheit, die so frei, so herrlich empor­

sproßt. Dein System ist Zerstörerin des Lebens, dieses Lebens, das emporsprudelt wie der Quell aus dem Grunde, das blüht wie die Blume am

Sttauche, das singt wie die Lerche, die sich himmelan schwingt. Wie schön, sich als Pflanze zu fühlen, als Knospe am Menschheitsbaume, die wächst

und wachsen muß, von einem innern Gesetz getrieben. Bei Dir überwiegt der Theologe den Menschen. Sieh, Karl, ich halte es mit mir ganz anders. Ich glaube, daß derMensch viel mehr das Gute will wie das Schlechte, aber daß er sich nur genau kennen muß, welches seine Schwächen sind, sie nackt und unbeschönigt vor sich sieht, und

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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daß er mit ihnen zu Gott flüchtet; daß er ihn anfleht um seinen heiligen

Geist, daß er emporblickt zum Menschheitsideal, Christus. Er senke fich

oft in solche Anschauungen, welche seine Adern durchströmen, wie mit einem läuternden Lebenssäfte; dadurch kommt er in die Stimmung, die der einzige rechte Grund und Boden ist für unsere Landlungen. Diese

muß dann aber aus uns herausfließen, wie der Quell aus dem Grunde, so frei, so natürlich, so lebensfrisch.

Weißt Du, warum die Beichte bei dem Vater mich so kalt ließ?

Weil ich eben meine Beichte für mich habe, an denen ich wie vernichtet mich fühle in meinen Schwächen. And weißt Du, warum mein Wesen sich

gegen das Abendmahl sträubt? Weil es jetzt eine tote Formel ist und ich tausendmal schöner mein Abendmahl feiere, was sich nicht an Ort und Zeit bindet. Mißverstehe mich aber nicht, lieber Karl; ich will das Abend­ mahl in der neuen Kirche, aber ich furchte mich, es in der alten zu feiern;

ich feiere es lieber für mich, solange ich unter dem Drucke, in dieser Ein­ samkeit lebe. Mir ist es klar wie der Sonnenschein, daß nur die neue Kirche

mir helfen kann, meine Feinde des Lerzens und des ganzen geistigen Menschen zu überwinden. Mich verlangt nicht nach ihr in ihrer Groß­

artigkeit, mich verlangt nach ihr in der Familie. Doch zurück zum ersten Thema. Ich arbeite vielmehr, in mir zu ent­ wickeln, als zu beschneiden. Jetzt kommt bei mir alles darauf an, Liebe zu

fühlen. Der Quell meiner Liebe ist getrübt; ich beherrschte mein Anglück*) durch Intelligenz und Tatkraft, und so tritt auch in dem Amgange mit andern die Kraft, die sich im Lerrschen äußert, mehr hervor wie die innere Kraft, die Liebe, die sich durch den Einfluß beurkundet; und hierin

bin ich unweiblich geworden, das weiß ich. Ich bitte Gott nur um Liebe, aber ich bin oft träge im Gebet. Ich lasse mich als Einzelwesen zuviel

gehen; ich sehe mich nicht ost genug in Beziehung zum heiligen Geistedie Flamme erlischt, das Band, das mich mit den seligen höheren Geistern voll zusammenhält, wird locker, und oft führt mich der Fall, die tröst-

loseste Seelenstimmung erst wieder dahin, wo ich hätte verbleiben sollen. Wieder und wieder die neue Kirche, dieses mächtige Erziehungsmittel in

der Gemeinsamkeit, in der Erbauung mit gleichgestimmten Seelen. And so geht die Entwicklung in mir langsam vorwärts. Aber ich fühle, wie

meine Lebensschicksale mich wunderbar erziehen. Es kommen immer innere Katastrophen in meinem Leben, die mich bis ins Innerste er*) Siehe Seite 148, 149, 161.

200

Kapitel 13:

schüttern, infolge deren ich ganz Reue, ganz Demut bin, und aus denen

ich dann, neu gereinigt, mein Laupt erhebe. Also, ich will für mich selbst nicht dieses Schneiden und Makeln der Natur; ich würde es auch andern

nicht anraten. . . . Die Gesamtheit hat nur zur Lälfte recht an dem In­ dividuum, denn sie besteht aus solchen, und die Grenze ist sehr fein und

zart, inwieweit wir unsere Individualität zu opfern haben. Meine In­

dividualität soll werden, ich will sie nicht direkt machen. Die Erbsünde erkenne ich an als ganz natürlich; ich glaube, wir verständigten uns dar­

über. Was Du unter „Adam" meinst, weiß ich nicht recht; ich verstehe unter ihm die Menschheit in der Kindheit

Lenriette an den Bruder Karl. Watzum, Sommer 1861.

Bester Karl,

So sehr hatte ich mich gefreut. Dich zu sehen, und nun kommen von

allen Seiten Kindernisse. Ich hatte auch recht sehr das Bedürfnis, einmal aus der „Idee" zu kommen, wenigstens ein anderes Gesicht von ihr zu sehen. Ich habe immer eine sehr wohltätige Wirkung empfunden, wenn ich einmal aus dem täglichen Kreise in einen frischen getreten bin und

werde es mir doch wohl noch für einige Zeit versagen müssen. Bitte schicke uns recht oft Leute hierher, es macht uns gar keine

Last, und eS ist recht gut, wenn sie kommen, das Ganze kennenzulernen. Wenn es unS gelingt, daß die Kindergärten hier in der Gegend ein­

geführt werden, so bekommen wir auch Lehrkräfte zur Ausbildung. Wenn doch Konsistorialrat Kirsche einen Seminaristen schicken wollte, ich würde ihm ganz umsonst Stunden geben, und wenn er geschickt wäre, so könnte er hier viel verdienen durch Privatstunden bei den Damen. Er fände hier

gewiß noch ein Unterkommen.

Anbei folgen einige Bücher für Konsistorialrat Kirsche Es ist jetzt eine bewegte Zeit im Innern der Familie, so manche Ent­

wicklung geht vor sich. Wenn ich kann, komme ich eines Tages zu Euch.

Ich freue mich so sehr auf Erich. Er soll mir viel helfen, z. B. den Damen Mathematikstunde geben, mit ihnen eine Broschüre aus dem Schwedi-

schen*) übersetzen *) Zwei schwedisch sprechende Finnländerinnen und zwei Russinnen nahmen teil an dem Erziehungskursus.

Tagebuch, und Briefauszüge 1854—64.

201

Kenriette an P. W. Amsinck, zukünftigen Schwager. Watzum. November 1861.

.... Ihr Verhältnis zu Albertine ist mir eine Kerzenserquickung; denn es entspricht einem Ideale von einer Verlobung, die eine ernste und doch im Ernste eine fröhliche, schöne Vorbereitung ist für den ernste­ sten und schönsten Bund des Lebens. Meine Seele ist durch alle Phasen gegangen, in der die Liebe sich bewegen kann. Ich habe hinausgestrebt über das Ziel, das dem Menschen gesteckt ist, indem ich alles Irdische von mir stoßen wollte. Ich bin aber zurückgekehrt zu dem Maß der Dinge, welches Gott uns gegeben und sehe jetzt das Ziel in der Verklärung des Sinnlichen, Irdischen, welches das schöne Gleichgewicht gibt zwischen Körper und Geist, wo ersterer ein Tempel Gottes wird, und wir die Freuden der Erde mit kindlich frohem Kerzen genießen können, mit einem Kerzen, das immer nach oben gerichtet ist. Gott segne Sie beide, mein Bruder, meine Schwester! Ich bin, gottlob, wieder ruhig im Kerzen, wenn auch immer recht ernst gestimmt. Sie haben recht, wenn Sie sagen, ich lasse mich vom Augenblick bewegen, freudig und schmerzlich. Aber es sind weniger die äußeren Tatsachen, als was durch Äußeres im Innern geweckt wird.

So habe ich bei meiner Reise mit Made«e be Vadder von verschiedenen Seiten erfahren, wie sehr, sehr allein ich stehe in meinen Ideen über Frauenerziehung und waS damit zusammenhängt, überReligion und Leben; wie der Kampf entbrennen wird in bezug auf die Kinder­ gärtnerei, wie man mich verdammt usw. Es war ein harter Kampf in mir. Ich wußte wohl, daß wenn wir uns der Welt anpaffen, wir gewiß eine blühende Anstalt herstellen können. Ohne das werden wir vielleicht mit vielen Sorgen zu kämpfen haben. Es fängt jetzt schon an, man sagt, wir vernachlässigten über dem Kindergarten die jungen Mädchen. Es laufen verschiedene Redereien um, über religiöse Ansichten von Karls und meiner Seite usw. Wäre ich allein, so würde der Kampf bald abgetan sein, aber so hängt Euer aller Wohlsein mit von dem Gedeihen unseres Werkes ab. Ich bin zu folgendem Entschluß gekommen: Ich werde nur meine Einwilligung geben zum Ankauf eines. Grundstückes, wenn dieses groß genug ist, um Sie und Ihre Familie ohne eine Pension für junge Mäd-

202

Kapitel 13:

chen zu ernähren. Ich will jedenfalls mein Examen machen und Schnei«

dern, vielleicht auch Putzmachen lernen, damit ich bei Euch bleiben kann

auch im schlimmsten Falle. Jeder muß an einen praktischen Erwerbszweig denken, damit man seinen Überzeugungen treu bleiben kann, nicht auS Not sie zu verkaufen braucht.

Dann können wir ruhig beieinander bleiben. Wir können auch in einer größeren Wirtschaft mit arbeiten, und roetitt wir beieinander bleiben

können, dann bin ich überzeugt, unser Werk gelingt, Anser christliches

Leben wird beweisen, daß wir streben, Gottes Kinder zu heißen. Weihnachten wollen wir das alles besprechen und erläutern. Nur unabhängig vom Lob und Tadel der Welt müssen wir unS machen und

sei es durch unserer Lande Arbeit; mit uns selbst aber streng sein mit

unserm ganzen Leben und einander ermahnen zu guten Werken.

O, aus einem solchen Verbände wächst dann unvermerkt die leben, dige, neue Kirche hervor, gegründet auf der christlichenReligion, auf­ gefaßt in ihrer ganzen Größe, die in sich eint, waS als Gegensätze feindlich sich gegenüber stand: Wissenschaft und Glauben, Mysterium und Er­

kenntnis, höchstes Streben und Maß, Zorn und Liebe, Demut und Würde.

Die neue Epoche, die hereinbricht, heißt: „Verschmelzung der Ge­

gensätze." Fröbel ist auf dem Gebiete der Erziehung ihr Prophet. Es liegt eine unendliche Tragweite in seiner Idee, und sie umfaßt in ihrer Konsequenz auch die wahre, innere Emanzipation der Frau, indem sie mehr

Männliches in sich aufnehmen muß, um den Mann, um seine Bestimmung, sein Schicksal zu verstehen, und indem der Mann mehr eindringt in die

wunderbaren Tiefen des Weibes, und sie sich gleichstellt insofern, als er

erkennt, daß sie da ihre Stärken hat, wo seine Schwächen liegen und um­

gekehrt. So greifen sie ergänzend ineinander. Jeder Mann kann dieses teil­ weise allein, jede Frau ebenfalls; aber als schönste, glücklichste Vollendung

tritt diese Verschmelzung des männlichen und weiblichen Elements im

Leben in der Ehe auf. Sie ist letztes Ziel der Menschen auf Erden, die harmonische, volle Ehe.

Bevor wir aber zu diesem Ziele kommen, werden mehr und mehr Frauen unverheiratet bleiben, damit erst die Würde der Frau als Mensch

konstatiert wird; das ist noch nicht geschehen .... Der Satz: „Der Mann soll dein Herr sein", fällt für unsere Zeit, denn er enthält in seiner

Konsequenz eine der größten Ansittlichkeiten für die Ehe. Nicht Menschen-

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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erzeugung, sondern Menschenbildung ist daS Ziel. Frei stehe daS Weib

dem freien Manne gegenüber. Er sei ihr Vertreter, ihrRitter nach außen, sie die Priesterin des Idealen im Innern. „Das ewig Weibliche zieh' euch

hinan I" Freund und Freundin, Geliebter und Geliebte, Gatte und Gat­

tin, aber nicht Lerr und Dienerin schließe der heilige Ehebund zusammen. Dienen sollen sie einander, das Weib in weiblicher, der Mann in männ­

licher Weise, indem sie das Laus zu einem Tempel verklärt, das Kleine

und Kleinste durchleuchtet und erhält, was er erwirbt . . . Aber nicht nur Weib ist das Weib, sondern sie ist auch Mensch,

und wenn die Stürme kommen, da muß sie nicht hilflos dastehen, sondern helfen können, damit der Mann seine Überzeugung nicht zu verkaufen

brauche. Eine solche Frau ist dem Manne alles in einem.

Jetzt noch ist sie vielleicht Geliebte und Gattin, aber nicht zur Freunbitt, nicht zur geistigen Mütterlichkeit ist sie erzogen. And nur wenn die Freundschaft der Kern der Liebe ist, blüht der Zauber der letzteren in ewiger Anvergänglichkeit. Kein Alter, keine Krankheit, kein Verfall der

blühenden Gestalt ist zu fürchten .... Ob Sie mich verstehen, lieber

Amsinü? O, wenn es möglich wäre, daß wir eines Sinnes würden I Aber

auch wenn wir auseinandergehen, wollen wir einander achten als Wan­ derer, die nach Wahrheit suchen.

'

Es freut mich unendlich, daß die Wissenschaft Sie auffordert, sich

«ine bestimmte Ansicht über Religion zu bilden Ich bin int ganzen Sinne des Wortes Protestant. Ich protestiere mit ganzer Macht gegen jede mir von außen aufgedrungene Ansicht. Ich will freie Forschung in der Schrift Vogt kenne ich dem Rufe nach, er mag viel für die Wissenschaft tun; studieren sie ihn; immerhin bedenken Sie aber, daß er nicht demütig ist

und seinen Verstand einseitig sprechen läßt .... Eine Verstandesreligion ist Materialismus, aber eine Vernunftteligion erscheint mir das

Schönste, waö ich denken kann, denn Vernunft ist für mich das innige Zusammenwirken von Gemüt, Verstand und Willenskraft. Solchen Leu­

ten wie Vogt bleibt manches verschlossen Es freut mich, daß Sie Lessing lieben, auch ich liebe seine kraftvolle, wahre, klare Natur, und es bebt mein Lerz voll Freude, wenn er diese ekelhaften Pharisäer, diesen „Hamburger" mit solcher Dialektik schlägt.

Aber ich bin nicht blind gegen seine Einseitigkeiten. Wir müssen unserer

eigenen Vervollkommnung keinen Riegel vorschieben in einseitiger Ver­ götterung unserer geistigen Leiden. Sie glauben nicht, wie es mich freut,

204

Kapitel 13:

Sie in Berlin zu wissen. Bedauern Sie nicht, keinen Geistesgenossen zu

finden, lernen Sie die Welt kennen, wie fie ist, dann lernen Sie immer mehr, was not tut in der Erziehung Wenn Sie nur Weihnachten kommen können, Albertine ist sonst ganz

unglücklich, wenn Sie nicht Weihnachten kommen!

Ihre Sie herzlich liebende Schwester

Lenriette.

Henriette an den Bruder Karl im Predigerseminar.

Watzum, l.Dezember 1861. Zwar ist es spät, aber ich kann nicht anders als meiner Empörung

Lust machen über das, was Du mir von Deinem berühmten Psychologen geschrieben. Ich werde mit Wollust alle Qualen leiden, die ein verein»

samtes Leben mit sich bringt, wenn ich nur meine Idee über das Weib

treu bewahre, und wenn ich je getrauert, daß mir die Ehe versagt blieb, so jauchze ich jetzt darüber; denn ich bin frei, stei von den Banden, die ich

verfluche von dem Momente an, wo es mir zum Bewußtsein kam, wie die Männer über uns Frauen denken, was wir ihnen sind. Wehe, wehe Euch I Das einzige Rettungsmittel aus dem Elende ver­ werft Ihr! Was wollt Ihr Theologen mit Eurer Bibel und Eurer eng­

herzigen Auffassung derselben? Waren die Apostel nicht etwa Menschen,

die unter dem Einflüsse ihrer Zeit standen? War Christus nicht von einem Weibe geboren? In ihrem Schoße keimte, entwickelte sich das Göttliche;

der Mann ist nur bestimmt, es zu formulieren, wir gebären es und geben

es Euch; da liegt das große Geheimnis. Ihr kurzsichtigen Theologen, die nicht schauen können in das Innere der Natur! Immer besser ver­

stehe ich das Iesuswort: „Nicht alle, die in meinem Namen Teufel aus­ getrieben, werden in das Himmelreich kommen." Es gibt keinen Namen,

es müßte einer erfunden werden, um die Aussage Deines Psychologen

auszudrücken! Hätte er recht, so würde mein einziges Gebet sein, mich zu vernichten. Ihr Kurzsichtigen, Ihr laßt Euch lieber zu Sklaven eines geschickten Weibes machen, als daß Ihr das Weib in seiner Würde als Eure Gleich­

berechtigte anerkennt. Geht hin mit Eurem Panier an der Brust, in der-

der Lochmutsteufel wohnt! Schwört auf Eure Bibelsprüche und Pro­ pheten, daß das Weib nur in und durch Euch existiere; zieht sie hin in den Staub; seid kurzsichtig, engherzig, unlogisch. Gerade da, wo das Weib

steht, steht Ihr selbst, denn sie ist Eure Hälfte 1 Karl, laß die Stickluft des

Theologenseminars nicht Einfluß auf Dich haben

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

205

Später. Jetzt bin ich wieder ganz ruhig geworden, aber der Zorn hat sich in eine feste Überzeugung verwandelt. Wenn Du Deine Studien absolviert hast, gehe hinaus in die Welt, gehe nach Paris, wo der Wellen­ schlag des LebensDich berührt; inBüchern hastDu genug gekramt,studiere die Natur und das menschliche Leben; dieses wird Dir besser auseinander­ sehen, was die Sünde ist der Menschheit, wie des einzelnen Menschen. Kenriette an den Bruder Karl in Berlin.

Watzum. 10. Januar 1862. .... Die jungen Mädchen werden nicht berufsmäßig zu Kinder­ gärtnerinnen ausgebildet. Die meisten sind noch viel zu jung . . . Das schließt nicht aus, daß die Mädchen praktisch Spiele und Beschäftigungen lernen, womit sie einst die kleinen Geschwister oder Verwandten ihres Kreises beglücken können, und sie selbst in einem Geiste erzogen werden, wie ihn Fröbel erwecken und klären half. Am 14. Du mußt es der Elektrizität und dem Magnetismus zu­ schreiben, wenn Du diese Zeilen später erhältst... denn diese Naturkräfte beschäftigen mich sehr, und um mir Aufschluß zu verschaffen, suche ich in jedem Buche, welches von Naturwissenschaft handelt. Es ist schrecklich, keinen Lehrer, nicht einmal ein genügendes Werk zu haben, das unS Auf­ schluß gibt über Fragen, die erwachen, und Dinge, die zum Verständnis drängen. Zn solchen Augenblicken packt mich eine fabelhafte Anruhe. Was ich mir an positiven Kenntnissen erwerbe, verarbeitet der Geist so­ fort als Material zum Denken, und da stockt die Maschine oft genug, und kein, kein Mensch, der mir zu Hilfe käme Die Tage fliehen so rasch dahin, daß es mir erscheint, als könnte ich nichts mehr in ihrer Zeitdauer erreichen. Wenn man in der Mitte seines Lebens steht und schaut zurück, wie wenig man geschafft hat, dann erfaßt einen die Angst, und man lernt den Wert der Zeit ermessen. Ich bin oft ganz verzweifelt, daß ich nichts ordentlich kann, nichts eigentlich in meiner Gewalt habe beim Anterrichten, nicht einmal meine eigene Sprache. Da­ bei habe ich mehrfach am schwachen Schimmer gelernt, welch ein Koch­ genuß es für den Lehrer selbst ist, zu unterrichten, wenn er seinen Stoff beherrscht. Dann schafft er ihn neu; dann erst weiß er ihn jeder Individualität, jedem Alter, jeder Entwicklungsstufe anzupassen. Aber solange man ringt und ringt, um wenigstens nur eine Basis zu gewinnen, ach, da experimentiert man mit seinen Schülerinnen und gibt bald zuviel, bald zuwenig.

Kapitel 13:

206

Es ist eine schwere Aufgabe für mich. Zusammengewürfelt aus allen möglichen Schulen kommen sie 1 bis 2 Jahre und gehen dann wieder;

ich kann nichts anfangen, nichts vollenden. Ich gehe noch immer zu weit mit den Größeren; ich möchte sie für dieses und jenes noch interessieren,

ehe sie Watzum und jedes Studium hinter sich lassen. Auch ist es schwer,

daß zwischen Lehrerin und Schülerin eine Vertraulichkeit sich bildet, ähn­ lich der, welche zwischen Erzieherin und Zögling stattfinden kann und so

segensreich wirkt. Mein höchster Wunsch wäre, frei zu sein und Gelegenheit zu haben, viel zu lernen; dann würde ich gern wieder lehren. Doch wie sollte ich dies ermöglichen, ohne Verhältnisse zu zerstören, denen ich ja meine ganze

körperliche und geistige Existenz verdanke 1 Sage nur Frau von Marenholtz, ich könnte nichts über die Fröbelei schreiben, ich müsse erst den Magnetismus studieren, sowie den Kölner

Dom und die ägyptische Mythologie und alte Geschichte! Wenn es nicht

der Lehrkräfte wegen wäre, so würde ich mich gar nicht mehr nach einer großen Stadt sehnen. Mich verlangt nicht mehr wie früher nach Genuß, wenn ich nur ein paar Kunstsachen habe, an denen ich mich laben kann. Mich erquickt oft ein Bild vom Kölner Dom in dem Kuglerschen Atlas; ich bin Adolf so dankbar, daß er ihn mir gelassen

Äenriette an Luise Fröbel in Hamburg.

Watzum. 9. Februars?) 1862.

.... Ich bin recht glücklich, und Du wirst es mit mir ganz besonders sein, daß FröbelS Werk überall auf so fruchtbarem Boden arbeitet. In der Schweiz arbeitet man ungeheuer. Eine Zeitschrift wird gegründet, in den verschiedenen Städten entstehen Kindergärten, und am 1. Mai er­ öffnet Monsieur Raoux sein Lehrerinnenseminar. Eine Dame ausNeu-

chLtel, welche das Lehrerinnenexamen 1. Klasse bestanden und ein Jahr zur Vollendung ihrer Ausbildung in Paris war, kommt auf ein Jahr zu uns, um die Fröbelsche Erziehungsweise zu studieren. Ihr Vater, Direktor Sandoz inNeuchütel hat sie angemeldet. Anna geht nun bald nach Lausanne, um Monsieur Raoux ein wenig zu helfen. Anna hat ein Äaus in Lausanne gefunden, wo sie nichts gibt und nichts empfängt, mit zwei kleinen Knaben Deutsch spricht und Zeit zu ihrer eigenen Ausbidung haben kann. Frau von Portugall hat

eine Aufforderung nach Genf bekommen; wahrscheinlich wird sie mit

Anna zusammen reisen

Tagebuch- uud Driefauszüge 1854—64.

207

Ich bin in einer eigentümlich weichen Stimmung; ich las in Fröbels und Middendorfs Briefen und schaute in die Vergangenheit zurück. O, wie schmerzt es mich noch immer, daß ich damals nicht war wie jetzt, uns daß jetzt die beiden Geister von uns geschieden sind, die ich damals nicht verstand. Doch was Hilst es zu trauern. Raffe dich auf Seele, und werde derer würdig, die dich an ihrem Kerzen hielten, die uns jetzt noch umschweben I Wohl darf ich mir sagen, ich habe vieles in mir und außer mir seitdem erreicht, was stüher als unerreichbar erschien; aber ich habe dennoch nicht überwunden. Die Kraft, mit der ich mich austechterhielt, hat manches in mir zurückgedrängt, was dasWeib eben zum Weibe macht. Ich liebe nicht genug mit der Liebe des Apostels, die da alles glaubet, hoffet, duldet. Gerade in Zeiten wie diese, in denen mir so mannigfache Anerkennung von außen geworden; wo so viele Anmeldungen von allen Seiten einlaufen (bte Anmeldungen standen zwei Jahre im voraus), da gehe ich in mich und fühle mich beschämt, recht beschämt. Ich habe wirklich für den Augenblick alles, was ich mir wünschen kann, und dazu die stohe Aussicht, Bruder Karl bald noch zu haben. Wenn Du ihn nur kenntest I Er ist einer der bestenMenschen, er hat sich so wunderbar entwickelt, er hat wirklich in seinem innern Wesen etwas Middendorfsches, so eingehend auf jede Natur, so milde, so bescheiden. Neulich erhielt ich einen wunderschönen Brief von ihm, dessen Thema war: „Fröbel erzieht nach göttlichen Gesehen"

Kenriette an Luise Fröbel. Watzum. Ostern 1862. .... Der letzte Winter war ein sehr, sehr reicher für mich, da ich mit meinen Schülerinnen (unter denen einige sehr aufgeweckte sind), Ge­ schichte der Pädagogik und unter der Leitung eines Freundes von Karl, Dr. Großheim, Arzt, welcher Naturwissenschaften studiert, Anthropologie getrieben habe, sowie uns mit Psychologie und Mathematik beschäf­ tigten und die „Menschenerziehung" von Fröbel und andere Schriften von ihm gründlich kennenlernten. Ich glaube, diese Stunden waren die schönsten meines Lebens. Es macht mich unbeschreiblich glücklich, in Karl endlich einen Mann gefunden zu haben, der meinem Ideale eines Man­ nes entspricht. Ich weiß, es gibt viele, die klüger und geschickter sind als er, aber niemand, der mir dieEinheit des Lebens, das wahre Christentum repräsentiert wie er. Siehe, liebe Luise, Fröbels Größe entwickelt sich immer mehr und mehr vor mir, und seine Idee zu realisieren in Familie,

Kapitel 13:

208

Schule und Leben ist der einzige Zweck meines Daseins jetzt. Wenn Karl erst bei uns ist und wir gemeinsam wirken, dann soll schon nach und nach ein Ganzes entstehen. Vielleicht ist schon in einiger Zeit alles reif, was uns jetzt beschäftigt, und dann teile ich es Dir mit Es gibt Seiten im erziehlichen Leben, die man nur durch die Praxis erfassen kann und verstehen lernt, und die Gott keinem Genie als solchem eingibt. Da haben einfachere Naturen ihre Stärke. Die Erfahrung, die Selbsttätigkeit gibt ihnen ein Gegengewicht den genialen Naturen gegen­ über, und so muß es sein. Die Geistesaristokratie muß fallen, wie Geburts­ und Geldaristokratie. !lnd wenn sie fällt, so wird auch keine einfache Na­ tur mehr einen andern Platz einnehmen wollen, als den von Gott angewiesenen; denn wagt sie sich in eine Sphäre, die nicht die ihrige ist, so bringt sie sich und andere in eine schiefe Stellung. Ich habe viel durchgekämpft, seitdem wir uns zuletzt gesehen, aber von Jahr zu Jahr wird es friedlicher und auch klarer und fester in meinem Innern. Auch freier bin ich von der Welt, doch sie hält uns mit tausend Stricken und Banden, und ich bin mir dessen wohl bewußt und spreche mit dem Apostel: „Nicht daß ich es ergriffen hätte, aber ich jage ihm nach"... Nun habe ich viel erzählt, tue Du bald ein Gleiches von Dir und er­ zähle mir auch von Langes. Anna bleibt bis zum Juni in Lausanne, dann bringt sie eine französische Schweizerin mit, die zwei Jahre hierbleiben und den Kindergarten hier lernen soll. Ich nehme nie mehr eine Schülerin unter einem Jahre an. Adolf macht uns so viele Freude. Neulich wurde uns geschrieben, er sei der talentvollste und zugleich der sittlichste Schüler int Atelier. O, Luise, meine Geschwister sind mein Stolz, meine Freude, meine irdische Seligkeit I Nun lebe wohl, grüße Langes herzlichst.

In herzlicher Liebe Deine

Äenriette. Marie ist verreist.

Tagebuch 1862. Neulich sprachen wir darüber, was eigentlich göttlich und ungöttlich in uns sei, und was wir von unserer Individualität aufgeben müssen, und was wir behalten dürfen. Karl macht nämlich Anforderungen an das Aufgeben der Natur, die mir zu hoch erscheinen, indessen kann ich mir in

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Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

dem Punkte nicht ganz trauen, da ich weiß, daß ich viel Egoismus besitze.

Marie meint, ich solle mich nur gehen lassen, wie ich sei, meine Fehler gehören zu meinem Wesen. „Weißt du" (so schloß sie das Gespräch), „laß

uns nur nicht so schrecklich wiedergeboren werden 1" Marie hat doch für mich immer so etwas Anregendes 1

Ich war vor einiger Zeit in sehr schlechter Stimmung; es hatte sich

eine ganze Portion Groll aufgesammelt über die langweilige Geselligkeit in unserer Nachbarschaft. Eines Abends hatte man mir ein Kleid ge­

waschen, was nur ausgebürstet werden sollte. Ich wollte es anziehen, es war naß. Ich wurde grimmig und warf das Kleid aus dem Fenster, indem ich sagte, es könne nun anziehen, wer wollte, Die Mutter wurde ganz be­

trübt, Albertine still, Marie lachte und sagte: „Gut, laß es ja liegen, bis

sie es wieder holt!" Anna moralisierte über den Schaden, war aber so

tugendhaft, es wiederzuholen. Als ich zu Veite war, wusch sie es still aus, damit nur niemand die Greueltat erfahre. Mir hatte der Akt des Zornausbruches sehr wohl getan. Ich erwachte

am nächsten Morgen in der besten Stimmung und war ganz kuriert. War das unrecht? Ich tue doch niemandem Schaden als mir selbst, warum soll

ich mir nicht das Vergnügen machen? Aber indem ich schreibe, geht mir der Gesichtspunkt auf, daß es doch gefährlich ist, seinem Zorne freien Lauf

zu lassen, weil man sich dann vielleicht nicht in der Gewalt hat, wenn es sich um ernstere Dinge handelt als ein Kleid. Früher hatte ich zwei Welten in mir, eine heilige, wenn ich allein oder mit höher entwickelten Menschen war, die mit mir nach Leiligung

strebten. Ein Weltkind war ich in der Welt, und es kam nur auf einen Zufall an, welche Seite bei mir zum Vorschein kam .... Zwar ist die Kluft noch nicht ausgeglichen, aber die Brücke fängt an, sich zu bauen.

Ich habe eine zu reizbare, sensitive Natur; neulich kam wieder ein furchtbarer Sturm des alten Zornes, ich war dann vor mir selbst erschrocken, und ich hoffe, es hat einen bleibenden Eindruck auf mich ge­ macht. Es ist sonderbar, ein gewisses Etwas hält mich zurück, wo ein ge­

rechter Anwillen mich entflammt; er tritt dann als größte Ruhe, ja, viel­

leicht als eisige Kälte hervor. Nur bei den Meinen kann ich mich noch nicht beherrschen, nicht fassen. Tagebuch. 3.August 1862. Sonntagsstille, wie liebe ich dich,

wie beruhigend wirkst du auf mein ganzes Wesen! Ich muß gestehen, es ist mein größter Genuß, Sonntags zu Lause zu bleiben, allein, ganz allein zu sein während der Kirche, und an GöttL y jch i n s t a, Henriette Schrader I.

14

Kapitel 13:

210

liches zu denken, an die Bibel zu denken, in der Bibel zu lesen und mich zu sammeln mit Ernst und Ruhe 1 Ich gehe höchst ungern in die Kirche, es ist «in großes Opfer, welches

ich bringe. Es würde aber meine Seligkeit sein, wenn Karl predigte und

hier arbeitete, eine wirklich christliche Gemeinde in lebendigem Glauben, in lebendigem Tun, in stiller Äoffnung herzustellen. Der Vater ist so treu in seinem Amte, aber bei ihm ist—wie bei allen der orthodoxen Kirche —

die Trennung zwischen Religion, Leben und Natur. Es ist nur unbegreiflich, wie Menschen mit einem künstlichen theologischen Systeme zufrieden

sein können, das an und für sich ein logisches Gebäude ist, aber dessen Teile unter sich an keinem Ende passen. O, Kirche der Einheit, wann kommst du l

18.August 1862. Was ich am 3. schrieb war einBild meiner Seele

am Sonntägmorgen .... heute war es anders, aber eine Aussprache

gegen Karl und Marie, eine Art Beichte hat mich befreit. Mein Gott, hätte ich erst eine Kirche, sie allein kann mir helfen, die schwankenden Zu­ stände meiner Seele innerlich auszugleichen. Reben dem Verlangen nach Heiligung liegt so vielWeltliches in mir... .Männer, die auch weltlich, aber dabei geistreich sind, regen so manches in mir an, was sonst schlum-

mert, meinen Witz, meine Schlagfertigkeit im Reden.... Ohne daß ich es mir gerade vornehme, bekommt mein ganzes Wesen einen gewissen Schwung, eine gewisse Liebenswürdigkeit. Ich fühle dann meine regel­ mäßigen Geschäfte als eine Last, ich wünsche mir Genuß der Eleganz durch

Reichtum, Anabhängigkeit, Genuß mit solchen Männern Ideen auszutauschen, Kunst und Wissenschaft zu studieren, Naturschönheiten zu ge­ nießen, mir von ihnen vor der Welt huldigen zu lassen. Ich ersehne den

Genuß, reizende Feste zu geben, durch vorteilhafte Toilette möglichst gut auszusehen und Talente zu entwickeln — warum? Weil es einer Seite

meines Wesens entspricht, weil es mich amüsiert. Mein hohes Ziel der Arbeit auf Erden sinkt dann zurück, Weltlichkeit nimmt mich gefangen, und wie ich auch kämpfe und ringe, selbst physisch bleibt das Herz in einer zitternden Bewegung, ich habe mich nicht selbst .......

Wenn es wahr wäre, daß die Menschheit nur intellettuell fort­ schreitet, aber moralisch dieselbe bleibt, nur heute diese, morgen jene Feh­

ler vorwiegend austauchen; wenn Glück und Genuß der Zweck des Lebens wäre, wie könnte ich mein Leben ertragen? Dann bricht das Verlangen in mir durch, so bestimmende Pflichten zu haben, die mir keine Wahl in

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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der Arbeit geben, daß das praktische Leben dem Denken ein tüchtiges Gegengewicht hält. Wäre ich Gattin und Mutter 1 And dann danke ich Gott, daß ich es nicht geworden. Gerade mich hätte die bindende Fessel der Ehe das

wogende Lerz, den strebenden Geist nur unruhiger gemacht, wenn mein Gatte nicht ein Mann gewesen wäre, der mir völlig das Gleichgewicht gehalten hätte in intellektueller Kraft und mir überlegen gewesen wäre

in der Heiligung seines Wesens. O, ein solcher Mann hätte mich so gut machen können 1 Aber durch jeden andern wäre ich namenlos elend geworden, wie er durch mich

Nun schließe ich diese Bettachtungen, welche durch eine Reihe von

Bewegungen im Gemüt hervorgerufen wurden und gebe mich von ganzer

Seele unsern Pflegekindern hin. Bei dieser Versenkung in meinen Beruf bin ich am glücklichsten. Die Tage, die so füll in ernster Beschäftigung Hinfließen, stehen hier nicht verzeichnet, und die nicht dastehen, sind die besten. Aber, wenn etwas mich aus dem Gleise hebt, so werde ich es am

besten los, wenn ich schreibe. Jetzt bin ich frei 1

Später. Wie schön ist das Wetter in diesem Monat, volle Wärme mit der Mäßigung des Herbstes durchzogen ... Ich bin wieder recht wohl und ttäftig, und mein Leben atmet hohen Genuß. Die Mädchen sind so nett, das Anterrichten geht so prächtig.

Es weht ein Lauch lieblicher Poesie durch unser Leben, und wenn mich vor einiger Zeit der Materialismus der Welt berührte, die Realität ohne Ideale so schmerzlich, fühlte ich ein leises Zittern des Bodens, auf dem

ich stehe — so habe ich in meinem Leben mit den Meinen und unsern Zög­ lingen ein Eiland gefunden.

Neben dem Ernste meines Strebens, das ich in bezug auf Frauenerziehung verfolge, muß ich auch den Mädchen ein lieblich poetisches

Leben schaffen, ein grünendes, blühendes Eiland! Ihr Aufenthalt bei uns muß die Ida-Ebene der Äsen werden, nach der sie sehnend zurückschauen, wenn sie ihr Auge in Mimirsborn versenkt und vom Baume der Er­

kenntnis gepflückt haben. Wenn sie Ideale in lieblicher Realität verwirklicht finden, und unser glückliches Zusammenleben auf dem sittlichen Ernst eines entwickelten Willens ruht, so wird die eine und die andere nicht ruhen, bis sie sich selbst geschaffen, was sie hier verließ. Es darf uns nicht irremachen, wenn die Welt, die Äußerlichkeit, sie eine Zeitlang verwirrt und

beirrt; es kommt der Schmerz und führt sie auf sich selbst zurück, die Sehn-

14*

212

Kapitel 13:

sucht erwacht. Wohl manches möchte auf ihr Eiland zurück. Sie kann nicht

und so entwickelt sich nach und nach die Kraft, da, wo sie steht, zu schaffen, was sie hinter sich ließ.

Es muß noch viel, viel schöner um uns werden, immer verklärter, immer glücklicher!

Die Weiblichkeit muß sich immer mehr in mir entwickeln, von mir ausstrahlen. Sie ist das Entgegengeseht-Gleiche vom Manne. Tritt bei

ihm die Kraft als Kraft hervor, so beim Weibe die Kraft als Weichheit,

die aber in unsern Tagen nur Schwäche wird, weil die Weichheit nicht vom Mittelpunkt der Kraft getragen wird. Tagebuch. Lerbst 1862. Watzum. Ich weiß, ich muß hier fort,

um meine ganze Kraft in Bewegung zu setzen. Oft, wenn ich meine

Lerzensmutter traurig sehe bei dem Gedanken, da bebt mein Lerz.... Dann steht das Gesetz der Natur in seiner Heiligkeit vor mir, welches sagt: Das reife Samenkorn drängt fort von der Mutterpflanze, um ein selb-

ständiges Leben zu beginnen. Ich habe viele Schwestern, die Eltern blei­

ben nicht einsam... Fort muß ich, zur Einheit in« Innersten zu gelangen, und diese Einheit wird einen Lebet ansetzen bei dem Erziehungsgeschäfte,

der mächtig wirkt. Es ist fast eine Anmöglichkeit, daß Menschen, die so verschieden sind wie Vater und ich, an einem Werke arbeiten. Ich habe an dieser Last ge­ tragen mit Murren und Auflehnung und bin oft recht unkindlich gewesen.

Ich kann jetzt geduldiger tragen, ich will nichts überstürzen. Jetzt muß ich möglichst schweigen, umgehen, um nur keine tieferen Risse zutage treten zu lassen. Was wird es für ein lebendiges Leben werden, wenn man erst

den Mund überfließen lassen darf von dem, dessen das Lerz voll ist. Ich muß aus mehreren Gründen hier fort. Wie kann unser Werk Einheit haben, da der Vater Religionsunterricht gibt, der die Aufgabe hat, das, was in den verschiedenen Anterrichtszweigen zum Bewußtsein gebracht

ist, zu einen; der Religionslehrer hat den Grund zu allem in der Land,

er muß mit allen Lehrern übereinstimmen, er ist der Prediger der Schul­ kirche. Wie ist es hier? Mein Vater hat noch nie danach gefragt, was ich

lehre, er ist nie in eine Stunde gekommen. Er geht von dem Grundsatz

aus, daß ich ungläubig und eine Rationalistin bin. So lehtt er den Kindern fort und fort seine unverständlichen Dogmen der lutherischen Kirche.

Doch ich weiß, wenn ich ganz selbständig dem Vater einst gegenüberstehe; wenn ich ihn in meinem, er mich in seinem Lause als Besuch empfängt,

dann sind wir wieder die besten Freunde. Seine so sehr großen Liebens-

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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Würdigkeiten werden dann viel reiner hervortreten; ich werde ihn pflegen, ihm zärtlich begegnen können.

Eine zweite Schwierigkeit ist, daß ich nicht bestimmen kann über

Laus, Garten, Geselligkeit. Ich muß wenigstens mit stimmen könnetz, um die Erziehung junger Mädchen zu leiten. Die Mutter ist himmlisch

gut, es wäre der schnödeste Andank, etwas anderes zu verlangen, aber sie

hat ihre Gewohnheiten, die sie nicht mehr ablegen kann.

Endlich ist die Ausbildung von Erzieherinnen hier mit unüberwind­

lichen Schwierigkeiten verbunden O, wenn ich doch mit Karl wirken könnte! Was ist nun das Rechte, soll ich ruhig warten? Bleibe ich noch lange in diesen Verhältnissen, so

sterbe ich entweder an gebrochenem Kerzen, oder ich resigniere und werde schlaff. Ich bin 35 Jahre alt, 8 Jahre habe ich mich hier allein, dann mit Marie in tausend Kalbheiten gefunden. Daß wir so anfingen, daß wir

alle Jahre weiter gekommen sind, ist eine Segnung Gottes. Was muß ich jetzt tun, daß das Anternehmen weiter gehe? An Wilhelm Middendorf (Sohn).

Watzum. November 1862.

. ... Ich habe mich immer so nach Redlichkeit und Offenheit auch mit Männern gesehnt. Ich mache hier einen bestimmten Anterschied

zwischen oberflächlichem Geselljchastston und ernsterem Amgang. Erste­ res würde schwerfällig werden, wollte man der Frau jede kleine Koketterie, dem Manne jede Kuldigung verwehren. Dieses Leben hat seine eigene

Sprache, und wer in dasselbe eintritt, muß sie verstehen und würdigen lernen. Eine Frau ist dumm, die sich gesellschaftliche Redensarten zu Kerzen nimmt, oder die in einer galanten Aufmerksamkeit eine Liebes-

erklärung sieht. Aber verläßt man diesen Boden, dessen Grenzen sich nicht leicht mit

Worten bestimmen, nicht mit sichtbaren Fäden ziehen lassen, tritt ein ge-

wisser Ernst in Ton, Kaltung und Austausch der Gedanken ein, so mag ich nicht im andern Geschlecht den Gegner sehen, welchem man immer

im Panzer und mit Waffen gegenüberzustehen hat. Da mag ich nicht, wenn man experimentiert, sondern ich ruhe gern in der Sicherheit des Vertrauens und Glaubens, und ich meine, so müßte es sein.

Was Sie von der Angebundenheit des Verkehrs zwischen einem Manne und einer Frau sagen, ist auch meine Meinung. Wäre man freier

214

Kapitel 13:

einander gegenüber, so würden die Verhältnisse organischer auseinander

hervorwachsen, während sie jetzt meist elendiglich zusammengekleistert sind.

Aber nun hören Sie zu. ES ist schlechterdings nicht möglich, ungebundene Verhältnisse herzustellen, solange bei der Frau ihr ganzes äußeres

und inneres Geschick von ihrer Liebe abhängt. Wir sind auch Menschen und möchten menschlich leben, d. h. schaffen, tüchtig sein, eine Stellung in der Gesellschaft haben und wissen, daß wir nützliche Mitglieder der mensch-

lichen Gesellschaft sind. Bis jetzt gibt uns dies im allgemeinen nur der Mann. Er ist die Brücke, über welche wir auf den sicheren Boden ge­

langen, und daher sollten die Männer es nicht immer ihrer Person zuschreiben, wenn Frauen sie zu heiraten wünschen.

Welch freies, reiches Leben erwüchse zwischen den Geschlechtern, wenn jede Frau, nachdem sie zur liebenswürdigen Gesellschafterin, zur

Haushälterin und Erzieherin gebildet ist, nach ihrer Neigung einen Beruf wählen und sich darin tüchtig machen könnte, damit sie außer der Ehe einen sicheren Grundstein zur Zufriedenheit habe und in derselben im Fall derNot dem Manne helfen könnte und nach seinem Tode nicht zu

betteln brauchte. Durch Sammeln von irdischen Schätzen kann er sie nicht

vor Armut schützen, denn sie sind wandelbar, und gottlob, daß sie es sind. Steht die Frau aber so, wird ihr eine tüchtige wissenschaftliche und Verstandesbildung neben der Entwicklung des Äerzens und der Phan­

tasie gegeben, lernt sie die Menschen verstehen und lieben und ihre edele, geistige Mütterlichkeit in alles legen, was sie treibt, auch wenn sie nicht mit natürlichen Banden an die Kinderstube gefesselt ist — dann steht die

freie Frau dem freien Manne gegenüber. Sie sucht dann in ihm die Er­ gänzung ihres Wesens, dann wird ihre Liebe die zarteste und freieste zu­ gleich sein

Lenriette an den Bruder Karl. Watzum, 20.Dezember 1862.

.... Du sagst, daß der Gedanke Ws., daß einigeNaturen eine ge­ borene Anlage zur Christlichkeit hätten, ein teuflischer sei; ich finde das

durchaus nicht. Ich wollte Dich recht bitten, lieber Karl, doch sehr ernst erst die menschliche Natur zu studieren, ehe Du allgemeine Forderungen

an sie stellst; recht zu definieren, was Du unter Selbstverleugnung, unter Aufopferung des Selbst verstehst, ehe Du diese Worte der Welt zurufst.

Denn, wenn Du Deine Anforderungen so hoch schraubst, so werden viele zurückschrecken. Du wirst von mir nicht glauben, daß ich mich anpassen

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

215

wolle, um nur so hindurch zu schlüpfen, dazu kennst Du mich zu gut, aber

ich strebe, das Innerste des Menschen, wie es Gott geschaffen hat und haben will, zu erkennen, denn ehe wir Anforderungen an dasselbe stellen,

sollen wir den verschiedensten Naturen nachgehen, die mannigfaltigsten

Verhältnisse studieren und nicht allein aus uns heraus, andere zu konstruieren suchen, das Überkommene gleich als das Rechte annehmen.

„Es kann derMensch von seinem Selbst nicht scheiden", und er soll es auch nicht, er soll es nur verklären; schöne, frische Natur

muß unser Wesen sein, nicht geistige Asketik, und man soll aus sich nichts machen wollen, was man nicht ist, aber unser Sein soll wiedergeboren

werden. Du hast mir selbst ein großes Wort zugerufen: Wo unsre Stärken liegen, liegen auch unsere Schwächen. Diese Stärken zu reinigen von

den Schwächen, das ist die Wiedergeburt.

Jesus war z. B. vonNatur zum Lehrer der Menschheit bestimmt, man griff ihn an, er blieb seiner Natur treu und erlitt lieber den

Kreuzestod, als daß er sie verleugnete, denn er hatte sie in Gott unter­ getaucht.

Ein anderer ist nicht so großartig angelegt, er kann nur, wenn er

natürlich bleiben will, für seine Familie leben, und er soll dies nur int reinsten, edelsten Sinne tun. Vielleicht ist Deine Natur zum edeln Fa­

milienvater mehr angelegt als zum Vorkämpfer einer Idee und dann mußtDu Deinem Selbst folgen. Ich glaube nämlich, wenn Du nach Ruß­

land gehst und Luischen dort heiratest, so wird es unendlich schwer halten, daß wir zusammen wirken, denn ich fühle es mehr als je, ich darf die Mut-

ter nicht ganz verlassen; hast Du aber Weib und Kind, so darfft Du nicht mehr fragen: „Was schert mich Weib, was schert ntich Kind", sondern Deine heiligste Pflicht ist dann, ihnen einen Boden zu schaffen, in dent sie

ftöhlich wurzeln köttnen. Glaube ja nicht, daß ich Dich weniger achten und lieben würde, wenn Du offen bekenntest, die Lauptsache sei Dir, Deinen

Äerd zu gründen, das sei der Mittelpunkt Deines Lebens; nur keine fal­ sche Selbstverleugnung soll Dich an uns Schwestern fesseln. Auch als Familienvater würdest Du zur Veredlung des Lebens beittagen und auch Dein Amt dadurch verherrlichen, aber zwischen uns ist nur ein Unterschied

in dem Ausgangspunkte. Ich werde nie ein besonders sanftes, äußerlich weiches, stilles, demütiges Geschöpf werden, ich soll es auch nicht, weil

ich nicht dazu veranlagt bin. Ich soll eine mehr handelnde, fordernde Natur sein, aber ich muß sie mehr als bisher in Harmonie und Liebe ver­ klären. Meine Idee des Lebens ist: Erhebung der Frau, ich bin angelegt.

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Kapitel 13:

dafür zu kämpfen, zu dulden, zu leiden — ist das Verleugnung meiner Natur? Durchaus nicht, ich tue es gern, es ist nur die Entwicklung der innersten Natur. Ich glaube, daß gerade dieses Predigen von Selbst­ verleugnung, diese Auffassung des Christentums das Gegenteil von dem bewirkt, was es bewirken soll, und nun frage einmal das Innerste jener Selbstverleugner ihrer Natur — wieviel Ruhmsucht usw. cm dem Mar­ tyrium hängt.

Sollten wir auf die Erde gesetzt sein, um unsere Natur zu unter­ drücken, zu zerstücken? Ich glaube es nicht, aber wohl sollen wir einen Lebensgedanken haben und diesem untergeordnete Neigungen opfern. Ich liebe einmal im großen und ganzen, mit Unterricht, mit Erziehung mich zu beschäftigen, und so muß ich um des Ganzen Willen einzelnes tun, was ich nicht gern tue, z. B. Sprachstunden geben, aber ich werde es nur so lange tun, wie es sich zum Wohle des Ganzen nicht abstellen läßt. Wo wir entbehren, was natürlich und berechtigt ist — da tragen wir die Sünde der Welt. Hüten wir uns nur, das, was Anlage ist, als Selbstverleugnung zu proklamieren, oder eine selbst aufgedrungencEnt­ behrung Folge einer Hingabe an ein Höheres zu nennen.

.Henriette an den Mediziner Dr. Großheim in Berlin.

Watzum, 9. Januar 1863. Es erscheint wohl recht unhöflich, daß ich Ihnen meinen Dank nicht ausgesprochen habe für die viele Lauferei und Mühe, die Sie wegen meines Bruders Angelegenheiten gehabt haben, aber Sie wissen gewiß auch ohne besondern Ausdruck in Worten, daß ich Ihnen sehr dankbar war, und Erich ist es ganz besonders, denn nun hat der Vater sich endlich überzeugt, daß seine Pläne mit ihn» nicht zu realisieren sind, worüber Erich nicht geringe Freude empfindet. Seine unabhängige Natur graute sich vor der Anstalt in Berlin Ich wollte. Sie kennten meinen Bruder Adolf. Er ist wirklich eine ideale Erscheinung an Leib und Seele. Sind Sie bewandert in der nordischen Mythologie? Wenn ich Adolf ansehe, denke ich immer an Baldur, und wenn Sie einmal etwas Schönes über die nordischeMythologie lesen wollen, lesen Sie in Carlyles Vorlesungen über das Heldentum das Kapitel über Odin

Tagebuch- und Bricfauszüge 1854—64.

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Henriette an die jüngste Schwester Hedwig in der Schweiz.

Watzum, 20. Februar 1863.

Wie lange habe ich mich gesehnt, mit Dir zu plaudern. Aber, ob­ gleich ich wohl viele Dutzende von Briefen geschrieben, so wollte sich nie ein gemütliches Stündchen zu einem Plauderbriefe finden. Das war ein trauriges Stück Winter von Neujahr ab, dessen Rückkehr ich nicht wünsche. Wir haben recht viele Sorge um die liebe Mutter gehabt; es war eine Art Wechselsieber... .Vor 14 Tagen hatte ich wirklich große Angst. Jetzt sitzt die Mutter neben mir und näht an Anna

Obermüllers Kostüm. Es ist wieder große Aufregung unter den jungen Mädchen und ebensoviel Vergnügen als voriges Jahr, in mancher Beziehung mehr Amüsement. Mir ist es sehr schwer geworden dieses Jahr, mich mit einem Feste abzugeben. Mutters Krankheit, die ernsten politischen Verhältnisse, so viel Anwohlsein unter den jungen Mädchen, die Kälte und Anbequem­ lichkeiten des Hauses bei einem strengen Winter usw. lagen wie eine Wolke auf mir. Dann aber dachte ich an meine eigene Kindheit und Jugend zurück, wie ich zuweilen darunter gelitten, daß man sich nicht für mein Vergnügen interessierte, und wie man doch auch nur in der Jugend so recht von ganzer Seele vergnügt sein kann, weil uns später das Weh der Menschheit tief und tiefer berührt und schmerzt. So überwand ich meinen Widerwillen und suchte etwas zusammen. Ich bin schließlich an einem Stücke hängen geblieben, das eigentlich ein

ziemlich grob angelegtes Lustspiel ist: „Die deutschen Kleinstädter" von Kotzebue. Ich habe nur einige Szenen daraus genommen und bearbeitet. Die jungen Mädchen amüsieren sich außerordentlich dabei... Ich habe nun die Mitspielenden so ausgemustert, daß ich selbst dabei herzlich

lachen muß. Ich denke, Du wirst nach dem Feste alles hören, deswegen will ich mich aller Einzelheiten enthalten. Wenn Du und Erich hier wäret; Ihr wäret auch immer so vergnügt Den Neigen, welcher die Aufführungen schließt, finde ich wirklich reizend. Marie hat viel Talent, so etwas zu arrangieren, nur hat uns

das Schlußtableau viel Mühe gemacht. Herr Heyder übertrifft sich selbst und ist auch eingeladen und wird gern kommen. Ich fürchtete, daß fast gar keine Herren hier sein würden,

lud daher eine ganze Menge ein

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Kapitel 13: Marie ist per Telegramm zu einer musikalischen Matinee bei Vogt­

länders in Braunschweig eingeladen. Sie ist soeben, vom Knecht be-

gleitet, mit der Reisetasche abgesegelt, in welcher Annas lilaseidener

Rock, Albertinens weiße Bluse und As. Kaschmirinäntelchen liegen.

Diese sollen bei der Leepe (Schneiderin) in Braunschweig angezogen werden.

Nun kommen die Zeitungen, worin so manches mich ärgert, dann

spreche ich wieder und dann vergesse ich, was ich schreiben wollte. Dazu sitze ich in alt-griechischem Kostüme mit der römischen Toga. Es wäre

alles höchst gemütlich, wenn nur die Mutter wohl wäre Ich freue mich, daß Du meiner Warnung gedenkst und in dieser

Zeit keine Romane liest. Später wirst Du es einsehen, wie gut ich eö mit Dir meine, wenn Du es jetzt auch nur glaubst. Die Romane sind im

ganzen (Ausnahmen abgerechnet), Auswürfe von Krankheitsstoffen in der menschlichen Gesellschaft, Ausgeburten einer unreinen Phantasie, auch wenn man keinen andern Schaden vom Lesen solcher Bücher hat, als daß einen widerliche Bilder verfolgen, die unsere Phantasie einmal

ausgenommen. Besonders halte ich Romane, selbst nicht ganz schlechte, für schädlich für junge Mädchen, weil die Liebe und Heirat als Zweck des Lebens für sie hingestellt wird, während sie eben Durchgangspunkt zur Entwicklung unserer Kräfte sind, um ein

nützliches Mitglied

der

menschlichen Gesellschaft zu werden. Es ist auch nicht der einzige Durch-

gangspunkt, wenn auch der angenehmste und leichteste. Je weniger die Liebe und Äeirat als Lebenszweck für die Frau an­ gesehen wird, desto mehr wird sie ein schöner Träger der gegenseitigen Veredlung . Die Romane fassen selten den sittlichen Ernst im Verkehr der Geschlechter inS Auge, sondern nur spielerischen Genuß, der bis zur Fri-

volität und Ansittlichkeit geht. Ferner werden wunderbare Ereignisse,

Ausnahmefälle als Regel aufgestellt. Sie verderben den Geschmack fiir ruhiges, stilles Arbeiten, was doch das Los der meisten Frauen ist, und wecken das Bedürfnis nach Aufregung, nach Befriedigung nach außen,

was ein unerfahrenes Herz zu Torheiten, wenn nicht zu Falle führt. Sie legen ein großes Gewicht auf Schönheit und Äußerlichkeit und stellen

Glückseligkeit auf Erden als vom Simmet gefallen hin, während die Er-

fahrung lehrt, daß es nur die Frucht mühsamen Schaffens ist. Romane sichren uns meist Ideale oder Teufel vor, während die Masse weder das

eine noch das andere ist, und wir uns schon freuen sollen, wenn wirMen-

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

219

schen finden, die ein edles Streben haben. Mit ihnen besser zu werden, anstatt nach Engeln zu suchen, das sollen wir lernen. Angenommen, ein Gemüt hätte von alledem nichts zu furchten, so

vergeudet man doch seine schöne Zeit Kannst Du nicht französische Geschichte lesen? Ebenso schädlich ist

es für junge Mädchen, Gespräche zu fuhren über Kinder bekommen usw. Wenn Du einmal in Zweifel bist über dahin gehörige Sachen, so wende Dich an mich. Ich werde offen mit Dir darüber sprechen, aber ziehe heilige, von Gott eingerichtete Naturvorgänge nicht in den Staub. Sieh,

da liegt der Anfang zu vielem sittlichen Elende, daß man nicht heilig hält, was heilig ist; daß man mit alberner Prüderie rein Natürliches

wegleugnete, aber unter diesem falschen Mantel der unreinen Phantasie

und Leidenschaft die Zügel schießen läßt. Ich preise Dich glücklich, meine Ledwig, daß Du frühe lerntest zu

arbeiten und mit Lust für andere zu arbeiten. Das ist der'Kernpunkt des

Lebens, ein Schuh gegen vieles. In treuer Liebe

Deine Sbenriettc. Lenriette an den Bruder Adolf in Dresden.

Watzum, 15. Juni 1863. Neulich schrieb mir Wilhelm Middendorf, es sei höchst unbequem, einen Namen zu haben. Ich sage, daß cs höchst lästig sein kann, viele Be­ kannte zu haben. Anter strömendem Regen fuhr ich gestern auf unserm leichten Sommerwagen nach Schöppenstedt, weil ich unter allen Umständen Dein Relief*) (vom verlorenen Sohn) in Braunschweig sehen wollte. Willst Du wohl glauben, daß ich mir die Minuten stehlen mußte, um das Kunstwerk anzuschauen? Ich bin keine von den Leuten, die in einem Moment die Sache überblicken und dann darüber reden können. Ich »et-

tiefe mich gern still in einen Gegenstand und lasse ihn gewissermaßen für mich „werden". Wenn man denn „oh" und „ach" dazwischen ruft, so tut es mir weh; es ist, als zerrissen innere Fäden in mir, die sich zu einem Ganzen weben wollten. Leute genieße ich ungestörter Dein Werk in der Erinnerung als gestern in der Anschauung. Ich will Dir getreulich berichten, welche Ein-

drücke ich von dem Ganzen erhielt.

*) Erste selbständige Arbeit des Künstlers.

220

Kapitel 13: Zuerst kam mir der Vater zu groß vor auf der Fläche und zu über«

wiegend gegen den Sohn, doch verlor sich das beim längeren Anschauen. Ebenso erschien mir der Sohn nicht zerknirscht genug; ich hatte die Wir­ kung gewaltiger gewünscht, aber auch dies nahm ich bei längerem Be-

schauen zurück. Es ist eben Maß gehalten im äußeren Ausdruck, es ist so

sehr zurückhaltend, wie Dein Wesen selbst. Ich finde Dein Werk echt

künstlerisch, wundere mich allerdings, wenn es im großen Publikum Bei­ fall findet Ich habe in der letzten Zeit so oft erfahren, daß einige Kunstwerke bei öfterem Anschauen verlieren, andere gewinnen, und ich finde eben

letzteres im Maßhalten des äußeren Ausdrucks. Viele Künstler legen alles in dieMuskeln, und die Mechanik waltet

vor. Andere lassen die Empfindung nicht ganz an die Oberfläche treten,

und dadurch bleibt sie so innerlich; sieh, Adolf, das hast Du getroffen. Der Künstler muß dem Beschauer etwas überlassen, wenn es uns immer schön und immer neu bleiben soll

Alle sind besonders entzückt von dem Sohn in Deiner Arbeit, ich habe Sympathie für den Vater. Schmerz, durchkämpfter Kummer und Freude über den Wiedergefundenen mischen sich so schön in dem Gesichte.

Die Stellung ist so väterlich, und das Gewand erscheint mir so schön be­ sonders da, wo er cs empornimmt und mit dem Arme hält. Die Lände

schienen mir so gut durchgeführt und Alter und Jugend charakterisie-

rend. Der Maler Schröder fand den auf der Fläche liegenden Arm zu glatt, und mir schien es dann, er habe recht. Ebenso tadelte er etwas in

dieser Weise an demBeine, was mir nicht so auffiel. Man muß dem Sohn insAntlitz blicken von der Seite, wo der Vater steht, dann schaut man in seine zerknirschte Seele. Die Gewandung um des Sohnes Lüften hat so

etwas Schönes für mich, und natürlich finde auch ich die Füße sehr gut

ausgeführt.

Seelenzustände, wie die im verlorenen Sohn, lassen verschiedene Auffassungen zu, Darstellungen verschiedener Grade der Gemütsbewe-

gungen. Den Sohn könnte ich mir auch anders schön denken. Das liegt schon in der ganzen Situation, welche Charakteranlagen, welche Erziehung, welche Ausschweifungen man sich bei ihm als vergangen denkt,

welche Motive zur Amkehr. Das Feld ist weit. Viel enger gebunden ist die Verkörperung des Vaters, und ihn kann ich mir kaum anders vor-

stellen. Damit soll aber nicht gesagt werden, daß der Sohn mir nicht ge­ fiele. Wenn ich ihn anders dargestellt hätte, so liegt das von vornherein

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

221

in der großen Verschiedenheit unserer Naturen. Du bist zurückhaltend

bis zur Verschlossenheit, ich habe etwas Stürmisches in meinem Charakter

und die Macht und Lebendigkeit der Empfindung, die vielleicht bei Dir nicht minder groß ist als bei mir, äußert sich sehr verschieden. Mich

drängt es zum Gewaltigen bis zur äußersten Grenze; Deine Natur hegt

eine gewisse Scheu und strebt zur Zartheit. Zeder veredele seine Natur, aber er bleibe sich selbst treu. Wir können etwas werden, aber nichts aus

uns machen, und daß Du, mein geliebter Vruder, im schönen Werden begriffen, das zeigt mir Dein Werk, soweit mein Auge es beurteilen kann.

Ich, die ich so gerne künstlerisch geschaffen hätte, versenke mich oft in

Gedanken, wie ich dieses und jenes darstellen möchte, und so ist mir oft die Ehebrecherin ein interessanter Gegenstand gewesen, über den ich auch gern gepredigt hätte, wenn ich ein Pastor wäre.

Sie ist kein verlorenes Weib, sondern ich denke sie mir als eine reiche Natur, deren Gemüts- und Geisteskräfte nicht die gehörige Richtung und

Entwicklung bekommen haben. Die Bestimmung der Eltern brachte

eine nach Verständnis lechzende Seele in die Ehe, welche sie an einen Gegenstand fesselte, der eben eine Sache war. Wohin, wohin mit der Allgewalt der Gefühle, die ein Äerz suchten, das sie aufnahm und ihr im Nehmen gab? EinÄerz, das ewig dürstende Sehnsucht nach Äarnronie

und dem Einklang zweier Seelen befriedigte? Anwürdige Behandlung, ein Drang nach Freiheit trieb sie in die Arme eines andern. Sie wird vor Jesus geführt.

Voll finsteren Trotzes tritt sie in den Kreis, denn trotz der äußeren

Schuld ist sie vielleicht reiner als mancher ihrer Ankläger. Das Weib war nach zwei Seiten hin furchtbar erschüttert. Sie war öffentlich gebrandmarkt. Jeder hatte ein Recht, ihr frech lächelnd ins Gesicht zu schauen, jeder ihr alles zuzumuten. Nun steht sie vor IesuS

allein. And vor der Stille und Reinheit seines Wesens beugt sie sich, weil in ihr noch Reinheit, wenn auch getrübte, lebt. Das ist die zweite Erschütterung, die ihr das Äerz bricht. Ein namenloser Jammer erfaßt

sie bei dem Gefühl, keinen Anteil zu haben an derReinheit und Gesetz­ mäßigkeit, in denen der edle Menschenfreund regiert. Er fühlt, was in ihr

vorgeht, dieser größte Psycholog der Welt Adolf, zeichne mir einmal das Bild. Ich finde, gerade diese Ge­

schichte von der Ehebrecherin lehrt uns, daß die richtige Entwicklung des

Tätigkeitstriebes dem Elende Einhalt tun könnte, das im Verkehr der Geschlechter besteht .... O, es wird ein Weh kommen über die Män»

222

Kapitel 13:

ner und deren Kinder, die dem Weibe die volle, freie Entwicklung ihrer Fähigkeiten nicht gewähren. Was für ein Geschwätz ist das zu sagen: „Der Mann ist Verstand, das Weib Gemüt", oder: Der Mann ist zur Selbständigkeit, die Frau zur Abhängigkeit geboren", oder: „Der Mann gehört ins öffentliche Leben, die Frau ins Laus" .... Die Menschheit ist nach den Lehren des Christentums eine Familie mit vielen kleinen Knotenpunkten, Familien im engeren Sinne. Die Frau gehört wohl in die Menschheit, sie gehört wohl ins öffentliche Leben, aber ihre Aufgabe daselbst ist eine andere. Sie ist eben fähiger, das persönliche Interesse zu erfassen und zu wahren, als der Mann. Wenn die Männer der Frau nur eine größere Freiheit der Bewegung gestatten wollten I Wie es nicht nur eine Männlichkeit gibt, so auch verschiedene Weiblichkeiten. Längst würde man den Ritter des Mittelalters, der das Faustrecht übte, jetzt einen Raufbold schellen; aber immer soll die engbegrenzte Frau jener Zeit der Maßstab für unsere jetzige Weiblichkeit sein. Wenn dieses Kapitel der Weiblichkeit angebrochen wird, hat man auch nie die verschiedenen Altersstufen der Frau im Auge. Man hält sich immer an die Zeit der Knospe, daher sehen wir auch so viele vergilbte und verwelkte Knospen, die keine Blume, keine Frucht getragen. Woher käme sonst das Wort: „Alte Jungfer, altes Weib", was immer etwas Verächtliches bezeichnet? Ich wünsche so sehr eine vermenschlichte Auffassung der Bibel, die Vermittlung der Gegensätze, des Idealen und Realen. Diese Auffassung der innern, der wirklichen Menschenwerdung Gottes unter Ringen und Schmerzen vermisse ich z. B. bei Schnorr, so sehr ich die Form bewundere. Ich habe nur ein intelligentes, kein warmes Interesse für die Madonnen des Mittelalters und die Jung­ frauen „mit Lilienpoten", wie Bruder Karl sagt. Es mutet mich an wie ein überwundener Standpunkt, der die Sinnlichkeit an und für sich für Sünde hielt und die furchtbarsten Anstrengungen machte, auf Erden den Geist vom Fleische zu trennen. Beim Anschauen dieser für mich im Aus­ druck des Gesichtes wesenlose Ideale tönen mir immer Schillers Worte entgegen:

„Willst du deine Macht verkünden. Wähle sie, die rein von Sünden Steh'n in deinem ew'gen Laus. Deine Geister sende aus. Die Unsterblich en, die Reinen, Die nicht fühlen, und nicht weinen."

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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Die Madonnen von Rafael und andere sind ja unvergleichlich schön in der Einfalt und Einfachheit der Form, sie entzücken mich in der Kom­ position desGanzen, aber derGesichtsauSdruck der meisten Figuren ist Reliquie einer vergangenen Zeit, zwar unschätzbar, aber in der Nach­ ahmung unserer Künstler langweilig. Wir können eben nichts Höheres schaffen als ein Mensch, und stre­ ben wir, Menschliches dahintenzulassen, so wird es weniger als «in Mensch. Es gibt natürlich verschiedene Stufen der Menschlichkeit in ihrer Darstellung, von dunkler Tiefe bis zur lichten Löhe, vom heißesten Kampfe und vom brutalsten Egoismus bis zu der verklärtesten Per­ sönlichkeit. Aber, wie weit der Mensch sich objektiviere, ganz unpersönlich wird er nie, soll er nie werden; denn er soll die Vermittlung der Gegen­ sätze, Selbstzweck und zugleich für andere da sein Ich werde wohl mit dieser Rede von dem Unpersönlichen in den Madonnengesichtern Dein höchstes Mißfallen erregen, und Du wirst mir vielleicht ein Urteil sprechen, daß ich kein eigentliches Kunstverständnis habe. Aber, wenn man dummes Zeug ohne Prätension ausspricht, gibt man dem andern Gelegenheit, uns eines Besseren zu überführen. Die Mädchen sind wieder gesund und es herrscht ein frischer, froher Geist unter ihnen Der Amtsrichter S. hat den Leuten im Dorfe begreiflich gemacht, daß sie uns hier festhalten sollten, unser In­ stitut brächte Geld ins Land

Henriette an denselben. Watzum, 19. Juli 1863. .... Daß Du eine Scheu hast, den weiblichen Körper zum Vor­ wurfDeiner Arbeiten zu nehmen, begreife ich vollkommen. Es kann mich nur freuen. Du hast ganz die keusche Natur unserer besten, teuersten Mutter geerbt, und dafür danke Gott. Ich kann mir denken, wie weh es Deiner Seele tut zu sehen, wie Frauen ihren Leib verkaufen und Männer ein schändliches Spiel mit ihnen treiben. Aber daS Studium des menschlichen Körpers recht betrieben, führt uns zur Heilighaltung desselben, denn, welch ein Kunstwerk haben wir

vor uns I Er ist ein Tempel Gottes wahrhaftig. Man würde dann mit reineren, heiligeren Augen den Körper in seiner Nacktheit schauen. Aber das alles kann nur kommen, wenn der Verkehr der Geschlechter ein anderer wird. Das muß von den Frauen

224

Kapitel 13:

ausgehen; sie müssen stärker in sich werden, damit sie nur einem sittlich

ringenden Manne sich zu eigen geben. Gerade das Weib, um das ein Mann arbeiten muß, wird in seiner Liebe das hingebendste und freieste zugleich, das zärtlichste und stärkste sein. O, ich finde das Leben in seinen

Beziehungen, wenn sie rein und natürlich aufgefaßt werden, so wunder­

schön. Warum besudeln wir es, warum trüben wir es uns? Mein Kerzens-Adolf, Du, Ihr Brüder und Schwestern seid mein Lebensglück, meine Freude, meine Wonne! Unerschütterlich fest werde

ich mein Ziel im Auge behalten, einen Kreis zu gründen mit Bruder

Karl und den andern, wo das Leben in seiner Reinheit gefördert wird durch die Einheit von Äa.us, Schule und Kirche; durch die Verschmel­ zung von Natur und Geist, von Glauben und Erkennen, von Kunst und Wissenschaft; wo die Vermittlung der Gegensätze ein Neues, Drittes

hervorruft, dem die Geister unserer Zeit sehnend und suchend entgegen­ streben. Im kleinen wollen wir es begründen, und stehst Du uns nicht körper-

lich nah, so doch geistig. Es ist zwischen Dir und uns ein schöner Wechsel­ verkehr der geistigen Strahlen, und die verschiedenen Individualitäten

ergänzen sich zu einem herrlichen Ganzen. Dazu helfe uns Gott 1 . . . .

Äenriette Brey mann an Mina Eisfeld (nachher Fran Stadtdirektor Baumgarten in Wolfenbüttel) Watzum, 26. Juli 1863.

Meine teure Mina. Was denken Sie wohl von mir, daß ich Ihnen so lange nicht ge­ schrieben .... Ich weiß nicht, ob Sie mein Schweigen verstehen und nicht denken, daß ich ein indifferentes Wesen bin, das schnell die Bande löst, die sich einst zwischen uns woben Bei uns geht alles den gewohnten Gang, langsam, langsam vor­ wärts. Wohl dreißig Schülerinnen haben wir dieses Jahr zurückgewiesen und schon auf Ostern 1864 sind alle Plätze besetzt. Ich bin noch immer nicht dahin gelangt, meinen Lieblingswunsch zu beftiedigen, und eine

Ausbildungsschule für Erzieherinnen zu haben; die Schülerinnen fehlen nicht, aber der Raum, sie aufzunehmen. Wir haben vorerst den Plan,

mit Amsincks zusammenzuziehen, aufgegeben und werden vielleicht hier

im Dorfe ein Äaus bauen. Liebe Minna, ich bin oft in Konflikten: Zur schnelleren Entwicklung meinerIdeen wäre es besser, Watzum zu ver­ lassen, man riskiert viel mit einem Kausbau hier im Dorfe. Ich sehne

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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mich so nach dem Leben in einer schönen Gegend, aber dann auf der andern Seite verlassen wir die Äeimat so ungern, wird es uns schwer, das einmal Begonnene nicht fortzusehen. Könnte man hier nur ein Kaus mieten, aber es ist ja keine Möglichkeit. Karl ist nun bald ein Jahr in der Schweiz; jetzt macht er eine Reise nach Italien. Wenn wir hier noch bauen, so kehrt er zurück. Ledwig ist seit Ostern in Lausanne und ist sehr glücklich dort; sie treibt nun besonders das Französische und Zeichnen nach der Natur, was ihr viel Freude macht. Wir haben täglich diesen Sommer Besuch und wirklich darunter so lieben und interessanten, so daß die Tage mir im Flug vergehen. Der schlechte Sommer hat viel Anwohlsein unter den jungen Mädchen her­ vorgerufen, aber, Gott sei Dank, es ist alles glücklich vorübergegangen. Marie und ich waren Ostern acht Tage in Berlin und werden wohl im September wieder dort hingehen, um zu studieren; eS hat dort ein BekannterMariens eine sehr gute Schule, die wir einmal ordentlich kennen­ lernen wollten. Ich ginge lieber in den Karz oder nach Thüringen, aber, wenn man einmal eine Sache übernommen hat, so muß man sie ganz durchzuführen suchen, und bei der Abgeschlossenheit, in der wir leben, ist es notwendig von Zeit zu Zeit den Gesichtskreis zu erweitern, wenn man nicht einseitig sein will. Aus Finnland höre ich öfter und bekomme gute Nachrichten, auch habe ich viel Besuch von dorther gehabt und werde wahrscheinlich mit einer Dame Fräulein Simelius, die jetzt in der Schweiz ist, in Berlin zu­ sammentreffen. So weben sich uns manche Beziehungen zumNorden und Süden, und wenn wir nur Raum hätten, unsere Ideen zu realisieren — wir fänden manche Sympathien dafür. Es ist jetzt eine ernste Zeit und es bildet sich auf den verschiedensten Gebieten ein neues Element aus der Verschmelzung der Gegensätze — einem Ziele, dem wir auch zustreben. Nun habe ich Ihnen eine ganze Menge vorgeplaudert, liebe Minna, in der Voraussetzung, daß Sie unserm Leben noch mit dem alten, lieben Interesse folgen, welches Sie uns ja so warm schenkten. Leben Sie nun wohl, meine teure Minna; schenkt Gott Ihrem Körper wieder Kraft, so fehlt auch der Frieden der Seele nicht, nach dem Sie alle so treu gerungen und der eine Glorie ausgießt über Leiden und Tod .... Seien Sie überzeugt daß wir still immer fortleben und allem, was Sie betrifft, mit wahrer Teilnahme folgen

Ihre treue Freundin LyschinSta, Henriette Schrader!.

Kenriette. 15

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Kapitel 13: Lenriette an den Bruder Karl (in der Schweiz). Watzum. 21. Oktober 1863.

. ... Es steigt wohl die Frage in mir auf, ob ich meine Kräfte nicht überschätze, ob es nicht natürlicher wäre, ruhig hierzubleiben, so­ lange der Vater noch lebt, und Dich und Luischen ziehen zu kaffen, da hier zusammen schwerlich unser Ziel erreicht wird. Wenn ich wüßte, was das Rechte wäre, dann könnte ich hier bleiben, aber oft bin ich ganz durchdrungen von der Idee, daß ich eine.Mission mit Euch zu erfüllen habe, von der schon hier der Anfang gemacht ist Wir stehen mit unserer innern Entwicklung auf dem Boden der Zukunft, waS Frauenbildung sowie deren Ansprüche auf Arbeit und Stellung im Leben anbetrifft. Deswegen kann sich kaum ein Mann zur Ehe für uns finden, weil wir den meisten Männern der Jetztzeit un­ bequem sein müssen oder die, welche unS heiraten wollten, unser Bestes eigentlich nicht verstanden, ihm schwerlich Rechnung getragen hätten. Labe ich Dir eigentlich von Mariens letztem Leiratsantrag erzählt? Da nun Frauen sowenig wie Männer allein etwas Ordentliches ausführen werden, und wir keinenMann haben, so brauchen wir andere Männer zu Lilfskräften. Diese find schwerer zu bekommen, weil die Stellung der Geschlechter zueinander eine durchaus unfreie ist. Das Natürlichste ist, daß wir uns an Dich anschließen, wenn Du überhaupt den Plan hegst und verfolgst. Wollen wir eine Lehrerinnenbildungsanstalt gründen, so müssen wir auf so festem Fuße stehen, daß wir mit preußischen Seminaren kon­ kurrieren können/Es ist schwer, fast unmöglich, dies in einem Dorfe zu tun, das nicht unmittelbar an einer Stadt liegt, die tüchtige wissenschaftliche Kräfte liefert. Mir persönlich liegt die Lehrerinnenbildung, die gewissermaßen Mutterschule werden soll, am meisten am Lerzen, weil wir unsern jungen Mädchen in dem Alter, in dem sie uns jetzt verlassen, nicht daS ganze Samenkorn zur künftigen Erziehung ihrer Kinder mitgeben können. Last Du mehr Neigung, ein patriarchalisches Verhältnis mit Ge­ meindegliedern zu führen, so können wir das auf einem Dorfe. Ich glaube fest, wenn wir einen Plan dem Konsistorium vorlegten, daß Du eine Stelle bekommst; ja, vielleicht die Gewißheit über Watzum, und man müßte dann auf Dein junges, kräftiges Leben hin den Lausbau hier wagen. £lnt eine Wirksamkeit in der Gemeinde zu haben, braucht man

Tagebuch, und Briefauszüge 1854—64.

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einen gewissen Wohlstand, der durch eine Pension kommt. Man kann auch vermöge der jungen Mädchen vieles beschaffen, was ohne sie nicht möglich wäre. Es ist möglich, daß wir auf diese Weise zu einer Mutterschule ge­ fangen. Die Leute möchten hier gerne einen Singverein haben, Marie übernähme es mit Freuden, wenn sie Zeit erübrigen könnte, und ich würde auch manches mit den Mädchen im Dorfe treiben, wenn ich wem» ger in Schule und Pension zu tun hätte .... Das fällt ja natürlich alles in Rudolstadt fort, wenn wir dort hinzögen, aber ich hielte es für ein großes Glück, wenn wir an die Lehrerinnenbildung denken, die MitWirkung des Professor Klußmann zu haben

Die Feier des 18. Oktobers*) hat die Leute hier wieder gepackt. Die jungen Mädchen machten in der Pappstunde bunte Papierlampen, die Illumination von der guten Mutter ausgedacht, der Chorgesang der jungen Mädchen und der singende Zug durch das Dorf von Marie geführt hat den Leuten sehr gefallen. Äenriette an die jüngste Schwester in der Schweiz.

Watzum. 17. November 1863.

Mein liebes Ledchen,

Äeute will ich einmal recht gemütlich mit Dir plaudern und Dir etwas von meinem Leben erzählen; da ich doch die fünf Groschen Porto für den Brief an F. P. bezahlen muß, so soll davon manches Dir zugute kommen. Unser Leben fließt recht still und einförmig dahin, wie es im Winter gewöhnlich ist. Wohl dem Menschen/ dem die Arbeit in erster, der Genuß in zweiter Instanz steht; er hat seinen Frieden gegründet, und Arbeit findet sich überall. Nun kommt es -war darauf an, daß man die Arbeit vornehmen kann, die unserer Natur entspricht, und da bin ich nicht mehr ganz an meinem Platze.

Ich muß über kurz oder fang mehr direkt fitr die Fröbelsche Sache wirken, denn es ist mein eigentlicher Beruf, und ich leide, wenn ich ihn nicht mehr ausüben kann. Meine sogenannte schlechte Laune hat oft ihren Grund in tiefen Seelenschmerzen. Ich bin aber entschlossen, bald eine Entscheidung zu treffen, die mir den Boden schafft, den ich brauche, *) 50 jähriges Jubiläum der Völkerschlachr bet Leipzig. 15»

228

Kapitel 13:

damit meine eigentlichen Kräfte zur Geltung kommen, und wenn Karl Ostern kommt, finden wir so oder so einen Ausweg. Dies« Aoffnung gibt mir Mut, gibt mir große Heiterkeit und Frische. Unerschütterlich fest halte ich an meiner Idee; die Form, unter welcher sie zutage tritt, habe ich nicht in meiner Gewalt. Diese zehn Jahre, die ich hier gearbeitet, wenn auch ein Stückwerk, sind mir von großem Nutzen gewesen. Meine Natur konnte sich hier setzen und klären. Ich konnte mich ungestört entwickeln, manches lernen, manches Vor« urteil, manche Schwäche überwinden. Jetzt fühle ich mich stark und frei, in der Welt zu leben und zu wirken. Und sollte es mir nicht beschieden sein, meine Ideen zu realisieren, — so lege ich sie auf Euch Geschwister, mein Ledchen. Sieh, Du könntest meine Tochter sein und bist es auch in mancher Beziehung. Wo Du stehst, ob verheiratet oder unverheiratet. Du mußt Dich als mein Kind bewähren. Du mußt ein in Dir freies Weib werden; tüchtig lernen, tüchtig arbeiten, damit Du nicht heiratest auS Sorge vor Alleinstehen, oder weil Du nicht Dein Brot erwerben kannst oder zu schwach bist. Dir selbst zu helfen. Die Losung unserer Tage heißt für die Frau: Innerliche Freiheit und die damit verbundene äußerliche Selbständigkeit innerhalb der weib­ lichen Sphäre, und diese Sphäre ist überall, wo der Geist der Liebe, der Versöhnung, des Trostes, des Schönen und Sittlichen in Erscheinung treten kann. Aber tüchtig müssen wir uns machen. Die Fächer sind überfüllt nach jeder Richtung, und nur die Leistungsfähige kann etwas vor sich bringen. Ich weiß, meine Ledwig hat das Streben, etwas Tüchtiges zu leisten, und das ist meine Äerzensfteude Ich höre viel Gutes von Dir, auch aus der Schweiz, und das freut mich so I Es tut meinem Aerzen so wohl, wenn gute Menschen Dich lieben I Man kann nicht allen gefallen, man soll sich nicht darum bemühen und kümmern; aber man soll sich bestreben, die Achtung edler Aerzen zu gewinnen, denn ein solches Bestreben veredelt uns natürlich selbst Mein Unterricht ist nun gut im Gange. Die Tabellen, welche ich mit den jungen Mädchen anfertige, sind mir wie ihnen von großem Nutzen. Seit Michaelis sprechen wir in der deutschen Geschichte von der Lage Deutschlands unmittelbar vor dem 30jährigen Kriege und haben politische Ereignisse unter den Kaisern Ferdinand I., Maximi-

Tagebuch, und Briefauszüge 1854—64.

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lian II., Rudolf II. durchgenommen. In der Kirchengeschichte nehme

ich dieselbe Zeit; traurig sah es aus, theologisches Gezänk und wenig

Christentum. Das hat eine Nachwirkung auf die Literatur, die Poesie sinkt und die Prosa entwickelt sich. Zum Mittelpunkt in der Literatur

mache ich Fischart. In der Kunstgeschichte ist auch wenig Erfreuliches,

die italienische Manier greift um sich. Dazu lesen die Mädchen im Eng­ lischen die Geschichte der Elisabeth und im Französischen die Bartholo-

mäusnacht und über Äeinrich IV., diesen größten König Frankreichs. Ich begreife nicht, daß ich je eine andere Methode verfolgt habe. Es

ist so einfach, alles, was zur Geschichte einer Epoche gehött, zusammen­

hängend darzustellen. Dadurch bekommt auch die viele Französiererei

und Englisiererei einen Inhalt, wenn die Mädchen Geschichte und Lite­ ratur der ftemden Länder lesen. Bitte, erkundige Dich immer nach Bio­

graphien historischer Persönlichkeiten auS englischer und ftanzösischer Geschichte

.

In der alten Geschichte wird dieselbe Methode mit Tabellen aus-

geführt. Alle diese Notizen müssen auswendig gelernt werden. Ich lasse sie ost hersagen und die geographischen Karten dazu zeichnen. Ich ver­

lang«, daß die Mädchen mehr Positive- lernen und doch auch ein geistiges Interesse gewinnen. Mit den Kleinen kann ich natürlich nicht so große Zusammenhänge

bearbeiten lassen, sondern hebe einzelnes heraus; z. B. I. Religiöse Un­

ruhen in verschiedenen Ländern nach der Reformatton. II. Berühmte Lerrscher dieser Zeit. III. Freiheitshelden dieser Zeit. IV. Revolu­ tionen.

Wir stehen jetzt bei den berühmten Äerrschern und haben den großen Kurfürsten von Brandenburg kennengelernt. Dabei lesen wir ein reizende- Buch von Ferdinand Schmidt*): „Aus dem Leben des

großen Kurfürsten." Die Schmidtschen Bücher sind ein wahrer Schatz.

Auch in den andern Stunden komme ich immer einer größeren Einheit näher. So macht mir die deutsche Stunde jetzt viel Vergnügen, und die meisten Mädchen lernen mit einem wahren Eifer, besonder- die

großen, und das ist mir recht erquicklich. 5>. R. macht mir jetzt so viel Freude, sie ist wie umgewandelt, und sie, die sonst so ttäge war, hat einen Eifer bekommen, daß ich ost steuern muß

Albertine geht nach Schöppenstedt und nimmt diesen Brief mit

*) Iugendbibliothek, Verlag von Mohr und Co., Berlin.

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Kapitel 13:

zur Post. Sie will Rosen vom Garten des Superintendenten holen, die sie nach der Natur malt. Für wen? Adieu, Deine Henriette. Lenriette an den Bruder Adolf in Dresden. Watzum. Januar (?) 1864. ...... Ich schicke Dir alles, was ich an Bildern habe von Fröbel und Middendorf. Erich wird Dir selbst über seinen Besuch in Keilhau schreiben. In Hamburg bei Alvine Lange (geb. Middendorf) existiert das Daguerreotyp, nach welchem die Zeichnung gemacht ist. Fröbel ist nicht ähnlich um den Mund auf der Zeichnung, die Züge haben etwas Fremdes. Er hatte nämlich damals keine Zähne mehr und die Partie war eingefallener, aber auch wieder ausdrucksvoller. Wenn Du zum Frühjahr nach Rudolstadt gehst, kannst Du in Keilhau recht genau über alles Auskunft bekommen, und wenn Du dann die Büste verkleinerst, noch die nötigen Veränderungen vornehmen. Willst Du nicht auch mit Ramdohr in Verkehr treten? Die Sache hat viel mehr Klang, wenn ein Kunsthändler die Büsten nimmt. Es muß überhaupt einen Ort geben, wohin man die Leute weisen kann. Möchte Dir daS Werk gelingen! Henriette an denselben.

Watzum. 27. Januar 1864. ................ Ich habe eben in der Volkszeitung gelesen. Es ist viel­ leicht albern, daß ich als Frau mir so die politischen Interessen zu Kerzen nehme, da ich an der Schandwirtschaft nicht- ändern kann; aber ich habe nun einmal ein Herz für mein Volk, ich habe meinen Stolz in bezug auf die Nation, der ich angehvre, daher fühle ich die Schmach bitter, die wir wieder auf uns laden.*) Hätte ich nur jemand, der einmal tüchtig schelten und womöglich etwas tun wollte. Kein Mann soll sich beruhigen mit dem leidigen Wort, daß er es nicht ändern kann. Er kann «S ändern, wenn nur jeder den Willen des einzelnen hat. Aber ich fitrchte, wir sind noch nicht da, daß die wirkliche Aufopferung Stich hält. Der Wunsch, ein vernünf­ tiges, ehrenhaftes Regiment zu haben, ist wohl überall, aber der Weg vom Wunsch zum Willen ist noch weit und mühsam.

*) Die schleswig-holsteinische Frage.

Tagebuch- und Vriefauszüge 1854—64.

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Wenn ich nur Seminardirektor wäre und die Volksschullehrer zu bilden hätte; ich wollte ihnen das Lerz warm machen für die Jugendbildung, denn in ihrer Land liegt der Samen zur Blüte der Zukunft. Was Kirnte da geschehen I Lieber Adolf, ich bin im ganzen ruhiger geworden; ich kann Miß­ verhältnisse viel besser ertragen als früher, aber zuweilen möchte ich ein­ mal schreien. Seit Bruder Karl und Erich fort sind, bin ich sehr vereinsamt in politischer Linsicht. Die Mutter und Schwestern stimmen mir bei, aber sie erwidern nicht, und des Vaters Standpunkt kennst Du ja, dem kann man nichts erwidern .... Der Vater hat aber einen viel zu redlichen Sinn, als daß er eine Bismarcksche Politik gutheißen könnte, und doch freut er sich, wenn er siegt.*) Warum? Weil er die Abgeordneten für irreligiös hält und fürchtet, daß der Kirche Abbruch getan wird, wenn die Fortschrittspartei ans Ruder kommt. Dieses Kirchentum sucht auch er mit aller Kraft zu stützen. Mich berührt alle Annatur, alle Künstelei der Orthodoxie so un­ angenehm. Ich habe eine gründliche Antipathie gegen die Mythologie unserer Kirche, insofern mein Seelenheil davon abhängig gemacht werden soll. Ich finde sie als Sagen sehr schön, und es liegen auch Wahrheiten darin, aber sie sind für mich Geschichte geworden. Nur der Kern der Evangelien, das Wort von der Kindschaft Gottes, daß wir gött­ lichen Arsprunges sind, göttliche Bestimmung haben . . . daS ist mir absolute Wahrheit Ich kann es oft gar nicht begreifen, warum eS den Menschen so entsetzlich schwer wird, einfach natürlich die Sachen zu nehmen, wie sie vor unsern Augen liegen. Warum diese Leidenschaft für das Verkehrte der Lutherschen Lehre, in welche man sich hineinzwängt? Wie unbeschreiblich freut es mich, daß Dich die Arbeit an Fröbels Büste interessiert. Bitte lies dabei Fröbels „Menschenerziehung", Du wirst so ganz den Ausspruch, den Du tatest, bestätigt finden. Ich vergaß Dir zu sagen, wo Lerr Schilling das Fröbelsche Be­ schäftigungsmaterial finden kann Es freut mich, lieber Adolf, wenn Dir der Gedanke an eine Leirat recht fern liegt. Nicht, daß ich in schwesterlicher Eifersucht einer andern den ersten Platz in Deinem Lerzen nicht räumte, wenn es Dich glück-

*) Der Konflikt mit dem preußischen Abgeordnetenhause.

232

Kapitel 13:

licher macht; aber ein Künstler sollte nicht früh heiraten, glaube ich.

Es kommt allerdings sehr auf die Disposition des ganzen Menschen an, und Du hast unserer Mutter Natur

Es freut mich so herzlich, daß auch Du glücklich über Ledchen bist. Sie ist 16 Jahre alt und geistig weit entwickelt, ohne auch nur einen

Lauch kindlicher Jungfräulichkeit verloren zu haben. Sie könnte gelehrt

werden, und sie würde liebenswürdig bleiben. Wenn man nur erst ein­ mal den Begriff Weiblichkeit von Anentwickeltsein trennen wollte ....

Lenriette an ihre Pensionskinder im Pfarrhause

zu Watzum. Genf. Schweiz. April 1864. Meine liebe, teure Pension I

Man muß dem Traurigen, was uns begegnet, immer die freund­ lichste Seite abzugewinnen suchen, und das will ich denn auch tun, in­

dem ich die Muße, die mir mein Kranksein bringt, benutze, um Euch,

meine lieben Kinder, zu schreiben, worin ich auch die einschließe, welche unser Laus erst nach mir verlassen haben. Schon als ich in Lausanne war, sagten mir die Leute: „Gehen Sie

nicht nach Genf, Sie werden die Grippe bekommen, jeder ist krank!"

Aber ich fühlte mich so wohl und kräftig, daß ich darüber lachte . . . Da wehte der böse Nordwind, der von den Schneebergen mit seinem rauhen Odem über den blauen See hinfähtt und den man „la biss" nennt. Es wurde kalt und unfreundlich, ich konnte dem bösen Gespenst

nicht entgehen. Ich wollte mich nicht gleich niederwerfen lassen, stand

immer wieder auf, ging in die Schule und glaubte mich gesund, aber immer wieder war ich am Ende meiner Kräfte. Seit Donnerstag liege ich nun still zu Bett auf dem reizenden Landsitze von M. Darier, wo

Mons, und Madame Scheffler und Maden« Lagier wohnen, die mich wie ein Kind in ihrem Lause ausgenommen haben. Mons. Scheffler ist ein Maler, der ein Atelier für Damen hält. Vor mehreren Jahren wurden Erica Lagier und ihre Freundin Mad«"« Landsmann seine

Schülerinnen; wenn Ihr nur die reizenden Bilder dieser beiden Damen sehen könntet; wirklich, sie haben so recht die weibliche Seite der Kunst ergriffen; sie malen Szenen aus dem Leben der Kinder. And wie diese beiden Frauen so gut und mitfühlend für das Leiden anderer sind;

so gingen sie in die ärmsten, schmutzigsten Läufer, holten sich Kinder

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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zu Modellen, wuschen, kämmten, kleideten sie rein und führten sie so den Eltern wieder zu. Auf diesen Wanderungen haben sie auch das Elend des Volkes kennengelernt, aber auch zugleich erfahren, daß es wenig hilft, die Elenden mit Geld zu unterstützen, sondern daß man für eine andere Erziehung sorgen muß, die dem künftigen Geschlechte Lust und Liebe zur Arbeit, wahre Religiosität und Sinn für das Reine und Schöne gibt. Diese neue Erziehung fanden sie in den Fröbelschen Ideen, weil eben bei ihrer Ausführung das Beste im Menschen entwickelt wird, während jetzt die Kinder meist nur abgerichtet werden. Die Damen haben alle mögüchen Opfer gebracht, um die Fröbelschen Ideeen zu realisieren, weil aber niemand hier sie so recht verstand, so baten sie mich, zu kommen. Ich wollte nun alles einrichten, einen Kindergarten und eine Ausbildungsanstalt für Mädchen; Frau von Portugall wollte mein Werk fortführen, weil ich ja nur kurze Zeit hierbleiben kann. Nun ist alles anders gekommen Ich bin drei Wochen krank und habe meinen „Cours" noch nicht angefangen und Frau von Portu­

gall ist noch immer nicht hier Gestern abend lag ich ganz, ganz still und allein in meinem Zim­ mer, weil Besuch da war und der Arzt mir Ruhe anbefohlen hatte. Ich war so recht tief betrübt über das Mißgeschick, das mich betroffen; denn es ist hier so viel zu tun, und ich kann nicht arbeiten. Da faltete ich meine Lände und bat Gott um Ruhe und Frieden des Lerzens und Geduld in meinem Leiden, und sie kam in die Seele. „Ja," sagte ich mir, „ich wollte etwas Gutes wirken, wollte die Idee, daß die Frauen eine heilige Mission in der Erziehung zu erfüllen haben — ob verheiratet oder unverheiratet — weiter verbreiten, und nun liege ich hier krank, und die Zeit vergeht, die reichen Leute, die etwas tun können für die Sache, ziehen aufs Land, und mich zieht es wieder zu Laus, zu Euch, meine Lieben, das ist traurig; aber es ist nicht meine Schuld." . . . . So lag ich in meinen Gedanken, da ertönte auf einmal ein mehrstimmiger Choral von zarten Mädchenstimmen unter Begleitung von Tenor und Baß. Ich kann Euch nicht beschreiben, welch einen Eindruck dies auf mich machte; die Tränen drangen mir aus den Augen und stille Ruhe kam in mein Lerz. Es war eine englische Familie: Vater, Mutter und vier Kinder aus dem Norden Schottlands, sehr, sehr reiche Leute, die hier zuweilen wohnen. Mademoiselle Lagier hat die Kinder alle gemalt und so Bekanntschaft mit der Familie gemacht. Diese Leute

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Kapitel 13:

leben so ganz den Freuden des Laufes; die Eltern lernen, spielen, singen mit den Kindern, so waren sie es denn auch, welche mit der Begleitung

Senn Schefflers den Choral anstimmten. Später tönten die bekannten Klänge von „Long, long ago!“ in mein Zimmer und Bilder aus dem Zusammenleben mit Euch zogen an meiner Erinnerung vorüber. Als ich noch so still da lag, kam meine liebe Erica Lagier, die mich Tag und Nacht, wie die treueste Schwester gepflegt, setzte sich auf eine

Fußbank vor mein Bett und plauderte liebevoll mit mir. Diese Nacht

habe ich kein Fieber mehr gehabt und bin nicht von dem furchtbaren Lüsten gequält; ich habe einmal wieder gut geschlafen. „La biss" weht

nicht, der hellste Sonnenschein lacht auf die knospende Natur, in die

ich vom Bette aus blicke. Ich denke mittag aufzustehen und mich an

der köstlichen Luft zu erquicken. Wir erwarten Ledwig heute abend, die die nächste Woche hier bleiben und für mich in den Kindergarten gehen

soll, weil ich mich noch schonen muß.

Obgleich manche Vorurteile gegen die Fröbelschen Ideen herrsch­ ten, weil sie nicht verstanden sind, so habe ich doch das Glück, die Leute

eines Besseren zu überzeugen, und es hatten sich zwei Gesellschaften gebildet, die gern eine Übersicht des Ganzen haben wollten. Die eine meist Lehrerinnen, die andere Damen aus der Aristokratie. Diese Stunden sollten Montag anfangen, ob ich nun kräftig genug sein werde, sie zu geben? Es ist so wichtig, daß gerade Mutter und Tochter in der Familie

die Ideen einer wirklichen Erziehung erfassen. Der Instinkt allein genügt

nicht mehr in unserer Zeit, wo alles nach Kultur, Wissenschaft und Bewußtsein ringt, und das ist die einzig wahre Emanzipation der Frau,

daß sie die Wissenschaft studiert, um den Menschen zu verstehen und zu erziehen; natürlich verschieden auf den verschiedenen Altersstufen.

Wenn wir Euch anhalten, zu beobachten, zu denken, die Ordnung zu

pflegen, praktisch im Kleinen wie im Großen zu helfen, so ist das eine Stufe der Vorbereitung zu Eurem einstigen Beruf als Erzieherin; denn, wenn Ihr Euch verheiratet und Gott Euch Kinder schenkt, so

habt Ihr nichts Wichtigeres und Leiligeres zu tun, als sie zu guten,

christlichen Menschen zu erziehen. Und wenn Ihr Euch nicht verheiratet, so werdet Ihr auch glücklich

sein und Euch nützlich machen und könnt mit Frieden von der Erde scheiden, wenn Ihr im kleineren oder im größeren Kreise erziehlich beglückend gewirkt habt. Ihr seid nur noch zu jung und unentwickelt, als

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daß wir Eure Erziehung vollenden könnten; aber ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo auch für die Mädchen gesorgt wird, die die Schule verlassen, damit die da mühsam gesponnenen Fäden nicht plötzlich ab­ reißen und eine Welt von Äußerlichkeit die noch zarten Keime des Ernstes zerdrücke. Denn Ernst gehört zum Leben, und er muß schon bei Euch beginnen, meine lieben, lieben Kinder, wenn man ihn auch nicht in dem Maße verlangt wie von einer späteren Zeit, und wenn es uns gelingt, diesen Ernst in Euch zu wecken und zu pflegen, so werdet Ihr selbst anklopfen, und Ihr wißt: „Wer suchet, der wird finden, wer anklopfet, dem wird aufgetan." Einen kleinen Anfang zu einer Ausbildungsschule für Erwachsene werden wir nun in Wolfenbüttel machen, vielleicht können wir später auch etwas für Braunschweig tun. Denn in Wolfenbüttel ist ja eigent­ lich unsere künftige Leimat, was sagt Ihr nun zu unserer Übersiedlung

nach dem Lechelner Lolze? Wer wird uns begleiten? Ich kann wohl sagen, ich freue mich recht auf das neue Leben, es wird unS dort leichter werden als in Watzum, so manches auSzufÜhren, wozu der Platz mangelte; und doch bleiben wir so nah bei den lieben Eltern. Welch ein Fest, wenn sie uns besuchen, und wir einmal Sonn­ abends alle nach Watzum fahren, „alles Gebackene und Gebratene" ver­ tilgen und das Feld hinter uns leer lassen, wie ein Leer Leuschrecken; ich denke mir das ganz reizend. Von Euch, kleine Seelens') weiß ich, daß Ihr mitgeht, da können wir mit Mama und Tante Pauline und den andern Kindern manche schöne Tour machen im Sommer und mit Fröbel singen: „Arm in Arm, ohne Larin, zieht der Kinderschwarm." Ich habe schon hier einige kleine Freunde und Freundinnen unter den Kindern, die immer etwas von Deutschland wissen wollen und von meinen Kindern dort. Da erzähle ich ihnen viele schöne Sachen, wie sie so artig sind, was meinst Du, Toni?") Sage ich auch die Wahrheit? Lind wenn dann die Kinder ruhig arbeiten, fragen sie mich: „Est ce que nous faisons comme voa enfants en Allemagne ?i: And ich ant­ worte: „Mais certainement.“ Der kleine Köckert ist noch immer mein Liebling; er hat neulich zu seiner Mutter gesagt: „Die Frau Breymann ist wieder krank, ich denke, sie hat böses Leibweh I" Es ist nämlich die einzige Krankheit, die er kennt. Neulich fragte er mich, was mein Vater tue, und ich sagte ihm, er sei *) Eine bekannte Familie in Braunschweig. **) Die jüngste Pensionärin im Pfarrhause.

Kapitel 13:

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„pasteur“. Er hat seiner Mutter erzählt: „DerVater von Frau Brey­

mann trägt die Briefe in ganz Deutschland herum!" Er hatte verstan­ den, „facteur“ sei mein Vater. Morgen wird er mich besuchen; er meint,

wo ich sei, sei Deutschland, so wird er wohl sehr erstaunt sein, mich hier zu finden, wo alles »st, wie er es kennt. Nun habe ich Euch aber so viel vorgeplaudert und erzählt, daß mein Brief sehr läng geworden ist, und im Schreiben wuchs die Sehn­

sucht, wieder bei Euch zu sein. Ja, so viel Liebe, Anerkennung und

Freundlichkeit mir auch wird, so zieht's mich doch zu Euch. Mir sind verschiedene Vorschläge gemacht, hier zu bleiben, aber ich möchte keine

annehmen; ich will in meinem Gärtnerhause am Lechelner Äolze eine wahre deutsche Kindergärtnerin sein, wenn ich auch in meinem Garten schon etwas größere Pflanzen ziehe.

Nun schreibt mir bald und erzählt mir, wie alles geht und behaltet mich lieb in Eurem Kerzen, wie ich Euch in dem meinen trage.

Dieser Brief ist seinem Inhalte nach mehr für Euch Großen, er ist auch für Marie Kellner*) und Pauline Ramdohr*) bestimmt. Man­

ches wird aber auch Euch Kleinen verständlich sein und Euch amüsieren.

27.April. DasSchreiben am Sonnabend hatte mich doch sehr an­

gegriffen, ich war am Sonntag kränker, konnte aber am Montag meinen „cours“ anfangen, indem ich ganz umhüllt hin- und zurückfuhr. Mons. Landsmann, der Doktor, der mich alle Tage besucht, war da, um sofort die Stunde zu schließen, wenn ich zu müde sei. Ich bin noch iminer in

Chütelaine auf der Campagne bei Schefflers und darf die ganze Woche nicht in den Kindergatten. Ich stehe gegen 11 Ahr auf und gehe in den herrlichen Park. Welche Feder aber beschriebe den Zauber der Natur! Die Zattheit

und Frische des Laubes, dieser balsamische Duft, dies Blühen der Bäume und.hinter all diesem schwellenden, fröhlichen Leben den stillen Ernst, die blaue Kette des Iura und seine Schneestreifen auf den Löhen

nach der einen, die kühnen Berge mit der Kette des Mont Blanc nach der andern Seite. Das liegt vor mir, wenn ich eine kleine Anhöhe er­ steige, wo eine blühende Lollunderlaube mich aufnimmt und hundett

und mehr Landhäuser, umgeben von der Blütenpracht, ziehen sich um

die Stadt und lassen alles als ein Paradies auf Erden erscheinen. Nun adieu und schreibt an

__________

Eure treue

*) Schon abgegangene Zöglinge.

Henriette.

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Henriette an ihre Pensionskinder. Neu-Wahnm Wolfenbüttel, 16. November 1864. Welch ein herrlicher, schöner Tag war der Sonntag I Wir waren alle in Watzum; Bruder Karl und ich gingen schon Sonnabend abend hinüber, um Quartier zu bestellen und am Sonntag morgen %10 Ahr, als die Diele, Mariens und meine frühere Stube und Mutters Wohn­ zimmer im Sonntagskleid« prangten und alles eine behagliche Wärme durchzog — ließ sich das Pferdegetrappel vernehmen und der Omnibus mit vier mutigen Rossen bespannt, hielt vor dem grünen Tore des jetzt so stillen PfarrhofeS. Es entwickelte sich eine ganze Schar Jungfrauen daraus, deren Anführerin Marie war. Vater und Mutter wurden fast erdrückt von Küssen und Umarmungen und „lieber Onkel", „gute Tante" war das Feldgeschrei. Nachdem die stürmische Freude sich gelegt, wurde es wunderbar still, denn alle schenkten dem Rosinensemmel und dem Kaffee die geneigteste Aufmerksamkeit. Nun ertönte das bekannte Kirchglöcklein, der Vater im Talar und Barett trat aus seiner Stube und alles rüstete sich zum Kirchgang; freundliches Lächeln und Nicken überall von den Leuten, neugieriges Gaffen der Jugend, forschende Blicke, zu erfahren, wer von den „Alten" noch da war, wer die „Neuen" seien. Besondere Aufmerksamkeit erregte Miß Purves mit ihren schönen schwarzen Locken, die glänzend unter dem kühnen Hütchen mit blauer Feder hervorquollen und unsere liebe Mademoiselle C.R., die gelehrte Dame, welche kein Auge für die äußeren Formen des Lebens hat; sie ist klein und sehr stark, hat ein schwarzes Bärtchen und eine etwas männ­ liche Physiognomie; sie war ohne Krinoline und hatte so die Form einer Birne, wenn man sie mit dem dünnen Ende auf den Tisch stellt. Dazu trug sie ein wunderliches Umhängsel und einen großen Pelz­ kragen, dessen Spitze wie eine Erpellocke in die Löhe stand, eine „Feuerkieke" in der einen, ein dickes Gesangbuch in der andern Land, zog sie dahin wie ein jüdischer Opferpriester hinter der Bundeslade, und die Dorffungens riefen leise: „Kiek, kiek, was ist datt vor ein 1" Aber Marie und ich fühlten die Qual, wenn die Lachmuskeln zu ungehöriger Zeit sich in Bewegung sehen und sich nicht zügeln lassen wollen; denn es

war zu komisch, als Mademoiselle C. R. so ausgerüstet, die Treppe hinaufftieg und schnurstracks auf die Kanzel wollte, die ihr durch Vorhänge verborgen war. Doch der volle Ton unserer schönen, neuen Orgel gab unsern Gedanken eine andere Richtung, und bald wurden sie von

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Kapitel 13:

der Erde mit ihrem Leid und ihrer Freude, mit ihrem Komischen und Trüben hinaufgeführt in das höhere Reich der Unendlichkeit, und eine Predigt, wie ich sie immer so gerne vom Vater hörte, eine Predigt, die so aus der Fülle eines liebenden Letzens kam, entzückte die Seele. Nach derselben sang Marie mit den jungen Mädchen einen dreistim­ migen Choral und dann, als das Gotteshaus hinter der Gemeinde sich schloß, lockte ein anderer Tempel unseres Vaters, die schöne, freie Natur zu einem Spaziergange. Auch da draußen war es Sonntag 1 Nach längerer Kälte wieder milde Luft und Sonnenschein. Der Gutsgarten war wie immer das Ziel unsererWanderung, undMarie und ich machten Frau Gutsbesitzer Schulz einen Besuch, die uns so freundlich mit den Worten entgegenkam: „Ihre Frau Mutter hat mir erlaubt, heute nachmittag zu kom­ men l" Die Zeit bis zum Essen wurde nach dem zweiten Frühstück mit Ballspiel für die deutschen jungen Mädchen, mit Lesen und Bilder­ besehen für die Engländerinnen ausgefüllt, dann schmeckte es allen vor­ trefflich und der Punsch erhöhte die Freuden der Tafel, manche Gesundheit ward getrunken und manch Gläschen unter Lachen und Scher­ zen geleert. Der Vater, munter und lebendig wie ein Jüngling, machte oft die Runde um den Tisch und hatte für jede ein freundliches Wort; die liebe Mutter mit ihrem mildlächelnden Antlitz saß da, für alle sorgend und mir meine Lieblingsstücke vom leckeren Lähnchen auf den Teller legend. Den letzten wollte sie nicht mehr anschneiden, er sollte für mein Privatvergnügen mit nach Neu-Watzum. Als wir so recht vergnügt am Tische saßen, öffnet sich die Tür und der Kutscher ruft hinein: „Na, soll ich noch nicht anspannen? Es ist gleich 4 Ahr." Eine allgemeine Entrüstung erhob sich, und es fehlte nicht viel, so wäre derRoffelenker die Treppe hinuntergeworfen, so empört waren die jungen Geister über dieses Ansinnen. „Am zehn, um zehn!" erscholl es kvie aus einem Munde. Nach aufgehobener Tafel kam ein gemütliches Dämmerplauderstünd­ chen in den verschiedenen Zimmern und Gruppen, dann Musik und Gesang, dann Mokierstuhl, wobei Alfted Rauterberg tüchtig mitgenom­ men wurde, — dann Tee und zuletzt Stippmilch und Eingemachtes und dann, und dann das Traurige in der Freude: Der Abschied! Es kam mir vor wie eine Komödie, daß wir nach Wolfenbüttel, nach Neu-

Watzum fahren sollten; ich dachte zuweilen, ich habe nut geträumt, und es sei alles noch wie früher, und ich fragte mich: „Warum seid ihr fort­ gezogen?" Ja, wenn sich so das Glück eines früheren Verhältnisses in

Tagebuch- und Briefauszüge 1854—64.

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einem Momente konzentriert, dann weichen die Schattenseiten wie ver­

triebene Gespenster zurück, und man begreift nicht, daß sie jemals da­ gewesen.

Lind doch mußten wir fortziehen von Watzum, denn Karl sehnte sich nach einer bestimmten Tätigkeit und wenn wir zusammenbleiben und wirken wollten, wie eS lange unser Wunsch war, so dursten wir

nicht mehr zögern, denn wenn Karl jetzt eine feste Stellung bekam, wie er im Auslande hätte finden können, so dursten wir später nicht auf ihn in der deutschen Keimst rechnen, und wenn wir auch ihm hätten nach­

ziehen wollen, wie traurig für uns und die Eltern I Wir haben es viel hin und her überlegt, ob wir in Watzum bauen sollten, denn in unserm

Pfarrhaus« war nicht Platz für alle Geschwister oder vielmehr für den

Spielraum unserer Tätigkeit, den wir bedurften — aber das Resultat war doch, daß wir Watzum fallen ließen aus verschiedenen Gründen, und wir glauben, daß unsere Wahl hier eine glückliche gewesen. Wir leben hier ganz ländlich, die Lage und Größe unseres Gartens gibt den

Mädchen so viel Gelegenheit zu freier, ungestörter Bewegung, und die Nähe des Kolzes schützt vor Ostwind und gibt uns die gesundeste Lust und doch ist die Stadt nur 20 Minuten entfernt; es können von dort

Mädchen, die sich zu Lehrerinnen und Kinderpflegerinnen ausbilden wollen, kommen und somit- liegt die Möglichkeit vor, meinen Lieblingswünsch zu bestiedigen, mit der Zeit eine Fortbildungsklasse für Er­ wachsene einzurichten. Wir sind schon öfter um Aufnahme von Tages­

schülerinnen gebeten, aber wir haben es abgesagt, d. h. solche zu nehmen, die noch eigentliche Schulkinder sind. Karl und ich ergänzen uns so sehr, daß es ein großes Glück für uns ist, beieinanderbleiben zu können. Ich fürchte mich sehr, wenn Albertine uns verläßt, sie ist das ordnende und geistige Element im Häuslichen; denn wahrlich, es ist nicht einerlei, wie

eine Sache getan wird und, daß sie überhaupt geschieht, ist noch nicht

das Ziel der Ausbildung im Häuslichen bei der Frau; es muß in jedem Augenblicke Geistiges und Sorge für das Materielle sich im innigsten

Verein durchdringen. Ich bin Amsinck so unendlich dankbar, daß er uns Albertine diesen Winter noch läßt. Karl wird sich nun nächsten Kerbst oder später verheiraten, es hängt das von vielen Umständen, besonders

von Baulichkeiten ab; seine Braut, unser liebes Luischen Mirow, ist augenblicklich in England, ich wünsche aber dringend, daß sie Albertinen

bald ersetzt, wenn diese uns verläßt. Kedwig wird Ostern hierher kom­

men, sie lernt noch tüchtig den Kaushalt in Watzum; leider ist sie in

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Kapitel 13.

letzter Zeit leidend gewesen, wir fürchten, sie hat sich zu sehr angestrengt

in der Schweiz; sie hatte sich ein Ziel gesetzt, das sie noch im Malen

erreichen wollte, und da ich meine Abreise von Genf beschleunigen mußte, so arbeitete sie etwas unvernünftig, „blinder Eifer schadet nur". Sie hat wirklich einige sehr hübsche Landschaften in Öl nach der Natur

geliefert, aber sie hat, wie gesagt, ihrenFleiß übertrieben, hoffentlich geht ihr Leiden ohne ernste Folgen vorüber. Obgleich eS der Mutter unendlich schwer wird, sich von uns zu trennen, so war sie doch der Grund, weshalb wir uns mit unserm Umzüge beeilten; es liegt nun

einmal nicht in ihrerNatur, andere für sie arbeiten zu lassen, und der große Laushalt wurde ihr zuviel

Kapitel 14.

Übersiedlung nach Wolfenbüttel und das Leben in Neu-Watzum. Plan, auf einem größeren Gute mit Schwager, Schwägerin und ^-^Geschwistern vereint das Erziehungswerk im weiteren Umfange zu unternehmen, erwies sich zur Zeit als unmöglich, aber Lenriette hatte kaum ihre Arbeit in Genf begonnen, als sie sich rasch für oder gegen den Ankauf eines zehn Morgen großen Grundstückes erklären mußte. Dieses Grundstück lag unter Marktgärten vor der Stadt Wolfen­ büttel und von Braunschweig leicht erreichbar; es war im Norden und im Osten durch Lochwald geschützt. Die nächsten Nachbarn waren lauter Gärtnerfamilien, welche durch intensive Kultur ihres eigenen Bodens ihr Leben bestritten. Durch den Opfermut der Eltern Breymann wurde der Kauf des Grundstücks im April 1864 vollzogen, und die beteiligten Geschwister einigten sich, um tapfer neue Schulden auf sich zu nehmen, indem sie ein auf dem Grundstück befindliches Gärtnerwirtshaus für ihre Zwecke umbauen ließen. Durch das freundschaftliche Interesse eines Familienfreundes, welcher die Bauausführungen beaufsichtigte, konnte man gleich die Arbeiten am Laufe in Angriff nehmen; man hoffte bis zum 1. Oktober d. I. die Erziehungsanstalt in ihrem neuen Leim zu sehen; durch einen Landwerkerstreik trat eine kleine Verzögerung ein, und die Pension siedelte in der Tat erst Mitte Oktober über in das neue LauS. Den ganzen Sommer hindurch gab es viel zu tun; die Geschwister Anna, Karl, Marie und Albertine waren mit der Leitung und dem Unterrichte der jungen Mädchen im Pfarrhause beschäftigt und machten abwechselnd in freien Stunden Ausflüge nach Wolfenbüttel, um mit dem Familien­ freunde, Lerrn Lollmann, die Pläne für die baulichen Veränderungen zu bestimmen, die inneren Einrichtungen an Ort und Stelle zu überlegen. Sie ersehnten LenriettensRückkehr, sie glaubten, ihren raschen Überblick und ihre Tatkraft in diesem Augenblicke schwerlich entbehren zu können. So kehrte Lenriette Ende Juli mit der jüngsten Schwester Ledwig, LyschinSta, Henriette Schrader I.

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Kapitel 14:

welche zu ihrer Ausbildung mehr als zwei Jahre in der Schweiz ge­

weilt, in die Leimat zurück. Lenriette ergriff ihre neue Aufgabe mit gewohnter freudiger Tat­ kraft, war doch für sie die lange Wartezeit vorbei. Sehr bald siedelte sie in das noch unfertige Laus über, zuerst ganz allein; später gesellte sich Anna zu ihr. Die Schwestern ließen zwei Räume notdürftig in dem großen Lause herstellen; dort besorgten sie den eigenen Laushalt, denn für ein Dienstmädchen war kein Platz. Lenriette besprach unter Schutt und Staub Farben und Muster der Tapeten und Decken mit den Landwerkern, empfing Besuche von Freunden und Eltern der Zöglinge; es war eine emsig geschäftige, hoffnungsfrohe Zeit. Eine Freundin, damals erwachsene Schülerin von Lenriette, gibt uns ein Augenblicksbild von ihr in dieser Übergangszeit in Neu-Wahum, sie erzählt: „Bei mei­

nem ersten Besuch bei ihr fand ich sie mit einer großen Schüssel Bohnen schnitzelnd zum Einmachen. Auf der Fensterbank lag neben ihr Fröbels „Menschenerziehung", und sie las mir einige Sähe daraus vor, an die sie eine längere Unterhaltung anknüpfte." Mit gleicher Liebe umfaßte Lenriette damals schon das Kleine und das Große, das Alltägliche und das Erhabene als notwendig zusammenhängende Seiten eines vollen, reichen Menschenlebens. Wohl konnte sie ihrem Vater von Neu-Watzum aus versichern, sie „fange klein an" und „arbeite von unten herauf". Dabei fühlte sie sich glücklich, über das Läusliche disponieren zu können. Selbst ihr Geburtstag wurde in dem unfertigen Lause mit allerlei Arbeit zugebracht; nur die Mutter und der Bruder Karl besuchten sie und brachten viele, viele Briefe mit und eine Flasche üngarwein von dem Vater, damit sie sich stärke, außerdem noch die Aussicht auf ein halbes Schwein für den neuen Laushalt 1 Unter Planen, Schaffen und Wirken wurde an dem Lause daS Notwendigste fertig, als die Pension am 15. Oktober 1864 in das Laus Neu-Watzum einzog. Auf dem Breymannschen Besitztum standen noch Lauben, in welchen der frühere Besitzer, ein Gastwirt, seine Kunden zu bewirten pflegte; unter den veränderten Verhältnissen wurde in dem ersten Sommer öfter eine ftanzösische oder englische Konversationsstunde in der Laube durch die Stimme eines durstigen Fuhrmanns unter­ brochen, der seinen Schoppen Bier in der Laube ebenfalls zu genießen gedachte; gegenseitiges Erstaunen löste sich bei der Jugend bald in ein schallendes Gelächter auf, während der unerwartete Besuch schleunigst den Rückzug antrat.

Übersiedlung nach Wolfenbüttel und das Leben in Neu-Watzum. 243

Durch folgende Anzeige in mehreren Zeitungen wurde die Verlegung der Anstall bekannlgemacht:

„Das seit zehn' Jahren bestehende Mädcheninstitut zu Watzum, Lerzogtum Braunschweig, wird Michaelis 1864 in die Nähe von Wolfenbüttel verlegt und damit zugleich ein Kindergarten und eine Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen verbun­ den. Nähere Auskunft über die Anstalt erteilen: Minister Schulz in Braunschweig, Abt Kille-Wolfenbüttel, Reg.-Rat Äagemann-Äannover, Konsistorialrat Lirsche-Lamburg, Pastor Sydow-Berlin, Schulrat Loffmann-Berlin, Dr. jur. Schnell-Leipzig, pasteur Ferridre-Geneve usw." Die Breymannsch« Erziehungsanstalt gliederte sich in drei Abteihingen außer dem Kindergarten und einer Elementarklaffe: Die zweite Abteilung umfaßte Mädchen im Alter von 12 bis 14 Jahren. Die erste Abteilung im Alter von 14 bis 16 oder 17 Jahren. An diese beiden Stufen schloß sich die Fortbildungsklasse für erwachsene Mädchen, die sich im allgemeinen oder besonderen auf ihren Beruf als Erzieherinnen, Lehrerinnen resp. Kindergärtnerinnen vorbereiten wollten.

Gelehrt wurden alle Fächer, die zur Ausbildung von Töchtern der gebildeten Stände erforderlich waren. In der Fortbildungsklaffe wurde gelehrt: Lehre von dem Körper- und Geistesleben des Menschen. Gesundheitspflege.

Geschichte der Pädagogik. Allgemeine Pädagogik mit besonderer Riicksicht auf die Fröbelsche Erziehungslehre.

Privatstunden wurden den verschiedenen Schülerinnen aufWunsch erteilt in Musik und Kompositionslehre, im Singen, Zeichnen, Malen, Italienisch und in verschiedenen Landarbeiten, auch im Pappen.

Der Lehrplan war so geordnet, daß die Schülerinnen der ersten Abteilung in einigen Fächern am Unterrichte der zweiten Abteilung teilnehmen konnten, wenn die nötige Reife nicht vorhanden war. Ebenso traten die Schülerinnen der Fortbildungsklasse in die erste Abteilung der Pension, wenn in der eigentlichen Schulbildung noch Lücken auszustillen waren. Der Kindergarten und die Elementarklaffe waren das eigentliche Übungsfeld der angehenden Lehrerinnen und Erzieherinnen oder fiir

solche, die als Kinderpflegerinnen tätig sein wollten. Mit den Lehr16»

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Kapitel 16:

stunden wechselten häusliche Beschäftigungen, Gartenarbeit, Spazier­ gänge, Spiel- und Turnübungen, auch wurden verschiedene Abende der Geselligkeit gewidmet. DaS ganze Zusammenleben von Schülerinnen, Vorsteher und Vorsteherinnen sollte einer erweiterten Familie gleichen, und der Kreis der Zöglinge sollte kein so großer werden, daß nicht jede Individualität volle Beachtung fände. Als der Kreis sich dennoch wider Erwarten sehr ver­ größerte, wurden die Schülerinnen in mehrere kleine Kreise unter jedes­ maliger besonderer Leitung eingeteilt. Leitende Persönlichkeiten der Anstalt zu der Zeit waren: Karl Breymann, dessen Frau Luise Breymann geb. Mirow und dessen Schwestern: Lenriette, Anna und Marie Breymann. Außerdem er­ teilten noch Unterricht: Eine Engländerin, eine Französin sowie verschiedene tüchtige Lehrer Wolfenbüttels und Braunschweigs. AuS dem obigen Plan ersieht man den Umfang der Anstalt, inner­ halb welcher zwei überall noch fehlende Glieder in dem weiblichen Bildungswesen ausgenommen wurden und nun weiter ausgebildet werde» sollten, nämlich der Anfang im Kindergarten und der Schlußstein in der FortbildungSklaffe. Im Keime waren beide schon im Pfarrhaus« vorhanden, und nun hoffte Lenriette endlich freien Spielraum zu ge­ winnen und Fröbelsche Grundsätze mit Lilfe tüchtiger, strebsamer Lehrfräste als Grundlage der weiblichen Erziehung machen zu können. Durch des Vaters Beziehungen und der Töchter erziehlichen Ruf war das Unternehmen der Familie Breymann bei dem Konsistorium (der obersten Behörde für Kirche und Schule) sehr gut angesehen und wurde äußerlich gefördert, obgleich das Institut keine Pflanzstätte einer starren, kirchlichen Partei war. Die hohe Geistlichkeit jenes glücklichen Landes war ebenso der Muckerei wie der religiösen Schwärmerei ab­ geneigt und huldigte einer milden Duldsamkeit, welche mit seinen Mitmenschen in Frieden leben wollte; ebenso war der Geist der Verwaltung im braunschweigischen Lande damals durchaus tolerant. Eine Privaterziehungsanstalt trug damals ihre Existenzberechti­ gung in sich selbst und konnte auch ohne staatliche Beglaubigung gute Früchte tragen. An eine staatliche Abstempelung der Lehrerin hatte man noch nicht in diesem Lande gedacht, als LenrietteBreymann durch ihrBeispiel und durch ihre schriftstellerische Tätigkeit daraufhingewiesen hatte. Sie selbst hatte durch den mühsamen Weg der Empirie sich eine Fachbildung erworben und die Mißgriffe, daS Tasten nach dem Rechten

Übersiedlung nach Wolfenbüttel und daS Leben in Neu-Wahum. 245

in der Erziehung wollte sie jüngeren Kräften ersparen, wenigstens die Lernzeit verkürzen. Wolfenbüttel war damals vorwiegend eine Beamtenstadt und in dem Übermaß an Bildung lag fast eine Gefahr; denn für dieses erhöht«

Können gab es keine entsprechenden öffentlichen Aufgaben; namentlich bei den Frauen wohlhabender Familien muß es ttostlos ausgesehen haben, wenn sie nicht durch Mann, LauS und Kinder ausreichend« Beschäfttgung fanden; die herrlichsten Gaben lagen brach oder verkümmerten durch die Enge des Spielraumes ihrer Betätigung. Während des ersten Jahres ihres Wolfenbüttler Aufenthaltes streifte Lenriette lieber mit der Jugend durch Feld und Wald, lehrte und ordnete in ihrem eigenen Laufe, als daß sie neue Bekanntschaften in der Stadt machte; oft flüchtet« sie nach dem alten Pfarrhaus«, um sich von der Mutter pflegen zu lassen, während die jüngeren Geschwister die Pflichten der Geselligkeit auf sich nahmen. Aus ihrem Widerwillen zog sie den Schluß, sie habe überhaupt kein Talent zur Geselligkeit, ihr fehle die Leichtbeweglichkeit des Geistes sowie die Kleinmünze der Konversation. Es scheint bei ihr eine Übermüdung eingetreten zu sein nach den Anstrengungen der Übersiedlung, und so verlief derWinter 1864/65, der Arbeit sowie den fteudigen wie ttaurigen Ereignissen deS häuslichen Kreises gewidmet. Zunächst war es ein fteudiges Fest, die Einweihung des Laufes „Neu-Wahum" am 10. Januar 1865, welches die ganze Familie Breymann sowie den Verwandten- und Freundeskreis in den neuen Räumen vereinte. Wie heiter und innig Lenriette die „Weihe" für sich in Anspruch nahm, hat sie in einem „Pensionsbriefe", welcher an die abwesenden Schülerinnen gerichtet war, auf das anschaulichste dargestellt. Rasch nacheinander folgten während des Sommers 1865 die Loch­ zeit des Bruders und die der Schwester Albertine; die neue Schwester zog in Neu-Wahum ein, die andere schied aus, um dem Gatten, P. W. Amsinck nach Ostpreußen zu folgen. An allen diesen Familienereigniffen nahmen die Schülerinnen durch festlich schöne Veranstaltungen fteudi­ gen Anteil. Kaum hatten die langen Sommerferien begonnen, da nahte der Todesengel und gab dem neuen Lause eine neue, tiefernste Weihe. Ein blühendes junges Leben wurde dahingerafft und Lenriette und Anna hatten die traurig« Genugtuung, im Verein mit den Eltern der lieben jungen Schülerin die letzten Liebesdienste erweisen zu können. Der Tod dieses jungen Mädchens, das Wiedersehen der einziehenden

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Kapitel 14;

Jugend nach den Ferien erschütterten Lenriette im Innersten. Aber auch die Trauer wirkt veredelnd, wenn sie gemeinsam getragen wird. Noch lange nachher herrschte ein friedfertiger Ton unter den jungen Mädchen, und in derDämmerstunde erinnerte man sich oft derWesenseigentümlichkeiten, der liebenswürdigen Eigenschaften der entschlafenen Pensionsgefährtin, und man schrieb ihr letztes Gedicht (es war eine Aufgäbe für die Metrikstunde) ins Album. Wie sehr der wissenschaftliche Unterricht dnrch daS Eintreten des ältesten Bruders mit seiner junge« Frau gehoben wurde, machte sich geltend; ebenso wurde die künstlerische Ausbildung der Jugend durch Hinzuziehung namhafter Kräfte auS den nahen Städten sehr erleichtert. Auf diese Seite der Erziehung legten die Mitglieder der Breymannschen Familie, wie wir wissen, großen Wert, insoweit sie das innere Auge öffnete für die Schönheit der Welt, für die Larmonie der Töne und Farben und die Glieder geschickt machte, das alltägliche Leben fteudig zu verklären. Jedes Pensionsfest wurde unter Beteiligung der Jugend vorbereitet, im Laus und Garten wurde emsig dafür gearbeitet, die Auf­ führung eines Reigens, das Stellen lebender Bilder, die Aufführung eines Theaterstücks in der eigenen und in fremder Sprache mnßten so weit geübt werden, daß für die Ausübenden ein wirklicher Gewinn hervorging, für den Zuschauer ein wohltuender Eindruck zurückblieb. Der Sonntagnachmittag gestaltete sich mit der Zeit zu einem Empfangstage, an welchem oft zahlreiche Besuche von nah und fern sich einfanden, im Sommer im Garten auf und ab wandelten oder in der Lindenlaube zu einer Tasse Tee oder Kaffee sich einfanden. 3m Winter wurden die Flügeltüren des Mittelzimmers geöffnet und ge­ währten den ftemden Leeren und Damen einen heiteren Anblick der sonntäglich geputzten Jugend in den Lehrzimmern, welche, wohnstuben­ mäßig arrangiert, sich an den Salon anschlossen und die Flucht der Empfangsräume sehr vergrößerten. Bei solchen Gelegenheiten mußten die jungen Mädchen, deren „Amt" es war, auch für die Bewirtung und Unterhaltung der Gäste mit sorgen und übten sich in geselligen Formen der Löslichkeit. Ja, einmal tat Lenriette einen Schritt, der manchen ängstlichen Angehörigen gewagt erschien. An zwei Nachmittagen verwandelte sie die ganze Mädchenpension in einen offenen „Jahrmarkt", zu welchem das große, gemischte Publikum Braunschweigs undWolfenbüttels gegen Eintrittsgeld Zugang hatte; das Experiment ist harmlos verlaufen. Die

Übersiedlung nach Wolfenbüttel und das Leben in Neu-Watzum. 247 Veranlassung dazu war ein schweres öffentliches Unglück, eine weit­ verbreitete Hungersnot in Ostpreußen, worüber Breymanns durch ihre Familienbeziehungen die zuverlässigsten Nachrichten bekamen. Das Elend war groß, und eS entstand der brennende Wunsch, die große Not durch eine namhafte Summe zu lindern. Damals waren wohl Bazare zu wohltätigen Zwecken seltener, denn die Einwohner Braunschweigs und Wolfenbüttels erschienen in gedrängten Scharen und ließen eine nennenswerte Summe zurück. Mit Jubel zählten die Kassie­ rerinnen alles zusammen und Übergaben Breymanns das Geld zur Beförderung nachRastenburg in Ostpreußen, wo ein Hilfskomitee sich gebildet hatte. Im Laufe einiger Wochen lauschte die versammelte Pen­ sion mit stiller Freude einer vorgelesenen Danksagung, worin auch Ein­ zelheiten über die Verwendung der gesandten Summe mitgeteilt wur­ den. Hunderte von Länden waren beschäftigt gewesen, um das erfreuliche Resultat zu erzielen, die Jugend hatte ihren geistigen Horizont erweitert, ihr Herz war angeregt durch das tätige Mitleid für andere; nur die Sittenpolizei war müßig geblieben, obgleich das Laus dem zahlenden Publikum geöffnet war, und Scharen von Damen und Her­ ren, Offizieren und Gymnasiasten durch die Räume gezogen waren. Anter fünfzig jungen Mädchen aus verschiedenen Familien gab es auch schlecht erzogene, gewiß auch niedrig gesinnte Elemente; diese wurden zurückgedrängt, indem Henriette in ihren ältesten Schülerinnen der Erzieherinnenklaffe einen Stamm bildete, welcher einen höheren Ton ver­ breitete; durch Breymanns Beispiel und Unterricht bekam die weibliche Jugend eine Ahnung von der Würde des weiblichen Geschlechts und ihrer großen Macht zur Hebung der Geselligkeit. Dabei war Henriette nicht kleinlich in der Beurteilung einer jugendlichen Unbedachtsamkeit. Nach dem Bazar hieß es, es mache ein Offizier seinen Paraderitt vor den Fenstern einer der Pensionärinnen; dieses Ereignis benutzte Hen­ riette eines Tages als humoristisches Tischgespräch, worauf ein schallen­ des Gelächter ausbrach, und der kühne Reiter verlor die Lust, als Ziel­ scheibe einer lachenden Schar junger Mädchen zu dienen. Durch die Geburt des ersten Kindes in Neu-Watzum in der Fa­ milie des Bruders Karl war die ganze Familie in freudige Mitleiden­ schaft gezogen; zu der Freude gesellte sich die ernste Sorge um die Mut­ ter des Kindes, und so wurde eine lang geplante Reise Henriettens nach Schottland und England uni einige Wochen verzögert. Von dieser Reise kehrte Henriette mit weit größerem Bewußtsein

248

Kapitel 14.

ihres Deutschtums in die Setmat zurück. Sollte es nicht gerade ein« Folge ihrer stark entwickelten deutschen Weiblichkeit sein, daß sie sich so leicht in das Wesen einer anderen Nationalität hineinversehen konnte? Sie hatte jedenfalls ein außergewöhnliches Talent, ihren britischen Zög­ lingen den Aufenthalt in Deutschland gewinnbringend zu gestalten. Selbstverständlich verfiel sie nicht in einen Fehler, welcher damals in deutscher Geselligkeit viel verbreitet war, sie ahmte das Fremdländische in Sitten und Gebräuchen nicht nach, sie bewunderte das Ausländische nicht, weil es fremdländisch war. Nichts lag Henrietten ferner als das. Jede Pensionärin britischer Nation z. B. wußte sofort, daß sie sich in den Rahmen feineren deutsch-bürgerlichen Lebens einzufügen hatte (mit Ausnahme der Sonntagsfeier), wenn sie in Neu-Watzum bleiben wollte. So mußte sie heroisch Roggenbrot essen und Milchkaffee ohne Zucker ttinken; sie mußte manche häusliche Arbeit, welche nach ihren bisherigen Anschauungen nur Dienstboten zukäme, verrichten, und ihr britischer Stolz fühlte sich verletzt, wenn sie den Besen in die Land nehmen sollte. Aber Henriette war in diesen Dingen unerbittlich, und wie oft geschah es, daß gerade die, welche sich vielleicht ernstlich überlegt hatten, ob sie nicht lieber abreisen sollten als sich Henriettens Anordnungen zu fügen, nachher die eifrigsten wurden bei häuslichen Beschäftigungen. Kaum war die Anstalt zwei Jahre in Wolfenbüttel, als ein neuer Anbau geplant werden mußte, welcher auch im Jahre 1868 fertiggestellt wurde. Obgleich das ein erfteuliches Zeichen war für das wachsende Zutrauen der Eltern zu der Erziehungsanstalt und Henriettens Hoffnun­ gen nach mancher Seite hin in Erfiillung zu gehen schienen, rückten doch einige Jahre schwerer Prüfung für sie heran. Im November 1866 starb der Vater und damit löste sich das schöne Band mit dem traulichen Pfarrhause in Watzum. Die Mutter übersiedelte mit der jüngsten Toch­ ter nach Wolfenbüttel, wo in der Nähe des Instituts ein Haus für sie bereitstand. Mariens Tod erfolgte im Jahre 1867 und Hedwig starb nach langem Leiden im Jahre 1869. Mögen jetzt einige Briefe folgen, welche die heitere, friedliche Zeit ihres Wirkens in Neu-Watzum schildern.

Kapitel 15.

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868. Kenriette Breymann an Frau M. Köckert, Genf.

Neu-Watzum (September?) 1864.

............. Wir mußten endlich selbständig werden; aber, da wir nun um zwei Dinge kämpfen müssen, ums tägliche Brot und um Vorurteilen entgegenzutreten und die Frau innerlich frei zu machen, so wird die Arbeit eine doppelte .... Ich fange mit Gott an, ich will mich für meine Person beschränken, ich will auch vorsichtig in bezug auf Form und Schein sein; aber die eigentliche Idee, welche mich belebt, soll mir die Welt nicht verkrüppeln. Ich will lieber arm sein, als ein Stück von ihr verschachern. Meine ganze Sorge ist jetzt, unser Laus so zu organisieren, daß, im Fall wir nicht Glück haben, der Verkauf alles bezahlt, damit wir niemand betrügen. Sie können sich denken, daß cs eine schwere.Arbeit für mich ist, so das Materielle zu bedenken, aber Gott wird mir helfen. Unser Programm ist dem einen zu hoch, dem andern nicht spezifisch dogmatisch genug; dem dritten fehlt daS Pfarrhaus, dem vierten die alten, erfahrenen Eltern; man tadelt uns, daß wir sie verlassen — und, wenn der Vater heute stürbe, so würden dieselben Leute unS töricht schelten, daß wir nicht eher an eine festere Stellung gedacht. Es gehört viel Kraft dazu, ohne größere materielle Mittel geistig selbständig ins Leben zu treten. Man beleidigt die Leute, wenn man andere Ideen hat als die, in denen sie aufgewachsen sind. Doch genug davon; ich habe manche Sorgen, aber ich will sie mit Mut tragen Lenriette an ihre früheren Pensionskinder.

Neu-Watzum, 20.November 1864.

Welch ein stiller, behaglicher Sonntag I Karl und Marie machen Besuche, ich kann mich noch gar nicht entschließen, aus meiner Klause

Kapitel 15:

250

in die Welt zu treten. Albertine ist nach Watzum, die Mutter zu holen, welche Montag mittag kommen wird; mir geht es wie einem kleinen Kinde, ich habe gezählt, wie ost mal ich noch schlafen niuß, bis die Mutter

kommt; in meinem Schlafzimmer steht ein Bett für sie. In den Stuben hintereinander brennt jetzt ein behagliches Feuer, die Türen stehen offen, Lieschen Sch., die nicht wohl war, liegt auf dem Sofa im Mittelzimmer, ich schreibe an meinem hübschen Pulte; im großen Lehrzimmer sitzen die Mädchen und plaudern.

Wir hatten eine so schöne Predigt von Karl heute morgen, denn wir gehen des weiten Weges halber nur zuweilen zur Stadt, zur Kirche.

Karl hält Gottesdienst, ein Larmonium ersetzt die Orgel. Das Thema

von Karls Predigt war: „Ein Tag aus Jesu Leben." Nach der Andacht wurde im schönsten Sonnenschein ein zweistündiger Spaziergang

gemacht in die liebliche Umgebung unseres Laufes, dann zu Mittag

gegessen und nun naht die Dämmerstunde; wir sind recht, recht glücklich, möge Gott unS unser Glück erhalten und entwickeln.

Am 22. Gestern ist die liebe, liebe Mutter gekommen, nun fehlt mir nichts mehr zu meinem Glück. Sie traf es gerade sehr unruhig, denn die jungen Mädchen waren mit ihrer Toilette beschäftigt, da sie in ein

Konzert gingen, welches der Gustav-Adolf-Verein gab; Anna Vorwerk und ein Lerr Lohnstock spielten, Pauline Schütte sang und der

Gesangverein trug etwas vor. Warum ich gegen das Einführen junger Mädchen in die Welt vor

dem 17. und 18. Jahre bin? Einmal steht das große gesellige Leben im allgemeinen auf einer niedrigen Stufe, es sind nur eitle oder sinnliche

Freuden dort zu haben, und ein junges Mädchen verliert nichts, wenn

sie dasselbe nicht so früh kennenlernt, und zweitens hat sie ihre Zeit

so nötig, um so recht fest zu wurzeln in den reinen Freuden des Lebens, die das Laus bietet, um körperlich und geistig zu lernen, sich zu bilden wie eine Blume im stillen Wald; so ein einfaches, ernstes, gesundes Leben hat auch seine Freudentage, aber eS hat nicht diese zerstreuende, zerstückende Lust; es bildet die wahre Weiblichkeit in Unschuld und Na­ turfrische heran, und wenn das junge Mädchen dann in die Welt tritt,

(denn sie soll und muß auch sie kenn^nlernen), dann hat es einen Punkt in sich gefunden und läßt sich nicht so leicht von dem Geschwätz berücken, von äußerem Flitter blenden, und es wird mit sicherem, inneren Takt

die reinen Blumen unter dem Unkraut finden und mit harmloser Fröh-

lichkeit pflücken. Wenn es die Männer auch sind, die die Wissenschaft

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

251

machen, so soll sie die Frau verstehen, und wie ganz anders wird das

gesellige Leben werden, wenn der Mann es erst für der Mühe wert hält,

der Frau sein Bestes anzubieten. Natürlich kann man nicht im heiligen Ernste reden, es hat auch der Scherz, die leichte Unterhaltung, der An­ sinn sein Recht; aber wie ganz anders würd« auch diese Seite des Lebens

erscheinen, wenn Kinder ernst arbeiteten und lernten, ehe sie sich produzierten? Welch ein feiner Geist würde auch durch die leichte AnterHaltung ziehen und welcher schöne, sittliche Kalt würde durch die feinste

Bewegung schimmern, wenn der Mann in dem Mädchen nicht mehr

ein Wesen sieht, das nur durch ihn eine Stellung in der Welt erlangt, durch ihn eigentlich ein Mensch wird. Es ist in meinen Augen eine An­ sittlichkeit, wenn man als einzig wahres Ziel für die Frau die Ehe auf­ stellt; sie ist einziger Lebenszweck sowenig für die Frau wie für den

Mann. Ihr Lebensziel ist die Entfaltung der von Gott verliehenen Kräfte durch ernste Arbeit; aber die wahre Ehe ist der schönste Durch-

gangspunkt zu diesem Ziele, und es empfindet mein Äerz die süßeste Freude, wenn es erfährt, daß die eine oder die andere von Euch des

Glückes teilhaftig wird, diesen einzig schönen Durchgangspunkt zu neuer Entfaltung zu finden. Aber das Glück wird entweiht, wenn es unruhig

verlangt wird, es soll still kommen und sich finden wie ein Geschenk des Kimmels. Gewiß genießt der Mensch nur in der Ehe so den ganzen Zauber nienschlichen Glücks, d. h. in einer Ehe, die zum Ziel hat die

Wiedergeburt der Faniilie in wahrhaft christlichem Geiste, aber ohne dieses Glück kann man auch zufrieden sein; ja, mehr als das, man kann

Frieden haben, mir muß man arbeiten, muß eine Stelle auSfüllen im Leben, die eine Lücke zeigt, wenn wir scheiden. Auch das Glück der Liebe, wenn eS wahr sein soll, geht durch einen ernsten Läuterungs­

prozeß. Wohl sind die Ansprüche deS Lerzens und des Geistes ver­

schieden, und es kann eine nie ganz in der Seele der andern urteilen; ich für mein Teil ziehe ein Leben, wie ich es führe, der Keirat vor, da

es mir nicht einen Mann gegeben, der mich fördert in meinen Be­ strebungen, an der Bildung des weiblichen Geschlechts zu arbeiten. Jeder muß sich in dem Kreise bewegen, den Gott uns durch unsere

Geistesdisposition angewiesen hat. Ich gestehe es ganz offen, daß es

Stunden gab, in denen ich zweifelte, ob ich recht getan, mich nicht zu verheiraten, da ich es wohl in meiner Kand hatte; aber ich danke so von Kerzen Gott, daß eS so kam und nicht anders; denn, wie meine Natur ist, so wäre ich unglücklich geworden, wenn die Eh« mich ge-

252

Kapitel 15:

hindert hätte, einer erzieherischenWirksamkeit mich zu widmen, und nur

dann hätte ich vielleicht ein noch höheres Glück genossen als jetzt, wenn ich einen Mann gefunden, der mich gefördert in der Realisation meiner Ideen. Das ist nun eben meineNatur; andere sind anders und müssen

anders sein, niemand soll sich in die Individualität des andern hinein­ zwängen, aber jeder suche das, was er von Gott gemacht ist, ganz zu werden. So wie man aus einem Veilchen keine Rosen ziehen, aber jedes

in seiner Weise entwickeln soll. Es gibt einen schönen Ausspruch von

Schiller: „Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem höch­ sten l Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich." Was macht

den Zauber der Natur aus? Die wunderbare Vereinigung der Kon­

traste, so sollen wir im Menschenleben Vergißmeinnicht und Lilie fried­ lich nebeneinander blühen lassen und nicht streiten über den Vorzug der einen über den andern; es verdränge niemand den Nächsten, sondern

erkenne sein Wesen in sich, was immer Berechtigung hat, in welcher

Form es erscheine, sobald es nicht gegen Gottes Gesetz verstößt. Z.Dezember. Mein Brief reist um einige Tage später ab, wir haben angefangen, Visiten zu machen, und das nimmt alle meine freie Zeit.

Es ist das erstemal, daß ich solche Besuche mache in meinem Leben

und eine große Qual für mich, wie alles, was nur eine Form ist. Man

spricht die Phrasen schließlich so mechanisch hin, jeder sagt und jeder fragt dasselbe, und doch sind diese Formalitäten notwendig, ich selbst liebe die gesellige Form, denn die feine Sitte schützt unS vor grober

Berührung, in dieser Beziehung bin ich ganz aristokratisch gesinnt und finde, daß wir viel von den Aristokraten lernen können. So sehr ich einen geselligen trouble hasse, ebensosehr sehe ich ein, daß man sich nicht

ganz von der Welt abschließen soll, man wird sonst einseitig und verliert

den Maßstab für das eigene Wesen, die eigenen Ideen, und ich hoffe auch, daß aus der Menge der Bekanntschaften, die wir jetzt machen, «in engerer Kreis von Freunden sich biwet, wenigstens von solchen Men­ schen, mit bene» man einmal Gedanken um Gedanken tauschen, von

denen man lernen kann; es gibt hier in Wolfenbüttel wirklich manch schöne geistige und wissenschaftliche Kraft, wie schade, daß wenig Zusammenwirkung stattfindet. 9. Dezember, heute soll mein Brief seine Reise antteten. Wir

haben dieses Jahr ein« doppelte Weihnachtsfreude, wir kommen alle zusammen, auch sechs bis sieben Pensionärinnen, die nicht fortteisen, gehen mit dorthin; die Mutter macht jetzt schon Vorbereitungen und

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

253

ist glücklich darin. Neulich hatten wir ein einfaches, aber schönes Fannlienfest, Karls Geburtstag. Die jungen Mädchen hatten ihn ausgekundschäftet auf seinem Kinderlöffel, den er von einem Pate» bekommen.

Keimlich hatten sie schöne Bilder aus dem Nibelungenliede von Schnorr

besorgt, Moos- und Epheukränze gewunden und alles zu den Gaben gelegt, die wir Geschwister ihm überreichten. Als wir ihn aus seiner

Wohnung gegenüber kommen sahen, ging dieMutter ihm entgegen, um ihn in das Wohnzimmer zu führen, wo die Festtagslichter brannten,

während er sonst immer seine Schritte in das Schulzimmer lenkte, um

die Morgenandacht zu Hallen, mit der wir immer unser Tagewerk be­ ginnen. Sowie Karl den Fuß ins Zimmer setzte, ertönte mit Begleitung

unseres schönen Karmoniums, das so feierlich wie Orgelton klingt, der Choral: „Befiehl dem Kerrn deine Wege." Es war das alles so einfach,

doch fühlten sich alle ergriffen. Wunderbarerweise hatte Karl diesen Ge-

sang auch heut« gewählt, und seine Vorlesung aus dem herrlichen Psalm Davids, Psalm 37, paßte so ganz zu der Feier. Mittags kamen um »erhofft: Vater, Anna, Kedwig aus Watzum, so waren wir alle bei­

sammen. Jetzt wird vorbereitet auf das Einweihungsfest, welchesAnfang

des neuen Jahres stattfinden soll, weil erst dann Turnhalle und Kinder­ garten und verschiedene andere Räumlichkeiten benutzbar sein werden,

und weil wir auch im Anfang unseres Kierseins noch zu sehr im Staube zu wühlen hatten, um in der Stimmung zu sein, an ein Fest zu denken. .............. Noch muß ich erzählen, daß ich die vielbesprochene Carlotta Patti gehört habe

sie würde eines der ersten Genies der komi­

schen Oper sein, wenn sie nicht hinkte und in derselben austreten könnte; ich bin entzückt über ihr Lachelied. Die komische Oper ist wenig verstan­ den und gekannt bei uns, die Patti macht den ungeheuern Mißgriff, daß sie Sachen singt, die nur in daS Theater gehören, die nur mit Spiel

verbunden sein müssen, die aber im Konzertsaal kalt lassen und nur wie

Kunststücke erscheinen, während sie auf der Bühne bezaubern würden.

V. leistet Tüchtiges, aber bei ihm stört die Arroganz den Kunstgentlß; der einzige, der zum Kerzen spricht, ist St. Das ist das Ergebnis des

Eindrucks, den ich erhalten. Nun adieu, schreibt bald einmal

Eurer

Kenriette.

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Kapitel 15: Lenrielt« Breymann an Frau M. Köckert in Genf.

Neu-Watzum, 22.November 1864. Meine Fröbelstunden machen mir hier sehr viel Freude, ich habe nur 5 bis 7 Schülerinnen, es muß nun hier langsam wachsen, und ich tue nichts nach außen zur Vergrößerung; das kommt von selbst Wir sind überhaupt sehr mit dem Anfänge zufrieden, wir haben genug Pensionärinnen, und wenn wir nur ohne Schulden durch die Welt kommen, nach und nach unsere Anstalt heben, aber keine Schätze sammeln wollen, so haben wir für den Anfang alles, was wir erwarten können, und wir haben Vertrauen zur Zukunft. Warum können Sie nun nicht bei uns sein? Es würde der Verkehr mit Ihnen mein stilles Glück zur schönsten Blume nach mancher Seite hin entfalten. Ich schwelge jetzt in der Seligkeit, «ine so herrliche Mutter zu haben, ihr Hiersein ist Sonnenschein und Seligkeit für mich Meine Schwester Marie ist von Laus aus eine ursprüngliche, reine Natur, die sich auch bewährt und durchgebildet hat. Ein heiliges Sein und eine natürliche Geschicklichkeit, mit Kindern zu verkehren, wuchsen ungetrennt voneinander in ihr auf; sie ist eine merkwürdige Natur, so frei von Verlangen nach Anerkennung, so unbekümmert von den äußeren Folgen ihres handelns, so ohne allen Egoismus Da mich die Welt verzogen, mir geschmeichelt hatte, so erzog mich Gott; tiefes, entsetzlich tiefes Weh hat zuerst den Stolz meines Wesens auf die Spitze getrieben, denn ich wollte kein Mitleiden von der Welt . . . aber nach und nach zog sich alles still in sich selbst zurück, und ich bin frei geworden .... ich sinde meinen Frieden in der Konzentration meiner Kräfte für ein Ziel, einen Zweck: Erhebung der Frau. Ob mein Wirken vor der Welt groß oder klein, es gilt mir gleich; wer einmal in die Tiefe geschaut und erfahren, wie die Fäden sich da weben, der wird gleichgültig für die Ehre und einen Namen und versteht, daß die 'Be­ griffe von „groß" und „klein" im Wirken eigentlich nur für unentwickelte

Seelen existieren.

Lenriette Breymann an Frau M. Köckert in Genf. Neu-Watzum. 16. Dezember 1864.

Gestern abend habe ich die sehnlichst erwartete Nachricht erhalten, meine Geliebte, daß Sie einer neuen, lieben „Menschheitsknospe", wie Fröbel ein Kind nennt, das Leben gegeben haben, und daß Kind und

Auszüge aus Briefe» usw. 1864—1868.

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Mutter wohl sind. Mein Lerz ist so voll für Sie und die kleine, teure Seele, daß ich es in Worten nicht sagen kann. O, möchte das Kind

in ernster Arbeit die Larmonie des Lebens finden und sich friedlich

seiner höchsten Bestimmung entgegen entwickeln. Ich liebe Ihr Kind so zärtlich, als wenn es mir mitgehörte. Möchte es uns vergönnt sein,

wenigstens für eine Zeit einmal gemeinsam über dasselbe zu wachen. Ich kehrte so gern später einmal nach Genf zurück, denn nach Paris

ist sie doch die interessanteste Stadt [bie ich kenne), und das geistig be­ wegte Leben, welches sie bietet, hat seinen schönsten Reiz für mich in

unserer Liebe. Ich habe oft gewünscht, ich wäre in der Schweiz geboren, mit meiner Familie, und unabhängig dort zu leben, wäre ein großes Glück für mich. Für immer kann ich nicht scheiden von meinen Lieben

und meiner Leimat; ich bin einmal zu fest mit allen verwachsen, und

daß Sie auf immer in unsere Nähe kommen, darf man nicht wünschen.

So wollen wir genügsam sein, teuere Seele, und wie fern wir auch von­ einander sind. Sie fühlen meinen Ländedruck, meinen Kuß, meine Trä­ nen der Rührung, die ich nicht zurückdrängen kann, wenn ich an Sie

und das Kind denke. Ein neuer Faden ist nun angesponnen zu einem

neuen Gewebe, das wir Charakter, Menschenschicksal nennen, und wer gelebt, geliebt, gelitten, gerungen und zum Teil errungen hat wie ich,

der weiß, was es bedeutet: Das Schicksal eines Menschen 1 Was sagen Bubi und Emma? Lenriette an ihre früheren Pensionskinder. Neu-Watzum. Wolfenbüttel, 19. Januar 1865. Welche schöne Zeit liegt hinter uns, und mit welch neuer Frische und Lust stehen wir nun wieder in dem Ernst der Arbeit, ja, wie unser physisches Leben vom Ein- und Ausatmen, vom richtigen Stoffwechsel

abhängt, so auch unser geistiges. Man bedarf von Zeit zu Zeit der Muße, des vollen, tiefen Atemzuges der Freude, um wieder frisch und lebendig geben zu können. And dieser Atemzug glücklicher Muße ist uns in so schöner Weise zuteil geworden in den jüngst verflossenen Weih­

nachtsferien, so daß wir Gott nicht dankbar genug sein können für all die Liebe, die wir genossen. Versetzt Euch noch einmal in das Pfarrhaus zu Watzum, Ihr kennt es ja alle, Ihr liebt eS ja alle; da war es zur Christzeit wieder lebendig. Acht Kinder umgaben die frohen Eltern, und

zu diesen ttat noch ein Kreis von sieben Pflegetöchtern und mancher gute Freund des Laufes sowie später Albertinens Verlobter.

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Kapitel 15:

Unser Auszug aus Neu- nach Alt-Watzum glich dem der Kinder Israel. Ein Wagen voll Betten, Koffer, Sofa, Tische (diese eine Weih, nachtsgabe für Anna) folgte uns. Es war grimmig kalt, und wir mußten dem Mütterchen zu Lilfe kommen, so vielen Gästen ein warmes Nest zu bereiten. ES gab manchen Spaß, aber auch manche Iökelei und Kröppelei, bis wir endlich im lieben Pfarrhause waren, wo nun nach unS Adolf aus Dresden mit einem Freunde Lartzer*), Mr. Mae Nab aus Berlin und später Amsinck einzogen. So waren wir Christabend alle versammelt, das Laus wurde mit grünen Zweigen geschmückt, Bäume angeputzt und der Abend brachte manchen Scherz, indem wir viele Geschenke versteckt hatten und sie suchen ließen, wie es Fritz Reuter so schön beschreibt in seinem unvergleichlichen Buche: „£lt mine Strom­ tid." Erich mußte auf den Taubenschlag, dort fand er einen Zettel, der ihn weiter schickte usw., bis er endlich in der Waschküche einen großen Sack voll Kobelspäne fand, in dem ein Geschenk verborgen war. Erst nach Mitternacht suchten wir unser Lager auf voll Sehnsucht nach dem lieben Schlaf, der immer so vieles ausgleicht und müde Kerzen und Glieder zu neuem Leben erweckt. Nachdem die Festtage vorüber, kam das schöne Genießen und Bummeln in ein etwas regelmäßiges Geleis. Morgens gegen 9 Ahr versammelte sich die Familie in Mariens früherer Stube, und da gab es verttauliche Plauderstündchen; Adolf arbeitete an seiner schönen Fröbelbüste, die er uns zu Weihnachten geschenkt und an der noch Nähte vom Gießen abzureiben waren. Erich stolzierte im Schlafrock mit langer Pfeife umher; Albertine saß an Amsincks Seite, einen Geldbeutel für ihn häkelnd; ich blätterte in Schriften und Büchern oder machte einen schwachen Versuch zu schreiben; Mütterchen schälte Apfel oder bereitete sonst etwas vor zum Mittagsmahle; Anna und Kedwig gingen geschäftig ab und zu sowie auch der Vater zuweilen kam und den Übermut seines jüngsten Sohnes dämpfte. Da spielte dann

„die gute, alte Zeit" eine großeRolle, und der Vater stellte seufzend Vergleiche an, wie er gelebt und was seine Söhne kosten. Er seufzte über viele Sorgen, sah aber dabei so jugendlich ftisch aus, daß man ihn kaum für den Vater seiner Kinder halten konnte. Vor dem Essen mach­ ten die Kerren einen Spaziergang zur Post, und wir zogen uns um, und nach Tisch kam die ganze Gesellschaft in Mutters und meiner frühe­ ren Stube zusammen. Es bildeten sich verschiedene Gruppei»; man plau*) Spätere Professor Karzer in Berlin.

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Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

bette, man spielte Schach, Whist, man musizierte und abends nach dem Tee kamen verschiedene tolle Streiche zum Vorschein. Erich machte allerlei Versuche, sich den vier Engländerinnen verständlich zu machen, was schließlich in solche Quälereien ausartete, daß Adolf mit seinen ernstbestimmenden Blicken den Kobold zur Ruhe bringen mußte, wor­ auf er sich mit seinen französischen Brocken zu Mademoiselle C.R., die er sein „Pupillchen" nannte, setzte, weil er ihr beim Whistspielen half. Auf die Namen der Engländerinnen machte er köstliche Reime ............. So ging das frohe Leben über acht Tage. „Ich muß immer meine Betrachtungen anstellen," sagte eines Tages Herr Ä. zu mir, „wie merkwürdig verschieden Sie alle sind; könnte man z. B. Adolf und Erich im Augenblicke fiir Brüder halten? Welche verschiedene Physiognomie, Adolf mit seinem so schönen, ernsten Kopfe, Erich mit seiner Häßlichkeit, die zum Lachen auffordert; Adolf mit dem gehaltenen Wesen, Erich mit dieser sprudelnden Iugendkrast, die allerlei unregelmäßige Auswege sucht; und doch ist wieder eine Familienähn­ lichkeit in den Physiognomien sowohl des Körpers wie deS Geistes, und eben diese Einigung von ihnen allen bei der größten Verschiedenheit der Individualitäten erregt immer meine Bewunderung 1" „Ja, wir sind eben Fröbelisch; wir haben die Einheit in der Man­ nigfaltigkeit, wir gehen dem Leben ruhig nach und finden die Lebenseinigung schließlich." „Wie?" fragte Herr L., „ich verstehe das nicht ganz." „Ja, das ist auch Fröbelisch", sagte ich lachend, „das waren FröbelS Ermahnungen, die er uns gab, und ich glaube, ich habe sie verstanden und befolgt." „Nun simpelt ihr schon wieder Kunst", rief Erich, „laßt uns lieber einen kleinen Schüttenhoff machen! Kleiner niedlicher L. komm!" und dabei streichelte er den Freund und frisierte ihn & l’enfant. Es kam denn ein Schüttenhoff zustande. Adolf erschien in einem köstlichen Kostüme (was er zum kommenden Einweihungsfeste mitgebracht), als Bärenführer und der kleine Freund war in Amsincks schönem Pelze der Tanzbär, eine Maske, die die Herren fabrizierten, machte die Täuschung wirklich groß, und wir kannten unsern ernsten Adolf gar nicht wieder in seinen Sprüngen und Witzen, die er machte; es war sehr amüsant. Als wir noch darüber lachten, warf Erich zwischen die Engländerinnen ein dickes Paket und rief: „Iulklapp." (Ein schwe­ disches Wort für Weihnachtsgeschenk, von dem eben Fritz Reuter Ly schinila, Henriette »chrnder I.

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Kapitel 15.

spricht.) Und nun ging es an eine Iulklapperei; denn die jungen Damen rächten sich, geschäftig eilten sie in die verschiedenen Zimmer, und bald flogen Stiefel, Pantoffeln, ja, von Erichs Seite aus nasse Schwämme ins Gesicht und an die Köpfe; das war eine Sprache, die jeder verstand, und der niemand eine Antwort schuldig blieb. Zu unserer Verwunde­ rung nahm Adolf mit wahrer Lust an allem teil, während er sonst solchem Ansinn fernblieb, und der Ernst seines Wesens oft einen An­ strich von Melancholie hatte. „Ich freue mich so über dich, Adolf", sagte ich einmal zu ihm, „ich habe dich noch nie so heiter gesehen wie dieses Mal." „And ich bin nie so heiter gewesen, wie ich überhaupt jetzt immer freier und heiterer in mir werde. Da ich eigentlich einige Jahre zu spät meine künstlerischen Studien begonnen habe, so machte mir die Bewältigung des Stoffes große Schwierigkeit, aber jetzt fühle ich, wie die schwere Masse mehr und mehr sich meinen Länden fügt, so wird die Seele freier und freier. Ich habe lange geschwankt, ehe ich meine letzte Arbeit, den Adam, be­ gann, denn ich weiß wohl, es ist kein Werk, das ich dem Publikum zum Kaufe bieten kann, und es drückt mich oft, daß ich dem Vater so viel koste und noch nichts verdient habe, aber ich mußte noch einmal eine Arbeit machen, die so volle, ganze Studie war, und was konnte mir da näher liegen als Adam, der Mensch in seiner Arkraft, wie er aus Gottes Land hervorgegangen ist. Kannst du dir nicht denken, daß cs eine wahre Lust ist, an einem solchen Werke zu arbeiten? Was für ein großer Wendepunkt liegt in dem Momente, wo Adam beginnt, im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten; der Mensch muß sich selbst seine Existenz schaffen, sowohl geistige wie physische; alles Leid wie alle Freude erwächst hieraus. Mich hat dieses Motiv mächtig ergriffen, es ist zwar keine leichte Aufgabe, diese Figur muß einen bestimmten Charaster tragen, sie muß aussehen, als stamme von ihr die ganze Mensch­ heit ab, es muß ihr der Typus des Armenschlichen aufgedrückt sein, sie darf nicht erscheinen wie eine Antike. Die Gestalten des Michaelangelo muß ich studieren, der hat es verstanden, den richtigen Ton für solche Schöpfungen anzugeben. Du glaubst nicht, was es für ein Vergnügen ist, so einen lebensgroßen Mann zu modellieren, man kann so recht schwelgen in Bildern von kräftigen Formen. Es ist überhaupt ein herr­ liches Leben jetzt in unserm Atelier bei Schilling, und es tut mir leid, daß Lartzer jetzt fort ist, aber seine Natur paßt besser zu Lähnel, er fühlt sich jetzt viel glücklicher, seitdem er in dessen Atelier arbeitet, und

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Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

jeder muß seiner Natur folgen. Die nächste Ausstellung wird aber

hoffentlich zeigen, daß Schilling ein ebenso guter Lehrer ist als genialer Künstler. Ich wollte, du könntest seine vier Terrassengruppen: Morgen,

Mittag, Abend, Nacht sehen, ich möcht« dich überhaupt bekannt machen mit Schilling." „Wie stehen er und Äähnel zusammen?" „Sehr gut, und es ist

ein wahres Glück, daß unter den Bildhauern nicht diese Katzbalgerei herrscht wie unter den Malern, wie unter den Schnorrschen und Lübnerschen Schülern; du glaubst nicht, welche Zänkereien hinter den Kulissen

des schönen Künstlerlebens vorkommen."

„Sie sprachen von Adolfs Adam?" sagt« Lartzer hinzutretend, nachdem er schon im Gespräche mit einer andern Person immer halben

Ohrs auf uns gehört hatte. „Was sagen Sie zu der Arbeit?" „Ich finde, daß Adolf das Richtige für sein Studium gewählt hat, aber kaufen wird die Arbeit niemand, höchstens könnte es ein Museum."

„Das habe ich auch gesagt, und ich finde, daß man beide Zwecke verbinden kann und einen den Leuten gefälligen Gegenstand wählen

und daran lernen kann." „Ich kann das aber jetzt noch nicht", rief Adolf bestimmt, „wenn

ich ins tiefste Leben der Kunst dringen will, um an ihm zu lernen, so

kann ich nicht die Welt fragen, was ihr gefällt, und weil ich vielleicht später, wenigstens vorerst nie wieder freie Wahl haben werde, so wollte ich noch jetzt einmal, wo es mir geboten wird, mich so ganz unbeschränkt in meine Aufgabe vertiefen, und wenn sie mir auch nicht einen Groschen

einträgt, so wird sie eben zeigen, was ich bin und leisten kann, und mir vielleicht helfen, daß ich Aufträge bekomme und somit unabhängig werde." „And Sie, Äerr £>., arbeiten Sie auch noch mit gleicher Lust an Ihrer Gruppe: „„Der Larfner und Mignon""?"

„O, mit erhöhter Lust! Ich wache ost des Morgens früh auf und kann die Zeit nicht erwarten, bis ich ins Atelier komme. Ich bin ein ganz anderer Mensch, seitdem ich bei Äähnel arbeite; er interessierte

sich zuerst gar nicht für mich, was auch natürlich ist bei meinem so un­ scheinbaren Äußeren, aber als er meine Skizze zu der neuen Gruppe

gesehen, wurde er wärmer, und jetzt geht das Arbeiten köstlich mit uns." „Wie sind Sie eigentlich auf Ihr Motiv gekommen?" „Das will ich Ihnen sagen: Ich zeichnet« viel aus Ödipus und fand die Vorwürfe, die die Geschichte bietet, so tragisch und anziehend,

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Kapitel 15:

daß es mir immer im Kopfe herumging, ob ich ihn nicht zum Gegen­

stände der Darstellung nehmen sollte; aber seine Geschichte liegt uns so fern; es ging mir plötzlich auf, daß im Larfner dasselbe tragische Element liegt wie im ödipus, aber zugleich unserer Zeit und moderneren

Anschauung viel näher; im ödipus erscheinen unS die Menschen als

willenloses Spielzeug in den Länden der Götter, der Allmächtigen, die je nach ihren Launen die Menschen hier- und dorthin werfen. Was nützt es dem ödipus, daß er, dem geweissagten Anglück zu entgehen,

ausgesetzt wird, nach Jahren treibt ihn sein Schicksal all dem Gräß­ lichen entgegen, woran er schließlich zugrunde geht. Dieser Mangel an

individueller Berechtigung den Göttern gegenüber stößt mich zurück, da

ich meine, ein jeder soll seines Glückes Schmied sein. Der Larfner, als katholischer Priester von der Ehe ausgeschlossen, hat sich allein alle Fol-

gen zuzuschreiben, wenn er trotzdem seiner Leidenschaft folgt, und wie furchtbar rächt sich dieser Fehltritt. Auf der andern Seite dieses wunder­ bare Geschöpf, diese Mignon, eine zauberische Erscheinung 1" „Ich bin sehr gespannt, wie Sie die Aufgabe lösen werden, Mignon

scheint mir sehr schwer durch die Plastik darzustellen zu sein; es ist mir, als wäre sie weit mehr ein Vorwurf der Malerei. Es liegt mir so viel

in ihren Augen, dieses Feuchte, Träumerische, dieses Sichverzehren von Sehnsucht nach der Leimat und der Liebe zu Wilhelm Meister, diese Glut der Sinnlichkeit als Kind des Südens und diese Vergeistigung,

ja Verklärung deS ganzen Wesens — werden Sie es ohne den Blick

der Augen, ohne Lilfe der Farben wiedergeben können?" „Ich hoffe doch, ja, das Schwere reizt mich auch." „Wie verschieden ist eure Aufgabe, die ihr euch gestellt, Adolf,

ich bin sehr gespannt auf die Vollendung eurer Werke; ihr habt über-

Haupt viel Verschiedenes im Wesen." „Ja, sehr viel", sagte Adolf.

„Aber im Grundgedanken über die Kunst sind wir doch einig. Wir beide stehen entschieden im großen Kampfe der Naturalisten und Idea­ listen auf der Seite der letzteren", entgegnete Freund Lartzer. „Ja, das tun wir, die Naturalisten sind eben keine Künstler, son­

dern Kopierer. Wohl muß man die Natur studieren und die Kunst auf

ihr ruhen lassen, aber der Geist des Künstlers muß den Gedanken der Schöpfung wieder denken, und immer bei allem Festhalten am Indivi-

duellen und Charakteristischen auch ein Allgemeines zur Geltung brin­ gen. Der Künstler ist Vollender der Natur, denn er schafft sie mit Bewußtsein. Natürlich sind jeder Kunst Grenzen gezogen; die bildenden

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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Künste haben andere Aufgaben zu erfüllen als die redenden, die Malerei andere als die Bildhauerei; aber, wie keine von der Natur abweichen darf, so ist der Künstler doch frei in der Komposition der Elemente und soll diese zur Idee erheben, wo die Natur einer blinden Notwendigkeit gehorcht, und den ihre Schönheit störenden Einflüssen keinen Widerstand leisten kann." „Da es mir gerade einfällt, so möchte ich dich fragen, hältst du Calame für einen Künstler? Ich habe letzten Sommer in Genf so viel

von ihm sprechen hören." „Nein, aber für einen sehr talenwollen Kopisten der Natur. Reine Stimmungslandschaften gehören meiner Meinung nach überhaupt nicht in das Gebiet der Kunst; so wie die Natur nicht Selbstzweck ist, sondern erst im Menschen ihre Blüte erhält, so sollte man die Landschaft allein nicht malen, sondern nur als Staffage für die Szenen des Menschen­ lebens, wie es Preller in Weimar so prachwoll verstanden in seinen Odysseebildern; die solltest du sehen!" „Ich denke eben an den Ausspruch des Philosophen Schopenhauer: „„Der Genius des Künstlers versteht die Natur auf halbem Wege: er spricht klar und deutlich auS, was diese stammelt."" „Ja, wir sind ganz in das Gebiet der Philosophie geraten, und da bin ich nicht zu Lause," sagte Adolf, „ich drücke das alles lieber in meinen Werken als in Worten auS, Lartzer überlasse ich das Reden. Es wäre mir z. B. unmöglich, so wie er, vor den jungen Mädchen Vorträge zu halten 1" „Apropos, über welches Thema wollen Sie dieses Mal in NeuWatzum sprechen, Lerr Lartzer?" „Ich denke, über die verschiedenen Baustile, als byzantinische, romanische, gotische, und wenn ich einmal wiederkomme, nehmen wir die Renaissance vor. Sagten Sie nicht, wir könnten mit Ihren jungen Mäd­ chen von Wolfenbüttel aus den Dom zu Braunschweig besuchen?" „Ja, ich möchte es sehr gern." „Nun wohl, dieses Gebäude eignet sich vorzüglich zum Vergleichen der Stile; das Mittelschiff ist romanisch, das eine Seitenschiff ist altgotisch, das andere aus der Verfallzeit der Gotik und im Innern be­ findet sich noch der schlechteste Zopf am Altar." Da Karl und Marie nach dem Feste nach Neu-Watzum zurück­

gegangen waren, weil es viel mit Bauerei zu tun gab, so drehte sich die Unterhaltung meist um Kunst, und ich wollte, Ihr hättet alles mit

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Kapitel 15:

mir genießen können, was da besprochen wurde, wovon Euch vorstehende Unterhaltungen nur ein schwaches Bild geben. Zuweilen mußte ich mich gewaltsam losreißen, um der Höflichkeit zu genügen, und mitMr. McR., dem Bruder einer unserer Britinnen, Englisch zu sprechen, da er fast gar kein Deutsch konnte, obgleich er seit drei Monaten in Berlin Medi­ zin studiert; es tat mir leid, denn er scheint ein talentvoller junger Mann zu sein, der seine Studien in Edinburg schon vollendet; ich spreche aber so höchst ungern englisch, so viel Freude mir die englische Lektüre macht; so scheute ich mich, in ein tieferes Gespräch mit dem jungen Doktor ein­ zugehen. Er ließ übrigens der deutschen Gelehrsamkeit Recht wider­ fahren und bekannte, daß er jetzt erst einen Begriff von dem Ernste der Wissenschaft habe, seitdem er Virchow kenne. Das Geschwisterpaar reist« in wenigen Tagen ab, um bei Dr. Dedekind in Wolfen­ büttel einen Besuch zu machen, wozu sie eingeladen waren. Mit Made­ moiselle C.R. konnte ich Deutsch oder Französisch sprechen; sie ist überHaupt eine bequeme Persönlichkeit im Verkehr, und die andern Eng­ länderinnen und Deutschen waren so jung, daß man sie ihrer eigenenUnterhaltung überlassen konnte; sie schienen sehr stillvergnügt. Maggie Purves mit ihren schönen, schwarzen Locken und etwas klassischem Gesichte und gefälligem, hilfreichem Wesen, das sich leicht in deutsche Sitten fand, war wohl der Liebling unter diesen ftemden Vögeln, obgleich auch die Reinheit und Lerzensgüte der sehr stillen und etwas steifen Miß Scott volle Anerkennung fand, während die andern in ihrer Be­

deutungslosigkeit die mitlachende Staffage bildeten. „Leute abend wollen wir aber früh zu Bett", rief Erich am Freitag vor Silvester, sich ein Licht anzündend, indem es ihn nach der Pfeife in seinem Zimmer zog, weil er unten nicht rauchen durfte. „Erich," entgegnete Lerr L. ganz entrüstet und sich dem Teetopfe ängstlich nähernd, der schon die sechste Taffe ihm gespendet, „du wirst doch nicht so wahnsinnig sein und uns schon zu Bette treiben, es ist erst %!! Ahr und bis 11 Ahr haben wir Erlaubnis und bis 12 Ahr wird uns zugegeben und bis 1 Ahr stehlen wir uns; es wäre eine wahre Sünde, die Zeit, die man hier so schön auskaufen kann, zu verschlafen I" „Anoden Tee stehen zu lassen und den Zucker und die Zucker­ plätzchen am Baume," fügte Adolf lachend hinzu, „du bist doch ein genußsüchtiger Mensch, du schlürfst mit gleichem Behagen eine gute Anterhaltung wie den geliebten Tee, ißt Zucker, spielst Whist und bist

nie schläfrig, nie müde I"

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„Ja, es ist nicht gut, daß mich Gott so genußfähig organisiert hat, ich habe so viel Gelegenheit, mich zu erfreuen." „Aber Ledwig, du futterst ja Lerrn Larher tot mit Zuckerwerk, es wird seinem Magen schaden, und du verziehst ihn ganz I" „Des Weibes Los ist zu beglücken 1 sagte Lenriette einmal", er­ widerte sie höchst naiv, worauf ein schallendes Gelächter ertönte, und Erich dem beglückenden Weibe sein Kompliment machte. Tiefes Erröten übergoß Ledwigs ganzes Antlitz, und dicke Tropfen drängten aus dem Auge. „Ja, ja", sagte sie mit Tränen kämpfend. „Nicht weinen, nicht weinen, liebes Ledchen I" Die Sonne brach durch dicke Wolken, und siegend stimmte Ledwig mit in das Lachen ein und ist sogar so heroisch, daß sie mir erlaubt hat, diese kleine Listorie zu erzählen. „Nun Larher, wir wollen zu Bett, das Licht brennt schon lange 1" „O, was das betrifft, dem Äbel können wir abhelfen", und aus war

die Kerze. Anstecken und Ausblasen folgte jetzt Schlag auf Schlag. Miß Maggie Purves lief hinter Erich her, der das Licht siegend in die Löhe hielt, sie verfolgte ihn bis auf den Boden, da plötzlich bläst er das Licht aus, rennt schnell die Treppe hinunter und schließt schnell die Tür, so daß die Arme, da oben zwischen Koffern und Kisten ver­ loren, jammert. Wenn durch all diese lichte, schöne Fröhlichkeit ein leiser Schatten für mich zog, so war es meine Gesundheit; ich wurde von einem schreck­ lichen Lüsten gequält, und «in grippenartiger Zustand wich fast die ganzen Ferien nicht von mir. Noch heute hat mich der Lüsten nicht verlassen, ich fürchte, ich habe in Genf mir ein Leiden geholt, das mich nun von Zeit zu Zeit wieder befällt, denn früher litt ich nie an einem solchen Lüsten und es ist mir oft, als wirkte er zerstörend im Innern. Mit einem gewissen Grauen dachte ich in den Stunden, wo ich sehr leidend war, an das bevorstehende Einweihungsfest, welches am 10. Ja­ nuar stattfinden sollte, weil dann endlich die Turnhalle und die andern Zimmer, die wir noch nicht bewohnt hatten, fertig waren. Ja, die Woche nach Neujahr zog nun «in Gast nach dem andern wieder von AltWatzum fort, Montags schon eine Partie Neu-Watzumer, Dienstag Adolf, Erich und ich, Mittwoch kamen die übrigen nach, aber, wie die fröhliche Gesellschaft sich im Pfarrhause zu lösen begann, so fing sie an, hier sich zu bilden Mittwoch kehrten die Mädchen zurück mit Blumen,

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Kapitel 15:

Kränzen fürs Fest und mit viel Freude im Lerzen; Adolf kam Donnerstag von Braunschweig; zwei neue Engländerinnen, L. und E. Straith, eine Deutsche aus Hannover, Anna und LerrLartzer; Sonntag Mutter und Ledwig; Dienstag endlich der Vater und — als Überraschung —

Erich aus Göttingen, und Dienstag war denn das schöne Einweihungs-

fest, vor dem ich mich so gefürchtet, weil ich mich körperlich schwach fühlte,

was meinem Leben hier eine neue Weihe gab.

Davon erzähle ich Euch im nächsten Briefe, er wird recht lang und

ausführlich werden. . . .Nun noch eine Bitte, schickt mir Eure Photo­ graphien, von denen ich noch keine besitze, ich habe nämlich ein große-

Pensionsalbum bekommen, darin möchte ich nun alle, alle haben und

bitte, schreibt mir Tag und Jahr, wann Ihr gekommen und fortgegan­ gen seid; ich möchte mir das so recht schön ordnen; wollt Ihr meine

Bitte erfüllen? Wenn ich einigen auf ihre freundlichen Briefe noch nicht geantwortet, auf die sie wohl ein besonderes Wort erwarten, so müßt Ihr mir verzeihen; ich habe wirklich viel zu tun und bin, wie ge­ sagt, seit acht Tagen vor Weihnachten nie ganz wohl gewesen.

Nun lebt wohl für heute, meine lieben Mädchen, es grüßt Euch

herzlich Eure

Lenriette.

Lenriette an ihre früheren Pensionskinder.

LausNeu-Watzum bei Wolfenbüttel. Ende Januar 1865.

Vierzehn Tage sind nun beinah vergangen, seit wir das schöne Fest der Einweihung feierten und ich muß eilen, meine Gedanken darüber wiederzugeben, damit sie ihre ursprüngliche Wärme nicht verlieren, was so leicht der Fall ist, wenn so viele Arbeit oder sonstige Erlebnisse

einem Tage folgen, der an und fiir sich tiefe Eindrücke hinterließ. Ich erzählte Euch schon in meinem letzten Pensionsbriefe, daß hier sich wie-

der der Familienkreis zusammenfand, der sich in Alt-Watzum nach und nach gelöst hatte. Abgesehen von der Freude, welche «S uns machte, die Unsrigen und liebe Freunde hier zu haben, so war uns deren Anwesen,

heit auch sehr nützlich und nötig. Mit der Mutter mußte der Küchen­ zettel beraten werden; Annas sorgliches Auge und tätige Land war

sehr erforderlich, um für Ordnung zu sorgen, denn unsere dienenden Geister schienen eine große Anhänglichkeit an ihren Ursprung, den Staub zu haben, und ich als höchste Oberaufsicht hatte meine liebeNot, mein

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tiefes Bedürfnis nach Reinlichkeit und Ordnung zu befriedigen. Sebwig führte die Jugend an beim Kränzewinden, und die Serien arbeiteten im Schweiße ihres Angesichts an den Dekorationen der Turnhalle, des Theaters und der Diele. Solche Vorbereitungen, wenn sie auch viele Mühe verursachen, haben doch etwas ungemein Seiteres bei guter Leitung, und es gilt auch hier der Sah: „Die Freude vorher ist das Beste." Leider wurde mir diese lebendige Vorfreude getrübt, indem ich mich sehr unwohl fühlte und besonders Tag und Nacht vom schrecklichsten Stiften zu leiden hatte. So packte mich ost eine entsetzliche Angst vor dem Feste, meine Nerven waren nun einmal angegriffen, und es schien mir oft, als könne nichts ordentlich werden, es war auch gar zu vielerlei. Ich träumte von schreck, lichen Szenen, wie Ihr sie wohl kennt, daß man int höchsten Neglige sich in einer Gesellschaft befindet, daß nichts zu finden ist, niemand etwas zu essen bekommt usw. Nun wurde Marie am Sonnabend sehr unwohl, sie, die mit Anna in dem Festliede ein Duett zu fingen hatte, und die ja überhaupt nicht fehlen durste; sie verbrachte die Nacht im Fieber und mit rasenden Kopfschmerzen und war den ganzen Sonntag nicht besser. Mein Un­ wohlsein kam mir dagegen nicht der Rede wert vor; ich konnte ja doch noch weiter. Mit Angst legte ich mich Sonntagabend ins Bett und mit Serzklopfen erwachte ich; Marie schlief mit mir im Zimmer, und so war mein erstes Wort: „Marie, wir geht es dir?" „Ich bin besser!" „Gottlob I" And die Erlösung aus dieser Sorge wirkte auf mich so belebend, daß ich zum ersten Male Mut faßte. Auf die junge Welt hatte diese Angst meinerseits sehr wenig Einfluß gehabt, sie saßen, halb im Grün begraben, in der Turnhalle und wanden unter munterem Geplauder Kränze, machten Blumen, schnitten goldene Fahnen aus, vergoldeten Tannäpfel usw., alles Dinge, die zum Schmucke zwischen dem Grün verwendet werden sollten. Die Setren standen auf hohen Leitern und hämmerten und bogen die Zweige, die die hohen gotischen Fenster, die Pfeiler und Türen umrahmten, öfter wurde ein Liedchen angestimmt von den Mädchen, wozu Adolf die zweite Stimme intonierte. Es war wirklich eine Freude, das junge Volk so zu bewachten. Dazwischen rief ich mir die eine oder die andere immer heraus, um mit ihr Kostümprobe zu halten, denn, wenn Adolf die Zeichnungen zu den lebenden Bildern gemacht hatte, die gestellt werden sollten, so überließ er mir die Wahl

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der Personen, Stoffe, Schnitte und Farben. Es ist nun keine Kleinig­ keit, eine so große Schar, wie wir sie gebrauchten, paffend zu kleiden, notabene wenn man nicht gern den Mitwirkenden viel Kosten verurfachen will. Aber man muß nur erst beginnen, und dann findet sich eins nach dem andern; eine große Gesellschaft hilft sich auch einander, die eine leiht einen seidenen Nock, die andere Blumen, die dritte einen seide­ nen Schleier usw. So wurde denn gewirkt in Küche und Keller, Kam­ mern und Stuben auf — einen Tag, auf ein Ziel hin. Man sagt wohl, es sei töricht, so viel Mühe zu verwenden auf Dinge, di« so flüchtig dahin­ schwinden, wie -. B. auf lebende Bilder und dergleichen, aber man denke nicht so; wohl verrauscht ein Fest in wenig Stunden, aber in wie vielen Seelen und Kerzen lebt eine schöne Erinnerung für Jahre 1 Am Montag nachmittag war die Turnhalle fertig und noch einmal in ihr Gesangprobe. Marie war, als wenn ihr nie was gefehlt, und ordnete alles geschäftig in bezug auf die musikalischen Aufführungen. Kerr Musikdirektor Selmar Müller, ein bekannter Komponist reizender Lieder, hatte auch für uns eine Komposition gemacht und leitete das Ganze, und als nun die Töne so voll und rein zu den Akkorden deS Karmoniums in dem hohen Raume klangen, als ich so durch die Fenster des Kindergartens, die nach der einen Seite in die Turnhalle sehen, auf die jungen Sängerinnen blickte, die aus unsern jetzigen und einigen früheren Pensionärinnen und meinen Schwestern bestanden, da kam etwas wie Vorfeier in mein Lerz, und unwillkürlich mußte ich Karls Künde ergreifen, die so treu mitwirkten und schafften, als der Choral: „Bis hierhin hat uns Gott gebracht" geübt wurde. Abends probierten wir noch lebende Bilder, und endlich brach der Tag an, von dem so lange gesprochen, für den so viel geschafft wurde, auf den sich so viele gefreut hatten. Unsere ©äste waren auf 4 Ahr nachmittags eingeladen, und gerade steckte ich meinen Sttauß von dunkelroten Rosen vor, als der erste Wa­ gen vorfuhr; noch einen Blick warf ich in den Spiegel, ob alles nach Wunsch passe und sitze, bog die von schwarzen Spitzen und Perlen arrangierte Schneppe meines Kopfputzes (an dessen linker Seite eine dunkelrote Rose mit Knospen und Blättern über meine Locken fiel) etwas auf die Stirn und warf den weißen Kaschmirmantel über die schlichte, weiße Bluse und den hellseidenen Rock, beides mit schwarzen Spitzen garniert, an der weißen Taille schmälere, wie ein viereckiger Ausschnitt, am Rocke eine schöne, breite mit einem Sammetstreifen dar-

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über, die Form eines Überwurfs andeutend. An den Ärmeln der Bluse

war von oben nach unten Band von der Farbe der Rosen durchzogen, was dem schwarz-weißen Anzuge etwas Lebendiges gab. Die Taille umschloß ein breiter schwarzer Sammetgürtel, und so war ich bereit, unsere Gäste zu empfangen. Meine Toilette war einfach aber nach mei­ nem Geschmacke, und ich fühlte mich behaglich darin, denn mich geniert die jetzige Mode der Schleppe nicht, im Gegenteil ich bewege mich gern darin. Der eifrige Lohnbediente sprang, als er das Rollen des Wagens vernahm, vor die Tür und übergab die Damen unserer Frau Gärtner Grabenhorst, die mit ihrem freundlich gewandten Wesen den Dienst der Zofe versah. Die Diel« war, wie gesagt, festlich geschmückt, behaglich, warm und gleich einem Zimmer eingerichtet, weil wir sie abends mit zum Abendessen benutzen mußten. In Mariens Stube und Kammer rechts, wenn man eintritt, war die Garderobe für die älteren, nicht singenden Damen bestimmt. Nachdem die Herren und Damen abgelegt, führte sie der Bediente zu uns herauf, wo drei Zimmer zu ihrem Emp­ fange eingerichtet waren: mein Privatziinmer, die eigentliche Wohnstube und das erste Lehrzimmer; hier schloß die Wand mit Vorhang und schön dekorierter Umgebung, indem im zweiten Lehrzimmer die Bühne aufgebaut war. Die beiden Lehrzimmer bildeten früher einen Tanzsaal, wir haben ihn durch wegnehmbare Wandschränke in eine größere und eine kleinere Lehrstube teilen lassen, was uns nun prächtig zustatten kam, da wir durch Fortnahme zweier Schränke den Raum zur Anbringung des Vorhanges gewannen. Die Empfangsräume waren alle mit grünen Topfgewächsen und Blumen geschmückt sowie mit Kunstwerken durch Adolfs Güte, teils mit Arbeiten seiner Land, welche blendend weiß zwischen den» Grün schimmerten, teils mit klassischen Kupferstichen; auf einem Tische lagen schön illustrierte Bücher, auf einem andern stand Adolfs Relief: „Der verlorene Sohn"; darunter ausgebreitet Raphael- und Correggioalbum, Goethegallerie von Kaulbach und verschiedene einzelne schöne Sachen aus unserer Vildermappe. Wenn man eine größere Gesellschaft emp­ fängt, muß man besonders beim Arrangement der Möbel darauf sehen, daß sich immer verschiedene Gruppen bilden können, daß sie verschiedene Gegenstände zur Anknüpfung der Unterhaltung finden; es dürfe»» nicht viele Tische und solche Dinge in den Zimmer»» stehen, die die freie Be­ wegung hindern, aber auch nicht zu wenig, da»nit die Sitzenden einen

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Anhaltepunkt haben und nicht in Verlegenheit kommen, wohin sie ihre Taffen usw. setzen sollen. Das alles will vorher durchdacht sein, und der Geist der Lausfrau muß schon vor dem Erscheinen ihrer Gäste gewisser­ maßen die Fäden der Unterhaltung in die Land nehmen. In einem großen, wohleingerichteten Lause, wo bestimmte Empfangsräume sind, die zu keinem andern Zwecke benutzt werden, wo wohleingeschulte Be­ diente und Köche, gleich dem Maschinisten auf der Bühne im ver­ borgenen walten, da wird es der Lausfrau leicht gemacht, Gäste zu empfangen; aber bei uns und den meisten von Euch, wo das deutsche Bürgertum in seiner besseren Bedeutung gepflegt werden soll, wo wir selbst Land anlegen sollen, unsere Wohnstätte behaglich zu machen, da heißt eS, alles vorher bedenken und überlegen und nachsehen, damit man jedes Ding zu seiner Zeit tue, nicht etwa Herumlaufe und koche, wenn man Gäste hat, sondern daß diese wohltuend durch uns angeregt werden, und daß man das Gespräch vom Stadtklatsch auf allgemeinverständliche und interessante Dinge zu leiten weiß. Wir sollen das Vorrecht der feinen Form und die Leichtigkeit des gesellschaftlichen LebenS nicht allein der Aristokratie überlassen, sondern uns ihrer bemächtigen, aber mit ihr das hausmütterliche, sorgende, schaffende Element ver­ einen; so nur, meine ich, sind wir wahre, deutsche Frauen, ein Ruhm, den ich nicht gering achte. Lassen wir den Engländern ihre stille Vornehmheit, den Franzosen ihre Eleganz, die sich selten in stiller Läuslichkeit wohlfühlt; nehmen wir von andern, was uns fehlt, aber bleiben wir im Kerne, waS wir sind — deutsch I Früher hatte ich große Anlage, Salonaffe zu werden, aber die bessere Erkenntnis ist gekommen und hat gesiegt. Die Unterhaltung vor der Feierlichkeit lag zum großen Teil auf mir, da Marie, die dort die Gäste beim Beginn des Festes empfangen sollte, in der Turnhalle mit den Sängerinnen beschäftigt war. Ein Wagen nach dem andern führte uns liebe Freunde zu, alles schien wohl im Zuge, da fällt wie ein Donnerschlag aus heiterm Limmel die Kunde: „Lerr Lollmann (der treue Bauherr dieses Laufes, dem die Feier besonders galt) ist unwohl geworden und kann nicht erscheinen I" Alles wäre mir halb gewesen, wenn er nicht kam, schnell machte sich sein Sohn noch einmal auf den Weg und nach einer Stunde langen Larrens erschien er mit dem sehnlich erwarteten Gaste. Nun war allerdings alles etwas verspätet, aber daö konnte sich wieder ausgleichen. Liebe Freunde und Verwandte, teure Pensionskinder aus Braun­ schweig und Wolfenbüttel waren um unS versammelt, wir alle zusammen

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an achtzig Personen, und die kleine Feierlichkeit konnte ihren Anfang

nehmen. Karl gab seinen Arm der lieben Mutter, ich bat um den deS alten Lerrn Lollmann, die andern arrangierten sich zu Paaren und so führten wir unser« Gäste durch einen Korridor in den Kindergarten

und von diesem eine Treppe hinunter in die Turnhalle. Ein großer, grüner Kronleuchter, in Larmonie mit der Dekoration der Wände, sandle sein Kerzenlicht in den Raum. Nah an der Eingangstür, die in den Garten führt, saß der Dirigent vor dem Harmonium, weiter

rechts von diesem stand ein mit grüner Decke bekleideter Altar, der eine große Bibel, ein Kruzifix, zwei schöne Gewächse und silberne Leuchter mit brennenden Lichtern trug. Der Vater bat darum, daß seine acht

Kinder die Plätze unmittelbar vor dem Altar einnehmen mit Einschluß der lieben Mutter und Herrn Lollmann.

Als alles still war und ruhig, ertönten die feierlichen Akkorde unse­

res wirklich schönen Larmoniums und der Gesang: „Bis hierhin hat unS Gott gebracht." Der erste VerS wurde von den jungen Mädchen

einstimmig mit Begleitung, der zweite dreistimmig ohne Begleitung

und der dritte wie der erste gesungen. Gesammelter, stiller wurde eS im Kerzen, und es war wohlbereitet, desVaters liebeWorte aufzubewah-,

ren. Da stand der gute Vater vor dem einfachen Altare im Kreise seiner Kinder, Pflegetöchter und Freunde und sprach zu ihnen di« Worte

der Weihe über dieses Laus Die ernsten Gefühl«, die das Herz bewegten nach des Vaters Rede

wurden sanft gelöst durch das Festlied, welches die jugendliche Schar mit vollen, reinen (stimmen nun erschallen ließ und, wie die Seele sich

so ganz voll Dankbarkeit und Liebe an die tteuen, teuern Eltern ge­ klammert hatte, so führte der Gesang den Geist weiterhin zu der Schar

blühender Gestalten, die da im weißen Festschmuck mit Blumenkränzen

im Kaar vor uns standen. Alle sind unserm Kerzen nah durch geistige Bande, o Gott hilf, hilf uns, den jungen Gemütern ein Stab zu werde,» auf ihrer Lebensreise, o ziehe du das Band der Liebe, des Verttauens

fester und immer fester, o laß sie wachsen, diese geistige Familie, die sich da bildet im Leben und Sweben unseres Kaufes, und laß die Tren­

nung von den geliebten Pensionskindern, die dem Kerzen weh getan, zu keiner wirklichen Trennung führen, sondern in ihnen die geistige Einigung wachsen. Ihr lieben, lieben Kinder nah und fern, vergeßt

nicht, daß Ihr an unserm Kerzen immer eine Stätte findet, wo Ihr niederlegen könnt, was Euch erfreut, was Euch schmerzt; wir bleiben

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Kapitel 15:

durchs ganze Leben die Euer», wenn Ihr selbst nicht die Bande lockert, di« uns einst umschlossen. Ja, mit inniger Freude weilten meine Blicke auf der Gruppe, die vor uns stand, und wenn ein Wehmutstropfen in das stille Glück fiel, so war eS der, daß wir Euch nicht alle, alle an diesem Tage um un­ sehen konnten. Ich liebe den Gesang frisch jugendlicher Stimmen, und so wirkte es auch an diesem Tage so wohltuend auf mich, als er ertönte:

I. So steht das Laus geweiht in Gottes Namen Lind reich gesegnet von der Eltern Land, Auch froh begrüßt von allen, die da kamen. Die uns vereint der Freundschaft Band.

II. So grüne denn, du liebe neue Stätte £lnb weiche nicht vom Grunde, der dich trägt. Manch neues Glied verwebe sich der Kette Von jungen Lerzen, die wir treu gepflegt.

III. Wir alle woll'n die sichern Säulen fassen. Die nur allein des Laufes Glück erbauen. Nicht von der Gottesfurcht und Liebe lassen And kindlich hoffend stets nach oben schauen. Wo Glaube, Liebe, Loffnung sich durchdringen. Da wird ein Werk auch gute Früchte bringen.

Der zweite Vers war alsDuett fürAnna und Marie eingelegt, und Annas liebliche Stimme kam in den hohen Tönen so recht zur Geltung, sowie auch Mariens Kraft in den Mitteltönen. Die liebe, gute Anna sah so jung, so mädchenhaft bescheiden aus, wie sie mit Marie vortrat, um das Solo vorzutragen. Beide hatten weiße Blusen an und Anna einig« gelbe Blumen im Laar; Marie hatte sich aber, wie immer, gegen jeden andern Puh als ein einfaches Netz verwahrt I Jetzt erst, nachdem die letzten Töne verklungen, und wir die Glück­ wünsche unserer Freunde entgegengenommen, fühlte ich mich ganz eingesenkt in den Boden, der mich nun tragen soll, bis ich eins mit ihm werde. Die Einweihung war Mariens und meine Lochzeit; lange verlobt mit der Idee, waren wir ihr nun vermählt und wir beide unzertrennlich durch sie. Damit will ich nicht sagen, daß einer meiner Geschwister dabei aus­ geschlossen sei aus der innigen Gemeinschaft des Geistes, o nein, aber die

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andern haben alle noch besondere Wünsche, die, wenn sie sich auch immer im Grunde mit unserm Sein und Wesen zusammen halten, ihre eigenen

Blüten doch treiben. Karl dachte an diesem Tage mit besonderer Liebe an sein Luischen; Albertine stand an Amsincks Seite, der sie nun bald weit hinwegführt. Adolfs Seele strebt nach dem sonnigen Italien und Erich nach Amerika, wo er Schätze sammeln will. Ledwigs Jugend läßt

noch keinen bestimmten Blick in die Zukunft tun, und Anna war das schöne Vorrecht gegönnt, di« treue Stühe alternder Eltern zu sein.Marie

und ich aber, wir gehören ganz unserer Idee und durch sie einander; wir

haben immer ganz besondersaneinander gehalten in ihr, und so ver­ schieden wir auch sind, so sind wir doch — eins. Noch einmal ist es mir,

indem ich dieses schreibe, als müßte ich ihre Land, die Lände aller meiner Lieben fassen und so aus vollem Lerzen das Amen I Amen! des Vaters zu seinen Worten wiederholen. Ja ich fühle mich am Ziele, nicht als an

einem, welches Stillstand bringt, nein nur an dem, das ich lange gesucht, und das mich nun, ich hoffe es, zu Gott gerades Weges führen wird. Nach langem Suchen, nach vielen Plänen haben wir einen Anhalte­

punkt gefunden, und auch im Innern der Seele hat ein Schwanken auf-

gehört; eine bewegte, oft schmerzlich betrübte Jugend liegt hinter mir, und ein geistig gesundes Leben des gereiften Weibes hat begonnen. Das Streben, welches wir nun unablässig verfolgen werden, ist, daß die Frau

immer mehr Teilnehmerin werde an den geistigen Gütern der Mensch­

heit, daß sie sie tätig, mehr weiblich verwende als Erzieherin der knospen­

den Menschheit. Wir werden noch vielfach mißverstanden, es sind doch wenige, die so lange bei uns bleiben, daß wir ihnen alles geben können, was wir für sie auf dem Lerzen haben. Es ist wohl Gebrauch, Mode, die Mädchen den Laushalt üben zu lehren, aber, daß sie auf den Beruf der Erziehung sich vorbereiten sollen, der wohl nicht leichter ist als der des

LaushaltS, das klingt noch fremd, dem widerstreben die alten Gewohn­ heiten. Es wird noch als Überspanntheit angesehen, wenn man auch an das bemittelte Mädchen die Anforderung stellt, außer dem Lause eine nützliche Tätigkeit zu suchen, wenn das eigeneLaus, das immer dasVor-

recht besitzt, ihm keine solche bietet; es hat sich die Wahrheit noch nicht Bahn gebrochen, daß auch das Weib nur durch Arbeit zu seiner vollen

Menschenwürde gelangt. Dabei fehlt es in den Bewahranstalten an wirklichen Erzieherinnen, und es können alle traurigen Erfahrungen von

unglücklichen Ehen und schlechter Kinderzucht auch die Menschen noch

nicht belehren, daß das Weib sich nicht besser auf seinen eigenen Lerd

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Kapitel 15:

vorbereiten kann, als durch Arbeit in der Erziehung. Di« Armen und die Anglücklichen unseres Geschlechts — sie gehen meist voran auf dem Wege, dem einst andere folgen werden. Wie verstehe ich jetzt Jesus ganz anders als früher, wenn er sagt: „Es ist leichter, daß ein Kamel durchs Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Himmelreich komme." So wollen wir Geschwister nicht müde werden, festzuhallen an unserer Idee der Frauenerhebung im innersten Wesen; wir habe« es vielleicht nur mit Vorarbeiten zu tun, andern bleibt die Vollendung, aber was macht das aus! Streuen wir den Samen, beackern wir daS Feld, denn Sonnenschein und Regen gibt Gott. Man muß, wie die Natur, immer das Leben bieten aber niemandem aufdrängen; nehme jeder so viel von unsern Ideen, unserm Streben, wie er wolle. Je un­ entwickelter man selbst ist, desto heftiger, ungeduldiger verlangt man von andern; dieses hat seinen Grund darin, daß man selbst noch im Schwan­ ken begriffen, und daß man deshalb in dem Beifall anderer die Be­ stätigung dessen sucht, was uns bewegt, was aber noch nicht in uns durch­ geklärt, noch nicht ganz unser eigen ist. Wenn letzteres geschieht, dann tritt eine Ruhe in uns ein, die auch andern Ruhe läßt und der Ent­ wicklung nicht ungeduldig vorgreift; man sieht weiter als den Augenblick. Nach der eigentlichen Einweihungsfeier und den Glückwünschen und kurzen Plaudereien mußte ich mich mit denen entfernen, welche in den lebenden Bildern mitwirkten, weil die Herren meine Hilfe bei den Ko­ stümen inRat nehmen wollten, bei dessen Anordnung ich Hand anlegen mußte. So überließ ich denn Marien die Gesellschaft in der Turnhalle, wo sich allen ein schöner, musikalischer Genuß bot, indem Mariens Pia­ nino dahin geschafft wurde und Herr Karl Richter und Selmar Müller die Zuhörer entzückten mit ihrem schönen Spiel. Beide Instrumente waren zusammen gestimmt, und es soll wundervoll gewesen sein, was die Herren vortrugen, und ich hörte nur hier und da einen Klang, der mich allerdings hätte verlocken können, meine Mädchen zu verlassen, was ich aber doch nicht tat. Marie und Anna sangen noch ein Duett von Richter: „Feldeinwärts flog ein Vögelein", welches der Komponist selbst begleitete, sowie Anna Herrn Müllers Frühlingslied: „Wenn der Frühling auf die Berge steigt" sang, auch vom Komponisten begleitet; beiden Herren, welche so sehr zur Verherrlichung unseres Festes beigetragen, wurde dadurch eine Aufmerksamkeit von den Schwestern erwiesen, indem sie sorglich die Komponisten als wahre Künstler der Gesellschaft vorführten.

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Anterdes ging es hinter den Kulissen geschäftig her, und noch während des letzten LiedeS von Anna, daS der geschäftige Theaterhelfer ganz überhört, erschallte die Klingel, die die Gäste hinaustief. Als alle ein Plätzchen gefunden, trat Karl vor die Bühne, die ihre Schätze durch einen Vorhang noch still verbarg und sprach den Prolog (Der Prolog war gewissermaßen ein Programm und ein Inhalts­ verzeichnis der einzelnen lebenden Bilder. Diese stellten verschiedene Seiten des deutschen Frauenlebens dar durch erläuternde Verse ein­ geleitet und von Karl Breymann gesprochen. Zuletzt traten die ver­ schiedenen Kauptrichtungen in einem Schlußbilde zusammen. Der Vor­ hang fiel zum Schluß, und Henriette sprach noch einige Worte des Dankes an Eltern und versammelte Freunde. Dann fährt sie in ihrem Briefe fort:) So sprach ich, die Tritte herunterschreitend, die von der Bühne in die Gesellschaftsräume führten und mich den Eltern und unserm lie­ ben, hilfreichen Freunde $>. nähernd. Ich winkte den drei jungen Mäd­ chen, die noch auf der Bühne standen, nahm der mittelsten ein Album berühmter Musiker, auf dem ein Lorbeerkranz lag, ab, setzte diesen auf das Haupt des lieben alten Herrn und suchte aus den Blumenkörbchen, welche die beiden andern trugen, die schönsten, vollsten Sträuße, um sie Vater und Mutter zu reichen. Die drei Jungfrauen wanden eine Gir­ lande um die Eltern und Herrn S>. und verteilten dann duftige Blumen an die übrigen Gäste, indem hinter der Szene ein „Hoch" im Dreiklang erscholl. Dieses jubelnde „Hoch" und eine heitere Musik von einem Quar­ tett, das wir bestellt und unten zu spielen anfing, flihrte uns bald hinüber in das Reich harmloser, herzlicher Heiterkeit. „Zu Tisch I zu Tisch 1" hieß es, und die Paare setzten sich in Vewegung. Anten angelangt, gab es zuerst eine kleine Verwirrung. Der Lohndiener V. hatte es für unmöglich gehalten, unserer Vorschrift ge­ mäß ein Büffet zu errichten, von dem sich jeder nach Belieben holen konnte, weil dies „noch nie in Wolfenbüttel dagewesen"; ich wurde be­ straft, daß ich nicht nachgesehen, ob meine Anordnungen ausgeführt waren, der gute Mann hatte nach seiner Weise für jeden einzelnen gedeckt und so war für einen Augenblick eine kleine tischlose Herde da I Aber alle Kerzen schienen so nachsichtig, die Sache löst« sich in Spaß auf und arrangierte sich prächtig, doch ich ärgerte mich «in wenig. Als ich dem Herrn V. Vorwürfe machte, erwiderte er mir: „Beruhigen Sie sich doch, das kommt in Wolfenbüttel immer vor, das ist bei großen Gesellschaften L y s ch I n »k a, Henriette Stfimbft I.

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Kapitel 15:

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doch nicht anders 1" Latte er uns doch von dem Schrecklichen errettet,

etwas getan zu haben, was in Wolfenbüttel keine Mode sei I Sprudelnder Frohsinn herrschte, Toaste wurden ausgebracht, Wanderungen von Tisch zu Tisch angestellt, Lieder gesungen, und als es hieß: Onkel und Tante von Alt-Watzum sollen leben! da waren alle

Gäste, Neffen, Nichten bereit, und Umarmungen und Küsse wurden Onkel und Tante zuteil ! Wie geschäftig und lebendig war das liebe

Väterchen, wie still lächelnd ging die Mutter von Kreis zu Kreis, von

jedem begehrt und gewünscht; wie studententoll war Erich, wie so innig vergnügt Adolf, wie sorgend und hausväterlich Karl, wie liebenswürdig

alle unsere Gäste! Ja, hoch sollen sie leben, hoch sollen sie leben, hoch, hoch, hoch!

Nun zog die Polonaise die fröhliche Gesellschaft in die Turnhalle, die als Tanzsaal jetzt diente, und hier sei Lerrn Lartzers Schmach ver-

zeichnet in der Chronik der Pension: er, der bei uns acht Tage Gast»

freundschaft genossen, er engagierte mich nicht, sorgte nicht einmal, daß

ich, die Lerrin des Laufes engagiert wurde; ich tanze di« Polonaise so gern und, Kinder — ich blieb sitzen! Ich hatte noch viel Spaß darüber

mit dem kleinen Freunde. Und nun denkt Euch den Vater mit Frau Seele denReigen anführen, und wie dieses zu Ende war, Galopp, Schot­

tisch, Walzer usw., eine Menge Zuschauer, die durch die hohen Fenster

der Turnhalle sahen, ja, sogar Leitern ansetzten, um den Nachbar zu

übersteigen und von denen manch köstliche Bemerkung uns später zu Ohren kam. Denkt Euch das Abschiednehmen von 12 bis 1 und 2 Uhr und noch einmal ein gemütliches Plauderstündchen der Geschwister vor dem Schlafengehen, als nach der rauschenden Fröhlichkeit tiefe Ruhe «inttat — und Ihr habt den Schluß unseres Festes! Lenriette Breymann an Frau M. Köckert, Genf. Neu-Watzum, 28. Juni 1865. . ... ich war noch nie so friedvoll und ruhig als jetzt, aber wenn wir unS aussprechen und die Tiefen des Lerzens aufdecken, so öffnen wir

leicht den Weg und das Tor zu dem innern Leben anderer, in welchen selbst den besten Freund einzuführen, wir doch am Ende kein Recht

haben; zumal wenn man nicht durch das lebendige Wort jenem seine

Starrheit, Ecken und Schärfen nehmen kann. In mir liegt ein großer Lang zur Mitteilung Personen gegenüber, di« ich liebe, und denen ich verttaue; mir erscheint dies als eine Schwäche, und ich hege immer Be»

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Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

wunderung vor kalten, verschlossenen Naturen, die sich selbst genug sind. And doch, wie starr würde die Welt sein, wenn nicht die Wellen der Ge­

fühle und Gedanken von Seele zu Seele strömten I Wo unsere Stärken liegen, da liegen unsere Schwächen. Meine Lebensaufgabe ist zu lehren, zu erläutern, zu erklären; ich bin zur Mitteilung von Gott berufen — das weiß ich — vielleicht überschreitet man leicht das edle Maß, was der

Schönheit ihre Linien gibt im äußeren und inneren Leben. Ost beengen mich die Schranken, die ein ernster Wille meinem eigenen Willen setzt.

Ich möchte einmal grenzenlos lieben und sagen, waS die Seele im Tief­ sten bewegt. Ich habe einen Lang zum Gewaltsamen, das so mit Macht

aus dem Innern bricht und es ist ost, als fühlte ich mich in Fesseln; so bedurfte ich früher eines lebhaften Zankes, wo alle Wellen des Zornes

in-Brausen gerieten; nie war mir wohler als nachher; jetzt ist eS mehr

ausgeglichen. Aber wohl wird mir, wenn ich die giganttschenFormationen Ihrer Berge sehe, wenn ich die 9. Symphonie Beethovens von doppeltem Orchester dahinrauschen höre, und wenn die Wogen des Meeres mir mit Donner entgegenspritzen; ach, wie füll wird es dann in mir, wie ein Kind, das am Busen seiner Mutter ruht Lenriette Breymann an Frau M. Köckert, Genf.

Neu-Watzuny November 1865. . ... bei Gott, es gibt keine heiligere Aufgabe, als Menschen zu erziehen, d. h. den Boden der Familie heiligen .... Unsere Mutter

hat oft — ein Kind an der Land, eins auf dem Arme, eins unter dem Lerzen — die mühsamsten Geschäfte des Laufes überwacht und selbst geleitet. O, sie hat unS tausendmal geboren 1 Meine Mutter ist mein Engel.

Das einzige, um daS ich Menschen beneide, ist, geliebt zu werden, wie

wir unsere Mutter lieben — eine solche Mutter zu sein. Indem ich schreibe, drängen Tränen ins Auge; wohl sag« ich mir, ich habe teil an

manchem Kinde, aber ich habe kein Kind, ich habe keinen Konzenttationspuntt meines ganzen WesenS, und ich habe nicht nur daS tiefste Verständnis, sondern das lebendigste Bedürfnis nach stillem Familien­

leben. Aber da gehe ich hin und gelte für kalt, für unpersönlich, für ab­ geschlossen in meinem Wesen, vielleicht, weil ich kein Aushängeschild vor

meinem Lerzen habe.... ich erkenne es dennoch dankbar an, daß ich nicht in die Che ttat mit einem der Menschen, die mein begehtten, eS wäre «in schreckliches Unheil daraus geworden. Nie hätte einer dieser

Menschen mich ganz verstanden, noch bezwungen, noch mir ein 93er-

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Kapitel 15:

ständnis eröffnet, wie es jetzt das Leben getan, und nach einer kurzen Be­ friedigung des LerzenS wären die Ansprüche der Intelligenz und der

Vernunft erwacht, um so gewaltiger loSgebrochen, und wohl selbst ein Kind hätte mich nicht retten können, mich und ihn zerstörend hätte ein«

unausgelebte Kraft in mir heilige Bande zerrissen und mit ihnen mein Leben selbst, was doch jetzt, wenn auch wohl verwundet, doch unzerstückt

geblieben ist Ich gehe nicht nach Frankfurt, um Fröbel zu predige»» . ... im Grunde ist mir das Predigeramt verhaßt; ich habe nur eine rechteFreude

an einem Kursus, wo mir die Schülerinnen persönlich ans Äerz wachsen.

Geld I Gew 1 Geld I und alles könnte ich schaffen, was mein Lerz ersehnte. Ich würde ein Laus hier in unserm großen Garten bauen, mit Marie

und den erwachsenen Schülerinnen dahin ziehen und ihnen so mehr per­ sönlich leben, wie ich es jetzt kann und rnich nur auf meinen Erziehungs­

kursus beschränken, aber hier natürlich mit dem Laufe in geistiger Ver­ bindung bleiben. Sagen Sie, was kann ein Mensch, der in folgenden Fächern unterrichten muß: Geschichte, Literatur, Metrik, Naturgeschichte, Lesen, Physiologie, Psychologie, Erziehungslehre, Beschäf­ tigungslehre, Aufsätze und dabei noch viele andere Geschäfte hat, tun? Was sollte daraus werden, wenn ich nicht schnell arbeiten könnte? And

Marie? Sie tut noch viel mehr als ich. Die Arbeit drängt mich nicht, aber das Vielerlei, und doch bezahlen wir viclGeld verhältnismäßig für

Lehrer. Sehen Sie, wir haben mit nichts angefangen, denn wir müssen meinem Vater alles verzinsen, was er in das Grundstück gesteckt. Wir

haben viel Zinsen zu zahlen und mußten uns auch fast die ganze Ein­ richtung selbst beschaffen. Meinem Vater koste»» seine beiden Söhne auch

noch viel Gew, und die Pfarrstelle ist nicht sehr einträglich. Ich bewun­

dere meine Eltern, wie sie es angefangen haben, acht Kinder mit so wenig Mitteln so zu erziehen, wie wir erzogen sind. Es ist mir eine süße Freude, daß die zehnjährige Arbeit am Institute in Wahu»n, das ja mit einer Pensionärin begonnen, dazu gedient hat, dem Ganzen zu helfen. Mein Vater hat das Kapital für die Söhne nicht «»»zugreifen brauchen, und eS hat uns manche Entbehrung erspart. Es hat mir Mittel verschafft,

mich in der Welt umzusehen, was mein Vater eigentlich nicht billigte.

Meines VaterS LöchsteS wäre, wenn ich in einem kurzen, leinenen Kleide ging« und nur ein Abendmahlskleid und ein Feierkleid zu Lochzeiten

usw. hätte, und so Sümmchen bei Sümmchen sparte. Aber ich lege meiner

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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Natur schon genug Zwang auf; ich möchte alles wohl einfach, aber schön haben; ich hänge sehr am Weltlichen, und ich leide oft darunter, mir dieses und jenes nicht kaufen zu können, es will das nicht aus meiner Natur. Daß ich Geld fiirReisen ausgegeben, bereue ich nie, es hat mir mehr genützt als tausend Taler. Ich möchte nur einmal so einen tie,en Atemzug tun in bezug auf volle Freiheit in der Verwendung der Mittel,

ich denke es mir zu schön, reich zu sein l .... Henriette Breymann an Frau M. Köckert, Genf.

Neu-Watzum, 27.November 1865. .... Sehen Sie, das ist, was mich an mein Vaterland fesselt, die Freiheit des Geistes, die Würdigung des höheren Menschlichen, in keinem Lande kommen sie so zur Geltung wie in Deutschland. Was helfen mir die Gleichheit vor dem Gesetze, die Redefreiheit usw., wenn die ein­ fachen Menschenrecht« noch unterliegen, die Rechte, die gerade im ge­ selligen Leben den Menschen zum Menschen, nicht zum Staatsbürger machen .... Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich oft empfinde, wenn ich Briefe aus Genf bekomme wegen Kinderpflegerinnen, iostitutricos. Wwklich, man will nur ein gutes Möbel, was die Besseren recht gut sauber halten, nicht gerade zerstoßen oder zerschlagen, was aber dennoch ein Möbel bleibt. Was hilft mir denn eine Republik? Eine Staatsform ist überhaupt ein viel unwesentlicheres Ding, als ich je gedacht Henriette Breymann an Frau M. Köckert, Genf.

Neu-Watzum, 4. Februar 1866. Meine teure Marie 1 Emma*) fordert mich auf. Ihnen einige Zeilen zu schreiben, und so will ich Ihnen „un petitbonjour" sagen, obgleich ich eigentlich nicht in der Stimmung bin, zu schreiben. E. wird mir alle Tage lieber, und ich fürchte mich vor der Trennung. Mein Herz ist wie ein heidnischer Tempel — klingt das nicht schrecklich — viele bewegen sich im Vorhof, geschie­ den von der Masse, wenige dringen ins Innerste. E. steht darin, und so liebe ich sie ganz, liebe ihre leibliche Person, ihre Stimme, ihre Bewegungen, kurz, ihr alles, und, wenn sie nun fort sein wird, so fehlt mir das alles und so leide ich darunter, so ist etwys losgerissen von meinem eige­ nen Wesen, mit dem das des andern so innig verbunden war. And wenn

*) Emma Hohenemser, spätere Frau marchesa Guenieri.

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Kapitel 15:

sie gar nach Italien zieht, dann wird es auS sein mit dem persönlichen Verkehr, und der geistige — der bleibt uns, aber das wohltuende Per,

sönliche schwindet immer mehr durch die Entfernung, das schöne Farben­ spiel der Empfindung erbleicht, die Wärme wird latent, die sanken der Liebe, die sich so zauberisch in unser Lerz schlingen, sie fallen, wie im

Lerbste und es wird Winter im Leben des Geiste- — Winter, der im

Grunde alles Leben in sich trägt, aber, dem das Blühen, Grünen und wunderbare Schwellen fehlt, weil die Sonne des Persönlichen nicht mehr

scheint. O, wie wunderbar ruft ein Blick, ein Ländedruck, eine Stunde persönlichen Verkehrs eine Welt von Blüten wach, die füll in der Knospe liegen und nur des weckenden Strahles bedurften, um sich zu entfalten. ... ich habe so viel gelitten in Freundschaft und Liebe, daß

ich zu ewigem Eis erstarrt wäre, wenn ich nicht ein so wunderbar reiches

Leben mit meinen Geschwistern hätte. E. versteht jetzt diesen Edelstein meiner Schwester Marie immer mehr. Vor dieser Natur beuge ich mich

unbedingt; ich glaube, wäre sie nicht meine Schwester, sie wäre eine Frau, die ich leidenschaftlich lieben müßte, von der nicht geliebt zu sein, mir die

größten Schmerzen verursachen würde. Marie lebt so ganz und gar in

der Tat und dabei diese wunderbare Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Leiterkeit — so durch und durch gesund. Ich kann mir gar nicht denken, daß ein solches Lerz stillestehen und aufhören kann, zu lieben Lenriett« Breymann an Frau M. Köckert, Genf. Neu-Watzum, 28. Juni 1866. Eie haben recht, sich zu beklagen über mein langes Schweigen, aber,

meine Liebe, sehen Sie darin keinen Mangel an Freundschaft, es gibt Zeiten, wo man so garnicht aufgelegt ist zur Mitteilung. Zudem halte ich es für meine Pflicht, und es ist mir eine süße, meinen entfernten Ge­

schwistern, besonders meiner Schwester in Ostpreußen fleißig zu schrei-

ben. Sie bekommt eine Art Tagebuch von mir, und glauben Sie mir, es ist ihr ein Lebensbedürfnis; sie hat kein Wesen, welches ihr nah steht, außer ihrem Manne, und diesen rufen die Geschäft« oft tagelang fern vom Lause .... Wie mancher Tag geht dahin, an dem ich nicht zum

Schreiben an dies teure Schwesterherz komme; begreifen Sie wohl mein Schweigen? Nach Ostern, als manche neue Einrichtung hier im Lause, als der Kindergarten ins Leben tret, da war es mir, als hätte ich den Fuß in

«ine neue Welt gesetzt, so glücklich fühlte ich mich, so füll befriedigt . . . .

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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Aber die äußeren Wogen"), die hoch gehen und unsere äußere Existenz bedrohen, haben sich noch nicht gelegt. Ich hatte erst einen harten Kampf

in mir durchzumachen, bis ich mich an den Gedanken gewöhnte, daß unser schön aufblühendes Werk geknickt werden sollte, aber jetzt habe ich überwunden; merkwürdig ruhig sehe ich den kommenden Dingen ent­

gegen, und gerade das Trostlose aller öffentlichen Verhältnisse treibt mich zu einer treuen Pflichterfüllung deS Augenblicks, und wie nach außen

alles in Trümmer zu fallen droht, so richtet sich die Seele nur um so

kräftiger empor und gedenkt, Samen zu streuen für eine bessere Zukunft. Zuerst faßte ich den Plan, nach England zu gehen, um Geld zu verdienen, wenn die Zahl unserer Schülerinnen zu sehr zusammenschmelzen würde.

Karl und Luischen sollten nur das Grundstück hier zu halten suchen, wir Schwestern wollten ans der Ferne möglichst beisteuern, damit, wenn

alles wieder in der politischen Welt ins Gleis gekommen, wir ein unter­

brochenes Werk fortsetzen konnten. Seit einiger Zeit ist aber noch ein anderer Gedanke in meiner Seele

wach geworden. Es ist aus Ihrer Stadt eine so herrliche Idee gesprossen in bezug auf den internationalen Lilfsverein, eine schöne Blume, die das

lebendige Christentum treibt, und als hier viel darüber geschrieben und

gesprochen wurde, und wir selbst hier ein Komitee gebildet im Anschluß an daS Zentralkomitee, da ging mir derGedanke auf, ich wolleMen-

schenfteunde aller Länder aufrufen, um Mittel zu gewinnen, den Hilfsbedürftigen Frauen entgegenzukommen. Wir brauchen dazu gar nicht

so viel Geld, nur ein Kapital, das uns ermöglicht, Mädchen zu billigerem Preise zu nehmen als jetzt, und auch Freistellen zu gründen insofern, daß die Mädchen später, wenn sie selbst verdienen, eine Reihe von Jahren

von ihrem Gehalte an die Anstalt zurückzahlen. Obgleich alles bei uns schon recht einfach ist, so sollte (bei diesen Zöglingen) noch viel mehr vereinfacht werden, und wir würden uns selbst

dem unterwerfen; besonders muß an Dienstpersonal gespart werden. Sie glauben nicht, welch «in Bedürfnis nach guten Erzieherinnen sich geltend macht, und leider kann ich nicht dieÄälfte der Anfragen, die an

mich ergehen, befriedigen. Warum nicht? Die Mädchen zahlen hier 300 Taler, das können nur Bemittelte, den meisten dieser Eltern ist die päd­ agogische Bildung ihrer Töchter Nebensache und die, welche an meinem

*) Krieg mit Österreich; daS Königreich Lannover hatte sich gegen Preußen erklärt, wodurch der Kriegsschauplatz nicht weit von Braun­ schweig war.

280

Kapitel 15:

Lehrerinnen- und Erziehungsunterricht teilnehmen, suchen mit wenig

Ausnahmen keine Stellen. Wenn sie selbst auch Lust hätten, die Eltern

würden es nicht erlauben. Sie haben auch vollkommen recht, solange sie zu Lause irgendwo ein Feld der Wirksamkeit finden.

Jetzt aber werden viele Mädchen Heimat-, brotlos und beruflos werden, und eS wäre wohl der rechte Moment, denen die Land zu bieten.

Unterstützung an Geld müssen nur Kranke und zur Arbeit Unfähige

haben, andere muß man zur Tätigkeit vorbereiten und ihnen ein Feld

derselben bieten. So müssen verschiedene Läufer gegründet werden, in

denen Frauen arbeiten lernen, je nach Talent und Neigung, und diese Läufer müssen untereinander in Verbindung stehen. Das ist die Skizze einer Idee, die ich bitte, weiter auszuarbeiten. Vorerst könnte man sich

auf Erzieherinnen beschränken, weil es schwer sein würde, die paffenden

Persönlichkeiten für die Leitung zu finden. Ich glaube, daß in bezug auf

eine Anstalt zur Ausbildung von Erzieherinnen wir durch die Tätigkeit, welche hinter uns liegt, «ine Bürgschaft geben würden, daß wir erfolg­

reich die Sache in die Land nehmen könnten. Bis jetzt leben wir noch in der gewohntenWeise fort, kerne Schülerin

hat unS (des Krieges wegen) verlassen, so »arten wir der Dinge, die da kommen sollen. Wenn ich so still aus einem Tage in den andern lebe,

die heitere, blühende Schar der jungen Mädchen um mrch sehe, so denke ich oft, die Zerrissenheit des Volkes sei nur eine Geschichte auf dem Pa-

piere. Sie wünschen eine persönliche Auffassung der Dinge zu hören? Die ist eine rein negative. Ich will keine Lerrschast Österreichs im Nor-

den und wünsche die Einheit DeuffchlandS, vorerst in zwei Lälften geschieden; höher steht mir das ganze Deuffchland, aber es wird wohl un­

praktisch sein, das jetzt zu erstreben. Es ist jetzt keine Zeit zu klagen und zu fragen, ob wir nicht auf friedlichem Wege, durch andere Mittel zu einem schönen Ziele hätten kommen können, die traurige Tatsache ist da, daß wir mitten in der Umwälzung stecken, und somit ist die nächste Frage für

unS hier imNorden, wie wir am besten herauskommen, und- das ist mit

Preußens enffchiedenem Siege. Mit Bismarck zu rechten, kommt erst nachher. Lächerlich ist es aber, von größerem Rechte Österreichs Preußen gegenüber zu sprechen; beide Läufer sind alte Sünder, und was jetzt

zum Ausdruck

kommt,

hängt wahrlich nicht an Schleswig - Lol-

stein. Für ein moralisches, vor allen Dingen für ein Frauengemüt sind

die öffentlichen Zustände ttostlos, und mit rechter Freude kann man nichts erfassen in der jetzigen polttischen Welt, wenn es nicht Italiens

Auszüge ans Briefen usw. 1864—1868.

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Befreiung ist. Da allein wird der Seele eine Erquickung geboten, da kann sie voll und warm und rückhaltslos ihre Sympathien ausströmen lassen, aber sie wird auch vielleicht mit dem heldenmütigen Volke bluten müssen. Mir ahnt eS, als sollte Es. Glück auch dort begraben werden. Ich halte auch die Ehe fiir Es. Natur als daS geeignetste Mittel zur vollen (Ent­ faltung, und Carlo war für sie vielleicht der rechte Mann. Mich bezau­ berte seine Liebenswürdigkeit; seine Äerzensgüte, wie sie mir erschien, nötigte mir Sympathie ab; aber er ist durchaus nicht der Mann für mich. Ich gebrauchte einen Granit mit kühnen Formationen, wie die Schweiz in ihren Bergen das Bild dafür gibt .... Mit dem Mächtigen ist zu viel Rauheit und Eckigkeit verbunden, was Emma bei unsanfter Be­ rührung in sich selbst zurückgescheucht haben würde. Nun, wie dem auch sei, Emma wird gebeugt, aber nicht gebrochen werden; sie ist bei aller Lieblichkeit voller Kraft im Ertragen Was Sie mir von Ks. Kindergärtnerin sagen, ist nur eine Wieder­ holung von dem, was man mir schon oft gesagt; eS fehlt dort ganz das höhere, weibliche Element in der Anstalt. Wenn ich nur ganz auf die Erziehung Erwachsener meine Kräfte konzentrieren könnte. Aber das ist eben das Schlimme, daß unser Beruf uns bis jetzt und noch lange zugleich persönliche Eristenzmittel verschaffen muß, und daß die, welche zu ernster Arbeit sich vorbereiten möchten, kein Geld haben, und die, welche solches besitzen, an teilte ernste Arbeit denken mögen. Wie soll ich nur ganz zum Ziele kommen? Wir hatten so schöne Pläne für die Entwicklung unserer Bestre­ bungen hier im Erziehungsvereine, aber jetzt haben die Menschen dafür kein Interesse, nur, wenn man unsere erzieherischen Bestrebungen an­ knüpfen würde an politische Bewegungen, würde man damit durchdringen. Unsere Lokalitäten (int Schlosse) sind schön, die Einrichtung auch; ich bin erstaunt über die Freigebigkeit mancher Persönlichkeiten in unserem Erziehungsvereine, zu dessen Vorsitzenden man mich gemacht. Es gibt sehr, sehr tüchtige Persönlichkeiten darin, ein wahrer Schah ist Anna Vorwerk. Dabei ist sie eine wahre Künstlerin, sie spielt so schön Klavier und komponiert und dichtet hübsch; sie hat für die Kindergarten­ feier Gedichte und Kompositionen gemacht. Dabei arbeitet sie auch für Kindergarten und Schulklassen. Auch ein Dr. med. Schrader ist ein geistreicher, talentvoller Mann, der meine Bestrebungen mit Eifer auf­

gegriffen und unterstützt

Kapitel 15:

2 82

Lenriette Breymann an ihre Familie. Edinburg, Schottland. 22. September 1866.

Denkt Euch nur, ich darf den ganzen Tag im Bette bleiben, es ist

gerade so reizend, wie in Alt-Watzum, ich habe gebratene Fische, Eier, Tee usw. zum Frühstück gegessen, all« sind in der Kirche, und ich arbeite in himmlischer Ruhe. Erst habe ich an Albertine geschrieben, dann mich

auf meinen Vorttag vorbereitet- und nun will ich an meinem Berichte

von hier arbeiten, den ich dem Erziehungsvereine geben will. Die Verschiedenheit der britischen und deutschenNatur ist von vorn­ herein in der verschiedenen Anlage und in der größeren oder geringeren

Beweglichkeit der Fähigkeiten begründet. Es läßt sich nicht leugnen, daß der Erwerbstrieb hier im Durchschnitt größer ist als bei unS; denn von

der Genügsamkeit mancher Lehrer, mancher Erzieherin in Deutschland macht man sich keinen Begriff hier. Im niederen Volke zerstört wieder die Neigung zum Trünke die Wohlhabenheit, so erzeugt sie namenloses

Elend. Der Bauer fehlt hier ganz, doch würde es mich von meinem Ziele

führen, wollte ich hierauf näher eingehen. Was uns Deutschen nun be­ sonders von den Briten unterscheidet, ist die weit größere Beweglich, keit der höheren Geistesfähigkeiten, wie Idealität, Wohlwollen, Liebe,

aber auch daneben liegen unsere Schwächen der Rede- und Gefühlsseligkeit ohne nachhaltige Tat, wodurch wir, besonders auf dem Felde der Politik bis vor Bismarck zum Gespött« der Leute hier wurden. Den

Schotten sind wir, glaube ich, näher verwandt als den Engländern, und wir begehen einen argen Irrtum, wenn wir beide identifizieren. Schott­ land ist reich an Romantik und die wunderbar schöne, ernste Natur fesselt

mich. Lier muß der Mensch noch mit der Natur ringen, im Lochlande endet das Leben nach und nach in kahlen Bergen und nackten Felsen und

melancholischen Seen, die wie Tränen auf der gefurchten Wange ruhen. Der Mensch erttägt dort seine Armut so ernst und würdig, wie seine Gebirge ausschauen .... Im ganzen sind die Menschen nicht

besser und nicht schlechter als bei Uns, ihre Fehler sind andere, aber nicht

weniger und die Schäden des ganzen Volkslebens liegen vielleicht nach anderer Seite da als bei uns; aber da sind sie, trotz der gepriesenen Freiheit und Lerrlichkeit des Gesetzes. And doch möchte ich lieber in einem Lande mit hiesigen politischen Zuständen leben, als mit den unsrigen;

denn hier ist Raum gelassen für die volle Entfaltung eines Charakters

und der Tatkraft, während in Deutschland letztere sich vielfach im Entsagen stark zeigen muß.

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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Ich habe mich um die Gesetze in bezug auf die Volksschulen meist bekümmert und muß gestehen, ich möchte hier nicht von der Schulmeisterei leben; aber unabhängig zu sein und hier zu schulmeistern, wäre das

Schönste, was ich mir denken könnte. Wie sie hier eine angeborene Ehrfurcht vor der unmittelbaren Offenbarung Gottes in der Bibel haben

und sich darunter beugen, während der Deutsche kühn mit Wissenschaft und Gedanken daran hinaustlettert, so ist in uns eine eingefleischte Ehrfurcht vor derRegierung, und weil der Lehrer auch ein von oben Ein­

gesetzter ist und von oben her unterstützt wird, so ist es wirklich seine Schuld, wenn er sich nicht in Respekt setzen und voll« Gewalt über seine Zöglinge erlangen kann. Lier ist die Schule mehr ein Laden, in dem

man kauft zu jeder beliebigen Stunde, und wo jeder verkaufen und be­ trügen kann den, welcher sich betrügen läßt, und wo man den Lehrer be­

trachtet wie einen Verkäufer. And weil Gewerbefreiheit und Schulfreiheit herrscht, so muß man Marktschreierei und Anpreisungen haben,

und der Verkaufende ist natürlich der Gefällige, und die Kaufenden be­ tragen sich je nach Laune oder Bildung, wie in jedem Laden hochfahrend

»der höflich. Manche Ausnahmen finden statt, doch Ausnahmen geben nicht den Stempel des Volkes. Jeder, der bezahlen kann, ist ein freier

Mensch, und das fühlt jedes Kind, und wie ich es immer dumm gefunden habe, wenn ein Kaufmann oder Handwerker sich bedankt, wenn er sein wohlverdientes Geld bekommt, ja, selbst wenn er lange schmerzlich da­

rauf gewartet, so empört es mich, wenn ich fühle, daß das Wort: „very much obliged" in der Luft eines Schulzimmers schwebt in bezug auf

Lehrer und Eltern der Kinder. Kann man denn Heiligeres geben als seine Liebe und sein inneres Leben — beides verlange ich vom Erzieher— aber wo ich an Eltern Statt stehe, da verlange ich auch Elternrechte, und ein Kind ist eben ein Kind, aber kein freier Staatsbürger. Ich wollte lieber betteln gehen, als demütig meinen Geist verkaufen; Erziehung läßt

sich nie bezahlen, und ich fühle mich dafür nie bezahlt; aber sie läßt sich belohnen, und das habe ich ost empfunden in der Liebe meiner Kinder. Später. Meine Vorlesung heute morgen ist gut abgelaufen, eine der Damen hat mich auf heute abend zum Tee eingeladen; ich glaube, nun ist jede Stunde besetzt in dieser Woche. Mary schreibt immer ein

Register von allen Verabredungen, und ich fühle jetzt mein Herz frei und leicht, weil ich doch immer sicherer werde, daß mein Aufenthalt hier nütz­

lich ist.

Ich will nun weiter fortfahren mit meinen Beobachtungen.

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Kapitel 15: Trotz all der Freiheit der Gesetze, trotz all dem Beten und Bibel­

lesen und Kirchengehen ist hier eine weit strengere Kluft zwischen den Schichten der Gesellschaft als bei uns, glaube ich. Zwar sind wir lange

keine Christen in dieser Beziehung, so daß wir den Menschen immer nach seinem inneren Verdienste schätzten, auch wir lassen uns noch viel zu viel

von Stand und Stellung und Geld beherrschen; aber wir sind doch der Gesellschaft in all den Ländern, die ich kenne — Belgien, Paris, die

Schweiz, Britannien —, voran in der wahren Menschlichkeit. Das ist ein Hauptpunkt, weshalb ich Deutschland stets über alles lieben werde; in ihm findet sich eben das rein Menschliche am meisten ausgeprägt. Es ist

«in Punkt, der mir viel zu denken gibt, woher es kommt, daß bei bürgerlicher Freiheit und Achtung vor der Kirche und überhaupt bei dem streng religiösen Leben diese Kluft der Stände sich bilden konnte. Lat der Brite

viel mehr nationales Selbstgefühl als der Deutsche^ so haben wir un­ streitig mehr persönliches im geselligen Leben. Lier respektiert der Bürgerliche unbedingt den Adligen, der Diener den Lerrn durchweg, und es ist viel weniger di« Person, welche diesen Respekt einflößt, als der Stand;

das ist um so mehr eine eigentümliche Erscheinung, als vor dem Gesetze sich jeder dem andern in stolzer Unabhängigkeit gleich fühlt; was dieses ebnet,

trennt sofort die Gesellschaft. Am schroffsten tritt nun diese Trennung

der Stände zwischen der höheren Mittelklasse und dem Erwerbstteiben-

den hervor. Nie würde ein Jurist oder Arzt oder Prediger mit einem Kaufmann umgehen, der einen Laden hat; er ist hier kein Kaufmann,

sondern ein shopkeeper, unb diese sind wieder von der übrigen arbeitenten Klass« unvereinbar getrennt. Der höhere Bürgerliche und Adlige

nähern sich oft durch Verwandtschaften, indem der Adel aus diesem

Teile der Gesellschaft sich erneut und seine jüngeren Söhne an denselben zurückgibt; aber schon in der Familie selbst ist Trennung durch die großen Rechte der Erstgeburt. Je höher der Rang, je größer der Besitz,

desto entschiedener hebt sich der Erstgeborene vor seinen jüngern Ge­

schwistern empor. Er ist ein ganz anderer in der Gesellschaft als sie — und ein jüngerer Sohn, den heute niemand beachtete, ist morgen der Gebietende, wenn der Tod ihm den Weg ebnet, die höhere Stufe zu ersteigen. Die Trennung, welche zwischen der Großkaufmannswelt, Studierten und den kleineren Landeltreibenden und Gewerblichen besteht, hat nun in dem großen Unterschiede der Bildungsgrade seinen Grund. Das

Anterrichtswesen ist eben ein ganz anderes wie in Deutschland, und die Elemente, aus denen das Volk zusammengesetzt ist, ebenfalls, wie ich das

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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schon angedeutet habe .... Es existiert kein Schulzwang*), auch nicht einmal Ordnungs-wang für die, welche in die Schule kommen! . . . . Die Aufgabe der Lehrer ist in allen Schichten eine ungemein schwere; aber die Volksschullehrer genießen auch wieder gleich andern Lehrern die größte Freiheit, sie können den Stoff des Unterrichtes, die Bücher, die Methode selbst wählen, sie sind von nichts abhängig als von der Mei­ nung des Volkes. Wie die Volksschulen zu der Regierung stehen und wie ihr augenblicklicher Stand ist, werdet Ihr aus beiliegendem Manu­ skripte ersehen, was Dr. Woodford, Reg.-Generalinspektor der Volks­ schulen in Schottland, so gütig für mich geschrieben hat . Ich bin hier im Kaufe auf dem schönsten Punkte der Gemütlichkeit angelangt; ich bin nicht mehr immer höflich und liebenswürdig, sondern zuweilen irritiert und recht eklig, und nun fühle ich mich so ganz zu Kaufe. Mit dem Doktor Lyschinsti necke ich mich viel, er hat es aber hinter den Ohren, ich will Euch mündlich davon erzählen. Mary zieht mich an und aus und räumt meine Sachen auf und ist in jeder Beziehung und im schönsten Sinne des Wortes meine treue Begleiterin. Ich liebe das Mädchen so unendlich, und sie liebt uns über alles. Ihr Schönstes ist abends, wenn sie ihre Liebesdienste vollbracht, sich vor mein Bett zu knien, die Lichter auszulöschen und nun mit mirDeutsch zu sprechen. Da kommen Tiefen zutage, die ich kaum so gekannt, und oft küßt sie mir die Künde und zeigt mir eine zärtliche Seite, die meist verschlossen in ihr liegt. Kenriette Breymann an ihre Familie.

Ralston bei Glasgow. 14. Oktober 1866.

Kier im Kaufe eines enorm reichen Kandelsherrn von Glasgow von fürstlicher Pracht umgeben, bin ich seit gestern mit Dr. und Mrs. L. angekommen, und wir bleiben bis morgen. D»e Leute bestimmen hier Zeit und Stunde der Ankunft und Abreise, was höchst angenehm ist. Die Leute sind außerordentlich freundlich und behandeln mich ganz, wie es sich gehört; der Kausherr führte mich zu Tische usw. Ich hatte vorher so viel von ihrem Stolze gehört und ging eigentlich nur hierher MrS. L. zu Gefallen und auch, um mir ein solches Leben anzusehen; aber ich fühle mich nur angenehm berührt von ihrem Benehmen, viel­ leicht verdanke ich es der langen Schleppe im schwarzseidenen Kleide 1

*) Seit 1870 für Schottland, feit 1872 für England besteht ein Schul­ zwang für den Besuch der Volksschulen.

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Kapitel 15:

Ich schwänzele mit ihr höchst wohlgefällig vor dem prachtvollen Spiegel in meinem Schlafzimmer herum, der unter einem Kronleuchter von Gaslampen, zwischen zwei kleinen Toilettenschränken beweglich hängt, und ich bedauerte noch einmal, keine vornehme Dame zu sein, weil ich mich wirklich gut als solche ausnehme; meine Glieder sind gemacht, um hübsch behängt zu werden, vielleicht ist das wenig schmeichelhaft für mich selbst, um so ttauriger, da ich nicht Geld genug habe, die hübschen Lap­ pen zu besorgen .... Lier sind alle gerade wie Modebilder, aber wirklich im modernen Sinne hübsch. Ich dachte immer an Frau Leepe*) und wünschte, sie hätte den Schnitt der Kleider sehen können; es ist doch etwas Lübsches um solche Pariser Eleganz, ich habe Auge, Sinn und Geschmack dafür. Mrs. Richardson, die Dame des Laufes, fühtte mich auf Mrs. L.s Bitte überall umher, Ihr könnt Euch einen Begriff vom Stile des Ganzen machen, wenn ich Euch sage, daß das Zimmer der Kammerjungfer beinah so hübsch ist wie meins bei L.s in Edinburg; daß die Dienstboten ihr Badezimmer haben; das tägliche Gesellschafts­ zimmer gleicht im kleineren Maßstabe dem weißen Saal im Berliner Schlosse. Einzelheiten zu beschreiben, behalte ich mir vor bis auf münd­ liche Llnterhaltung. Mich gelüstet eS nicht nach den Marmorkaminen, die direkt aus Carrara kommen, nicht nach all den kostbaren Gefäßen, vergoldeten Möbeln mit Seide und Sammet überzogen; aber was, ach, waS ich haben möchte, sind diese wundervoll praktischen Einrichtungen, um ein Laus ordentlich und rein zu erhalten! Viel nun habe ich gesehen und darunter eine Jdealmilchstube und einen Idealpferdestall auf der Farm, die an einem Ende des Parkes liegt. Wäre es nicht ent­ zückend, wenn ich einmal so ohne Sorge um den Kostenpunkt solche wirtschaftlichen Einrichtungen machen könnte?

Obgleich hier alles höchst geschmackvoll ist, so wäre es doch nicht mein Modell; bei mir müßte es nicht so neu und gekauft auSsthen, son­ dern ererbt und dunkler und pittoresker. Ich habe zwei Zimmer, ein Schlaf- und Ankleidezimmer und wie schön l Die großen Fensterscheiben durchschneiden kaum mit den störenden senk- und wagerechten Linien die Aussicht auf die grünen Bäume des Parkes und die ernsten Berge des Lochlandes, welche den Lorizont begrenzen *) Eine ganz geniale Frau, Schneiderin von Beruf in Braunschweig, welche nach Lenriettens Angaben viele der Theaterkostüme für Aufführungen, lebende Bilder mit großem Geschmack herstellte.

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Lenriette Breymann an ihre Familie. Edinburg. 15. Oktober 1866.

Nun sind wir wieder hier und ich fand Eure lieben Briefe von Alt-Watzum Ich glaube nicht, daß ich nach London gehe, obgleich hier alle außer sich sein werden, wenn ich die schöne, mir gebotene Gelegenheit nicht benutze; aber seit heute, wo die Schule wieder angeht, bin ich ganz un­ ruhig in meiner Seele, es quält mich, daß Ihr die Arbeit des Anfangs allein habt. Ich quäle mich zwar hier mehr als in Neu-Watzum, d. h. ich besuche, sehe, höre, spreche vom Morgen bis Abend, meine Mund­ muskeln tun ordentlich weh vom Englischsprechen, was mir ost höchst unbequem ist, und ich würde sehr gerne dafiir einen Schultag bei uns aufnehmen, aber ich werde mit aller Macht festgehalten. Denkt Euch nur, R.s haben zu L.s davon gesprochen, zwei von ihren Töchtern zu uns zu schicken; ich glaube, ich muß auf sie einen guten Eindruck gemacht haben. Als Mrs.R. den Kostenpunkt berührte, hat Dr. L. alles mögliche getan, um den billigen Preis zu entschuldigen, aber ich glaube, Leute wie sie, werden nie .ihre Kinder in eine so billige Pension schicken.*) Ich weiß jetzt genau, wie man es machen muß, einen Wagen voll Britinnen zu holen, es ist so ungefähr wie ein Wein­ reisender. Die Leute würden gern meine Schleppkleider und meine Kutsche bezahlen. Ich glaube, wenn ich zu der reichen Dame gesagt hätte, ich wäre bereit, für ihre Kinder eine etwas andere Einrichtung (luxuriöser) zu machen, dafür müßte sie hundert Pfund für jedes Kind bezahlen, daß ihr das sehr willkommen gewesen wäre Als sie Fragen über unsere Einrichtungen tat, sprach ich einfach über unsere Grundsätze der Einfachheit und der Selbstbetätigung; hätte einer von Euch was anderes getan in meiner Stelle? Glaubt nur, Kinder, sehr wenig Leute legen Wert auf das, was uns das Wertvollste in der Erziehung ist.... . Wollen wir pinseln und abrichten mit Französisch und Englisch plappern. Vorklimpern und Zirpen, Schwänzeln und Charmieren ? Ich sage Euch, es bringt Euch mehr Geld ein als unsere Arbeit; wir könnten es viel bequemer haben und dabei reicher werden. *) Die Kinder sind doch geschickt und glücklich in Neu-Watzum ge­ wesen.

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Kapitel 15:

Oder wollen wir an den Ecken stehen und beten? Auch die Religion oder das, was sie so nennen, hat seine einträgliche Seite. Ich suche nun Menschen für unsere Ideen zu gewinne»» oder vielmehr, ich biete keine Ware aus, sondern nehme die Sache ernst, wie sie ist und suche zu hören, zu sehen und zu lernen von Mensche»» u»»d An­ stalten, was ich kann, und ich glaube, ich handle in Eurem Sinne. Ich fand hier einen sehr freundlichen Brief von Dr. Woodford vor, in dem er mir sagt, daß er morgen Examen halte und mich fragt, wann er mich abholen oder mir seinen Wagen schicken sollte.... Glasgow hat einen prachtvollen Dom, besonders merkwürdig ist die Krypta

Lenriette Breymann an ihre Familie. Edinburg. Gegen Ende Oktober 1866. Meine Lieben — Ihr werdet meinen Brief durch Margot oder Emmy Amsinck erhalten. Ich habe Euch viel, viel zu erzählen, doch das will ich bis auf n»ündliche Plauderei aufsparen. Miß Blyth, Vorsteherin von der „Women’s Employment Society" hier interessiert sich für de>» Erziehungsverein und will als korrespondierendesMitglied in denselben eintreten. Es ist hier wieder wie in Genf, die Leute fangen an, sich für unsere Ideen zu interessieren, und es weben sich viele Fäden, di« ich so gerne weiterspinnen und festhalten möchte — da muß ich fort. Ich paffe zu den Leuten hier, glaube ich And wie wunderbar, es offen­ baren mir so manche im Leben daS Dunkel ihrer Seele. Ich tat heute einen tiefen Blick in ein trübes Lerz, das Zutrauen zu dem meinen gefaßt und wohl von einer Schuld der Jugend gedrückt wird: „Wenn ich daS tue, was die Menschen Gutes nennen, und ich glaube auch, daß es so ist" — sagte die Persönlichkeit —, „so ist es mir immer, als ob das ein Mensch außerhalb meines Wesens täte, und als ob mein wer­ den dunkeln Hintergrund dazu bildete. Ich fühle mich dann verloren in der furchtbaren Zerrüttung meines Bewußtseins!" Ich faßte un­ willkürlich ihre Lände und betete: „Vater, vergib uns unsere Schuld, als wir vergeben unsern Schuldigern. Du hast zwar viel gesündigt, aber auch viel geliebt; gehe hin und sündige nicht mehr", spricht der treue Freund aller Menschen And ein gequältes Lerz, das mit sich selbst nicht zurechtkommen kann, das habe vorerst mit sich selbst Geduld und lasse sich selbst beiseite; aber es arbeite mit aller, aller Kraft an solchen Liebeswerken, welche dienen, andere, jüngere vor den Irrtümern der eigenen Seele zu bewahren Das ist eine Neue,

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Auszüge auS Briefen usw. 1864—1868.

die niemanden gereut, und wenn es auch lange scheint, als ob alles, was wir für andere tun, außerhalb der Sphäre unseres eigenen trüben Ker« zens wäre, es entwickelt sich eine Erlösung, die, wenn sie der Seele auch nicht den Sonnenglanz des Mittags, so doch das ruhige Licht eines stillen Abends vielleicht gibt. Kat mich auch das Leben vor dem bewahrt, was die Menschen Sünde oder Schuld nennen, so habe ich doch viel gelitten, und Leiden schließt die Seele auf für das Verständnis

dessen, was man auch nicht praktisch erlebt. Wären unsere Torheiten und Schwachheiten unter andern Verhältnissen nicht vielleicht zu Sün­ den geworden? „Gott, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen. Kommt her zu mit" .... und was war das Joch, welches er ttug? Das tiefste Verständnis für die Schwachheiten und Sünden der menschlichen Natur, die Arbeit für sie und die Liebe für die, welche ihn nicht verstanden, oft verrieten. So und viel anderes sprach ich zu der Persönlichkeit, Ihr dürft mich nie fragen, wer sie war. Wie reich ist meine Reise an Erfahrungen, wie freue ich mich aber heimzukehren. Euch alle mit neuer Liebe zu umfassen und mit neuer Kraft zu arbeiten

Kenriette Breymann an ihre Familie. Edinburg. Gegen Ende Oktober 1866. Gestern habe ich wunderschöne Musik gehört, Mr. Clark spielt ge­ nial und nicht mit dieser ausschweifenden Genialität, welche das schöne Maß überschreitet, im Augenblick wohl hinreißt und blendet, aber nicht eigentlich befriedigt und erhebt. Als er Beethoven gespielt, so deutsch gespielt, mit der sittlichen Einfachheit des Verständnisses, da meinte ich, er müsse Deutsch sprechen, und ich könne ihm meinen Dank in deutscher Sprache sagen. Mrs. L. behielt ihn noch da, nachdem alle andern Gäste fort waren, sie legte mich aus eines der niedlichen Sofas, und nun mußte ich sagen, was ich hören wollte, und dann machte ich die Augen zu — es war köstlich Beethoven bleibt doch immer mein Schönstes, ihn verstehe ich am besten, und als ich in der Schweiz war und zum ersten Male eine Natur fand, die mir entsprach, die kühn und groß er­ schien und Lieblichkeiten in sich schloß, kurz, welche die großen Kontreffe des Lebens friedlich vereint — da war es mir immer, als hörte ich Beethoven, und als ich mich wunderte, daß mich nichts in der Schweiz überraschte, sondern daß ich mich endlich, endlich wie zu Lause fand — Lyschlntla, Henriette Schrader I.

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Kapitel 15:

da wurde es mir klar, daß Beethoven mit längst schon diese gewaltige Schöpfung vorgespielt, diese vulkanische, steinerne und dieses Larmonische im großen Ganzen. Was ist doch das Leben für ein wunderbares

Ding. And dieser C., der so tief in die musikalischen Schöpfungen ein­ gedrungen, ist selbst eine so unharmonische Natur, er weiß nicht wohin mit sich selbst; er ist Architekt und soll sehr tüchtig in seinem Fache sein,

er ist Irländer und hat die Musik eigentlich nur unter seinem Vater gelernt. Er ist noch sehr jung, und sein Unglück ist, daß er keine schönen häuslichen Verhältnisse hat und in der Gesellschaft verzogen wird; er

dauert mich Schrieb ich Euch, daß ich hier ganz viel Geld für die Erziehung von Kriegswaisen unseresWolfenbüttler Vereins bekomme? Ein junges Mädchen brachte mir, was sie von ihrem eigenen Taschengelde erspart gestern, heute bringt sie mir etwas, was sie von ihrer Tante erbettelt;

ist das nicht rührend? Sie ist eine Freundin von M. und möchte so gern zu uns kommen, aber ihre Eltern wollen nicht ihre Einwilligung geben.

Es gibt hier so viele unverheiratete ältere Lerren und eine Un­ masse alte Jungfern, ich finde also stets Schicksalsgenossinnen. Übrigens gelte ich hier für „sehr jung", ebenso für „sehr weiblich", ich glaube, ich sollte eigentlich ins Ausland gehen? Was in Deutschland die Menschen,

besonders die Männer, gegen eine Frau mißtrauisch macht, ist hier ge­ rade ein Vorzug und das entschieden Deutsche, was ich habe, läßt mein Wesen den Schotten gegenüber weich, biegsam usw. erscheinen, und so­

mit ist ihnen mein geistiges „Wesen" verschieden von dem ihrigen, von Männern und andern Frauen. Überhaupt hat die Frau entschieden

eine bessere Stellung hier als bei uns; sie spricht frei undrückhaltslos mit Männern über deren Interessen, ohne daß man sie für eine Aus-

nähme hält. Die gebildete Frau hier weiß gut über Tatsachen und Vor-

gänge zu reden, eine geistige Verarbeitung derselben findet selten statt. Ich glaube, auch selbst wenn ich hierLehrerin wäre, ich würde Vorurteile besiegen und die Stellung in der Gesellschaft einnehmen, die nach mei­ nem Gefühl« jedem Geblldeten gebührt. Ich nehme sie mir ganz einfach,

ohne Prätension und warte nie, was man mir anweist, gerade so wie

ich mich in Deutschland ruhig in Rang mit den Verheirateten stelle. Ich finde, die Leute machen einem nie streitig, was man behaupten kann.

Gestern abend war Äerr Lichtenstein noch einmal hier und spielte so schön; sage doch Marie, daß er mitM.s Fortschritten sehr zufrieden ist

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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Neulich hatten wir ein sehr feines dinnerparty bei Dr. W.,

alles war von Silber, sogar die Gemüseschüsseln, ein wunderschöner silberner Tafelaufsatz mit Blumen zierte den Tisch, darum silberne Scha­ len von schöner Form mit eingemachten Früchten usw. Eine ganz merk­ würdige Mode existiett hierin, welche ich sehr nett finde. Die Leute

haben nicht so viel Raum in den Käufern wie in Deutschland, man ladet verhältnismäßig wenig Personen zum dinner ein, bittet aber meh­ rere andere, nach demselben zu kommen, da gibt es im Salon, wo beide

Teile der Gesellschaft sich vereinen, nur Tee, nachher Backwerk, Wein oder Obst. Sie sind gar nicht auf so große Gesellschaften von 40 Per­ sonen zu Tisch eingerichtet, laden aber dafür öfter jemand zu Tisch ein,

und nachher füllt sich der Salon. Der alte KauSherr war gan) reizend zu mir und fühtte mich nachher in seine schöne Bibliothek, zeigte mir

viele merkwürdige Bücher und erklätte mir allerlei. Ich habe eine ganze

Menge von ihm gelernt

Später. Ich bin auf den Punkt gekommen, daß mich die Besuche

beinah verrückt machen; so weh es mir in einer Beziehung tut zu schei­ den, so bin ich ordentlich ftoh, daß die letzte Stunde bald schlägt. Wie Frau von Marenholh dies Reisen und Predigen hat aushalten können,

ist mir unbegreiflich. Es ist gewiß sehr nützlich, so verschiedene Fäden zu knüpfen, anzuregen und angeregt zu werden, aber man muß dabei

eine ernste stille Wirksamkeit haben. Ich sitze wirklich zwischen zwei Feuern: Ich finde hier so manches zu tun und zu lernen und werde

noch viel mehr in bezug aufErziehungsanstalten in London finden, und doch zieht es mich mit aller Macht nach Kauft.

Sagt mir, ob ich bis Mitte November in London bleiben kann, die kürzeste Frist, die ich für London angeben kann, ich bin schon über­

häuft mit Verabredungen, überhäuft . . .

Kenriette an ihre früheren Pensionskinder.

Neu-Watzum. 12. Januar 1867. Meine geliebten jungen Freundinnen!

AlS ich Euch einst von AlbertinenS LochzeitSfeier erzählen wollte, trat der Tod in unser Laus und legte über alle meine Gedanken einen Trauerflor und jetzt wieder, wo ich so reichen Stoff gesammelt auf mei­

ner schönen Reise nach England und Schottland, da ttaf unsere Fa­

milie der hättest« Schlag, den sie bisher erfahren, unser lieber guter

iS*

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Kapitel 15:

Vater starb, und wie in weite Fernen sind mir die freudigen Erinne­ rungen einer jüngst verflossenen Zeit gerückt. Dem schönen, kräftigen

Baume unseresFamilienlebens ist die Spitze abgebrochen, und weinend blicken wir auf seine Verstümmelung hin. Schon seit mehreren Zähren muß sich beim seligen Vater ein Lerz-

leiden angesponnen haben. Er zog einen Arzt zu Rate, es wurde wieder besser, und wenn er dann und wann wieder klagte, hieß eS: „Sie können

sich nicht darin finden, daß Sie kein Jüngling mehr sind; siebenzig Jahre tragen sich nicht so leicht als vierzig und fünfzig."

Am 30. August wurde Karl und Luischen ein lieber, prächtiger Zunge geboren; unser Vater kam, um sein liebes Enkelchen an sein Äerz zu drücken und zu segnen

Mutter war auch schon einige Zeit

vorher gekommen, und wir verlebten schöne, glückliche Stunden; es war

immer unsere größte Seligkeit, die Eltern hier zu haben. Vater freute sich, wie immer, über unser Leben hier, interessierte sich für alle unsere

Pläne mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit, wanderte mit Karl durch

den Gatten und hatte Auge für alles, auch fürs Kleinste, hatte fiir jeden «in fteundliches Wott, für jeden, dem er begegnete, einen herzlichen „guten Tag". Er reiste mit dem 8-Uhr-Zuge fort. Anna und Marie

begleiteten ihn nach der Bahn; ich war sehr mit meinen Reisevorberei-

tungen beschäftigt, da ich mit Mary Lyschinska und Iessie Scott über

Hamburg nach Edinburg gehen wollte, im Elternhause der ersteren meine Ferien zu verleben. Ich konnte mich aber im Lause vom lieben Vater nicht gleich trennen, ich ging eine Sttecke Weges bis an SeeligerS Garten mit; dort nahm ich von ihm Abschied, dort küßte er mich zum

letzten Male, dort fühlte ich mich zum letzten Male seinem treuen Vater-

herzen nahe. „Nun, Gott segne dich, mein liebes Kind, werde uns nur im ftemden Lande nicht untreu", waren die letzten Worte, die er zu mir sprach. Ich sah mich noch einige Male um, aber ahnungslos, daß

ich für diese Welt vom treusten der Väter Abschied genommen, kehtte ich heim. Doch, daS kann ich sagen, daß mir in den letzten Jahren unser

Familienglück so recht vollständig zum Bewußtsein kam; jedesmal, wenn ich nach Watzum kam, sog ich so mit vollen Zügen den Frieden, die süße

Befriedigung ein, welche mir das Vaterhaus bot; tief versenkte ich in meine Seele die lieben, lieben Bilder der ganzen Umgebung, welche den Rahmen bildeten um das teure Elternpaar, und unwillkürliches Gebet

ohne Wotte stieg ost in meinem Herzen empor, daß uns das einzig schöne Glück doch noch lange erhalten bliebe. Und es war ein einzig

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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schönes Glück! Seit wir hier in Wolfenbüttel lebten, hatten sich alle Verhältnisse so schön natürlich gestaltet; wenn die Frucht reif ist, fällt

sie vom mütterlichen Stamme, ein selbständiges Leben zu beginnen, und so war es mit uns. Am Stamme war unser Werk erblüht, bis zu einem

gewissen Grade gereist unter seinem segnenden Schutze. Wir Kinder strebten weiter, di« Eltern sehnten sich nach Ruhe, wie sich das Alter nach und nach still in sich selbst zurückzuziehen strebt. And obgleich die

Trennung vom Elternhause uns schwere Stunden bereitete, so war sie

doch das Rechte und wirkte neu verklärend auf das ganze Leben. Also, ich kehtte heim zur lieben Mutter, an die Wiege unsere-

kleinen Herzblattes, der uns eine ganz neue Welt der Freuden eröffnete; aber bald sollte sich der Simmet unseres neuen Glückes trüben. Luischen, welche zuerst so wohl gewesen, wurde krank, sehr krank. Der Kleine kam zu uns herüber, Erich und ich hatten ihn in einen Korb gepackt, und in

„des Schlafes Arm" wurde er auf seines Leben- erstem Gange gefühtt. Wir hatten jetzt hier eine Kinderstube, die Mutter war bei un-, sie und

der Kleine waren der Mittelpunkt, um den sich alle sammelten. Tage der Kindheit stiegen wieder vor unserm Auge empor, und alle möglichen Geschichten wurden erzählt, wie wir „klein gewesen". Sätte nicht die

Sorge um Luischens Leben drohend im Sintergrunde gestanden, so wären diese Tage mit die schönsten meine- Lebens gewesen. Fast

wünschte ich meine Reise nach Edinburg nicht beschlossen zu haben, so

reizend erschienen mir diese Ferien, so glücklich machte mich die Sorge um den Jungen, der ganz da- Bild seines glückseligen Vater- war.

So schwer wurde es mir, mich von dem Kinde zu trennen, daß ich ihn mehrere Nächte bei mir gehabt und ganz versorgte, da er aufgesüttert

wurde und die Wartestau krank war.

Aber traurig genug schienen meine Reisepläne vereitelt zu werden, denn die Ärzte erklärten Luischens Krankheit als eine zwischen Leben und Tod, und somit konnte ich an keine Abreise denken. Mary und Zessie trennten sich weinend von uns, ob ich ihnen nachfolgen würde, hing an einer ernsten Entscheidung, die nicht in meiner Sand lag. Aber,

wie es immer bei Luischen ist, daß die Extteme sich berühren, so erholte sie sich wunderbar schnell, und am 12. September konnte ich mit leichtem

Serzen reisen.

Eine schöne, schöne Zeit folgte nun; ich fühlte mich bald in Lyschinskis Sause heimisch, von einem Kreise Ueber Menschen umgeben, die mein Serz gewannen; ich war sehr glücklich. Das schöne Schottland

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Kapitel 15:

mit seiner zauberischen Lauptstadt fesselte mich auf zweiMonat«, und auf aller Anraten und Bitten ging ich noch nach London mit einer Freundin von Mrs. L., welche ich bei ihr kennen gelernt, und die mir so liebevoll und gastftei ihr Laus in der Weltstadt öffnete. Latte ich für Edinburg die wärmste Sympathie gewonnen, so erweckte London bald meine größte Bewunderung. Die Engländer sprechen immer von „finishing governesses" und „finishing masters", worauf ich nicht viel gebe, aber sie haben einen „finishing place", das ist London. Welche Schätze für Kunst und Wissenschaft sind dort aufgehäust und wie praktisch geordnet! Jede Richtung des Studiums findet dort die reichste Nahrung, und wenn man nur einige Vorkenntnisse mitbringt, so kann man dort in kurzer Zeit viel lernen durch Anschauung und Be­ nutzung der dort aufgehäusten Schätze. Mrs.L. schrieb mir, ich soll jedes Jahr einige Monate mit meinen besten Schülerinnen nach London gehen, „to finish them", sie wolle dann mit Mary auch hinkommen und unsere häuslichen Angelegenheiten besorgen, worin sie wirklich Meisterin ist. Wir würden auf diese Weise billig und bequem leben und bei den Verbindungen, die ich jetzt in London habe, könnten wir alles aus dem Grunde kennenlernen. Dieser Vorschlag ist wirklich ernst ge­ meint und auch ernst zu überlegen, ich hoffe jedenfalls, noch einmal nach London zu reisen und würde gern einige von Euch mitnehmen Ich finde für uns Deutsche nichts besser, als daß wir eine längere Zeit in London verlebten, Briten und Deutsche sollten ihre Kräfte »eteinigen, sie könnten vereinigt Großes schaffen, während allein jede Na­ tion leicht in das Exttem ihrer Eigentümlichkeit fällt. Der Brite sitzt da steif zwischen seinen Schätzen und weiß sie oft genug weder sich nützlich zu machen, noch schön zu genießen; es besteht keine geistige Verarbeitung derselben, und der Deutsche, welcher an alles mit seinen Ge­ danken geht, webt nur zu oft Hirngespinste, weil eö ihm am Positiven fehlt, besonders in bezug auf materielle Mittel. Wäre ich hier nicht so wohl eingenistet und von so vielen Banden gefesselt, ich hätte mir eine bleibende Stätte dort gewählt. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die nur glücklich sind, wo die Menschen geradeso fühlen wie sie selbst; nein, im Gegenteil, ich liebe das andere, indem ich die Ergänzung meines eigenen Wesens finde, und gerade was uns fehlt, haben die Briten und wo ihre Mängel find, treten wir ein mit unsern Schätzen. Ich fühle die Kraft in mir, deutsch zu bleiben, wo ich auch sei, mir meine Atmosphäre zu schaffen, und so könnte ich nur reichen Gewinn davonttagen, in einem

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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andern Lande zu leben, mit dessen Volk wir im Schönsten, in seiner Poesie, so verwandt sind, seine und unsere Eigentümlichkeiten aber, recht erfaßt, nur vervollkommnend gegenseitig wirken könnten.

Vielen von Euch habe ich noch zu danken für liebe, liebe Briefe,

welche zu meinem Geburtstage bei L.s angelangt waren. Ich feierte ihn durch meine verspätete Reise noch in Lamburg bei Amsincks, indem ich erst am 15. September zu Schiffe ging, aber es wehte mich so heimat­ lich an, als mir bei meinem Eintritte in mein behagliches Zimmer vom

Kamingesimse viele bekannte Landschristen gleichsam ein zweites Will­ kommen zuriefen; auch von dem teuren Vater hatte ich noch liebe

Briefe. Wie schmerzlich überraschte mich später in London der Brief

der Mutter, indem sie von Vaters Kranksein als etwas Vergangenem sprach, könnt Ihr Euch wohl denken; der Vater wünschte ausdrücklich,

daß nichts von seinem Leiden geschrieben würde, bis er auf der Besse­

rung sei. Ich hatte aber meine schöne Anbefangenheit verloren, und m,t Sorge im Lerzen trat ich meine rasche, angreifende Rückreise über

Rotterdam an und erreichte mit Lilfe männlicher Begleitung in stiller Nacht die Tür unseres Laufes. Sie war verschlossen, aber ein Licht

schimmerte aus den Fenstern einer der Lehrstuben. „Ist der Vater tot? Winden sie Kränze?" fragte es in meiner Seele. Endlich wurde ein Fenster geöffnet und Maries Stimme fragte: „Wer ist da?" Ich hörte beim ersten Worte, am Ton ihrer Stimme, daß der teure Vater am Leben war. Ganz erstaunt über meine Ankunft, beruhigte sie mich, es ginge besser, er sei nicht in Gefahr, und tief konnte ich aufatmen. Cs war mir ein so eigenes Gefühl, wieder heimgekehrt zu sein mit so vielen

neuen Bildern in der Seele, während hier in Neu-Watzum alles äußer­ lich so war, wie ich es verlassen, und doch lag eine andere Färbung über

allem. Ich war todmüde, konnte aber nicht schlafen und wurde von einem bösen Lüsten gequält. Ich hatte mir vorgenommen, ant folgenden Mittag nach Watzum zu fahren, doch fieberte ich so stark, daß der Arzt,

welchen die Meinigen rufen ließen, einMachtwort sprach, welches mich an das Bett fesselte. Ich konnte aber nicht anders, als dem Vater in einigen

Zeilen ein Liebeszeichen geben und durch eine eigentümliche Verkettung von Amständen gelangte das Briefchen noch an demselben Abend in seine Land. Er war so wohl, saß inMutters Stube, las meine Worte und

sagte: „Nun ist die liebe Lenriette da! Ich habe gute Kinder!" Sprach seine Freude aus, mich bald zu sehen und von mir so vieles erzählen zu lassen, erinnerte Ledwig daran, mich nach diesem und jenem zu fragen.

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Kapitel 15:

Mit meinem Briefchen und einer Einlage ging er in seine Stube mit den Worten: „Ich muß noch einmal alles für mich lesen." Wie ich jetzt schreibe, sehe ich ihn so deutlich vor mir in seinem langen grauen Schlafrock im Sessel, wie er seine alte, liebe Lampe auf dem Tische zu­ rechtrückt, und die Brill« schiebt, bis er alles klar vor sich sieht. Alfred Rauterberg, Iefsie R., Mutter und Ledwig bringen den Abend bei ihm zu, Vater betrachtet Stereoskopbilder und ist in seiner gewohnten Lebhaftigkeit bei allem, was um ihn hergeht. Gegen 10 Ahr, als alle fortgingen, bittet er die Mutter dringend, diese Nacht keine Wache zu halten, sondern ein Mädchen auf den: Sofa in seinem Arbeitszimmer schlafen zu lassen, tim 2 tihr steht er auf, sieht nach der tihr, nimmt etwaErfrischung zu sich, schläft ein und — erwachte nicht wieder. Niemand konnte glauben, daß der Tod so sanft gekommen, selbst der Arzt stutzte, man glaubte ihn friedlich schlafen zu sehen. Ein schöner Tod war ihm beschert und so sei Friede, Fnede mit ihm. Ich stand auf, um zu seinem Begräbnisse nach Watzum zu fahren. Sein Sarg stand auf der Diele, wo er uns sonst so geschäftig und zärt­ lich empfing. Still weinend traf ich unsere Mutter in Trauerkleidern, ein ergreifendes Bild einer tiefgebeugten Witwe, tinter Glockengeläute haben wir ihn auf dem Kirchhofe zu Watzum zu Grabe getragen. Möge Euch der Schmerz lange erspart bleiben, der mein Äerz zerriß. Kenriette Breymann an Fräulein Minna Eisfeld (frühere Schülerin).

Neu-Watzum. 9. August 1867. Meine liebe Minna 1

Als mir Ihr Brief übergeben wurde, erwartete ich eine freudige Nachricht und sie ist mir geworden; Tränen des innigsten Mitgefühls drängten sich in meine Augen, und mit diesem stieg, wenn auch ohne Worte, ein übermäßiger Glückwunsch fiir Sie empor. Möge Gott Ihrem vielgeprüften Lerzen so recht milden, warmen Sonnenschein der Liebe geben, es wird das meine mit erfreuen und beglücken; denn, wie Sie mit uns im Geiste gelebt haben, so lebe ich mit Ihnen, glauben Sie mir daS, wie sparsam auch äußere Zeichen dieses innigen Zusammenhanges von meiner Seite waren. Liebe Minna, ich kenne Ihren Verlobten gar nicht, nicht einmal von Angesicht, aber in Ihrer Wahl liegt fiir mich eine Bürgschaft für

Auszüge aus Briefen usw. 1864—1868.

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seinen Werl, und ich hoffe, ihn nun durch Sie kennen und schätzen zu

lernen, wenn Sie als liebe Hausfrau in Wolfenbüttel walten; dann sind Sie mir näher, und dann erlauben Sie mir gewiß, zuweilen ein

Ruhestündchen bei Ihnen zu suchen.

Ach, das Leben liegt unendlich schwer auf mir;Mar»e hat wiederum einen bösen Rückfall gehabt, der die Sache doch immer bedenklicher

macht. Indessen ist mein« Seele ruhiger und stiller als bei früheren

schlimmen Tagen, welche Marie durchzumachen hatte. Gott wird uns nicht mehr auferlegen, als wir tragen können, liebe Minna, aber durch­

denken kann ich eS noch nicht ganz, was aus mir werden sollte, wenn ich Marien verlöre; seit vorgestern spricht sie selbst ganz ruhig vom

Sterben. Es sind wenig Menschen, bei denen ich in traurigen Zeiten Trost finden könnte, aber Sie gehören dazu, liebe Minna, und Ihr edles Lerz würde mich nie verlassen, nicht wahr?

Verzeihen Sie den lerdigen Egoismus, der in mir leider viel zu

sehr seine Stätte aufgeschlagen hat, so daß ich von meinen Sorgen rede, während ich nur an Ihr Glück denken sollte; aber Sie sind immer milde und gut gegen mich gewesen und haben meinen Schwächen, die so offen vor Ihnen lagen, Vergebung angedeihen lassen. So mögen diese Zeilen

Ihnen überhaupt nur sagen, wie innig lieb Sie mir sind, und wenn

Sie dies herausfühlen, so wissen Sie auch, daß ich für Sie bete und mich mit Ihnen freue. Den Ibrigen meine besten Grüße und Kuß und Umarmung Ihnen selbst.

Ihre treue

Äenriette.

Was uns bei den öfteren Rückfällen von Mariens Krankheit nicht so ganz hoffnungslos werden läßt, ist, daß dieselben immer weniger

heftig auftreten, so ist sie heute schon bedeutend besser als gestern.

'Möchte doch endlich still fortschreitende Besserung eintreten.

Kapitel 16.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. /L»s war unvermeidlich, daß die Beziehungen der Familie Breymann ^2" zu der Stadt Wolfenbüttel mit der Zeit reger wurden. Man mag sich wohl von Henriette Breymanns anregendem Unterrichte über die Fröbelschen Ideen erzählt haben, denn während des Winters 1865/66 wurde sie aufgefordert, innerhalb eines weiteren Kreises von Damen und Herren die Fröbelsche Erziehungsweise in einer Reihe von Vorträgen zu erklären. Henriette kam dieser Aufforderung gern entgegen, obgleich diese mehr gesellige Beziehungen und mehr Arbeit für sie bedeutete. Sie ver­ stand jedenfalls die dortige gebildete Welt für die Fröbelsche Sache so zu begeistern, daß schon im Januar 1866 aus dem Zuhörerkreise ein Komitee entstand; dieses erweiterte sich schnell zu einem „Verein für Er­ ziehung", zu dessen Vorsitzenden Henriette Breymann, zum Schrift­ führer der Sanitätsrat Dr. Schrader und zur Kaffenführerin Anna Vorwerk gewählt wurden. Der erste Paragraph der Statuten des Vereins lautete: „Zweck des Vereins ist die Förderung der Jugenderziehung mit besonderer Berücksichtigung der Fröbelschen Ideen." Die erste Tat des Vereins war die Gründung eines Kindergartens für Kinder der Stadt, und zwar wurden vom herzoglichen Hofmarschallamt einige Räume des alten Schlosses nut einem Stück Garten für die Kinder zur Verfügung gestellt. So groß war der Andrang, daß gleich neben dem Kindergarten eine unterste Schulklasse im Juni 1866 er­ öffnet wurde mit nachttäglicher Genehmigung des Konsistoriums. Am den Anstalten des Vereins im alten Schlosse keine Konkurrenz zu verursachen, hoben die Geschwister Breymann aus eigener Initiative den Kindergatten in Neu-Watzum auf; um den Schloßanstalten eine dauernde Einnahme zuzuführen, verlegte Henriette Breymann ihre Leh-

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstatten in Wolfenbüttel. 299 rerinnenbildungsklasse, bestehend aus 9 Schülerinnen, von Neu-Watzum nach dem Schlosse. Die Schreiberin erinnert sich sehr gut, wie die er­ wachsenen Schülerinnen unter innerem Protest frühmorgens mit Lenriefte zusammen den Pilgergang nach dem Schlosse anttaten, um dort den pädagogischen Unterricht, welchen sie bis vor kurzem inNeu-Watzum genossen, von nun an mit den Stadtschülerinnen zu teilen. Lenriette gab folgenden Unterricht im Schlosse: Allgemeine Erziehungslehre,Psychologie, Fröbelpädagogik. LerrSeminarlehrerFricke, welcher in Neu-Watzum Unterricht in Methodik gab, erklärte sich bereit, diesen Unterricht nach dem Schlosse zu verlegen. Pastor Karl Brey­ mann erteilte den Geschichtsunterricht ebenfalls im Schlosse, während die Unterweisung in den Fröbelschen Beschäftigungen in Neu-Watzum gegeben wurde. Breymanns erteilten sämtlichen Unterricht unentgelt­ lich für den Wolfenbüttler Verein. Für alle Stunden, welche die Stadt­ schülerinnen mit den Neu-Watzumer Schülerinnen, die keine be­ rufsmäßige Ausbildung verlangten, gemeinsam hatten, bezahlten d»e Stadtschülerinnen nur die Lälfte des Lonorars; für die Stunden, die sie allein hatten, mußten sie dem Verein die volle Norm entrichten. Dieses günstige Anerbieten der Geschwister Vreymann an den Ver­ ein sollte so lange festgehalten werden, bis die Schloßanstalten sich selbst trügen. Diejenigen unter den Breymannschen Pensionärinnen, welche ebenfalls Lehrerinnen werden wollten, sollten das Recht haben, an den Stunden im Schlosse teilzunehmen, und zwar fakultativ nach ihrem Bedürfnis unter Zahlung des vollen Normalsatzes. Diese Freiheit war nötig, da inehrere halb oder fast ganz fertig gebildete Lehrerinnen in dem Institute Neu-Watzum sich befanden, welche nicht an allen Stunden im Schlosse mit Nutzen teilnehmen konnten. Bei solchen legte man hauptsächlich auf Sprachen und Musik oder auf das Leben in NeuWatzum Gewicht, und solche wären niemals der seminaristischen Bildung im Schlosse wegen nach Wolfenbüttel gekommen. Aus den oben dargelegten Verhältnissen ist es klar, daß seitens der Geschwister Breymann der Gedanke an eine mögliche Konkurrenz zwischen Neu-Watzum und den Schloßanstalten des Vereins nie aufkom­ men konnte; sie brachten ständig geistige und pekuniäre Opfer, um sie zu unterhalten. Für Lenriette gab es fortan nur einen Verband mit zwei örtlich getrennten Zweigen. Seitens eines Freundes der Familie Breymann

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Kapitel 16:

ist wohl eine warnende Stimme gegen eine solche rückhaltlose Beschen­ kung eines eben gegründeten Vereins erhoben worden; Lenriette hat diese Mahnung zur Vorsicht mit Entrüstung zurückgewiesen. Wer für die Verwirklichung Fröbelscher Grundsätze in Erziehung und Unterricht sich zu interessieren schien, hatte Lenriette vollständig gefangen genom­ men. Kaum hatte sie durch zehnjährige mühevolle Arbeit und Geduld einen eigenen Boden und freien Spielraum für ihr Lebenswerk er­ rungen, so legte sie ihr geistiges und materielles Eigentum rückhaltlos einem eben gegründeten, über seine Ziele wenig klaren Vereine in die Lände I Lenriettens unverwüstlicher Idealismus war damals noch mit einer gefährlichen Unkenntnis der Welt gepaart, und erst durch schmerzliche Erfahrungen sollte sie den Unterschied zwischen Familienkreis und Ver­ einsleben kennenlernen; Breymanns waren alle nicht für die Welt gebildet. Die praktischen Einrichtungen sowie die Verwaltung der Schloß­ anstalten legte der neue Verein in die Lände zweier Komitees. Diese waren: 1. Ein Kindergartenvorstand, welcher aus sechs Damen bestand, 2. ein Seminarvorstand, welcher aus drei Personen sich zusammensetzte, nämlich: Lenriette Breymann, Anna Vorwerk und Fräulein Lolle. Für letztere trat Dr. O. Sommer (später Direktor der höheren Mädchen­ schule in Braunschweig) ein. Diese beiden Komitees vereint bildeten den Gesamtvorstand des Erziehungsvereins, welcher in gemeinsamer Sitzung über alle wichtigen Fragen eine Entscheidung zu treffen hatte. Dank den vielseitigen Beziehungen zum In- und Auslande, welche Breymanns durch ihre langjährige Tätigkeit zu Gebote standen, flössen dem Wolfenbüttler Vereine reichlich Geldmittel zu.*) An Geldmangel wäre dieser Verein gewiß nicht eingegange», auch die Schulbehörden und ein Teil der Strebsamsten unter der Lehrerschaft begrüßte mit wohlwollendem Interesse die Tätigkeit des Vereins und unterstützte ihn nach Möglich­ keit. Die Verhältnisse im braunschweigischen Lande waren besonders deshalb so günstig für einen ernsten Versuch, die öffentliche weibliche Erziehung durch Fröbelsche Grundsätze zu beeinflussen, weil der Staat für die berufliche Bildung der Erzieherin und Lehrerin noch nichts getan

*) Inmitten der allgemeinen Teilnahme an dem Kriege fühlte der Verein sich gedrungen, nach Kräften die dadurch entstandene Not zu lindern. Er stiftete einen besonderen Fonds, um Töchtern gefallener Sol­ daten unentgeltlich eine Berufsausbildung als Erzieherin zu geben.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 301

hatte; die Richtlinien waren noch nicht gezogen, das Feld lag brach und konnte beackert werden. !1m so mehr muß man es bedauern, daß die Vereinstätigkeit als solche lahm gelegt wurde durch die überwuchernde Tätigkeit zweier Mit­ glieder, auf deren Landlungsweise ich jetzt näher eingehen muß: Anna Vorwerk und Berta Glöckner. Anna Vorwerk war 27 Jahre alt, als Lenriette Breymann anregend in ihr Leben eingriff, also reif genug, um den Wert eines ernsten Lebenszieles zu erfassen. Sie befand sich unter den Zuhörern der Fröbelvorttäge, welche Lenriette im Winter 1865/66 in Wolfenbüttel hielt. Bald machte sie sich mit der Vortragenden persönlich bekannt. Anna Vorwerk brachte für die Arbeit im Erziehungsvereine manche Vorzüge mit; sie wohnte in der Stadt, nahe dem alten Schlosse, sie »erfügte frei über ihre Zeit und lebte in behaglichen Verhältnissen im elter­ lichen Lause. Die Stellung ihres Vaters als Mitglied des höchsten Gerichtshofes im Lande gab ihr ein gesellschaftliches Ansehen, und der tüch­ tige Jurist hatte leicht alle Fäden in der Land, um die Bestrebungen seiner Tochter äußerlich zu fördern. Anna Vorwerk machte den Eindruck der Tochter eines klugen Vaters; sie hatte die Schulung des Vaters, eines hohen Beamten, genossen und wurde stets unter dem Druck der äußeren, männlichen Autorität gehalten, so daß sie bei all ihrer Klugheit durch ihre Erziehung gewohnt war, einen gewaltigen Respekt vor der männlichen Autorität zu emp­ finden. Lenriette Breymann dagegen ging, teils aus einem urwüchsigen Krastgefühl, teils aus naiver Ankenntnis der Welt ihre eigenen Wege und ließ sich nicht leicht durch äußere Autoritäten imponieren. Anna Vorwerk war durch Anlage und Erziehung mehr für das Verstandesmäßige in der Religion eingenommen und ging darin weiter als Lenriette Breymann, was aber eine gegenseitige Achtung durchaus nicht hinderte während der ersten zwei Jahre ihrer Bekanntschaft. Lassen wir sie während ihrer ersten Periode selbst reden: Anna Vorwerk an Lenriette Breymann.

Lamburg. 27. Februar 1866. Wenn ich mich nicht irre, so ist heute der Tag, wo Fräulein Lohen­ emser Sie, liebe Lenriette, verlassen hat, und ich empfinde eine doppelte Anregung, Ihnen zu schreiben und Sie — wenn möglich — zu zer­ streuen . ... Ich bin der Vorsehung, welch« Sie nach Wolfenbüttel

Kapitel 16:

302

geführt hat, viel Dank schuldig, und ich glaube, daß sich diese Schuld

noch immer vergrößern wird

immer gebe ich mich der Hoffnung

hin, daß ich reichen Gewinn davontragen werde, und wenn Sie über

diese Loffnung noch das warme, unmittelbare Gefühl stellen, das Ihnen zu erwecken so leicht wird, so glauben Sie gewiß, daß ich recht fest an

Sie gebunden bin ... . Sie wollen aber von Lamburg hören, und ich habe allen Grund,

der Lerrlichkeiten zu rühmen, von denen ich umgeben bin ich führe hier jetzt eine sehr unberechtigte Existenz .... Sonntag waren wir in der Kirche. Die Predigt, von einem geistreichen Dr. 93. gehalten,

bot drei merkwürdige Punkte: Eine sehr handgreifliche Beschreibung von Lastern und deren Folgen, die ich in Gegenwart einer jungen

Kusine nie nennen möchte, eine Philippika gegen die Genußsucht und

Labsucht der Juden und eine politische Abschweifung über die Gefahren der Trennung von Staat und Kirche. Derselbe Dr. B. — ursprünglich nicht orthodox —, aber so weit gefärbt, wie es stir einen Lauptpastor zu Lamburg nötig ist, hält demnächst Votträge .... Aus dem letzten Umstande ziehe ich Vorteil

22.März 1866, an dieselbe. Lelfen Sie nur, das für mich Rich­

tige zu finden; glücklich preise ich Sie, daß Sie, wie Sie sagen, den

Schwerpunkt Ihres Lebens erkannt haben; ich kann dasselbe von mir nicht behaupten; ich suche in jeder Beziehung.

25.Dezember 1866. Da ich Sie vor acht Tagen nicht sehen kann,

möchte ich Ihnen einige Worte schreiben .... Wenn es Ihnen ge­ länge, dem Vereine eine einigermaßen gesicherte Existenz zu geben, was

ließe sich da nicht alles tun 1 Sie haben recht, es gibt viele Frauen in der traurigen Lage, mit ihren Kräften nirgend hin zu wissen .... Ich habe das ttaurige Gefühl eines zwecklosen Lebens tief genug emp­

funden .... Sie wissen, was Sie mir sind .... ich verändere mich nicht ich bin der Vorsehung, welche Sie nach Wolfenbüttel

geführt, viel Dank schuldig"

. .

DaS alle Erwartungen übertteffende Gedeihen der Breymannschen Anstalt, so daß 1866 ein Neubau zur Ausführung kommen mußte, das Aufblühen des Wolfenbüttler Erziehungsvereins mit dem aus der Arbeit hervorgehenden geselligen Verkehr, alle diese erfreulichen Tat­

sachen wurden durch eine Reihe schwerer Schicksalsschläge in der eigenen Familie für Lenriette wie mit einem Trauerflor umschleiert.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 303 Ende des Jahres 1866 war das Vaterhaus durch den Tod des

Familienhauptes für immer geschlossen. Am 3. September 1867 starb

Lenriettens Lieblingsschwester und treue Mitarbeiterin Marie Brey, mann in Neu-Watzum. Als Marie noch mit dem Tode rang, legte sich

Ledwig, die jüngste Schwester, zum Sterben nieder. Das Linsiechen dieses blühenden, jungen Lebens mußte Lenriette mit dem Bewußtsein des Endes zwei Jahre lang mit ansehen und vor der pflegenden,

hoffenden Mutter zu verbergen suchen. Die Erlösung kam am 2. April

1869. Während Lenriette durch Krankheit und Todesfälle sich immer mehr an die eigene Anstalt gebunden sah, mußte der Gedanke ihres Rücktritts aus der Leitung des Wolfenbüttler Vereins und der Schloßanstalten sie ernstlich beschäftigen. Allein Anna Vorwerk widersetzte sich

diesem Vorhaben mit ihrer ganzen Energie und beschwor Lenriette, diesen Schritt nicht zu vollziehen; dabei war sie bereit, ihre eigene Per-

son einzusetzen und ergriff die in den Vereinsanstalten schlaff geworde­ nen Zügel mit ihrer ganzen Tatkraft; dankbar gedachte Lenriette immer

der Lilfe, welche Anna Vorwerk dem Vereine und ihr in dieser Zeit

leistete. Wie sehr Anna Vorwerk in der ersten Zeit sich bemühte, Lenriette Breymann bei der Leitung des Vereins zu erhalten, beweist folgen­

der Brief: Anna Vorwerk an Lenriette Breymann.

Wolfenbüttel 1867. April (?) Ich fasse das bestehende Verhältnis ungefähr so auf:

Weil ohne Ihren Einfluß die Sache keine Aussicht auf ein gutes Ge-

deihen hat, und außerdem die materielle Lilfe Ihrer Schülerinnen nicht entbehrt werden kann, muß der Vorstand alles tun, um Ihren Wün-

schen gerecht zu werden

Sie können sich aber, liebe Lenriette,

nicht ganz von der Sache zurückziehen, nachdem Sie die Geister mit beschworen haben; die moralischen Nachteile, welche unvermeidlich erfolgen

würden, brauche ich nicht erst zu nennen. Lassen Sie uns aber nicht die äußersten Konsequenzen, sondern das nächste ins Auge fassen. Die Lage

der Kindergärtnerin ist in Wahrhert keine leichte

Nur jemand,

der in einem herzlichen Verhältnis zu Ihnen steht, wird diese Aufgabe

lösen können, also nur eigentlich eine Schülerin von Ihnen. Damit

würde allerdings die ganze Anstalt in ein Abhängigkeitsverhäftnis zu

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Kapitel 16:

Ihnen geraten, aber auch ein großer Teil der Verantwortlichkeit den Eltern gegenüber Ihnen zufallen. Es gibt nur zwei gedeihliche Fälle für den Kindergarten: Entweder er bildet eine Art Filiale Ihrer An­ stalt, Sie leiten nach Ihrem Ermessen das Innere und übernehmen, in­ dem Sie die Lehrerinnen bestimmen, auch die Verantwortlichkeit für die richtige Entwicklung der Kinder (während das äußere Risiko und alle materiellen Vesorgungen dem Vorstande -ufallen würden) oder der Kindergarten stellt sich ganz auf eigene Füße, sucht sich selbst die eigene Silfe zu verschaffen, nimmt zwar jede Silfe dankbar an, läßt sich aber dadurch keine Verbindlichkeiten auferlegen Der erste Fall ist für jetzt bei weitem der angenehmste .... Der zweite Fall wäre ein sehr radikales Mittel, ein Mittel auf Leben oder Tod, ein zweifelhafteund für alle Teile unangenehmes Dennoch bestand Sentierte darauf, daß eine pädagogisch geschulte Kraft für den Kindergarten und zwei Schulklassen im Schlosse angestellt werden sollte. Ein zufälliger Besuch einer Iugendgefährtin aus der Dresdener Zeit •), Berta Glöckner, in Neu-Watzum im Sommer 1868 schien die erwünschte Silfe zu bringen. AnnaVorwerk weilte zwar in der Schweiz, und die Zeit der Som­ merreisen war nicht günstig zu einer Beschlußfassung des Vorstandes über eine so wichtige Personalftage. Doch die Vorarbeiten leitete Sen­ tierte ein, indem sie Berta Glöckner aufforderte, sie in Neu-Watzum zu besuchen. Darauf bat Sentierte sie, die Schloßanstalten zu prüfen, und ihre auftichtige Meinung darüber zu äußern. Sentierte fragte sie, falls sie die Arbeit billige, ob sie Lust hätte, die Oberleitung des Kinder-

gartens und der zwei Schulklassen im Schlosse zu übernehmen. Auch über ihren beiderseitigen religiösen Standpunkt suchte Sentierte im ver­ traulichen Gespräche Klarheit zu schaffen, denn aus früherer Zeit wußte Sentierte, daß Berta Glöckner dem Buchstaben des Dogmas ganz er­ geben war. Da aber Sentierte seit Jahren mit orthodox-religiösen Familien in innigen Beziehungen stand, weil sie beiderseits die reli­ giöse Gesinnung über eine intellektuelle Formulierung des Glaubens schätzten, so glaubte Sentierte Berta Glöckners Versicherungen, die Unterschiede seien unbedeutend, sie stünden nicht so fern voneinander, um sich nicht Vertrauen schenken zu können. Kurz gesagt, vor ihrer *) Siehe Seite 109 Band I.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstatten in Wolfenbüttel.

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Anstellung sah Fräulein Glöckner nur das Schöne, welches in den Vereinsanstalten erreicht war, sah gar kerne Lindernisse, welche ihre MitWirkung an dem Bestehenden unmöglich machen könnten; nach ihrer Anstellung und einmal fest im Sattel war sie Serri« der Situation, und als tüchtige Kraft unter den zeitweiligen Verhältnissen unentbehrlich. Diese Unentbehrlichkeit hat sie mit einem erstaunlichen Zielbewußt­ sein bekräftigt. Bei der Durchsicht des von Berta Glöckner veränderten Lehrplanes stellte sich bald heraus, daß diese nicht den Kindergarten als Ausgangspunkt der Anstalt annehmen wollte, sondern daß eine unterste Schulklasse nach ihren Ideen maßgebend für das Ganze sein sollte, worin besonders folgende Unterschiede hervortraten:

1. Unterricht in der Religion sollte früher beginnen.

2.

Der Religionsunterricht sollte in einer andern Form gegeben werden. 3. Größerer Nachdruck auf das Lesebuch sollte stattfinden.

4. Die Fröbelschen Beschäftigungen sollten eingeschränkt werden. Senriette Breymann erhob dagegen Einspruch, wenn Anordnun­ gen getroffen wurden, welche in vieler Beziehung mit Fröbelschen Grundsätzen in direktem Widerspruch standen; darauf verlangte Berta Glöckner vom Vorstande eine Entscheidung auf diese, von ihr selbst formutierte Frage: „Soll die Anstalt nach „„Breymannschen"" oder nach allgemein als richtig anerkannten Pn'nzipien geleitet werden?" Nur im letzten Falle wollte Fräulein Berta Glöckner bleiben. Das war deutlich. Fräulein Berta Glöckner war nicht nach Wolfen­ büttel gekommen, um die Leitung eines bestehenden Kindergartens uyd zweier Schulklassen zu übernehmen, sondern um die Direktion des Se­ minars, und um eine konttaktlich gesicherte Stellung im Vorstande war ihr vor allem zu tun. Zuerst hofften Senriette Breymann und Anna Vorwerk, daß Berta Glöckner auf eine Teilung des Arbeitsgebietes im Seminar ein­ gehen würde, wonach der Kindergarten, die Vermittelungsklasse und die Ausbildung der Kindergärtnerinnen Senriette zufielen, während Berta Glöckner die Schulklassen und die Vorbereitung der weiblichen Kräfte für ein nachgesuchtes Staatsexamen übernehmen sollte, aber auch auf diesen Vorschlag ließ sich Berta Glöckner nicht ein; sie wollte entweder alles oder nichts, und ihr Ultimatum sollte dem Vorstande gestellt werden. 20 L y s ch r n » r a, Henriette Schrader I.

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Über Anna Vorwerks Standpunkt vor der Anstellung und nach

der Anstellung von Berta Glöckner geben die drei folgenden Briefe Aufschluß:

Anna Vorwerk an Lenriette Breymann. München. 24. August 1868. Meine liebe, liebe Lenriette!

Leute morgen in der Pinakothek öffnete ich Ihren Brief mit tausend Freuden — da erfuhr ich, daß Sie meinen Brief nicht einmal erhalten hätten 1 And konnten Sie nicht denken, daß ein Brief von mir verloren wäre? Sie kennen mich doch! Ich habe einen langen Brief an Sie und einen kürzeren an Ledwig von Genf abgeschickt zusammen mit dem an A.Lollmann. Es war unmöglich, früher zu schreiben. Sie müssen auch jetzt das Verspätete erhalten haben. Ich habe so treu fort­ während an Sie gedacht, mit Sorge an Ledwig — und nun höre ich leider, daß L.s Befinden meine Sorge gerechtfertigt hat.. Arme, liebe Lenriette und Ihre arme Mutter! Leute sind wir in München; ich bin körperlich nicht ganz ivohl, deshalb wird mein Brief um so kürzer.

Nun das eine über Berta Glöckner. Engagieren wir diese tüchtige Kraft, das Nähere läßt sich bei meiner Rückkehr besprechen. Ich habe einen offenen Brief von ihr erhalten und ihr bereits eben geantwortet, daß ich für ihreLilfe an unserm Werke wäre, und das Nähere bald bestimmt werden könnte. Ich meine aber, daß Sie nicht ohne weiteres Ihren Einfluß gegen den von Berta Glöckner zurückziehen; da lassen Sie uns erst sehen, wie sie sich macht. Natürlich gönne ich Ihnen von Lerzen jede Arbeitserleichterung. Den Kostenpunkt betreffend wieder­ hole ich Ihnen privatim: ich kann die Anstalt nicht zu meinem Privat­ vergnügen dauernd erhalten; um sie aber jetzt erst höher hinzustellen, bringe ich gern materielle Lilfe. Sehen wir also vor allem auf tüchtige Kräfte und tüchtige Leistun­ gen, und halten wir Berta Glöckner fest. Sie machen von meinen Äuße­

rungen — ich weiß es — vorsichtigen Gebrauch.

Adieu, meine liebe, gute Lenriette I Auf baldiges, herzliches Wiedersehen I

(Ihr Brief ist mir vom Rigi-Culm nachgeschickt.)

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 307 Anna Vorwerk an Lenriette Breymann.

Nach August 1868.

(Dr. Sommer ist in den Seminarvorstand getreten,) ............. Nun aber die Lehrerinnen. Mir ist merkwürdigerweise wohler, wenn Sie den Unterschied zwischen Ihrem und dem Beamten­ streben deutlich fühlen, als wäre es umgekehrt. Ich glaube dann, daß sich ein Neben- und auch Ineinander leichter erreichen läßt. Meine Meinung war immer, daß Sie Erziehungslehre und Psychologie für alle zu lehren hätten, und einen Unterschied zwischen Kinder­ gärtnerinnen und Lehrerinnen halte ich für sehr wohl ausführbar. Wie auch die Lauserzieherinnen von den Schullehrerinnen deutlich zu tren­ nen wären, wie sich die einzelnen Fächer teilen würden, schwebt mir noch etwas unklar vor, aber das wird sich gestalten lassen. Ich glaube auch, daß wir das dritte Jahr nur für die eigentlichen Volksschullehrerinnen zu verlangen brauchten. Sobald ich etwas klar zusammengestellt habe, will ich es aufschreiben. Ich glaube, daß ein Irrtum gefährlich werden kann, wenn Sie nämlich den jetzigen Pädagogen zu wenig Fähigkeit zurrichtigenErfassung des ganzen Kindes zutrauen. Leiderbin ich nicht pädagogisch gebildet, aber es scheint mir, als wäre auf diesemFelde auch früher schon zu ernst gearbeitet, um diese Fähigkeit ganz entbehren zu können. Aus vollem Kerzen stimme ich dem Segen des Fraueneinflusses bei; gerade Sie, liebe Kenriette, können darin das beste leisten. Versuchen wir, die Gegensätze einander zu nähern, sie zu verschinelzen, und dann müssen wir, wenn wir den Schwierigkeiten gerade ins Gesicht schauen, gerade in unserer eigentümlichen Lage, die so manche Schwäche mit sich bringt, doch etwas Gutes leisten können. Sommers Routine und positive Kenntnisse und Ihre Belebung und Sweben zum Ganzen — das müßte etwas geben. ............. Welche Schreibmaschine machen Sie aus mir! Anna Vorwerk an Kenriette Breymann.

1868. Lerbst. ............. Ich bin in einer ganz eigentümlichen Lage — auf der einen Seite stehen Sommer und Fräulein Glöckner, auf der andern Seite Sie; ich selbst nach angeborener Anlage und gemachten Erfah­ rungen stehe in den Punkten, um die es sich handelt, ungefähr in der Mitte. Denn, wenn ich die Folgerungen, die Erwartungen, welche Sie 20*

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Kapitel 16:

an Ihr System knüpfen, nicht vollständig verstehen kann, so weiß ich auf der andern Seite genau, daß ich auf dem jetzigen Standpunkte meines religiösen Lebens verschieden bin von Fräulein Glöckner Ich fühle wohl, daß Sie durch die veränderte Sachlage viel mehr getroffen werden als ich. Ich für meine Person sehe auch die Konsequenzen einer Konzesston an Sommer und Berta Glöckner, aber ich gehe bis zu dem Punkte: Ich will lieber ein christliches Seminar als gar keins. Daß aber diese Christlichkeit nicht in die äußersten Extreme gerät, nicht als Zwang und Schwärmerei austritt — das womöglich zu verhüten, bleibe ich bei der Sache und im Vorstande. Müßte ich einfehen, daß mein Einfluß diese Dinge nicht verhüten könnte, so würde ich augenblicklich zurücktreten ich werde ihnen nicht ein Werk ohne weiteres überlassen, daS auch mir teuer ist Dieses Versprechen hat Anna Vorwerk aus naheliegenden Grün­ den nicht eingelöst, im Gegenteil, fie hat sehr bald einen kürzeren Weg zu ihrem Ziele verfolgt. Lenriette Breymann wollte Berta Glöckner dauernd für die Vereinsanstalten im Schlosse gewinnen, sie schätzte ihre — wenn auch etwas altmodische — Tüchtigkeit sehr hoch und hoffte immer noch auf einen zukünftigen Ausgleich. Für den Augenblick blieben Lenriette allerdings nur zwei Wege offen: Entweder mußte sie den großen Vorstand des Vereins mit Berta Glöckners Ultimatum bekannt machen, und damit einen Krieg herauf­ beschwören, welcher die von ihr selbst ins Leben gerufenen Anstalten und den aufblühenden Verein vernichteten, oder sie mußte — ohne daß jemand es bemerkte — diesem neu waltenden Geiste im Seminar still­ schweigend ihre Arbeit Überlassen. Lenriette wählte um des Friedens willen den letzten Weg und übergab ihre sämtlichen erwachsenen Schülerinnen der Leitung von Berta Glöckner, unterstützt von Dr. O. Sommer und Anna Vorwerk. Diese nahmen das Anerbieten freudig an, wie aus folgenden Worten Anna Vorwerks zu entnehmen ist: „Meine liebe Lenriette — ich schreibe heute im Kindergarten, darum auf offiziellem Schreibpapier Meine liebe Lenriette, wenn Sie wüßten, mit welchem Vergnügen ich an Sie denke, und mit wie leichtem Lerzen ich an Sie schreibe! ES ist ein schönes Gefühl, Sie um eines Entschlusses willen zu schätzen und zu lieben, der, wenn er auch

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstatten in Wolfenbüttel. 309

nur dasRechte traf, doch nicht leicht zu fassen war, und von einer kleinen, selbstsüchtigen Seele nicht gefunden werden konnte. Ich danke Ihnen dafür von Kerzen und auch um meiner selbst willen, denn ich habe dabei gewonnen I" And als Anna Vorwerk merkte, daß Lenriette keine Folgerungen zog, noch Gegenleistungen für ihren großen Verzicht erwartete; im Gegenteil, als Lenriette die Erklärung abgab, dem Namen nach „im Vorstande bleiben zu wollen, aber sich passiv zu verhalten und so helfen, die Würde der Anstalt nach außen hin in jeder Beziehung zu wahren", da war Anna Vorwerk ganz entzückt und schrieb: „Meine liebste Lenriette, es liegt Ihr ganzes großes, gutes Lerz in Ihrem Briefe; ich danke Ihnen für die Liebe und Freundlichkeit, die auch für mich daraus spricht. Morgen hoff« ich Sie zu sehen, ich muß es möglich machen, hinauszukommen, bis dahin nur meine herz, lichsten, liebevollsten Grüße l Ihre A.V. Von Michaelis 1868 an gab LenrietteBreymann keinen pädagogischen Unterricht mehr im Schlosse, und während sie in einer weiteren Welt des In« und Auslandes als anerkannte Autorität in der Fröbelschen Sache galt, trug sie, wenn auch schweren Lerzens, an der Verwunderung der von außen kommenden Schülerinnen, daß sie von der bekanntesten Persönlichkeit in der Fröbelschen Sache keinen Unterricht bekamen. Aber der Seminarvorstand konnte noch mehr verlangen; eine mög. liche, gefährliche Konkurrenz in nächster Nähe sollte rechtzeitig verhinbett werden. Das geschah teils durch Ermahnungen gegen eine Fahnen« flucht, teils durch Freundschaftsbezeigungen, welche von sehr feind, lichen Landlungen begleitet waren. Lenriette benahm sich, wie ein unbeteiligter Zuschauer sie charakte« risierte, „wie ein nobles Schaf"! Denn den beiden leitenden Damen des Seminars lag nichts daran, den Fröbelschen Grundsätzen in der weiblichen Bildung Geltung zu verschaffen; ihnen lag es ebenso fern, eine bessere psychologische Be­ gründung des ersten Schulunterrichts zu erzielen, wie eö unter den obwaltenden Verhältnissen im braunschweigischen Lande wohl möglich gewesen wäre. Dazu gehörte ein sehr langsamer Aufbau der Schul­ klassen, eine experimentelle Methode auf den beiden untersten Stufen und eine feine Beobachtung sehr unscheinbarer Wirkungen. Denn neue

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Grundsätze in Erziehung und Unterricht schaffen neue Methoden; ein neuer Grundsatz kann mrt einer veralteten Technik, wenn sie auch noch so gut gehandhabt wird, nichts anfangen. So mancher unbeteiligte Zuschauer hatte Anna Vorwerks eigent­ liches Ziel längst durchschaut. Sie hatte jetzt eine pädagogische Kraft, welche unbedingt zu ihrer Verfügung stand; auf diese gestützt, konnte sie rasch Schulklasse auf Schulklasse nach vorhandenem Muster auf­ bauen, und so zu einer höheren Töchterschule mit Lehrerinnenseminar unter staatlicher Prüfung gelangen, und als erste Anstalt ihrer Art im Lande eines glänzenden Erfolges sicher sein. Leider mußte sie in diesem Wettrennen den Lorbeerkranz mit der Residenzstadt Braunschweig tei­ len, aber einen Erfolg hatte sie ttotz allem, und zwar ohne die lästigen Fröbelschen Grundsätze und schließlich ohne den lästigen Verein I Aber ich eile den Ereignissen voraus. Wie gesagt, Lenriette kam fortwährend in Verlegenheit durch den Lmstand, daß erwachsene Schülerinnen nach Wolfenbüttel reisten, um speziell unter ihrer Anleitung die Fröbelsche Sache zu studieren. Sie fing an, in einigen Fällen Fröbelsche Stunden im eigenen Lause zu geben, und da eine Theorie ohne Praxis nichts wert ist, und fie sich ihres Kindergartens entäußert hatte, so glaubte sie, das seit drei Jahren bestehende Recht in Anspruch nehmen zu dürfen und meldete ein paar Schülerinnen von ihr als regelmäßige Lospitantinnen im Schloßkinder, garten an. Wie mußte es sie beftemden, den nachfolgenden Brief von Anna Vorwerk zu erhalten: 25. Mai 1869. „Gestern abend besprach ich gleich die Angelegenheit mit Papa. Er sagte mit, daß es meine Pflicht sei, Schönermarks*) Ansicht über unsere Verhältnisse zu erfahren, und nachdem ich auf Grund des Entstehungsprotokolls**) vom Seminar, und nachdem ich heute mittag auf Grund des Konttaktes mit Fräulein Glöckner die Sache erzählt habe, möchte ich Sie bitten, die Ansichten, welche Papa und Schönermark ausgesprochen haben, und die ganz mit den von mir geäußerten übereinstimmen, mit in Erwägung ziehen, ehe S»e Entscheidungen über die Genferin wessen *) Lerr Pastor Schönermark war soeben an Stelle von Lerrn Dr. Sommer Ostern 1869 getreten, war also mit der Entstehungsgeschichte des Seminars nicht bekannt. **) Schriftführerin des Seminars war Anna Vorwerk selbst geworden.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 311

1. Es unterliegt keinem Zweifel nach der Stiftungsurkunde, dem Kontrakt und den Veröffentlichungen, daß die Bildungsanstalt im Schlosse auch str Kindergärtnerinnen, die nicht ihr Examen machen, bestimmt ist. 2. Die Vorsteher haben die Pflicht, für das Wohl der Anstalt nach allen Seiten zu sorgen, dazu gehört auch, ihr Schülerinnen zuzuführen, wo die Gelegenheit sich bietet. Würde ein Vorsteher eine Privatanstalt halten wollen, welche gleichen Zwecken diente, so müßte er entweder die Anstalt eingehen lassen, oder er müßte sein Amt als Vorsteher niederlegen, da er durch seine Privateinrichtung die größere Anstalt schädigen würde. 3. Es würde nicht als eine Privatanstalt dieser Art angesehen »er­ ben, wenn Sie Ihren Pensionärinnen, die ohnehin schon in Ihrem Lause sind und dort Llnterricht empfangen, pädagogischen Unterricht geben wollen. Doch würde für diese Schülerinnen das Zulassen zum Hospitieren und zu Stunden des Seminars nicht als ein Recht ver­ langt werden können. Die Grenze würde aber überschritten werden, sobald eine Nicht­ pensionärin zu Ihrem pädagogischen Unterrichte herangezogen würde. Damit träte die Verpflichtung ein, der Vorsteherschaft, deren Pflich­ ten nicht erfüllt wären, zu entsagen. 4. Eine solche Schülerin, speziell die kleine Genferin, würde nicht zum Hospitieren und zum Seminar zugelassen werden können, denn es hieße der Anstalt ein Armutszeugnis ausstellen, wenn Schülerinnen praktisch ausgebildet würden, die auf einem besonderen und schwierigen Wege bte auch hier (im Schlosse) gebotene pädagogische Ausbildung erhielten Lassen Sie es nicht zu einem Punkte der Diskussion werden,.... ich dränge Ihnen diese Ansichten nicht auf, sondern führe sie an als die Schönermarks und die meines — allerdings formell nicht zu einer Ansicht berechtigten — Vaters. Daß es ein Kontraktbruch gegen Fräu­ lein Glöckner sein würde und auch aus andern Gründen ganz unzulässig, wenn Sie eine Fröbelstunde (im Schlosse) übernehmen wollten, dar­ über habe rch ja meine Meinung noch entschiedener ausgesprochen*) ............. Lassen Sie dieses alles einmal ruhig in Ihrem Kopfe herum*) Anna Vorwerk war ebenso entschieden für eine Arbeitsteilung im Seminar vor sechs Monaten, wie aus ihrer Korrespondenz hervorgeht, stehe Sette 306, 307.

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Kapitel 16:

gehen, aber täuschen Sie sich über eins nicht, liebe Lenriette, es war eine Versuchung, die alte Stellung, den alten Einfluß wieder zu ge­ winnen! Gott sei mit Ihnen! Daß Sie nicht leicht zu einem Entschlüsse kommen, weiß ich, aber er muß errungen werden. An- allen sind die Kämpfe nicht erspart" Anna Vorwerk an dieselbe.

Frühjahr (?) 1869. Ich dachte viel an Sie und hatte im Geist einen Brief geschrieben, nur nicht mit der Feder, weil die Zeit mangelte So sehr ich wünsche, Ihr Arbeit-feld lieber beschränkt zu sehen, so sehr freute ich mich Ihrer Treue, Ihrer Hingebung an die Pflicht. Ich habe nun ein­ mal ein hohes Bild von dem, was Sie in sittlicher Beziehung sein können; da- Ideal, nach welcher der liebe Gott Sie geschaffen, ist in meinen Augen kein geringe- — und nachdem ich da- fest in-Auge fasse, möchte ich noch ein- sagen: Machen Sie, o bitte, machen Sie keinen Gebrauch von den Rechten oder Freiheiten, welche schwächere Naturen Ihnen einräumen! Sie haben den Widerstand nie stark gefunden, den Ihre Amgebung Ihnen entgegensetzte; Sie haben stet­ leichte Naturen in Ihrer Näbe gehabt, so mögen Sie wenig Lust empfinden, nach anderer Wohl und Wehe zu fragen, auf schwächere Naturen, die nur zu gern beherrscht sein wollen, Rücksicht zu nehmen aber wenn Sie e- doch täten, um des Zieles willen, um Ihret­ willen, liebe Lenriette, um derLeiligung willen, die Sie im ernsten Schmerze so sehnsüchtig gesucht haben 1 Sie können nicht wahrhaft gut, Sie können nicht wahrhaft glücklich sein, Sie können die Aufgabe nicht vollbringen, die Sie sich vorgesetzt haben, ja, Sie können Mariens Ver­ lust nie verschmerzen, wenn Sie nicht Marien- beste-, weibliche- Teil in sich aufnehmen; die liebevolle Rücksicht für da- Schwache, Kleme, Anbedeutende; wenn Sie nicht Ihre mächtige Natur fteiwillig beschrän­ ken, auch da, wo Sie es nicht der Mühe wert halten

Merkwürdigerweise verstand Lenriette Breymann die deutlichen Winke „zur Beschränkung ihrer mächtigen Natur" noch nicht; auch regte sich gewiß der „alte Adam" noch so stark in ihr, daß sie tn die Todsünde verfallen konnte, Fröbelschen Anterricht irgendwo erteilen zu wollen. Anna Vorwerk scheint diese Möglichkeit doch sehr ernst ge-

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstatten in Wolfenbüttel. 313 nommen zu haben, denn unter dem Datum des 1. Juni 1869 schreibt sie an Lenriette Breymann: „Landelte es sich bei der Genferin um den einen einzig möglichen Fall, so wäre die Sache nicht so wichtig, aber es handelt sich um ein Prinzip, das nach meiner Meinung höchst gefährlich werden kann .... Anendlich unbefangener und natürlicher werden sich unsere persönlichen Beziehungen gestalten, wenn Sie vom amtlichen Ballast befreit sind"

Als Anfang zur „Befreiung vom amtlichen Ballast" sandte der Seminarvorstand durch seine Schriftführerin folgenden Entwurf eineKonttaktes, welchen Lenriette Breymann als Mitvorsteherin von NeuWatzum unterzeichnen sollte:

Vorgeschlagener Kontrakt. „In Anbettacht, daß die eventuelle praktische und theoretische Aus­ bildung von Kindergärtnerinnen ein integrierender Teil des hiesigen Lehrerinnenseminars geworden und urkundlich in die Lände derLauptlehrerin, Fräulein Berta Glöckner, gelegt ist: in weiterem Anbettacht, daß es genanntem Institute nicht zur Empfehlung, vielmehr zur Beernttächtigung gereichen müßte, wenn ein Mitglied deS Vorstandes neben demselben ein anderweitiges, gleiches unterhielte oder privatim Kindergärtnerinnen auszubilden unternähme, hat Fräulein Breymann auf Wunsch des Gesamtvorstandes*) am 10. Juni 1869 zugesichert: sie wolle von einer eigentlichen, berufsmäßigen theoretischen wie praktischen Ausbildung von Kindergärtnerinnen in ihrem Privat-Erziehungsinstitut absehen, vielmehr die dafür sich bestimmenden jungen Damen, seien sie ganz oder zum Teil diesem ihrem Institute angehörig, gänzlich dem Lehrerinnenseminar zuweisen, einer weitergehenden als dem gesamten Vorstände zuständigen Einmischung in und Einwirkung auf die dort erteilte Anweisung sowie einer Prüfung der nach absolviertem Kursus zu Entlassenden sich enthalten." Dagegen „solle den obenerwähnten, dem Breymannschen Insti­ tute ganz oder nur zum Teil angehörenden jungen Damen das Recht zustehen, wie allen andern unter der allgemeinen Aufnahmebedingung die Erlaubnis von feiten des Gesamtvorstandes an der von feiten deS

*) Ein Mitglied des Vorstandes -erklärte schriftlich, er sei in voll­ ständiger Ankenntnis von der Existenz eines „Kontraktes" gelassen.

314

Kapitel 16:

Seminars zu erteilenden Ausbildung zu Kindergärtnerinnen teilnehmen zu dürfen. Auch solle Fräulein Breymann speziell an sie zur Erlernung der Kindergärtnerei adressierte Damen, welche der Kürze der Zeit oder anderer besonderer Umstände wegen nicht wohl in den Seminarkursus aus­ genommen werden könnten, in der Kindergärtnerei unterweisen dürfen, jedoch solle es in einem solchen nur als Ausnahme zu betrachtenden Falle der Anzeige an den Vorstand des Seminars und der Zustimmung desselben bedürfen, wie auch von dessen Zustimmung die Teilnahme solcher Damen an der im Seminar erteilten theoretischen und praktischen Ausbildung abhängig gemacht wird. Obiger Beschluß soll zugleich als Entscheidung auf die von Fräulein Glöckner an den Vorstand gemacht« Eingabe des 11. Juni 1869 dienen und derselben zugefertigt werden. Wolfenbüttel, 15. Juni 1869.

Der Vorstand des Lehrerinnenseminars."

Dieses Dokument dient zur Kennzeichnung der Mittel, welcher man sich bediente, um Lenriette Breymann nach allen Seiten hin möglichst lahmzulegen; sie sollten zur „Aufklärung" über die Beziehungen bei­ tragen. Von Vreymanns juristischem Beirat wurde entgegnet: „Abgesehen davon, daß die juristische Form dieses Entwurfs nicht gerade elegant tft, sind gegen denselben folgende Bedenken zu erheben:

1. Da nun einmal die Differenz nicht auf freundschaftlichem, sondern auf möglichst formellem Wege ausgeglichen werden soll; da also ein förmlicher, verbindlicher Vertrag zu schließen ist, so muß alles aus ihm ausgesondert werden, waS nicht hineingehört. Das ist aber der Fall: a) hinsichtlich der Tatsache, daß Fräulein Glöckner den Unterricht in der Kindergärtnerei zu erteilen hat;

b) hinsichtlich der Stellung der Vorsteherin Fräulein Breymann zu dem Seminar in bezug auf Einwirkung auf den Unterricht und auf die Zeugniserteilung. Beides sind innere Angelegenheiten des Seminars, welche dessen Vorstand durch Beschlüsse regelt und über welche er keine Verträge schließt.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 315

2. Der Vertrag wird geschlossen zwischen dem Vorstand« des Seminars und Fräulein Breymann als Vorsteherin ihres ErziehungsInstitutes Neu-Watzum, was in dem Entwurf« nicht klar ausgedrückt ist. 3. Das wahre Verhältnis — welches der Entwurf ganz verhüllt — ist, daß Fräulein Breymann aus Liebe zu dem Seminar sdes Vereins), welches sie gegründet hat, auf einen Teil ihrer Tätigkeit, ja, auf den liebsten Teil verzichtet. Sie bringt, dem sVereins-j Seminar ein Opfer, was man von ihr nur unter der Voraussetzung verlangen kann, daß das, was sie als eigenen Lebenszweck sich gesetzt hatte, nun durch daS Seminar erfüllt wird.

Der Entwurf ist so gefaßt, als habe Fräulein Breymann in die Rechte des Seminars eingegriffen; daß sie unter Amständen mit ihren Pflichten als Vorsteherin in Konflikt geraten könnte, darf nicht als Motiv, weder zu solcher Fassung der Vereinbarung, noch zur Forderung der gemachten Zugeständnisse dienen, weil dieser Konflikt seine weit richtigere Lösung in dem Aufgeben der Vorsteherschast finden würde, was um so treffender ist, da Fräulein Breymann sicher nicht daran denken wird, einem ihre eigenen Grundsätze vertretenden Seminarr Konkurrenz zu machen, an einem von wesentlich andern Prin­ zipien ausgehenden Seminare ferner sich zu beteiligen aber keinen Grund hätte. Deshalb muß das Aufgeben gewisser Tätigkeiten von feiten des Fräulein Breymann auch wirklich als ein freiwilliges Zugeständnis motiviert und bezeichnet und Fräulein Breymann gestattet sein, wenn sie die Verbindung mit dem Seminar löst, auch die nur aus dieser hervorgegangenen Zugeständnisse zurückzunehmen. 4. Gerade weil Fräulein Breymann dem Seminar besondere Zugeständniffe macht, müßte ihr auch Besonderes dafür wieder gewährt werden. Dieses müßte — wenn man das Allermindeste fordern will — darin bestehen, daß die Schülerinnen von Fräulein Breymann Vorzugsweise oder unter sehr billigen Bedingungen als Lospitantinnen im Seminar zugelassen werden; jedenfalls dürfen sie nicht schlechter stehen als andere, weil sie Schülerinnen von Fräulein Breymann sind.

Die Schlußbestimmung des Entwurfs, wenn sie mehr sagen soll, als daß die allgemeinen bei Zulassung von Lospitantinnen zu machen­ den Bedingungen erfüllt sein müsse», ist deshalb unrichtig."

316

Kapitel 16:

Lenriette konnte unmöglich einen solchen Kontrakt unterzeichnen, erklärte sich aber bereit, einen andern mit ihrer Unterschrift zu versehen, wenn ihre berechtigten Ansprüche mit berücksichtigt würden. Eine zweite Auflage kam schließlich zustande; darin behielt Lenriette sich die Frei­ heit vor, Damen, welche an sie speziell adressiert waren oder welche auandern Gründen nicht mit Nutzen an dem Seminarunterrichte teilneh­ men konnten, in ihrem Lause zu unterrichten. Weilten solche Damen länger als dre» Monate bei BreymannS, so verpflichtete sich Lenriette Breymann — auf Wunsch des Seminarvorstandes im Schlosse —, die Tatsache anzumelden, und eine Verständigung mit demselben herbei­ zuführen. Ebenfalls kam sie dem Schloßseminarvorstande so weit ent­ gegen, daß sie folgenden Satz in den Prospekt von Neu-Watzum auf Drängen ihrer „Freundin" Anna Vorwerk aufnahm: „Die Schülerin­ nen, welche Stunden im Schlosse nehmen, können Pensionärinnen in Neu-Watzum sein; sie zahlen an Breymanns eine bestimmte Pension und Breymanns zahlen für die jungen Mädchen an die Kasse der Schloßschule." Solche Schülerinnen bezahlten weniger undBreymanns trugen natürlich ein nie erwähntes Geldopfer.

Der Vorstand des Seminars erklärte sich bereit, solche Schülerinnen aus Neu-Wahum „als Lospttantinnen unter denselben Bedingungen wie alle übrigen Lospitantinnen zur Teilnahme an den theoretischen und praktischen Unterweisungen des Seminars" zuzulassen, d.h. nach erfolgter Zustimmung*) des Seminarvorstandes und gegen Zahlung des üblichen LonorarS. In der Tat hatte Lemiette Breymann nie eine Konkurrenz beabsichtigt, und die Art der Schülerinnen, welche nach Neu-Wahum kamen, schloß die Möglichkert einer Konkurrenz mit der Fachbildung im Schlosse aus. And wäre das nicht der Fall, war die Entstehungs­ geschichte und fortlaufende Unterstützung des Seminars von feiten der Geschwister Breymann nicht eine Garantie, daß sie eine Konkurrenz freiwillig verhindern würden?

Doch immer wieder betonte Fräulein Vorwerk jetzt ihre Absicht, den formellen Ton des Verkehrs in den Vordergrund zu rücken, wie in folgendem Auszug eines Briefes deutlich ausgesprochen ist. Anna Vorwerk schreibt:

*) D. h. ein Recht wird Lenriette Breymann eingeräumt, zu dessen Geltendmachung die Zustimmung des Gewährenden nötig ist.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstatten in Wolfenbüttel.

317

„Mein ganzes Bestreben ist darauf gerichtet, das Geschäftliche unter uns geschLstlich zu erledigen Denken Sie immer daran, welche Wandlung sich vollzogen hat. Aus unserm früheren Zusammen» arbeiten, von welcher von Ihrer Seite Verttauen, von meiner Seite Gefälligkeit und Llnverantwortlichkeit ins Spiel kam, wo alles aufs leichteste sich entwickelte, ist ein Verhältnis geworden, bei welchem wir einesteils gleichberechtigt sind, bei welchem ich andernteils neben größe­ ren Pflichten größere Rechte habe. Lind bei der Llmwandlung haben sich Meinungsverschiedenheiten herausgestellt, welche den empfindlichsten Punkt, die Schätzung unserer persönlichen Leistungen berühren. Mit meiner Llnverantwortlichkeit mußte ein großer Teil meiner Gefälligkeit aufhören, — damit mußte auch unser geschäftlicher Verkehr sich ändern. Sie haben daran wenig gedacht Sie bringen mich in eine peinliche Lage, daß eine ab­ weichend« Meinung als Llnfteundlichkeit, eine Betonung meiner Pflicht als Äärte, ein Nichteingehen auf Ihre Ideen als Llngefälligkeit erscheint, doppelt ungefällig im Vergleich zu dem früheren Verhältnisse, das so wenig zurückzurufen ist, wie eine verheiratete Frau in ihre Mädchenverhältnisse hineinpassen wird. Lind nun kommt hinzu, daß Sie reich an Ideen und Plänen, daß Sie auch nicht gewöhnt sind, sich leicht in gegebene Grenzen zu finden und sich zu beschränken — und das alles soll ich von meinem persönlichen Standpunkte aus und mit den Erinnerungen an unser früheres Verhältnis durchkämpfen oder be­ kämpfen, zurückhalten oder im glücklichsten Falle fördern? Nehmen Sie meine übernommene Arbeit hinzu, da muß ich mich auf den RechtSstandpunkt zurückziehen"

Darauf antwortete Kenriette Breymann an Anna Vorwerk.

Juni 1869. Liebe Anna,

Ihr Brief hat einem langen, schmerzlichen Kampfe ein Ende gemacht, indem es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Ich fühle mich isoliert, aber auch frei von Banden, die mich in allerlei Unklarheit verstrickt hatten. Ich weiß, daß ich Sie noch herzlich lieben kann, ttotzdem ich einesteils einen Mangel, andernteils einen Fehler Ihres Wesens schmerzlich empfunden habe.

318

Kapitel 16: Ich fühle mich gesund im Innern, wie seit langem nicht, denn ich

war streng mit mir ins Gericht gegangen und empfand die Wahrheit deS

Bibelworts: „Selig sind die Traurigen*), denn sie sollen getröstet wer­

den. Nicht, daß Sie von der Schülerin zur Meisterin wuchsen, schmerzt

mich, liebe Anna, sondern, daß in der weiteren Ausbildung unseres Verhältniffes Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung der Fröbelschen Methode hervortraten, die ich früher nicht gesehen.

Daß Sie mir gefällig waren, Anna, weiß ich, und Sie waren mir viel mehr als bloß die gefällige Freundin

aber das liegt

auf dem persönlichen Gebiete. Auf dem Felde des Berufslebens war wohl die eine so gefällig wie

die andere. Ihre Kräfte lagen zum großen Teile brach. Sie waren arbritsbedürftig, aber Sie wußten nicht recht wohin mit Ihrer Kraft; ich bot

Ihnen den Faden, und Sie verwebten denselben — so meine ich, sind wir

auf dem Gebiete quitt. Aber an einer änderen Stelle haben Sie sich Rechte auf mein Lerz erworben, die Ihnen bleiben, selbst wenn Sie sie nie in Anspruch neh-

men. Sollte — was Gott verhüten möge — Ihre Seele in ähnlichen

Schmerzen bluten, wie die meine, dann, Anna, wissen Sie, wo eins für Sie schlägt in Treue und dankbarer Liebe. Sie haben mir oft gesagt, daß in meinen Verhältnissen so große

Gefahren für die Entwicklung meines Geisteslebens lagen, und Sie haben recht. Es ist mir in meiner Familie so viel Anerkennung, so viel

verehrende Liebe ohne mein Zutun dargebracht und mir fehlte die Autori­ tät, unter die ich mich beugt«; ich empfinde die Nachwehen davon schmerz­ lich genug. Sonderbarerweise liegen die Gefahren für Sie gerade in umgekehr­ ter Richtung; Sie haben keine Schwestern und nur einen Bruder ,. . .

Ihr Geist empfand früh die Zucht, und weil es eine von Ihnen geliebte, hochverehrte Autorität war, deren Einfluß Sie wohltuend empfunden, so bildete sich in Ihnen überhaupt ein großes Bedürfnis aus, sich Autontäten zu beugen, Ihren Geist denselben anzupaffen .... In voller

Selbständigkeit stehen wir nun nebeneinander und können trotz der Ver­ schiedenheit unseres Wesens, ja vielleicht durch dieselbe viel zusammen

*) Wörtlich: „die da Leid tragen", Matthäi IV, 5.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 319

wirken, wenn wir beide die Augen offen haben für unsere Schwächen und die Gefahren, welche in den gegebenen Verhältnissen für uns liegen. Nur eine Sorge erfüllt mich, daß Sie sich in ein kirchliches System hineinarbeiten und dann mit helfen wollen, unsere Anstalt zu einer Pflanz­ stätte einer kirchlichen Partei zu machen .... Früher würde ich ge­ schworen haben, daß Sie nie kirchlich orthodox werden könnten, jetzt scheint es mir nicht unmöglich

Verzeihen Sie mir noch das eine, daß der Kampf in mir so lange dauerte, und erklären Sie ihn sich daraus, daß meine Liebe zu Ihnen nicht so schnell das neue Bett für die Strömungen meiner Gefühle finden konnte"

In verschiedenen Druckschriften*), welche diese Angelegenheit in der Öffentlichkeit behandeln, wird der Konflikt, der sich am 25. April 1870 gegen Äenriette Breymann entschied, in der Darstellung hinübergeleitet auf ein anderes Gebiet als das tatsächliche und die Tradition wird er­ härtet durch die Wiederholung. Da erscheint es, als ob es sich handelte um einen Konflikt der Fröbelschen Grundsätze mit dem Bestehenden oder mit den Examensforderungen oder mit sonst wichtigen, dringenden Aufgaben. Das ist keineswegs der Fall gewesen. Wie ich auS Quellenstudien sowie durch mündlichen Bericht der Nächstbeteiligten weiß, ist jene Möglichkeit zwei Jahre früher durch Lenriette Breymanns Verzicht auf eine erziehliche Tätigkeit im Schlosse erledigt gewesen und durch einen „Kontrakt" alle „Gefahr" der Kon­ kurrenz auS der Welt geschafft. Die Frage, welche dem Vereine zur Entscheidung vorlag und welche zur Öffentlichkeit kam, war folgende:

Soll der „Verein für Erziehung" zu Wolfenbüttel auf Fräulein Vorwerks Vorschläge eingehen und seine Anstalten ihr verkaufen? Lenriette Breymann und manche andere, einsichtige Mitglieder begründeten ihre Bekämpfung von Anna Vorwerks Vorschlägen sol-

gendermaßen: ♦) Nr. 15 Blätter aus dem Schlosse, Rückblick auf 25 Jahre der Arbeit. Anna Vorwerk, ein Lebensbild von Genzmer. Verlag Zwißler, Wolfenbüttel 1910. — Allgemeine deutsche Biographie, Artikel 55 e nriette Schrader-Brey mann vom Geheimen Archivrat vr. Zimmermann 1899.

320

Kapitel 16: 1. Sie werden dem Vereinsleben sein praktisches Ziel nehmen und ihm den Todesstoß geben. 2. Fräulein Vorwerk kann keine Garantie geben, daß Fröbelsche Grundsätze zur Anwendung kommen. 3. Die unbestrittenen, großen Verdienste Fräulein Vorwerks ge­ statten viel Freiheit der Bewegung und niemand im Verein denkt daran, ihre Freiheit zu schmälern, wenn die Anstalten dem Vereine bleiben.

4. Ein genügender Grund zu einer so einschneidenden Veränderung ist nicht vorhanden, da der Verein die nötigen Mittel zu einem allmählichen Ausbau aufbringen wird. (L. Breymann hatte auf ein Jahr hinaus die nötige Summe zur Land.)

5. Das Konsistorium hat schon einem Seminarvorstande von drei Personen die Konzession erteilt; eS wäre undenkbar, daß die BeHörde dieselbe dem Vereine ohne vorliegenden Grund entziehen würde.

Mir ist von mehreren Anwesenden in der oben erwähnten Plenarsitzung des Vereins berichtet worden, daß die gerühmte und lautlos han­ delnde Majorität, welche für Fräulein Vorwerks Vorschläge stimmte, durch nicht einwandfreie Mittel zusammengebracht gewesen sei. Auf der Tagesordnung am 24. April 1870 stand zuerst: Die Wahl neuer Mitglieder in den Verein; erst nachher sollte die wichtige Frage der Über­ gabe der Vereinsanstalten an Fräulein Vorwerk zur Diskussion ge­ fangen. Zum ersten Punkte schlug man eine Reihe wohlbekannter Na­ men vor, Lonoratioren der Stadt, welche durch ihren Familienruf oder durch ihre bekannte Wohltätigkeit nur mit Freuden in den Verein aus­ genommen werden konnten. Befremdend aber wirkte auf die nicht ein­ geweihten Mitglieder des Vereins der Amstand, daß die Tür in daNebenzimmer sofort nach der Wahl aufging und die neuen Mitglieder als stimmberechtigte ihren Platz einnahmen, um in der Abstimmung über Punkt 2 gegen Lenriette Breymanns Vorschläge herdenmäßig ihr Ge­ wicht in die Wagschale zu werfen. So soll Fräulein Vorwerk ihre Ma­ jorität erreicht haben, und die Anstalten wurden ihr Eigentum. Es gehöüe auch wirklich nicht viel dazu, um Lenriettens damalige Anerfahrenheit in der Vereinsstrategie zu benutzen, um ihr durch Über­ rumpelung eine Niederlage zuzufügen.

Erweiterte Ziele, Entstehung der Schloßanstalten in Wolfenbüttel. 321 Soweit hatte Henriette es nun gebracht nach 20 Jahren unermüb-

licher Arbeit für die Verwirklichung Fröbelscher Grundsätze und mit allen ihren Opfern an Zeit, Geld und geistigem Eigentum« für einen

Verein für Erziehung. Sie blieb auch nach jener entscheidenden Sitzung im Verein in der Hoffnung auf eine ftiedlichere Entwicklung, und weil sie auch ihre Stellung im Vorstande beibehielt, so mußte das von ihr selbst ins-Leben gerufene Seminar die Handhabe bieten, ihre Tätigkeit

für die Fröbelsche Idee in ihrem eigenen Hause unter den Punkt zurückzudrängen, auf welchem sie stand, als sie vor sechs Jahren in Wolfen­

büttel anfing. Sogar ein sozialer Boykott wurde über sie verhängt in dem kleinen Städtchen, wo wenige Beamtenfamilien das Heft in den Händen hatten und die erste Gesellschaft bildeten.

Später veröffentlichte Bericht« und Schriften über di« Schloß­ anstalten zu Wolfenbüttel und ihre Leiterinnen haben, wie schon gesagt,

die Entstehungsgeschichte verschleiert und den Konflikt auf ein anderes

Gebiet verlegt, während mündliche Tradition fleißig bemüht gewesen ist,

die ganze Sache als einen unwesentlichen Zank hinzustellen zwischen herrschsüchtigen, ruhmgierigen Frauen, wobei die Besiegten um Hen­ riette Breymann wie um eine „Exkönigin sich geschart" hätten.

Für die Wahrheit btefer Darstellung fehlt leider ein wesentlicher Zug in der Rolle einer „Exkönigin". Sie hat ein an ihr begangenes

Unrecht stillschweigend erduldet; sie hat sich so wenig bemüht, sich zu recht­

fertigen, daß eine neue Generation ihrer eigenen Familie, sowie ihrer Freunde und nächsten Schülerinnen ohne eigentliche Kenntnis der Tat-

fachen dieses Konfliktes aufgewachsen ist. Der Biograph von Henriette Breymann kann die Sache nicht mit

dem bisherigen Stillschweigen übergehen, denn das Scheitern ihrer Lebensaufgabe im Schlosse bedeutete einen Wendepunkt in ihrem beruflichen, ebenso wie in ihrem persönlichen Leben. Wäre ihr in Wolfen­

büttel die Möglichkeit gegeben, dre Grundlagen eines „Pestalozzi-Fröbelhauses" zu schaffen, so wäre sie nie von Wolfenbüttel fortgegangen.

Außerdem lernte Herr Assessor Karl Schrader, welcher schon vor dem Konflikte im Vorstande des Wolfenbüttler Verein- war, sie erst recht kennen, ihre seltene Wahrheitsliebe und innere Bescheidenheit so

recht schätzen, und so entwickelt« sich au- dieser fitr sie tief schmerz, lichen Erfahrung das größte Glück ihres späteren LebenS.

Hoffentlich wird es nach einer so langen Spanne Zeit eher möglich,

den Zusammenhang der Tatsachen von gehässigen Verdächtigungen und

2 y I ch I n r k«, Henrlrtte Schradn I.

21

322

Kapitel 16.

persönlichem Klatsche zu unterscheiden. Diese einfache Erzählung der

Tatsachen, welche aus den damaligen Aufzeichnungen, Korrespondenz zen und Erzählungen der Nächstbeterligten hervorgeht, wirst einen

Schatten auf das Lichtbild zweier Frauen, welche durch ihre Arbeit sich

große Verdienste Um die Stadt Wolfenbüttel erworben haben. Zum Richter sind wir in sehr beschränttemMaße berufen, und erinnern wir

unS immer daran, daß wo das Bild menschlichen Lebens große Licht­ seiten aufweist, da auch leicht große Schattenseiten vorhanden find.

Kapitel 17.

Der Krieg 1870/71. Neue Pläne. Beziehungen zu Karl Schrader. Leirat und Äbersiedlung nach Berlin 1872. großen politischen Ereignisse des Jahres 1870/71 schlugen ihre Wellen geistiger Erregung in das Familienleben deS Breymannschen Kreises; der jüngste Sohn und Bruder Erich, welcher sich seit einem Jahre als praktischer Arzt in L. niedergelassen, mußte seine Mannespflicht auf dem Schlachtfelde erfüllen; erging es den deutschen Steten schlecht, so war der Künstlersohn und Bruder Adolf ebenfalls bereit, in den Krieg zu ziehen, und wer konnte in jener Zeit wissen, wie das Schick­ sal des Krieges sich wenden würde, ob nicht Familienväter wie Karl Breymann mitziehen würden. Diese ernsten Möglichkeiten bildeten den Sintergrund, wodurch die tägliche Pflichterfilllung bei BreymannS eine höhere Weihe bekam. Obgleich Senriette notgedrungen aus der Lettung des Wolfenbüttler Erziehungsvereines geschieden war, blieb sie noch als passives Mitglied darin und suchte zu retten, was sie konnte von dem, was ihre Lebensarbeit war. Ungebeugten, heiteren Mutes nahm sie ihre Tätigkeit für Fröbel im eigenen Sause auf, und durch die praktischeNotwendigkeit, für den kleinen Neffen von 3% Jahren zu sorgen, eröffnete sie in der Neu-Watzumer Gärtnerwohnung «inen Familienkindergarten, den sie zuerst mit Silfe zweier Schülerinnen selbst täglich leitete. Die Gärtnerkinder fanden sich auch wieder ein, und gleich ihren großen Vorbildern Pestalozzi und Fröbel scheute Senriette sich nicht, von unten auf zu dienen. An eine abwesende Schülerin schreib» sie zu dieser Zeit: „Wie freue ich mich, daß ww nächsten Sommer noch eine deutsche Lehrerin zu unserer Verfügung haben werden, dann kann ich mich endlich mehr auf die Beschäftigung von Arnold und seinen kleinen Freunden konzen­ trieren." Ausgehend von dem kleinen, von neuem eröffneten Kinder­ garten erwuchsen nut der Zeit die darauf folgende „Vermittelungs-" und 21»

324

Kapitel 17:

die darauf folgenden zwei untersten Schulklassen, welche ein genügendes Äbungsfeld fitr die Erzieherinnenklasse bildeten .... Auf ein außen­ stehendes Examen sollten die angehenden Erzieherinnen und Lehre­

rinnen nicht vorbereitet werden, obgleich nach absolvierter Lehrzeit ei« Zeugnis ihnen erteilt wurde. Für die Anwendung Fröbelscher Grund­

sätze auf oen.ersten Rechen- und Sprech-, Schreib-, Leseunterricht hatte

Kenriette die begeisterte Unterstützung eines jungen Lehrers, des Kerrn Fricke gewonnen. Der Konststorialrat Kirsche hatte Kerrn Fricke schon als Seminaristen ausgezeichnet, indem er ihn mit einem andern jungen Kollegen zu einem Besuche des Volkskindergartens im Pfarrhause zu

Watzum aufforderte. Den günstigen Eindrücken dieses Besuches ist Lerr

Fricke treu geblieben, indem er als Lehrer in Wolfenbüttel in den „Ver-

ein für Erziehung" trat und nach Kräften Kenrierte Breymanns Be­ strebungen für eine bessere, psychologische Grundlage des ersten Leseunter­ richts unterstützte. Ein Ergebnis dieser Versuche war die Kerausgabe der

Fibel von Fricke und Lohmann, Verlag Karald Bruhn, Braunschweig. Kenriette wirkte noch immer im Verein mit ihren Geschwistern an der Mädchenpension. Durch einen genialen Griss steuerte sie den Gefahren

einer Maffenerziehung, welche gerade durch den wachsenden Ruf einer Erziehungsanstalt heraufbeschworen werden. An bestimmten Abenden in der Woche wurden die Pensionskinder in kleine Familienkreise unter

familienhafter Aufsicht verteilt. Die vielköpfige Leitung und die weit­ läufigen Räume des Kaufes begünstigten eine solche zeitweilige Dezen­

tralisation, und so kam die eigentlich gemütliche Seite des Verkehrs immer mehr zu ihrem Recht. An solchen Abenden deckte man den Teetisch im engsten Kreise, man durfte selbsterwählte Arbeiten vornehmen,

man plauderte, musizierte oder las sich etwas Interessantes vor, und die ost mißbilligenden Ausrufe, mit welchen die Töne der großen Glocke be­ grüßt wurden, welche an die Stunde des Zubettgehens erinnerten, be­ wiesen, wie sehr diese Teilung in kleine Kreise den berechtigten Neigungen

der weiblichen Natur entsprach. Zn der Tat leistete Kenriette in dieser Zeit mehr, als sie durfte, und

ihr« Mitverantwortung für die große Mädchenpension, verbunden mit der in Neu-Watzum wieder aufgenommenen Ausbildung Erwachsener war eine Doppelaufgabe, unter welcher ihre Gesundheit ernstlich bedroht werden mußte. Lange Ohnmachten, heftige Anfälle eines seit ihrer Rückreise aus England sie plagenden Gelenkrheumatismus zwangen sie, ihren

Unterricht zeitweise liegend zu erteilen, und so trieben innere und äußere

Der Krieg 1870/71.

Neue Pläne.

325

Erlebnisse sie einer Krise entgegen, welche sie selbst folgendermaßen

schildert: Tagebuch. 19. Dezember 1870. „Ich stehe auf dem Punkte, daß ich nichts halb tun kann .... Die größere Muße, die ich im Anfänge dieses LalbjahreS gehabt, zeigte mir, daß ich auf dem Gebiete der Fröbelei mich Befriedigendes leisten kann .... ich ersehne mit aller Kraft

meiner Seele innere Freiheit zur Fröbelarbeit. Ich passe viel mehr zu

kleinen Kindern, als ich früher dachte, und nur Kinder und Frauen, welche arbeiten müssen, ist mein Feld.

Aber, wird es mir klar gemacht, daß ich meinen Teil meiner Kräfte dennoch der Mädchenpension widmen müsse — so gebe ich Fröbel auf,

ich will seinen Namen nicht mehr hören. Ich sage nicht, daß man jungen Mädchen von 12 bis 16 Jahren nichts nützen kann, aber dann muß man

sich ihnen ganz hingeben, man muß nur an das Innerste denken, sie lieben und zu leiten suchen, nicht aus äußerer Pflicht. Ich habe die Pen­

sion nicht mehr geliebt, seit ich einsah, daß ich an den Mädchen in bezug auf ihren künftigen Beruf als Mütter wenig leisten konnte; daß ich die

Fröbelschen Ideen, die ich liebe, wenig bei ihnen in Anwendung bringen kann .... So stehe ich am Scheidewege. Entweder kehre ich zur Pen­

sion zurück, wie ich noch nie in ihr gewesen, oder ich trenne mich ganz von ihr. Was das Rechte ist, müssen wir sehen."

Bei allen diesen Plänen für ihr Berufsleben stand ihr seit 1868 ein treuer, einsichtiger Freund zur Seite, der auch mit der Zeit ein Freund

der Familie wurde, der Assessor Karl Schrader, damals in Braunschweig lebend. Er war als Sohn eines Arztes in Wolfenbüttel 1834 geboren, hatte dort daS Gymnasium absolviert, in Göttingen und Ber-

lin seine rechtswissenschaftlichen Studien zum Abschluß gebracht, ohne sich wie sein jüngerer Bruder für die Richterlaufbahn entschließen zu

können. Er tret in die Verwaltung der herzoglich-braunschweigischen Landesbahnen ein und befand sich in verhältnismäßig jungen Jahren

als stimmberechtigtes Mitglied bei der obersten Direktion. Er lebte außer

seinen Amtspflichten ausschließlich gemeinnützigen Zwecken. Als er in den Breymannschen KreiS trat, hatte man schon von ihm durch seinen Bruder, welcher als Lausarzt in der Pension tätig war,

gehört, als von einem Manne, welcher vielfach für daS öffentliche Wohl

Kraft und Zeit einsetzte. Man rühmte ihn als Gründer eines Turn-

Vereins für erwachsene Männer, eines Spar- und Kreditvereins, einer Baugenossenschaft nach Schultze-Delitzsch, wodurch die kleinen Leute

326

Kapitel 17:

Braunschweigs in den Besitz guter, billiger Läufer gelangen konnten. Daß er bald nach der Bekanntschaft mit Lenriette Breymann auch dem Wolfenbüttler Erziehungsverein ein lebhaftes Interesse zuwandte und sich in den Vorstand deS Vereins aufnehmen ließ, braucht nur erwähnt zu werden. So erlebte er die entscheidende Sitzung am 25. April 1870, und als die „Besiegten" nach derselben im Lause des Sanität-rats Dr. Schrader einkehrten, um dort über die Zukunft de- Vereins zu beraten, wurde Lenriette Breymann vom Schmerz überwältigt; sie weinte bitterlich. Da stand Karl Schrader rasch auf, und zu ihr ttetend, nahm er ihre Land in die seine und bat: „Bitte, weinen Sie nicht mehr, Fräulein Breymann, Sie haben zwar eine Freundin verloren, aber dafür einen Freund gewonnen." And als Freund ihrer Lebensinteressen begann er sich gleich zu be­

tätigen, er schaffte sich Fröbels Werke an und begann den Pädagogen und den Philosophen Krause mitLenrrette, den Geschwistern, dem Pa­ stor Becker aus Goslar zu studieren. Regelmäßige Zusammenkünfte fanden in Neu-Watzum statt, wobei auch die andern Lehrkräfte und älteren Schülerinnen meist passiven Anteil nahmen; oft unter lebhafter Diskussion der fiihrenden Personen wurden die Konsequenzen ihrer ge­ meinsamen Lebensanschauung für praktische Gebiete des modernen Lebens wie Kirche, Schule, Wirtschaftsleben näher erörtert. Jedenfalls waren diese Zusammenkünfte mit ernster Unterhaltung für bte jüngeren Lehrkräfte belehrend und anregend. Aber auch auf andere, mehr öffentlich« Weise wirkte Karl Schrader fitr die Bildung des weiblichen Ge­ schlechts. Das durch drei erfolgreiche Kriege gesteigerte nationale Bewußtsein hatte gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre ftuchtbringend auf die Vereinstätigkeit überhaupt gewirkt. Man glaubte gemeinsame, große Aufgaben vor sich zu sehen; so brachte z. B. eine Versammlung des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins" in Braun­ schweig den Bewohnern der Stadt und Amgegend neue Anregung. Karl Schrader war der neuen Frauenbewegung sehr geneigt, und Len­ riette Breymann war den Verhandlungen mit regem Interesse (wenn auch nicht mit vollem Einverständnis) gefolgt. Bei dieser Gelegenheit schrieb sie eine damals viel gelesene Broschüre, „Zur Frauenftage", die ihren Standpunkt darlegte. Sich an den öffentlichen Debatten zu be­ teiligen, widerstrebte ihrem innersten Wesen, obgleich eS ihr an Schlag­ fertigkeit der Rede durchaus nicht fehlte, und in einem geschloffenen Kreise konnte sie eine hinreißende Beredsamkeit entwickeln. Die Frauen-

Der Krieg 1870/71. Neue Pläne.

327

und Erziehungsftagen waren für ihre tief innerliche Natur heilige Er­ lebnisse, und diese einer unbekannten, indifferenten oder gar spötteln­ den Menge vorzuführen, kostete sie die größte Überwindung. Während

Henriette in Neu-Watzum durch Eröffnung deS Kindergartens und der darauf folgenden zwei Schulklassen den verlorenen Boden langsam wiedergewann, war es dem Assessor Karl Schrader gelungen, im Ok­ tober 1871 einen „Erziehungsverein" in Braunschweig ins Leben zu rufen, welcher dem „Allgemeinen Erziehungsvereine" angegliedert wurde. Letzterer wurde durch besondere Anregung von Frau von Marenholtz-Bülow gegründet. Er war ein Kind des Philosophen­ kongresses, welcher 1869 in Frankfurt a. M. tagte. Dieser Kongreß hatte bis dahin eine besondere Abteilung für die Erörterung erziehlicher Fra­ gen, hielt eS aber für angemessen, einen selbständigen Verein für Er­ ziehung zu gründen. Ein Ausruf wurde verfaßt und in die Welt gesandt, und die Gründungsversammlung des „Allgemeinen Erziehungsvereins" fand am 29. und 30. Mai 1871 statt. Viele gebildete Männer und Frauen in allen Teilen Deutschlands und Österreichs traten dem Ver-

eine bei, und an der Spitze standen: Professor von Fichte (Stuttgart), Freiherr Dr. von Leonardi (Prag), Dr. P. Kohlfeld (Dresden), Assessor Schrader (Braunschweig), Advokat Heubner, Schulrat Marschall (Mün­ chen), Direktor Marquard (Dresden). Außerdem folgende Frauen: Frau von Marenholtz-Bülow, Gräfin Hessenstein, Frau Äeynaths, Henriette Breymann. Die letztere war am Gelenkrheumatismus so leidend, daß sie an der Gründung des Vereins sich nicht beteiligen konnte, sie wurde aber von Anfang an in den Vorstand gewählt und wohnte den Generalversammlungen jährlich bei. Leider hat dieser Verein nicht den Hoffnungen der Mitglieder entsprochen; er wurde mehr und mehr ein rein fachmännischer Verein für die berufliche Ausbildung von Kinder­ gärtnerinnen in Dresden unter Aufsicht der Frau von MarenholtzBülow. Obgleich der Assessor Karl Schrader bei der Ausarbeitung der Lehrpläne für die berufliche Ausbildung der Erzieherinnen in NeuWatzum zu Nate gezogen, und eine Teilung des Arbeitsfeldes in gutem Einvernehmen mit den Geschwistern eine beschlossene Tatsache war, so war Karl Schrader mit schuld daran, daß die neue Fröbelsche Anstalt in Neu-Watzum nicht nach außen hin ein selbständiges Dasein begann. Er hatte unterdessen einen Ruf in die Direktion der Anhalter Bahn in Berlin bekommen, und es wurde ihm klar, daß er ohne Henriette diesem

Kapitel 17.

328

Rufe nicht Folge leisten konnte. Daher verlobte er sich, und am 30. April 1872 verheiratete er sich mit Lenriette Breymann und fithrle sie als feine Gattin nach Berlin.

Beide Teile standen in einem Lebensalter, wo sie als selbständige Persönlichkeiten, als gereiste Charaktere sich gegenübertraten, und die Freundschaft mehrerer Jahre hatte ihnen immer mehr geoffenbart, wie

sehr verwandt die Seelen waren, wie sehr sie einander ergänzten. Ver­

ständnisvolle Freunde konnten noch hinzufügen: Sie waren einander würdig. Karl Schrader war bei Verwandten und Bekannten der allge­ meine Liebling, und seine grenzenlose Gefälligkeit und Liebenswürdigkeit

deS LerzenS konnten die meisten Menschen über seinen festen, männlichen Willen und seine verschlossene Seele hinwegtäuschen. Er, der so vielen

Menschen im Leben half, so viel Gutes tat und Glück spendete, war selbst fast ungekannt und unbeeinflußt durchs Leben gegangen, bis

sein Schicksal ihn ereilte in der Gestalt einer liebefähigen, edeln Frau. Lenriette Breymann wurde seine erste und seine einzige Liebe im

Leben.

And sie? Wir wissen aus ihrem früheren Leben, wie sehr sie an die Möglichkeit der edeln Freundschaft zwischen Mann und Frau glaubte, wie sie die Freundschaft als die beste Gewähr für eine mögliche, darüber

hinauswachsende Liebe ansah. Ohne es lang« zu ahnen, jedenfalls ohne

ihr Zutun ward ihr dieses große Glück nach langer Trübsal zuteil; sie fand, was sie seit dem Tode ihrer Schwester Marie verloren hatte, und

darüber weit hinaus d»e Leimat ihrer Seele wieder. „Wenn der Freund zum Freunde die Land zum Bündnis reicht, es sollten Taten daraus

hervorgehen, größer als jedes einzelnen .... Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehen, den eigenen Lerd sich zu erbauen. Wie

eigene Wesen auS ihrer Liebe Schoß hervorgehen, so soll aus ihrer Sta­ turen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; daS stille LauS mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden soll als freie Tat dessen Dasein bekunden."

Im Geiste dieses WahlsprucheS Schleiermachers reichten Sen­

tierte Breymann und Karl Schrader sich zum Ehebunde die Lände. Am das allmähliche Werden dieses Ehebundes verfolgen zu

können, füge ich folgende Auszüge auS ihrer Korrespondenz hinzu.

Kapitel 18.

Korrespondenz zwischen Henriette Breymann und Karl Schrader bis 1872. Neu-Watzum, Wolfenbüttel. 1. Oktober 1868. Lochgeschätzter Lerr Assessor 1

Die Frauenversammlung hatte mich aufs höchste angeregt, so daß ich nicht unterlassen konnte, meine Ansichten, d»e so lebhaft diskutierte Frauenftage betreffend, niederzuschreiben, und ich habe den dringenden Bitten Braunschweiger Freunde nachgegeben, die Blätter drucken zu lassen, jedoch ohne meinen Namen und auf meine Kosten zum Besten des Wolfenbütteler Erziehungsvereins. Ich wollte die kleine Broschüre nur in Bekanntenkreisen verteilen, aber es scheint, als sollte ich dem mir schrecklichen Schicksal, ins Tageblatt zu kommen, nicht entgehen, eine mir ganz unbekannte, und wie ich finde, unberufene Land kündigt die Broschüre an; dies gibt mir fast Lust, alles zu verbrennen. Wenn ich nicht gefürchtet hätte, aufdringlich zu scheinen, so hätte ich die Korrektur­ bogen so gerne mit Ihnen durchgesehen. Ihr Urteil wäre mir von großem Werte. Sie haben bei vollkommener Fach- und Geschäftstüchtigkeit, die mir jedermann, der etwas davon versteht, rühmt — sich die Idealität der Lebensanschauungen bewahrt oder errungen; ich meine hiermit die Fähigkeit, die jedem Dinge zugrunde liegende Idee, das Wesen der Erscheinung zu erkennen. Die meisten Fachleute fassen nur die augen­ blickliche Form ins Auge, sie verlieren den Faden des Gewordenen und vergessen, den Zusammenhang mit der Vergangenheit und Zukunft und andern Dingen festzuhallen. Auch glaube ich, daß Sie die schwere Kunst verstehen, in der Ver­ wirklichung der Ideen den bestehenden Verhältnissen Rechnung zu ttagen, gewisse Konzessionen an die Gegenwart zu machen, ohne das Ganze der Idee «inen Augenblick zu schmälern. Dieses Stillhalten und gedul-

Kapitel 18:

330

dige Warten, was doch am Ende im Gesetze alles organischen Werdens geboten wird, ist mir so furchtbar schwer geworden, und ich lerne es nur nach und nach. Wenn man persönlich ganz durchdrungen ist von einer

Idee, sich für dieselbe begeistern kann, so überschreitet man leicht das Maß, daS der persönlichen Berechtigung gezogen ist, und man fühlt sich nicht genug eingereiht als kleinen Organismus im großen Ganzen, das

nur langsam fortschreitend wächst. In den nächsten Tagen werde ich Ihnen meine kleine Broschüre

zuschicken mit der herzlichen Bitte, Ihre Kritik nicht zurückzuhalten. Dieselbe würde mir um so mehr von Wert sein, als ich durch eine

gestrig« Lehrerversammlung veranlaßt bin, wieder zur Feder zu greifen.

Ihr Lerr Bruder hat von seinem Standpunkte als Arzt die Fröbelsche Methode dringend empfohlen und sehr klar nachgewiesen, daß das eigentliche positive Lernen erst vom siebenten Jahre angehen müßte.

Seine aufgestellte These fand so viel mehrAnklang, als ich je erwartete,

und einig« Lehrer kamen zu mir und baten mich um einen Vortrag über Fröbel; ich rede aber nicht, und so muß ich schreiben. Ich muß dies um so mehr tun, um einmal Klarheit in diese verworrenen An­

schauungen über Fröbels Methode zu bringen in bezug auf Reden von

„spielender Arbeit" und „belehrendem Spiel", was selbst Ihr 55err Bruder als einen Vorteil der Methode darstellt, und was ich gerade verwerfe.

Spiel ist keine Arbeit und umgekehrt — überhaupt hängt der Wert oder Anwert einer Methode für den denkenden Menschen ganz davon ab, in welchem Zusammenhänge dieselbe mit der ganzen psychologischen Anschauung vom Menschen, respektive Kinde steht, welches Ziel ich überHaupt für die Bildung ins Auge fasse. Jemand, der zufrieden ist, wenn

ein Kind mit sechs Jahren mechanisch fertig liest, die Worte „Philosphie", „Rhapsodie" usw., wie ich sie in Lesebüchern gesehen, herplap­

pern kann — ein solcher Mensch muß eine Methode wie die Fröbelsche, welche die Schrift nur als letztes Zeichen des Gedankens im Anfänge

behandelt haben will, für Ansinn erklären. Also, ich rechne auf ein offenes Wort von Ihrer Seite über meine behandelte Frauenjrage; ich fürchte mich ein bißchen vor Ihrer Kritik,

aber es schadet nichts.

Wenn ich nur erfahren könnte, was für Art Leute den Frauen­ verein gebildet haben? Sind Sie dabei beteiligt, oder sind darin nur

Frauen wirkend?

Korrespondenz zwischen Sb. Breymann und K. Schrader -iS 1872. 331

Ich brauche Ihnen wohl keine Versicherung darüber zu geben, daß wir uns so sehr freuen würden. Sie einmal bei uns zu sehen, indessen

möchte ich Ihnen mit diesem Wort keinerlei Löflichkeitsverpflichtungen

auferlegen Mit freundlichem Gruß

hochachtungsvoll,

Sb. Breymann.

Karl Schrader an Henriette Breymann. Braunschweig. 5. Oktober 1868.

hochgeehrtes Fräulein I

Ich weiß nicht, ob die Leute, welche sich an die Spitze

des Vereins gestellt haben, genug Geschick und Ansehen haben, um Gutes zu wirken. Wenn ich nicht irre, habe ich Ihnen geschrieben, daß die Frauen, welche hier den „Frauen-BildungsVerein" gründeten,

trotz der häufigen, selbst von den Leipziger Damen ausgegangenen

Empfehlungen gemischter Lokalvereine die Männer ganz ausgeschlossen haben. Die Gründe, oder wie mir scheint, Vorwände sind ziemlich selt­ sam; so hat man z. B. gefürchtet, durch Aufnahme von Männern die Politik in die Bestrebungen des Vereins hineinzuziehen, eine komische Furcht in einer Stadt, in welcher es überhaupt keine Politik gibt und

dergleichen niehr Ihr nächstes Ziel, Gründung einer FortbildungSschule, ist übrigens ein gutes, und weil man nicht einiger Persön­ lichkeiten wegen eine an sich lobenswerte Sache verdammen soll, so meine ich, soll man versuchen, sie zu fördern und ihre Anternehmer möglichst in richtige Bahnen zu lenken

Recht gespannt bin ich darauf, Ihre Ansichten über die Frauen­ frage in zusammenhängender Darstellung zu lesen; freilich habe ich man­ ches von Ihnen darüber gehört, aber in der Schrift werden die Gedanken

bestimmter und schließen sich mehr zu einem zusammenhängenden kon­

sequenten Ganzen zusammen als in der Konversation, wo die Ideen, jede durch die des andern bestimmt oder modifiziert werden. Früher

schien eS mir, als ob ich mit Ihnen übereinstimmte; jetzt, fürchte ich,

nach einigen Andeutungen, die Sie machen, daß das nicht der Fall ist.

Sie wollen den Tendenzen, welche auf dem Frauentage vertreten wür­

ben, opponieren; ich möchte sie nach Kräften fördern. Aber ist die Differenz nicht sowohl in dem, was wir wollen, als in dem, was wir als die Tendenz des Frauentages ansehen? Soweit

332

Kapitel 18:

ich die Verhandlungen gehört und begriffen habe, schien mir die Grund­ idee doch zu sein, daß an erster Stelle die Frau für ihre nächsten Pflichten, für ihre Wirksamkeit in der Familie sich bilden solle, und zwar so, daß sie eine rechte Gefährtin, nach Umständen eine Gehilfin ihres Man­ nes, eine gute Mutter, also eine Erzieherin ihrer Kinder sei. Erst an zweiter Stelle für die, welche noch nicht, nicht mehr oder vielleicht gar nicht zu einer Stellung in der Familie berufen sind, kommt die Frage nach einem Erwerbe außerhalb der Familie, oder nach einem künstlerischen oder wiffenschastlichen Berufe, welcher ihre Kräfte in Anspruch nehmen, und sie vor demüntergehen in Faulheit bewahren kann. Wenn man passende Berufsarten und Erwerbszweige wählt, so kann gegen die Sache an sich nicht wohl etwas gesagt werden. In einigen Tagen werde ich wohl wissen, ob ich in Ihnen eine Feindin zu bekämpfen oder eine Verbündete zu begrüßen habe; in bei­ den Fällen werde ich nicht verfehlen, mich schnell und ehrlich zu er­ klären. WaS ich wünsche, weiß ich wirklich nicht recht, es ist so schön, sich in Übereinstimmung zu wissen, aber ein bißchen Kampf und Streit frischt doch auch auf und ist, ehrlich geführt, nicht von Übel. Mich beschäftigt augenblicklich und wahrscheinlich mehrere Monate eine andere Angelegenheit weit ernstlicher noch als die Frauenftage. Eins von den Dingen, welche ich seit Jahren betreibe, ist gerade jetzt hoffentlich so weit gekommen, daß es mit einem kühnen, raschen Ent­ schlüsse zur Vollendung gebracht werden kann, und ich muß und will

probieren, ob es gelingt. Es handelt sich um den Bau von Arbeiter­ wohnungen in der Stadt Braunschweig oder besser noch um den Bau eines Arbeiterdorfes bei Braunschweig. Seit Jahren habe ich dafür gewühlt, und ich habe dabei mit Freuden gesehen, daß nichts des Erfolges sicherer ist als die rechte Idealität, welche nicht verschmäht, ihre Be­ rührungspunkte mit den realen Verhältnissen zu suchen, an sie anknüpst. Die Ansichten, die ich verfechte, beruhen darauf, daß jede Besse­ rung menschlicher Verhältnisse zu ihrer notwendigen Voraussetzung die Besserung der Menschen in sittlicherBeziehung habe, und daß jede Maß­ regel, welche dies« nicht bewirkt, erfolglos bleiben muß. Die Verbesserung der Arbeiterwohnungen trägt nun nicht allein durch Verbesserung des physischen Befinden- der Bewohner, sondern auch direkt zur Lebung derselben in moralischer Beziehung bei, wenn die Einrichtungen zweck­ mäßig getroffen werden; wenn man namentlich versteht, den Sinn für Ordnung, Sparsamkeit, Häuslichkeit und Familienleben zu wecken.

Korrespondenz -wischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 333 Sie werden wissen, worauf ich hinauswill; ich will, daß man nette Ein-elwohnungen für die Arbeiter baut, kleine Gärten dazu legt, und den Erwerb der Grundstücke durch die Bewohner auf alle Weise et» leichtert. Solche, anderswo gar nicht neue, vielmehr längst praktisch und im größten Maßstabe erprobte Ideen waren hier vor einigen Jahren noch völlig ungewohnt, aber ich kann es mir mit zum Verdienste an» rechnen, daß viele sich jetzt mit ihnen vertraut gemacht haben, und daß auf ihnen das Unternehmen wahrscheinlich beruhen wird, welches ich meine. Zum Zwecke der Erbauung solches Arbeitetdorfes in der Art der bekannten Cit6 ouvriere zu Mülhausen wird hier in der nächsten Zeit die Gründung einer Aktiengesellschaft versucht werden, und ich bin überzeugt, daß der Versuch gelingt, wenigstens werde ich so handeln, als ob er gelingen müßte, denn das ist die erste Bedingung jeden Er­ folges. Entschuldigen Sie, hochverehrtes Fräulein, daß ich, nachdem ich zum Schreiben gekommen bin, gar nicht aufhören kann, und Sie gar noch zum Schluffe mit Dingen unterhalte, welche Sie wahrscheinlich kaum interessieren, aber so geht es bei dem Briefschreiben wie bei der Unterhaltung, ich denke weniger, was andere, als an das, was mich beschäftigt. Bald hoffe ich Ihnen mündlich diesen Brief abbitten und Ihnen meine Verehrung ausdrücken zu können.

hochachtungsvoll,

K. Schrader.

Henriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Wahum. 6. Oktober 1868.

Geehrter Herr Assessor! Einliegend die Broschüre; ich glaubt« sie längst in Ihren Länden durch Ihren Herrn Bruder. Sie ist nach dem modernen Andeutungs­ prinzipe geschrieben, so daß dem Leser Raum bleibt, sich das Beste und Besseres dabei zu denken. Ich stimme ja in vielen Punkten mit dem Frauentage überein, und dennoch fühle ich viel mehr, als ich es ausdrücken kann, daß ich bei aller Anerkennung doch ganz anders bin und wirken würde, wie diese Frauen mir wenigstens erscheinen. Vielleicht fehlt es mir an Kühnheit — ich weiß oft selbst nicht, ob das andere, was ich empfind«, «in Mangel oder ein Vorteil ist. Ihr Brief hat mich sehr erfreut und erquickt. Glauben Sie im

334

Kapitel 18:

Ernste, daß ich mich für Ihr Projekt nicht interessieren würde? Daß Sie die sittliche Lebung der Menschen anstreben, tut mir so wohl, das ist der Punkt, welchen ich so schmerzlich vermisse in so vielen Ver­ besserungen der Jetztzeit. Aber denken Sie vor allem bei der sittlichen Lebung an die Frauenerziehung; denken Sie an richtige Frauenschulen; die Schule als Trägerin der Intelligenz muß dem Familienleben zu Lilfe kommen. Bitte interessieren Sie sich bei ihrem Arbeiterdorfe vor allem für die Frauenfrage; ich möchte mit Ihnen darüber sprechen. Ich habe vieles von Mülhausen gehört und gelesen, dort hat auch «ine reiche Dame einen Kindergarten gegründet. Ihre Idee, Ähnliches für Braunschweig ins Leben zu rufen, hat mich lebhaft erregt. Bitte entschuldigen Sie sich nie wieder, wenn Sie mir von Ihren Interessen schreiben. Sie gewähren mir dadurch nur Freude, denn, wenn Ihre Projekte in der äußeren Gestaltung auch meinem Bestreben ferner ge­ legen, so haben sie im Grunde denselben Boden, und es ist mir so erquicklich, von Dingen zu hören, die ja meine Lebensfreude ausmachen. Nicht wahr, ich erfahre Weiteres von Ihrem Wirken? Freundlich grüßend, 55. Breymann.

Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 3. Februar 1869. Lochgeehrtes Fräulein! Sie sind gewiß recht zornig gegen mich, daß ich Ihnen die versprochenen Bücher noch mcht zugeschickt habe. Llm mich nicht als gar zu „jökelig" erscheinen zu lassen, will ich zu meiner Entschuldigung nur anführen, daß ich mein Referat auS den Büchern von Dupanloup und Mohl in unserm Vereine gehalten habe In dem beigefügten Pakete finden Sie daher den alten protestantischen Staatsrechtslehrer und den katholischen Bischof friedlich nebeneinander, nur durch die „Neuen Bahnen"*) getrennt, oder wenn Sie wollen, verbunden, da vielleicht ihre Anfichten über Frauenerziehung das einzige Feld sind, auf welchem sie zusammensein können 1 Was die beiden Schriften für Wert haben, werden Sie besser als ich beurteilen. Dupanloup hat sich ein sehr beschränktes Thema gewählt: „Die Erziehung der vornehmenFrau", und behandelt ?S geistreich und mit manchen neu eingekleideten Ideen; aber da- fortwährende Pathos, die predigerhaste Behandlung der *) Eine Frauenzeitschrift, Serausgeberin Jenny Sirsth in Berlin.

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bi-1872. 335 Sache und die ganze ftanzösische Manier, die einfachsten Dinge mit einem großen Aufwande von Floskeln und Schlagworten vorzutragen,

ist mir einigermaßen ermüdend gewesen. Der alte Mohl hat sich offen­ bar auf «in Feld gewagt, daS er nicht vollständig übersieht, daher ist

auch manches dürftig; im ganzen aber wird er wohl recht haben, und gegen sein System der Erziehung im allgemeinen, gegen die neueren

Beschästigungsgebiete, welche er den Frauen zuweisen will, weiß ich nichts Erhebliches zu sagen. Mir war neu seine Ansicht über die Not­

wendigkeit, an die Spitze weiblicher Lehranstalten Frauen zu stellen, aber ich glaube, und Sie werden aus Ihrer eigenen Erfahrung wissen,

daß er recht hat; ebenso habe ich noch nicht so scharf die Notwendigkeit

der Verstandesbildung bei Frauen betonen hören, wie er es tut. Wichtig für die Sache der Frauenerziehung sind beide Schriften

wohl hauptsächlich, weil bisher noch nicht Männer ihrer Lebensstellung und ihrer religiösen und politischen Anschauungen so energisch für die

neuen Ideen aufgetreten sind. Für den Fall, daß Sie einmal überflüssig viel Zeit haben sollten, schicke ich Ihnen auch noch die Übersetzung einer englischen Rede über

die englische Genossenschaftsbewegung mit; die Rede ist bemerkenswert,

weil ihr Verfasser eins der Käupter der Bewegung ist, und man an­ nehmen kann, daß die ausgesprochenen Ansichten von sehr vielen Ge­ nossenschaftern geteilt werden. Die Übersetzung ist gemacht, weil ich sie mit einer Einleitung veröffentlichen wollte; als die Rede neu war, kam ich nicht an die Arbeit, die nötigen Notizen zu sammeln, und jetzt ist sie alt, so daß sie in meinen Akten ihr Leben beschließen wird. Die Ver-

bindung der Religion mit dem Genossenschaftswesen ist für uns deutsche

Atheisten fast überraschend. Einige andere interessante Bücher werde ich nächstens vom Buch­ händler erhalten, nämlich Laboulaye, Paria en Am&ique und I. Si­

mon, L’ouvridre, von welchen das erstere einen Vergleich der französi­ schen und amerikanischen Zustände (beide fteilich übertrieben, nament­

lich in bezug auf Stellung und Charakter der Frauen) enthält. Wenn

Sie mir gestatten, schicke ich Ihnen beide Schriften einmal. Eigentlich sollte ich mich steilich schämen, Ihnen, die doch genug

mit der Arbeit geplagt sind, noch viel Lesen zuzumuten, zumal noch

gestern meine Schwägerin mir erzählt hat, daß Sie infolge zu großer Anstrengungen das Bett hüten müssen. Von Kerzen wünsche ich, daß Ihr ünwohlsein ganz vorübergehend gewesen ist, und dieser Brief Sie

336

Kapitel 18:

bereits wieder in voller Gesundheit trifft. Ain Sonnabend haben Sie,

wie ich höre, die angenehm« Pflicht, einige Ihrer jungen Damen zu

Ball zu führen; ich bin durch die besondere FreundlichkeitV orwerks eben­ falls eingeladen, habe mich aber abgemeldet, weil ich überhaupt nicht

zu Bällen gehe. Außerdem war ich sehr zornig gerade auf diesen Ball,

weil Fräulein Schlegel und ich gehofft hatten, Sie an demselben Tage bei uns zu sehen, aber nicht wahr, wenn wir Sie und die Ihrigen in nächster Zeit bitten, uns mit Ihrem Besuche zu beehren, so tun wir keine Fehlbitte? Freilich können wir nichts bieten als unsere Freude, Sie zu sehen, und das ist für Sie herzlich wenig, aber man kann eben

nicht mehr geben, als man hat. Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen und der noch­

maligen Bitte, mir meine Saumseligkeit zu verzeihen,

Ihr, wenn auch etwas „jökeliger", doch ergebenster, K. Schrader.

Lenriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 26. Februar 1869. Lochgeschätzter Lerr Assessor I

Mit großem Interesse habe ich Mohl und Dupanlvup gelesen.

Der kalte, nüchterne Protestant und der begeisterte, feinfühlende Katho-

lik — solche Lektüre regt mich sehr an, und ich freue mich, daß Männer ihrer Stellung sagen, waS sie gesagt haben; ich möchte noch manches

hinzufügen, und vielleicht sprechen wir gelegentlich über einzelnes .... Einheitstrieb scheint der Staatsmann nicht viel zu besitzen, und das

macht mich etwas bedenklich. Wie kann er sagen, daß man ein guter Augenarzt sein könne, ohne tief in die übrigen Funktionen des mensch­ lichen Körpers einzudringen? überhaupt kommen manche Widersprüche in seinen Abhandlungen vor, welche wohl darin ihren Grund haben,

daß er das Wie der Frauenbildung nicht recht begriffen hat.

Alles, was die Frau lernt und tut, muß sich auf den Punkt kon­ zentrieren, den Menschen zu verstehen, und dessen berechtigten Bedürf­ nissen hilfreich entgegenzukommen. Wenn die Erziehung in der Theorie

zur Wissenschaft, in der Praxis zur Kunst (nicht Künstelei, sondern Vergeistigung der Natur) erhoben wird, dann fallen die Bildungs­

zwecke bei der Frau gar nicht so weit auseinander, und das dürfen sie auch nicht, wenn nicht ein großer Ansegen entstehen soll.

Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 3 37

Das Weib muß mehr und mehr lernen, sich in der Menschheit zu fithlen, dann wird die Ehe der schönste Durchgangspunkt zum rechten Leben im Ganzen, die Familie der schönste Konzentrationspunkt sein, werden und bleiben. Aber auch ohne dieselbe wird sie kein verkümmertes Reis, kein vertrocknetes Blatt am Baume der Menschheit sein. Di« Schule als Trägerin der Intelligenz muß der Familie zu Äilfe kommen, und wie die Schule jetzt den Unterrichtsstoff nach konzentrischen Kreisen ordnet, so sollt« die Bildung der Frau- zur Erzieherin, worin alles Wesentliche einbegriffen liegt, auch nach diesem System in Angriff genommen werden, indem man dem Weibe, deS Volkes im Keime reicht, was für die Frau der höheren Gesellschaft weiter ent­ wickelt wird. Ich halte nun einmal die Frauenfrage für die wichtigste unserer Zeit, weil sie das Ding beim Anfänge ergreift. And wenn sie nur in ihrer ganzen Tragweite von einer größeren Anzahl begriffen wäre nnd auf der andern Seite sich Begeisterung fände für den Grundgedanken unserer christlichen Religion, so würde die Ausführung gar nicht so große Schwierigkeiten haben, d. h. die Gründung solcher Mädchen- und Frauenschulen, wie ich sie im Sinne habe, die eben nach und nach dem weiblichen Geschlechte die Basis in der Erziehung geben, deren Früchte wohl erst in Jahrhunderten reisten, die aber doch sicher angebahnt würden. Ich glaube, die Katholiken werden unS vorankommen .... Man muß wie ich unter tiefgebildeten, tatkräftigen und für das Werk der Menschenliebe begeisterten katholischen Frauen, unter philosophisch denkenden Priestern gelebt haben, um zu begreifen, daß der Katholizismus Schönheiten und Tiefen in sich birgt, welche nur zu leicht durch den Plunder verdeckt werden, der an der Kirche hängt. Die Katholiken wer­ ben uns deshalb vorankommen in der Lösung der Frauenftage, weil ihre Religion die tiefe Bedeutung des weiblichen Einflusses für die Er­ lösung, d. h. Vergeistigung der Menschen im Marienkultus bewahrt hat Jetzt werde ich mich in Ihre Übersetzung vertiefen, wie schade, daß die Arbeit liegenblieb Ich werde recht dankbar fern, wenn Sie mir die versprochenen Bücher zuschicken; besonders wird mich l’ouvridre interessieren Der kürzlich bei Ihnen verlebte Abend hat uns um eine angenehme Erinnerung reicher gemacht. Wenn wir einmal wieder das Vergnügen haben, Sie bei unS zu sehen, werde ich Sie bitten, L h s ch t n « r a, Henriette Schrader I.

22

Kapitel 18:

338

an einigen Federn*) eine kleine Änderung vorzunehmen; ich glaube, sie find etwas zu zart fitr meine Land. Neulich habe ich eine ganz schreck­ liche Geschichte von den so geordneten Messern auf Ihrem Schreibtische geträumt. Mit freundlichem Gruße,

Lennette Breymann. Ihr Bruder sagt, Sie seien ein eifriger Lassalleaner — ist da- möglich?

Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 4. März 1869. Lochverehrtes Fräulein 1 Eigentlich hatte ich die Beantwottung Ihres fteundlichen BriefeS so lange hinausschieben wollen, bis ich Ihnen neue Lektüre mitschicken könnte, aber der Buchbinder läßt mich auf die beiden Ihnen zugedachten Bücher watten. Zunächst muß ich mich aber wehren gegen etwas, waS wie eine vorwurfsvolle Frage auSsieht. Sie fragen, ob es möglich, sei, daß ich ein Lassalleaner sei? Beruhigen Sie fich, es gibt keinen entschlossen«»«» Gegner gegen die Lassalleschen Projekte, gegen seine Lö­ sung der Arbeiterfrage als mich, aber ich bin weit entfernt von dem wüsten Geschrei der Leute, welche diesen unzweifelhaft höchst bedeutenden Mann so kurzweg, meistens ohne ihn aus seinen Schriften zu kennen, als einen Schwindler verdammen. Kann man einen Menschen — in bezug auf seine Begabung — gering schätzen, der nach einer Wirksamkeit von zwei, drei Jahren einen so ungeheuern Einfluß auf eine große Bevölkerung-klasse hat gewinnen können, daß sie noch heute seinem Worte folgt, ob­ wohl die, welche eS verkünden, völlig unfähig sind, auch nur «inen Gedanken neu zu fassen oder zu formulieren und ganz von den Phrasen

ihres Lehrers leben? Es würde mich zu weit führen und Sie langweilen, wollte ich hier Lassalles Theorie auseinandersetzen; meine Meinung, die ich mit vielen unterrichteten Gegnern seiner Projekte teile, ist die, daß er die Zustände der arbeitenden Klasse und wenn nicht alle, doch viele Gründe ihrer Leiden richtig und in einer in bezug auf Faßlichkeit und Tiefe der Darstellung kaum zu übertteffenden Weise dargelegt hat; seine Projette sind aber unausführbar und mußten es sein, weil ihm eine Seite der Frage,

•) Gänsefedern.

Korrespondenz zwischen L. Dreymann und K. Schrader bis 1872.

339

die moralische, fremd geblieben; weil er sie lediglich als politisches und

wirtschaftliches Problem sausschließlichj behandelt und lösen wollte.

Darin liegt auch der wesentliche Gegensatz der Ansicht über die Arbeiterfrage, wie sie in England von einer großen Partei und in

Deutschland wenigstens von einem hervorragenden Manne (Viktor AimL Luber in Wernigerode) aufgefaßt wird, und wie ich sie ansehe.

Die Arbeiterfrage ist ganz wesentlich eine moralische, ja religiöse, frei­ lich nicht in dem Sinne, daß der Arbeiter sich in dumpfer Resignation

in sein Geschick ergeben soll, wie manche unverständigen Frommen möch­ ten, sondern in dem Sinne, daß alles Leil nur erwartet werden kann von einer Stärkung der sittlichen Eigenschaften der Arbeiter. Frellich ist dazu eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage nötig, aber sie ist

von vorrübegehendem Werte, wenn sie nicht in jener Richtung wirksam wird; darum sind z. B. bloß Lohnerhöhungen so ost von keinem dauern­

den Einflüsse auf das Wohlbefinden der Arbeiter gewesen, und darum kann umgekehrt eine kleine Erleichterung von ungemeinem Effekte sein,

sofern sie nur auf die sittliche Lattung wirkt, wie z. B. die Gewöhnung

guter Wohnungen, weil diese erst ein geordnetes Familienleben, die

Basis aller Sittlichkeit möglich machen. Darum haben englische Konsumvereine eine so mächtige Wirksam­

keit, die meisten deutschen eine so unerhebliche auf die Besserung der Lage der arbeitenden Klassen gehabt, weil die ersteren ihrer ganzen Ein­ richtung nach den Teilnehmer zum Sparen und zu einem ordentlichen Laushalten veranlassen, und weil sie von vornherein nur als Vorberei-

tung höherer wirtschaftlicher Ziele dienen sollen, und Sittlichkeit und

Bildung und brüderliches Zusammenwirken betonen. (NB. Kein eng­ lischer Konsumverein verkauft geistige Gettänke, bei ihren Zusammen­

künften gibt es kein Bier und keinen Wein, sondern nur Tee; die Ver­ eine verwenden erhebliche Summen zu Bildungszwecken usw.,

wäh­

rend die deutschen Konsumvereine nur die Lebensrnittel etwas billiger machen wollen.)

Sie werden im Zusammenhang« dieser Ideen finden (wenn ich wenigstens die Existenz einer besondernArbeiterftage beinahe leugne),

daß ich meine, die zu ihrer Lösung dienlichen Mittel seien größtenteils gar nicht eigentümlicher Art, sondern dieselben, welche überhaupt die

Menschen zu ihrer Fortentwicklung bedürfen. Es ist hauptsächlich die

Stärkung des fittlichen Momentes, deren die heutige menschliche Geftllschast, Arbeiter und Nichtarbeiter bedarf, die mindere Betonung 22*

Kapitel 18:

340

des Rechtes, die stärkere Hervorhebung der Pflicht. Dadurch, daß die Wohlhabenderen die ihnen durch die jetzige wirtschaftliche Lage gegebene Macht (wesentlich beruhend in der Übermacht des Kapitals gegen die Arbeit) mißbrauchen, weil sie lediglich auf ihr Recht sehen, haben sie

die Erbitterung der Arbeiter hervorgerufen. Dadurch, daß diese nun ihrerseits ihr Recht, wie sie eS auffassen, ohne alle Rücksicht auf andere Rechte durchsetzen wollen, bedrohen sie gerade die Grundlagen unserer ganzen Zivilisation, deshalb predigen sie offenen, unversöhn­

lichen Krieg gegen ihre sie in ihren Rechten verletzenden Gegner. So­

bald beide Parteien anerkennen, daß sie nicht bloß Rechte haben, son­ dern auch Pflichten gegeneinander, gegen die Gesamtheit, dann ist der

erste, wichtige Schritt zur Lösung der Arbeiterftage geschehen; hier mit

einem guten Beispiel vorangehen, ist eben Sache der höheren Klassen; sie müssen durch die Tat beweisen, daß sie nicht bloß die Rechte ihrer Gegner anerkennen, sondern auch selbst zu deren möglichster Nealisie-

rung helfen, daß.sie die Arbeiter in ihren berechtigten Bestrebungen

geradezu fördern wollten.

Wenn Sie diese Ansichten verfolgen wollen, so werden Sie mit mir übereinstimmen, daß die Arbeiterftage großenteils Erziehungsftage ist, weil nur die Erziehung (der Erwachsenen allerdings nur durch da­

praktische, zu diesem Zwecke in manchen Beziehungen besonders gestal­ tende Leben) eine allmähliche Stärkung des sittlichen Moments, des

Gefithles der Pflicht bewirken kann. Soll ich aufrichtig sein, so haben Sie diesen längeren Exkurs über die Arbeiterftage eigentlich nur dem

Wunsche zuzuschreiben. Ihnen zu zeigen, wie meine Beschäftigung mit der Arbeiterftage zu einem lebhaften Interesse für die Erziehung fithren

mußte. Daß die Frauenftage nach Ihrer und ich darf sagen nach meiner Überzeugung ganz wesentlich in dies Gebiet fällt, daß es gilt, die Frau für ihre Teilnahme an der Erziehung der Menschheit besser als bisher zu bilden, das bildet wieder das Band zwischen Frauenftage und Ar-

beiterftage. !lm auch auf die Frauenftage die oben schon angedeutete verschie-

bene Auffassung von der Seite des Recht- und von der der Pflicht an­ zuwenden, so liegt auch hier der ünterschied in Sinn und Zweck der Frage bei den verschiedenenParteien darin, daß die eine vorzüglich daS Recht der Frau betont, gewisse bisher demManne allein zustehende Privilegien in Kenntnis und Beschäftigung, Sitte usw. in Anspruch zu nehmen, während die andere zeigt, daß die Frau ihre Bestimmung

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872.

341

nur erfüllen könne, wenn gewisse Änderungen an ihrer Erziehung, ihrer sozialen Stellung eintreten. Auf dieser letzten Seite finden Sie fich mit Mohl und vorzüglich mit Dupanloup zusammen, und ich suche mich unter Ihrem Schuhe, mit Ihrer Anleitung in diese Gesellschaft einzu­ schleichen. Aber in einer Beziehung bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Sie hoffen, daß man die Frauenftage von dem Punkte auS angriffe, welchen Sie fitr den Anfangspunft halten, und welcher eS theoretisch auch ist, nämlich mit der Einrichtung der Mädchenschulen nach den Prinzipien, welche fich aus der richtigen Auffassung der Frauenerzie­ hung ergeben. Gewiß wird dies einmal kommen, aber nicht im Anfänge, sondern am Ende der Sache, weil die Menschen im ganzen hauptsächlich einzelne Gesichtspunkte eines Prinzips, sofort brauchbare, handgreiflich nützliche, d. h. nach der Meinung der großen Menge nützliche Teile der­ selben herausgreifen und praktisch durchführen, wie das die Entwicklung aller großen Ideen zeigt. Man wird sich hauptsächlich mit der Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts befassen. Das prak­ tische Bedürfnis wird dahin führen, erst den einen, dann einen zweiten, dann einen dritten Teil usw. der weiblichen Erziehung zu ändern, so wird man ganz allmählich zur konsequenten Durchführung der Prin­ zipien kommen, welche theoretisch längst klar gewesen waren

Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 1869. März (?).

Lochgeschätzter Lerr Assessor I Durch den Ideenaustausch mit Ihnen lerne ich manche Erscheinun­ gen unserer Zeit besser würdigen, als ,ch es früher tat, und so hat mir Ihr letzter Brief manches zu denken gegeben. Indessen denke ich, soll man das eine tun und das andere nicht lassen, und ich halt« es doch nicht für verfrüht, sondern großem Anheil vorbeugend, wenn man mit aller Kraft auf die rlmgestaltung und Neu­ bildung von Mädchenschulen aller Stände hinarbeitet, und mein höch­ ster Wunsch wäre, in dieser Beziehung so oder so tätig sein zu können. Dem Anscheine nach bietet eine Pension ja ein reiches Feld, auf die Llmgestaltung weiblicher Erziehung zu wirken, und doch ist es nur eben der Schein. Gerade die Pension hat mich aufgeklärt über die große Macht des mütterlichen Einflusses, di« Macht der Verhältnisse, der Gewohnheit, und wie verrottet sind oft die Familienverhältnisse I Eine

342

Kapitel 18:

Pension ist ein Stückwerk, bei dem man weder von Grund auf aufbauen noch bis zu einem gewissen Abschluß vollenden kann, und hätte ich vor

15 Jahren so klar gesehen wie jetzt, so würde ich keine Pension an­

gefangen haben. Die Schule als Trägerin der Intelligenz muß erleuchtend und rei­

nigend auf das Familienleben zurückwirken, und in der Gründung

ordentlicher Schulen, deren Leiter das Leben in seinen Tiefen und mannigfachen Gestaltungen kennen, die den Unterricht nur als Mittel

-um Zwecke gebrauchen, und die eben aufs Leben vorbereiten — sehe

ich immer den sichersten Weg zur Neugestaltung des Lebens, einen Weg, der zwar sehr langsam zum Ziele führt, aber der doch nach Generationen

-um Ziele kommen wird.

Schon in Watzum bei meinen Eltern war mir das klar geworden, und deswegen suchte ich die Nähe einer Stadt und fand, soviel mir widersprochen wurde, doch in Wolfenbüttel keinen ungünstigen Boden. Ich habe eine schöne Zeit verlebt in dem Glauben, daß ich zu einem An­ fänge gekommen sei, der für mich erst einmal Ziel war. Der Tod meiner

Schwester Marie, in der ich eine unersetzliche Stütze verlor, abgesehen vor allem, was sie mir persönlich war, riß mich mit Macht zurück in die Arbeit für die Pension; denn es hat stets meiner Natur widerstrebt,

das Nächste zu vernachlässigen, um in der Ferne schöne Ideen zu

predigen. DaS neue Leid*), daS über uns gekommen, hat mich gezwungen, meine praktische Tätigkeit im Schlosse fast ganz niederzulegen, da meine arme Mutter und Schwester daS erste Recht haben auf jeden freien Moment. ES wird nun manches anders, als ich es möchte, was ich aber nur dann verhindern könnte, wenn ich selbst dort arbeitete. ES ist

mein aufrichtiger Wunsch und Wille, aus dem Stückwerk der Pension

das Möglichste zu machen, und da ich hier allein den Boden meiner Tätigkeit habe, so kann ich gar nicht anders, als Mittel und Wege suchen, wenigstens einem Teil der mich bewegenden Ideen hier Gestaltung zu geben. Sollte ich aber jemals frei über die nötigen Mittel zu

verfügen haben, dre es möglich machen, den verrückten Anforderungen des Publikums eine gewisse Zeitlang Trotz zu bieten, so verwende ich sie sicher zur Gründung einer Schul«, und ich denke immer, es würde

den Leuten doch dre Augen öffnen für das, was eigentlich im Grunde *) Krankheit der Schwester Ledwig.

Korrespondenz zwischen 55. Dreymann und K. Schrader bi-1872. 343

not tut, wenn die Schule einmal bestände. Vielleicht werde ich nie die Realisierung meines Ideal-, welche- ich angedeutet habe, erreichen, aber es ist noch eine fülle Hoffnung; wie unbegründet sie auch sei, sie ist da. Ihr Brief hat mir zum Bewußtsein gebracht, daß ich eigentlich gar nicht mit dem Volke der arbeitenden Klaffe in Berührung komme

jetzt; muß ich mir daraus einen Vorwurf machen? Deutet es auf aristokratische Richtungen in meiner Natur? Vielleicht bin ich nicht frei da­ von zu sprechen, aber ich habe so viel geistige- Elend unter der so­ genannten gebildeten Klass« der Frauen gefunden, daß es wirklich all mein Fühlen und Denken und Landein in Anspruch genommen hat. Nichtsdestoweniger interessiere ich mich für die Fragen, die da- Volk betreffen und bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich üefer in die Sachlage, die Arbeiter betreffend, einfiihren. Ein vollständiges Urteil über Lassalle zu haben, maße ich mir nicht an; ich habe mir nur seine Bestrebungen zur Hebung de- Arbeiter­ standes auseinandersetzen lassen und fand sie unhaltbar, ohne sittlichen Grund und Boden; doch darin haben Sie ja dieselbe Meinung. Sie haben schon öfter die religiöse Frage berührt insofern, als Sie die Religion für durchaus notwendig zur sittlichen Hebung halten; es würde mich so sehr interessieren zu wissen, wie Sie darüber denken . .

Henriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum, August 21.1869.

Hochgeschätzter Herr Assessor I Sie haben mir eine große Freude bereitet, und ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank. Nie hat ein Kunstwerk auf mich tröstender gewirkt als der „Luther".*) Ich liebe dieses Werk und halte es in seiner Art für vollendet. In allem, was der Vollendung zustrebt, liegt so viel Versöhnendes, und in dieser Zeit brauche ich das besonders. So un­ sympathisch mir die Partei der streng Lutherischen, d.h. die sich so nennen, ist — so viel Fesselndes hat Luthers Persönlichkeit für mich, sowohl nach der Seite des Einheitlichen in seinem Charakter, wie auch nach der Seite der in ihm mächüg kämpfenden Widersprüche. In dem Manne ruht eine Welt, und der Moment, wo diese kämst*) Gipsabguß des Lutherdenkmals zu Worms.

344

Kapitel 18:

sende, streitende Welt durch Überzeugungstreue und Gottergebenheit

sich löst in der Harmonie frommer Begeisterung, dieser Moment ist, meiner Überzeugung nach, unübertrefflich vom Künstler erfaßt und

dargestellt. Indem ich schreibe, muß ich immer wieder und wieder den Blick auf den „Luther" werfen, er ist einzig schön I Ich habe lange keine so herzliche Freude über etwas empfunden als darüber, dies Kunstwerk zu besitzen. Auch, daß Sie Beckers Schrift gelesen und Anregung dadurch ge­ funden, freut mich so sehr. Ich glaube, es wäre sehr an der Zeit, daß die Menschen, welche mit Ernst für die andern arbeiten möchten, sich auch über den religiösen Punkt recht klar werden, und so auS dem tiefsten Geiste heraus ein Gebäude aufführen, das da stark und kräftig in der Mitte steht, und der Orthodoxie sowohl als dem freigemeindlichen Prin­ zip, die beide gleich gefährlich sind, mit Bewußtsein die Spitze böte. Ich möchte. Sie lernten H. Becker kennen, er ist der einzige, den ich meinen Pastor nennen möchte; er ist ein verständnisvoller, fleißiger, ernster Arbeiter. Ich schicke Ihnen noch einige Worte, die zu der Schrift gehören, und Bemerkungen von mir; wollen Sie nicht die Ihrigen hinzufiigen? Nehmen Sie noch einmal meinen Dank und einen herzlichen Gruß. Hochachtungsvoll! Henriette Breymann. Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 11. September 1869. Hochgeehrtes Fräulein I

Mit bestem Dank send« ich Ihnen in Beantwortung Ihre» gestrigen Briefes hierbei die Schrift von H. Becker zurück nebst Anlagen, allerdings ohne Bemerkungen von mir, weil ich mit denselben noch nicht fertig geworden bin. Dieselben werden, wie ich mir neulich erlaubte anzudeuten, nicht eine Kritik des Inhaltes der Schrift, mit welchem ich ganz einverstanden bin, enthalten, sondern die Aufgabe, welche sich in der Jetztzeit eine religiöse Bewegung zu setzen hat, näher zu bestimmen suchen, also gewissermaßen eine Ergänzung zu der Schrift geben. Herrn Becker bitte ich ebenfalls meinen Dank zu sagerl, bis ich, wie ich hoffe bald zu können, ihm persönlich danke. Den Brief von Frau von Marenholtz füge ich gleichfalls wieder bei. Ich freue mich, daß für das Fröbelsche Erziehungssystem energisch gewirtt wird, Erziehung und namentlich Volkserziehung ist die wich-

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872.

345

tigste Frage der Gegenwart, und soweit ich Fröbel begreife, scheint er den richtigen Weg zu einer Volksbildung einzuschlagen, welche nicht bloß Kenntnisse, sondern, worauf es vorzüglich ankommt, Charakter

und Denkfähigkeit gibt. Wenn die Verhandlungen des am 26. zu Frank­ furt a. M. stattfindenden Kongresses gedruckt werden, so werde ich sie

mit dem höchsten Interesse studieren, Hinreisen zu der Versammlung kann ich nicht, weil ich zu derselben Zeit in Warmbrunn in Schlesien sein muß, außerdem würde in einen Kongreß von Notabilitäten ein völlig Unkundiger, welcher nur lernen möchte, schlecht paffen. Die Schrift

von Fichte, welche Frau von Marenholtz erwähnt, lege ich bei.

Daß Sie auf einige Tage in den Larz gehen, freut mich sehr; ich möchte, sie gönnten sich dort eine längere Ruhepause, denn solange Sie

in W. sind, kommen Sie doch aus dem Drange der Geschäfte nicht her­ aus, und mag der Körper auch Ruhe finden, so kann doch der Geist sich nur dann von der Abspannung langer Arbeit und schwerer Sorgen

erholen, wenn er auf einige Zeit die alte Ideenwelt abschütteln und sich

im neuen Kreise bewegen kann.

Nächste Woche gehe ich schon wieder von hier fort nach Dürkheim in der Pfalz und nach wenigen Tagen Aufenthaltes hier bis gegen

Ende d. M. nach Schlesien; dann hoffe ich wieder Ruhe zu haben.

Schwerlich werde ich das Vergnügen haben, Sie bei Ihrer An­ wesenheit in Braunschweig zu sehen und mit Ihnen über Ihres Bru­

ders „Heinrich den Löwen", welchen ich schon mehrmals besucht habe, zu sprechen. Mir gefällt die Statue sehr; die realistische Auffassung,

von welcher Ihr Herr Bruder auSgeht, ist in einer durchaus schönen Weise verwirklicht, und die Auffassung des Gegenstandes wie die Ausfithrung zeugt von einer schönen Sicherheit und Klarheit des Wollens und Können» des Meisters.

Empfehlen Sie mich, bitte, den Ihrigen und Herrn Becker bestens.

Mit dem Wunsche, daß Sie bald wieder gekräftigt sein mögen, verbleibe ich Ihr ergebenster

K. Schrader.

Henriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 1. Oktober 1869. Hochgeschätzter Lerr Assessor I Mit dem herzlichsten Danke sende ich Ihnen den Aufsatz zurück,

er ist meiner Seele eine Wohltat. Eine Lück« habe ich -war in Fichte-

346

Kapitel 18:

Anschauungen gefunden, möchten Sie von beikommenden Papieren einige Seilen, von Seite 5 an, unten lesen? Diese Blätter enthalten,

wa- ich anfing, über Fröbel zu schreiben, aber ich will Ihnen nicht zu­

muten, daS Ganze zu lesen. WaS mich so fesselt und hebt bei den Fröbelschen Ideen ist der

Geist der Einheit; fi« müssen allerdings verarbeitet werden, aber der Grund ist gegeben. Diese Einheit, welche die größten Weltgesetze zur

Geltung und Anwendung bringen in den kleinsten Dingen; dieses große, wunderbare Geistesleben, das sich in stetigem Fortschritt hindurchzieht vom kleinsten Anfangspunkte bis zur größten Verzweigung. Wie man

im Unterrichte jetzt anstrebt, alle- in konzentrische Kreise zu bringen,

so wollte Fröbel dies Gesetz schon auf die ganze Erziehung anwenden, und er hat die praktischen Mittel dazu gefunden. Wie ich schon früher gegen Sie äußette, finde ich so wenig Men-

schen, d. h. so wenig ganze Menschen unter den Leuten; diese 3erstückelung und Zusammenhangslosigkeit in den Anschauungen selbst und

in ihren Theorien und der Praxis tut mir immer weh. Es macht mich

daher doppelt glücklich, daß ich durch Fröbel die Eck- und Bausteine

finde zu diesem einheitlichen Gebäude, das dem Gedanken keine ihn beengende, zerstückende Schranken setzt, dem Gemüte, der Begeisterung ihr Recht gibt, und doch wiederum diese mühsame^Arbeit, die Treue im

Kleinen fordett, ohne welche kein wahrer Charakter sich bildet.

And nun ist es mein höchstes Stteben, mir klar und klarer zu wer­ ben, wie man sich zu den Erscheinungen der Zeit zu verhalten hat, um dem als recht Erkannten tteu zu bleiben, treu zu dienen, um die Person in den Dienst des Ganzen zu stellen; nur das gibt Frieden. Äermann Becker empfindet dasselbe Bedürfnis, und ich freue mich sehr auf seinen

Besuch; allein kann man im Getriebe deS Lebens sich nicht zurecht­

finden, ich kann es wenigstens nicht, d. h. in bezug aus die rechte Stellung

den politischen und sozialen Erscheinungen gegenüber. Die Frauen haben, meinerMeinung nach, nicht den Beruf, in der Weise wie die Männer Pattei zu ergreifen, aber in mir lebt das Bedürfnis, die Dinge ihrem eigentlichen Werte nach zu würdigen und innerlich die rechte Stellung dazu zu finden. Ich komme auch manchmal in die Lage, wo

eine objektive Anschauung der Dinge für mich notwendig ist, wie z. B. in dem hiesigen Vereine für Erziehung. Ich weiß nicht, ob ich hindurch,

kommen werde und dazu beittagen, daß etwas Wesentliches erreicht werde, indem meine Stellung den verschiedenen Persönlichkeiten gegen-

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 347 über eine der schwierigsten ist, die sich denken läßt; aber ich will es

versuchen. Die Lauptsache ist ja die Bildung der Lehrerinnen, und daß ich meine Lieblingsstunden dort aufgegeben habe: Erziehungslehre, Fröbel-

Praxis ist eines der größten Opfer, welche ich je gebracht. Ich gestehe auch, daß ich mir etwas mehr freie Land hätte erhalten können, wenn

ich von Anfang an kälter und objektiver war und begriffen hätte, was

ich jetzt erkannt habe in bezug auf die eine und die andere Persönlich­ keit; aber ich habe viel gelernt, und so ist mir keine Erfahrung leid.

Wenn Sie den Aufsatz gelesen haben, so darf ich ihn mir gewiß wieder ausbitten, indem ich ihn mit Lermann Becker lesen möchte, der doch acht Tage, denke ich, hierbleiben wird. Mit freundlichem Gruß I

L. Breymann.

Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. 4. Oktober 1869. Lochgeehrtes Fräulein I Als ich heute gegen abend mein Zimmer im Direktionsgebäude

betrat, sand ich auf dem Tische ein kleines Päckchen mit meiner Adresse und einer andern Aufschrift, welche mich gleich vermuten ließ, woher

es stammte; Nachfragen bei den Dienern bestätigten dann meine Ver­ mutung, daß ich in Ihnen die heimliche, gütige Geberin jenes reizenden

Geschenkes zu erkennen habe, welches ich jetzt dazu benutze, Ihnen mei­ nen Dank auszusprechen. Sie haben allerdings ganz gegen die Regeln

unseres VerttageS gehandelt, und ich sollte von Ihrer Ankenntnis deS Rechts keinen eigennützigen Gebrauch machen, aber — da haben Sie

ein Beispiel, wie schwach die edeln Triebe im Menschen sind, und wie notwendig es gewesen wäre, daß sie bei mir kunstvoll, kindergättnerisch und Fröbelisch ausgebildet wären. Ich habe auch keinen Augenblick diese Idee gehabt, so erfreut war ich von Ihrer Freundlichkeit und davon,

daß ich ein Andenken von Ihnen besitzen soll. Freilich hoffe ich, daß

eS nicht dazu dienen soll, an die Stelle lebendigen Gedankenaustausches Erinnerungen zu setzen, sondern daß die Att des Geschenkes auf die fernere Pflege der Beziehungen hinweist, welche gemeinsame geistige Interessen unter uns hervorgerufen haben; meinerseits kann ich es nur auf das lebhafteste wünschen, denn ich verdanke Ihnen die Anregung zu der Beschäftigung mit den höchsten Dingen, in welchen allein der

Kapitel 18:

348

wahre Vereinigungspunkt unseres ganzen Seins und Strebens gefun­

den werden kann. Nur von Ihnen konnte diese Anregung kommen, ohne daß ich sie

sogleich zurückgewiesen hätte, und ich freue mich jetzt mit jedem Schritte, welchen ich weiter tue, deutlicher meine Übereinstimmung mit Ihnen zu sehen. Der Auffah von Fichte, welchen Sie so loben, ist mir in allen

wesentlichen Punkten ganz aus der Seele geschrieben. Was die zu­

künftige Stellung der Religion im Leben der Menschheit und in der Erziehung betrifft, so sind die Ideen, welche Fichte ausspricht, ähnliche,

wie ich sie zu dem Aufsatze von S>. Becker bemerken wollte, und welche ich nun schleunigst zu Papier bringen und Ihnen zuschicken werde, da. mit Sie nicht noch schließlich über meine „Iöckelei" zornig werden. Übri­ gens sind Sie selbst daran schuld, daß ich diese Arbeit nicht gestern ge-

macht habe: gestern habe ich statt dessen auf höchsten Befehl die Auf­ sätze von Fichte und von Ihnen durchaus studiert mit heißem Bemühen, und doch muß ich gestehen, mit beiden nicht so zu Ende gekommen zu sein, daß mir nicht ein nochmaliges Durchlesen sehr erwünscht wäre.

Die Bruchstücke Ihres Werkes habe ich mit dem größten Interesse ge­ lesen, und ich würde sehr bedauern, wenn es bei diesem Anfänge bliebe, welcher vermutlich nur ein kleiner Teil des Ganzen ist.

Etwas frappiert haben mich die vielen Unterabteilungen, welche

Sie im menschlichen Geist machen, aber ich bekenn«, daß ich über solche

Dinge kein Urteil habe. Welches ist der Plan des Werkes? Soll es ein Landbuch für Kindergärtnerinnen oder Erzieherinnen sein, worauf das erste wohl schließen läßt, oder soll es für das größere Publikum bestimmt

sein und diesem gewisse, praktisch besonders wichtige Teile der Lehre Fröbels vorführen?

Sie sehen aus dresen Fragen, wie wenig ich von diesen Din­

gen weiß. L. Becker hat mich durch seinen Besuch sehr erfreut; wenn er das

nächste Mal nach Wolfenbüttel kommt, suche ich ihn dott auf. Ich

wollte versuchen, Sie heute abend noch am Zug« zu sehen, aber ich habe wieder von 6 bis 8 Sitzung des Frauenvereines gehabt und konnte deshalb nicht zum Bahnhöfe kommen, Ihnen mündlich zu danken.

Genehmigen Sie darum meinen schriftlichen Dank vorläufig. Den Ihrigen bitte ich mich bestens zu empfehlen; Ihren Bruder

Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 349 Adolf treffe ich vielleicht am Sonnabend auf der Reise, da ich an demselben Tage nach Naumburg und wahrscheinlich über Magdeburg gehe. Ihr ergebener

K. Schrader.

Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 6. Oktober 1869.

Hochgeehrtes Fräulein 1 Sie haben recht; ich bin, wie die Berliner sagen, „eklig reingefallen"; strenge Nachforschungen und die Androhung allerhöchster An­ gnade haben dazu geführt, die wahre Schuldige zu entdecken, und meine ünfehlbarkeit zuschanden zu machen. Übrigens lag die Vermutung auf Sie nahe genug. Denn erstens

trug das Päckchen die Aufschrift: „ J’y pense", zweitens sagten mir die Pedelle, es sei von einer Dame in Trauerkleidung gebracht, und drittens waren Sie um diese Zeit in Braunschweig gewesen. An die richtige Geberin konnte ich aber gar nicht denken, weil ich ganz vergessen hatte und mich auch heute noch nicht erinnere, mit ihr ein „Vielliebchen" gegessen zu haben, und weil sie, die allerdings noch ttauert, unserm Personal genau bekannt ist, und keine ürsache hatte, sich zu verheim­ lichen. Es ist nämlich die Frau meines Kollegen, des FinanzratesWolf, und die Gabe ist ein silberner Federhalter mit einer goldenen Feder. Wenn ich mich etwas beschämt fühle und darauf gefaßt bin, bei unserer nächsten Begegnung tüchtig ausgelacht zu werden, so bin ich der Täuschung deshalb dankbar, weil sie mir Gelegenheit gegeben hat, Ihnen zu sagen, was ich Ihnen danke, und wie ich Sie schätze. Wenn Sie Freitag nach Verden gehen, so sehe ich Sie vielleicht am Bahnhöfe; den Brief von Frau Köllner lege ich wieder bei. Mein Bruder Adolf war vor einigen Jahren in Verden als Assessor und ist wahrscheinlich Köllner bekannt. Leben Sie wohl, lachen Sie nicht zu sehr, mich auf einer Fehlbarfeit ertappt zu haben, und empfehlen Sie mich den Ihrigen. Ihr ergebenster K. Schrader. Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 10. November 1869. Hochgeehrtes Fräulein! Nehmen Sie meinen besten Dank für die fteundlich« Übersendung

der Monologen von Schleiermacher, welche mir Ihr'Bruder Erich

350

Kapitel 18:

gestern zugestellt hat. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen nicht aus über­ triebener Löslichkeit, welche nach Ihrer Meinung mein Lauptfehler ist,

sondern ernstlich dankbar bin für die Anregung, welche Sie mir zur Pflege des idealen Elementes geben. Nur zu leicht vernachlässige ich

dies im täglichen Leben, zumal bei so rein realen Beschäftigungen, wie die meinigen sind, aber wenn man, wie es mir nun einmal geht, für

seine eigene Person eigentlich kein Lebensziel hat, so fühlt man, wie doch nur ideales Streben über die Last des täglichen Lebens hinweg­

helfen und zum Fortarbeiten ermutigen kann. Leute nachmittag gehe ich nach Leipzig und kehre erst Ende der Woche zurück; die Monologen nehme ich mit und denke, schon während

der Reise Gelegenheit zu finden, sie zu lesen.

Daß Sie der Aufsatz von Fresenius*) interessiert, freut mich sehr; eS ist viel Neues und Wahres darin, und es wird in anziehender Weife ausgesprochen. Wenn ich nicht irre, war der Verfasser bei dem Philosophenkongreß beteiligt. Gestern abend habe ich den Dr. Reck gesprochen nach seiner Rück-

kehr aus Italien und von ihm gehött, daß sein Reisegefähtte, Köllner,

ein sehr unterrichteter, tüchtiger und liebenswürdiger Mann ist, den er auf der Reise in jeder Beziehung schätzen gelernt hat. Er scheint also

ein würdiger Bruder Ihres Freundes zu sein. Empfehlen Sie mich bitte den Ihrigen, und entschuldigen Sie den kurzen Brief mit der Eile, in welche mich mancherlei vor der Abreise noch zu erledigende Geschäfte versetzen. Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebenster

K. Schrader.

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 16. Dezember 1869.

Lochgeschätzter Lerr Assessor 1 Wenn es Ihr Ernst war, was Sie mir öfter sagten und schrieben,

daß Ihre Natur das Bedürfnis fühlt, ein ideales ©treten in sich zu pflegen, so wird Sie einliegender Brief freuen, den ich gestern abend vorfand. Ich bin recht glücklich darüber, er ist mir wie auS der Seele

*) „Natur der Masse", erschienen in der VietteljahrSschrist: „Die neue Zeit"; der Aufsatz behandelt die psychologische Einwirkung der Menschen aufeinander in Massen.

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872.

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geschrieben. Ich hätte vieles zu erzählen über die Entwicklung meiner Arbeit hier .... Die Verhältnisse hier in unserm Vereine entwickeln

sich so eigentümlich, daß ich wirklich in einer schweren Schule war und

bin; aber ich glaube, Gott hat mir geholfen, das Rechte zu tun und zu finden; ich weiß jetzt, was ich will und kann, und nun möge Gott

mir helfen, treu zu arbeiten auf diesem Wege.

Wenn ich der Otthodoxie die Lände reichen wollte, könnte ich viel,

leicht zu Ansehen kommen, denn ich könnte ein förderndes Werkzeug für sie sein in meiner Einwirkung auf Frauengemüter; aber wie isoliert

ich mich auch fühle in meiner Anschauungsweise, ich bin mehr als je überzeugt, auf dem rechten Wege zu sein, und so muß ich weiter. Ich

will nichts tun, was ich meinen Gefühlen nach für unweiblich halte; aber ich will unerschütterlichen Widerstand leisten in meinem kleinen

Kreise und will meine Schülerinnen (ich habe nur wenige, da mir daS Feld genommen) zu dieser stillen, aber festen Arbeit erziehen

In wie viele Konflikte kann doch das Menschenherz geraten, und wie

tief habe ich empfunden, welche Kraft die innige Gemeinschaft mir Gott gibt, wie das Gebet eine Tat ist. So bin ich nun in mir zu einem ge-

wissen Abschluß gekommen, und ich hoffe, es wird mir ferner nicht zu schwer werden, der Einheit von Gedanken, Gefühl und Tat treu zu

bleiben, die anfängt, nach vielen Kämpfen in meinem Innern sich zu

gestalten.

Shakespeare sagt: „Es gibt Dinge zwischen Limmel und Erden, von denen sich die Philosophen nichts träumen lassen." And bei Gott,

daS ist wahr. Für diese Dinge haben gewisse Leute kein Verständnis,

aber man muß sich doch diesen Menschen anschließen, denn sie machen die Bahn frei von Lemmnissen, von diesem entsetzlichen ReligionS-

system der Kirche, das so entsittlichend wirkt, wenn nicht wahre Frömmigkeit damit sich findet; das Pharisäertum unserer Zeit ist groß. Wie

habe ich Ihnen oft im stillen gedankt für den Luther; wirklich, wenn ich mich zum Besseren entwickelte, so trägt er einen großen Teil daran; so ein wahres Kunstwerk ist, wie ein Schriftsteller sagt: „Ein Licht, welches vom Göttlichen auSstrahlt."

Das tiefe Geheimnis der Iesuliebe mehr und mehr zu ergründen,

dann den Nächsten zu lieben wie unS selbst, ist wahrlich mehr als ein Akt von liebeseligem Gefühl—bei vollkommener Freiheit des Geistes —, daS ist die Aufgabe der Erziehung.

Nun, schicken Sie mir bald Ihre Arbeit, wenn sie nicht unter Eisen-

352

Kapitel 18:

bahnakten begraben liegt, und geben Sie mir für den schönen Gedanken einmal wieder Nahrung. Laben Sie meinen Schleiermacher ein bißchen lieb? Schleier­ machers Monologen erscheinen mir wie ein mächtiger Gesang einer frisch erwachten Menschenseele, die noch glaubt, mit unbeschränkter Sehnsucht nach dem Göttlichen, in starker Subjektivität den widerstrebenden Stoff des Erdenlebens sich dienstbar zu machen und gen Simmet zu ziehen. Wohl hat der Dichter seine Larfe später in manch andern Ton gestimmt; aber immer bleiben gewisse Grundakkorde des Büchleins wahr, wenigstens für mich, indem sie in eigener Brust verwandte Töne wecken und zu schöner Larmonie weiterspinnen.

Wenn Ihnen die Monologen gefallen, richte ich die Bitte an Sie, dieselben als «inen Beweis meiner aufrichtigen Freundschaft für Sie zu behalten. Es grüßt Sie herzlich und wünscht Ihnen ein ftohes Fest, L. Breymann.

Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 27. und 29. Dezember 1869.

Lochgeehrtes Fräulein I Wollen Sie mich eigentlich durch Güte verwöhnen? Kaum versuche ich die ersten Schritte auf einer Bahn, auf welcher Sie mir Füh­ rerin und Lehrerin sind, so belohnen Sie schon mein erwachendes Interesse durch eine Gabe, welche ich höher als irgendeine andere schätzen muß, weil das schöne Buch mit so vielen Erinnerungen für Sie und an Sie verknüpft ist, daß es mehr als etwas anderes ein Andenken an Sie ist. Diese Beziehung zu Ihnen gibt dem Studium der Monologen für mich noch einen neuen Reiz, und ich hoffe schon Zufriedenheit wenig­ stens durch den Ernst zu verdienen, mit welchem rch in den Sinn Schleiermachers einzudringen und ihn gerecht zu beurteilen suche.

Wie Sie in Ihrem Briefe sagten, sind die Monologen „der mäch­ tige Gesang einer ftisch erwachten Seele, welche noch glaubt, mit un­ beschränkter Subjektivität den widerstrebenden Stoff des ErdenlebenS sich dienstbar machen zu können und gen Limmel zu ziehen". Die wun­ derbare Macht und Schönheit, zugleich aber auch die Schwäche der Monologen liegt in dieser starken Lervorhebung des Rechtes der Sub­ jektivität und Individualität. Die Monologen sind in mancher Be-

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872 353 ziehung ein Ausdruck des Geistes, welcher in dem Zirkel der Rahel Levin

und der Lerz herrschte, und welcher gerade durch zu starkes Betonen

des Rechtes der Individualität neben vielem Großen auch manches wenig Erfreuliche gefördert hat. Aber was ich nicht ganz billige ist nicht das, was gesagt ist, als vielmehr, daß manches, was hätte gesagt werden müssen, fehlt. Es ist recht wenig in den Monologen, dessen volle Wahr-

heil und Schönheit ich nicht anerkennte, und ich bin überzeugt, daß

Schleiermacher das, was ich hinzuwünschte, eine stärkere Betonung der Pflicht des einzelnen, dem Ganzen zu dienen, und der Unmöglichkeit,

sich vollständig zu entwickeln, ohne dieser Pflicht (soweit es die Individualität erlaubt und fordert) zu genügen, in späteren Schriften nach,

geholt hat. Manches erlaube ich mir Ihnen später noch über die Monologen zu schreiben, wenn ich selbst meiner Sache sicherer bin, denn ich

fühle nur zu gut, daß ich mich in einen neuen Ideenkreis erst allmählich

und schwer hineinfinde und das, was ich darüber sage und fühle, noch gar keine festen Gedanken sind. So ist es mir auch mit der Schrift von

55. Becker ergangen, ich fiihlte, daß es meinen Gedanken darüber an

Sicherheit und Klarheit fehlte, aber ich wollte sie doch aussprechen, weil ich hoffe, daß die Kritik, welche ich mir dringend erbitte, zur Äerbei-

führung größerer Klarheit führen wird. Über diese Dinge vermeide ich, wie Sie, schon deshalb mit solchen zu reden, bei welchen ich ein Verständnis nicht voraussetzen kann, weil

ich selbst noch nicht klar bin

Um so lieber wäre es mir, wenn

ich mit Ihnen mich darüber unterhalten könnte, denn die Briefe ersehen

durchaus nicht die mündliche Rede und Gegenrede, aber leider werde ich von der nächsten Gelegenheit, welche Sie mir dazu bieten, wohl

keinen Gebrauch machen können Sie erlauben mir daher wohl, schriftlich noch einen Gegenstand zu berühren, welchen wir sonst mündlich besprochen hätten: DaS Verhält­ nis des Kindergartens und der Fortbildungsschule

der Weg,

welchen Sie gegenüber dem Verfahren von Fräulein Vorwerk, den Mitgliedern des Vereins vorgeschlagen, ist gewiß der allein richtige.

Es ist möglich, daß auch dieses Verfahren schließlich zu einer Trennung führt, dann hat man aber doch nur geschieden, was nicht mehr zusammen­

zuhalten war Mit der Bitte, mich den Ihrigen bestens zu empfehlen und mein Ausbleiben gütigst zu entschuldigen,

Ihr ergebenster L y s ch i n - k« , Hknnette Zchrader I.

K. Schrader.

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Kapitel 18: Lenriette Breymann an Mary Lyschinska.

Neu-Watzum. 27. Januar 1870.

Das Leben bringt mir viel und liebe Arbeit. Ich habe Dir vom Assessor Schrader geschrieben; er interessiert sich ernstlich für Fröbel, und er ist hier mit in den Wolfenbüttler Verein für Erziehung getreten

mit größeren, ernsteren Plänen für Braunschweig; wir sehen uns öfter und schreiben unS ost und haben die ernstesten Bestrebungen gemeinsam. Ich glaube wirklich, daß ich in ihm einen Freund im wahren Sinne

des Wortes gefunden. Im reiferen Alter tritt das Persönliche, Sym­ pathische, was das jugendliche Lerz erfreut, in den Lintergrund, darum Hal aber auch die Freundschaft einen ruhigen, klaren Charakter ohne

Auftegung und Leiden. So hat jede Zeit des Lebens ihr Schönes, man muß es nur zu fassen wissen. Die Jugend, eine Seligkeit in dem „Langen

und Bangen in schwebender Pein"

Könnten sich im reifen

Alter noch Bande der Liebe weben, so würden sie ganz anderer Art

sein als in früheren Jahren Ich habe viel Trauriges erlebt, seit Du fort bist, mehr als ich schrei-

den kann und mag, aber Du mußt einmal wiederkommen, daß ich Dich an mein Lerz drücken kann und Dir sagen, was ich alles in der Zeit erlebt. Ich glaube, ich habe einen guten Kampf gekämpft und bin aus

mancher Versuchung siegreich hervorgegangen, aber es war oft recht

öde in mir, und ich habe viele Schmerzen gelitten; nun jetzt scheint sich mein inneres Leben so reich zu gestalten, es ist so schön, wenn man einen andern so hoch achten kann, wenn man so recht vollen Glauben hat an das Innere eines andern Menschen, und wenn man sich beeinflußt filhlt zu allem Guten; wenn man bescheiden wird dem andern gegenüber, weil

er da seine Stärken hat, wo wir unsere Schwächen haben, ohne der

Stärken zu ermangeln, die wir selbst besitzen. Es findet sich wohl nicht oft im Leben, aber es kommt doch vor, daß eine unausgesprochene Ein­

wirkung auf unser Geistesleben vom andern ausgeht Übermorgen ist hier eine Konferenz von der Familie Breymann und dem Assessor Schrader und Lermann Becker, der jetzt Pastor [in Goslarj ist, LedwigS Verlobter. Mittwoch wollen wir nun unser Glau-

bensbekenntnis kurz formulieren und die Konsequenzen ziehen, die ein solches Bekenntnis hat in bezug auf Fragen der Politik, des sozialen Lebens, der Pädagogik, und was jeder einzelne in seiner Wirksamkeit

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 355

zu tun hat, und was wir gemeinsam tun können, das Reich Gottes zu

fördern. Wenn sich alles bestimmter gestaltet hat, so werde ich Dir mehr davon schreiben. Es ist ein kleiner, aber ich glaube fester Kern, der sich

zusammengeschloffen und gefunden, und möglicherweise können von ihm noch segensreiche Beziehungen für andere auSgehen

Henriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Wahum, 17. Februar 1870.

.............. Wenn wir unsere gemeinsame Ideen in die Praxis über­ tragen wollen, so muß auch jeder dem andern mit seinen Stärken zu

Hilf« kommen, und Sie können uns unendlich viel helfen, wenn Sie wollen. Sie haben so viel mehr Welttakt, oder wie ich es nennen soll,

als wir.

Ich z. B. habe gar keine angeborene Vorsicht, und wenn ich nicht

ein bißchen Verstand hätte, so würde ich nicht bei Dummheiten stehen­

geblieben sein und stehenbleiben, sondern Verrücktheiten begehen. Mein Ideal ist, recht lebendigen, innigen Glauben zu haben an die herrliche Entwicklung der Geistesgesetze, Glauben an das Göttliche im Menschen; aber Nüchternheit im Verkehr; in möglichster Unpersönlichkeit und Objektivität über diesem Getriebe der Leidenschaften und Beziehungen der

Menschen zu stehen, geht mir ganz ab.

Sie wollten mir noch manches über Schleiermacher sagen oder schreiben?

Ich weiß erst jetzt, wie gefährlich mir das Buch, die Monologen, gewesen, da es mir in die Hände kam, als ich noch sehr jung war, und doch hab« ich es so geliebt; aber ich möchte eS jetzt z. B. gar nicht lesen

und freu« mich, daß ich es nicht habe. Ich finde es so wahr, waS Sie über die Monologen sagen; es ist eine große Einseitigkeit darin.

Gestern wollte ich Sie nach Ihrem Vorttag« in dem „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen" fragen; ich interessiere mich dafür, in welcher Weise Sie die Wohltätigkeit auffaffen, werden Sie mir gern

darüber etwas sagen oder sprechen Sie vorher nicht gern davon? Die Geister sind darin verschieden, und jeder muß darin seiner Natur folgen,

ich werde ihn ja hören. Einliegende Notizen lesen Sie wohl gelegentlich einmal.

Mit freundlichem Gruß

H. B.

356

Kapitel 16:

Karl Schrader an Lenrtette Breymann. Braunschweig. 18. Februar 1870. Lochgeehrtes Fräulein! Ich werde also, wenn ich nicht andere Nachricht erhalte, mir erlauben, am 23. nachmittags gegen 5 Ahr zu kommen, um L. Becker meinen Gegenbesuch zu machen und zu verhandeln über den Gegenstand der verabredeten Zusammenkunft. Übrigens sollen Sie mich nicht rühmen einer Eigenschaft, an wel-

cher ich selbst wenig Lobenswertes finde. Wenn ich im äußeren Be­ nehmen vorsichtig bin, so ist das eine Folge davon, daß ich früh, schon auf der Schule, in Gemeinschaft mit andern Menschen habe wirken und lernen müssen, mich in ihre Eigenheiten zu finden und gute, ja selbst schlechte Eigenschaften anderer nützlich zu verwenden, ünd so geht es mir bis auf den heutigen Tag. Wer im öffentlichen Leben wirken will, muß, er mag wollen oder nicht, lernen, fich mit Menschen zu behelfen, aber diese leicht zu erlangende Fähigkeit ist ganz unerheblich gegenüber dem eigentlich treibenden Momente, dem idealen Sinne, der uns dazu führt. Vollkommeneres zu wollen und zu erstreben. Diesen Sinn soll man pflegen, und wäre er verbreiteter, so würde man nicht so ost mit Vorsicht sich wappnen müssen, weil jeder das Ziel, daS erstrebt wird, genug achten würde, selbst einen Mangel an Vorsicht nicht zu berücksichtigen.

Also mit der Loffnung, Sie am 23. zu sehen,

Ihr ergebenster

K. Schrader.

Lenriette Breymann an Mary Lyschinska.

Neu-Watzum. 17. März 1870. Dein Brief war wie ein Kuß auf meine Seele, wie viel enthielt er für mich I Benutze nur Deine Zeit in Genf, gehe zuweilen in den Kinder­ garten bei Frau von Portugall, Du kannst da viel lernen. Fröbel entwickelt sich immer neu bei mir, nicht große Kindergärten sind es, die Segen stiften, sondern Familienkindergärten, d. h. 10 bis 12 Kinder unter Aufsicht eines jungen Mädchens Labe ich Dir erzählt, daß ich „Lermann und Dorothea" durchnehme, [in der Literaturstundej und ich habe einen tiefen Zug der Erquickung an diesem Werke getan. Fromme Natürlichkeit durchzieht

Korrespondenz zwischen S. Breymann und K. Schrader bis 1872. 357

das Ganze, und Wahrheit und Natur wehen mich an mit reiner, dalsamischer, stärkender Lust. Da ist eine Sittlichkeit und Tüchtigkeit in dem Stücke, die man

liebend umfassen kann. Ich möchte Dir vorlesen, waS ich über Kermanns

Charatter und dessen Entwicklung geschrieben; vielleicht schreibe ich Dir einiges ab. Wenn ich diese tiefe Religiosität des Epos bewundere, die

durch den Pfarrer wie die lebengebende Blutzirkulation das Ganze durchdringt; wenn mich die Macht der reinen Liebe, die Goethe schil­ dert, begeistert, und die Wahrheit und Sittlichkeit des Ganzen mich

förmlich in eine glückliche Erregung versetzt, und denke dann an Goethes Leben, so wird es weh im Kerzen, und ich verstehe, wie das Genie so

aus dem Urquell in ein Gefäß fließt, welches man „Mensch" nennt; wie das Genie abgesondert dastehl vom Charatter dieses Menschen. ES

wird mir klar, wie sich der Mensch die Gaben, die ihm werden, erst wie­

der erringen muß, um sie sein eigen zu nennen. Wieviel Goethe sein eigen nannte von dem wunderbaren, übergroßen Reichtum«, der ihm

wurde, wer möchte es bestimmen? Er hat seinen Richter gefunden ....

Gott hat die Natur und die Menschen in ihren Beziehungen zueinander

so herrlich geschaffen, aber sie sind so verwirrt, daß man die ursprüng­ liche Wahrheit kaum mehr versteht. In „Lermann und Dorothea" ist sie. Was ist es Großes, Göttliches um die Liebe zwischen Mann und Weib, und wozu werden die

Beziehungen der Geschlechter? Du weißt es leider selbst. Sieh, nur der wahre Mann kann das wahre Weib ganz verstehen, und so strebt jedes Wesen, seine Vollendung im andern zu finden. Glücklich, wer seine Subjektivität so weit beschränken, wer so in andern leben und lieben kann, daß die Sehnsucht nach Liebe dadurch in den Schran-

kea gehalten wird; aber kommen wird sie früher oder später, da sollen wir unser Lerz einfach beugen unter die Natur. Die Natur will es so; aber diese Momente sind die gefahrvollsten für das menschliche Äerz,

ach, und da kann ein tteues anderes unser Retter werden, da kann die treue Liebe eines andern uns helfen und tragen und auch die Arbeit

für andere

Du interessierst Dich für meinen Verkehr mit dem

Assessor, und Du hast recht; er ist auch ein Glied in der Entwicklungskette meines innern Lebens; aber ohne Erregung geht es doch nicht ab;

ob er wirklich mir flir die Dauer geben kann, was ich von ihm erwarte? Ob er eine Natur ist, welche Wahrheit fähig, sie ertragen kann? Die

hindurchblickt durch den Nebel des Lebens in das Innere des mensch-

358

Kapitel 18:

lichen Seins? Gestern waren wir dort, und ich bin eigentlich traurig; entweder hat er mich sehr lieb, lieber als ich dachte, oder er macht mir den Los. Solch« Unklarheit ist fitr eine Natur wie die meine peinlich, und am liebsten möchte ich gleich Klarheit darüber haben, aber ich habe so manchmal durch ungeduldiges, hastiges Eingreifen den gesunden, füllen Entwicklungsgang eines Verhältnisses gestört — ich werde es nicht mehr tun. Im übrigen fühle ich mich gar nicht getäuscht irt dem Wesen des Assessors; sein feiner Geist, seine Willensstärke und sittliche Kraft, sein ungemein maßvolles Wesen flößen mir Respekt ein, und ich fühl«, daß ich mich an ihm bilde; selbst wenn ich entdeckte, daß er mir den Äof machte, würde ein gewisser Verkehr stets zwischen unS bleiben; aber das tief Menschliche, das ich ost in mir von ihm berühtt fühle, der Verkehr der innern Natur würde aufhören und damit ein schönes Stück Leben in mir. Nur die Zeit kann lehren, ob ich so oder so in ein ideales Derhältnis zu einemManne treten werde, oder ob ich in dieser Beziehung allein bleibe. Mich könnte eine wahre Freundschaft zu einem Manne so beglücken und so viel schöne Lebensfteude in mir wecken; aber daLerz soll nicht begehrlich sein; habe ich nicht in Dir und Annette*) Kin* der gefunden, mit denen ich wirklich so aus tiefster Wa hrhei t der Natur verkehre? Ob ich nach Italien gehe, ist noch ganz unbestimmt, liebe Mary; der Assessor hat verschiedene Pläne der Wirksamkeit filr Fröbel in Braunschweig, und mich umfaßt ost eine Angst vor den vielseitigen Beziehungen, die mich verhindern, einigen etwas Ordentliches zu sein. Nehme ich alles ernster, ist meine Arbeit gewachsen, habe ich nicht mehr die alte Kraft? Kurz, ich sehne mich nach Vereinfachung. Indes ist immer eine Ferienreise möglich; die amerikanische Gesandtin, Mrs. Marsh und die Marches« Guerrieri in Florenz wollen eine frühere Schülerin von mir haben, und sie laden mich ein, bort für Fröbel zu wirken. Vorerst habe ich Miß McDonald als Lehrerin an ein protestanüsches Waisenhaus, das Mrs. Marsh dort gegründet hat, geschickt; Gott gebe, daß Miß McD. vernünftig wird, sden dortigen Verhältnissen Rechnung trägt.] Dort kommt sie in einen außerordentlich ein* flußreichen Kreis, und ihre Wirksamkeit kann große Bedeutung für Ita* *) Annette Kamniinck-Schepel, spätere Mitbegründerin des Pesta* lozzi-Fröbel-Lauses in Berlin.

Korrespondenz ztvischen 55.Breymann und K. Schrader bis 1872. 359

lien erlangen. Was mir große Bedenken einflößt gegen eine Reise nach Italien, ist die Trennung von meinerMutter; sie lebt so füll und ruhig in uns, die ihr noch geblieben sind; sie ist Gott ergeben im schönsten

Sinne des Worte-, und ihr Leben ist wie ein stiller Sommerabend, wenn die Sonne heimging, und der Kimmel so in sanfter Klarheit einen Frie­

denshauch über alles legt, was unter ihm wohnt. So ist meine Mutter,

Mary, wie ich sie liebe. Anna und ich leben uns immer mehr ein; es kann nicht leicht ver­ schiedener angelegte Schwestern geben, als wir es sind, und es erschien mir oft grausam fiir sie und mich, daß gerade wir beide zusammen leben sollten. Aber mein Respekt vor Anna wächst so, indem sie ihre Natur,

die gar nicht für ein Pensionsleben paßt, so opfert und mit immer

größerer Treue diesen täglich wiederkehrenden Pflichten lebt; der Zank­

apfel war bisher nur der Besuch; ich hielt und halte es noch für meine Pflicht, von Zeit zu Zeit Menschen zu sehen, wahrhaftig nicht für mich, sondern überhaupt des Ganzen wegen. Anna sieht aber die Sache von

einem andern Gesichtspunkte an; Weihnachten war noch ein General­ zank

Albertine schrieb mir noch heute, wie glücklich sie Fröbel mache bei ihrem Kinde; sie nennt es in bezug auf mich „unser" Kind. Ach, Albertine ist eine wunderliebliche Natur Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 13. April 1870.

Kochgeehrtes Fräulein 1 Ihre Klagen über diese traurige Entwicklung eines von so großen

Hoffnungen begleiteten Anfangs begreife ich vollständig; Sie können Ihrer Natur nach nicht anders, als sich voll an das, was Sie ergreifen,

hinzugeben, Ihre ganze Persönlichkeit dafiir einzusehen; und nun zu

sehen, wie alle diese Hoffnungen zu Grabe getragen werden müssen; wie alle noch so schmerzliche Ergebung nichts geholfen hat, wie die Per-

son, an welche man diese Hoffnungen zum großen Teil geknüpft hat, sie nicht erfüllt, sondern die Liebe, welche ihr entgegengetragen und lange

bewahrt ist, mit Andank lohnt, muß tief betrübend sein. Aber verlieren Sie darum den Mut nicht; vielleicht gelingt eS, das Äußerste noch zu verhüten*), und soll es doch kommen, nun, solange der

*) Die Auflösung des Wolfenbüttler „Vereins für Erziehung".

360

Kapitel 18:

Mensch sich selbst treu bleibt, vermag er auch sein« Kraft zu wahren, und für die verlorene Tätigkeit eine neue zu schaffen. And werden Sie nicht gar zu mißtrauisch gegen die Menschen und bitte nicht auch gegen mich; ich bin nicht gerade geneigt, aus mir heraus« zugehen, was ich aber will, weiß ich wohl, und wenn ich Sie bitte, an meine Freundschaft zu glauben, so tue ich es nur in dem Bewußtsein der Verpflichtung der Treue meinerseits und in der Überzeugung, daß wir uns miteinander vertragen werden und zusammen wirken können. Klagen Sie nicht über Ihre Fehler; Sie haben einen, den ich zu Ihren größten Vollkommenheiten rechne, rücksichtslose Wahrheit gegen sich und gegen andere, und der Ihnen bei andern schaden mag, bei mir

sicher nicht. Bitte, grüßen Sie zu Laus. Wenn ich Freitag komme, gehe ich auch zu Ihrem Bruder Karl. In der Loffnung, Sie Freitag zu sehen,

K. Schrader.

Ihr ergebenster

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 18. April 1870. Lochgeschätzter Lerr Assessor!

Neulich fand ich nicht Gelegenheit, Ihnen zu danken für Ihren letzten lieben Brief, mit dem Sie mir so wohlgetan. Es wirkt beruhigend und fördernd auf mein ganzes Wesen, wenn ich an Sie glauben, Ihnen ver« ttauen darf, und ich tue das. Meine Natur ist mächtiger als mein Wille, denn sonst möchte ich am liebsten allenMenschen außer meiner Mutter mißttauen. Wie beneide ich Sie und Ihre Willensstärke; ich glaub«, Sie können mit sich machen was Sie wollen. Seit Sonnabend ist Frau Lohenemser hier, und so sehr mich der Verkehr mit dieser Frau freut, so wird es mir fast zuviel; ich glaube mich ost am Ende meiner Kräfte. Ich darf wirklich nie wieder in solche Kämpfe kommen wie jetzt, ich muß ruhiger von innen heraus schaffen und wirken, wenn ich mein Bestes nicht zersplittern soll. Deshalb habe ich alle Verhandlungen über die Errichtung eines Kindergartens in Braunschweig abgelehnt. Seit den Erfahrungen der letzten Zeit [int Erziehungsverein zu Wolfenbüttelj

wird es mir viel leichter werden zu resignieren, wenn ich einen Lerzenswünsch nicht erfüllt sehe, wirkliche Kindergättnerinnen und Erzieherinnen in der weitesten Bedeutung des Wortes zu erziehen und so bestimmter

Korrespondenz zwischen 8>. Brey mann und K. Schrader bis 1872. 361 und direkter für den wahren Fortschritt zu wirken, als was ich bisher tat, Ich kann die Weiblichkeit meiner Natur nicht loswerden, und somit muß ich aus Dingen herausbleiben, die einen männlichen Charakter erfordern. Ich leide zu viel in dem Kampfe, und die Kraft, die ich einbüße, kann ich besser verwenden; ich habe keinen Ehrgeiz szu siegen.] Frau Lohenemser stimmt so ganz mit mir darin überein,

daß das Wichtigste, was man tun könnte, wäre, ein Laus zu gründen für unbemittelte Mädchen. Die Erziehung der Frau ist der Anfangs­ punkt zur sittlichen Erhebung der Menschheit; die Katholiken und die Orthodoxen [Protestanten] wissen wohl, was sie tun, wenn sie die Frauen sich zu Stützen erziehen, denn sie sind treu, sie haben das Bedürfnis, etwas mit ganzer Seele zu erfassen, und das Ideale des Lebens zu pflegen. So geben sie ihnen in der „Mutter Gottes" einerseits, „im Lerrn" anderseits den Konzenttationspunkt für ihre Natur und verlangen in deren Namen das willenlose Aufgeben der Persönlichkeit; sie schildern das Leben als Sündenpfuhl und verlegen den Schwerpunkt für ihre

Idealität in jene Welt. Aber ich weiß, daß es dieser künstlichen Mittel nicht bedarf, die Kräfte int Weibe in Bewegung zu setzen, denn sie ist wiederum emp­ fänglich für Wahrheit und Natur. Ja, wenn die freisinnige Partei sich organisieren wollte wie die andern, wenn sie zum Anfangspunkte zu­ rückgehen möchte — zur Frauenbildung, da könnte noch vieles geschehen. Ich habe hie und da Gedanken, wie sich vielleicht die Pension hier umgestalten ließe Eben erhalte ich einliegenden Brief, er hat mich wieder so auf­ geregt, daß ich Herzklopfen bekam, und meine Lände zitterten, daß ich kaum eine Antwort schreiben konnte, meine Mutter hat sie abgeschrie­

ben; finden Sie meine Antwort so recht?

Mit herzlichem Gruß l

L. Breymann.

Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 19. April 1870.

Lochgeehrtes Fräulein I lassen Sie es genug sein von Anna Vorwerk; finden Sie fich darein, daß sie nicht das war, was Sie glaubten, und lassen Sie sich diese Täuschung nicht zu sehr schmerzen, sehen Sie lieber hoffnungS-

Kapitel 18:

362

voll in di« Zukunft. Verzagen Sie nicht, daß Sie nun nicht wieder eine

Wirksamkeit finden würden, wie fie so schön fich zu gestalten begann, und wie fie nun durch den Egoismus anderer gestört zu werden droht. Vielleicht bleibt fie erhalten, vielleicht findet sich etwas anderes; solange man nur eine Idee festhält, kann man hoffen, daß der Augenblick, eine

Gelegenheit kommen wird, wo man fie verwirklichen kann. Sehen Sie einmal Fröbels „Menschenerziehung" Seite 23 Zeile 13 ff. von unten an, und ziehen Sie aus ihr die Anwendung für Ihr Streben. Der Fröbel ist überhaupt doch ein großer Mann; ich habe die Festtage in seiner „Menschenerziehung" studiert, und so unklar und um ordentlich er manchmal im einzelnen ist, so große Ideen hat er doch im ganzen. Er ist gewiß recht unpraktisch im Leben gewesen, und doch öffnen manche seiner Gedanken einen weiten Blick gerade auf praktische Dinge. So der § 13 der „Menschenerziehung". Lier hebt Fröbel hervor, daß der Erzieher in seinen Beziehungen zum Zöglinge fich nie auf fich (d. h. auf Willkür), sondern immer auf ein Drittes, Löheres berufen müsse, welches gleich über beide herrscht. Das ist nicht bloß Erziehungslehr«,

sondern Lehre für alle Lebensverhältnisse, in welchen jemand auf andere bestimmend einwirken muß. Nur der kann dauernd über andere Einfluß haben, welcher diesen Einfluß auf ein höheres Prinzip zurückzuführen versteht; wer das nicht oder nicht mehr kann, vermag auch nicht oder nicht mehr zu herrschen, denn Willkür will niemand dulden. Sie können die Wahrheit des Satzes in der Geschichte und im täglichen Leben beobachten. Er ist es ja gerade, welchem die Orthodoxie ihren Einfluß verdankt, und ehe nicht die fteifinnige Richtung über das Negieren hinauskommt, hat fie keine Macht; man muß für Ideen positiv zu schaffen suchen, dafür findet man dauernde Begeisterung; zerstören kann man in der Leiden­ schaft des Augenblicks, hinterher folgt aber sicher die Abspannung. Es würde interessant sein, gerade von diesem Standpunkte einmal das bisherige Wirken des „Protestantenvereins "anzusehen, und ich habe mir fest vorgenommen, es zu tun und darüber einmal in unserm religiösen Vereine zu sprechen. DaS verstehe ich vielleicht, und ich trage

dann auch mein Scherflein bei. Leben Sie für heute wohl, und empfehlen Sie mich den Ihrigen, auch Martha*), mit welcher ich hoffentlich später noch bessere Freundschäft schließe.

Ihr ergebenster *) Das zweite Kind von Karl Breymann.

K. Schrader.

Korrespondenz zwischen 55. Brey mann und K. Schrader bis 1872. 363

Henriette Breymann an Karl Schrader. Okeri. Harz. 18. Mai 1870.

Hochgeschätzter Herr Assessor! Ihr Bruder war gestern abend hier und sagte, daß er und seine

Frau noch nicht bei Ihnen gewesen seien, er forderte mich wiederholt

auf, mit ihnen zu einer Beratung [übet die Zukunft des Vereins für

Erziehung) zu Ihnen zu gehen, und so werden wir wohl zusammen kommen Di« Nachwirkung von der wunderbar schönen Natur ist eine wohl­ tuende; aber sie steht auch in einem Stadium, wo sie alle ihr zu Gebote stehenden Zauber wirken läßt. Viel Schönes ist schon geworden und dabei noch tausend zarte Keime sind im Werden. Noch ist das Laub der Buchen nicht so stark, daß es das Gezweige der Äste versteckte, in deren

Zusammenhang ich mein Auge so gern versenke, und aus den ernsten Tannenwäldern bricht hie und da junges Grün wie ein Licht hervor. Sie sollten in den Harz bald gehen, Sie sollten sich zuweilen herauS-

reißen aus dieser ewigen Arbeit für andere; gerade Sie sollten das tun, es wäre so zu beklagen, wenn das kritische Element in Ihnen immer mehr

die Oberhand gewänne; es ist gerade genug, vielleicht schon ein bißchen zuviel, das sehe ich an Ihrer Beurteilung von Schiller. Ich mußte lächeln, als Sie mir neulich schrieben, Sie hätten sich Vorgenommen, mir einen recht verständigen Brief zu schreiben. Sie

brauchen sich doch so etwas nicht vorzunehmen? Ich habe Ihnen schon gesagt, ich beneide Sie um die Herrschaft, die Sie über sich haben, und wie Sie sie erlangt, in dem Grade erlangt

haben, wie Sie sie besitzen, unter den Verhältnissen, in denen Sie auf­

wuchsen — soweit ich Sie beurteilen kann —, wie gesagt, es ist mir ein Rätsel. Aber, es ist ein wahres Wort: Wo unsere Stärken liegen, liegen

auch unsere Schwächen, nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht so ein Wesen werden, „das nicht fühlt und nicht weint", wie Schiller sagt, und Schiller hat doch viel Wahres gesagt, und wie mir auch Goethe das Höchste ist, so habe ich Schiller doch lieb und lasse ihn mir nicht auS dem Herzen reißen. Es ist schlimm genug für Sie, daß Sie ihn so

wenig würdigen können. Ich habe in dieser Zeit manch bitteren Tropfen

zu trinken bekommen .... zwar sagt Schiller durch Maria Stuart: „Man kann unS niedrig behandeln, aber nicht erniedrigen"

364

Kapitel 18:

Wie kann ich Maria Stuart so nachfiihlen in ihrem Gespräche mit Elisa­

beth, wie auS tiefster Seele würde auch mir daS Wort kommen: „O, mir ist wohl!" wenn ich einmal alles gewissen Menschen aussprechen könnte, waS ich in bezug auf sie empfinde. Wie kann man nur Schiller so be­ urteilen, wie Sie es tun! Wenn Männer sich nur gründlich des Dereines annehmen wollten, wenn sie wieder gutmachen wollten, waS sie versäumten — aber ich kann ja nicht erwarten, daß andere so lebhaft in der Sache empfinden, wie ich. Wie ost habe ich an Klärchen im Egmont gedacht, wie man sie für wahnsinnig hält, als sie in den Straßen die Menschen auftust, Egmont zu retten. Wenn man auch weiß, daß man nicht helfen kann, man muß die äußerste Anstrengung machen, das zu retten, was man liebt; aber wer, wer liebt denn mit mir die Fröbelsche Idee, seit meine Marie tot ist? Niemand. Ob Sie sie lieben könnten, weiß ich nicht, aber verstehen könnten Sie sie, daS glaube ich fest; aber Sie haben ja keine Zeit. Ob Ihnen die Wendung der Dinge in Braunschweig nicht noch mehr Zeit geben wird? Aber einen guten Rat will ich Ihnen geben: Werden Sie nur kein RechtSanwalt, dazu paffen Sie nicht. Nun noch Dank für di« soeben erhaltenen steundlichen Worte.... Es freut mich, daß Sie mehr Hoffnung haben für unsere Bestrebungen, eS gibt mir wieder Mut. Eben klingelt eS zum Kindergarten und ich bin so dankbar, daß ich wieder gern arbeite, und der kleinste Rest der Fröbelei ist mir so teuer wie ein geretteter Schatz. Herzliche Grüße L. B. Henriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 22. Mai 1870. ............. Wie denken Sie nun über die Veröffentlichung des kleinen Aufsatzes, der auf der letzten Zeile von 5 anfängt und auf der -weiten von 8 aufhört? Ich dachte, ich wollte solche Broschüren drucken lassen wie „Zur Frauenftage". Zwanglose Hefte mit zwei Artikeln, 1. Ein Wort zum Verständnis des Fröbelschen Grundgedankens: „Gründe alle Erziehung auf Vermittelung der Gegensätze." 2. „Zum Verständnis von Mutterund Koseliedern." Wenn dies noch zuwenig wäre, so könnte ich noch etwas in Form eines Briefes oder sonst etwas Praktisches geben, was ich hier aus der Erfahrung nehme. Ich habe in der letzten Zeit die Biene als

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 365

Mittelpunkt des Interesses im Kindergarten gehabt, und ich glaube, es

ist mir ganz gut gelungen; ich habe auch eine kleine Geschichte über die­ selbe für die Kinder erfunden, und ich tue das alles so gern, wenn ich

nur Zeit und Ruhe dazu habe. Es ist ein so schönes Gefithl, so für den

größten Gedanken, der das bewegende Prinzip ist, die kindlichste Form zu finden, so alles konkret zu machen, und wiederum in den scheinbar

kleinsten Dingen den Zusammenhang mit dem größten zu finden. Ich muß so leben und wirken; die Einheit suchen, da- ist der treibende Ge­

danke meines Lebens. Ich habe schon wieder ein bißchen mehr Mut, seitdem ich Ihnen geschrieben

Ich wurde hier unterbrochen durch Annette, die nun endlich wieder, hier ist. Diese und eine andere frühere Pensionärin, Mary LyschinSka, sind ganz als wären sie meine Kinder; es ist ein wirkliches Verhältnis zwischen uns, denn wir sind vollständig wahr gegeneinander. Aber ich

scheue mich fast, davon zu sprechen, denn wer weiß, ob ich sie nicht auch

verliere? Aber nein, es wäre Unglaube an das Wahre, wenn ich an der Dauer unseres Verhältnisses zweifeln wollte.

Ich bitte Sie, ganz offen in bezug auf die Aufsätze Ihre Kritik zu üben; ich habe Vertrauen zu Ihnen, daß Sie es tun werden. Sie

spielen nicht mit Worten und Gefühlen und darum weiß ich, daß Sie mich lieb haben und ntein Freund sind. Früher hat eS mich gedrückt,

daß ich so viele- von Ihnen angenommen, mich in meiner Not an Sie

wenden mußte; aber es drückt mich nicht mehr, denn wenn man in Freundschaft verbunden ist, so hebt das Wesen der Freundschaft schon auf, was sonst drückend sein könnte. Sie müssen wissen, wie glücklich es mich machen würde, etwas für Sie zu tun, und wenn die Bedingungen zur Gegenseitigkeit da sind, so muß man in diesem Bewußtsein vorerst die Ausgleichung finden. In bezug auf Ihr Zitat aus Jean Paul erwähne ich, daß ich das Wort „Tugend" nicht leiden kann. Meine Sehnsucht ist die fromme,

verklärte Natürlichkeit, so dieses Emporstreben aus dem vollen Gan-

-en; ich kann das Zerren und Beschneiden, das Aufgeklebte nicht er­ tragen, und unter „Tugend" denke ich mir immer etwas der Art. Für mich gibt eS nichts Schöneres als „Lermann und Dorothea", das ist für mich das Erquicklichste, was ich kenne, und geraoe darin findet das,

was ich unter der frommen Natürlichkeit verstehe, seine Verkörperung. Weil ich diese Dichtung so ganz in mich ausgenommen, ist mir

366

Kapitel 18:

der Sinn verschlossen für die meiste Tagesliteratur, die so krank, ach,

so krank ist. Gibt es nicht eine gute Charakteristik von Stein oder ein

Buch, in dem man dessen Leben besonders verfolgen kann? Ich möchte mich an einem Charakter erquicken, ich bin zu traurig für di« statt-

zösische Revolution, es hat mich in besseren Tagen schon immer sehr

angegriffen, sie zu lesen; ich fühle zu sehr die Schmerzen des einzelnen, und welche Schmerzensgeschichte ist in dieser Tragödie l O Gott, das

Leben, die Entwicklung der Menschheit ist doch furchtbar schwer und traurig! Nun Adieu, darf ich Ihnen Briefe ohne Überschrift schreiben?

Sie lieben zwar die Förmlichkeit sehr, darum bleiben Sie dabei; ich mag sie nicht bei Menschen, denen ich innerlich nahgetreten, und so

wollen wir jedem seine Weise lassen. Gestern erhielt ich einen lieben Brief von Letmann B., wenn Sie

einmal kommen, will ich Ihnen daraus vorlesen; es steht zu viel Schönes

darin über Sie, als daß ich Ihnen denselben schicken könnte. Kommen Sie Freitag abend zum Vereinsabend? Dann will Äert Leinemann

seinen Vortrag halten.

Jehl habe ich die Gewißheit, daß wir Freunde sind, und seit dem lehten Donnerstag ist eine so stille, schöne Befriedigung über mich ge­ kommen. Nicht wahr. Sie sind wahr gegen mich? Ich glaube das, und

je länger ich Sie kenne, je tiefer wurzelt mein Vertrauen; nicht, daß ich Sie für vollkommen hielte, aber mein Vertrauen in die Wahrheit

Ihrer Natur. Sie sind vielleicht von niemandem, den ich kenne, ganz verstanden, und es ist schwer. Sie kennenzulernen; ich behaupte auch nicht, daß ich Sie kenne; ich bin ja leider sehr dumm in bezug auf Men­

schen. Aber vieles, was ich in Ihnen erkenne, ist doch so, wie ich es sehe, und das alles besitze ich leider nicht; ich kann es aber in andern lieben und so in tiefster Seele respektieren, und Sie wissen vielleicht nicht,

welche Wohltat Sie mir erweisen, indem ich in Ihnen einen männlichen Charakter respektieren kann. Sie können glauben, ich werde durch Sie

besser, ünd so wollen wir uns nicht Treue versprechen, aber Wahrheit. Dann ruht man so sicher ineinander, ach, es fällt dann immer mehr das Kleinliche und Weltliche ab, und man verbindet diese Welt mit einer

andern, sich selbst mit Gott, wie Jean Paul sagt. Ich habe ja edele Menschen, die mir nahstehen, habe bei aller Mangelhaftigkeit meines

Wesen- ein ordentliches Stteben, und so will ich denn Glauben haben und mit möglichster Ruhe der Entwicklung der Verhältnisse entgegensehen.

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 367 Ich schicke die Leste durch Erich, ich packe so ungern «in. Eben schickt mir Lerr Leinemann den Titel seines Vortrages: „Die nächsten Auf.

gaben der Nationalerziehung der Gegenwart", nach einem Aufsätze von

Professor von Fichte.

Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 24.Mai 1870.

Verehrte Freundin!

Laben Sie vielen Dank für Ihren lieben Brief. Glauben Sie mir, ich bedarf treuer Freundschaft mehr als Sie; wenn man, wie ich, mit

vielen Menschen nahe verkehren muß und doch ihnen allen innerlich fretttb ist, so muß man entweder ein einseitiger Schwärmer werden oder alle höheren Ideen verlieren. Ihre Freundschaft erhält und hebt gerade

dies« in mir und flößt mir Mut ein, auf einem Wege zu bleiben, welcher aus der Ferne viel schöner aussieht, als er ist. Die Versuchung, zu Han-

deln und zu sein wie tout le monde, ist ost genug an mich heran­ getreten und wird es oft genug noch tun. Lelfen Sie mir, wie Sie bis-

her, wahrscheinlich ohne es selbst zu wissen, getan; jene kleinen Dienste, welche ich Ihnen dagegen habe leisten können, kommen gar nicht in Be­ tracht. Überhaupt ist wahre Freundschaft ein viel zu innerliches Ding,

um auf solche Äußerlichkeiten zu achten; sie besteht nicht darin, daß man

sich gegenseitig viel leistet, sondern daß man sich viel ist. Sie sind auch nicht böse, daß ich einen so lieben Brief nur mit wenigen Zeilen beantworte; ich werde so von einer Masse der verschiedensten Geschäfte auseinandergeriffen, daß ich keine Ruhe finde. Frei­ tag abend 7% Ahr komme ich aber doch in den Verein. Leben Sie wohl bis Freitag.

K. Schrader.

Ihr

Ihren Aufsatz habe ich noch nicht erhalten. Lenriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 26.Mai 1870. Wir wollen nicht miteinander rechten, wer des andern am meisten,

bedarf, wir wissen beide, daß wir einander viel sind; Ihr lieber Brief hat es mir noch einmal bestätigt, was ich neulich als unumstößliche Gewißheit empfand. Es ist mir selbst fast unbegreiflich, wie ich gerade jetzt

nach all den Täuschungen so keinen Lauch des Zweifels empfinde in

368

Kapitel 18:

bezug auf bie Wahrheit unseres Verhältnisses zueinander; aber auch

nur so kann es für mich feilt, ich habe keine Kraft mehr über für Zweifel

und Wechsel im Vertrauen. Anderseits fühle ich im Vertrauen zu Ihnen

Wunden heilen, Kräfte wachsen; in Ihnen finde ich einen Konzentra­ tions., einen Ruhepunkt, der mich in das richtige Verhältnis sehen kann zur Welt; ich lerne durch Sie in ihr wirken, ohne an ihr zu sterben. Wohl habe ich keine Ahnung davon gehabt, daß ich Ihnen ge. Holsen im Löchsten, was der Mensch erstreben kann, aber daß es war,

macht mich sehr glücklich, und ich denke, wäre es nicht so gewesen, so hätte

ich in Ihnen nicht gefunden, was Sie mir sind; denn ein wahres, ge-

sundes Verhältnis beruht auf Gegenseitigkeit. Aber doch sind Sie so -viel mehr für andere, was ich werden möchte; ich bin viel egoistischer, viel subjektiver, ja, ich glaube im Grunde weltlicher, und wenn ich mich

so ausdrücken soll, heidnischer angelegt als Sie. Ich glaube, ich muß mir so vieles hart erkämpfen, was Sie von Natur find. Nun, wie dem fei, wir wissen, daß wir zusammen streben wollen nach der Wiedergeburt

imGeiste. Jesu-sagt: „Wo zwei oder drei in meinemNamen versammelt

sind, da will ich mitten unter euch sein." Er hat die Macht der Gemein­

samkeit verstanden, und immer klarer wird es mir, nicht das, was Jesus als vollendeter Mensch war, ist da- Erlösende für uns, sondern das, waS er unerschütterlich, so ganz unzerstückt, so mit ganzer Liebe er­

strebte; o, dies mächtige Wachsen, dies Werden unter Kampf und Not, dies Kimmelansteigen, das reißt mich fort, daS gibt mir Mut, das läßt mich mit ihm verwachsen. Der fertige Gott ist für mich ein kaltes Göhenbild, und es hat sich immer zwischen mich und meine Liebe zu Jesu

mächtig strebendem Geist gestellt und einen Bann auf meinKerz gelegt, so daß ich Jesus mehr gedacht als geliebt habe; aber wenn wir das

Fertiggemachte hinwegnehmen, wenn das Wollen und Werden, dem

Jesus seine ganze Person hingab, mächtig an unsere Seel« schlägt, dann können wir verschmelzen in diesen Strom, dann können wir Jesus lieben,

und wo man liebt, da nimmt man unwillkürlich in sich auf; da will man nicht die oder das sein, da wird man etwas. So habe ich immer einen tiefen Sinn im Abendmahl gesehen, wo es heißt, daß man Jesu

Fleisch essen, sein Blut trinken soll, d. h. durch die innige Vereinigung mit seinem Streben seine Natur bekommen.

Es ist gewiß der wichtigste Satz der Pädagogik, anzuknüpfen an daS, was der Mensch liebt — und die erste Liebe ist zwischen Mutter und Kind — und es ist doch wahr, daß tm Katholizismus, im Marien-

Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 369

kultus so etwas Großes verborgen liegt, und ich wollte viel lieber, daß ich katholisch getauft wäre als lutherisch; hätte man auf Maria über­ tragen, was mir Jesus sein sollte, es würde mir viel mehr geholfen haben; die Gottesmutter hätte mir immer näher gestanden als der Gott. Aber nun ist es gut, wie es ist, ich werde das Wesen Jesu noch lieben, und in dieser Liebe ihn verstehen und in mich aufnehmen und andern helfen, ihn zu ergreifen. Wir werden uns heute abend kaum sprechen, darum schreibe ich Ihnen ein Wort. Sicher bin ich nicht böse über Ihren kurzen Brief; er hat nur so wohlgetan. Wir sind einmal sinnlich-geistige Wesen, und so sieht man gern durch Äußerungen bestätigt, was man als Wahrheit

im Geiste empfindet. Aber haben Sie nicht zuviel zu tun? Es hat mich so zu Ihnen gezogen, daß Sie Ihre Person in den Dienst des Ganzen stellen, so viel mehr als ich es tat und tun kann; aber seien Sie Fröbelisch und denken Sie, daß die schöne Harmonie des Wesens auf der Ver­ mittlung der Gegensätze beruht; daß Sie auch der perstnlichen Muße bedürfen. Sind Sie nicht oft zu gefällig, zu höflich? Nehmen Sie auch ein­ mal Arlaub, wie Ihre Kollegen, die Ihnen immer alles aufpacken. Kommen Sie bald einmal, oder wollen wir einmal nach dem Harze? Wenn ich etwas veröffentlichen soll, so müssen wir noch darüber sprechen, aber ich habe so oft ein Gefühl, als paßte meine Schreiberei nicht für die Öffentlichkeit.

Hätte ich erwachsene Mädchen als Schülerinnen, die arbeiten wol­ len und müssen, da wäre ich an meinem Platze; doch ich will aufhören mit dem alten Liede, Sie kennen es zur Genüge. Ich habe auch Freude an den jungen Mädchen hier, die so nebenbei ein bißchen Fröbeln, und ich habe mich entschlossen, ruhig hier so weiter zu „jökeln"; der liebe Gott kann nun etwas an mir tun, wenn er etwas von mir will. Ich bin nicht müde für Arbeit, aber müde, ganz müde, mir etwas zu er­ ringen. Ich komme mir ost vor als auf einer Insel lebend, als trennte mich ein weitesMeer von Wolfenbüttel, wo Frl. V. und ©. wohnen, und als wüßten sehr wenige Menschen den Weg hierher zu finden. Bis jetzt ist ja, Gott sei Dank, nichts weiter im Tageblatt erschienen, und vielleicht bleibe ich von der Zerrerei verschont. Ich brauche Ruhe und ein bißchen Sonnenschein. Meine Schwester Albertine ist mit ihrem kleinenMädchen in Hamburg bei ihren Schwiegereltern; in einiger Zeit wird sie zu uns kommen. Jetzt ist meine freie Zeit aus. Leben Sie wohl, recht wohl! Lyschtntla, Henriette Schrader l.

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Kapitel 18:

Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 30. Mat 1870.

Was Sie mir am Freitag abend mitgegeben, habe ich, wenn auch mit einiger Schwierigkeit, aber darum mit mcht minderer Freude im Eisenbahnwagen gelesen. Lassen Sie uns treulich einander helfen, und ich wiederhole es. Sie können und müssen mir mehr helfen als ich Ihnen. Sie irren, wenn Sie meinen, ich hätte schon viel erreicht, oder richtiger, ich wäre schon viel geworden. Das, was ich bin, haben ganz allmählich und ohne viel innere Arbeit die Verhältnisse aus mir gemacht, unter­ stützt dadurch, daß mir manche Neigungen, welche mich vom Wege ab­ leiten konnten, fehlten. Die wahre Vervollständigung meines Seins und Sttebens suche ich erst zu erringen, und wenn ich jetzt auch weiß, wo sie liegt, so hab« ich doch kaum den Weg betteten, der zu ihr fiihrt. Gedenken Sie des ganz verschiedenen Entwicklungsganges, der Sie und mich bis heute geführt hat. Sie in einem Berufe und einem Stteben, welches von Anbeginn ein innerliches sein mußte; ich mit rein äußerlichen Dingen befaßt und die innerliche Welt zwar nicht verachtend, aber ihr doch gleichgültig gegenüberstehend. Mich hat erst die Erkenntnis davon, daß nur die Beziehung zu dem höchsten der Welt Zusammen­ hang und allem Eingreifen in ihre Entwicklung die richtige Wirkung geben kann, zu einer tieferen Auffassung gefühtt, welche Ihnen durch Erziehung und Beruf von ftühen Jahren an eigen war. Erst jetzt, wo Sie eingreifen wollen in das Leben, und wo ich für meine Wirksamkeit die rechte Grundlage suche, treffen unsere Wege, treffen wir zusammen, und erst jetzt können wir einer des andern Stärke würdigen, unsere Schwächen verstehen und sie, gegenseitig uns helfend, zu heilen versuchen. Unsere Grundanschauungen sind die nämlichen, und wir werden nie in völligen Zwiespalt darüber geraten, aber wir werden nie gleich sein können und wollen, nur können und wollen wir einer dem andern auf seinem Wege helfen. Wo meine Schwäche ist, brauche ich nicht weiter zu sagen. Sie wer­ den mir aber zugeben, daß es weit schwerer ist, sein inneres Wesen zu vervollkommnen als sich äußere Einsicht und Geschicklichkeit anzueignen. Aber was sollen wir streiten, wer mehr, wer weniger ist, wer mehr, wer weniger des andern bedarf, wenn wir sicher sind, daß, soviel wir einander bedürfen, wir uns sein werden.

Korrespondenz zwischen S. Breymann und K. Schrader bis 1872. 371

Latte ich nur erst einige Ruhe, um mich sammeln zu können l Da­ jetzige Treiben wird mir zuviel, weil es zu zerstörend wirkt. Wäre ich

innerlich fester, so könnte ich es ohne Schaden bewältigen, so aber, fürchte

ich, überwältigt es mich. Aber zur Zeit lasse ich die Sachen so hingehen,

weil mir doch infolge des Eisenbahnverkaufes'eine Wendung metnes

Geschickes bevorsteht Meine Eisenbahnlaufbahn wird also bald ihr Ende erreicht haben,

und wahrscheinlich werde ich fitrerst gar keine wieder suchen, sondern zunächst einige Zeit für mich verwenden. WaS dann später aus mir wird, must ich erwarten; wesentlich wird eS abhängen von dem Erfolge der Verwendung dieser Muße.

Sie klagen, daß Sie sich müde Wien für Streben und Wirken. Solche Perioden treten notwendig ein, aber sie sollen nur dazu führen, daß wir unS selbst innerlich kräftigen, um mit neuem Mute die Tätigkeit

wieder aufzunehmen. Solche Zeiten find der Arbeit an unS selbst zu

widmen und ttagen größere Frucht, als wäre die Tätigkeit nie unter, brochen, auch für unsere Wirksamkeit nach außen, weil wir selbst in ihnen fähiger und besser werden. And wenn Sie meinen, der katholische

Glauben mit seiner Verehrung der Jungfrau Maria hätte Sie früher zu innerem Frieden geführt, so mögen Sie recht haben, ob aber zu

dauernder Befriedigung? Oder glauben Sie, der Fortschritt von dieser Stufe — die doch eine niedrigere ist — zu der höheren des Protestanttsmus wäre Ihnen leicht gewesen? So viel Ballast hätten Sie neben dem

Guten mitzuttagen bekommen, daß Sie sich schwer hätten weiterbe, wegen können. Ich muß fort zu meinem Bureau und schließe deshalb mit herz,

ltchem Gruße und dem besten Danke stir die Maiglöckchen; Fräulein Schlegel hat sich sehr darüber gefreut. Übermorgen mittag reise ich ab und werde wohl vor Sonnabend nicht hier sein.

Wenn ich von der Reise zurückkehre, bekomme ich wohl einen Brief.

Ihr

K. S.

Lenriette Breymann an M. LyschtnSka. Reu-Watzum. 31. Mai 1870.

Meine inniggeliebte Mary l Ich fürchte. Du bist in Sorgen um mich und Dein Lerz ist manch­ mal ttaurig, wenn Du meiner gedenkst.

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Kapitel 18:

Aber Mary, ich gesunde nach und nach von den schrecklich trüben Erfahrungen, die ich gemacht und danke Gott mit demütigem Kerzen für die Gnade, die er mir widerfahren läßt, indem ich einen Mann liebe, der zum ersten Male im Leben mein ganzes Leben erfaßt, versteht und be­ zwingt. Ich kann jetzt wenig denken, wenig sagen; ich kann aber, Gott

sei Dank, arbeiten filr meine nächste Umgebung, und außerdem lasse ich mich werden, wie man wird unter dem-Sonnenstrahl einer Liebe, die sich allmählich, so aus gemeinsamen Interessen entwickelt und auf das persönliche Leben überttagen hat. Wie, und ob es umgestaltend auf mein äußeres Leben wirtt, meine Mary, was mein Inneres neu belebt — das weiß ich nicht, das frage ich nicht. Im reiferen Alter sind Liebe und Freundschaft so nahe verwandt, daß sich letztere zu ersterer entwickeln, erstere zu letzterer zurückführen läßt, ohne große Umwälzungen der Gefühle hervorzubringen. Aber ich fühle endlich die Ergänzung meines Wesens und darin «inen himmlischen Frieden, ein tiefes, nie gekanntes Glück. Wärest Du hier, so würde ich Dir aus des Assessors Briefen vorlesen Ja, Mary, soviel wir einander bedürfen und wie wir einander bedürfen, werden wir uns sein, er und ich — und in diesem Sein und Werden bist Du und ist Annette tief eingeschlossen, weil Ihr noch mit mir werdend seid, weil ich Euch liebe, und weil Ihr mich liebt . . . . Als ich alles heute morgen mit A. durchsprach, da sehnte ich mich auch sehr nach Deiner Gegenwart. Dem Assessor spreche ich ost von Dir, und er meint. Du müßtest bald einmal wiederkommen; er will immer, daß ich meine Lieben um mich habe

Kenriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Wahum. 3. Juni 1870. Sie sagen, daß Sie meiner bedürfen zu der Vervollständigung IhresWesens und Sttebens — zu einem Streben, das vom tiefsten, sittlichen Ernste getrieben wird — das hat bisher nie eigentlich ein Mann von mir gewollt, und doch ost hat es sich wie eine tiefe Sehnsucht meines Lerzens durch mein ganzes Leben gezogen, dies einem Manne zu sein, und diese Sehnsucht sollte wirklich ihre Erfüllung finden? O, ich bin des Glückes so ungewohnt; ich habe so viel ringen müssen in Entsagung und Erttagung, daß Ihre Worte das Innerste meines Wesens erschüttert haben. Nie vorher habe ich einem Manne gegenüber Demut gekannt.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 373

zum ersten Male durchzieht sie mein ganzes Wesen; ich kann Ihnen nichts bieten als die Wahrheit meiner Natur, aber einer sehr menschlich schwachen Natur, die Sehnsucht nach Vervollkommnung und — daß

ich Sie lieb — sehr lieb habe. Dies schließt mit der Einwirkung, die Sie auf mich üben, alles ein, was ich Ihnen sein, was ich Ihnen werden kann.

Gott wird die Entwicklung unseres Lebens leiten, und wir werden ein­ ander helfen, ihn zu suchen, seine Stimme zu vernehmen, ihr zu folgen.

And so lege ich auch die Sorgen, die sich in die Freuden meines Herzens, die Sie mir geben, schleichen möchten, auf ihn, er wird ja alles wohl

machen. Weiter kann ich Ihnen heute nichts schreiben als nur noch einen herzlichen Gruß von meiner Mutter. Sie kennt mich ganz, ich bin immer

ihr Kind gewesen, bei ihr konnte meine Natur sich ausleben, die ich sonst

oft so in Fesseln geschlagen fühlte, sie konnte ich unbedingt lieben, denn ihre Natur ist wunderschön, und sie ist der Engel meines Lebens; ich

glaube, es ist nichts in meinem Leben, was nicht offen vor ihr daläge... Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 6. Juni 1870.

Zuweilen kommen einem Gedanken fast zufällig, nach denen man vorher vergeblich gesucht hatte. So ging eS mir heute morgen. Als ich in meinem Zimmer spazieren ging und mich — wie ich das täglich eine Zeit­ lang zu tun pflege — mit Nachdenken über allerhand mir gerade in den

Sinn kommende Dinge beschäftigte, dachte ich zurück an unsere gestrige

Anterhaltung über die Veröffentlichung Ihrer Aufsätze. Dabei kam mir die Idee, ich müßte doch selbst einmal etwa- über die Erziehung schreiben,

nicht gerade um etwas Besonderes zu leisten, sondern um zu fixieren, waS ich allmählich gelernt habe, um mir selbst klarer zu werden. Vielleicht, dachte ich, könnte ich mit Ihnen, uns gegenseitig ergän­ zend, zusammen schreiben; aber die erste Idee, einen Aufsatz oder meh­

rere wirklich gemeinsam zu schreiben, verwarf ich sogleich wieder, weil wir bei Gleichheit der Grundideen doch in der Behandlung derselben und namentlich in der Schreibart viel zu verschieden sind. Solche Aufsätze würden entweder aller Originalität entbehren, oder auö schlecht ver­ bundenen, unharmonischen Teilen, deren verschiedene Autorschaft nicht zu verkennen wäre, bestehen. Wenn wir beide aber so viele oder so lange Aufsätze schreiben sollten, daß ein Buch daraus würde, ich meine, wenn jeder von uns für sich allein mehrere Aufsätze verfassen sollte, welche dann

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Kapitel 18:

zusammen ein Buch bilden könnten, so würde vielleicht die Zeit an einer schnellen Vollendung der Idee hindern. Wie nun, wenn nicht wir beide, sondern unser ganzer Kreis, soweit er vermag und will, ein aus einzelnen Aufsätzen bestehendes Buch über Erziehung verfaßte. Jeder schriebe seine Arbeit selbständig und hätte nur die Grundidee und den Plan des Ganzen zu beachten, könnte und sollte übrigens seiner Individualität frei folgen. Die Grundidee müßte die Fröbelsche sein und von dieser ausgehend, müßten die Aufsätze die wich­ tigsten allgemein interessierenden Fragen über die Erziehung in einer dem Publikum verständlichen Weise behandeln. Den Inhalt denke ich mir ungefähr in folgende Richtungen zerfallend: 1. Stellung der Erziehung zu den höchsten Aufgaben der Mensch­ heit, namentlich zur Religion, hierüber würde außer der allgemeinen Behandlung der Frage noch die Erötterung fallen, wie die Kirche zur Schule stehen soll, und wie und warum sich männliche und weibliche Er­ ziehung verschieden gestalten muß. 2. Stellung der Erziehung zu der heutigen menschlichen Gesellschaft. Lierhin gehörte: Notwendigkeit einer Änderung der gegenwärtigen Er­ ziehung, wenn die für die heutige Zeit erforderliche Umgestaltung von Gesellschaft und Staat wirklich werden soll; Richtung und Grundlagen der Erziehung in bezug auf diese Umgestaltung. Mittel zu dieser Um­ gestaltung der Erziehung. 3. Erziehungsmethode. Lier wären die Fröbelschen Grundideen in ihrer praktischen Anwendung auf die Jugenderziehung zu eröttern, die Gnwirkung von Kunst, Naturwissenschaft usw. je nach Neigung der Verfasser zu besprechen. 4. Lehrer und Lehrerinnen. Als Mitarbeiter rechne ich außer auf uns beide auf Ihren Bruder Karl, Lermann Becker, Lerrn Fricke mit Bestimmtheit, und von uns findet jeder seinenPlatz; ich wohl hauptsächlich in der zweiten Abteilung. Ob etwa der Dr. Ehrenberg mithelfen kann, Ihre Schwägerin und Ihre Kufine Mathilde, ob Sie noch andere Mitarbeiter kennen, daS sagen oder schreiben Sie mir nächstens, wenn Sie sich über die ganze Idee Lußem. Der Titel des Buches könnte etwa sein: Aufsätze über die heutige Erziehung^von einem Freundeskreise, oder dergleichen. Eigentlich ist ein solches Buch einer gut geleiteten Zeitschrift ähnlich oder besser, einem Extrakt zu vergleichen, welcher alles was unnütz ist ausgeschieden hat;

Korrespondenz zwischen S. Breymann und K. Schrader bis 1872. 375

es vereinigt eine gewisse, wenn auch nicht systematisch hervortretende Vollständigkeit mit der größten Leichtigkeit des Lesens formell getrenn­ ter, und jeder ein eigenes Ganzes bildender Aufsätze im Vergleiche zu

einem einheitlichen Werke. Neuüch ist ein sehr umfangreiches Buch über Armenwesen, von

einem großen Kreise von Mitarbeitern verfaßt, erschienen; die Idee, unser Buch in der vorgefaßten Weise schreiben zu lassen, ist also nicht neu und gerade durch das zuerst erwähnte Werk als höchst anwendbar erwiesen.

Bitte, überlegen Sie sich die Sache einmal; ich tue es auch noch, aber ich wollte Ihnen doch gleich schreiben, was mir eingefallen war.

Sind Ihnen die langen Spaziergänge gestern gut bekommen? Mit herzlichem Gruße

~ Ihr

„ KS.

Lenriette Breymann an Karl Schrader. 7. Juni 1870. DienStag morgen zwischen 3 und 4 Ahr.

Wie neu, wie wunderbar kommt es mir vor, daß einmal ein an­ derer Pläne macht zur Realisierung von Ideen, die mein Leben auS-

machen. Wissen Sie wohl, daß ich doch nahe daran war, geistig zu ster-

ben? And jetzt, wo Sie mir die Land reichen, mir zu helfen, mich auf­ zurichten, stihle ich erst die ganze Mattigkeit meinerNatur — aber haben Sie Geduld mit mir; ach, ich war innerlich so furchtbar vereinsamt, und meine Natur ist für die Gemeinsamkeit geschaffen.

Ihre Idee ist die einzig richtige ; was wir tun und schaffen, muß aus einem geschloffenen Kreise hervorgehen von Menschen, die ihre sittliche Persönlichkeit einsetzen fitr die Realisierung ihrer Ideen. Mein Instinkt

hat mich ferngehalten svon einem zweitens Geistesmarkte, wo man unter guter Ware und einzelnen ehrlichen Leuten so vielPack entrisst, das auf Lug und Bettug ausgeht; und darum möchte ich nie mit diesen Zeit­ schriften und Vereinen zu tun haben. In unsere, eigentliche Geistes­

intimität dürfen wir nur-sehr wenige Menschen aufnehmen, das, ach,

das habe ich in bitterer Erfahrung gelernt; aber je fester sich der Kreis schließt, desto sicherer können wir neue benutzen. Sie, Lermann Becktt, Karl sBreyrnannj, Lerr Fricke und wer von den Frauen hier sich dazu

eignen, reichen vorerst vollständig hin, den Plan, den Sie haben, auszuführen. Wir wissen, was wir wollen, und wenn wir das nur darstellen.

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Kapitel 18:

dann schließen sich nach und nach verwandte Geister an uns an. Sie müssen vor allen Dingen die Erziehung vom volkswirtschaftlichen Stand­ punkte erfassen. Ich meine selbstverständlich nicht, daß wir nicht noch andere zu Mitarbeitern gewinnen sollten, z. B. Köllner in Verden wird dies sehr interessieren, auch einen Arzt müssen wir zu erhalten suchen. Erich zum Beispiel, wenn der erst reifer ist, wird uns auch helfen, denn die verschiedenstenRichtungen müssen sich in einem Punkte treffen, und besonders muß die Naturwissenschaft ihre Vertretung finden. Karl ist ganz angeregt durch Ihre Idee, und er ist sehr gut zu gebrauchen. Ich darf nicht, wenn ich wieder gesund und kräftig werden soll in meiner Seele, länger an der Pension arbeiten. Ob nun die Pension eine all­ mähliche Umgestaltung erleidet, oder ich ganz daraus fortgehe, das weiß ich noch nicht—ich denke, es muß so oder so klar gezeigt werden, was das Rechte ist, denn Gott weiß, ich will nur das Rechte. And wie wird Ihr Leben sich gestalten? Ich meine, Sie dürfen nicht für immer ins reine Privatleben zurücktreten; Sie müßten so recht mitten in der Welt bleiben, da Sie so gut mit ihr fertig werden können. Sie müssen herrschen, Sie sind einer der wenigen Menschen, die herrschen können. And all die Arbeiten, die Sie gemacht haben, sollten sie verlorengehen? Ich möchte aber nicht, daß Sie so viel mit den Außen­ dingen zu tun hätten wie jetzt, und daß Sie, wie Sie es wünschen, eine Zwischenzeit ganz für sich selbst hätten. Dann müßten Sie reisen und Verbindungen anknüpfen mit Menschen, welche ähnliche Zwecke »etfolge« wie wir. Ich kenne mehrere; der Druck des Lebens hat mich nur verhindert, so manche Fäden festzuhalten und weiterzuspinnen, und dann wollte ich hier erst etwas haben, woran sich die Leute halten könn­ ten. Sie wissen ja selbst, wie es kam. Ich paßte gerade dafür, Menschen zu interessieren für Erziehung, ich gehöre eigentlich gar nicht in diese Isolierung, in welche ich geraten bin und die — wäre sie weiter und weiter ge­ gangen, mich hätte absterben lassen °bis auf die Kraft, nur so weiter zu „jökeln". Mit rein schriftstellerischer Tätigkeit, wie Sie neulich meinten, könnte ich meine Kräfte nicht verwenden; ich brauche Menschen, junge Mädchen, die etwas tun wollen und müssen, glauben Sie mir, da ist mein Boden; aber dies kann unter verschiedener Form sein, wenn ich nur aus voller Seele über Fröbel sprechen kann und die nötige wissen­ schaftliche Anterstühung finde von anderer Seite, um dem allen positiven Boden zu geben. Ich würde auch ganz verschiedene Kurse geben können: für junge Mütter kleiner Kinder, für junge Mädchen, wie ich sie hier

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 377 habe. Es ist vieles reif in meiner Seele, ich habe die Ideen in meiner Ge­ walt, sie sind mir Fleisch und Blut geworden und das, was man besitzt, kann man in die verschiedensten Formen kleiden, und das k a n n ich. Dar­

um hat mich auch wieder und wieder der Wunsch der Frau Lohen­ emser gelockt, nach Frankfurt oder Mannheim oder Heidelberg zu gehen, indem eine größere Stadt wieder größeren Boden bietet. Zuweilen dachte ich auch von hier aus in Braunschweig etwas anzufangen, aber ich bin hier eigentlich menschenscheu geworden. Lind doch liebe ich wiederum die Pension; sie hat uns die Mittel gegeben, eine große Familie so zu er­ ziehen und auszubilden, wie es nötig war, und Adolf und Erich bedürfen noch immer unsrer Lilfe; sie hat es uns möglich gemacht, unserer gelieb­ ten Mutter ein sorgenfreies Alter zu schaffen, sie bei uns zu haben, ihr wieder in ihrem Häuschen eine Heimat zu geben, darum liebe ich wieder­ um die Pension. Nun, da komme einer heraus aus allen diesen Kon­ flikten. Diesen Sommer lasse ich so alles hingehen, aber dann muß es so oder so zur Entscheidung kommen. Entweder arbeite ich an der !lmgestaltung der Pension, oder ich verlasse sie, oder ich resigniere und denke an Gelderwerb, und dieses Geld werde ich nach meinem Tode einer Persönlichkeit übergeben, die sich wohl noch finden wird, zu der ich noch Ver­ trauen habe, daß sie Fröbel versteht und dafür wirken wird. Was ich denn tun muß, will ich ganz tun, dieses geistige Provisorium geht nicht länger; die Schloßgeschichte hat jahrelange Vorarbeiten zunichte ge­ macht. And das alles wußte Anna Vorwerk, aber sie wußte nicht, waS es heißt, sein Herzblut hingeben an etwas, was man liebt — sonst konnte sie nicht wie zu einem Kinde sprechen: „Sie haben wirklich genug mit Ihrer Pension zu tun, liebe Henriette I" Nein, nein, ich darf nicht an dies alles denken. Warum hat Gott mein Herz so liebefähig angelegt, warum kann ich eigentlich nichts voll­ bringen, was ich nicht liebe, und das Lieben hat mir so unendlich viel Weh gebracht und d o ch ist mein Herz nicht tot 1 Ist es nicht unbegreiflich ? Aber es ist des Weibes Kern, des Weibes Natur, sie muß das lieben, was sie zu vollbringen hat, und darin liegt die Schwerkraft ihres Lebens, darin liegt ihr Glück, aber auch ihr grenzenloses Elend begründet. O, drängt sie nicht auS ihrerNatur, aber diese Natur muß gekräftigt werden; sie muß lernen, die menschliche Natur begreifen und sich als Mutter der menschlichen Gesellschaft fühlen; das ist die Lösung der Frage der Frauenemanzipation. !lnd der Mann muß sie mehr respek­ tieren; wie er in einer wahren Ehe sein Weib nach einer Seite hin

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Kapitel 18:

schützen, vertreten möchte, so sollte er fühlen gegen das ganze Geschlecht.

Die Frau ist nach einer Seite hin die schwächere, die zartere, der Mann ist der schwächere nach einer andern; wir ändern nimmermehr die Natur, aber wir können sie befreien von ihren Fesseln, wir können sie vergeisti­

gen, und das ist eigentlich der Grundgedanke meines Lebens. Es muß sich eine Lösung finden zwischen den Gesetzen des Geistes und der Natur;

die Kirche, welch« fich anmaßt, die Gesetze des Geistes zu vertreten—und sie sollte es eigentlich, nur darin hat sie einen Sinn — stellt sich in Oppo­ sition gegen dieNatur und erzeugt darumLüge, die Mutter allerSünde.

Ohne Kampf und Arbeit wird niemand die Natur in sich testeten, aber es brauchen in diesem Kampfe nicht so vjele unterzugehen wie jetzt.

WaS sind wir, was können wir im Hinblick auf das, was zu tun ist?

Aber sind nicht ganze Felsen aufgebaut aus winzig kleinen Schal­ tierchen? und so legen wir auch unser Sandkorn hin zu der Arbeit an der Erlösung der Menschheit, der armen, irrenden, suchenden Menschheit. Vielleicht werde ich noch, was ich dachte werden zu können — vielleicht I Jetzt bin ich noch krank und schwach; wieder flieht mich der Schlaf, den ich

so nötig habe. Ich will doch nach AlbertinenS Besuche hier mit der Mut­ ter auf einigeWochen nach demHarze; ich kann doch nichts Ordentliches sein und schaffen. Gestern hatten wir viel Besuch, der mich ermüdete; wir gingen im Holze spazieren, es war so wunderschön; ich denke. Sie

freuen sich auch noch mehr an der Natur, sie tut so gut. Ich dachte an Sie und zog ein Bäumchen aus der Erde, ich schicke es Ihnen; aber Sie brauchen es nicht zu behalten, ich denke. Sie mögen so etwas nicht. Ich

fahre um 11.40 nach Braunschweig heute, kommen Sie nicht an die Bahn, wenn eS Ihnen nicht paßt, ich habe gar kein dankbares Herz für solche Art Aufopferungen, ja, ich hasse sie. Ich weiß auch nicht, ob Sie

sich was daraus machen, wenn die Leute sich mit uns beschäftigen; ich tue es gar nicht mehr; ich werde für meine Person mir keine reine Freude

versagen der Albernheit der Leute wegen. Jedes Alter hat seine Vor­

rechte, und die will ich nehmen und behaupten. Wir wollen das Leben in seiner innersten Bedeutung aufbauen, nicht wahr? And nur so viel Rücksicht auf die Welt nehmen, wie sie ver­

dient, keine Faser mehr. Wo nun die Weltklugheit in Bettacht kommt, und wir doch einmal mit andern zu tun haben, da lasse ich mich von Ihnen bestimmen und leiten, ich kann dann um so sicherer mein Sein bewahren. So ost wir an demselben Ort sind, wollen wir uns sehen und sprechen. Seit Sonntag verstehe ich so vieles besser in Ihnen, wie Sie so geworden.

Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 379 Die Grundlagen unserer beiderseitigen Wesen sind unS klar, und darauf beruht unser gegenseitiges Verhältnis, aber um miteinander für an­ bete zu sein, was wir sollten, und uns gegenseitig zu sein, was wir können, einander so glücklich zu machen, wie es im Bereiche der Möglichkeit unserer Naturen liegt, dazu müssen wir uns viele- sagen und noch in vielen Einzelheiten näher tönten lernen. Wer weiß, wie lange wir leben; ich denke zuweilen, ich sterbe bald. Wenn ich Sie also vor Ihrer Reise nach Thüringen nicht sehen sollte, so grüßen Sie mir mein liebes Thüringen, bringen Sie mir etwaGrünes von der Wartburg mit, dort ist einer meiner Lieblingsplätze, eS ist so schön da, Geschichte und Natur greifen ineinander auf eine wunderbar entsprechende Art Es ist jetzt 6 Ahr, ich will versuchen, noch ein wenig zu schlafen.

Kenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 9. Juni 1870.

Ob Sie noch in der Konferenz sitzen oder vielleicht die Sonne untergehen sahen auf der Wartburg? Ich wollte, ich könnte da oben bei Ihnen sein, es würde mir gut tun. Mir ist es recht schlecht ergangen. Zu der Schlaflosigkeit gesellen sich Schmerzen, und ich fithle mich kraftlos, so daß ich keine Stunden geben konnte und still auf meinem Zimmer sitze. Ost kommen mir Todesgedanken, dann aber fass« ich wieder Vertrauen zu meiner im Grunde kräftigen, guten Natur. Meine Nerven sind überreizt von alle den Erschütterungen, die ich erfahren. Doch kann ich im Geiste neu geboren aus ihnen hervorgehen und vieles dahintenlassen, was störend in mein persönliches Leben sowie in meine Wirksamkeit eingegriffen hat. Die Bildung meines Wesens ging nun einmal nicht friedlich vor sich, das Gewaltsame, Leidenschaftliche meiner Natur wirkt vielleicht am meisten auf mich selbst zurück. Es kann eigentlich keine verschiedenern Naturen geben wie die unsrigen,und ebenso verschieden war deren Entwicklungsgang. Mir hat eine Autorität gefehlt, die mich lernen und arbeiten machte, als ich ganz jung war. Sie meinten neulich, ich sei doch ungenügsam, ich hätte ein so viel reicheres Leben gehabt als so mancher andere; aber mir hat eins gefehlt, was ich allen denen gab, mit denen ich in Liebe verbunden bin; ich war nie beherrscht. Es gibt kein größeres Glück, als sich beherrscht zu fühlen, wenn diese Beherrschung auf einer wirklich inneren Macht beruht; da-

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Kapitel 18:

durch werden der eigenen Natur die rechten Grenzen angewiesen, sie geht in sich zurück, um gestärkt aus sich herauszugehen. Was hätte mir dadurch erspart werden können! Aber vielleicht hätte ich dann des Wei­ bes Wesen und dessen Leiden und Kämpfen nicht so begriffen, wie ich es

jetzt tue. Wie ich gedarbt und gerungen habe, werde ich nie vergessen. Glauben Sie mir: Ich habe die ganze Emanzipationsgeschichte in mir durchgemacht. Erzogen als Weib der alten Zeit, angelegt für die Frau

der Zukunft, habe ich mich aufgebäumt gegen verkommen und Natur, bis ich endlich in mir selbst die Lösung der Frage gefunden. Darum weiss ich auch ganz genau, wie es kommen wird, und ich sehe nicht zu schwarz, wenn ich sage, es stehen uns noch traurige Zeiten bevor. Wir sind unterdrückt, weil unsere Schwäche mehr nach außen hervortritt, die des Man­

nes aber mehr dem gewöhnlichen Auge verborgen siegt; daß unsere

physische Schwäche uns zur Abhängigkeit vom Manne verdammt, ist

nur ein Beweis von dessen Roheit. Am 10. Leute war .... hier; ich bin jetzt wirklich mit ihm auf

dem besten Fuße, wir lachen zusammen; er macht wirklich gute Witze, wenn er sie auch manches Mal auf unsere Kosten macht, so schadet es

nichts. Es ist so viel leichter, mit den Menschen auf der Oberfläche deS Lebens zu verkehren (wie man das muß), wenn man im tiefsten Inner­ sten Verständnis findet. Es ist wunderbar, aber es ist so, nur ein gegen­ seitiges Erfassen zwischen dem Geiste des Mannes und der Frau gibt die Vollendung in der Freundschaft, in der Liebe; so verschieden sie beide

sind, können sie einander doch schließlich am besten verstehen. Zuweilen denke ich, ich könnte ein ganz neues Leben beginnen, voll

Leiterkeit undMut, und es kehrte so dasDertrauen, der Llnternehmungsgeist wieder. Wenn ich nur erst meine Körperkraft habe; es steckt viel

Lebenslust in mir von Natur, gerade soviel als tiefster Ernst und Me-

lanchosie. In meinem Wesen sind die größten Gegensätze vorhanden; wie schön wäre das, wenn sie dauernd ihre Vermittelung fänden; ich könnte mich dann so aus Lerzensgrunde freuen mit den Fröhlichen, und

wirklich tief mit den Traurigen empfinden und weinen; in ruhiger Kraft mit den Schwierigkeiten kämpfen, welche nie ausbleiben, solange man

überhaupt arbeitet und ringt. Dann könnte ich das Leben lieben, unb wenn Gott es von mir forderte, ruhig es ihm geben und einer neuen

Stufe der Entwicklung entgegengehen. Ob es möglich ist, daß mein Leben so gesund wird?

A m 11. Es geht mir alle Tage etwas besser; die scheußliche Medizin

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 381 von Ihrem Bruder scheint doch zu helfen. Aber ich bin ganz melancho­ lisch, mir geht all mein Laar aus. Wenn Sie mein Laar getonnt hätten, wie es früher war, Sie hätten eS doch bewundern müssen; obgleich Sie immer sehr erhaben tun, was das Äußere anbetrifft, so glaube ich nicht recht daran. Lesen Sie einmal, was die Prinzeß zu Tasso sagt: „Was übrigbleibt, das reizt nicht mehr, und was nichr reizt, ist tot" usw. Sie charakterisiert die Männer, wie sie mit wenig, ach, mit sehr wenig Ausnahmen sind, so richtig. Glauben Sie mir, ich habe schrecklich traurige Erfahrungen gemacht; mir haben so oft ältere und Ehemänner den Los gemacht, und wie ost habe ich dann Gott gebanst, daß ich nicht verheiratet war. Ich finde es möglich, finde eS verzeihlich, wenn ein verheirateter Mann sich einmal für eine andere Frau interessiett — wohl nie ist das Gebet an­ gebrachter als in bezug auf die Liebe: „ Führe mich nicht in Versuchung." Es muß eine dämonische Gewalt zuweilen über die Menschen kommen, welche sie zu Sklaven macht, man erlebt ja solche Dinge; aber da sollte der Mann an die Größe des liebenden Weibes glauben, da sollte er ihr sein Verttauen schenken; bet Gott, ich hätte meinem Manne in einem solchen Falle helfen können. Wäre er aber ohne dies Verttauen in den Kampf geraten, wäre er unterlegen — nein, ich darf nicht an so was denken; ich wäre des Schrecklichsten fähig, gewiß. Nur Wahrheit erlöst, nur Wahrheit macht frei; allerdings ertragen sie nur starke Seelen, aber diese können auch gerade unter der Lüge ge­ brochen werden. Ich meine nicht die Lüge im Wott allein, eS gibt etwas weit schlimmeres: Die Lüge des ganzen Seins und Wesens .... Sie sind wohl höflich gegen alle Menschen, aber doch nicht herzlich, und man kann nicht gegen alle Menschen gleich empfinden. Nächste Woche fahren Mutter, Albertine und ich mit einem Wagen nach Braunschweig und machen verschiedeneBesorgungen und Besuche; wir essen zu Mittag in Schraders Lote!, nicht wahr, Sie essen mit uns? Ich habe eine Anmasse Briefe dieser Tage erledigt, wo ich keine Stunden geben durste; um mich von dem elenden Zeuge, was man an dummeMütter und alberne Engländerinnen zu schreiben hat, zu erholen, schrieb ich an Sie. Nun aber adieu, seien Sie nicht bange, daß Sie immer so viele lange Briefe bekommen; nächste Woche bin ich wieder gesund und arbeitsfähig. Ihre L B.

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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenrielte Breymann.

Eisenach. 11. Juni 1870. Dieses Mal habe ich mir bei meiner Reise etwas mehr Muße ge­ nommen, als ich sonst -u tun pflege. Schon heute nachmittag hätte ich zurück sein können, aber ich hatte noch nie Thüringen gesehen und fühlte wirkliche Sehnsucht wieder einmal, wie in meinen jungen Jahren nach Lerzenslust im Walde umherzulaufen. And daS habe ich auch gestern und heute getan. Leute bin ich so recht ohne Ziel im Walde herumgelaufen; bald bin ich auf eine Bergspitze geklettert und habe mich umgesehen, bald bin ich durch Dickichte durchgedrungen, und überall fand ich dieselbe Anmut: In der Fernficht, die nie in das endlose Flachland hin­

ausreicht, sondern immer durch Berge am Lorizonte Begrenzung findet, und nie des schönsten Vorder- und Mittelgrundes entbehrt, wie in den Durchblicken durch die Waldwege, wie in dem Blicke auf das Kleinste, die den Boden bedeckende Flora. Viele alte Freunde fand ich da wieder, wenn ich sie auch nicht alle mehr mit Namen zu nennen wüßte. Säfte ich Zeit und Einrichtungen dazu gehabt, ich hätte Ihrer Schwägerin Luise ein ganzes Lerbarium sammeln können. Wie ich bis hierher gekommen war, rief mich die Mittagsglocke zu Tisch und mahnte zugleich an den baldigen Aufbruch von dem schönen Eisenach. Am 3 Ahr bin ich denn in den alten, soeben noch vergessenen Gang gekommen. Bis um 1 Ahr in der Nacht bin ich als Bahngespenst durch Deutschlands Gaue rastlos dahin geflogen, und heüte sitze ich in dem alten Wust von Papieren und ledernen Geschäften. Eben heute nachmittag 5 Ahr bin ich mit dem großen Laufen bis auf einige wich­ tigere, Aberlegung fordernde Dinge fertig geworden und habe die an­

genehme Aussicht gewonnen, wahrscheinlich morgen nachmittag wieder nach Berlin reisen zu müssen. Ich möchte mit dem braven Leporello singen:

„Keine Ruh' bei Tag und Nacht, Nichts, was mir Vergnügen macht." Vorläufig muß ich mich doch darin finden uab nur sehen, daß ich mich leidlich hoch halte. Diese Zeit halte ich überhaupt nicht für eine dauernde, sondern für eine Abergangsperiode, in welcher ich manche Dinge zu späterer Verwendung gelernt habe. Soll ich sagen, wie ich wünsche, daß sich meine Stellung künftig gestalten möge, so ist es eine Wirksamkeit für soziale Reform, womöglich in etwas größerem Stile, sei es kraft amtlicher Stellung, sei es mehr als Privatmann; aber ich

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 383 kann und werde mich auch zukünftig mit der bescheidensten Stellung begnügen, wenn sie mir nur gestattet, nach meinem Sinne zu wirken. Denn je mehr ich nachdenke, desto fester wird in mir die Überzeugung, daß

auch die unscheinbarste, wenn nur überhaupt wirksame Tätigkeit in unserer Zeit, welche alles materielle und geistige Leben der zivilisierten Welt in den engsten Zusammenhang gebracht hat, oft Ungeahntes nützen kann. Mancher wird es komisch finden, daß ich trotz solcher aufrichtigen Selbftbescheidung doch an Großes für mich denke und mich dazu, soviel ich vermag, vorbereite. In allen einzelnen Dingen, welche ich betreibe, suche ich den Zusammenhang mit dem Ganzen zu finden, und ich be­ trachte sie stets mit Rücksicht nicht nur auf ihre ideale Wahrheit, sondern auch auf ihre praktische Durchführung im Leben; ich suche mir das an­ zueignen, was ich eine „staatsmännische Auffassung" nennen möchte; denn ich wünsche einmal, eine Stellung zu finden, welche mir gestattet, in daS Staatsleben im Sinne der Ideen, welche wir so manches Mal miteinander ausgetauscht haben, einzugreifen. Ich darf dies sagen, weil ich hinzufügen kann, daß ich mich bis jetzt nicht dazu für befähigt halte, und daß ich nicht eher mit meinem Streben hervortreten werde, bis ich glaube, das leisten zu können, was ich wünsche. Wie aber der Weg ist, welchen ich zu wählen habe, ist bis jetzt schwer zu sagen; ich muß die Entwicklung der gegenwärtigen Krisis abwarten, und wie ich bisher getan, Menschen-, Sachkenntnis und Ideen erwerben, welche ich später verwerten kann Wie ich gestern im Thüringer Walde umherlief, konnte ich doch nicht lassen, an so manche Dinge der Menschenwelt zu denken, welche mit der Natur nichts zu tun hatten; so ist mir gerade dort immer klarer geworden, daß die Besserung der Erziehung und speziell nach Fröbels Prinzipien die wichtigste, nächste Aufgabe der Menschheit ist; eine kon­ sequente Durchführung seiner Prinzipien führt schneller als irgendein anderes Mittel zu der Lösung all der wichtigen Fragen, welche unsere Zeit bewegen: Der Streit über Bestimmung, Beschäftigung und Be­ rechtigung der Frau würde zum Beispiel viel eher zu Ende kommen, wenn man die Entwicklung der wirklichen Individualität der Frau in der Erziehung als Lauptprinzip befolgte. Vor meiner Reise nach Eise­ nach habe ich Mills Buch über „die Lörigkeit der Frau" zum größten Teil gelesen. Es ist ein gutes Buch: Klarheit und Logik mit warmem Gefühl für die Sache und völlige Reinheit der Intention charakterisieren dieses, wie alle andern Bücher von Mill; ja, dieses mehr als andere, weil

384

Kapitel 18:

ihn die Erinnerung an seine eigene Frau vielfach angeregt hat. Zn die­

sem Buch nennt er sie freilich nicht, wohl aber in einem früheren: „On Liberty", das er ihrem Einfluß zuschreibt. Sie müssen beide Bücher ein­

mal lesen; sie stehen unendlich hoch über dem Gros dessen, was über solche

Dinge geschrieben ist, und haben, wie Mills Auftreten im Leben, nur den Nachteil, das, was richtig ist, nun auch eingeführt wissen zu wollen. Die Menschheit muß eben wie das Kind zu jedem Fortschritt auf seiner

Bahn allmählich erzogen werden; aber um diese Erziehung richtig zu leiten, müssen erst die Ideen gegeben sein, und bei allerNichtung auf das

Praktische schätze ich doch den Mann vor allem, welcher uns das Ziel

unseres Sttebens kennen lehrt; diejenigen, welche uns lehren, den ein­

mal gezeigten Weg zu verfolgen, werden nicht fehlen.

Worin hat denn die hauptsächlichste Tätigkeit aller großen Refor­ matoren, von Christus an, bestanden? Darin, einige wenige begeisterte und befähigte Anhänger ihrer Lehren zu finden, welche nach ihrem Ab­

scheiden an die Stelle traten. And ich möchte fast sagen, daß je mehr fie

ihre Tätigkeit hierauf beschränkten, je weniger sie anfänglich zu großem, äußern Erfolge kamen, desto erfolgreicher und desto reiner durchgefühtt wurden später ihre Ideen.'

War es nicht der rasche äußere Erfolg Luthers, welcher so bald jeden inneren Fortschritt seiner Lehre hemmte und dem Protestantis­

mus, nachdem er uns kaum von den alten Ketten befreit hatte, neue schmieden ließ? And ich glaube, daß Fröbels Ideen durch die Hinaus­

schiebung ihrer Ausführung bis jetzt nur an Erfolg gewinnen werden. Lätte man sie nicht noch mehr verkrüppelt als jetzt? Konnte man in

einer Zeit der vollständigen Negation so freie und so umgestaltende Ideen wirklich fassen? Wir können es heute kaum, obgleich wir doch ein

gutes Stück weitergekommen sind.

And ich bin auch von einem Bogen zum andern gekommen und muß daran denken, zu schließen. Aber doch noch eins.

Sobald ich irgend kann, will ich einmal einen etwas detaillierten

Plan für unser Buch ausarbeiten und ihn Ihrem Bruder sKarlj schicken, damit ihn L. Becker sieht, ehe er nächstens zu Ihnen kommt, und damit wir dann darüber reden können. Als Gruß aus Thüringen schicke ich einige Bäumchen und Blumen

aus dem Walde mit. Donnerstag bin ich, auch wenn ich nach Berlin gehe, wieder hier. Mit herzlichem Gruße

Korrespondenz zwischen Sb. Breymann und K. Schrader bis 1872. 385 Lenriett« Breymann an Karl Schrader.

Neu-Wahum. 14. Juni 1870.

Wieder einmal hatte ich gut geschlafen, und dann erhielt ich Ihren lieben, lieben Brief mit dem schönen Grün aus Thüringen. Es war, als wär« ich dort, dort mit Ihnen. Sie lieben doch auch meine beste, treuste Freundin, die Natur; das weiß ich seht. Nicht wahr, Thüringen ist erquicklich? Ich habe eine große Liebe für dies Land gehabt; dort fühle ich mich eigentlich geboren, und meiner Mutter Voreltern stam­ men daher. So vieles hat Ihr Brief mir zu denken gegeben, und ich bin so froh; so ruhig, daß ich so ganz mit Ihnen übereinstimme in dem, was Sie für Ihren Beruf halten; ich konnte nur nicht das rechte Wort dafür finden. Der Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit liegt in der staatsmännischen Auf­ fassung und Bearbeitung der Ideen, die wir gemeinsam, die wir als die richtigen erkennen, und Sie werden darin Großes leisten. Diese Überzeugung steht unerschütterlich fest in mir, und wär« der Wirkungskreis äußerlich «in unscheinbarer. Sie haben ganz recht, nur da, wo man ganz sein kann, da wirkt man nachhaltig gründlich und o, wie vorfichtig sollte man sein, sich in Verhältnisse zu begeben, die uns in ihren Konsequenzen so fesselnd werden können. Ich fühle es, ich muß die Pension, wie sie ist, loswerden, und doch darf ich nicht ohne Rücksicht auf andere Personen handeln. Sonntag war ich so melancholisch, und Annette und ich, wir wollten in den großen Ferien fortfliehen und irgendwo einen Kindergatten gründen, und ich wollte Erzieherinnen bilden, und wir malten uns aus, wie arm wir sein würden, wie wir uns selbst etwas kochen und sonst alles selbst tun würden, aber A. fand das wundervoll. Ich glaube, Sie haben noch keinen rechten Begriff von den kranken Zuständen in den sogenannten gebildeten Familien, und wie äußerlich die Eltern sind, und wie ich meine Kräfte zersplittern muß, und wie ttostlos gerade für mich solche Arbeiterei an diesen jungenMädchen ist, die so 1 bis 2 Jahre hierbleiben, um überlackiert zu werden. Andere, die nicht ein so starkes EinheitSgefÜhl haben wie ich, könn­ ten an meiner Stelle sehr glücklich sein und sollten und würden «S, denn man kann ja immer etwas Gutes tun, wenn man redlich arbeitet, und im großen ganzen geht «S uns unberufen ganz gut im Vergleich zu dem, waS andere mit Pensionen für Geschichten erleben. Sehen Sie, meine Geschwister fühlen nicht so stark darin wie ich; nur Marie wollte von Spfdjinlte, Henriette Schrader I.

25

386

Kapitel 18:

vornherein direkt Fröbelsches wie ich, und Ledwig fing an, mich auch zu verstehen. Ich lerne tagtäglich Jesus richtiger verstehen und durch Sie —

nicht direkt, aber durch die ganze Einwirkung, welche Sie auf mich üben. Jesus wollte alles auf das Wesen der Dinge zurückführen, und die Form

sollte nur Ausdruck dieses Wesens sein, die allerdings eins wird mit dem Wesen. Dieses Trennen sdes Innern undÄußern] ist so tötend; wir haben

doch noch viel mehr Mittelalterliches in unserer Religion, als wir denken; Luther selbst konnte nie diese Trennung sdes Äußeren und Inneren, des Natürlichen und ©eifrigen] überwinden; und doch war er gerade eine so mächtige Natur. Wir müssen die Einheit von Natur und Geist festhallen

und die erstere verklären. Geist und Materie sind doch eins .... Cs

gibt auch keine absoluten Gegensätze, .... es ist immer ein ZusammenHang zwischen der ersten und der letzten Stufe, z. B. zwischen dem Kinde, das er war, und dem erwachsenenManne. Ich weiß nicht, ob ich mich klar

ausdrücke, und ob Sie meiner Meinung sind; für mich lösen sich alle scheinbaren Widersprüche in dieser Auffassung, daß eben zwei sich schein­ bar widerstreitende Dinge doch im Grunde eine Einheit sind, und beides zugleich sein können. Z. B. die Lehre von der persönlichen Ansterblich­

keit und der Beobachtung des Geschicks des einzelnen. Cs wird und muß

unser Geist nach dem Tode ins Allgemeine übergehen, mehr im All­ gemeinen Bewußtsein bekommen, und er wird doch dabei seine Indi­

vidualität bewahren; es muß das Kleinste im Leben eines Menschen Be­ deutung haben, und doch ist er wieder fast einNichts im großen Ganzen. Wir müssen nur das Zugleich festhalten und verstehen, was Fröbel

meint in der Vermittelung der Gegensätze. Mein lieber, ungeliebter, alter, häßlicher Fröbel, wie hat er gerungen, das Gewaltige in ihm zu stammeln, und über dieses Stammeln kam er nicht hinaus. Wenn ich ein

gesundes, hohes Alter erreiche, werde ich Biographien schreiben und auch

Fröbels, das soll meine Arbeit für die letzten Jahre sein. Man muß, um die- zu können, die Verklärung des Alters gefunden haben. Wie hasse ich diese Lügenbücher, sverhimmelndeBiographien] und wie krank werden die Frauen durch diese Literatur. Ich weiß wohl, ich muß mich auch für Knaben- und Männererziehung interessieren, wenn ich meinem armen Geschlechte gründlich helfen will; die Einwirkung beider aufeinander ist

so groß; sie ziehen einander noch so herunter, und doch ist daS Verhältnis der Geschlechter zueinander im Grunde die wichtigste Frage.Mir ist viel Verttauen geschenkt, und dadurch habe ich tiefe Blicke getan in ein

grenzenloses Elend der Menschen.

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 387

Finden Sie nicht, daß Golt es den Menschen zu schwer gemacht hat, als seine echten Kinder zu leben? Ich finde es. Ich freue mich, wieder was Ordentliches zu lesen und durch Sie eine Seite des Lebens kennenzulernen, gerade die staatsmännische, die mir bisher fernlag; ich muß dahin geführt werden. Ich kann mit der Prinzesfin in Tasso sprechen: „Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen." Ich wünsche, daß die Verhältnisse mich mehr in Verkehr mit tüchtigen Männern bringen mögen, ich habe starke intellektuelle Bedürfnisse, ich profiliere schnell und viel durch solchen Verkehr. Ich habe einmal Wolfenbüttel als den schönsten Ort gefunden, als ich anfing zu Bethmann in nähere Beziehung zu treten, und meine Ideen hier Wurzel faßten. Zu Bethmanns Geist hatte ich Vertrauen, er schwatzte nicht; von ihm erhielt ich nur Positives, denn ich war eine viel zu moderne Natur für ihn; er lebte in der Vergangenheit, und seine Ideen über Politik und Religion entbehrten jedes Systems. Er war die lebendige Geschichte, verklärt von tief sittlicher und poetischer Anschauung. Bethmann war mir das schön­ ste, lebendige Buch, und er schlug die Seiten seines Forschens mit einer Liebenswürdigkeit vor uns Frauen auf, die, weit entfernt von der mir verhaßten Galanterie, auf wirklicher Achtung des Geschlechtes fußte. Seine Frau weiß, was sie an ihm verloren, ob sie sich bewußt war, waS sie an ihm besaß? Paßt es nicht, daß wir Freitag kommen, so können wir den Besuch auf nächste Woche aufschieben, wenn auch L.Becker kommt; ich habe ihm schon die Idee Ihres Werkes mitgeteilt, abe? ich freue mich, daß Sie den

Plan ausarbeiten wollen. Schreiben Sie mir aber ganz offen, wenn unser Besuch nicht paßt, nicht wahr, über das Stadium der Höflichkeit sind wir hinaus? Hoffentlich auf baldiges Wiedersehen,

Karl Schrader an Henriette Breymann. Braunschweig. 18. Juni 1870.

Ein heute früh eingetroffener Brief von S>. Becker hat mich auf angenehme Weise daran erinnert, daß ich heute, Sonnabend, an Sie schrei, bett sollte. Wenngleich ich nicht erwarten kann, daß Sie morgen meinen Brief noch erhalten, weil Sie bei Ankunft des Postboten schon in den Gefilden des Amtes Salder umherfahren, so schreibe ich doch heute, denn wer weiß, ob ich morgen dazu komme und Montag ftüh müssen Sie doch 25»

388

Kapitel 18:

einen Brief von mir bekommen. S>. Becker meldet sich auf Mittwoch

nächster Woche bis zum Sonnabend an; ich habe sogleich geantwortet

und übernommen, Sie zu benachrichtigen. Als Tag unserer Zusammen­

kunft nehmen wir wohl Donnerstag oder Freitag .... Lermann Becker und ich sind gewiß eigentümliche Gegensätze, seine ganze Ent­ wicklung ist in der Richtung dessen gewesen, waS er heute ist, und sein Weg ist ein grade r gewesen ; daher ist er soviel reiner, feiner und gleich-

mäßiger. Mich haben Erziehung und Beruf in eine ganz andere, in eine

rein äußerliche Richtung gedrängt, über welche ich mir selbst erst sehr

langsam klar geworden bin, und auSwelcher ich erst allmählich heraus-

steuere. Ganz ohne ernsteres Streben in irgendeiner Richtung bin ich wohl nie gewesen, aber ein eigentliches Lebensziel hatte ich mir nicht gesetzt. Ich genoß meine Existenz ziemlich achtlos auf daS, was aus mir

wurde. Den Ehrgeiz, hohe Stellen zu erwerben, habe ich nicht gehabt, und wäre es der Fall gewesen, so wär« er in unsern jetzigen braunschweigi­

schen Verhältnissen ohne Effekt geblieben, denn keine Auszeichnung in

meinem Berufe hätte mich im Lande Braunschweig zu etwas bringen

können, und daß ich eine angesehenere Stellung habe als andere Altersgenossen, ist eine reine Folge des Zufalls, welcher mich in die Eisenbahn­

verwaltung gebracht hat. So habe ich mit mancherlei Leuten, zuweilen auch, ohne sie zu suchen, mit bedenklichen Leuten verkehrt, und ich will nicht leugnen, daß

ich manche Schwächen im Verkehr dulde, welche man nicht dulden sollte.

Aber ich bin auch, nachdem ich eingesehen habe, daß es notwendig ist,

sich ein Lebensziel zu stecken, und nachdem ich es gefunden habe, ein

anderer geworden und verdank« meiner früheren Zeit nur die Leichtig­ keit, mit allerhand Männern zu verkehren und diesem Umstande wieder wahrscheinlich den größten Teil der Erfolge, welche ich gehabt habe.

Wäre ich von Anfang an in Braunschweig gewesen, wie ich zu sein wünschte, und wie ich mich jetzt zu bilden suche, man würde mich mit

meinen Ideen als einen Narren ausgelacht haben; so wußt« man, daß ich dem gewöhnlichen Leben gar nicht fernstand, daß ich ein ganz prak­ tischer Mann war, und daß ich mit den Liebhabereien der großenMenge der Menschen vertraut war. Mit aller Art von Leuten hatte ich gekegelt,

Billard gespielt, geritten, gefochten, gegessen und gewunken mit guter Manier; ich kannte viele Personen und ihr« Schwächen, und so folgt«

mir mancher weit eher, als wenn ich anders und besser gewesen wäre.

Aber fast all« früheren Beziehungen sind aufgegeben mit Aus-

Korrespondenz zwischen S5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 389

nahm« der wenigen, die ich entweder kultivieren muß, oder die meinen

jehigen Neigungen entsprechen. Mit dem größeren Ernste bin ich aber zu größerer Bitterkeit gekommen, letzteres aus, ich glaube sagen zu dürfen,

gerechter Erbitterung über unsere öffentlichen Zustände. Diese habe ich seit mehreren Jahren schon aufmerksam verfolgt, und ich habe Gelegen, heit gehabt, durch hiesige und auswärtig« Bekanntschaften mich über sie und über die leitenden Persönlichkeiten so zu unterrichten, daß ich sie kenne, wie nur sehr wenige andere Leute. Es ist noch milde gesagt, daß

weder in den Regierenden, noch in der Bevölkerung «in auch nur einigermaßen ernstes Streben zum Fortschritt ist, daß alle Energie fehlt, und daß wir uns deshalb in einem Zustand« vollständiger Zerrüttung unserer

öffentlichen Zustände befinden, deren Teilung schwerlich eher als mit dem Aufhören unserer Selbständigkeit zu erwarten ist. Sie werden dasselbe

Urteil von allen leidlich verständigen Leuten hören, nur daß jeder andere es auf ein gewisses, ihm naheliegendes Gebiet beschränkt: Der Jurist

wird Ihnen von den Mängeln der Rechtspflege reden, der Lehrer von denen des Unterrichtes; nur stehen sie auf einem zu beschränkten Standpunkte, um die einzelnen Mängel zu verbinden und auf ihre Ursachen

zurückzuführen. Wir würden sehr schlimm daran sein, wenn nicht die natürlichen Vorzüge des Landes und der gute Grund, welchen ftühere, gute Re.

gierungen gelegt haben, sowie die immer mehr sich geltend machende Einwirkung des großen Ganzen uns noch leidlich erhielten. Wenn man,

wie ich, in diesem Treiben steht, so muß man bitter werden, und das bin ich gelegentlich nicht bloß für mich, sondern auch gegen andere geworden in bezug auf.öffentliche Dinge und Charaktere. And doch, glaube ich, ist mein Urteil über viele Leute milde, denn ich weiß sehr wohl die Ein-

flösse zu würdigen, unter denen sie so geworden sind, und daß sie ganz anders sein würden, wenn die Bevölkerung mehr Energie und feineres Gefühl für Recht hätte.

Wie denn alle Wege nach Rom führen, so führt auch jepe Betrach, tung öffentlichen Lebens mit Notwendigkeit auf die Erziehung; man

erziehe eine zu individueller Sittlichkeit entwickelte Bevölkerung, und man hat «in dieser entsprechendes Staatswesen. Das ist eine alt«, ab-

gedroschene, wenn auch noch nicht genug befolgte Lehre; nun ist aber Tatsache, daß in unserer Zeit die menschliche Gesellschaft zu ihrer EntWicklung weit weniger als je zuvor der Vermittlung des Staates bedarf, daß sie eine mächtige eigene Initiative besitzt, und daß sie gelernt hat.

Kapitel 18:

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dieselbe zu gebrauchen. Führen Sie diese Initiative noch mehr, als bis-

her geschehen ist, auf die Erziehungsfragen, lenken Sie ab von der steten Nörgelei an dem Staatsschulwesen, und setzen Sie an deren Stelle die Bestrebung fitr dessen private Entwicklung, kurz, bringen Sie Fröbels Ideen in bezug auf Erziehungsvereine zur Geltung, so ist ein größerer

Schritt vorwätts getan. Unser Buch sollte, meine ich, die doppelte Tendenz haben, zu gei­

gen, welches die von Fröbel gewollte Erziehung ist, und daß die Gesellschäft in weit höherem Maße als bisher dem Staate die Erziehungs­ sorge abnehmen muß. Wie wir gestern schon besprochen: Dadurch löst

sich die sonst unlösbare Frage von der Stellung der Religion zu der Schule. Können wir in diesem Sinne wirken, so haben wir ein schönes Ziel,

für das wir freudig eintteten können, und das jedem von uns die Tätig­ keit zuzuweisen vermag, welche ihm zusagt. Und nicht am wenigsten wird

es uns selbst fördern dabei: daß wir bei diesem Werke Frauen und Män­ ner gleichberechtigt, der eine den andern ergänzend wirken können. Lesen Sie nur, was Mill darüber sagt; er spricht die Erfahrung, welche wir

beide miteinander gemacht haben und so manches, was Sie mir gesagt und geschrieben haben, klar aus. Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, gerade die Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Geistes er­

leichtert gegenseitiges Verständnis; man steht sich neidloser gegenüber und vermag den andern vollständig rein zu würdigen. Mein Brief ist lang geworden und ich schließe ihn mit der Bitte, nicht zu vergessen, daß ich spätestens Sonnabend wieder schreibe, in­ zwischen also auch eine Antwort haben sollte.

Leben Sie recht wohl und trinken Sie mit Resignation die scheuß­ lichen Tropfen meines Bruders. Montag erhalten Sie Bücher. Adieu und grüßen Sie die Ihrigen herzlich. Ihr

KS.

Kenriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 19. Juni 1870. Für Ihren lieben Brief vielen Dank. Ich freue mich immer so sehr, wenn Sie von sich selbst sprechen .... Gerade aus Ihrem Wesen tritt

mir Reinheit, Feinheit und Gleichmäßigkeit, die Sie an $3. B. rühmen, entgegen und berührt mich so wohltuend. Sie sind sehr verschieden von­ einander, und doch haben Sie manches Ähnliche; z.B. sindSie beide sehr

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 391 verschlossene Naturen, schwer zugänglich. Durch Ledwig habe ich S). B.

keanengelernt, und er wußte es;Marie und Ledwig waren meine Schwe­

stern in der tiefften Bedeutung desWortes; ach, warum mußten sie sterben? Ledwig war das Kind meiner Seele, es war ein wunderbar schönes

Verhältnis zwischen Ledwig und mir; ich weiß, daß das Vertrauen

eines Kindes zur Mutter das Wichtigste in der Erziehung ist, und ich hatte es ganz von Ledwig, ihr Lerz war wie ein Bergkristall, so rein;

wir waren eben natürlich. Nie habe ich mich auf ein Piedestal Ledwig gegenüber gestellt — ja in den letzten Monden ihres Erdenlebens, wo sie so viele Jahre im Geiste gereift war, wurde sie meine Freundin — doch

ich will schließen.

Ich frage mich oft selbst, wie eS nach all den Erfahrungen, die ich gemacht, möglich sei, daß ich noch einmal einem Manne vertraue, wie ich Ihnen vertraue — und doch ist es so — und daß es so ist, ist ein

großes Glück für mich. Sehen Sie, ich habe zuviel verloren, und die Schloßgeschichte ist mir fast wie der Verlust eines Menschen. Aber, wissen Sie, Sie sind der letzte Mensch, den ich je lieben kann außer

jungen Mädchen, die meiner Lilfe bedürfen. Zuweilen nehme ich mir vor, Ihnen nicht so viel zu schreiben, aber lassen Sie mich sein, wie ich

bin. Ich weiß, ich bin in vielen Dingen nicht wie andere, aber was kann ich dafür? And wenn man einen Menschen hat, bei dem man sein kann,

wie man ist, sei es so sonderbar, wie es wolle, so erträgt man das Fremd­

artige, was man der Welt gegenüber an sich selbst oder an ihr fühlt, leicht. And — so egoistisch dies klingen mag, und ich bin leider egoistisch — so

weiß ich aber auch, daß ich den Menschen, die ich liebe, sein kann, was ich von ihnen fordere.

Wollen Sie Donnerstag den Alten Weg gehen? Ich komme Ihnen dann entgegen, und wir sprechen noch über die Person Christi. Wenn

wir uns verständigt haben, geht die Verhandlung [im größeren Kreises um so schneller. Ich gehe um 4 Ahr fort, es führt ein Weg durch Mutters Garten hinten herum in den Alten Weg, den gehe ich so gerne.

Also aufDonnerstag, ich freue mich, Sie wiederzusehen. Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. 20. Juni 1870.

Als ich am Sonnabend wegging, gaben Sie mir nur eines der Blät­ ter, auf welchen Sie Ihre Ideen über Jesus geschrieben haben. Durch A.

392

Kapitel 18:

habe ich gestern das übrige erhalten und besitze nun das Ganze. Don­

nerstag bringe ich es wieder mit.

Von den zwei Büchern, welche Ihnen 91. gebracht hat, empfehle ich

Ihnen, das Leben Mathys zuerst zu lesen. Gestern nachmittag habe ich es durchblättert und ich glaube, Sie werden viel darin finden, was Ihnen gefällt. Mathy war ein tüchtiger Mann, das Kleinste wie das Größte

umfassend und beherrschend, und ein Charakter, welcher sich den schwer-

sten Proben gewachsen gezeigt hat. Mit Müh' und Sorgen hat er sein Leben gestaltet, und er hat es zu einem reichen gemacht ttotz aller Schwie­

rigkeiten, welche sich ihm entgegenstellten. Im gewöhnlichen Sinne deS

Wottes verstanden, war sein Leben kein glückliches, und doch wird Mathy selbst mit Befriedigung darauf zurückgeblickt haben, denn vielem Kum-

mer hat viele große Freude zur Seite gestanden, und nie ist er über-

wunden. Die Politik im Buche wird Ihnen seinen Genuß nicht »erleiden; Mathy hat eine Epoche durchlebt, deren größter Teil uns noch in der Erinnerung ist, in welcher wir die Wurzeln alles dessen finden müssen,

was wir erreicht haben und noch erstreben. Freilich leben wir so schnell, daß die nächste Vergangenheit uns schon ungemein fern erscheint. Unsere Besprechung vom Sonnabend ist mir noch viel im Kopf

herumgegangen Vermutlich kommt Frau von Marenholtz zu Ihnen mit weitergehenden Wünschen; vielleicht möchte sie Sie in ganz andere Verhält­ nisse ziehen .... Lassen Sie sich nur nicht von Frau von Marenholtz in eine ähnliche Stellung drängen wie die ihrige, oder auch nur in eine

Position drängen, in welcher Sie nicht allein bestimmen. Sie müssen

Ihre Bestimmung darin finden, FröbelS Ideen, wenn auch in kleinem Kreise, aber doch ganz und rein auf die weibliche Erziehung anzuwenden, und besser ist es, Sie bilden wenige, aber tüchtige 9lpostel seiner Lehre, al- viele Personen, welche fie nur verhunzen Ich habe bisher nicht zu einem bestimmten Plane für die Ausfüh­

rung Ihrer Ideen raten mögen, sondern ich habe geglaubt, warten zu müssen, bis ich einem von Ihnen ausgegangenen Plane freudig bei­

stimmen könnte. Und das meine ich, könnte ich zu Ihrem letzten Plane: Gründung einer zwar selbständig organisierten, aber doch in naher Derbindung mit dem Penfionat stehenden Anstalt für Ausbildung von Er­ zieherinnen. Das halte ich für durchaus vereinbar. Der jetzige Kinder­

gatten könnte vielleicht etwas vergrößert, nähere Beziehungen zu der neuern Anstalt haben, ja eS wäre vielleicht möglich, daß das Pensionat

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 393 allmählich eine Anzahl jüngerer Pensionärinnen erhielte, und daß es dann selbst wieder in einen nahen, organischen Zusammenhang zu der neuen Anstalt träte. Ihr Plan wäre dann in einer andern Weise, aber ebenso vollständig als im Schlosse verwirklicht; Sie hätten nur anstatt Elementar-Schülerinnen Elementar-Pensionärinnen. Schon diese Mög. lichkeit, welche gar nicht so fern liegt, weil doch eine verständigere Rich, tung in der Mädchenerziehung bald kommen muß, und weil es viele Fa­ milien gibt, die zur Erziehung ihrer Kinder in rechter Weise sich nicht befähigt fühlen, und viele Kinder, denen die Familie fehlt — möchte ich die nahe Verbindung zwischen Pensionat und Erzieherinnen-Anstalt erhalten wissen.

Aber bitte, überlegen Sie Ihren Plan noch genau, ehe Sie damit hervortreten; eS gibt so viele kleine Schwierigkeiten, die seine Ausfüh­ rung zwar nicht hindern, aber verdrießlich machen können, daß man sie vorher genau prüfen muß

Donnerstag sprechen wir vielleicht darüber, aber ob wir Muße dazu finden, hängt von Zufälligkeiten ab; darum schreibe ich meine Ansicht. Bis dahin mit herzlichem Gruß,

Ihr KS.

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Reu-Wahum. 21. Juni 1870.

. ... Sie haben recht; wie ich nun einmal bin, muß ich mich hüten vor Elementen, welche mich hindern, die Idee so zu vertreten, wie ich sie einmal für richtig halte, und nur wenige ganz gewonnen, ist besser als viele halb. Also ich arbeite jetzt daraufhin, mir Kräfte zu erziehen, die mich frei und freier von der Pension machen; denn wenn ich nur Zeit zum Studieren und Schreiben habe, so tue ich was für Fröbel, und ich habe schon einige Schülerinnen. So glaube ich, daß ich für den Augenblick das Rechte getroffen habe. Goethe sagt, wer nicht imstande ist, einen Freund mit all seinen Fehlern zu lieben, ist gar nicht wert, einen Freund zu haben. Wenn Sie diese-Wott für wahr halten, so beweisen Sie eS an mir. Ich bin meinen Jahren nach innerlich viel zu jung, d. h. eS ist noch so viel Werdendes in mir; e- sollte viel mehr Gewordenes sein. Aber Sie haben Verttauen zu der Reinheit meines SttebenS, wie meins un«rschütterlich ist zu der Ihrigen. Sehen Sie, wo noch Werdendes ist, da

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Kapitel 18:

gibt es Schlacken unter dem reinen Metall; aber ich bin nun einmal so, wenn ich jemanden lieb habe wie Sie, da gebe ich so das Ganze hin, wie es ist, da müssen Sie dasWerdende mit in den Kauf nehmen, und da dürfen Sie nicht irre an mir werden. And wenn Sie einmal eine andere Frau lieber haben als mich, da unterdrücken Sie das nicht, und verheim. lichen Sie mir das nicht — ja, ich bin egoistisch- aber ich bin nicht klein­ lich, und Sie glücklich, Sie wahrhaft natürlich glücklich zu wissen im Le­ ben, das wird doch den Sieg davontragen, selbst wenn es durch Schmerzen ginge. Ach, man muß sich einander etwas zutrauen; es gibt gewisse Dinge, die man nie opfern soll, nie opfern darf, ohne das Leben so oder so zu knicken, und ich habe oft Angst, Sie könnten mir einmal etwas opfern. Sie haben ja gar keine für sich fordernde Natur; es ist, als ob ich Sie sagen hörte in bezug auf Sie selbst: „Ach, was kommt darauf an." Sie sind so viel reifer im Charakter als ich und darum können Sie Menschen besser behandeln als ich — ich wirke selten durch Behandlung Gleichstehender. Was Sie von sich sagen, daß Sie zuviel dulden im Ver­ kehr, finde ich auch, aber sehen Sie, das kommt von großer Anpersönlich­ keit, doch ist eine gewisse Passivität Ihres Charakters ganz angemessen und hilft Ihnen gerade wieder am rechten Orte, desto wirksamer ein­ zugreifen. Nur dürfen Eie nicht zu weit darin gehen, wie ich auf der andern Seite mein bestimmendes Eingreifen in anderer Wesen mehr zu beschränken habe. Bleiben wir nur unserer Natur getreu, aber stellen wir sie in den Dienst der Idee, die wir realisieren wollen; dann wird sie sich schon richtig entwickeln. Es gibt zweierlei: Der Idee treu bleiben; dann die Person in den Dienst der Idee stellen. Ersteres kommt häufiger vor als letzteres; ich habe ersteres getan, aber am letzteren muß ich noch viel lernen. Ich bin nun so froh, daß ich vorerst weiß, was ich will. Nichts gerade Neues für Neu-Watzum, ich fühle mich sgesundheitlich) nicht im­ stande, jetzt neue Einrichtungen zu machen, aber ich kann arbeiten, daß ich freier werde .... Ich meine nur, daß ich in einem Lebensalter stehe, wo man sowenig wie möglich umhertappt und unnütz verbrauchen darf .... Ich weiß, daß es für die Reinhaltung und Vertretung der Fröbelschen Idee notwendig ist, daß ich meine Kräfte konzentriere und besonders Geschichte und Naturgeschichte studiere .... Sie müssen mir helfen zu bedenken, wie man die zu Gebote stehenden Mittel möglichst richtig anwendet. Nur fühle ich nach mehreren Stunden hinter-

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 395 einander, die ich mit wirklicher Arbeit ausfülle, eine Ermüdung, die krankhaft ist, so daß ich vor Ermüdung nicht schlafen kann; sonst bin ich gesund, und ich muß angestrengt arbeiten, wenn ich bis ins Kleinste, wie ich möchte, für die Pension sorgen, und daneben den Kindergarten fithren und für mich arbeiten will; die einzige Erholung, welche ich habe, ist Ihnen zu schreiben — und ich schreibe sehr schnell — und einmal ei» halbes Stündchen bei der Mutter zu sein.

Ich habe einen Brief von Frau von Marenholtz; sie schreibt sehr freundlich, daß sie den 15. Juli kommen will, und erwähnt kein Wort von Italien .... Von Genf habe ich auch interessante Nachrichten, und man fragt und fragt, wann ich komme auf meiner Reise nach Italien. Die Reise würde sehr viel Geld kosten, und ich weiß nicht, ob es das Rechte ist, jetzt das Geld, die Zeit und Kraft aufzuwenden. Daß ich höchst ungern allein reise, kommt nicht in Betracht, wenn ich wirklich der Idee viel nützen kann, aber für mich werde ich nie allein reisen. Ich habe viel gelernt durch Stuart Mill, und doch ist im Grunde eigentlich, was er sagt, die Atmosphäre, in der ich allein für mich geatmet und gelebt. Ich habe das Buch sÄörigkeit der Fraus bald zu Ende; ich möchte dem Manne die Land küssen, daß er es schrieb, aber er wird sicher von wenigen verstanden, und ich glaube, eins hat er vergessen, doch sagt er es vielleicht noch. Der Mann denkt einmal keusch und sittlich über die Frauen, in einer solchen Atmosphäre würden Frauen sich wunderbar entfalten; wir leben in der Gesellschaft in einer verpesteten Luft, mich wundert, daß ich nicht erstickt bin. Adieu, Adieu.

.Henriette Breymann an

Karl Schrader.

21. Juni 1870. Heute sind Marchese Guerrieri und seine Frau geb. Emma Hohenemser gekommen; wir fahren von hier nach Braunschweig nach Schra­ ders Hotel, und ich möchte Sie gerne miteinander bekannt machen, ich glaube, es wird Ihnen Vergnügen bereiten, die Leute zu sehen. Wollen Sie mir ein Wort nach Schraders Hotel schicken, ob Sie nachmittags Zeit haben, und wo wir Sie treffen ? Wir werden erst zu Mittag essen und dann in Braunschweig ausgehen. Herzlichen Dank für Ihren Brief, wir haben merkwürdigerweise zu gleicher Zeit dasselbe oder doch sehr Ähnliches gedacht. Später mehr

davon. Dienstag abend.

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Kapitel 18: Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 24. Juni 1870. 5 Ahr morgens.

Leute bin ich um 4 Ahr aufgewacht, hoffentlich geht die Schlaf, losigkeit nicht wieder an. Es war vrel Anruhe diese Tage und sMittwoch ?] war es keine Kleinigkeit, alle Interessen zu vereinigen, und alle Schwierigkeiten zu überwinden, die bis in die kleinsten häuslichen Einzelheiten gehen. Gestern kam wieder eine Menge Besuch, und ich habe LermannB. nicht soviel gesehen und gesprochen, wie ich hoffte. Aber morgens hatten wir einige schöne Stunden. Ich fange wieder an zu leben; jahrelang babe ich existiert, gekämpft, gedacht, versucht, Schmerz zu überwinden und Frieden zu finden, aber ich habe nicht gelebt. Ich suhlte mich in letzter Zeit so dumm, so leer; wenn mir einmal etwas in die Lände fiel, was ich ftüher geschrieben, so wunderte ich mich darüber; ich meint«, ich wäre es nicht mehr imstande. Jetzt weiß ich, daß es alles eine Übergangs. Periode war; meine ganze Natur will jetzt daS Positive, ich mag keine „Ideen" als solche mehr lesen in bezug auf religiöse Fragen, die subjektiven Ansichten, das Philosophieren darüber fängt an mich zu lang­ weilen, und ich habe Lermann gebeten, mir nach dieser Richtung hin etwas zu empfehlen .... Wenn ich nur meine sübergroßej geistige Erregbarkeit loswerden könnte, oft beneide ich Sie ganz schrecklich, aber Sie dürfen wirklich nicht weitergehen in der Richtung Ihres Wesens . . Sie bedürfen der Kunst, nicht um Ihren kritischen Verstand daran zu üben, nein, um sie zu genießen. Ihr Bruder sagte mir immer von Ihnen, Sie seien ganz unfähig, irgend etwas zu genießen, und Gott sei Dank, daß Sie ihre Existenz nicht auf Genuß bauen, aber etwas Wahres ist daran. Je reicher, je genußfähiger unsere Natur ist, wenn sie von dem „höheren Dritten", wie eS Fröbel nennt, beherrscht wird, desto gesunder und wirklicher werden wir auf andere wirken. Man braucht einerseits einen gewissen Egoismus der eigenen Natur, um wieder recht hingebend warm und lebensvoll für andere zu arbeiten. Ich muß und will immer etwas persönlich zu lieben haben, wär« es am Ende nur ein verlassenes Kind, dem ich dann sein Liebstes würde. Sehen Sie, wo selbständige, männliche Naturen wie Sie und Lermann Becker mit mir arbeiten, wo Sie mir ein Freund geworden in der schönsten Bedeutung deS Wortes, da fühle ich, daß, wenn ich gesund bleibe, ich noch so viel mehr vollbringen werd« als ftüher; als wüchse ich kräftig auf einem neuen Boden auf. Wie steht es mit Ihren Angelegenheiten? Wann werden Sie mehr

Korrespondenz zwischen $>. Dreymann und K. Schrader bis 1872. 397 Zeit haben? Sie brauchen auch, wie Sie selbst sagen, eine Zeit der Zurückziehung von dieser äußeren Welt; aber Sie müssen sich den Weg

offen halten, in sie zurückzukehren, wer sie so richtig zu nehmen, zu be­ herrschen weiß wie Sie, der findet seinen richtigen Platz in ihr. Der Mensch ist sich selbst und der Entfaltung seiner Natur etwas schuldig.

Freuen Sie sich wie ich, wenn Sie einen Brief von mir bekommen? Nein, denn Sie sind nicht so genußfähig wie ich-; aber Sie freuen sich

doch; wenn ich es nicht wüßte, würde ich Ihnen nie schreiben. Ich

möchte all die reine, schöne Lebenskraft ausziehen, die unser« Freund­ schaft mir gibt und geben kann; und wenn in der Entwicklung unseres Verhältnisses vielleicht Schmerz kommt — wer weiß das — so wird er

ein reiner, auch in sich gesunder sein, der nur zu einer höheren Stufe der Verklärung führt. Aber jede Stufe wollen wir rein und wahr nehmen,

für das, was sie ist, die Wahrheit und Schönheit derselben auf uns wir­ ken lassen; dann haben wir nichts zu fürchten.

Leben Sie recht, recht wohl. Karl Schrader an Äenriette Breymann.

Braunschweig. 25. Juni 1870. Gestern morgen habe ich von Guerrieris auf dem Bahnhöfe Ab­

schied genommen .... bei der Abreise nach Lamburg ging eS ihnen

gut .... Auch Äermann Becker sitzt wieder an seinem Berufe, und wir alle wandeln in dem alten, tief ausgetretenen Gleise wieder müh­

selig dahin, nur in der Erinnerung noch die kurz vergangenen Tage

genießend. Guerrieri ist ein Mann von so großen Eigenschaften, solchem Adel der Gesinnung und des Geschmacks, solcher Feinheit, Tiefe und Schnel­

ligkeit des Verständnisses in Wissenschaft und menschlichen Verhält­ nissen und von solcher Bildung, und da man diese Köhe der Bildung

bei den oberen Schichten in Italien vielfach beobachten kann, so braucht

man sich nicht zu wundern, daß der italienische Adel an der Spitze seiner Nation steht. Frau Marchesa hat mir auch ausnehmend gefallen, sie ist vielleicht

weniger intellektuell begabt als ihr Mann, aber sie hat ein großes Ge­ fühl ihrer Pflicht, und Neigung sie zu erfüllen; ich kann mir lebhaft vor­ stellen, wie sie, von dem gewöhnlichen Leben der jungen Mädchen an­ geekelt, sich zu Ihnen flüchtete, um ernste Lebensziele kennenzulernen.

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Kapitel 18:

Sie ist gewiß fähig, nicht nur ihrer häuslichen Ausgabe zu genügen, sondern auch großen Ideen zu dienen. Die nächste Aufgabe aller der Leute, welche durch eine höhere Lebensauffassung sich einander verbunden fühlen, sollte sein, ihre Be­ ziehungen zueinander zu pflegen, und das sollten sie um so mehr tun, wenn sie selbst über die nächsten Aufgaben ihrer Zeit und über die Mit­ tel, sie zu erfüllen, einig sind. So müßten namentlich die wahren Fröbelfreunde eine Gemeinde bilden, welche in sich die reine Auffassung von Fröbels Ideen wahrt und vervollkommt, und den untergeordneten Geistern, welche für sie arbeiten, den geistigen Inhalt gibt. Außer Ihnen kenne ich nur noch drei Personen, welche dieser Gemeinde angehören: Frau von Marenholtz und Professor von Fichte; andere werden Sie noch kennen, groß wird ihre Zahl aber schwerlich sein, und darum möchte ich, daß möglichst jedes Mißverständnis zwischen diesen wenigen vermieden werde. Wie Ihnen Ihr Bruder Karl gesagt haben wird, gehe ich nicht nach Berlin, kann also auch nicht mit Frau v. M. sprechen und von ihr erfahren, ob sie sich durch die ihr von Florenz zugegangenen Nachrichten über Ihre Reise nach Italien gekränkt fühlt. Könnten Sie ihr nicht, ganz ohne sich auf diese Nachrichten zu beziehen, über Ihre Reisepläne schreiben, und sie dadurch von der Sorge befreien, daß Sie in ihre Kreise störend eingreifen möchten? Die engere Schließung der Beziehungen zu Frau v. M. kann für alle Ihre zukünftigen Bestre­ bungen so wichtig sein, daß Sie eine solche, wenn auch vielleicht unnötige Mühe rechtfertigt. Wie wenig Verständnis selbst Gebildete heute höheren Ideen ent­ gegenbringen, habe ich eben an einem Artikel der „Grenzboten" über das Buch „The Subjection of Women", von Stuart Mill gesehen. Die „Grenzboten" werden von Gustav Freytag redigiert und machen den Anspruch, eine auf der Äöhe der Zeit stehende Wochenschrift zu sein. Sie haben sich in vielen Artikeln warm der Bestrebungen für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Frauen angenommen, und jetzt bringen sie über Mills Buch einen völlig verurteilenden Artikel, welcher zeigt, wie rein äußerlich sie die Frauenfrage auffassen. Wie soll man da von dem großen Laufen Verständnis erwarten 1 Der Aufsatz ist nicht wert, daß Sie ihn lesen, damit Sie aber sehen, wie er seine Ver­ urteilung begründet, schreibe ich Ihnen seine hauptsächlichsten Argumente.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 399

3m Eingänge wird der praktischen, politischen Tätigkeit von Mill

gedacht und gezeigt, daß diese wenig fruchtbar gewesen ist; darauf wird

gleich der Schluß gegründet, daß seine staatsmännische Begabung doch zweifelhaft sei, und so der Glanz, welchen sein Ruf auf das Buch werfen

könnte, verdunkelt. Der edele Kritiker vergißt dabei nur, daß es zwei ganz verschiedene Dinge sind, philosophische Betrachtungen anzustellen

darüber, wie gewisse Zustände in der Welt beschaffen und entstanden sind, und wie sie vom idealen Standpunkt auch sein müßten und — die praktischen Wege zu zeigen, auf welchen die Entwicklung dieser Zustände zu erstreben ist. Ganz verschiedene Fähigkeiten, welche nur selten »er-

bunden sind, gehören für das Eine und für das Andere, und es ist fast sicher, daß auf je weitere Ferne jemand das Ziel der Entwicklung zu er­ nennen vermag, desto leichter er in Gefahr gerät, die zwischenliegenden

Schwierigkeiten übersehend, einen zwar direkten, aber unpassierbaren

Weg zum Ziele einzuschlagen. Dazu kommt denn noch, daß bei vorwiegender Ausbildung des Spekulationsvermögens der praktische Blick für die näheren, äußeren Dinge leicht verloren geht. Der Wichtigkeit der gefundenen Idee tut aber dieser Mangel keinen Eintrag. Gewiß ist es ein Fehler von Mill, daß er seine praktische

Tätigkeit hauptsächlich auf den Erwerb politischer Rechte für die Frauen

gerichtet hat, weil dies erst eine Konsequenz anderer, zunächst durch­ zumachender Entwicklungsphasen sein kann, aber es ist ein noch weit größerer Fehler, zu schließen, daß, weil heute etwas noch nicht erreichbar,

es überhaupt nicht das richtige Ziel ist. Gegen das erste Kapitel des Buches weiß der Kritiker nichts zu sagen, als daß er seine Verwunderung darüber ausdrückt, daß in unserer heutigen unzweifelhaft fast vollkommenen Welt, solche Zustände exi-

stieren sollten, wie Mill sie schildert. Das ist natürlich kein Gegenargument und zeigt nur, wie äußerlich der Kritiker moralische Zustände auf­ faßt. Wenn man nicht täglich Frauen prügeln und mit Füßen treten

sieht, wenn vielmehr dem Anscheine nach in den meisten Ehen Frieden herrscht; wenn die Unverheirateten nicht lebhaftes Mißvergnügen mit

ihrem Schicksale ausdrücken, so ist nach der Meinung solcher Leute allegut. Tont va pour le mieux dans le meilleur des mondes wie Pan­ glosse im Candide von Voltaire predigt. Es wird ganz übersehen, daß

die schlimmsten Zustände die sind, welche mit zwingender Gewalt bie

Menschen nach sich so geformt haben, daß sie ihrer Mehrzahl nach, kaum andere Zustände wünschen und verdienen.

400

Kapitel 18: Gegen das zweite Kapitel war der Angriff leicht. Mill spricht in

ihm nur von englischen Verhältnissen und diese sind schlechter in bezug

auf die Gesetzgebung als die deutschen; aber der Kritiker findet in der

Tatsache, daß Mill gar keine Rücksicht auf deutsche Zustände nimmt,

einen Beweis für den Wert des übrigen Teiles desBuches; diese Schluß­

folgerung ist aber falsch. Den Gipfel setzt aber der Kritiker seinem £lnverstände, ich möchte fast sagen seiner Unredlichkeit auf, wenn er sagt:

„Der ganzen Auffassung liegt ein prinzipieller Irrtum über die Aufgabe deS Weibes und über das Verhältnis der Geschlechter zugrunde. Mill

fordert Gleichheit für Mann und Frau, deshalb sollen alle Gesetze ab-

geschafft werden, welche die Frauen der Autorität der Männer unter­ werfen." Mill behauptet nicht Gleich heil, sondern Gleich berechtigung vor dem Gesetze und in bezug auf die Ausbildung ihrer Kräfte. Darum ist es ein kaum begreiflicher Ansinn des Rezensenten, wenn er auseinanderseht, daß Mann und Frau nicht gleich seien, daß

er zugibt, die Frau sei dem Manne ebenbürtig im Geiste und doch ihre

Gleichberechtigung bestreitet, weil der Mann körperlich stärker ist. Wenn die Phrasen überhaupt etwas beweisen, so beweisen sie die

Gleichberechtigung. And gegen diesen, ihn selbst schlagenden Beweis

führt der Rezensent nichts an, als daß „Zeiten kommen, wo die Frau höhere Pflichten, die ihr der Schöpfer befohlen, in geheiligter Schwach­

heit an das Laus, oder die Kütte fesseln", wo sie also nichts verdienen,

und wo auch die emanzipierteste Frau, wenn sie den geliebten Mann finde, zuzeiten sich von ihm abhängig fühle.

In dieser Art argumentiert der Lerr weiter und kommt zu dem Schlüsse, daß es nur darauf ankomme. Anverheirateten Erwerbsmöglichkeit zu geben, und diesen, meint er, könnte man sogar politische Rechte

geben. Das Wichtigste, nämlich daß die gegenwärtigen Verhältnisse zu

einer falschen Erziehung der Frau, zu einer Verkrüppelung ihrer In­ dividualität und deshalb zu höchst unvollkommenen ehelichen Verhält­

nissen führen, wird ganz übersehen.

Aber in der Tat, der Mann ist garnicht wert, daß ich zwei Seiten an ihn gewendet habe, und daß Sie sie lesen; entschuldigen Sie es mit dem Ärger, den ich über den Aufsatz hatte. Anser Eisenbahnverkauf scheint nun endlich zu Ende zu kommen;

Preußen hat seine Bedingungen gestellt, die zum Teil sehr unangenehm

berühren, die man aber doch hier nicht ablehnen kann. So weiß ich in

Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 401 einigen Monaten, woran ich bin, und ich kann Ihnen garnicht sagen, wie ich danach verlange. ES ist nichts schlimmer, als wenn einem daS bis­ herige Ziel verschwindet, und man noch garnicht weiß, wie man es sich wieder sehen soll. Mir ist hierdurch alle wahre Lust an der Arbeit ver­ lorengegangen.

An das Studium des Protestantenvereins mache ich mich allernächstens, damit ich für unsere nächste Zusammenkunft auch etwas leisten

kann.

Morgen nachmittag werden Sie wohl nicht im Lolze spazieren gehen können und der Besuch, der Sie wohl immer Heimsucht, in der Stube abhalten müssen. Vorgestern haben wir uns kaum gesprochen, da Sie mit Guerrieris und ich mit S5. Bothmann wandern mußte. Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 26. Juni 1870.

„Geheiligte Schwachheit" —. Was ist das für eine unsinnigePhrase und doch, wie wird gerade diese Phrase verständnisinnig, wie man glaubt, von hundert albernen Weibern nachgewinselt werden. Was Schwachheit ist, ist keine Heiligkeit, und wo Heiligkeit ist, ist keine Schwachheit. Wenn eine Mutter einem Wesen unter Entsagung, Er­ tragung und Schmerzen das Leben gibt, einem Wesen, welches beiden gehört und in dieser Zeit nichts erwerben kann, so soll sie sich vom Manne „abhängig" [t>. h. ohne Gegenleistung^ fühlen? Ein Weib, dem nur ein leiser Anflug solchen Gefühls kommt, ist gar nicht imstande, die Mutterwürde zu fassen und zu tragen; oder sie muß an einen Mann gekettet sein, der, wie liebevoll er scheinen mag, die Brutalität in der Gesinnung trägt. Ja, ich schrieb Ihnen schon, Mill wird wenig ver­ standen, selbst von denen nicht, die für ihn stimmen. Ach, es ist so viel Rohheit auf der einen wie auf der andern Seite, und Sie werden immer mehr begreifen, daß ich so isoliert wurde. Wie oft habe ich geglaubt, ich sei doch verrückt, weil so anerkannt tüchtige Männer, die, wie Freytag und Sybel, auf der Löhe der Zeit stehen sollten, doch für mich das Rechte nicht trafen. Ich lese jetzt Mill mit den jüngeren Lehrerinnen. .... Wenn wir das Buch durchgenommen haben, dann möchte ich mit Ihnen zusammen ein« Kritik des Buches schreiben, vorerst nur für uns selbst, vielleicht kann sie auch später weiteren Kreisen etwas nützen. L y s ch i n S k a, Henriette Schrader I.

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Kapitel 18:

Was Mill in bezug auf politische Rechte der Frauen sagt usw. ist für mich von ganz untergeordnetem Werte in dem Buche; dieÄauptfache ist mir, daß er mit unerbittlicher Wahrheitsliebe die Kleinlichkeit, Verkrüppelung und Schwächlichkeit der jetzigen Frauenwelt und den eingefleischten Egoismus und die Rohheit der Männerwelt aufdeckt und nachweist, worin das seinen Grund hat; das ist meiner Meinung der Kernpunkt des Buches. Nur ein Mann konnte und durfte das sagen. Gebt also die Frau frei, durchaus frei; laßt sie alle Ämter bekleiden,

und laßt sie wählen; Mill sagt ja, nur die Erfahrung muß man sprechen lassen. Ich finde, eins betont Mill nicht genug, betonen überhaupt Listoriker nicht genug: Er behauptet, die Frau ist durch ihre Abhängig­ keit vom Manne in ihre jetzige Lage geraten; andere Schriftsteller sagen, wir sollen uns und andere von der Herrschaft der Kirche befreien; es wird überhaupt ein Übel in der Gesellschaft als solches angegriffen, als wenn es von vornherein als Übel in die Welt gesetzt wäre und viel

Anheil angerichtet habe, aber man untersucht nicht genug, woher das Übel kommt. Wenn überhaupt die Frau in Abhängigkeit geraten konnte, so müssen doch gewisse natürliche Bedingungen dazu vorhan­ den sein, und wenn diese Abhängigkeit Anglück hervorrief, so müssen natürlich gegebene Tatsachen falsch benutzt sein, und ich glaube, daß dies nicht klar genug beleuchtet wird Wir können darüber nicht hinaus, daß die Frau durch ihre ganze Organisation mit der Natur mehr verwachsen ist als der Mann, und somit seiner Stütze und seines Schuhes nach einer Seite hin bedarf; aber gerade so bedarf der Mann nach anderer Seite der Pflege der Frau Alle Entwicklung in der Geschichte geht immer von außen nach innen; des WeibeS Kraft ist so viel mehr innerlich, und so konnte fie nicht eher zur Geltung kom­ men, als bis der äußere, gröbste Stoff verarbeitet war; jetzt müssen Männer und Frauen sich weit mehr eins fühlen, nicht nur im einzelnen Verhältnisse, sondern und vor allem im großen Ganzen; die Ge­ schlechter sollen größere Zwecke zusammen erfassen, das Persönliche sollte nicht mehr das einzige sein, was sie zusammenführt, und dann würde das Persönliche reiner, dauernder, edler werden Ich habe es längst gefühlt, daß der Kernpunkt der ganzen Erziehung schließlich auf daS rechte Verhältnis der Geschlechter zueinander hinauSkommt, und um dies nach und nach anzubahnen, müssen sich so­ wohl die staatlichen Institutionen umgestalten, als wie die Erziehung vom innigsten Familienleben aus eine andere, natürlichere werde. Ja,

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 403 der Frau muß frei, vollkommen frei gegeben werden, und es ist noch sehr die Frage, ob die Überschreitungen ihrer Grenzen der Weiblichkeit, die aber innerhalb tüchtiger Menschlichkeit bleiben, so schlimm sind wie die Lüge und Schwächlichkeit der Frauennatur, wie sie jetzt ist. Was die Frau dann werden kann, wissen wir noch nicht; aber eins wissen wir, daß sie zur Erzieherin im weiteren Sinne bestimmt ist, und wir, die wir über die Übergangsperiode mit ihren Einseitigkeiten und wun­

derlichen Formationen hinauSblicken — wir müssen festhalten, den Grund zu legen, der das wahre Weib tragen wird; daß sie tüchtig wird in positivem Wissen, in der praktischen Arbeit, nicht um dem Staat als solchen zu dienen, sondern in Rückblick auf die Person, auf ihr Kind oder auf daS Kind, dessen Mutter sie vertreten soll. Da es immer Waisen geben wird, so wird es immer ünverheiratete geben, und diese sollten, wenn sie ihre Pflicht in der menschlichen Gesellschaft treu aus­ füllen, mit ganz besonderer Achtung von Männern und Frauen be­ gegnet werden — denn die geliebte Gattin und Mutter, hat sie nicht von all ihrem Tun die süßeste Rückwirkung? Wir müssen streben, die innere Gerechtigkeit herzustellen, dann werden wir nicht mehr bitter über äußeres Schicksal klagen. Wie schwer wird es den Unverheirateten gemacht, Verkehr mit Männern zu ge­ nießen, dessen sie doch zur Entwicklung ihres Geistes weit mehr bedarf als die Verheiratete. Lier müssen ordentliche Männer eintreten; was sonst nur Vorrecht der verheirateten Frau ist, teilzunehmen, wenn sie kann und will, an den Bestrebungen ihres Mannes, das sollte der Unverheirateten werden, teilzunehmen an den Interessen der Männer und, wie gesagt, es muß von ordentlichen Männern auSgehen, sie heran­ zuziehen. Versuchen Sie es nur einmal, ernste Gespräche mit Frauen zu führen, Sie werden doch unter dem Laufen immer einigen begegnen, die sich wohltuend davon berührt fühlen; ich weiß, wie scheu manche edle Frauennatur ist; ich weiß auch, wie tief verletzend eS ist, mißver­ standen zu werden. Eine ordentliche Frau unter dem Laufen kann nur tief in ihr Innerstes sich zurückziehen, denn die Wahrheit mitten unter Verstellung und Lüge nimmt sich gar wunderlich auS. Diese Leipziger Frauen sind doch braver, als ich dachte, sie nehmen das LoS der Über»

gangSepoche auf sich; sie verleugnen eine gewisse Zartheit und Weib­ lichkeit, die später erst kommen wird und mit der schönsten, sittlichen Kraft vereinbar ist. Durch Mill habe ich so vieles, mich selbst besser ver­ stehen lernen. In mir hielt ich fest an der Weiblichkeit der Zukunft, 26*

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Kapitel 18:

fühlte mich abgestoßen von einer Auguste Schmidt usw., aber ich stelle sie jetzt viel höher, weil ich sie historisch erfasse. Sehen Sie, ordentliche

Männer wie Sie — und Sie sagen, es gäbe noch mehrere — ich kenne keine außer Hermann und meine Brüder und Sie; also ordentliche Männer wie Sie sollten sich nicht so zurückziehen, Sie sollten es sich

zur Aufgabe machen, mit ordentlichen Frauen zu verkehren. Sie sind so schwer zugänglich, Hermann auch, Adolf auch, wenn auch der brauch­

barste, aber er ist so weit fort. Es kann ja sein, daß durch einen freieren, geistigen Verkehr zwischen Männern und Frauen erst noch eine Menge

unglückliche Lieben kommen; aber das schadet nicht soviel; ein reines

Gefühl,richtig behandelt, reift und entwickelt sich schließlich, und nach einer solchen Durchgangsepoche werden sich eng persönliche Verhältnisse nur

da knüpfen, werden Ehen nur da geschlossen werden, wo nicht nur einerseits Achtung, anderseits Wohlwollen, sondern vielleicht wo wirklich die

Sermon« der Seelen stattfindet. Es kann Fälle geben, wo man dies

im ersten Augenblicke des Sehens weiß, aber viel öfter und viel sicherer wird es sich herausstellen nach langem, freiem Verkehr; denn eine

wahre Ehe ist nach meiner Meinung was Großes, etwas, das auch

wird und daS man nicht machen kann. Die gegenseitige Neigung hat so viele Grade, und ich habe nie begriffen, wie man auf einmal jemandem

alles sein kann

Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 27. Juni 1870. Morgen kann ich nicht in den Erziehungsverein kommen, weil ich

hier zu derselben Zeit eine gerade auf meine Veranlassung angesehte Sitzung nicht versäumen kann. So leid es mir tut, im Erziehungsverein zu fehlen, so kann ich es doch nicht ändern. Wir würden uns kaum ge-

sprochen haben, da die Sitzung ziemlich bis zur Abfahrt des Zuges dauern wird, und auf eine ungehinderte Unterhaltung nicht zu rechnen

wäre

Wie die Welt doch alles stört, weil sie alles mißversteht!

And doch, mag man sie innerlich verachten, kann man sie nicht beiseite setzen, denn man muß in ihr leben und wirken; nur geistig frei soll man

sich von ihr machen, dann kann man auch mit ihr fertig werden. Wunderbar ist es, wie verschieden wir beide angelegt und entwickelt sind, und daß gerade in dem Momente unseres Lebens unsere Geister aufeinandertreffen mußten, wo sie fühlten, daß sie Gefahr liefen, das

Korrespondenz zwischen $5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 405 Ziel zu verfehlen, weil sie die anfangs eingeschlagene Richtung zu kon­

sequent verfolgten. Sie sind durchaus individuell angelegt und durch Ihre Natur und

die frühe Kenntnis der Fröbelschen Idee stark in dieser Richtung entwickelt. Für Sie wird jede Idee, welche Sie aufnehmen, jede Bestrebung,

welche Sie verfolgen, Teil Ihres Wesens, und deshalb können Sie sich

so für Ihre Sache begeistern, aber es wird Ihnen vielleicht schwerer, sich objektiv derselben gegenüberzustellen, und ablehnendesVerhalten ande­

rer gegen dieselbe zu begreifen und nicht tief persönlich zu empfinden. Darum wird Ihnen wohl weniger leicht als andern, etwas zu erreichen, aber Sie vermögen weit mehr zu erreichen als andere, weil Sie Ihre ganze Persönlichkeit begeistert für Ihre Sache einsehen.

So haben Sie in Ihrem Leben mehr Freude und mehr Schmerz enipfunden und werden es auch zukünftig als bei anderer Begabung

und Entwicklung, und doch bleiben Sie fnscher durch die stete, wechselnde Anregung, durch das fortwährende neue Werden. Darum können Sie

andern Menschen so viel sein, mehr als andere Ihnen. And Sie haben den klaren Weg der schließlichen Entwicklung sich selbst schon vorgezeichnet, er ist die volle Bewahrung Ihrer Individualität, nur verbunden mit einer vollen Anterordnung derselben unter die groß« Idee, welche

Sie verfolgen. Das wird Ihnen immer Ruhe und Ausdauer in jedem

noch bevorstehenden Kampfe geben.

Anders steht es mit mir. Freilich bin ich sehr viel individueller angelegt, als ich geworden bin, aber seit ich selbständig zu denken an­

sing, habe ich mich so sehr daran gewöhnen müssen, zu entsagen, daß

ich nun fast mir selbst entsagt habe und mir oft vorkomme wie eine ganz nützliche Maschine, die sich freilich durch eigenen Antrieb bewegt, aber

nie sich selbst, sondern nur andern dient, und was sie auch schaffen mag, für sich nichts schafft. And von dem ewigen Klappern des Räderwerkes werde ich selbst immer dummer und ich fithle, wie sich allmählich der Mechanismus abnuht und sehe voraus, daß er bald nichts mehr taugen

und dann in einen Winkel geworfen wird. Mein Bruder hat nicht so unrecht, wenn er sagt, ich könne nichts

mehr wahrhaft genießen; das Gefühl der freudigen Aufregung ist mir fast fremd geworden, und nur selten vermag ich ein persönliches Ver-

hältnis zu den Ereignissen zu finden. Deshalb kann ich jur andere ein ruhiges, ganz unbefangenes Arteil haben, ich kann mich leicht persönlich aufopfern, weil ich mir selbst fast gleichgültig bin. Wie ich so ge-

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Kapitel 18:

worden bin, verstehe ich jetzt recht gut.... . Sie sind der einzige Mensch, mit welchem ich über mich selbst offen gesprochen habe, weil ich weiß, daß Sie mich nicht mißkennen

Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 2.Juli 1870.

Die Nachricht, welche Sie mir von Ihrem Befinden gegeben haben, hat mich sehr betrübt; ich hatte gehofft, daß, nun Sie frischen Mut zum Leben und Wirken gefunden hatten, auch Ihre Gesundheit wieder die

alte Festigkeit erlangt hätte, aber es scheint doch, als ob die Ereignisse der letzten Zeit Sie auch körperlich mehr angegriffen haben, als Sie selbst vielleicht glaubten. Ihnen tut durchaus eine wenn auch nur kurze Zeit

völliger Freiheit von aller Berufsarbeit not, und ich möchte Sie drin­

gend bitten. Sich nicht lange- mehr zu besinnen, sondern sobald dies traurige Wetter vorüber ist. Sich kurz zu entschließen herauSzugehen aus Neu-Watzum. Freilich müssen Sie wohl am 15. d. M. zurück sein,

um Frau von Marenholtz zu empfangen, aber selbst «ine achttägige

Freiheit von Arbeit kann Ihnen schon die besten Dienste tun und wird Ihnen nötig sein, wenn Sie die Arbeit, welche Frau v. M. verur-

fachen wird, »ertragen können. Darum „verjökeln" Sie (Sie nehmen

den Ausdruck nicht Übel?) keine Zeit mehr, und reisen Sie zu Erich und nachher können Sie ja immer in den harz oder in Ihr liebes Thüringen

gehen. Nicht wahr. Sie sorgen jetzt zuerst für sich und Ihre Gesundheit, erst nachher kommt wieder die Arbeit für unsere Ideen. Täten Sie nicht gut, jetzt Bücher wie Mill beiseite zu legen? Lesen Sie lieber andere,

mehr unterhaltende und weniger anstrengende Sachen! Eben bringt mir die Botenfrau einen Brief meiner Schwägerin,

aus welcher ich sehe, daß Sie nach meinem Bruder geschickt haben. Nehmen Sie nur die scheußlichen Pillen, die er Ihnen verschreibt- mit Geduld ein, und lassen Sie sich von ihm ernstlich raten, sich Ruhe zu gönnen Unter diesen Umständen sehe ich Sie vor meiner Ab­

reise nach Coblenz wahrscheinlich nicht mehr, und da ich nicht vor dem 12. d. M. zurück sein werde, vielleicht kaum vor der Ankunft der Frau

v.M. zumal, wenn Sie meine Bitte erfüllten, sich Ruhe zu gönnen. In Coblenz wohne ich im Hotel zum Riesen, und wenn Sie mir

einige Zeilen dorthin schicken wollen, so adressieren Sie nur: Herrn Assessor Schrader, Mitglied der herzoglich Braunschweigischen Ge-

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 407

neraldirektion der Eisenbahnen. Nach dem 8. schicken Sie mir keine Briefe mehr nach Coblenz. Jehl sitze ich mitten in den Vorbereitungen zu meinen großen Kon­ ferenzen und studiere mit Ernst die wichtigsten Fragen, z'. B. ob es

rationell sei, Eisenvitriol so oder so zu tarifieren usw. Es sind in der Tat wichtige Dinge, und sie haben mich früher lebhaft interessiert, die

auf dieser Konferenz behandelt werden, und namentlich die eine der be> vorstehenden Versammlungen würde mir unter andern Umständen sehr

am Lerzen gelegen haben, weil sie eine neue, unter meiner Mitwirkung

gegründete Organisation eines großen Eisenbahnnetzes ist, welche, wenn richtig geleitet, einen großen Einfluß auf die Entwicklung des ganzen

deutschen Eisenbahnnetzes üben kann. In meiner Land lag die Leitung dieser Organisation mit, und ich hoffte, sie allmählich auf den Weg zu

bringen, welchen ich für den richtigen hielt. Ich selbst konnte zu einem

Ansehen gelangen, welches mir andere Bestrebungen sehr erleichtert

hätte. Da, gerade in dem Momente, wo ich meinem Ziele nahe zu sein glaubte, wurde ich herausgedrängt. Das ist es gerade, was mich jetzt verstimmt, daß ich mir für den Beruf, dem ich mich nuN neun Jahre

gewidmet habe, und welcher an Bedeutung und Interesse immer zunimmt, nun einen andern wählen soll und eigentlich noch nicht einmal

sagen kann, welchen. Aber ich sehe selbst ein, daß ich in diesem geistig

unsteten Leben doch zugrunde gegangen wäre und fürchte nicht, daß ich nicht demnächst wieder eine Wirksamkeit in der Welt finde. Jetzt möchte ich ftei sein für einige Zeit, ich habe auch letzthin noch Offerten

für den Eintritt in den preußischen Staatsdienst zurückgewiesen. So gern möchte ich mit Ihnen zusammen einiges arbeiten und schaffen, und ich glaube, ich kann es, wenn ich erstRuhe habe, und wir beide können nicht nur zusammen die Vorzüge eines BucheS genießen, sondern auch

miteinander eines schreiben.

Die boshaften Pedelle lassen mir keinen Augenblick Ruhe; kaum habe ich einige Zeilen geschrieben, so kommt schon wieder einer, der etwas ganz eilig gelesen oder unterschrieben haben will; ich komme nicht

zum ruhigen Schreiben. Von K. Becker habe ich heute die Nachricht erhalten, daß er sich nicht im Besitze seiner Schriften über den Protestantenverein befindet, sondern daß Sie dieselben wahrscheinlich besitzen. Vor meiner Reise

kann ich doch von ihnen keinen Gebrauch machen, nachher möchte ich sie wohl haben, damit ich sie gleich durchsehen kann. Sonst verzögere

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Kapitel 18:

ich unsere nächste Zusammenkunft. Wenn Sie also glückliche Besitzerin der Schriften sind, so lassen Sie sie mir wohl gelegentlich zukommen, hier muß ich schließen, weil ich zum Diakonissenhause eilen und vorher noch den Brief expedieren muß, wenn Sie ihn morgen noch erhalten sollen. Zürnen Sie nicht über seine Kürze und Anordnung, ich habe nicht drei Zeilen geschrieben, ohne gestört zu werden, hoffentlich trifft Sie dieser Brief wieder wohl. Leben Sie wohl!

Mit den herzlichsten Grüßen! Ihr

K. S.

Henriette Breymann an Karl Schrader. Oker i. harz. Freitag, 8. Zuli 1870.

So habe ich mich doch ergeben und fortgehen müssen. Gestern däm­ merte die Ahnung, daß es nicht anderes würde und heute früh faßte ich den Entschluß. Ohne vorwärts oder rückwärts zu denken, fuhr ich mit der Mutter hierher. Wir fanden die Zimmer beim Kantor Schucht, die ich schon früher bewohnte, unbesetzt, und so sind wir bei diesen guten, braven Leuten einquartiett. Wir haben ein wirklich hübsches, großes Wohnzimmer mit zwei Sofas und daneben zwei Schlafzimmer. Die Oker rauscht unter den Fenstern nach Westen, wo eben die Sonne hinunter­ sank und nach Osten zu lehnt das Laus an einem Berg mit Tannen bewaldet. Obgleich fünf Kinder im Lause sind, die viel Elternfreude aber auch einem armen Schulmeister viel Sorgen der Erziehung bringen, so ist es doch still. Ich habe meine liebe, liebe Mutter bei mir und könnte, nun einmal der Anruhe Neu-Watzums entflohen, mich der Ruhe und Pflege meiner abgenutzten Nerven hingeben, verfolgte mich nicht der Gedanke, daß eS nichts hilft. Ich bin noch nie in einem solchen Zustande der Kraftlosigkeit gewesen wie jetzt; ich habe keinen Glauben an eine Heilung! Ach, was ist der Glaube für eine Macht, ein undefinierbares Etwas, das nicht gelehrt, nicht erklärt werden kann, sowenig wie die Liebe, die innerlich erlebt sein will und sich da aus Fäden webt, die sich der Lupe deS Verstandes entziehen, wenn er zerlegend und zersetzend mit seinem

Messer der Kritik daran geht. Der Glaube, wie die Liebe muß früh in der Kindheit kommen, nur die Liebe küßt die Liebe wach, nur der Glaube facht den Glauben an, und glücklich die junge Seele, welche in einer Atmosphäre atmet, welche von

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 409

beiden, mächtigen Lebenselementen durchdrungen ist. Aber manchmal trägt eine Seele auch lange Liebes- und Glaubenskrast latent in sich;

es gelingt der kalten, rauhen Welt nicht, sie zu zerstören, sie scheucht sie nur immer tiefer ins Innere zurück, bis endlich einmal der erweckende Strahl durch die Hüllen dringt, die das Leben webte, so daß sich nach

und nach ein neues Sein bildet. Aber selten, selten wird es so sein; im Gegenteil, es verlieren die

meisten Menschen im späteren Leben, was in der Jugend gewonnen, wenn dieses Gewonnene nicht fest, sehr fest gegründer war. And die „Welt", die wir immer so anklagen — die Welt sind unsere Schwach­

heiten, die jeder in sich trägt, die nur vielleicht in andern nicht bekämpft,

wenigstens nicht besiegt waren; der Kampf mit der „Welt" ist doch immer nur der Kampf mit uns selbst, d. h. mit der Menschheit-Natur. And anstatt auf diese Welt zu schelten, diese und jene Erscheinung zu bekämpfen — sollten wir nicht eher fragen, wie geht es zu, daß solche

Kreaturen entstehen, z.B. wie ist es möglich, daß ein Teil der Bourbonen entstehen und Frankreich und andere Länder so demoralisierten? Doch,

wohin gerate ich I

Letzte Nacht hatte ich einen Traum, der mich eigen bewegte und mich tief zurückführte in das Zusammenleben mit meiner Schwester

Marie, in die Sterbenszeit, die uns voneinander riß. Marie stand vor meinem Bette, ich hörte ihre Stimme so deutlich, wie sie sagte: „Jen­

nette, ich habe mich lange genug ausgeruhr, ich will die Pension jetzt

übernehmen, nun ruhe Du, du hast es jetzt nötig". And, als sie so zuver-

sichtlich sprach, da fühlte ich, als ob ein elektrischer Strom durch mein Wesen ginge, und als riefe alles in mir: „Du bist frei I" And dieses wun­ dervolle Vertrauen, das ich zu Marie hatte, belebte meine Seele; aber

das war alles nur so ein Moment, dann kam das phantastische des Traumlebens wieder dazwischen; doch den ganzen Tag trage ich dieses Gefiihl des Muteü, des Trostes mit mir herum. Marie hatte etwas von Matthy in der Arbeitskraft, in der Festigkeit und Bescheidenheit, in der

Treue und Innerlichkeit. Jätten Sie sie nur gekannt! Ich habe das

Buch vonMatthy zu Ende, ich danke Ihnen für dasselbe viel, vielmals;

es ist ein Buch, das wirkt, und wenn man es wirklich liest, auch nach­ wirkt. F. schreibt gut, er stellte sich wohl hauptsächlich zur Aufgabe, M.

als politischen.Charakter zu schildern und inwieweit daS dazu verarbei­

tete Material das richtige ist, verstehe ich nicht zu beurteilen, ich bin leider zu unbewandert in der Politik, aber die Art und Weise der Be-

410

Kapitel 18:

urteilung gefällt mir ausnehmend und wie durch dies unruhige Gewölk

deS politischen Lebens dann und wann schöne Streiflichter auf das Fa­ milienleben fallen, und wir einen tiefen Blick tun in dasÄeim, das zwei so verbundene, so eins gewordene Menschenherzen sich gründeten, wie unstät der Fuß auch wandelte, und wie ost die Stätte, die man Leimat zu

nennen pflegt, gewechselt wurde. Den beiden Menschen ist doch ein schönes Los geworden, vor allem der Frau, so indirekt eingreifen zu können

in das Getriebe der Welt, indem ein innerlich großer Mann ihrer be-

durfte, wirklich innerlich bedurfte, um seine Laufbahn fortzusehen und zu vollenden. Das ist des Lebens Sorgen, Kampf und Schmerz zu tra­ gen, wohl wert.

Was mich auch freut, ist, daß die Sorge um die Existenz von Matthys Familie, ihn nicht heruntergezogen, sondern nur entwickelt hat; ich denke mir auch, daß Familiensorgen, die aus einer gesunden Ehe er­

wuchsen, in der das Weib den Mann so oder so versteht, den letzteren nicht in seiner Berufstätigkeit schwächen; sie geben ihm vielleicht hie und da eine andere Richtung, lenken ihn eine zeitlang scheinbar vom Ziele

ab; aber sie gründen ihn umso fester in sich selbst. Wo daS Familienleben den Mann herunterzieht und zerstückt, da

muß es doch an irgend einer Stelle faul sein, meine ich. Die wahre Ehe

hat ebensoviele Erscheinungen wie die wahre Weiblichkeit, je nach den Naturen; nur muß der Mann irgend ein ideales Ziel verfolgen, ruhe eS

noch so tief in der Knospe, wie eS wolle; der arme Flickschneider, der recht und brav lebt, verfolgt ein HöheresZiel, und sein Weib muß darin eins mit ihm sein, sei dies auch nur durch die Erfassung im Gemüt, und wo diese Erfassung ganz und wahr ist, da wird auch Intelligenz und Willenskraft angeregt zu folgen, denn die Kräfte sind untereinander

solidarisch — sei eS auch zugleich im klaren Verständnis durch die In­

telligenz, oder durch praktischeMitarbeit amBerufe des Mannes selbst—

nur müssen beide sich finden unter „dem höheren Dritten". Ohne dieS

wird keine dauernde, ftuchtbringende Harmonie möglich sein, und was als Glück erscheint, ist ost, wie ost ein übertünchtes Grab. Mit diesem

Dritten aber wachsen die Geister zusammen, und dem Höheren zu, von

welcher Seite auch der Schwerpunkt ihres Friedens sei.

Die Mutter mahnt mich zu Bette zu gehen, gute Nacht.

Am 9. Juli. Eigentlich wollte ich nur bis Montag bleiben, aber ich soll vor Mittwoch abend nicht wiederkommen, Donnerstag könnte ich für Frau von Marenholtz alles in Ordnung bringen.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 411

Ich fürchte mich bis jetzt noch vor dem Besuche; aber vielleicht hat

die Frau jetzt nicht mehr soviel Aufregendes für mich wie ftüher. Die Frau ist wunderbar, rein wie Diamantlicht in ihrer Intelligenz, getragen

von einer glänzenden Phantasie .... Die Frau steht so groß da; wie eine Löwin verteidigt sie die Reinheit der Idee und sie opfert ihr Alles

an äußerem Leben .... In meiner Natur sind so große Gegensätze:

Eine sehr starke Individualität und soviel Selbständigkeit und Anabhängigkeitssinn und wiederum ein Bedürfnis mich an jemanden hin-

zugeben. Kälte ich sehr jung eine Persönlichkeit gefunden, die groß an

Geist und Charakter gewesen wäre, ich wäre vollständig in ihr aufgegan­

gen, wäre für mich ein Nichts geworden — so aber bin ich immer auf mich selbst zurückgeworfen, bei Fröbel, bei Frau v. M

ich hatte

niemand, der mir aus dem Labyrinthe des Grübelns half. Es ist ein un­

berechenbarer Schatz auS einer Familie zu stammen, wo (wie die meine), die Natur und die Leidenschaften sich nie verirrten; mag der Korizont

ein enger sein, für die Kinder und jungen Seelen muß die bürgerliche Sittlichkeit erscheinen als Naturnotwendigkeit; man hört ja wohl von

andern Möglichkeiten, aber eS ist ein Kören ohne ein Verstehen, und

wenn dann so nach und nach die traurige Erkenntnis von dem Elende deS Lebens kommt, wenn man den geheiligten Fleck der Keimat verläßt,

dann hat man doch auS dem gesunden sittlichen Boden ein Etwas ein­

gesogen, das in uns Fleisch und Blut geworden und uns immer einen Boden gibt, wie tief der Menschheitjaminer uns auch packt, und wie demütig man auch zu der Erkenntnis kommt, daß man nicht aus andern»

Stoff gebaut, als die andern, sondern in andern Verhältnissen vielleicht

noch tiefer geraten wäre als sie.

Es ist 9 Ahr, die Mutter »»ahnt, daß wir ausgehen wollen. Wen»» Sie einmal hierher kämen, wie schön wäre das; ich glaube. Sie würde»» ganz vergnügt; diese wundervolle Stille hier, man hört nurNatur, keine

Menschen.

Karl Schrader an Kenriette Breymann. Braunschweig. 10. Juli 1870. Als ich diese Nacht nach Kaufe kam, fand ich Ihren lieben Brief

vor, und ich habe ihn, noch ehe ich mich zurRuhe legte, gelesen Ich bin glücklich von meiner Gespensterreise zurückgekommen, weder der Eisenbahngott (oder Teufel) noch der Vater Rhein hat mich zu sich

genommen; aber Sie scheinen doch, obgleich Sie nichts darüber schreiben.

Kapitel 18:

412

sich angegriffen zu fühlen, sonst hätten Sie sich nicht so schnell zu der-

übrigens höchst zweckmäßigen Reise nach Oker entschlossen. Dort möchte ich Sie freilich gern besuchen, aber eS wird wohl nicht gehen, da ich noch

eine oder vielmehr zwei Kollegen aufReisen gelassen habe. Jetzt kann ich

wenigstens noch nicht wissen, ob ich mich frei machen kann. Geht es, so schreibe ich vorher oder melde mich telegraphisch an, damit Sie nicht ausgeflogen sind ....

Verlieren Sie nur den Mut nicht; geistige Regeneration geht, wie

die durch eine Badekur bewirkte, körperliche, nicht ohne Ermattung vor-

über, aber es wird manches ausgeschicden, das uns quälte und drückte. Hoffentlich hilft Ihnen schon die Harzluft die durch Ihre vielen Auf. regungen entstandene Nervenabspannung besiegen. Vor Frau von Marenholtz haben Sie mich fast bange gemacht; sie ist ctn wunderbares Beispiel, wie der Mensch durch fanatische Sin*

gäbe an eine Idee einen guten, vielleicht den besten Teil seines Selbst opfern kann, wenn er nicht diese Idee als Teil des Ganzen, und dieses

Ganze darum immer als das Höhere auffaßt. Ich muß aber schließen, wenn Sie diesen Brief heute erhalten sollen.

Darum mit herzlichem Gruße und dem Wunsche, daß Sie sich recht schnell kräftigen mögen.

Ihr

KS. Viele Grüße an Ihre Mutter.

Henriette Breymann an Karl Schrader. Neu»Watzum. 14. Juli 1870. Obgleich ich mich vor Frau v. M. fürchtete, so habe ich mich doch mit meinen Gedanken auf ihren Besuch eingerichtet, und es wäre mir nun

lieber gewesen, sie käme jetzt, als die Sache verzögerte sich noch.

Gestern hatte ich auf einmal Angst, Sie könnten sich erkältet haben, Sie mußten so rasch laufen und sahen nachher im Dampfwagen aus dem Fenster. Nicht wahr, Sie wollen nicht unvernünftig in bezug auf Ihr« Gesundheit sein. Unsere Marie hat wirklich in dieser Beziehung gesün­

digt, sie hatte eine so herrliche Konstitution und meinte, sie könne nichts

anfechten. Man muß auch in dieser BeziehungFröbelsch sein; Sie haben doch einmal die Fröbelei angenommen, und so dürfen Sie Kleinigkeiten

nie unbeachtet lassen, auch nicht in bezug auf Ihre Gesundheit. Wollen

Sie mir das versprechen? Ich glaube dem, was Sie versprechen.

Korrespondenz zwischen L. Breymann u«b K. Schrader bis 1872. 4 l 3

Ja, nun bin ich wieder hier, und es kommt mir vor, als wäre ich lange, lange fort gewesen, und mit Sehnsucht sehe ich dem 1. September entgegen. Ich habe noch eine ausgezeichnete Entdeckung in Oker gemacht;

den Lüttenmeister £1., Freund von Lerrn Schucht, bei dem ich Chemiestunde bekommen kann, wie mir Herr Schucht sagt, indem dieser Mann

glücklich ist, wenn er über diese Wissenschaft sprechen und ihre Gesetze dar­ legen kann mit praktischen Experimenten; er hat einen kleinen chemischen

Lerd. Gerade die Gesetze der Chemie sind so wichtig zum Verständnis des Geistes

Ich habe wirklich in Oker ausgezeichneten Stoff für.sechs

Wochen Ferien. Gestern war ich noch eine Stunde in der Schule. Herr

Sch. hatte die Kleinen, da habe ich meine ganze Freude gehabt, wie Fröb-

lisch er zu Werke geht. Auch für den Elementarunterricht kann ich Vor­ treffliches studieren, und Lerr Sch. freut sich auch auf meine Wiederkehr.

Ich bin gespannt, was Sie zu meinen Plänen sagen? Mein ganzes

Wesen sehnt sich nach Sammlung, Nahrung und stiller Vorbereitung

von so manchem, was durch die letzten Ereignisse tief aufgerührt ist in meiner Seele.

Wie ängstigen mich diese 40 jungen Mädchen, die ich alle lieben, denen ich alle geben sollte; ich verändere mich doch merkwürdig, ist das alt, schwach werden? Oder ist es Umbildung des Geistes zu einer neuen

Stufe? Da vollziehen sich im Menschen Prozesse, er trägt das wunderbarste Sterben und Werden in sich und weiß es nicht, und was hat die Menschheit schon gelitten? Die französische Revolution ist doch ein schreckliches Ereignis, wenn man so dem Fühlen des Einzelnen nachgeht;

der Einzelne ist da so ein Nichts, über welches der Geist der Geschichte

unerbittlich fortschreitet. £lnd doch trägt wieder der Einzelne, wenn er bewußt wrrd, eine ganze Welt in sich und ringt mit einer ganzen Welt. Ich kann nicht von dem Gedanken kommen, daß es Gott dem Men­

schen zu schwer gemacht hat. Es ist doch so wunderschön, glücklich zu sein,

Gott hätte es doch einrichten können, wenn er gewollt, daß die Menschen

bei tiefem Ernst, auch glücklich werden; daß sie in tüchtiger Arbeit sich entwickelten, aber nicht so leiden müßten. Ich sage das nicht in bezug auf mich, denn wie viel Schmerzliches mich auch getroffen hat, ich habe auch

viel Schönes im Leben genossen; ich kenne Glück, ich weiß wie schön es ist, glücklich zu sein. Aber welche elende Existenzen gibt es, welche ent-

setzliche; meine Natur leidet nun einmal mit, wo so wirkliches Leid sich findet, und leider finde ich in den eigenen Lebensbeziehungen und in der Geschichte viel mehr Leid als Glück.

414

Kapitel 18: Aber weich' müßige Rede ist das wenn; es ist so, und das Sein

muß man akzeptieren in seiner unerbittlichen Konsequenz; ich begreife, wie der Glaube an da- Fatum entstand. Wird uns einst auch alles klar werden? Wird alles seine Versöhnung finden? Auch das ist mir begreif­

lich, daß die Menschen diese materiell« Versöhnungstheorie durch Jesu Blut aufgerichtet und entwickelt haben, daß nicht nur Dumme und Heuchler zu dieser Richtung sich bekennen. E- ist so ein Bedürfnis der menschlichen Natur, sie will fettig werden, will was Fertiges haben —

und da ist es; da, in Jesu Armen ruht der müde Geist aus; da wäscht er alles Elend des eigenen, unvollkommenen Wesens hinweg. Diese Sta­

tionen der Ermüdung sind gefährliche Wendepunkte in der Entwicklung des Geistes. Leben Sie wohl, so gut eS gehen w»ll in diesem Äbergangsstadium, in dem auch Sie stehen; möge es nicht allzulang« währen.

AuS dem dummen B. Tageblatte verstehe ich nicht, ob Krieg wird oder nicht. Ob Sie meiner nicht müde werden? Noch eins, haben Sie die zwei Briefe von M. und N. in der Tasche

behalten? Ich wollte, Sie schrieben anN., sie solle doch nicht die Geduld ver­

lieren und vorerst in Italien bleiben; eS ist für sie und die Sache höchst

schädlich, wenn sie jetzt fortgeht. N. dauert mich so sehr, sie kann mit

ihrem eigenen Ich nicht zurechtkommen; ich glaube, eS steckt eine ge­ waltige Liebefähigkeit in ihr, sie hat wirklich bedeutende Gaben, aber ihr hat Familienliebe gefehlt. Ich fürchte jetzt oft, daß ich zu hart gegen sie

war, sie hat mich mit ihrer Leidenschaft und Eifersucht halb tot gequält; aber jetzt weiß ich, daß man sich nicht durch die Äußerungen der Men­ schen abschrecken lassen darf, wenn diese unS unangenehm berühren, son­ dern der Quelle nachgehen muß; stüher habe ich N.ihre Fehler mit Un­ erbittlichkeit klargemacht; ich tue das nicht mehr in derWeise; ich möchte

ihr helfen. O, Sie wissen nicht, wie viel Frauenschmerz ich kenne, wie viele sich mir offenbart haben in ihrem mannigfachen Leide, und ich begreife nicht,

woher es kommt, wie ich ost leidenschaftlich geliebt bin, wie mich Frauen vergöttert und verwöhnt haben; nein, es ist eine merkwürdige Geschichte.

Darf ich Sie noch einmal an die Federn erinnern? Ich habe keine ordentliche mehr. Ihre L.B.

Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 415

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Freitag im Lolze, 15. Juli 1870. Ich sehe vollkommen ein, daß Sie mehr zu tun haben, als mir zu schreiben, wo Forstversammlung und Kriegsgeschrei Sie in Anspruch nehmen. Aber ich fühle das Bedürfnis, mit Ihnen zu sprechen, wenn auch nur schriftlich; der Verkehr mit Ihnen hat mich von der Welt befreit, und wenn ich Zeit find«, mich zu sammeln, so werde ich ihr vielleicht noch nützlich sein, wenn auch nur im kleinsten Kreise. Ihrer Achtung würdiger zu werden ist es, was dem Ernste meines Strebens auch zugleich seine Schönheit verleiht, und ohne tiefe Achtung gibt es keinen ficheren Boden für ein Verhältnis zwischen zwei Menschen .... Mit den Meinen habe ich eine gründliche Aussprache gehabt. Sie geben mir alle einstim­ mig einen Winter frei, ja, sie finden es absolut notwendig, und derPlan ist fertig, wenn nichts dazwischentritt. Ich ziehe zur Mutter, gebe nur einige Stunden im großen Lause und komme sonst nie, zu keinem Be­ suche, zu keinem musikalischen Abende usw. Nun will ich sehr, sehr fleißig sein, wenn Sie nur einen ordentlichen Menschen für mich finden, bei dem ich Physiologie deS Menschen ordentlich lernen kann, d. h. ich habe einen Plan, nach dem ich lehren will, und ich will mich dazu vor­ bereiten. Die Art und Weise, wie es hier während meiner Zurückziehung werden soll, ist zu aller Zufriedenheit festgestellt. Ich habe, ich darf es wohl sagen, einen gewissen geistigen Boden für die Pension erobert, aber ich bin wahrlich nicht nötig, ihn festzuhalten, glauben Sie mir; und wenn alle das Gefühl der Sicherheit gewonnen nächsten Winter, dann kann ich eine Klaffe von Erwachsenen hier haben. Wenn daS nicht geht, so gehe ich nach Goslar und fange dort einen Kindergarten an und mit Lermann Beckers Lilfe eine Ausbildungsschule für Erzieherinnen. Wenn Sie Muße haben — und Sie müssen sie unter allen Umständen haben — dann müssen Sie Naturwissenschaft studieren. Sie haben eine so glückliche Geistesorganisation, daß Sie so schnell arbeiten können. So sehr ich mich aufs Lernen freue, so werde ich manchen Kampf zu bestehen haben; mein Gedächtnis ist verdorben, und mein Organismus ist so er­ regbar; ich schweife so leicht ab mit meinen Gedanken, aber ich will das überwinden Vorhergehendes schrieb ich, noch ehe ich an den Krieg glaubte, nun ist er da, der Stein ist angestoßen und einmal imRollen, weiß man nicht, wohin er seinen Lauf richten wird.

416

Kapitel IS: Ich bin tief im Innern bewegt, wenn ich an den Jammer denke, der

so viele Lerzen jetzt erfaßt. Männer haben wohl zuerst das Ganze im Auge, und auch uns gibt der Gedanke daran Haltung und Fassung, denn hier kann keine Wahl sein; aber traurig, tief traurig ist und bleibt die Sache, daß die Entwicklung von Völkern und Staaten durch soviel Trübsal der einzelnen hindurchgehen muß. Nur wer weiß, was es be­

deutet, jemand von ganzer Seele zu lieben, im andern zu leben, zu weben

und zu sein — und diesen andern zu verlieren, der kann nachfühlen, welch Lerzbrechen durch die Lande gehen wird, und wenn auch Größe

und Gewinn dasEnde ist, das Kerzbrechen ist da, und es ist ein Jammer. Doch der Krieg ist da und alles, was wir tun können, ist treuer als je zu arbeiten, zu helfen, wo wir können, das Leid zu lindern, das im Anzuge ist.

Ich weiß, wieviel Sie nach allen Seilen hin zu tun haben, und ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich nicht auf Briefe warte; ich weiß, Sie schreiben, wenn Sie können, aber Eie haben auch die Ruhe nötig. Wenn

Sie anch in nächster Zeit nicht kommen können, so möchte ich Sie einmal in Braunschweig sprechen, wenn ich wüßte, daß ich Sie nicht störte; aber

diese persönlichen Wünsche sind in solchen Zeiten untergeordnet; Sie

haben mich in letzter Zeit oft schwach gesehen, aber ich denke, Sie ver­

stehen mich und meine Natur. Sie werden jetzt lieber arbeiten, denn es

handelt sich plötzlich um ganz andere Interessen; ich kann vorerst nichts tun als unter den aufgeregten Gemütern der Kinder möglichst Ruhe herstellen und Ihnen in Gedanken folgen. Doch man weiß nicht, ob nicht auch an mich Ansprüche gestellt werden ganz anderer Art, und wenn Sie

je etwas für mich zu tun hätten, nicht wahr, Sie vergessen nie, daß Ihre Interessen mir teuer sind, und daß wir so manche als die unsrigen er-

kannten. Sie wissen, daß Sie in mir ein Herz gefunden haben, das Ihnen bleibt unter allem Wechsel der Verhältnisse, denen wir vielleicht ent­ gegengehen. Vielleicht erscheint es kleinlich, noch vom Persönlichen zu

sprechen in Angesicht so ernster Ereignisse, aber ich meine, die Arbeit für

das Allgemeine trägt sich leichter, tut sich freudiger, wenn man weiß, es folgt eine Seele in liebendem Verständnis nach; es ist ein Herz da, daS ebenso treu Täuschungen, Niederlagen, Trübsal mit tragen würde,

als es sich der Erfolge freut. Ich denke, diese Ereignisse können sehr ein­ flußreich für Ihr Leben werden, wer weiß, wohin Sie dieselben fuhren,

aber ich bin ganz ruhig für Sie, für mich. Wie Sie sich auch verändern, denn jede Entwicklung ist Veränderung, welche Gestaltung Ihr äußeres

Leben auch nehmen mag, es bleibt ein Kernpunkt in Ihnen derselbe, und

Korrespondenz zwischen 85. Breymann undK. Schrader bis 1872. 417

nie kann ich verlieren, was ich von Ihnen in meinen Geist ausgenommen. Ich bin ernst, sehr ernst gestimmt, aber ruhig in meiner Seel«. Leben Sie

wohl; aber denken Sie auch an sich und an mich insofern, daß Sie sich nicht überarbeiten.

Ihre

SB. Senriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 18. Juli 1870. Gestern abend gegen 11 Ahr kam Frau v. M. nach einer abenteuer­ lichen Fahrt hier an. Ich sträubte mich gegen den Gedanken, sie jetzt hier

zu sehen, aber da sie nun da und alles in Ordnung ist, freue ich mich, sie

hier zu haben, ihr Ruhe und frische Luft bieten zu können, und Fröbeln

mag ich doch. Ich fürchtete mich vor dem Wiedersehen, weil ich sie so ge­ altert und verfallen glaubte; aber es ist garnicht so schlimm, und die Todesgespräche sind nicht begründeter, als daß wir beide dem Grabe

10 Jahre näher stehen als zur Zeit unseres letzten Beisammenseins. Sie war zu Fuß vom Bahnhof hierher gekommen und erzählte mir stehend

bis gegen 12 Ahr allerlei Widerwärtiges, waö ihr in Berlin begegnet sei.

Ich glaube, ich war nicht minder angegriffen als sie. Aber dazwischen

blitzten Gedanken von der Frau so groß, so echt Fröbelsch, daß ich bei» Krieg vergaß und mich auf die Stunden freute, wo ich einmal schö p fe n

konnte aus dein Borne der reinen Idee; da ist sie ja die einzige, und groß ist sie in der Verteidigung dieser Reinheit; da ist alles tiefe Wahrheit und Überzeugungstreue in ihr. O, waruin kann ich nichts unbedingt glauben,

was sie von Verhältnissen und Personen sagt? Seifen Sie mir doch, diese Frau richtig beurteilen und erfassen, ich kann ja keine Menschen, die nicht in den Entwicklungsstadien der Kindheit und Jugend stehen,

bewußt „behandeln". Aber Sie gehen gewiß auf im Kriege! Sie sind ein glücklicher Mensch, glücklich gerade in dieser Zeit, in der die Wogen der Geschichte hochgehen; durch keine engen Familienbande gefesselt, haben

Sie den Schwerpunkt Ihres Wesens in die Interessen des großen Gan­

zen gelegt. Wohlwollend gegen jedermann, aber niemand mit dem Serzblute liebend; niemanden je besessen und verloren habend, mit dem Sie sich eins fiihlten, können Sie auch die dunkeln Seiten der Entwicklungs­

epoche, vor der wir erwartend stehen, nicht so erdrückend mit leiden; ich ärgerte mich früher über Ihre Seiterkeit, aber ich kann sie jetzt ver­ stehen. Sie können vortrefflich mit Frau v. M. zusammen, Sie beide sind so ein Paar unpersönliche Wesen, die wie der Geist Gottes über dem L y s ch i n r t a, Henriette Schiader I.

27

418

Kapitel 18:

Chaos schweben — wenigstens nach einer Seite hin ist es Frau v. M.

Sie sollen sie nur über das Glück des Krieges reden hören. Ich werde nie so, und es war eine Verkennung meiner Natur, wenn ich es mir als mög­ lich dachte; ich will auch gar nicht mehr so werden, ich will weiter fiihlen,

lieben und leiden und mich darüber amüsieren, wenn viele Menschen mich für kalt, abgeschlossen und unnahbar halten.

Der Nachmittag und Abend in Braunschweig hat mich doch auf­

gefrischt; eS sind mir doch Gedanken gekommen. Ich lebe hier in einer

Atmosphäre, die angefüllt ist mit dem lästigen Angeziefer kleinlicher Sorgen und Kröppeleien. Diese Lin- und Kerzerrerei mit den Englände-

rinnen, die Reiserei der deutschen jungenMädchen, die von ihren Ver-

wandten Abschied nehmen sollen, an denen die Mütter sich trösten »ol­

len — so daß man keinen Tag dieselben in der Klasse hat — macht wahr­ lich müde. Da täte es denn gut, wenn man einen Blick hat aufs große

Ganze lenken können, um im Einblick darauf den Nörgeleien des täg­ lichen Lebens den rechten Platz anzuweisen; aber bei der Straßenpolitik^ die mir allein zu Ohren kommt, ist das nicht gut möglich. Einige Ihrer Bemerkungen spinnen sich dann bei mir fort zu Gedanken. So vieles

vom Enthusiasmus in der Zeitung macht auf mich keinen erhebenden Eindruck, ich finde, die Leute find sehr dumm und politisch ungebildet.

Wie kann es auch anders sein? Wie roh wird Geschichte gelehrt und ge­

schrieben! Wenn wieder Frieden wird, wenn Sie, wenn ich nächsten Winter Muße habe, dann sollten wir doch einenNachmittag oder Abend in der Woche bestimmen, wo wir beide zusammen irgend ein ernstes Geschichtswerk lesen — höchstens die Mutter sollte dabei sein, ich habe

die Gewohnheit, Werdendes in mir auszusprechen, das kann ich nicht mit mehreren .... Freilich sehe ich ein, daß ich allein der gewinnende Teil dabei bin, denn Sie haben alle die nötigen Kenntnisse, die mir

fehlen, um inner« Verwaltung eines Staates, Kandels- und VerkehrsVerhältnisse zu verstehen, die eine so große Rolle spielen bei der Gestal-

tung der Ereignisse, die dem Auge des Publikums sichtbar sind; aber gerade weil dem so ist, und ich wirklich die mir fehlenden Kenntnisse

nicht allein aus Büchern nehmen kann, so bitte ich Sie, mir zu helfen. Vielleicht reißt uns aber der Krieg und seine Folgen auseinander;

ich habe ein Gefühl, als könnten die Ereignisse für Ihre Stellung folgen­ schwer sein, und ich muß vielleicht nach England gehen und Geld ver­

dienen. Ich mache mir gar keine Sorgen um meine Existenz; bin ich

gesund, so kann ich arbeiten; werde ich geistesschwach, so komme ich nach

Korrespondenz zwischen Ä. Breymann und K. Schrader bis 1872. 419 Königslutter, werde ich körperlich krank, so gehe ich in das Krankenhaus. O Gott, nur eins möchte ich nicht erleben: Auf anderer Wohltat an­ gewiesen zu sein I Ich glaube, ich wäre undankbar, und oft denke ich, ich

muß auch das noch tragen. Die Sehnsucht nach äußerer Anabhängig, keit ist zum Götzen in mir geworden, dem gedient zu haben ich schwer

bestraft werde .... Wenn ich nur begriffe, weshalb Sie meine Briefe aufheben wollen?

Sie wissen doch, was darin steht, und wenn man auch den Wortlaut nicht behält, so geht das, was uns vom Geschriebenen innerlich berühtte,

in uns über, und was nicht — das ist ja doch ein totes Wort. Wollen Sie die Briefe vielleicht lesen, wenn ich tot bin? Sie werden dazu nie Zeit

haben; dann wird wieder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland über das Elsaß sein, und wie der Glücksritter reiten Sie über mein An-

denken weg, der Germania nacheilend, hinter Ihnen eine Madonna auf der Weltkugel schwebend, Sie mit einem Heiligenscheine krönend .... Sagen Sie mir auch immer die Wahrheit? Sehen Sie, das ist das ein­ zige, was ich in unserm Verhältnis fordere.

Henriette Breymann an Mary Lyschinska. Neu-Watzum. 22. Juli 1870.

Meine teure Mary I

Alle Kerzen sind jetzt voll Ernst und Sorgen über die Dinge, die da kommen werden, aber eins steht fest, wir gehen unserer politischen Größe oder unserm Untergange entgegen. Wenn die andern Völker neutral

bleiben, wenn sie nur einen Funken Schamgefühl im Kerzen tragen, so werden wir siegen, denn wir sind einig. O M., es ist eine ernste, aber eine

schöne Zeit, Enthusiasmus erfüllt alle Gemüter, aber nicht nur im Gefühl der Erregung werden wir opfern, nein, mit tiefer Ruhe, Ernst und

Ausdauer. Mein liebes, teures Vaterlandl Noch nie habe ich so tiefempfunden wie jetzt, was es heißt, sein Vaterland lieben. Du weißt nicht, was fitr

uns der Krieg bedeutet, denn unsere Armee ist ganz anders organisiert als die eure, aber herrlich ist es bei uns, herrlich ist das Wort Gleich,

beit, kein leerer Schall mehr; alle, die ein gewisses Alter haben, müssen

unter die Waffen, Familienväter, Geschäftsführer, Gelehtte, alle, alle. Aber sie wollen auch in diesen heiligen Krieg; aber Du kannst

ermessen, welche Stockung in all« Geschäfte kommt, wie alle Familien zerrissen werden.

420

Kapitel 18:

Doch hier schweigt persönliche Kleinlichkeit; ob unmittelbar ge­ troffen oder nicht, jeder fühlt in andern, und alle fühlen in einem, im

deutschen Vaterlande.

Kein Preuße, kein Braunschweiger mehr; nur Deutschland gibt es noch. Last Du gelesen, wie herrlich der Süden sich benommen? Wie aller

Groll vergessen ist gegen den Norden? Alle politischen Patteien einigen

sich — ja moralisch haben wir schon gesiegt, undGott gebe, daß wir auch mit den Waffen siegen. Wolle Gott, daß diese Brut der Napoleoniden vernichtet werde bis auf den letzten Blutsttopfen .... Denn es ist

eint Brut der Ansittlichkeit, der Lüge und des personifizierten Egoismus.

O Gott, M., wenn nur Dein Volk nicht mit diesen Schändlichen geht; ich könnte Dich weniger lieben. Bis zum letzten Atemzuge wird Laß

meine Brust erfüllen gegen Napoleon, um den unsere Brüder, Väter, Gatten, Söhne und Freunde fallen müssen.

Ich weiß, was Sterben ist, wie es die Lerzen zerreißt, wie die Seelen

beben werden der Zurückbleibenden. Ich fühl« in allen, und darum muß ich hassen, weil ich liebe, weil ich die Söhne meines Vaterlandes liebe. Jeden Soldaten begrüße ich mit Respekt, und wer «ine Schuld auf dem Gewissen hat, o, wie schön kann er sie jetzt sühnen.

So ist der SchmerzenStag, der uns die Ansrigen nimmt, doch ein großer Tag. .... Leute geht auch Erich fort. Er hatte eine so schöne Praxis als praktischer Arzt in L., er wurde geehrt und geliebt — fort, fort, alles muß dahinten bleiben, und er will. Wenn jemand nur bedauernde Miene macht, dann wird er wütend. Einem Lerrn auf der Eisenbahn,

der ein bedauerndeSWort zu ihm sagte, ries er zu: „Schweigen Sie still;

ein Schuft ist, wer zu Lause bleibt." Ich glaube, wenn Not an Mann ist, kommt Adolf aus Italien, ja

wenn es ganz schlimm wird, auch Karl.

Am 10. August. In der ersten Empörung schrieb ich diese Zeilen. Seitdem bin ich ruhiger geworden und in dieser Ruhe trauriger. Auf

welch niedriger Stufe müssen wir Menschen noch stehen, wie wenig müssen wir die Iesusidee in unS ausgenommen haben, daß ein solches

gegenseitiges Morden mit allem Raffinement der Erfindung möglich ist?

Es muß viel Bestiales in den Menschen stecken, viel Krankhaftes die soziale Lust erfüllen, und so wird der Krieg gleich dem Aufbruch einer

innerlich eiternden Wunde sein, der wirke»» kann zur Leilung. Suchen wir den Moment zu nutzen, jeder an seiner Stelle, jeder in seiner Sphäre.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 421

Eine tief ernste Zeit .... persönlich beteiligt oder nicht, wer fühlte nicht im ganzen Volke? Wer litte nicht mit die Todesschmerzen der Dahingegangenen und Trauer der Überlebenden? Wer empfände nicht

mit die Angst und Sorge um eine gestörte friedliche Existenz? Es ist nach meiner Auffassung eine ünssttlichkeit im Gefühl, wenn man so in ungestörtem Frieden eine gewiffeBehaglichkeit empfindet beim Lesen vom Kriegsschauplätze und den Kriegsereignissen .... Da

meine Verhältnisse mir nicht gestatten, jetzt anders als durch Geldbeittäge helfend in die Not «inzugreifen, so lerne ich und studiere ich um so

eifriger, weil ich fest entschlossen bin, mich immer ausschließlicher der

Fröbelschen Erziehung zu widmen. Nur in einer Reformation des er­ ziehlichen Lebens im großen Maßstabe können wir Leitung der innerlich

fressenden Schäden erwarten, und in der Entwicklung der Fröbelschen

Grundgedanken finde ich nach den verschiedensten Richtungen hin die so

notwendige Regeneration des Lebens. Es treffen andere große Geister mit Fröbel da zusammen; er allein konnte ja die Richtungen der Wissen­ schaften nicht bearbeiten, aber er bleibt deshalb doch immer der Mittel­ punkt, weil er der Pädagoge der Neuzeit ist; der Mann, welcher uns

die Fäden in die Land gibt, alles was andere entdeckt, erfunden, er­ arbeitet haben, mit dem Menschen zu verknüpfen, ihn zu einem sittlich.religiösen Gottesgeschöpfe zu machen

Die wenigen Tage in Oker haben mich erfrischt, und den Vorsatz in mir gereift, nächstenWinter weniger zu arbeiten einerseits, mehr andererseits. Ich habe jetzt schon angefangen, mich etwas von der Unruhe der

Pension zurückzuziehen; die Zersplitterung des Lebens war zu aufreibend. Ich mußR u h e, nichtArbeitslosigkeit haben,Ruhe, um zu studieren, denn ich habe mich so ausgegeben. Aber wer weiß, wie alles kommt? Doch man kann mit Ruhe der Entwicklung entgegengehen, wenn man sich bestrebt,

täglich arbeitstteu zu fein, und sich immer mehr abzulösen vom Schein. Jesus allein lehtt uns das Wesen der Dinge erkennen, und darum

ist seine Religion eine Weltreligion, eine erlösende Religion. Ach, wie

mühen und arbeiten die Menschen sich ab, den Schein zu erjagen, welche Wichtigkeit legen sie auf das Äußere ohne allen Zusammenhang mit

dem Inhalte, und in diesem Ringen und Laufen nach dem Sinnlichen

ohne den Geist, der Form ohne Inhalt werden sie, was Jesus „die Kinder

der Welt" nennt, d. h. das Wesentliche ihrer Natur verkümmert, sie werden klein und kleiner am Gottesfunken, indem sie wachsen an äußerem

Flitter, und wenn die letzte Stunde kommt — was nehmen sie mit?

422

Kapitel 18:

Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. 28. Juli 1870.

Laben wirklich die Zeitereignisse auf mein Benehmen Einfluß gehabt? 3ch kann mir nicht denken, durch was ich Ihnen Veranlassung gegeben habe, an meiner Wahrheit und Offenheit zu zweifeln. Oder legen Sie «ine gewisse Zurückhaltung in meinem Wesen so aus? Meine Zurückhaltung ist Folge längerer Angewöhnung und scheint äußerlich noch zu sein, wenn sie innerlich längst nicht mehr ist. Vielleicht ist diese Zurückhaltung auch Folge davon, daß ich gerade jetzt in einer innern Amwandlung begriffen bin, stärker vielleicht noch als die Ihrige und veranlaßt durch Sie. Ich habe wohl oft geredet vom geistigen Epikuräismus, ohne zu gestehen, daß ich ihm selbst weit mehr verfallen bin, als man glaubt. Ich habe Nützliches getan, aber mehr, weil es mir Dergnügen machte, als weil ich die Verpflichtung so zu handeln, ebenso lebendig gefühlt hätte, als ich sie theoretisch zu behaupten und nachzuweisen lieble. Ich fühle immer lebhafter, daß noch ein großer Zwiespalt in mir besteht zwischen meiner Erkenntnis des Rechten und zwischen der Be­ fähigung, dasselbe im Landein zur Geltung zu bringen, und das ich bei weitem nicht bin, was ich den meisten Leuten scheine.

Eine innere Änderung tut mir not, und Ihnen verdanke ich die Überzeugung davon. Ihnen den Willen, mich zu ändern und Ihnen werde ich, Ihnen selbst vielleicht unbewußt, die Durchführung dieser Änderung verdanken. Seien Sie deshalb vorläufig geduldig mit mir!

In Angelegenheit der Frau von Marenholtz habe ich gleich gestern früh nach Berlin geschrieben, und ich hoffe, daß die Sachen bald in Wolfenbüttel eintreffen. Wie ist Ihnen und Frau v. M. unser langer Spaziergang bekommen? Ich bin am andern Morgen von 5l/2—. 10 Ahr auf unserm Bahnhöfe umhergelaufen und dadurch recht müde geworden. Am 10 Ahr labte ich meinen durstigen Gaumen an Ihren Kirschen und wurde danach wieder frisch. Grüßen Sie doch alle die Ihrigen von mir, empfehlen Sie mich der Gnädigen, bald hoffe ich von ihr die höhere Fröbelweihe zu bekommen. Auf baldiges Wiedersehen!

Ihr KS.

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 423

Lenriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 3. August 1870. Wir haben seit einer Woche keine Nachrichten von Erich, wissen

gar nicht, wann er vonNortheim abgereist ist, wohin, ob er glücklich an­

gekommen und wie es ihm geht; die Mutter ist in großen Sorgen. Frau von M. wird ein bißchen ungeduldig, daß Sie nicht kommen;

sie stellt doch immer ihre Sache in den Vordergrund. Der Koffer ist da, ich soll Ihnen vielen Dank sagen.

Ich habe Ihren letzten Brief noch oft gelesen, und denke doch, Sie beurteilen sich selbst zu hart. Wenn manNützliches tut, weites uns an­

genehm ist, so halte ich das für die höchste Stufe. Sie werden mir später gewiß einzelnes näher erklären. Sie können aber kaum begreifen, wie

glücklich es mich macht, wenn ich überhaupt imstande bin, Sie zu einem

inneren Fortschritt anzuregen; ich, die ich mich selbst so hilfsbedürftig

fühle! Fröbel, der immer alles symbolisierte, sagte bei seinem Zeichnen,

indem er einzelne Figuren erklärte: „Dies sind Ergänzungs-, dies in sich abgeschlossene Figuren; die ersteren können allein nichts Besonderes dar­ stellen, aber in Verbindung mit andern Formen bringen sie oft Schöne­ res hervor als die abgeschlossene Form, welche für sich ein Ganzes ist."

Schon damals dachte ich immer, ich sei eine „Ergänzungsform"; ich suchte hie und da Lilfe, aber Sie wissen, wie ich immer und immer auf nach selbst zurückgeworfen wurde. Früher, d. h. als ganz junges Mädchen behauptete ich immer das Wort, Pflicht sei Lüge; ich wolle nie der Pflicht^ sondern nur der Nei­

gung folgen; nur, was ich aus letzterer tue, sei von Wert, die Menschen sollten gar nicht getäuscht werden über meinen innern Wert. Es lag etwas Richtiges in dieser so gefahrvollen Ansicht; erst, wenn

das Gute uns Natur wird, ist es schön; aber ich übersah eins dabei, daß die Natur aus dem schmerzvollen Prozeß der Überwindung unberechtigterNeigung, unser Ich über die Grenzen auszudehnen, hervorgehen kann.

Es liegt eine der schwersten Aufgaben der Erziehung darin.

Donnerstag, 4. August. Frau von M. läßt Sie grüßen und sagen, wenn Sie sich wirklich für Fröbel interessierten, so sollten Sie nun aber kommen, sie hätte mit Ihnen vieles zu sprechen. Lerr Fricke gefällt ihr auch und sie meint, ich könne recht zufrieden sein, einige ordentliche

Menschen zu haben.

424

Kapitel 18: Mit Frau von M. und mir geht es recht gut ... . wir beide

haben viel Schlechtes von den Menschen erfahren und sind so wohl nach­

sichtiger miteinander geworden. Aber denken Sie, ich besitze die furcht­ bare Anmaßung zu glauben, daß ich ohne Frau von M.s Schlüssel ins

Innere der Fröbelei gedrungen bin, und wenn ich etwas sage, was wohl beweist, wie innerlich ich die Sache erfaßt habe, so meint sie doch immer, das hätte ich direkt von ihr. Früher ärgerte ich mich über so etwas schreck­

lich, jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß ich ziemlich große Selbständigkeit des

Gedankens besitze, und daß sie zu einer meiner Stärken gehört. Früher

sagte ich einmal zu Frau von M. ganz offen, als ich erwachsen war: „Wir können nur zusammen verkehren, wenn Sie mich als geistige Freun-

bin behandeln; ich werde nie vergessen, daß Sie die ältere, die bedeuten-

bete Frau sind, aber ich fühle, daß ich die Kinderschuhe ausgetreten habe." Als ich sie kennenlernte, war sie den 40 en nahe und ich kaum 22; gerade dieser Altersunterschied ist so bedeutend, und bei allem Ernst mei­

ner Natur war ich doch sehr Kind damals. Ich denke noch oft, wie eigen­

tümlich es in mir aussah; ich hatte erfaßt, daß Großes in Fröbel lag; hielt es in der Begeisterung fest; aber jahrelang brauchte ich, daß das

Empfangene zu Fleisch und Blut in mir geboren wurde, geboren ganz meinet Individualität angemessen; ich habe nie etwas Anverarbeitetes nachgesprochen.

Frau von M. zieht von ihren Anschauungen Konsequenzen, die über Jahrhunderte hinausreichen, ja, über dies Erdenleben. Sie hat vielleicht recht; denn richtig angelegtes Denken muß über die Gegenwart hinausgreifen. Vielleicht ist es aber eine Phantasie, die sich unser leicht bemächtigt. Ich habe diesen kühnen Gedankenflug nicht. Mit dem tiefen

Bedürfnis nach der persönlichen Unsterblichkeit denke ich fast nie daran, ob und wie das Jenseits für uns sei. Meine Individualität treibt mich

dazu, dem höchsten Gedanken für jede Stufe eine rechte Form zu geben,

und so bin ich, was ich und andere früher nie gedacht, gerade eine gute, praktische Kindergärtnerin, d. h. nicht allein Kindergärtnerin im

engeren Sinne. Die praktische Aussthrung schließt meinen Gedanken-

kreis nicht ab. Ich bleibe aber auf der Erde, Frau von M. erhebt sich zur Sonn«; so ist unser Verhältnis.

Ich habe diese Tage fleißig gearbeitet, trotz der Kitz«, und hege di« beste Loffnung für mich, daß ich wieder gesund werde.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 425

Karl Schrader an Aenriette Breymann. Braunschweig. 13. August 1870.

Die Ereignisse haben meinen Vorsatz, einen Nachmittag der letzt ablaufenden Woche bei Ihnen zu verleben, zuschanden gemacht, ich habe in einem Wirbel der disparatesten Dinge und Menschen gelebt, der mir keinenMomentRuhe ließ. Lazarette, Inspektoren, pflegewütige Frauen­ zimmer (das Wort ist hier an der rechten Stelle gebraucht), Offiziere, Turner, Feuerwehrleute, Bauleute, Köche, Näherinnen, Turkos, Franzosen usw. in buntem Wirbel um mich herum; es herrschte jene wirre Geschäftigkeit, die mit viel Mühe nur wenig schafft, die aber, wo allgemeine Beteiligung in kurzer Zeit etwas zustande bringen soll, ein­ mal nicht zu vermeiden ist. And ich hoffe, daß wir jetzt leidlich geordnete Zustände geschaffen haben, und daß die Verwundetenpflege in einen regelmäßigen Gang gebracht ist, was auch mir einige Verfügung über meine Zeit gibt. Leute morgen freilich bin ich um 3l/2 Ahr aufgestanden, um einen Zug mit Verwundeten zu empfangen, welcher noch nicht an­ gekommen ist (d. h. um T[2 Ahr), und ich benutze die Zeit des Wartens, Ihnen ein Lebenszeichen zu geben, welches Sie morgen erreichen soll. Im ganzen bieten die hiesigen Bestrebungen für die Verwundetenpflege ein angenehmes Bild uneigennützigen Strebens; jeder will den Zweck und will ihn so rein, als er selbst fähig ist, ihn zu begreifen; jeder Schein irgendwelcher Hintergedanken wird vermieden, und es ist gesucht und gelungen, die verschiedensten Elemente zu friedlichem Zusammenwirken zu verbinden. Nur eine Familie in W. hat einen neuen Beweis davon gegeben, daß ihre Gesinnungen nichts weniger als erhaben sind. Aber lassen wir diese Jämmerlichkeit, und beschäftigen wir uns lieber mit Dingen, die uns näher liegen. In den kurzen Zwischenräumen meiner Geschäfte habe ich in einem höchst interessanten englischen Romane ge­ lesen, dessen Titel mir vor Jahren von einem Bekannten genannt war, Lypatia von Charles Kingsley, und den ich mir kommen ließ, weil ich nach dem ihm gespendeten Lobe meines Bekannten und nach dem nicht geringen Rufe, welchen daö Buch in der Welt der Nomanleser hat, meinte, es könnte Sie vielleicht interessieren. Jetzt bin ich überzeugt, daß es wert ist, von Ihnen gelesen zu werden und daß es Sie höchlich inter­ essieren wird. Freilich, wenn Sie hören, daß es die Zustände und Men­ schen Ägyptens im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung behandelt, einer Periode, die uns nicht gerade sympathisch ist, so werden Sie sich

426

Kapitel 18:

schwerlich zu der Lektüre sehr hingezogen fühlen. Aber wenn Sie nur die ersten Seiten lesen, so werden Sie finden, daß daSBuch in Form eines Romanes gerade die wichtigsten Fragen der Menschheit behandelt, und

daß nicht antiquarische Liebhaberei den Autor veranlaßt hat, diesen Schauplatz für seine Schilderung zu wählen, sondern der Amstand, daß

jene Fragen damals und in jenem Lande wirklich verhandelt wurden, und

daß die entgegengesetzten Ansichten darüber im Leben und Lehren her­ vorragende Vertreter gefunden hatten. In dem Romane wie im Leben aller Zeiten ist die Hauptfrage die,

wie die höhere und die sinnliche Natur des Menschen zu vereinigen sei;

jede der drei hauptsächlichsten Ansichten findet ihren Vertreter und wird in ihrer Wirkung beleuchtet: Die althellenische, welche der sinnlichen

Natur, wenn auch in schönster Form die Lerrschaft gibt; die asketisch-

christliche, welche sie ganz vernichten will und die eigentlichen Jesu

Nachfolger (auch Fröbelsche Lehre), welche sie bestehen läßt, aber verklärt. Wir sehen, wie diese verschiedenen Auffassungen praktisch tonten, und wie die hellenische dieMenschheit entnervt hat, und wie ihr gerade die Möglichkeit fehlt, das Verlangen des Menschen nach Erklärung seiner höheren Natur und des Zusammenhanges der Welt zu befriedigen,

(gerade dies versucht vergeblich die Vertreterin dieser Richtung, die Philosophin Lypatia); wie die asketische Richtung, weil aller Natur widersprechend, trotz des Großen, was sie hervorzubringen vermag, doch

verderblich auf die Welt und vernichtend auf die eigenen Anhänger

wirken muß, und wie schließlich die Versöhnung allein in der recht verstandenen christlichen Lehre liegen kann. In alter Zeit, sehen Sie, spie­

len hier die Probleme, welche auch unsere Zeit vorzugsweise bewege«», und nicht nur sind sie gut behandelt, sondern nebenbei ist das Buch gut, spannend und edel geschrieben, wenn auch manche Dinge haben auch gesagt und geschildert werden müssen, welche nicht schön sind. Ich stu­

diere den Roman jetzt noch aufmerksamer als bei dem ersten Durchfliegen,

und dann lesen Sie ihn, damit wir darüber sprechen können. Mehr und mehr lerne ich begreifen, daß Fröbel von der wahrsten Auffassung der

menschlichen Natur ausgeht — soweit wir die Wahrheit jetzt zu erkennen

vermögen — und daß, man ohne als Lehrer oder Vater eigennützig an der Erziehung interessiert zu sein, im Interesse der ganzen Menschheit für die Verbreitung und Ausbildung seiner Grundsätze und Lehren wirken

sollte. Vieles von den Prinzipien, von welchen er ausgeht, ist nicht erst

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 427 von ihm gefunden, aber originell ist bei ihm, daß er auf diese Prinzipien

ein konsequent durchgebildetes Erziehungssystem baut. So schwer es mir auch wird, jetzt hier wegzukommen, so will ich doch suchen, Montag nachmittag zu kommen; morgen kann ich nicht; erstens weil es Sonntag ist, und zweitens weil ich wahrscheinlich diese Nacht

einenVerwundetenzug abzufertigen habe, und Sonntag, zumal ich heute seit 3 Ahr auf den Beinen bin, etwas müde sein möchte. Montag werden wir auch miteinander reden können. Wenn ich doch nicht kommen könnte,

und ich es einigermaßen zeitig vorher weiß, daß ich verhindert bin, schreibe ich; paßt es Ihnen nicht, so bitte ich ebenfalls um Nachricht. Nicht wahr, Sie schreiben mir doch wieder, oder wollen Sie nicht eher schreiben, als bis wir uns gesprochen haben? Jedenfalls sehe ich Sie bald; bis dahin mit herzlichstem Gruß

KS.

Henriette Vreymann an Karl Schrader. Neu-Wayum. 15. August 1870. Es ist mir traurig, daß ich nicht, wie Sie, tätig eingreifen kann, dem

Vaterlande zu dienen; ich habe nichts als mein tief lebendiges Mit­ gefühl und nachgehendes Interesse und bei all meinem Tun und Treiben

den Wunsch, es für andere zu verwerten und so innerlich zu helfen. Meiner Natur ist jede Scheinarbeit zuwider, jedes Vordrängen; und hier in Wolfenbüttel würde ich nur andern denPlah nehmen, wenn ich da tatenlustig in den« Vereine wirkte; so geben wir nur Geld, nähen hier

zu Kaufe und wollen in den Ferien zwei Verwundete ins Laus nehmen. Vielleicht kommen Sie heute; aber, ob wir uns ein Wort allein sagen können, bezweifele ich, da Frau vonM. ungeduldig auf Sie harrt,

und ich wirklich meine liebe Not gehabt habe, ihr auseinanderzusetzen, was Sie zu tun hätten, und das wiederholt sich alle Tage Es ist doch in allen Dingen dasselbe, im Großen wie im Kleinen, im Allgemeinen wie im Besonderen. Wenn ein Künstler die Idee emp­ fängt zu seiner Schöpfung, so sind dies begeisternde Momente; aber geht

er an die Ausführung im einzelnen, so kann er nur durch Ausdauer seinem Gedanken Leben geben, und ohn« Enttäuschung, Schmerz und

ernste Arbeit geht es nicht ab, bis er die ihn erfüllende Idee mit dem Stoff« v«rband, ihr im Stoffe die lebensfähige, praktische Gestaltung

gab. Auch kann es ihm begegnen, daß er bei der Ausführung inneward.

Kapitel 18:

428

die Idee war keine lebensfähige, oder seine Kräfte reichten nicht hin, sie

dazu zu machen. Ist man mit sich und seinen Lebenszielen allein, so erfüllt Harmonie die Seele; aber man hat im Leben selbst sein Fleisch und Blut zu über­

winden. Gerade wie der Künstler die tausend und aber tausend mechanischen Übungen macht, die zur Bewältigung des Materials not­ wendig sind, finden wir uns wieder im Kampfe mit uns selbst, mit unserer

Natur, die im göttlichen Geiste der Wahrheit, Tüchtigkeit und Liebe wiedergeboren werden soll. So sind die Gesetze der Schönheit und Sitt-

lichkeit analog.

Auch ein ernstes, wahres Verhältnis zweier Menschen zueinander wird sich nicht ohne Kampf und Schmerz heranbilden und befestigen

können. Es ist leichter gesagt als getan, daß man die Schwächen oder Eigentümlichkeiten des andern gern tragen will, wenn man die Grund­

züge seines Wesens hochachten und lieben gelernt. Jin näheren Verkehr der Geister tritt so manches hervor, was sich in größerer Entfernung von­

einander sich gar nicht zeigen tonnte, weil dieBedingungen dazu fehlten. Wenn nun des andern Eigentümlichkeiten oder Schwächen unsere eige­

nen Schwächen oder verwundbare Stellen berühren, so tut daS weh, und es ist schwer, sich ineinander zu schicken beiWahrung vollständiger Selb-

ständigkeit des einen und andern und bei vollständiger Wahrheit. Ich glaube, in den meisten Verhältnissen der Menschen zueinander ist ein

Teil der nachgebende, in der Bildung Le6 Wesens der untergeordnete^ oder der unwahre, oder gleichgültige; am meisten sind beide unwahr.

Das Wort, man soll den andern nehmen, wie er ist, kann je nach der Auffassung zur höchsten Sittlichkeit und zur höchsten ünsittlichkeit der geselligen Beziehungen führen. Man soll sich nehmen wie man ist, wenn man voneinander di« Überzeugung hat, daß man nicht bleiben wird, wie man ist; sondern sich weiter und weiter entwickelt. So hat auch die Freundschaft ihre Arbeit

und ihren Schmerz Henriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum. 16. August 1870. Ihr Bruder machte mir heute die Bestellung von Ihnen, daß Sie

diese Woche nicht kommen würden, nun wollte ich Ihnen nur sagen, daß Frau von M. des morgens sehr häufig nicht zu sprechen ist, da sie oft schlaflose Nächte hat.

Korrespondenz zwischen S.Dreymann und K. Schrader bis 1872. 429

Ich bin überzeugt, daß es Ihnen unmöglich ist, den versprochenen Besuch zu n»achen, aber sie kann es sich gar nicht recht denken und quält mich wirklich ein bißchen damit. Ich hoffe aber, Sie werden noch einmal Zeit für sie finden; obschon sie von baldiger Abreise spricht, so glaube ich nicht, daß es dazu kommt. Ihre Verbindungen sind wichtig; sie teilt mir interessante Briefe mit. Neulich bekam sie einen sehr herzlichen Brief von Fichte, der noch auf eine Zusammenkunft im Lerbste hofft. Lassen Sie sich durch den Sonntag nicht schrecken, zuweilen ist niemand hier, und wenn Sie es vorher schreiben, so können wir Sie bei der Mutter erwarten. Frau von M. ißt zu Abend dort, ich glaube, sie kann die Menge Menschen nicht vertragen. Sonntags ißt sie allerdings mit uns, aber es ist ihr, glaube ich, ein Opfer. Ihren Brief Sonntag habe ich bekommen und gestern die Absage Frau von M. und ich gingen gegen abend zusammen spazieren; sie scheint mehr Vertrauen in mich zu setzen für die Sache; noch nie hat sie wie gestern zu mir gesprochen. Was ist Wahrheit daran und was Exaltation? Ich bin so mißtrauisch gegen mich selbst und die Erregbarkeit meiner Natur geworden, indem die höchsten, mir heiligsten Emp­ findungen an der Wirklichkeit des Lebens zerrinnen. Ich hatte eine solche Sehnsucht nach Einsamkeit und stiller Arbeit, und Frau von M. reißt mich wieder in eine Welt vollPläne, und die Frau ist mir noch nie so groß erschienen wie gestern, wo sie mir enthüllte, wie sie gelitten, ge­ kämpft und persönlich geistig gedarbt hat, und jetzt möchte sie sterben oder den Anfang sehen zu einer Anstalt, einer Fröbelstistnng, wo nun ordentliche Lehrkräfte, Apostel gebildet werden.

Wäre ich nur ein Mann, oder wäre ich anders, härter als ich bin, ich möchte Frau von M. und der Idee ganz dienen; aber ich fürchte, meine ganze geistige Organisation entspricht nicht dem Wunsche. Ich wollte nicht an die Zukunft denken, denn ich wüßte, was ich zunächst im Winter tun sollte, und in dieser Gewißheit würde ich wieder gesund und tatkräftig. Frau von M. hat mir aufgetragen, Ihnen ihre Pläne mitzuteilen, aber das ist schriftlich unmöglich; sie hat auch eine Bitte an Sie und wünscht dringend, Sie in den nächsten Tagen zu sprechen. Können Sie nicht hierherkommen, so will sie einenNachmittag und Abend mit mir nach Schraders Kötel [in Braunschweigs gehen, wenn Sie Zeit haben, uns dort zu sprechen. Sie arbeitet nämlich an Vorschlägen für die

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Kapitel 18:

Fröbel-Stiftung, und da möchte sie ihre Vorschläge in bezug auf die finanzielle Frage Ihnen vorlegen. Was sie will, scheint mir auch das Rechte, aber wie sie es will, ob es praktisch ist? And doch wäre jedenfalls etwas zu machen aus den Fäden, die sie noch in der Land hält. Fichtes Brief an Frau von M. hat mir sehr gefallen, und auch andere, wichtige Persönlichkeiten hat sie gewonnen. Alle diese Leute können mit ihremNamen sehr viel nützen; aber niemand von ihnen wird selbst praktisch in der Sache arbeiten, und unter den praktischen Menschen findet man selten reine, uneigennützige Naturen. Machen Sie sich nur gefaßt, daß Frau von M. Ihnen sagt, Sie sollten doch an der Anstalt mitwirken. Bitte spotten Sie nicht über Frau von M. und ihren Eifer trotz des Krieges; hätten Sie sie sprechen hören, Sie würden, wenn nicht gerührt, so doch ernst geworden sein. Ich hörte immer den Bibelspruch: „Lasset die Toten ihre Toten begraben." Ich kann Frau von M. begreifen, wie sie sich an Menschen klammert, die ihr redlich erscheinen. Sie haben ihr vielVerttauen eingeflößt, und wenn es auch Ansinn ist, daß Sie mit an ihre Anstalt treten sollen, da Sie sich schon einen ganz andern Lebensweg vorgezeichnet, so können Sie viel­ leicht doch etwas tun. Frau vonM. läßt Sie vielmals grüßen und schenkt Ihnen ihrBuch, was anbei folgt. Bitte richten Sie nicht nach diesen unzusammenhängenden Worten, die ich in größter Eile und bei fortwährenden Anterbrechungen schreibe. Frau von Marenholtz hat mich erschüttert, sie ist eine große Seele. Es darf niemand erfahren, daß sie in Braunschweig ist.

Lenriette Breymann an Karl Schrader.

Neuwatzum. 24. August 1870. Wollen Sie so gut sein, morgen die Äefte von mir,mitzubringen, wenn Sie noch ein Lest „Zur Frauenstage" haben — niemand hier besitzt eins und Frau von M. möchte es gern lesen. Auch bitte ich Sie, sich nach dem Trompeter Rudolf zu erkundigen, dessen Adresse hier erfolgt; er ist der einzige Sohn unserer armen Boten­ stau aus Schöppenstedt. Der junge Mann, von dem Ihnen Frau von M. sprach, ist gefallen; sie hatNachricht. Sie ist Ihnen sehr dankbar, daß Sie kommen wollen.

Korrespondenz zwilchen 55. Breymann und K Schrader bis 1872. 431

Gestern war Lermann hier; er und Frau vonM. haben sich sehr gefunden. Ich habe mich wieder beruhigt nach den auftegenden Gesprä-

chen mit Frau von M., aber sie haben einen tiefen Eindruck bei mir

hinterlassen; meine Neigung, manches bei Frau von M. lächerlich zu

finden, ist ausgelöscht. Ich hätte Ihnen vieles zu erzählen, es ist ein wunderbares inneres Leben, das ich führe, voll Interesse und Sym­

pathien den Ereignissen folgend, strebend, sie zu verstehen, und dann von Frau von M. herausgerissen zu werden aus der Gegenwart, in ein, in mein Reich idealer Bestrebungen. Die Frau ist wunderbar, ich fühle

mich klein ihr gegenüber an Mut und an manchem andern; aber das tut

mir wohl. Ich wollte, Sie lernten sie ganz kennen — ich finde, je länger sie hier ist, desto mehr Wärme strahlt ihr Wesen aus, und dann ist sie un­

beschreiblich liebenswürdig, herzgewinnend, so daß schon dann und wann

ein Gefühl in mir auftauchte, ich möchte mich ihr, die so ganz allein in

der Welt ist, ganz widmen. Frau von M. findet die Lebensatmosphäre hier so rein, unser Leben so friedlich im Vergleich zu dem, was sie in Berlin umgab, daß sie sich gemütlich erholt; ich weiß, sie möchte gern

länger mit mir zusammen sein als in den Ferien; soll ich meine Pläne zum Teil aufgeben? Ich wollte, es wäre mir vergönnt, ihr einst ein würdiges Denkmal zu setzen. Sammeln Sie gelegentlich auch Notizen über sie; in Braunschweig leben noch viele, die sie und ihre Verhältnisse

kennen. O, wenn ich sie mit schützen könnte vor dem Schmutze des Lebens,

damit ihr Lebensende in ruhiger Sammlung verliefe 1 Wenn sie noch Fröbels Leben schriebe, das wünsche ich so. Ich weiß aber, was ich will, allerdings die Form der Ausführung

habe ich nicht in der Land; aber ich bin innerlich frei geworden, indem

ich keinenMenschen mehr suche, mir zu helfen und lieber das Kleinste

allein tue, als auf andere zu bauen. Ich fühle mich fähig, andern zu helfen und mich unterzuordnen, wenn ich die innere Überzeugung habe, daß ich einem höheren Zwecke diene. Nur arbeitsfähig bleiben, das ist mein Gebet. Wir haben Karten von Erich, auf dem Schlachtfeld« geschrieben,

mit Blut bespritzt! Er ist wohl. Zugleich kam ein Brief von Adolf, der den Vesuv bestiegen und der in Pompeji an uns geschrieben; welche

Kontraste des Lebens, in denen die Brüder sich bewegen!

Wir haben zwei Verwundete; ich bin ordentlich froh, einmal etwas direkt mittun zu können.

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Kapitel 7: Henriette Breymann an Karl Schrader. Neuwatzum. 26. August 1870.

Es tut mir so leid für Sie, daß Frau von M. sich gestern so un­ liebenswürdig zeigte, mich stört und irritiert das nicht mehr; ich habe einen Blick in die Größe ihres Wesens getan, und daran halte ich fest. Ich bin, Gott sei Dank, gar nicht mehr erregt, sondern sehe alles mit ruhigem Blute an, vielleicht um so mehr, da ich für meine persönlichen Wünsche nichts mehr vom Leben erwarte; ich fühle mich unberufen inner­ lich gesund und weiß, daß ich unter allen Umständen und wäre es ganz allein, für Fröbel leben und wirken werde und weiß auch wie, und das hat mir das Gleichgewicht meiner Seele gegeben. Ich habe viel erfahren, noch viel mehr als ich Ihnen gesagt, aber das hat nur beigetragen, mich innerlich zu befreien. Wollte -. B. Frau von M. mit mir allein, einfach und bescheiden die Sache beginnen, ich ginge mit ihr; ich würde sie zu ertragen, verstehen suchen, aber in der Art und Weise, wie sie vorgehen will, sehe ich noch keinen Boden. Ich kenne nun die Welt und die Menschen und auch mich; ich werde nie verstehen, die Schwächen der Menschen zu benutzen. Ich glaubte, ich verstände mit den Menschen umzugehen, und in gewissen Verhältnissen kann ich es auch; denn ich darf sagen, ich habe die Pen­ sion gegründet, ich habe oft die albernsten Mütter zu behandeln gewußt; aber ich war in meinem Lause; ich bin keine Natur für die Öffentlich­

keit, für die Welt, wie sie ist, voll Roheit und Barbarei. Ich will eben etwas tun, was ich mit meinen Schülerinnen allein kann, wenn meine Kraft für die Fröbelstistung nicht gebraucht werden kann; ich scheute für diese keine Entbehrung, kein Opfer, keine Unterordnung und Ertragung; aber ich muß für mich einen festen Punkt haben, in eine abenteuerliche Geschichte, in ein Rmgen und Kämpfen mit vielen Geistern, die wieder entweder die Sache äußerlich erfassen oderRuhm für ihre Person suchen — lasse ich mich nicht ein. Ich weiß, daß ich dazu nicht passe, daß ich ein solches Alleinstehen nicht ertragen kann. And nun sagen Sie mir, wäre es denn eine Möglichkeit, daß Sie persönlich an der zu gründenden Fröbelstistung sich beteiligten? Ich habe das für eine Anmöglichkeit gehalten, nicht, weil ich Sie dafür nicht passend hielte; aber ich glaubte, Sie möchten so etwas nicht; indessen haben Sie Frau vonM. gestern nicht widersprochen, und sie faßt doch die Möglichkeit ins Auge. Sie dürfen sie aber bei keiner Hoffnung lassen.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 433 die Sie nicht erfüllen. Es wäre wohl ein großes, das größte Glück für Frau von M. und die Sache, wenn Sie sich der Frau und der Idee ganz widmen; sie ist krank, auch geistig krankhaft erregt, es wäre wohl der Mühe wert, ein so kostbares Leben wie das ihrige zu erhalten und zu be­ ruhigen. Wie unsere Zeiten sind, kann das nur ein Mann oder ein eman-

zipiertes Weib; aber ich kann es kaum für möglich halten, daß ein Mann

wie Sie, dem ganz andere Wege offen stehen, sich dem Gespött der Welt v o r e r st einmal preisgeben möchte, und glauben Sie mir, ich werde immer

zufrieden sein, wenn Sie in Ihrer Stellung, in Ihrem Kreise Fröbel festhalten; auch damit ist schon vieles gewonnen. Aber quälen Sie mich

nicht mehr mit Reden, daß Sie vielleicht gezwungen wären, alles aufzugeben. Nichts kann uns dazu zwingen, was wir nicht wollen. Ich denke, in dieserSmsicht gebe ich Ihnen ein gutes Beispiel, und lassen

Sie uns nicht mit Plänen spielen. Tun Sie für Frau von M. und die Fröbel-Sache, was Sie innerlich können, das Kleinste ganz getan,

ist dankenswert. Sötte» Sie den innern Mut, die Fäden in die Sand zu nehmen, die Frau von M. Ihnen bietet — so weiß Gott, ich dächte, es wäre viel besser, als wenn ich ihr hülfe. Sie könnten eine Anstalt nach

außen vertreten, Sie könnten schriftstellerisch und vortragend wirken.

Sie könnten auch die Geister, welche vielleicht aneinander geraten, be-

ruhigen; kurz, Sie sind der Mann dazu. Sie könnten dabei vollständig Ihre jetzige Säuslichkeit und persönliche Anabhängigkeit behalten; Sie brauchten in der Anstalt nicht zu leben. Aber natürlich die Welt würde Sie für verrückt erklären; vielleicht aber würde sich die Rede schon auf dieser Welt umkehren.

Lassen Sie uns mündlich oder schriftlich miteinander verständigen, was möglich ist, zu tun; Sie sehen, mit Fra« vonM. ist nicht zu beraten;

man muß ihr entgegenbringen, was man will, und sie dann reden lassen und dabei tun, was man ftlr recht hält. Ich hoffe, Sie finden Zeit, diesen leider wieder sehr langen Brief

zu lesen.

S. B.

Mit herzlichem Gruß, Karl Schrader an Senriette Breymann.

Braunschweig. 30./31. August 1870. Lassen Sie uns die Fröbel-Pläne in Ruhe überlegen, Frau von

Marenholtz ist dazu wohl nicht im gleichen Maße imstande, weil sie eine

Sache, der sie ihr ganzes Leben geopfert hat, und die sie endlich «inen r y sch in» la,-mriette Schrader l.

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434

Kapitel 18:

wesentlichen Schritt vorwärts zu bringen hofft, nicht gleich objektiv sich

gegenüberstellen kann. Was ist denn jetzt vorzüglich nötig für die Förderung der Fröbelscheu Sache?

Den großen Ideen Fröbels ist es gegangen wie allen schöpferischen

Gedanken auf dem Gebiete der Religion und Moral. Er hat ziemlich

bald einige, wenige Anhänger gefunden, welche ihn verstanden, und welche den Geist und die Tragweite seiner Ideen vollkommen auffaßten. Eben, weil schon die Beschäftigung mit denselben in jener ersten Zeit die

Sache und das Verständnis der völlig neuen Gedanken besondere Be-

fähigung voraussetzte, war der Kreis, in welchem anfangs Fröbels Ideen Wurzel faßten, aus vorzüglichen Leuten gebildet; als aher weitere Kreis»

die Ideen ergriffen und zur praktischen Ausfiihrung eines Teiles der­ selben durch die Anlegung zahlreicher Kindergärten geschritten wurde, da gewannen gewöhnliche Menschen Einfluß, und die großen Ideen Frö­ bels wurden durch die Einwirkung ganz anderer Anschauungen ver­

zerrt und in ihrer Wirksamkeit gehemmt. Die Ideen waren doch noch viel zu groß, um von unserer Zeit, d. h. von der Mehrzahl der einflußreichen

Menschen verstanden zu werden; daher die unvollkommene Ausführung dessen, was Fröbel selbst dazu schon reif gemacht hatte (Kindergärten), und der Mangel an Fortbildung und weiterer praktischer Einfiihrung

der Idee auf andern Gebieten der Erziehung. Dieses Stadium ist ein notwendiger Übergang (auch das Christen­ tum, die Reformation usw. haben ihn durchmachen müssen oder viel­

mehr machen ihn noch durch), aber er kann und muß möglichst beschleu­ nigt werden. Aber wie?

Leutzutage, wo nicht mehr ein einzelner aufgeklärter Despot große, neue Ideen ausfiihren kann, muß für solche ein großer Teil der faktisch

herrschenden Klassen eingenommen sein, daß die neuen Ideen wahr und nützlich sind, und daß ihre Durchführung mit den zu Gebote stehenden Mitteln möglich und der zu bringenden Opfer wert ist. Oft genug haben

wir miteinander und jetzt mit Frau von M. beklagt, daß es selbst unter denen, welchen ihr Beruf das Studium Fröbels nahe legt, viele gibt, die ihm mißverstehen, und daß infolge davon die praktische Ausführung viel zu wünschen übrigläßt; noch weit auffallender ist aber di« völlige Teil­

nahmlosigkeit und der völlige Mangel an Verständnis im Publikum, dessen höchste Spitzen eingerechnet. Sie und Frau von M. schieben diese

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872.

435

Erscheinung hauptsächlich darauf, daß die Ausführung der Fröbelschen Methode nach den bisherigen Ideen über Erziehung von vielen Menschen gar nicht für einen Fortschritt gehalten werden wird. Am zu glauben,

daß ein Fröbelsch erzogener Mensch wirklich besser sei als ein anders

erzogener, muß man schon Fröbels Ansicht über die Bestimmung des

Menschen und den Zweck der Erziehung teilen. Ganz anders ist es mit praktischen Erfindungen, deren Resultat, sobald es da ist, jedem ohne weiteres verständlich ist, weil die Grundideen, nach welchen der Erfolg beurteilt werden muß, nicht berührt werden.

Ein fetter Ochse ist eine bekannte Größe, und jede Züchtungs- und Er» nährungsmethode des Ochsen in bezug auf ihre Nützlichkeit ist sofort all­

gemein einleuchtend, wenn sie den Ochsen mit möglichst geringen Kosten

möglichst fett macht. Ist aber ein gut erzogener Mensch ebenso genau in der Meinung der Menschen definiert, wie ein fetter Ochse? Lält nicht der eine dieses, der andere etwas ganz anderes für das Kennzeichen einer

guten Erziehung? Verwirft nicht der eine Erziehung gerade aus dem­

selben Grunde, aus welchem ein anderer sie schätzt?

Darum scheint mir das Notwendigste zu sein, weiteren Kreisen be­ greiflich zu machen, daß das Ziel Fröbels und die Mittel, welche er zu seiner Erreichung gewählt hat, die richtigen sind. Dazu ist freilich höchst

wirksam, wenn man praktische Erfolge zeigen, und wenn man jeden Ausführungsversuch durch Bereithaltung geeigneter Werkzeuge unter-

stützen kann, also, wenn eine Normalanstalt Beispiele Fröbelscher Er­ ziehung zeigt und Erzieher bildet, welche in Fröbels Ideen eingedrungen

sind und sie anzuwenden wissen, aber das einzige Mittel ist es nicht; viel­ leicht ist es nicht einmal das wirksamste.

Gegen Frau von M. habe ich deshalb immer die Notwendigkeit einer kräftigen Einwirkung auf die öffentliche Meinung zugunsten Frö­ bels betont, und darin sehe ich einen Kauptteil der Wirksamkeit des Er-

ziehungsvereines. Die Fröbelstistung, welche Frau von M. will, unter­ schätze ich deshalb gar nicht; ich sehe ein, daß sie, wenn sie gelingt, für die

Verbreitung und Erhaltung der reinen Lehre von großem Werte sein kann, wenn sie gelingt.Nur darüber bin ich zweifelhaft, ob man, wie Frau von M. will, zunächst alle Kräfte auf sie verwenden, ihr Zustandekommen gewissermaßen als eine Lebensftage für die Fröbel-Sache be­

trachten soll. Ist es nicht denkbar, daß der Hauptzweck, die Bildung Fröbelscher Erzieher auch ohne solchen, immerhin etwas großartigen Apparat erreicht wird? Ist es z. B. nötig, in demselben Institut« Er-

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Kapitel 18:

zieherinnen und Erzieher zu bilden? Kann nicht ein verständiger, pädagvgisch gebildeter Lehrer lernen, im Fröbelschrn Geiste zu wirken, auch ohne seine Bildung gerade an einem speziell Fröbelschen Institute er­ worben zu haben ?Werden überhaupt bei dem noch bestehenden Examenzwange berufsmäßige Lehrer ihre Bildung an einer Fröbelschen Privat­ anstalt suchen, und wird eS sich miteinander vereinigen lassen, in einer Anstalt nicht nur Erzieherinnen verschiedener Stufen, sondern auch Lehter für Elementarunterricht und für die höchsten Anforderungen zu bil­ den ? Wird es möglich sein, einen für eine solche Anstalt passenden Päda­ gogen als Leiter zu finden? And wenn nun eine solche Stiftung gegründet würde und scheiterte, welchen unangenehmen Eindruck müßte es machen? Je mehr ich eS überdenke, desto mehr komnie ich dahin, den Plan Ihrer Schloßanstatt für den richtigen zu halten, d. h. einem Kindergarten mit anschließenden höheren Stufen zunächst eine Anstatt zur Ausbildung von Erzieherinnen anzufilgen. Kindergärten find für die nächste Zeit das Notwendigste, gute Kindergärtnerinnen müsse« also vor allen Dingen geschafft werden, an ihre Bildung schließt sich aber unschwer auch die Ausbildung von Erzieherinnen älterer Stufen und solcher Frauen an, welche sich auf künfüge Mutterpflichten vorbereiten wollen. Einzelne Lehrer werden,.indem sie'zum Anterricht herangezogen

werden, auch leicht gewonnen, und es ist möglich, daß neben dem ersten Institut ein zweites in naher Verbindung mit ihm stehendes, für Lehrer «ntstebt; gleich notwendig ist eS meiner Meinung nach nicht. Vielleicht ist eS nicht einmal geraten, alle Bestrebungen auf eine Anstalt zu konzentrieren. Wird sie nicht sehr großartig, so wird sie nur lokalen Einfluß üben, und es scheint mir vorzuziehen, lieber mehrere Heinere als eine große Anstalt zu haben. Daß Sie sich an dem Anternehmen, welches Frau vonM. beabsich­ tigt, beteiligen möchten, wünsche ich nicht, weil Sie dabei wenig Freude finden und weniger Nutzen stiften würden, als wenn Sie Ihre eigenen Pläne verfolgen. Meine Beteiligung in der Weife, wie es Frau von

Marenholtz wünscht, kann ich nicht in Aussicht stellen, sofern dadurch mir Aufgeben meiner andern Lebenspläne bedingt würde. Was ich tun kann und will, habe ich am Schluffe unserer Unterredung gesagt: Ich will versuchen, Fröbels Idee nach der politischen und Volkswirtschaftlichen Seite zu bearbeiten und in dieserRichtung für sie zu wirken, und diese Tätigkeit scheint mir weit richtiger und meinen bisherigen Be-

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 437

strebungen weit angemessener zu sein, als wenn ich Kassenführer einer Fröbelstiftung sein und darauf meine Äaupttätigkeit verwenden sollte. Lassen Sie sich durch Frau von M.s nicht ganz angenehme Seiten nicht von ihr entfremden; sie ist groß und aufopfernd; wenn sie zuweilen rechthaberisch, ja wohl eitel sich zeigt, so kann man es ihr eher ais jedem andern verzeihen, denn sie hat Großes getan und ist sich der Kraft be­ wußt, noch mehr leisten zu können. Empfehlen Sie mich Frau von M. und seien Sie geduldig mit mir.

Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 3. September 1870.

Morgen sollen Sie nicht wieder vergeblich auf einen Brief von mir warten, ich schreibe deshalb gleich heute nachmittag, da der heutige Abend hier etwas unruhig und wenig geeignet zum Stillsitzen sein möchte. Man beabsichtigt nämlich heute abend noch zur Feier der Kapitu­ lation von Sedan und der Gefangennahme des Kaisers Napoleon großen Lärm zu machen, nachdem heute morgen 11 Ahr schon mit einem improvisierten Amzug durch die Stadt der Anfang gemacht war. Vie Resultate sind allerdings ihrer selbst und der notwendigen nächsten Fol­ gen wegen (wohin ich vorzüglich die nun unvermeidlich gewordene Über­ gabe von Bazaine rechne), der Freude wohl wert, ich wünsche nur, daß man sie zu einer festen politischen Neugestaltung Deutschlands und zur Besserung vieler noch mangelhaften inneren Zustände benutze, und weil ich davon noch keineswegs fest überzeugt bin, weil ich mich mit dem bloßen Kriegserfolge nicht begnügen mag, so bin ich weniger als ander« in den Trubel der Begeisterung mit fortgerissen. Etwas trägt zu meiner kühleren Stimmung bei, daß ich die Äohlheit der Art von Begeisterung, wie sie hier in B. herrscht, kenne, weil ich weiß, daß viele der Lauptschwätzer vorzüglich an sich selbst und recht wenig an die allgemeinen Interessen denken. Kurz ich werde sehr ruhig und denke weit mehr an di« Zukunft als an die Gegenwart; weit mehr an die Benutzung als an die Erringung des Sieges, mehr an soziale Re­ formen als an die kriegerischen Vorteile. Darum freu« ich mich auf unsere Konferenz in nächster Woche, sie kann doch manchen ersprießlichen Gedanken zutage bringen und viel-

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Kapitel 18:

leicht zu einem Beschlusse führen. Das Hauptgewicht leg« ich allerdings auf die Behandlung der Frage über die praktische Wirksamkeit für Fröbelsche Ideen, denn, wenn wir auch bei der theoretischen Besprechung, welche Frau von Marenholtz einleiten will, mehr lernen, so fördern wir doch bei der praktischen Frage mehr Nützliches zutage. Es liegt mir sehr viel daran, daß Frau von Marenholtz in München mit durchführbaren Vorschlägen hervortritt, weil man doch daraufrech, nen wird, in dieser Versammlung zu einem greifbaren Resultate zu kommen und von Frau von M. die Initiative erwattet. Bringt sie un­ brauchbare Vorschläge, so ist das in jedem Falle sehr unangenehm, denn, werden sie ttotzdem akzeptiert und scheitern sie, so bringt das der Sache großen Schaden. Sowohl in diesem Falle, als auch, wenn von anderer Seite praktischere Vorschläge gemacht werden, bekommt das Ansehen der Frau von Marenholtz einen schweren Stoß, der sie um die Führerschäft bringen kann. Das würde aber im Interesse der Sache nicht weni­ ger als in dem von Frau von Marenholtz zu beklagen sein; sie würde es sehr schwer empfinden, wenn sie gerade in diesem Momente an ihrer Autorität Schaden litte, und die Ausführung der Ideen, für welche sie so lange gerungen, andern überlassen müßte. Ich möchte so gern mit einiger Ruhe an der Konferenz teilnehmen und ihr bis zu Ende beiwohnen können; das ist mir aber am Dienstag schwer, weil ich dann den Abend wieder in Braunschweig sein muß, wenn es mir nicht gelingt, für die Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch einen Vertreter in meinem Dienst bei den Verwundeten-Zügrn zu fin­ den. Mir wäre darum derDonnerstag fieber, und ich habe deshalb schon an L. Becker geschrieben, um ihm diesen Tag vorzuschlagen. Nachricht darüber, wie es wird, erhalte ich wohl von Ihnen. Obwohl ein Punkt schon erwähnt ist, so möchte ich den Wunsch wiederholen, daß Sie nicht an die Fröbelstiftung gehen, sondern selb­ ständig die Aufgabe verfolgen, welche Sie sich schon lange gesetzt haben, nämlich im Fröbelschen Sinne für weibliche Erziehung hauptsächlich zu sorgen. Das geht doch nur in einem Familienkreise, und ich glaube, die Fröbelstiftung wird doch immer ziemlich ausschließlich eigentlich Lehrerinnen-Bildungs-Anstalt sein. Sie könnten auch unter Ihren Zögfingen weit eher solche haben, welche nur aus Interesse an der Sache sich mit ihr beschäftigen, Sie könnten noch mehr Damen wie Emma Guerrieri bilden, und eine dieser Art ist mehr wert und nützt mehr als viele gute Lehrerinnen. Wenn Sie so selbständig bleiben, so ist Ihr na-

Korrespondenz zwischen S. Breymann und K. Schrader bis 1872. 439 lürlicher Boden dochNeu-Watzum, und wenn Sie auch Ihre Tätigkeit der Pension nicht mehr im gleichen Maße widmen und von der Leitung -urücktreten, so kann doch Ihre neue Anstalt in einer ihr nur vorteil­ haften Verbindung mit jener bleiben, bis vielleicht was ich noch immer hoffe — auch die Pension nach Ihren Ideen nach und nach sich umbildet. DerVerkehr mit den Ihrigen wird bei der großen Liebe, welche sie alle zu Ihnen haben, wenn Sie noch vorsichtiger Ihre augenblicklichen Stimmungen beherrschen, doch den Sieg davontragen, und Sie werden mir zugestehen, daß Sie einen gesünderen Boden für eine Familien-Erziehung anderswo nicht leicht finden können. Frau von M. verläßt Sie ja in kurzer Zeit, und ich hoffe, daß der Krieg in Frankreich seinem Ende naht; denn ein französisches Leer gibt es nicht mehr, und ich zweifle sehr, daß man die Volksbewaffnung auch nur durchzuführen versucht. Was einmal aus Frankreich werden soll, weiß ich nicht; es müßte sehr ernstlich in sich gehen und auf seine Weltstellung verzichten, um das im Innern mehr nachzuholen, was es so schwer versäumt hat. Ich wünsche das von Kerzen, und ich gehöre gar nicht zu den Schadenfrohen, die Frankreich das größte Anheil wünschen, schon deshalb nicht, weil die Krankheit eines einzelnen Gliedes den ganzen europäischen Staaten-Komplex krank macht. Was anders als die ungesunden fran­ zösischen Zustände hat uns denn die letzten 20 Jahre hindurch in steter Aufregung erhalten? Von Erich haben Sie wohl keine weitere Nachricht? Wenn das X. Armeekorps alle die Lebensmittel erhält, die ihm von hier und Lannover zugehen, so ist es wenigstens einige Tage vor Lunger und Durst geschützt; von hier gehen morgen wieder drei Wagen­ ladungen meist Fleischwaren nach Lannover ab Wenn auch Frau von M. mit uns unzufrieden ist, so wird sie hoffentlich doch noch ihre Meinung ändern, wenn sie sieht, daß wir uns der Fröbelsache ernst annehmen und sie auf unserm Wege fördern. Beide Wege, wenn sie wirklich den ihrigen geht, finden sich vielleicht wieder zu­ sammen, und dann wird das, was sie will, auf vollkommenere Weise erreicht werden können. Frau von Marenholtz ist die internationale Ver­ treterin der Fröbelschen Sache; wir wollen deutsche Vertreter sein und müssen unsere Wege anders machen, ohne daß sie einander entgegenlaufen. Aber meine Stellung zur Sache kann ich nur wiederholen, was ich

früher gesagt habe. Vom Weggehen nach Berlin ist für jetzt nicht die

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Kapitel 18:

Rede, und ich bemühe mich nicht darum, dorthin zu kommen. Meine Wünsche gehen dahin, wenn möglich, einige Jahre mir selbst zu leben, und ich habe deshalb den wiederholten Antrag, in das Direktorium zu treten, mit der Ihnen bekannten Bedingung beantwortet, welche, wie auch von Lerrn 55. anerkannt wurde, nur eine andere Form der Ab­ lehnung ist. Auch er billigt ganz meinen Entschluß. Leben Sie wohl für heute; ich muß wieder an meinen Bericht über die Portofreiheit der Schulbuchhandlung gehen. Morgen hoffe ich mehr an Sie zu schreiben und Montag Sie zu sehen, dann bringe ich Frau von M. wenn möglich, auch über ihre buchhändlerischen Geschäfte Nachricht.

Mit herzlichem Gruße,

Ihr K.S.

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 3. bis 6. September 1870.

Es läutet mit allen Glocken, Freudenschüsse donnern, es soll etwas Großes vor sich gegangen sein, was eigentlich, weiß ich noch nicht. Vor drei Jahren heute starb Marie, um diese Zeit rang sie mit dem Tode . . Es ist sonderbar, die Wellen des historischen Lebens unserer Gegenwart rauschen an mir vorüber, ohne mich fortzureißen und innerlich zu bewegen, seitdem ich den mir entsetzlichen Gedanken an Krieg in mir verarbeitet habe. Keine Spannung, keine Neugier erfaßt mich, sondern mehr als je im Leben fühle ich mich gesammelt zum Studium, und ich lechze nach Ruhe; ich werde sicher wieder krank, wenn sie mir nicht bald wird. Es ist mit Frau von M. eine entsetzliche Lin- und Lersprecherei, in der zuweilen einige Goldkörner und Gedankenblitze zu finden sind, die aber nicht im Verhältnis stehen zu dem Aufwande an Kraft und Zeit, die ich ihr widme. Ich will noch eins mit ihr versuchen, und etwas mit ihr lesen; wenigsten- den Morgen suche ich mir zu erobern, aber da kommt bald dieser, bald jener. Es werden bei der Mutter öfen gesetzt, sobald diese fertig sind, ziehe ich dorthin und schließe mich ein, wenn ich nicht nach Oker gehen kann. Ich bin förmlich menschenscheu geworden, was ich früher nie empfunden habe, es muß etwas an mir noch heilen, glaube ich, ach, A. Vorwerk und die Schloßgeschichte haben mich um ein guteStück Gesundheit gebracht. Mittwoch muß ich gewiß Frau von M. nach B. bringen, wohin man ihr den Wagen von Schwülper schickt. Ich ersehne ihre Abreise, und doch tut es mir so leid, aber ich habe keine Kraft jetzt, sie zu lieben, wie ich möchte; ihr Leben ist so ttaurig, und sie muß

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 441 einen starken Glauben, eine großartigeWeltanschauung in sich tragen, daß sie es aushalten kann, so allein zu leben; ich könnte es nicht; ob ich das noch lernen muß? Ich lese mit höchstem Interesse Weiße; ich will von allem, was ich lese, Auszüge machen und Ihnen zuschicken; ich möchte, Sie machten Ihre Bemerkungen dazu. Aber ich muß merkwürdigerweise immer Verschiedenes zu derselben Zeit treiben, ich bin darin wie die Kinder, ich nruß die geistige Beschäftigung wechseln und dazwischen mich persönlich aussprechen, mündlich und schriftlich; es quellen ost eine Masse Ge> danken in mir, wenn ich lese, daß ich Herzklopfen bekomme und mich beunruhigt fühle; dann muß ich abbrechen und erst schreiben, wenn auch ganz etwas anderes ist. Ich will auch übrigens viel spazierengehen, ich habe im Verhältnis zu der Geistesarbeit nicht genug körperliche, wenn ich nur nicht so faul wäre. Ich glaube, es geht eine gründliche Abschließung mit der Ver­ gangenheit in mir vor in bezug auf manche Schwächen und Fehler; ich will damit nicht sagen, daß sie schon ganz und gar abgetan sind, aber Sie haben die Axt an die Wurzel gelegt, oder vielmehr meine innere Beziehung zu Ihnen hat dies veranlaßt; in sich feststehen, fest die Land der Freunde halten, unermüdlich an sich selbst und an andern arbeiten, zu immer größerer Verklärung der Natur emporsteigen, das muß etwas schaffen; übrigens finden die Meinigen mich wunderbar verändert, sie wissen nur nicht, um welchen Preis ich es erkauft fan Selbsterkenntnis^ Soll ich, wie Sie einmal schrieben von sich, mir vornehmen, Ihnen recht verständig zu schreiben? Nein, so egoistisch es klingen mag, wenn ich noch etwas Ordentliches leisten soll, so muß ich einenMenschen haben, dem ich auch allen Anverstand geben kann, ich muß mich geistig ausleben können. Sie sind so ein Wunder von Gleichmaß und Larmonie, daß Sie doch nicht ganz begreifen, wie einemWesen wie mir zuweilen zu Sinne ist. Sie raten mir, hier meineWirksamkeit sortzusehen, und Sie haben recht; aber haben Sie eins bedacht? Meine Tätigkeit hier wird nach außenhin eine kümmerliche Existenz bieten; ich kann ja hier keine ordent­ lichen Klassen haben; alle äußeren Vorteile sind im Schlosse, und die Leute sehen auf das Äußere, und was ich bieten kann, das hat noch für

die wenigsten Wert, aber wenn ich das Meine mit den äußeren Vorteilen hätte geben können, es hätte auf die Mädchen innerlich gewirkt. Im Schlosse flicken sie nur neue Lappen auf ein altes Kleid; ich fühle mich befähigt zu helfen, ein neues anzuziehen.

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Kapitel 18: Bedenken Sie auch, daß ich keine Engelsnatur bin, und bedenken

Sie, welchen Kampf es mich kosten wird, -u wissen, daß so manche,

welche sonst zu mir gekommen wäre, nun ins Schloß geht; daß ich viel, leicht noch nicht einmal genug Schülerinnen bekomme, um Arbeit genug

zu haben, aber darum will ich auch studieren, um schreiben zu können, damit ich die Lücke dann ausfüllen kann. Ich fiirchte nur, ich passe besser

zum Lehren als zum Schreiben; sehen Sie, ich habe so viele weibliche

Schwächen; ich bin zu persönlich, auch hier haben Sie die Kehrseite von etwas Gutem, ich weiß, daß gerade meine Persönlichkeit auf junge Mäd. chen mächtig wirken kann; aber so wirken auch wieder Persönlichkeiten

auf mich. Sie wissen gar nicht, wie verschieden meine Stunden sind, je nach den Persönlichkeiten, die ich in der Klasse habe. Ach, wenn ich doch

wäre wie Sie — nun, ich will tun, was ich kann, und wenn es dann nicht mehr viel wird, so leisten Sie sicher noch Großes, dann kann ich

mir sagen, daß ich daran einen Teil, wenn auch nur einen kleinen habe.

Anterschähen Sie aber das Schwere, was ich zu tragen habe in der Nähe der Schlvßschule nicht, denn ich habe nicht die geringste Madonnen» anlage.

Ich denk« so oft daran, was Sie über sich selbst schrieben, Sie seien

nicht, was Sie den meisten Leuten schienen; Sie müssen mir das einmal, wenn auch nicht jetzt, wenn Sie keine Stimmung dazu haben, erklären. Ich laS neulich in den Zeitungen, daß Sie sich mit den Sozial­

demokraten auf einem Standpunkte finden in bezug auf Elsaß-Lothringen. Jetzt wird die Zankerei losgehen. Am 6. Also die französischeRepublik ist proklamiert; man weiß noch nicht, wohin das führen wird. Die Hauptsache in solchen Zeiten ist inner-

liche Festigkeit, zu wissen, was man will, und die Klugheit erfordert, daß man das, was man für recht hält, den Umständen nach so oder so zum Ausdruck bringt. Sie müssen mit mir über Ihre politischen Ansichten sprechen, ich muß durch Sie eine solche selbst gewinnen, nicht, daß ich

Ihnen etwas nachsprechen will, aber Sie können mir Gründe geben. Was nun kommen soll, das kommt, aber der einzelne kann durch klare

Erkenntnis und geschickte Benutzung der Dinge die Entwicklung beschleunigen. Ich halte Sie zu so etwas fähig; ich könnte das nie, aber ver-

stehen und würdigen und mit dem höchsten Interesse daran teilnehmen, das kann ich. Wir müssen in unsern Konferenzen auch einmal die politischen Ansichten diskutieren, damit wir der Konsequenzen unserer Grundanschau-

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 443 ungen nach allen Seiten hin uns bewußt werden und fest in der Einheit

stehen. Zeder Mensch hat doch einen Kreis, auf den er wirken kann, und diese Wirksamkeit in den Einzelheiten ist viel wichtiger als die Massen­

wirkung; im einzelnen kann man sich sittliche Charaktere suchen, in der Masse gährt das unsittliche Element mit den Besseren.

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Oker i. Larz. 15. September 1870.

(Zitat aus Byron hier: Farewell! if ever fondest prayer.) Dies

mein Lieblingsgedicht von Byron fand ich zuerst in Ihrem Buche, ich

nahm meinen englischen Byron mit hierher, um ihn mit der deutschen Übersetzung zu vergleichen. Es ist gut übersetzt, aber dennoch verstüm­ melt. Jede Übersetzung kommt mir vor, als wenn uns ein anderer ein

LiebeSwort berichtet von einem geliebten Menschen; er kann die Worte

wiederholen, sie können ins Lerz dringen, aber — der Zauber ist ab­ gestreift, wie der Schmelz von der Blume. Man sollte nie Poesie übersetzen. Ich höre nicht gern englisch sprechen, aber ich lese es gern, die

Sprache ist so ausdrucksvoll; bei der erscheinenden Kälte der Nation hat die Sprache Lerz, die französische nur Leidenschaft und Anmut. Wie unpoetisch sind in der deutschen Übersetzung Vers drei und

vier z. B. und wie verschieben sie den ursprünglichen Gedanken, der im Original so tiefsinnig von den Worten „Farewell, if ever fondest

prayer" fortgesponnen ist. Wie schön ist: „Mine will not be lost in air, But waft thy name beyond the sky“, die deutsche Übersetzung macht aus dem ursprünglich tief Ernsten etwas Sentimentales; wie un­

passend ist das Wort „schwillt" angebracht, um so unpassender der vor­

hergehenden Reihe gegenüber. Ein „schwellender Seufzer" ist überhaupt nur Wortgeklingel Am 16. Ich habe „Manfred" angefangen, er erinnert an „Faust", soweit ich jetzt gelesen, aber so schön manches ist, so erscheint es doch matt in Erinnerung an den G oetheschen; auch von Schillers Cassandra haben die ersten Verse in Manfred vieles in sich. Laben Sie wohl Cassandra einmal ordentlich gelesen? Ich liebe dieses Gedicht so sehr. Es gibt mehr

den Zustand der Seele, wenn man aus der ünbefangenheit des persön­ lichen Lebens, wo das eigene Geschick uns in kindlicher Naivität der

Mittelpunkt erscheint, hinaustritt ins Denken, Reflektieren, da zieht sich

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Kapitel 18:

des Lebens warmer Pulsschlag ab von den Dingen; es kommt eben die Abstraktion, man grübelt, man denkt nach, man lebt aber nicht. And doch ist diese Stufe ein notwendiger Entwicklungsprozeß, um zum höheren Leben zu gelangen. Cassandra sagt: „Nur der Irrtum ist das Leben und das Wissen ist der Tod", und weiter, „Zukunft hast du mir gegeben, doch du nahmst den Augenblick". Manfred: „The tree of knowledge is not that of life." Ich wollte, ich hätte Faust hier, ich bin durch Ihren Byron auf einmal in die Poesie geraten, ich wollte ganz andere Dinge hier treiben, und nun kann ich aus dieser Stimmung nicht herauskommen. Ich muß mich auch erst an das Rauschen des Wassers und der Tannen, an die liebe, schöne, ja, stellenweise mächtige Natur hier gewöhnen. Goethes Fischer: „Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll"; dann diese einzig poetische Dichtung „Andine" von de la Motte Fouque usw. spuken in meiner Seele, und Sie gaben mir noch den Byron, und die Naturgeister in Manfred reden mir zu, ihre Sprache ist zum Teil wunder­ schön, und ein tiefer Gedanke ist darin, wie die Geister der Natur nur unwillig sich dem Geiste deS Menschen fügen. Reizend sind einige Gegensätze in der Sprache der Geister, ihre verschiedene Natur zu charakterisieren. Z. B. der Luftgeist beschreibt seine Wohnung mit den Worten: „From my niansion on the island, which the breath of twilight builds" usw. Der Erdgeist: „Where slumbering earthquake Lies pillow’d on fire, And the lakes of bitumen Eise boilingly higher. Where the roots of the Andes Strike deep in the earth" usw. Es ist recht hübsch übersetzt mit: „Wo das Erdbeben schlummert auf feurigemPfuhl,Wo die Pechseen brodeln, qualmig und schwül. Wo die Wurzel der Anden tief abwärts sich streckt." And doch — kann man dies: „lies pillow’d on fire" so ganz wiedergeben? Wie schön ist das, was der Geist der Meerestiefe sagt: „In the blue depth of the waters, Where the wave has no strife, Where the wind is a stranger, And the sea-snake bath life. Where the mermaid is decking Her green hair with shells". Wie schön gibt Byron das Charakteristisch« der Meerestiefe mit seinem geheimnisvollen Leben und Weben. And dazu der Rhythmus — Wie hübsch und doch anders ist die Äbersehung: „In der blauen Wassertiefe, Wo die Woge nie sich hebt. Wo die Winde ewig fremd sind. Wo die Meeresschlange lebt. Wo die Seejungfrau ihr Schilfhaar Schmückt mit bunterMuschelpracht." Wie viel einfacher ist daö Englische.

Korrespondenz zwischen $5. Dreymann und K. Schrader bis 1872. 445

Laben Sie Undine gelesen? Wenn nicht, will ich es Ihnen einmal leihen und wenn Sie auf der alten, greulichen, prosaischen Eisenbahn warten,

dann lesen Sie das Buch. Gestern morgen haben meine beiden jungen

Mädchen und ich einen langen Spaziergang nach Romkerhall gemacht, ich suchte den alten, verfallenen Fußweg durchs Okertal auf; da mußten

wir durch rieselnde Bäche gehen, über Baumstämme klettern; aber nur

so lebt man in der Natur; ich hasse Chausseen in ihr und verabscheue eure Eisenbahnen dort. Durch den vielen Regen hat das Okertal sehr gewonnen, stellenweise kommen Anklänge an die Schweiz

Ihr Gildenmeister ärgert mich aber sehr. Ich lese das schöne Gedicht von Byron: „Feie thee well, if for ever" usw. Nein, er kann das gar nicht nachempfinden. Gleich zuerst läßt er daS „du" aus. Wie ganz ver­ schieden ist es: „Lebe wohl", oder „Leb du wohl". Dann später die schöne Strophe: „Though my many faults defaced me, Could no other

arm be found, Than the onc which once embraced me To inflict a cureless wound?"

Übersetzt er so:

Wenn es recht war, daß ich büßte. Gab cs andre nicht genug. Daß die Land, die einst mich grüßte. Mir die Todeswunde schlug? Das erinnerte mich an die sentimentale Kindergartenplärrerei, wo

die Kinder sich hinstellen und die ankominende>» ansingen, und die andern winken und singend antworten: „Wir danken euch!" Nein, Gildemeister soll nur von der Übersetzung eineS Byronschen

Liebesliedes mit seinem Weh bleiben; dafür hat der gute Mann keine Empfindung. Lesen Sie doch keine Übersetzungen, wenigstens nicht ohne das Ori­

ginal. Gestern und heute sind so in Faulheit hingegangen. Ich will, ich mag das Gute, was ich habe, genießen; so habe ich geträumt in Poesie und Natur. Ich wollte Weiße lesen, es ging nicht, meine Gedanken

waren zu luftig und lose, ich konnte sie nicht zusammenfassen. Abends. So, nun bin ich wieder ordentlich; ich habe mit Äerrn Schucht und den beiden Mädchen einen Spaziergang auf den Sudmer

Berg gemacht — wir hatten eine prachtvolle Aussicht. Beim Linuntersteigen haben wir geschulmeistert und nun bin ich in meinem alten Fahr­ wasser und werde morgen etwas Reelles tun.

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Was haben Sie getrieben? Sie haben sich für da- Wohl anderer nützlich gemacht,e- ist wirklich so achtung-wert, und doch wäre eS Ihnen so gut, wenn Sie einmal von den Menschen und ihren nützlichen ®n» richtungen fort und in Muße in langen, vollen Zügen Natur trinken könnten. Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. 17. September 1870.

Sie sitzen nun in friedlicher, (wohl auch in frostiger) Einsamkeit in Oker und stärken Geist und Körper durch wissenschaftliche Erkenntnis und unmittelbare Anschauung der Natur. Gewisse Naturerscheinungen werden sich Ihnen wohl in etwa- aufdringlicherWeise bemerkbar machen; so denke ich, daß Ihnen für die Lehre von der Kälte und der Feuchtigkeit der Lust doch schwerlich die praktischen Beispiele fehlen werden, wenn nicht Oker eine ganz au-nahmsweise begünstigte Oasi- in der großen Regenwüste sein sollte. Die guten Lehren der Frau von Marenholtz in bezug auf Spazierengehen werden Sie wohl wenig beherzigen können; Sie neigen gewiß mehr dem vollständigen Gegensatze der gehenden Be. wegung in steier Luft, dem liegenden Ruhen im behaglichen Zimmer zu, und statt die Gegensätze zu vermitteln, werden Sie sich wohl dem einen Extrem hingeben, und erst nachdemSie dieses und auch denGegensatz durchgemacht haben, folgt die Vermittelung? Aber im Ernst, ich glaube, ruhiges Studieren im Zimmer ist Ihnen, da Sie noch immer erkältet sind, besser, al- vieles ümhergehen im Freien. Wie Sie sich in Oker eingerichtet haben, d. h. in bezug auf Ihre Studien, schreiben Sie mir wohl. Wenn Sie wirklich nach Dresden gehen, also etwa 14 Tage in Oker bleiben können, so scheint mir au- den chemischen Studien nicht ganz viel werden zu können, wenn nicht Ihr Lehrer die für einen Praktiker nicht häufige Fertigkeit hat, Ihnen gute allgemeine Übersichten zu geben. Laben Sie denn Ihre beiden Begleiterinnen au- Lolland und Italien mitgenommen? Ich treibe mich in dem alten Leben umher und bin in diesen Tagen noch durch Besuch eines Schwagers und eine- reisenden Eisenbahn. Kollegen, welcher Braunschweig unter meiner Führung besichtigen wollte, besonder- in Anspruch genommen. Gestern abend kam hier ein großer Zug mit 200Verwundeten, für hiesige Lazarette bestimmt, an, viele recht elende Menschen darunter, und das Elend, welches dieser Krieg gebracht hat, zugleich aber die Verpflichtung für uns, so teuer

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872 447 erkaufte Erfolge wirklich gut zu benutzen, trat mir wieder lebendig vor die Augen. Diese Störungen haben mich verhindert, Ihnen früher zu schreiben, und auch die Aufsätze von Kohlfeld, welche ich zu lesen begonnen hatte, durchzustudieren. Sie sind sehr interessant, und ich werde sie baldmög­ lichst zu beendigen suchen, damit ich, wenn ich nach Dresden gehe, etwas näher über Kohlfelds Ansichten unterrichtet bin. Latten Sie die Auf­ sätze nicht auch angefangen? Wenn nicht, so sollten Sie es so bald als Sie es mit Ihrem jetzigen Studienplan vereinigen können, tun, zumal sie völlig an das anschließen, was K. Becker über Religion geschrieben hat. Diesem werden sie deshalb auch sehr interessant sein. Vor der philosophischen Versammlung in Dresden fürchte ich mich sehr; ich fühle mich der Art und Weise, wie sie wahrscheinlich die Sache behandeln, ziemlich fernstehend. Trotzdem werde ich, mag ich nun selbst kommen oder nicht, mich dadurch nützlich zu machen suchen, daß ich einen Entwurf zu den Statuten des deutschen Erziehungsvereines (als Teil des allgemeinen) ausarbeite, und für den Fall, daß ich nicht nach Dres­ den gehe, Ihnen oder Frau von M. zur Benutzung gebe. Jedenfalls teile ich Ihnen beiden vorher den Entwurf zur Prüfung mit. Wenn man sich in Dresden nur nicht in lange, nutzlose Redereien vertieft und darüber das vergißt, was mir wenigstens für jetzt das Nötigste zu sein scheint, nämlich eine feste Organisation unserer Sache zu geben. Dies sollte der erste Gegenstand der Verhandlungen sein, und ich glaube, man könnte damit recht gut am ersten Tage fertig werden, die späteren Tage könnten den allgemeinen Besprechungen, der Anknüp­ fung persönlicher Beziehungen und bergt gewidmet sein. Diese zu ord­ nen ist natürlich Sache der hervorragenden älteren Mitglieder des Vereins, ich werde mich nicht hineinmischen, wenn mich nicht die Um­ stände dazu drängen, aber ich werde wenigstens mir selbst darüber mög­ lichst klar zu werden suchen, damit ich, wenn es sein muß, mit meinen An­ sichten hervortreten und sie vertreten kann. Wenn nur Fichte, der ja wohl Vorsitzender ist, energisch auf Ordnung der Verhandlungen hält! Ob wohl unsereBestrebungen bald einen nennenswerten praktischen Erfolg haben? Das heißt, ob wohl der zu gründende deutsche Erziehungsverein an vielen Orten für die Sache tätige, strebsame Mitglieder findet? Roch sehe ich nicht recht ab, wie die Stimmung in Deutschland sein wird; ob man, wozu allerdings viele Anregung ist, sich stolz an die Brust schlägt und sagt: „Gott sei Dank, daß wir nicht sind wie jene Fran-

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zosen"; oder ob man sich klar macht, daß die Vorzüge, welche uns zum Siege verholfen haben, weil wesentlich auf moralischer Grundlage ruhend, nur aufrechterhalten werden können, wenn man immer weiter strebt, aber sofort verlorengehen, wenn man sich bequemen Genüssen überläßt? Kommt man zu der letzten Überzeugung, so muß man sich

konsequent durch den Erfolg des Krieges getrieben fühlen, die Eigen­ schaften, welche den Sieg gegeben haben, möglichst zu vervollkommnen und zu festigen, zumal man erwarten muß, daß auch andere Völker zu gleicher Einsicht gelangen und uns durch energischere Anstrengungen vielleicht überholen. Von dieser Überzeugung aus sollte man mehr als je die Erziehung betonen, und auf die Hoffnung, daß wenigstens die bedeutenderen Geister der Nation diesen Standpunkt teilen und andere zu sich ziehen werden, gründe ich gerade jetzt die weitere Hoffnung, daß die Bestrebungen für Fröbel besseren Boden finden als zuvor. Dieser Boden muß aber be­ arbeitet werden, und der Erfolg hängt wesentlich davon mit ab, tätige Arbeitskräfte zu gewinnen und richtig zu verwenden. Unsere Tätigkeit scheint mir für die nächste Zeit ganz vorzüglich darin bestehen zu müssen, allgemeineres Interesse für unsere Ideen zu erregen, und dazu wird man fich der Presse bedienen müssen und zwar nicht einer eigenen, philosophi­ schen oder pädagogischen allein, sondern auch der Journale und Zeitun­ gen, soweit man ihrer habhaft werden kann. Anfangs wird das fteilich nicht viel bringen, weil es uns an Kräften fehlt, aber man muß es doch im Auge behalten.

Es ist gleich 7 ühr und ich muß schließen, wenn mein Brief noch heute abend abgehen und morgen früh in Ihre Lände gelangen soll.

Bald hören Sie mehr von mir.

Mit herzlichstem Gruße

Ihr K. S.

Henriette Breymann an Karl Schrader.

Oker i. Larz. 18. September 1870. Welch schöner Sonntagmorgen! Meine beiden Mädchen find in der Kirche; sie schienen gerade keine große Lust zu haben zu gehen, aber ich wollte allein sein. Es scheint übrigens, als könnte ich meinem Schick­ sale nicht entrinnen und müßte ewig mit jungen Mädchen zusammen sein; ich bin am Ende doch gutmütig; die Kinder waren so glückselig, daß

fiaus Neu-Watzum 1865 (Turnhalle).

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 449

ich sie mitnehmen wollte, und nun mögen sie nicht wieder fort. Zuweilen ist mir auch so ein echtes Mädchengeplauder sehr angenehm; Fredy ist so ganz Natur, sie erzählt mir mit einer reizenden Naivität ihre Liebesgeschichte, die ich gleich wiedererzählen möchte; sie ist gerade so weit leichtsinnig, wie zur Anlage für ein glückliches Leben gehört, und so weit kokett, wie man es gerne einem hübschen, jungen Mädchen verzeiht. Ich halte nicht viel auf diese Tugendstücke von jungen Mädchen, die eben nur tugendhaft sind aus Armut und Mangel an Naturftische. Auch die Italienerin ist angenehm, sie ist aber eine deutsche Natur, sie hat die Stärken und Schwächen unserer Nation, innig, tief, aber langsam und träumerisch Sie irren, wenn Sie meinen, ich läge immer auf dem Sofa, die Naturgeister sind sehr zuvorkommend gegen uns, sie taffen nur nachts regnen, am Tage senden sie uns Sonnenschein. Wissen Sie, ich bin unverbesserlich, ich muß mir das Leben »er» bittern durch eine krankhaft erregbare Phantasie; wenn ich sie loswerden könnte! Wollen Sie glauben, daß ich mich geängstigt habe, weil Ihr ver­ sprochener Brief ausblieb? Ich denke so oft. Ihnen passiert ein Anglück; ich kann gar nicht glauben, daß Sie mir nicht so oder so genommen werden, und wenn das Verttauen in mir feste Wurzeln faßt, dann muß ich denken. Sie werden sterben. And dann kommen mir die entsetzlichsten Bilder vor Augen .... dann ergreift mich eine Angst, die krank macht. Sie wissen nicht, wie verwundbar ein Lerz ist, das so viel gelitten hat, wie das meine; dem immer entzogen wurde, was es ergriff. Ich habe so ost an unsere Anterredung am Mittwoch gedacht und daß ich so manches in Ihnen noch nicht verstehe. Aber, wenn ich Ihnen so offen schreibe, wie ich über Ihr Inneres denke, so nehmen Sie das nicht für eine Aufforderung, mir zu sagen, ob ich mit meiner Vermutung recht habe. Ich sehe in Ihrem Schweigen über Erlebnisse des inneren Lebens nicht im geringsten Mangel an Vertrauen. Glauben Sie mir, ich lerne mich immer mehr in Ihre Eigentümlichkeit finden, und wenn es mir zu­ weilen vorkommt, als läge etwas Anausgesprochenes, Anverstandenes noch zwischen uns, dann halte ich mich an das, was ich klar von Ihnen habe und das ist so viel für mich, so wertvoll; es wirkt so ergänzend, bil­ dend auf mein Inneres, daß ich wirklich kindlich dankbar zu Gott bin, der Sie mir geschickt in einer Zeit, wo der Boden unter meinen Füßen wankte. And wenn ich wieder körperlich kräftiger bin, quäle ich Sie auch nicht mehr mit meinen Zwangsphantasien, wie zuweilen jetzt. AllerLyschinSka, Henriette Schrader T.

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Kapitel 18:

dings denke ich zuweilen, es spinnt sich die Krankheit bei mir an, an der mein Vater gestorben sein soll; sie soll sehr erblich sein Eben fängt wirklich das schlechte Wetter hier an, doch das stört mich nicht, ich werde trotz Wind und Regen spazierengehen. Wir essen um 1 Ahr, und ich gehe vor Tisch und nachmittags mindestens eine Stunde spazieren. Ich habe zwar sehr heftige Schmerzen an einem Fuße, er war sehr geschwollen; wenn ich vielleicht doch bald lahm und blind werden soll, so will ich noch möglichst lange den freien Verkehr mit meiner ge­ liebten, treuesten Freundin, der Natur, genießen. Es würde doch schrecklich sein, durch Alter oder Krankheit an freier Bewegung gehindert zu werden I Seit gestern abend sangen meine Augen wieder an, blind zu werden; ich muß jetzt aufhören zu schreiben, ich erkenne kaum noch einen Buchstaben und fühle die Anstrengung des Schreibens

Am 19. September. Es kamen mit der Morgenpost neun Briese für mich, die zum Teil gleich beantwortet werden mußten, weil sie Pen­ sionsangelegenheiten betrafen. Mein liebes, süßes Mütterchen schreibt mir fast alle Tage, und ihre Briefe sind so ganz sie selbst. Ich höre den trauten Ton ihrer Stimme, ich sehe ihr liebes Antlitz. Meine Mutter ist ein Edelstein, ein Schatz. Wissen Sie sich Ihrer Mutter zu erinnern? Ach, es ist so traurig, daß Sie sie so früh verloren — das Reinste, Köst­ lichste auf Erden ist ein wahres, treues Mutterherz! Was hat das meiner Mutter nicht alles mit mir durchlebt l Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrer Kindheit 1 Wenn ich Sie nur erst frei wüßte von dem Leben und Treiben, welches Sie jetzt führen, nicht um Sie der Welt zu entziehen, denn Sie gehören in dieselbe, aber um sich in sich selbst zu sammeln. Auch seien Sie nicht gar zu gefällig und höflich! Wenn Sie nicht so ein Philosoph wären, wie Sie sind, so müßte diese Zeit der Anbestimmtheit Sie krank machen. And Sie mit Ihrer philosophischen Ruhe, Sie fürchten sich vor den Philosophen in Dresden? Wenn Sie nicht hingehen, gehe ich keinesfalls, ich bin dieser Ideenwimmelei herzlich satt. Ich sehe Sie an als den guten Genius, der einmal eine ordentliche Brücke schlagen kann zurWirksamkeit int Leben, und ich hoffe, Sie werden hingehen, und Sie werden sprechen; es wäre wirklich eine sehr verkehrte Löslichkeit, wenn Sie schweigen und andere unausführbare Pläne schmieden ließen. Sie sagen alles so maßvoll, daß Sie nie verletzen. Ich halte Sie für die wich­ tigste Person auf der Versammlung, ich bin dort vollständig unnütz, und wenn ich hingehe, so gehe ich nur, um Frau vonM. nicht zu erzürnen.

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872. 451 und weil es mir Freude macht, mit Ihnen allen dort zu sein. Nützen kann ich dort und in dem Stadium gar nichts. Was Ihnen als das Wichtigste in dieser Zeit erscheint, ist mir aus der Seele gesprochen; nur müssen wir auch Bildungsstätten haben, wo der Geist, den wir vertreten, rein gepflegt und der jüngeren Generation vermittelt wird, und auch da müssen bei Frauen Männer, bei Knaben Frauen tätiger eingreifen als bisher. Ich arbeite hier mit Herrn Schucht etwas sehr Gutes, alle Tage habe ich eine ganz bestimmte Stunde bei ihm; aber, wie ich das Durch­ genommene nun verwende, ist in einem Briefe schwer zu schreiben; auch höre ich in seiner Schule zu. Wenn meine Körperkraft reicht, werden meine Stunden nach den Ferien aber ordentlich werden. Wenn dieser unglückselige Krieg zu Ende wäre l Ich kann mich fitr Kriegstaten nicht begeistern, und wie wird es mit meinen Studien, wenn die Ärzte nicht

wiederkommen? Ach, wenn wir die Rezension über Stuart Mills Buch schreiben könnten; ich möchte das so gern los sein, was ich noch immer in Gedanken über diesen Gegenstand habe; ich glaube, ich weiß jetzt ganz genau das Rechte für die Frauen, aber, ob es sich öffentlich aus­ sprechen, an das Buch anknüpfen läßt? ES hängt so genau mit unsern Erziehungsbestrebungen zusammen, die wir verfolgen. Ich habe Ihr Bild und das von Stuart Mill zusammen in meiner Mappe, aber Sie sehen einander gar nicht ähnlich; ich möchte, Sie täten es. Ich habe jetzt Manfred ausgelesen; es sind prachtvolle Einzelheiten darin und die Sprache durchweg wahrhaft poetisch; aber der eigentlich geistige Inhalt spricht mich nicht an, ich kann keinen Faden verfolgen und es ist mir zu phantastisch, und die Schuld, welche Manfred sich aufgeladen, erscheint mir unpoetisch, weil eine Versündigung gegen die Natur; ich kann so etwas nicht nachdenken, noch weniger nachfühlen und mag es nicht, und deshalb läßt mich die Dichtung vollständig kalt bis auf einzelne, schöne Naturschilderungen Nun noch eine Bitte: Wollen Sie mir Steins Leben schicken? und dann legen Sie dabei Fröbels „Menschenerziehung". Kommen Sie einmal in dieser Zeit? Ich habe soeben gehört, daß H. Becker in Goslar gewählt ist; er will unter allen Umständen die Dresbettet Versammlung mitmachen.

Mit herzlichen Grüßen

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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. 21. und 22. September 1870. Ich beeile mich. Ihnen in dem beifolgenden, sauber angefertlgten Pakete die gewünschten Bücher zu übersenden. Von Frau von Dk. und ihrer Dresdener Versammlung habe ich

noch nichts vernommen, mir wäre gleich wie Ihnen eine Vertagung der Sache bis zum Frühjahr lieb, und der Sache wäre sie schwerlich schädlich, weil für jetzt das politische Interesse noch so sehr überwiegt, daß man wissenschaftliche und nur das innere Leben angehende Dinge jetzt kaum mit allgemeinem Interesse behandelt zu sehen, erwarten könnte. Indessen, wir müssen Frau von M. folgen. Leute habe ich den ersten Bogen des Neudrucks ihrer Schrift korrigiert, und diese eilige Arbeit — denn der Druck muß doch auf alle Fälle bis zum 1. Oktober fertig sein —, hat bebewirkt, daß dieser Brief erst abends geschrieben wird statt nachmittags. Sie leiden also für die Fröbelsche Sache, natürlich nur, weil Sie das Bücherpakei so viel später erhalten. Das war wohl, was ich Geschäftliches zu schreiben hatte. Nun aber meinen herzlichsten Dank für Ihre fteundlichen, lieben Briefe, die mir zu meiner größten Freude zeigen, daß Sie sich, wenn auch Ihre Leiden Sie nicht verlassen haben, doch Wohler und kräftiger fühlen. Der Hauptzweck Ihres Aufenthaltes in Oker wäre damit er­ reicht. An die chemischen Studien scheinen Sie gar nicht mehr zu denken, und mit Ausnahme Ihrer pädagogischen Studien mit Herrn Schucht werden Sie wohl nicht viel Lernstudien tteiben. Diese sind Ihnen auch augenblicklich weniger nötig als eine allseitige Erfrischung und Anregung Ihres Geistes, welche Ihnen Poesie und Natur besser geben als alles andere. Die Natur des Okettals, wenn auch keine schweizerische, paßt aber zu manchen Stellen Byronischer Poesie ganz gut. Die Gildemeistersch« Übersetzung gefällt Ihnen nicht recht. Daß sie die Tiefe und

den ganzen Reiz des Originals nicht wiedergeben kann, versteht sich, eben, weil sie Übersetzung ist und die Werke eines Dichters wiedergeben

soll, welcher tiefen Gedanken in wenigen Worten eine schöne Form zu geben weiß. Da muß die Wiedergabe in einer ftemden Sprache ost hinter dem Originale zurückbleiben und zwar meist an solchen Stellen, welche eine ganz besondere Schönheit haben. Aber Sie werden mir zugeben, daß Gildemeister den Byron ganz lesbar übersetzt, und daß gerade der Vorzug, welchen eine Übersetzung bietet, nämlich sich schneller durch ein

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis .1872. 453 größeres Stück hindurchlesen zu können, bei Byron besonders groß ist, weil dieser Dichter für jeden, der nicht der englischen Sprache ganz mäch­ tig ist und sich in den Byronischen Gedankengang leicht hineinfinden kann, ziemliche Schwierigkeiten bietet. Sie kommen durch Herrn Gilde­ meister dazu, Sachen von Byron zu lesen, welche Sie sonst nie kennen­ gelernt hätten. Lesen Sie auch den Sardanapal; wäre das Stück nicht so lang, so könnte es ein sehr gut aufführbares Bühnenstück sein, voraus­ gesetzt freilich, daß man einen Schauspieler hat, der der originellen und großartigen Hauptrolle gerecht werden kann. Durch den „seidenen" Sardanapal muß von Anfang an der große, nur durch Sorglosigkeit und Haß gegen Rauheit an der Entwicklung gehinderte, durch Schwelgerei zurückgehaltene, aber nicht erstickte Charakter durchleuchten. Leben Sie wohl, und genießen Sie die schöne Natur, nach welcher ich mich nicht minder sehne als Sie, mit Freuden.

Karl Schrader an Henriette Breymann. Braunschweig. 22. September 1870.

Auf die Frage, die Sie nach mir selbst, nach meinem innern Wesen tun, füge ich noch einiges hinzu. Sie irren sich, wenn Sie annehmen, irgendein Ereignis hätte mich plötzlich zu dem gemacht, was ich bin; eine ganz allmähliche Entwicklung, die ich ganz gut verfolgen kann, hat mich gebildet. Wahres Familienleben habe ich nie gekannt; meine Mutter ist so früh gestorben, daß ich gar nichts mehr von ihr weiß; mein Vater war eine verschlossene, wenn auch von Anlage milde Natur, und war unS Kindern schon durch seinen Beruf ziemlich fremd; erst in späteren Iahren, als ich stärker geworden war als er, den Kummer und Alter ge­ brochen hatten, trat ich ihm näher. Von meinen älteren Geschwistern war ich getrennt, Verkehr mit andern Familien hatte mein Vater gar nicht, so war ich allein auf meinen jüngeren Bruder und auf Freunde angewiesen. In diesem rein männlichen Verkehr habe ich mit Ausnahme der ersten Jahre nach meinerRückkehr von der Universität fast ausschließ­ lich gelebt. Diese Jahre bewegte ich mich in der Wolfenbüttler Gesellig, keit, die damals ganz angenehme Seiten hatte, mit ziemlich vielBehagen; ich war regelmäßiger Besucher des Klubs, tanzte und schwatzte mit den jungen Mädchen, ohne je einer ernstlich auch nur den Hof zu machen, spielte Billard, Schach und Klavier, ging mit meinen Freunden — es

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Kapitel 18:

waren die beiden Spies, Schmid-Phiseldek und W. Raabe — spazieren, hatte mit ihnen regelmäßige, höchst vergnügte Kaffeegesellschaften, in denen bald ernsthafte, wissenschaftliche Fragen besprochen, bald auch Arrangements für Bälle, musikalische Abende usw. verabredet wurden und in denen ein entsetzlicher Tabakrauch und ein dem Aneingeweihten fast unverständlicher Witz und Spott herrschte. Ost wurde auch musiziert. Dabei wurde doch ganz fleißig gearbeitet, und wir lebten mitein­ ander ganz fidel. Manche Sorge fehlte auch nicht, namentlich hatten wir von vornherein unsere gesellschaftliche Stellung gegen eine feindliche Partei zu wahren. Auf Aniversitäten hatten wir eine ganz bestimmte Parteistellung — wir waren Progrefsisten, d. h. wir gehörten Derbindungen an, welche als Prinzip Sittlichkeit und Wissenschaftlichkeit aufstellten, aber dem studentischen Wesen nicht abhold waren — andere Wolfenbüttler gehörten zu der Gegenpartei und setzten den Streit auch nach Rückkehr von der Aniverfität fort. Dadurch erhielt unsere Beteiligung an dem geselligen Leben ge­ wissermaßen einen geschäftlichen Anstrich; wir wollten in der Gesellschaft die Hauptrolle spielen und richteten danach unser Benehmen ein. Es gab manchen Kampf und Verdruß, und reines Vergnügen hatte man auch nicht. Schon nach einigen Jahren zog ich mich mehr und mehr zurück.

Mein Vater hatte keine Freude an meinem geselligen Leben, und ihm zu­ liebe blieb ich immer mehr aus dem Klub und sonstigen Gesellschaften weg .... allmählich wurde ich immer einsamer, bis ich in Braun­ schweig fast ganz ohne geselligen, d. h. Familienverkehr war, und nun in einen immer ausgedehnteren geschäftlichen Verkehr mit der Männer­ welt trat. Ein solcher Verkehr macht kalt bis ins Herz und bildet nach und nach eine Eiskruste um dasselbe, welche die innere Wärme zurückhält. Dazu kam die wenige Befriedigung, welche meine Geschäftigkeit mir brachte, das Gefühl, daß kaum irgend jemand in der Welt meiner wirklich bedurfte und mich vermißt hätte, und ich wurde immer mehr dazu gebracht, die ganze Welt mit resigniertem Auge anzusehen und mir zu sagen, daß ich eigentlich nichts mehr auf ihr zu tun hätte. Ich ließ mir das Leben gefallen, weil ich mußte, aber es gefiel mir nicht. Die Erfahrungen, welche ich in den letzten Jahren in Braunschweig in bezug auf amtliche Stellung und öffentliche Wirksamkeit machte.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 455 konnten mich — so wenig ich im allgemeinen eine pessimistische Welt-

anschauung habe — in bezug auf meine Person nur immer resignierter machen, und wären Sie nicht gewesen, ich glaube, ich hätte ganz auf­

gehört zu leben im eigentlichen Sinne und wäre eingeschlafen. Sie haben mich wieder zum Leben erweckt und mich ermutigt, weiter zu streben; nur kann ich bei der leidigen Anbestimmtheit meines Geschickes noch immer

nicht, wie ich möchte, meine künstigeWirksamkeit gestalten, und das gegen-

wärtige Treiben, aus dem ich doch noch nicht heraus kann, drückt mich zu Boden.

Es sind gottlob 1 aber nur noch wenige Monate, dann weiß ich, woran ich bin, und bis dahin will ich mich schon durchhalten. Meine ganze Entwicklung ist hiernach sehr wenig auf die gemütliche

Seite gerichtet gewesen, und ich fühle, daß ich das Versäumte schwerlich je nachholen kann. Darum werde ich mich nie an viele, an die wenigen aber um so fester anschließen und ihnen Treue bewahren, solange ich kann, d. h. solange sie von der andern Seite nicht zurückgewiesen wird.

Sie müssen mich nehmen, wie ich bin, und wie ich durch Ihre Ein­ wirkung, die weit größer ist, als Sie denken, werde; ich bin Ihr Gegen­

satz, aber wir können im Zusammenwirken die Vermittlung finden. Diesen Winter machen wir uns ernstlich an die Frauenfrage. Wol­

len wir nicht die Verständigung zwischen uns über das zu Schreibende damit beginnen, daß wir möglichst gedrängt jeder unsere Anschauung aufschreiben und uns mitteilen? Eine Broschüre über die Frauenfrage

(Erwiderung auf die Briefe von F. Lewald), von einer Frau Stromberg, habe ich behalten, um sie Ihnen gelegentlich zu geben. Neues ist

nicht gerade darin, aber es wird mit Nachdruck die Verbesserung der weiblichen Erziehung in bezug auf die Bestimmung der Frau in der

Familie betont. Wie lange bleiben Sie in Oker? Ich komme vielleicht einmal. Zum Schlüsse noch die Bitte, daß Sie sich recht in acht nehmen, wenn Sie auch etwas weniger lernen; Ihre Gesundheit ist die Äauptfache für Sie selbst und für Ihren, Sie herzlich grüßenden

K. S.

Kenriette Breymann an Karl Schrader.

Oker i. Larz. 23. September 1870. LuiSchen (Schwägerin) ist noch einmal in die Schule gegangen, Arnold hat Spielgefährten gefunden, und da will ich die freie Zeit be-

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Kapitel 18:

nutzen, Ihnen ein Wort zu sagen. Ost hatte ich in diesen Tagen so große Neigung, mich mit Ihnen zu unterhalten, aber meine Augen waren schlecht, es lagen manche GeschLstsbriefe vor, die Antwort verlangten. Wissen Sie, ich übe auch in den Ferien eine Art Seelsorge; es hängen manche arme Frauen- und Mädchenherzen an mir, und ich weiß, ich darf sie nicht vernachlässigen; dies gibt mir vielArbeit, und so mußte ich mir dieser Tage die Freude versagen, mit Ihnen eine Unterhaltung zu führen. Auch war ich bei allem Lerzensstieden sehr, sehr wehmütig ge­ stimmt, indem sich mir die Gewißheit aufdrängt, daß ich meines Vaters Krankheit habe. Wenn ich nur einen Arzt kennte, der mir die Wahrheit sagte, und zu dem ich Verttauen hätte, und den ich konsultieren könnte, ohne daß «S jemand erführe. Ganz Einbildung und Nervosität kann es nicht sein, weil sich ganz bestimmte körperliche Erscheinungen zeigen, welche auch übereinstimmen mit denen meines Vaters, als daS Übel sich

anspann. Ich danke Ihnen so von ganzem Lerzen für Ihre lieben Briefe; glauben Sie mir, seit einiger Zeit, besonders seit den Tagen, wo ich fürchtete, Sie verletzt zu haben, bin ich eine viel bessere Tochter, Schwe­ ster und Freundin geworden, als ich es je in meinem Leben war, und daß ich es mir nicht einbilde, könnte ein Brief meiner lieben, lieben Mutter beweisen; aber ich weiß es auch. Ich danke Gott, daß er mich nicht sterben ließ, ehe ich eine Erfahrung an mir selbst gemacht, die mir fehlte. Arnold hat so erheiternd auf mich gewirkt, ein so glückliches Kind ist doch etwas Wunderschönes, und wie verstehe ich immer mehr, was Jesus meinte, wenn er sprach: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen." Mit Lerrn Schucht geh« ich in Mühlen und Lütten; dann suche ich mit ihm festzustellen, was Kinder bis zum 10. Jahre wissen müssen, und danach arbeite ich nun die Entwicklung vom Kindergatten bis zu diesem Alter auS; lerne auch zugleich die Dinge selbst, weil ich eine Kindergärtnerin gründlich unterrichten muß über eine Mühle, wenn ich die Ent­ stehung des Brotes bespreche. Sie glauben nicht, wie schön es ist, die Entwicklung einer Sache durch verschiedene Altersstufen, zu verfol­ gen, wie die zatten Anfänge in der Kinderstube, im Kindergatten liegen gerade wie das Keimen eines Samenkornes. Zuerst das Ganze, der Ein­ druck, die Darstellung des Ganzen, so daß die Kinder z. B. die Mühle fühlen in dem hübschen Spiele: „Es klappett die Mühle am rauschenden Vach", und wie sie nach und nach zur Erkenntnis des einzelnen gelangen.

Korrespondenz zwischen L. Breymann u nd K. Schrader biS 1872. 457

wie das Samenkorn allmählich sich teilt und verzweigt durch Einsaugung in den heimatlichen Boden. Wollen Sie wohl glauben, daß ich selbst anfange zu lernen wie das Kind? Ach, schwer büße ich jetzt meine frühere Faulheit—es überwältigt mich, was ich alles in mir tragen muß, um es zu beherrschen, damit es einfach wird, wie der Kindergeist; darum schwanke ich immer zwischen dem mich Schonen und strengem Arbeiten. Ich werde nur zufrieden sein, wenn ich noch etwas Ordentliches leiste, vor dem ich selbst Respekt haben kann, sonst will ich viel lieber sterben. Ich jammere auch nicht mehr nach vielen Schülerinnen, sondern nach dem Bewußtsein, einer etwas Positives zu geben, was zugleich durchdrungen ist von dem heiligen Geist der Liebe und Begeisterung. Still arbeiten, still leben und still lieben im Reiche der Meinen; junge, bildungsfähige Seelen zu haben, die den Geist in sich ausnehmen, der geläuterter in mir lebt — das, das erbitte ich von Gott. Ich fürchte mich vor Ereignissen, ich bin noch nicht fest im Glauben an das Wort: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum besten dienen". Drei Dinge stehen einem so festen Glaubensleben, wie ich es mir wünsche, im Wege: Einmal hat man mich gelehrt, an Götzen zu glauben, anstatt an den heiligen Geist; zweitens ist der natürliche Glaube meines Kerzens, als es jung war, mit Füßen getreten; drittens endlich ist ein Stück Welt in mir selbst, das zwischen dem so friedvollen Zustande sich befindet. So oft höre ich innerlich die Worte von Faust: „Die Worte hör' ich wohl. Allein mir fehlt der Glaube." Wir wollen bei dem herrlichen Wetter einen längeren Spaziergang

machen. Leben Sie wohl und haben Sie lieb Ihre

S). B.

Später. O, wie schön ist das Wetter I Könnten Sie es doch einmal in der Natur genießen; könnte ich nur etwas tun, den Druck Ihres jetzi­

gen Leben- von Ihnen zu nehmen, aber wenn Sie ihm zu unterliegen drohen, wie Sie schreiben, dann denken Sie, daß eine Land die Ihre faßt und hält, die nur durch Sie Kraft bekommen, noch segnend zu wir­

ken, wenn es Gottes Wille ist. Ich kann mich nicht so voll und rein an der schönen Natur freuen, so lange ich Sie unter dem Drucke weiß, bitte, erzählen Sie mir nur alles, viel von Ihrem eigenen Leben, das ist mir das Liebste Was Sie von meinen Arbeiten sagen, ist leider wahr, aber ich habe keinen Menschen, der mir Hilst, oder, wenn er die Kenntnisse besitzt, die

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Kapitel 18:

Idee verstände, die ich verfolge und die so richtig ist, das weiß ich. Ich habe nämlich einen ganz eigentümlichen Plan*) für Studien, Unterricht und Erlebnisse der Kinder; ich kann Ihnen aber den Plan nur mündlich mitteilen, und leider habe ich noch nie die engen Grenzen meiner Kraft erfahren, wie jetzt; was soll ich tun? Soll ich immer mehr persönliche Beziehungen fallen lassen und mich fürs Lernen abschließen? Ich kann jetzt lernen, nichts ist mir zu trocken, ja, selbst das mir Schrecklichste kann ich lernen —Rechnen. Wenn ich mich aber meinen Studien ganz widme, so muß ich viele Beziehungen zu früheren Pensionärinnen fallen lassen. Sie können wohl berechnen, wie groß und immer größer der Kreis wird, der meinem Geiste näher tritt; ich schreibe nicht allen, aber ich fühle wohl heraus, wer meiner bedarf. Nun kann ich nicht bis in die Nacht hinein arbeiten, dann bringt eine große Familie wirklich viel Arbeit, wenn man die Fäden pflegen will; ach, und ich weiß es, ein liebes Wort, eine kleine Hilfe und Freude zu rechter Zeit tun oft Großes im Innern. Da stehe ich nun zwischen all der Arbeit und weiß nicht recht, wohin ich mich wenden soll; egoistisch bin ich natürlich dabei auch, Ihnen muß ich schreiben, ich kann diese Freude nicht entbehren. Wie manche Stunde habe ich schon durch Briefeschreiben hier verloren, und außer an Sie und die Mutter habe ich keinen zu meiner eigenst persönlichen Freude ge­ schrieben; dann kam Arnold, der liebe Junge, und erst waren die jungen Mädchen hier, jetzt kommt Annette und gestern war Waldemar Bethmann hier, und seine Mutter bedarf so vieler Teilnahme; sehen Sie, ich kann die Menschen nicht verlassen, denen ich wohltun kann. And wie wird es mit Ihrem Kommen? Sie müssen sich einen Tag frei machen und mit mir in der schönen Natur verleben

Karl Schrader an Kenriette Breymann. Braunschweig. 25. September 1870.

Wie beneide ich Sie, daß Sie den heutigen, prachtvollen Tag in der schönen Äarznatur verleben können; ich liebe den Kerbst sehr, die Luft an einem schönen Herbsttage ist so rein und klar, und man fühlt sich in ihr so leicht. Dazu die wechselnden Farben der Bäume, wodurch eine so viel reichere Beleuchtung der Waldlandschaft bewirkt wird.

*) Die Konzentration des Interesses auf einen Mittelpunkt, dessen Lebensbeziehungen nach verschiedenen Seiten hin verfolgt werden.

Korrespondenz zwischen $5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 459 Wie gern hätte ich diesen Tag mit Ihnen verlebt; aber es ging

nicht .... ich habe Dienst bei den Verwundetenzügen und sitze, statt

im Karze, jetzt am schönsten Nachmittage auf meinem Dwektionszimmer und werfe nur zuweilen einen bedauernden Blick auf die lustwandelnden Menschen auf dem Bahnhöfe. Aber ich freue mich doch des schönen Wetters in dem Gedanken,

daß Sie es genießen, und ich hoffe, daß es Ihre angegriffenen Nerven

so stärken wird, daß Sie die trüben Gedanken, welche vorige Woche Sw geplagt haben, wieder vergeffen. Ich glaube, Sie sind etwas Hypochonder geworden. Sie fühlen in sich das Bedürfnis, noch etwas Ordentliches zu

leisten, und Sie haben sich überzeugt, daß Sie es geistig können, und Sie

fürchten nun, daß Ihre Körperkräfte nicht dazu genügen. Das macht Sie auf jede körperliche Erscheinung so aufmerksam, daß Ihnen früher

gar nicht beachtete Dinge jetzt auffallen, und daß Sie dieselben so lange

kombinieren, bis sie Ihnen die gefürchteten Tatsachen fest zu beweisen

scheinen. Versäumen Sie, bitte, keine Sorge, welche Sie für Ihre Ge­ sundheit nehmen können, aber dann tun Sie, was die Ärzte Ihnen sagen,

dann denken Sie sich nicht Gefahren, welche nicht existieren. Sie können sicher darauf rechnen, wenn es gutes Wetter bleibt, daß die Familie Schrader-Wolfenbüttel eines schönen Tages bei Ihnen ein­ rückt; ob die Familie Schrader-Braunschweig mit, weiß ich noch nicht;

ich kann an einem Sonntage nie, weil ich an diesen! Tage immer Dienst bei den Verwundetenzügen habe und mich schwerlich vertreten lassen

kann; vielleicht aber an einem Wochentage mit dem Mittagszuge, ich kann nicht früher abkommen. Jedenfalls schreibe ich vorher.

Ihre jetzigen Studien, wenn ich die Andeutungen in Ihrem letzten Briefe recht verstanden habe, sind hauptsächlich pädagogischer Natur: Sie suchen sich völlig sicher zu sein, was und wie Kinder bis zum zehnten Jahre gelehrt werden müssen und wollen sich in den Stand setzen, nicht

bloß selbst solche Kinder zu lehren, sondern auch, und vorzüglich, den

Lehrerinnen alles zu geben, dessen sie bedürfen, um diesen Unterricht zu übernehmen. Verlangen Sie nicht zu viel von sich? oder geht Ihre Ab­

sicht nicht so weit? Was Sie jetzt von den Büchern, die Sie haben, lesen, schreiben Sie nicht. Steins Leben ist Ihnen vielleicht nicht ganz ansprechend; ich habe

das Buch vor zu langer Zeit gelesen, um jetzt noch genau von ihm Bescheid zu wissen; ich glaube aber, der Mensch Stein tritt in dieser Bio­

graphie zu viel hinter dem öffentlichen Charakter zurück — selbst für die

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Kapitel 18:

Biographie eines Staatsmannes zu viel zurück. Aber Sie werden doch finden, daß Stein ein großer Charakter — weit größer als z. B. Matthy —, ein wahrer Edelmann mit allen starken Seiten und auch manchen Schwächen gewesen, und daß er seiner Zeit in seinen politischen Ideen weit voraufgeeilt ist. Er war ein Idealist, aber von großer, praktischer Begabung, er vermittelte in sich die Richtungen von Leuten wie Fichte, Schleiermacher, Humboldt mit dem ganz praktischen Wirken, ja, selbst dem Detailwirken des Geschäftsmannes mit einem rein praktischen Sinne. Noch jetzt kann Deutschland in vielen Beziehungen nicht besser tun, als Steins Ideen wiederaufzunehmen, und es ist nicht zu viel gesagt, daß ein sehr großer Teil des seit 1807 gemachten Fortschritts der inneren Entwicklung unmittelbar und mittelbar ihm zu danken ist. Wieviel größer ist doch Stein als Bismarck, welcher fast nur für äußerePolitikVerständnis zeigt, und welcher die inneren, dasMenschenund Staatsleben bewegenden Kräfte gar nicht kennt und deshalb im­ stande sein mag, ein kräftiges Volk zu glücklichen Siegen zu führen, schwerlich aber ein besiegtes wiederaufzurichten. Ich möchte nicht, daß in den nächsten 20 Jahren Bismarck, oder ein Mann wie er, das Regiment in Deutschland führte. Wenn nur erst von unserer hohen Herrin im Fröbelreiche etwas verlautete, damit man wüßte, ob und wann unsere Zusammenkunft zu­ stande kommt; ich wünsche den Aufschub bis zum Frühjahr sehr, damit wir unter uns noch klarer werden, und vielleicht noch mit einigen der Freunde der Frau von M. Verbindungen anknüpfen könnten, die uns über ihre wahren Absichten und Meinungen besser belehrten, als dies wahrscheinlich Frau von M. getan hat, die sich leicht über die Leute täuscht. Ohne gehörige Vorbereitung werden die Pläne von Frau v.M. leicht scheitern. Adieu mit herzlichem Gruß, Ihr & (_

Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 8. Ottober 1870. Sie und Ihre Mutter haben mir eine große Freude durch Ihr gestriges Geschenk bereitet, das mir zeigte, wie Sie meiner fteundlich gedacht haben; noch größere Freude haben Sie mir durch den Brief gemacht, welchen ich heute erhalten habe. Er beruhigt mich über Ihr Befinden, das mir wirklich Sorge bereitet .... Seien Sie nur dem

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 461 Arzte folgsam, damit Sie mit frischen Körper» wie Geisteskräften Ihre neue Tätigkeit beginnen können. Könnte ich das nur bald von mir sagen! Mich plagt die An­ entschiedenheit meines Geschickes deshalb so sehr, weil sie mir alle Nei­ gung raubt, irgend etwas ernsthaft zu beginnen oder auch nur fortzu»

führen. Wunderbar, daß uns beiden das gleiche begegnen muß; Ihnen ist in der Schloßanstalt die Anstalt entzogen, auf welche Sie Ihre LauptHoffnungen setzten, mir nimmt man meine amtliche Tätigkeit, und wir müssen uns beide einen Boden zu neuem Wirken erst schaffen. Ihnen ist es im gewissen Sinne gelungen; Sie sind sich klar über den Anfang und die Art einer neuen Tätigkeit, welche Sie innerlich durch die voran­ gegangenen Kämpfe gereinigt und gestärkt jetzt schon beginnen; ich bin noch nicht so weit, und, was ich dabei am schwersten empfinde, das ist, daß bei mir diese innere Läuterung sich noch nicht vollzogen hat. Ich weiß sehr wohl, wie ich handeln sollte und den meisten scheint auch, daß ich so handele, aber es ist nicht der Fall. Wer, wie ich es nun einmal getan habe, sich mit Aufopferung anderer Dinge einer öffentlichen Tä­ tigkeit gewidmet hat und dabei von dem gewöhnlichen Ehrgeize frei ist, kann sich nur befriedigt fühlen, wenn sein Wirken nicht Ausfluß persön­ licher Neigung, sondern eines aus wahrer Nächstenliebe und Religion hervorgehenden Pflichtgefühles ist. Nur dann wirkt er nicht bloß in die Breit«, sondern auch in die Tiefe, nur dann nicht vorübergehend, son­ dern dauernd, und nur dann kann ihn Mißerfolg und Verkennung nicht entmutigen. Aber ich sehe ein und bekenne es Ihnen offen, daß es gerade in dieser Beziehung bei mir gefehlt hat und noch fehlt; theoretisch weiß ich alles, aber es wird noch nicht, so wie es sollte, praktisch in mir. Das ist Folge meiner ftüheren Entwicklung und des Umstandes, daß ich bis auf Sie keinen Menschen gefunden habe, dessen öffentliches Wirken nicht von den allergewöhnlichsten Motiven eingegeben war; ich interessierte mich auch nur für das allgemeine Wohl, weil es mir Vergnügen machte, die meisten andern Menschen, mit denen ich zusammen kam, eines äußeren Vorteils halber. Erft Ihrem Beispiel und Ihrer Freundschaft verdanke ich bessere Einsicht und vorzüglich den Entschluß, auch nach ihr zu handeln, aber es wird mir schwer, das Werk manches Jahres so bald zu zerstören. Wenn Sie mir helfen, hoffe ich weiterzukommen; ich habe auch jetzt wieder

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Kapitel 18:

Zutrauen zu mir, obgleich mir gerade in dieser Zeit immer wieder gezeigt wird, wohin meine Art zu sein und mich zu geben, führt .... Lassen Sie uns einander sicher und treu sein, und ich verspreche Ihnen gern noch ausdrücklich (was sich eigentlich von selbst versteht), daß ich, wenn sich etwas zwischen uns stellen sollte, auch darüber sogleich gegen Sie offen sein werde. Legen Sie mein Schweigen niemals als aus solchen Motiven hervorgehend aus; ich bin jetzt nicht selten solcher Laune, daß ich nicht gern Ihnen schreibe, und oft bin ich gerade um die Zeit, wo ich Ihnen schreiben wollte, anderweit in Anspruch genommen. Dies soll nun auch meinerseits die letzte Klage gegen Sie sein, nicht, daß ich nicht klagen würde, wenn ich das Bedürfnis fühlte, aber ich hoffe, daß ich dahin kommen werde, mich und mein Wirken immer mehr so zu gestalten, wie es sein sollte, und wie ich es möchte. Auch ich fühle, daß ich vieles nachzuholen habe, und daß ernste Arbeit in jederRichtung mir nötig ist. Wenn ich in nächster Woche komme, so erzählen Sie mir noch von Ihrem neuen Anterrichtsplane, ich kann Ihnen dagegen noch von Frau von Marenholtz manches sagen. Nicht wahr, jetzt hat man Sie immer bei der Mutter zu suchen? Ich freue mich sehr darauf, sie nun auch mehr kennenzulernen, als bei unsern bisherigen Begegnungen möglich war. Danken Sie ihr doch in meinem Namen recht herzlich für die Schachtel, und leben Sie recht wohl. Seien Sie recht faul, damit ich Sie wohl und munter treffe. Ihr

K. S.

Äenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 9. Oktober 1870.

Niemand kann wohl besser nachfühlen als ich, wie drückend und zum Tode ermüdend Ihr jetziges Leben ist, und mit innerer Sorge sehe ich der Entwicklung der Dinge entgegen. Soweit ich Sie jetzt kenne, denke ich, Sie müßten mindestens ein Jahr einmal vollständig sich selbst leben, aber dann wieder zur Eisenbahndirektion zurückkehren. Ich meine damit, Sie sind fürs öffentliche Leben geschaffen, und die Menschen haben zu jemandem, der in rein praktischen Dingen Tüchtiges leistet, auch Vertrauen, wenn er ideale Bestrebungen zu fördern sucht. Auch müßten doch die vielen Arbeiten, die Sie in der Eisenbahnlaufbahn gemacht haben, noch ein äußeres Ziel erreichen? Erlauben Ihre Privatverhältniffe nicht, ein-

Korrespondenz zwischen A. Breymann und K. Schrader bis 1872. 463

mal eine Zeitlang ganz für sich zu leben? Würde es Schwierigkeiten mit

sich bringen, wieder in die Eisenbahnverwaltung zu treten? Wohl wür» den Sie dann nicht in B. bleiben, aber das innere Ziel muß den äußeren

Boden bestimmen. Ich würde mich in alles finden, was zu der möglichst freien vollkommenen Entwicklung Ihres Wesens und der daraus hervor»

gehenden Wirksamkeit für die Welt notwendig ist. Der innere, von der Natur des Individuums bestimmte Beruf ist des Mannes Schicksal; keine persönliche Liebe, keine Annehmlichkeit des Lebens kann dem wah»

ren, echten Manne Ersah oder Trost geben, wenn er seinen eigentlichen

Beruf verfehlt, und wie viele haben dieses Schicksal, weil die Eltern, die Mütter so wenig des Knaben, des Mannes Natur verstehen; darum

geraten so viele auf Abwege, andere verdorren. Ach, ich weiß das, wir können nicht wider die Natur, aber durch sie hindurch zum geistigen

Leben. And was die innere Erneuerung Ihres Wesens betrifft, so müssen Sie ja Geduld mit sich selbst haben; auch das weiß ich, wie notwendig es ist, um nicht mutlos zu werden. Ich glaube nicht, daß man sich durch einen gewaltigen Schritt umbilden kann, das wird nur langsam, und ich hoffe, Sie werden mich lieb genug haben, um mir auch vorzuklagen,

wenn der Mißmut Sie erfaßt, denn er wird noch öfter über Sie kommen.

Dinge, die wir im Innern überwunden haben, hängen uns lange nach

durch Gewohnheit, und die Konsequenzen unserer Art und Weise zu

sein folgen uns nach, wenn wir längst anders geworden sind. Man muß alles in der natürlichen Entwicklung erkennen, um nicht mutlos zu

werden. Denken Sie sich, ich bin so kühn zu glauben, daß, wenn Sie sich nach

und nach uns innerlich nähern, wenn Sie sich selbst erlauben, Einfluß über die eine oder die andere Persönlichkeit unseres Kreises zu üben; wenn Sie mit teilnehmen an den Freuden und Leiden der Meinen — kurz, wenn Sie reicher und reicher werden am Nehmen und Geben von persönlichem Interesse, daß ein warmes Gefühl für die Menschheit

von selbst Ihr Inneres durchdringt. Sie werden schon bemerkt haben,

wie meine Familie unser Freundschaftsverhältnis als selbstverständlich ausfaßt; sie haben doch die Fähigkeit und Freiheit des Geistes, die

Innerlichkeit, die wir in Anspruch nehmen, zu begreifen. And meine

Mutter — nun, ich will nichts mehr über sie sagen — sie vereint mit der Größe der Natur eine Anspruchslosigkeit und eine Anscheinbarkeit nach außen, die sich wohl nicht leicht zweimal wieder zusammenfindet in einer

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Kapitel 18:

Person. In der Intimität des Lerzens stehe ich noch mit Annette Schepel und Mary LyschinSka, von denen ich Ihnen wohl ost gesprochen; sie nehmen teil an meinem innern Leben, also auch an unserer Freund­ schaft, und sie verstehen ein solches Verhältnis so ganz; sie verstehen, wie

im Reiche der Geister — Familien sich bilden, wie unabhängig von Banden des Blutes — wie ja Mary und Annette wirklich meine Kinder sind. Ich habe auch alle diese Beziehungen nur höher und schöner erfaßt, seitdem ich Sie kenne. Ich weiß auch jetzt, daß, wenn Sie sich einmal

verheiraten, was ich ja wünschen muß, Sie nur eine Frau wählen können, die geistesverwandt mit mir ist, die mich lieben wird, die ich lieben kann,

und wenn Sie Ihres Lebens vollständige Erfiillung finden, wird mir die Geistesverklärung werden — doch davon wollen wir jetzt nicht reden, jetzt wird es noch nicht sein; aber Sie müssen mich nicht eines Egoismus

fähig halten, den ich mir selbst nie vergeben könnte. Wir lassen uns aber

die Freude unserer Freundschaft nicht unterdes verkümmern, was die Welt auch darüber sagt; ich mache mir über sie keine Illusionen mehr,

und namentlich wird mich ihr Neid und Mißgunst treffen; so wie man den Mut haben muß, zu entsagen, wo das innere Gottesgesetz uns dies auferlegt, so muß man den Mut haben, zu genießen, wo der Genuß nur erwärmend und veredelnd auf unser Sein und Wesen wirkt. Warum soll man geizen mit der Liebe, die rein beglückt, ohne irgendwo zu beeinttäch. tigen? Man beglückt viel zu wenig, man versteht nicht zu leben im

innersten Sinne des Wottes. Die Welt, die Schleiermacher in seinen Monologen vor uns aufschließt, ist doch wunderbar schön, und wenn die

Subjektivität und Individualität, deren voller Entfaltung er das Wott

redet, sich vollständig unterordnet unter „das höhere Dritte", wie es Fröbel nennt, so entgeht man der Gefahr, beeinträchtigend in die Rechte

anderer einzugreifen und kann unverkümmert am eigenen Selbst in Reichtum und Fülle desselben dem andern geben, für ihn leben. Lenriette Breymann an Karl Schrader.

Reu-Wahum. 11. bis 13. Oktober 1870. Lier bei der Mutter ist es himmlisch; ich bin noch nicht im großen Lause gewesen, morgen darf ich wieder ausgehen. Ich habe jetzt Lust, faul zu sein und bin oft zweifelhaft, ob ich faul oder müde bin. Ich habe

das Gefühl, als hätte ich lange in einem Boden gestanden, der hart und kalt war, und wäre wieder in ein Erdreich gestanzt, in dem ich die Nahrung

finde, der ich bedarf.

Korrespondenz zwischen $5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 465

Neulich hatte ich einen Brief von Mary, sie schreibt unter anderm: „Köre einmal, ich habe eine Bitte an Dich, nämlich, daß Du mir das

Bild des Lerrn Assessors schickst. Sieht der Lerr A. im Katholizismus den Grund von Frankreichs Verfall? Überhaupt sage mir hierüber etwas, es interessiert mich aufs höchste, besonders da ich gerade aus dem Lande komme." Also, schicken oder bringen Sie mir ein Bild für Mary; das

müssen Sie. Mit einem gewissen Widerwillen gehe ich immer an Lektüre über

die Frauentag«. Leute kam mir die Broschüre von Mathilde Reichardt-

Sttomberg in die Land, und heute wollte ich sie nicht ungelesen wieder weglegen. Wie schade, daß so vielWahreS und Gutes, was in dem Buche

gesagt ist, mehr von Stolz, ja Lochmut als von Liebe diktiert zu sein scheint, und zwar vom Lochmut des Glücks.... And doch, ich

fürchte, ich wäre ebenso geworden wie diese Art Frauen, wenn ich

früh ein selbsteigenes Familienglück gefunden; darum bin ich ganz ausgesöhnt, daß ich zu menschlichen Geschöpfen gehöre, „die in der großen

Kette des Lebens wie ausgelöste Glieder sind und dem ersten und höchsten

Naturgesetze gegenüber als unvollendet dastehen", wie Frau Mathilde die unverheirateten Frauen bezeichnet. Denn, wie stark in mir das Be­ dürfnis nach persönlichem Glück stets gewesen ist, daneben war ebenso stark das Bedürfnis, Anglücklichen zu helfen; helfen tut man nur durch

tief eingehendes Verständnis und Interesse; Liebe, solche Liebe macht

immer demütig; die Lerablassung, die Liebe sein soll, tut viel weher als die Nichtbeachtung: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und be­ laden seid, ich will euch erquicken", sagt IesuS, von ihm müssen, können wir lieben lernen, wenn wir sein großes, menschlich-göttliches Lerz ver­

stehen. Frau Mathilde nennt das Vorhandensein vieler unverheirateter Frauen eine Krankheitserscheinung unseres Kulturzustandes und ver-

gleicht sie mit krankhaften Ablagerungen, die durch gestörten Blutum­ lauf erzeugt sind. Bis zu einem gewissen Grade hat Frau M. recht, aber

sie hat wiederum nur halb recht. Ich glaube, daß, soviel Krankhaftes unsere sozialen Verhältnisse auch haben, dieses dazu dienen kann, in das

eigentlich geistige Wesen der Ding« einzugehen, es ans Licht zu ziehen und dessen Lerrschast vorzubereiten .... Bitte lassen Sie uns die

M. St. und „Die Lörigkeit der Frau" zusammen lesen, und dann unsere Arbeit anfangen; ich muß die Sache los sein, sie hindert mich an anderer, freier Tätigkeit. Die Frauenemanzipation ist keine für sich stehende

Frage, sie führt zurück auf die Grundlagen des Christentums und der Lyschlntk», Henriette Schrader I.

SO

466

Kapitel 18:

Vermaterialisierung des Christentums durch die Kirche. 3. B. weil der Stoff vergeistigt werden sollte, so meinte die Kirche, man müsse sich von ihm trennen, ihn zurückweisen (Mittelalter, Klöster). Man belog sich in bezug auf die Vergeistigung und Leiligkeit furchtbar; Luther, der sehr wahr war, und die Sinnlichkeit nicht leugnete, nannte sie eine „Schwäche" und hielt sie für den Teil des gefallenen Menschen; lesen Sie einmal Luther von Freytag. Diese Ansicht geht noch durch alle protestantischen Kirchen und dadurch entsteht die furchtbarste Lüge und Annatur. Dieser entspringt wieder die Sehnsucht nach dem Rechten, nach der Aufhebung des Dualismus, ohne in den Materialismus zu verfallen. Wir müssen die Sinnlichkeit als solche ihrer „Sündhaftigkeit" und „Schwäche" entkleiden, sie ist unsere Natur, sie ist ja unser Bildungs­ stoff; wir sollen doch nicht etwa den Schöpfer korrigieren wollen? Ist es nicht Sinnlichkeit, wenn eine Mutter mit stiller Freude ihren Kindern eine Lieblingsspeise bereitet, und diese sich so wohl und so glücklich bei dem kleinen Mahle fühlen? Ist es nicht Sinnlichkeit, wenn man das Be­ streben hat, auch den einfachsten Dingen im Laus« eine harmonische, schöne Zusammenstellung zu geben? Ist es nicht Sinnlichkeit, wenn man ein geliebtes Kind, überhaupt eine geliebte Persönlichkeit in seine Arme schließt, an sein Lerz drückt? Ja, es ist Sinnlichkeit, aber wer kann daS Schwäche nennen? Die Schwäche liegt in der Sinnlichkeit ohne Geist, ohne Gewissen; wenn ich mich nicht in jeder zärtlichen Lingabe an eine geliebte Persönlichkeit zugleich liebend in Gott und der Welt fühlen kann, so ist der Dualismus da und somit die Sünde. Es ist keine Kleinigkeit, sich durch alles Abgelebte, Annatürliche, Verdrehte auf den einfachen, natürlichen Standpunkt zu stellen, auf das Arsprüngliche zurückzugehen; entkleiden wir die Dinge vorerst der Lüge, alles andere findet sich von selbst, jedenfalls wird es leichter, das Rechte zu treffen. Sie meinten gestern, Frau Mathilde wolle, was ich wolle; ich will das und noch viel mehr als sie. Ich will den Frauen das Verständnis geben für dasWesen derDinge, sie zu Trägerinnen des Geistes in der Natur machen, wohlverstanden, den verschiedenen Altersstufen und Ständen Rechnung tragend, wie es auch die Natur tut; erst regt sich der Keim, dann die Knospe, bis die volle Blüte erscheint, welche gesunde Frucht trägt. Somit ist die Frau des Volkes nur eine unentwickelte Stufe desselben Stammes. Die natürliche Ehe, die natürliche Mütterlichkeii soll stets der schönste, glücklichste Durchgangspunkt, aber eben

Korrespondenz zwischen L. Breymann und K. Schrader bis 1872. 467 nicht der einzige Zielpunkt sein. Was will Frau M. mit den Mädchen

anfangen, die nun erzogen sind nach ihrer Weise und nicht heiraten? Ich könnte ihr Wort in vielen Dingen gegen sie kehren, indem sie sagt: „Ich kann nicht stolz sein auf etwas, bei dem mir das Lerz weh tut" . . . Ich will den Geist der Ehe, den Geist der Mütterlichkeit; wie viele

Frauen leben in Geistesehe mit ihren Männern? Wie viele Mütter

geben ihren Kindern geistiges Leben neben den physischen? Es ist immer eine nicht zu leugnende Traurigkeit, wenn man nicht verheiratet ist, wenn man keine eigenen Kinder hat; aber wenn man Amschau im Kreise

seiner Bekannten hält, mit wem möcht« man tauschen? Ich finde fast

durchgängig, daß die Ehe lähmend gewirkt hat. Es gehört ein sehr starker, klarer Geist, eine wunderbar kräftige Liebe dazu, wenn die An­

vollkommenheiten des irdischen Lebens, die anderseits nirgends stärker austreten als in der Ehe, nicht lähmend wirken. Wieviel mehr Kraft gebraucht der Mann, aus Aberzeugungstreue zu handeln, wenn er für Frau und Kinder Brot schaffen soll I Wieviel mehr Geistesstärke ge­

braucht die Frau, wenn sie unter den wiederkehrenden Kleinigkeiten, unter Körperschmerzen und Plagen, ihren Geist mit den Kindern weiter­ bilden will! Wie leicht läßt die Ermattung des Körpers die Bequemlichkeit des Geistes nachfolgen, und was hilft ihr alle Bildung, wenn

nicht eines voranging: Verständnis für die Kindesnatur, für die not­ wendige Verarbeitung des Stofflichen, Sinnlichen in der Erziehung?

Aber wir müssen ihr die Mittel reichen, damit sie das Stoffliche beherrscht und verwandeln kann bei der Erziehung ihrer Kinder. Wenn die Frau

die geistige Mütterlichkeit sich errungen, dann ist sie frei; d. h. sie erfaßt das Leben groß, sie sieht die Gegenwart mit der Zukunft im Zusammen­

hänge, und wenn sie nicht in derEhe steht, wenn sie keine leiblichen Kin­

der geboren hat, so ist sie doch nicht als ein „ausgelöstes Glied der Kette der Menschheit" zu betrachten. Wir Frauen bleiben eben Frauen, wenn wir persönlich Liebe geben, Liebe wecken; aber damit wir bei aller Per­ sönlichkeit ftei werden, brauchen wir die Wissenschaft, die Kunst, nicht um ihrer selbst willen, sondern um sie wieder persönlich zu verwenden.

Wir müssen uns alle fühlen als Mütter der Menschheit, als Teil des

weiblichen Prinzips, das dem männlichen Wirken für das große Ganze seine Ergänzung gibt. Der freiere, geistige Verkehr der Geschlechter wird

auch so ungemein fördernd wirken, wie man das jetzt kaum ahnen kann,

somit kann man gar nicht wissen, wie die äußere Wirksamkeit der Frauen für spätere Zeiten sich gestaltet. Wir müssen unsern lieben Stuart Mill

30*

468

Kapitel 18:

zum Verständnis zu bringen suchen, er ist eine reine, wahre, großartige Seele, und solche tun not in unserer Zeit. Die Hauptsache aber ist,Boden

zu schaffe»», daß sich die Natur der Frau entfalten und vergeistigen und

somit befreien kann Ich will Ihnen etwas sagen, wenn Sie erst in Ruhe sind, könnten

Sie eigentlich hier Stunden geben; bei Lehrern von Fach habe ich mich nun halb tot gequält und geärgert, nun will ich es mit Menschen wie Sie

versuchen; Hermann Becker könnte es auch versuchen und Herr Schucht; Herr Fricke ist ausgezeichnet .... Ja, ja, Sie müssen Stunde geben,

es wird schon gehen. Suchen Sie etwas aus, was inS Nationalökono­ mische schlägt; oder wie wäre es, wenn man die Geschichte deS BroteS finden könnte? Sie können glauben, die Art und Weise be-ünterrichte-*,

wie sie mir vorschwebt, wirkt ungemein vorbildend zur Aufhebung deS Dualismus und gibt für alle Stufen den Abschluß. Aber, wenn mir

nicht ordentliche Männer helfen wollen, so muß ich gewiß an dem Ge­ danken sterben. Noch etwas: Ehe ich die Methode irgendeines Zweiges lehre, muß ich [ben Erwachsenen) einen Überblick über die Geschichte des

ZweigeS geben; lesen Sie im Buche der Erfindungen die Geschichte des Schreiben- und Lesen-, und Sie werden sofort die Fröbelsche Methode verstehen in bezug auf diesen Zweig.

.

Leben Sie wohl für heute.

Karl Schrader an Henriette Breymann.

Braunschweig. 15. Oktober 1870. Sie haben mir gesagt, Sie müßten am Sonntag «inenBrief von

mir haben und aus angeborenem Widerspruchsgeist« möchte ich gerade

dieses Mal nicht schreiben; ich könnte Ihnen erwidern, kein Mensch müsse müssen und mich durch diese Phrase gegen Sie decken; ich behalte

es mir auch vor, aber heute will ich noch einmal gut sein, natürlich sine praejudicio, d. h. ohne daß Sie daraus für zukünftige Fälle eine An­ erkennung meiner Verpflichtung folgern dürsten und nur deshalb, weil

ich mich doch für di« schönen Stunden verpflichten muß, welche ich Donnerstag mit Ihnen und Ihrer Mutter verlebt habe. Es war da­

erstemal, daß wir un- ruhig über alle-, wa- un- interessierte, a«-•) Das Prinzip der Einheitlichkeit auf ben Unterricht berErwachsenen wird hier angebeutet in bezug auf ben kulturgeschichtlichen Unterricht.

Korrespondenz zwischen L. Breymann und St. Schrader bis 1872. 469 sprechen konnten, ohne gestört zu sein, und ich habe das klein« KauS Ihrer Mutter jetzt viel lieber als Ihr großes Neuwatzum.

Sie haben recht, wenn Sie meinen, wir sollten die schön« Zeit nicht

blos zum Schwatzen, sondern auch dazu benutzen, zusammen zu lesen und zunächst Stuart Mill; ich bringe ihn deshalb das nächste Mal mit, und wir können dann wohl auch ein Stück in unserem gemeinsamen Pro-

jette über die Frauenfrage weiterkommen; meine Ansichten notiere ich jetzt schon. Damit ich aber wiederkommen kann, was doch nicht mehr in

den Ferien geschehen kann, müssen Sie mir schreiben, welche Nach­ mittage Sie für sich haben, damit ich Ihnen nicht in Ihre Stunden

Hineinfalle.

Sie schlagen mir vor, Ihren jungen Erzieherinnen Stunden zu

geben, ohne recht daran zu denken, daß das gar nicht leicht ist. Zwar interessiere ich mich sehr dafür, nattonalökonomische Dinge von popu­

lärer Seite zu bettachten, und ich habe einige Studien darin gemacht, aber nur in einer Richtung, welche nicht für Ihre Zwecke paßt. Jetzt kann ich es nicht, später, wenn ich mehr Muße haben sollte, läßt sich wohl

darüber reden. Es lassen sich selbst für junge Mädchen in interessanter Weis« und recht wohl verständlich Dinge aus der Theorie und der Ge­ schichte der Gewerbe und der Nattonalökonomie besprechen, aber dazu

gehören ziemlich umfassende Studien, da man sehr gut unterrichtet sein

muß, um klar und verständlich zu sein. Gewiß läßt sich an das Brot -. B. sehr gut eine Schilderung der Vervollkommnung der Nahrungsmittel,

ja, der Ernährung der Völker überhaupt, der Gewerbeverfassung usw. anschließen, aber es ist nicht so leicht, «S gut zu machen, und macht man es nicht güt, so schadet es nur, weil dann die Lernenden -urückgeschreckt

werden. Darüber, wie es zu machen ist, sprechen wir bei unserer nächsten

Begegnung noch mehr. Dann bringe ich auch die Briefe von Ihnen mit, in welchen Sie Ausführlicheres über die Frauenfrage gesagt haben, und

ich freue mich schon, beim Aussuchen so manches wieder zu lesen, was mir früher beim Empfange derselben Freude gemacht hatte. Warum soll ich mich des Genusses berauben, mich lebhaft an Früheres zu erinnern

und die Briefe vernichten?

Keule morgen besuchte mich Ihr Bruder, gestern abend sah ich Ihr« Schwägerin und Anna; alle waren sie sehr liebenswürdig gegen

mich. Grüßen Sie diese, vor allen aber Ihre Mutter herzlich.

470

Kapitel 18: Karl Schrader an Henriette Breymann. Braunschweig. 28. Oktober 1870.

Ihr letzter, lieber Brief, für den ich vielmals danke, hat mich wegen

der Übeln Nachrichten über Ihr Befinden recht betrübt Gern tröstete ich Sie morgen, aber ich kann nicht fort von hier. Alles drängt fich jetzt zusammen, Abbruch des Alten und Aufbau des

Neuen soll in unserm Eisenbahnwesen eiligst gemacht werden, aber es fehlt an nötigem Geschick, und beides wird nichts als elende Polterei.

Leute ist mein Kollege Dr. S. nach Straßburg abgereist, um aufWunsch

des preußischen Landelsministers als Mitglied in die dortige Betriebs­ kommission für die elsässischen Eisenbahnen einzutreten, vorläufig als

beurlaubter braunschweigischer Beamter, aber mit der festen Aussicht, in den preußischen Staatsdienst definitiv einzutreten. Er hatte sich mit meinem Wissen und meiner Unterstützung schon lange um Übernahme in den preußischen Dienst bemüht und hatte auch vor Monaten die Zu­ sage demnächstiger Erfüllung seiner Wünsche erhalten. Jetzt ist dem so

plötzlich entsprochen, daß seine Pläne in bezug auf seine Leirat etwas gekreuzt werden. Wahrscheinlich bleibt seine Braut mit ihrer Mutter in Braunschweig, und sobald er Wohnung in Straßburg gefunden hat,

verheiratet er sich.

Seine Arbeit müssen nun wir andern tun, die wir freilich auch herzsich wenig Lust mehr dazu haben. Über meiner Stellung waltet noch die alte Anklarheit; die Dinge gestalten sich vielleicht sogar so, daß ich mir noch einmal den Eintritt in das Direktorium hier zu überlegen habe, weil

die entfernte Möglichkeit vorliegt, daß die von mir erhobenen Bedenken noch beseitigt werden. Aber ich wünsche diesen Ausgang der Sache doch nicht .... Bei meiner Anwesenheit in Berlin ist mir nämlich eine sehr angenehme und ehrenvolle Offerte gemacht, zu deren Erläuterung ich etwas weiter ausholen muß. Schon seit Jahren ist in den Kreisen der Eisenbahndirektoren dar­

über Klage geführt, daß die Interessen der Eisenbahnen in der Presse

und gegenüber den Staatsbehörden sehr schlecht vertreten sind; der erste Übelstand folgte daraus, daß die über Eisenbahnwesen eigentlich allein

Sachverständigen, die Mitglieder der Eisenbahndirektionen, zu beschäf­ tigt sind, um eine größere schriststellerische Tätigkeit zu üben, und der

zweite daraus, daß es an einer passenden Organisation derPrivatbahnen

— für sich — getrennt von den abhängigen Staatsbahnen — fehlte.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 471

Nun ist in letzter Zeit durch meine Gesinnungsgenossen unter den Prival-Eisenbahnfaktoren ein besonderer, hauptsächlich die gemeinsame Intereffenvertretung nach außen vertretender Verein aller deutschen Pri­ vatbahnen gebildet, und der zufällig gerade während meiner Anwesenheit in Berlin dort tagende Ausschuß dieses Vereins hat mir den Vorschlag gemacht, eine schriftstellerische Tätigkeit im Interesse desselben zu unter­ nehmen. Diese würde keinen großen Teil meiner Muße beanspruchen und mich in Verbindung mit dem Eisenbahnwesen halten, und zwar des­ halb sehr angenehm, weil ich mich nur mit wichtigen Dingen zu beschäf­ tigen und von meiner Selbständigkeit nichts aufzugeben brauchte; ich könnte mir durch meine Tätigkeit selbst eine hervorragende Stellung im deutschen Eisenbahnwesen erwerben und mir die Brücke zu einem Ein­ tritt in den Reichstag bauen. Voraussetzung der Annahme dieses Vor­ schlages ist allerdings meine Pensionierung, ich habe mich deshalb nicht definitiv erklären können, während man von seilen des Ausschusses nicht zurücktreten wird, da mich alle Mitglieder fast persönlich kennen, und eine andere durch ihre Vorkenntnisse gleich geeignete Persönlichkeit nicht existiert. Jeden Tag erwarte ich, daß die Frage meines Eintritts in das Direktorium in einer Weise angeregt wird, welche eine definitive Ent­ scheidung herbeiführt, aber es kommt immer noch nicht. Nächste Woche hoffe ich doch einen Tag für Sie herauszufinden; morgen abend werde ich suchen in dem Klub zu sein, für den Fall, daß Ihr Bruder kommen sollte. Grüßen Sie die Ihrigen, namentlich die Mutter vielmals. Da ich morgen nicht komme, hoffe ich zum Sonntag schreiben zu können. Ihr

K. S.

Äenriette Breymann an Karl Schrader.

Neu-Watzum (kleines Laus). 29. Oktober 1870. Gestern abend hörte ich indirekt, daß Ihr Lerr Kollege S. verseht wäre, da dachte ich mir gleich, daß Sie nun viel zu tun hätten und nicht kommen würden. Diese Zeit ist wahrhaft qualvoll für Sie, es gehört eine Selbstbeherrschung dazu, wie Sie sie ausnahmsweise besitzen, um nicht krank oder toll zu werden bei einem solchen Provisorium. Aber um so erfreulicher hat es für Sie sein müssen, daß sich in Berlin für Sie neue und ehrenvolle Aussichten boten zu einer Tätigkeit, die Sie doch in Ver-

472

Kapitel 18:

bindung mit der Eisenbahnarbeit hält. Natürlich ist auf mein« Gefühle nichts zu geben; aber ich habe so entschieden in mir den Wunsch gehabt. Sie möchten in der Eisenbahnlaufbahn bleiben oder doch wieder in die» selbe eintreten, selbst wenn Sie dadurch weiter von mir entfernt würden; ich kann mir es gar nicht anders denken, als daß Sie noch Früchte von den ernsten Arbeiten, die Sie in diesem Zweige gemacht haben, ernten. Wie mag es nun noch werden? Sie können denken, daß diese Frage mich viel und lebhaft beschäftigt, es hängt ja so viel für den innern Frieden des Menschen davon ab, wo und mit wem und was er arbeitet. Daß Sie für Ihre Person gleichgültig sind, ob Sie viel oder wenig Geld be­ kommen, finde ich sehr natürlich bei der ganzen Art und Weise Zhres Sein-; aber, wenn man mit der Realisierung seiner Ideen vorwärts­ gehen möchte, so sind Rang und Gew ein Wesentliches. Nicht in bezug auf die innere Wirksamkeit, aber in Rücksicht auf Resultate nach außen; materielle Mittel erleichtern dem Menschen die Arbeit, und man soll sie nicht unterschätzen. Der Weg, den Sie und ich verfolgen, ist kein ebener, leichter; eS ist so wahr, was Sie mir einmal schrieben, daß die Verwirklichung von Idealen aus der Ferne viel schöner aussieht, als eS in Wirklichkeit sei. Ich möchte den Gedanken gar nicht, daß Sie nun irgendein Beamter in dem kleinen, wenig rührigen Herzogtum würden und ertrug ihn nur als Mittel zum Zweck, Ihnen innere Muße zu verschaffen. Nun, wie es auch kommen mag, ich habe das feste Zutrauen zu Ihnen, daß Sie, soweit das dem Menschen möglich ist, das Recht« fiir sich zu wählen, das tun werden. Unter dem Worte „das Rechte" meine ich natürlich, das für Ihre Individualität Entsprechende, das auch zu­ gleich Mittel wird, Ihren höheren Zwecken zu dienen. Vor allen Dingen bitte ich Sie darum, fitr die Entwicklung Ihres innern Wesens zu sorgen; das scheint wie Egoismus, ist es aber nicht; gerade Sie werden um so vollkräftiger wieder für das Allgemeine leben, wenn Sie einmal den besonderen, persönlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. Nicht wahr. Sie schreiben mir, wenn auch nur in kurzen Notizen, wie die Sachen verlaufen und sich entwickeln und kommen Sie nicht, wenn es nicht gut paffen will. Ich kann meine körperliche Widerstandskraft nicht auf den alten Standpunkt bringen, aber mit meinen Arbeiten bin ich zufrieden. Leben Sie wohl. Gott helfe Ihnen, dasRechte zu finden. Mit herzlichem Gruße S). B.

Korrespondenz zwischen 55. Dreymann und K. Schrader bis 1872. 473 Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 27. Dezember 1870.

Also Neigung zur Grausamkeit*) ist der Lauptzug meines Charaklers? Ich glaub«, trotz Ihrer psychologischen Studien haben Sie sich geirrt .... Daß ich etwas hart bin, weniger von Naturell als durch meine Entwicklung, will ich nicht leugnen .... Ich bin weit entfernt davon, meine Lärte fitr eine Vollkommenheit zu halten und ich strebe danach, mich von ihr zu befreien, d. h. da, wo sie nicht hingehört, aber ganz leicht ist es nicht. Geändert habe ich mich schon und zunächst durch Sie. Ich wehre mich also Wir lernen beide voneinander; Sie machen mich frei von all dem Schmutze, den ein praktisches Leben, mag man es noch so ideal auffaffen wollen, auf uns häuft, und ich flöße Ihnen etwas von meinerRuhe, und, soweit es nötig ist, von meiner Verachtung der Menschen ein. Nun soll ich Ihnen auf zwei Fragen antworten: 1. ob ich mich erkältet habe am Sonnabend, 2. ob ich meine Eisenbahnangelegenheit zur Zuftiedenheit geordnet habe. Auf die erste antworte ich nein, auf die -weite ja, sofern eS sich auf die braunschweigische Eisenbahn bezieht. Ich werde am 1. Januar pensioniert, das Dekret ist schon längst ausgefertigt. Inzwischen habe ich mein Pensionsdekret erhatten und bin wohl zuftieden damit, materiell, weil es mir augenblicklich mein jetziges Ein­ kommen läßt und mich frei macht, formell, weil eS so rücksichtslos gefaßt ist, daß ich nicht die leiseste Anwandlung von Dankbarkeit gegen meine Vorgesetzten haben kann Die Eisenbahnangelegenheit, die ich in Berlin habe, wird erst nächstenS entschieden, d. h. der Form nach, denn der Sache nach ist sie fertig. Ich übernehme die Geschäfte, welche ich Ihnen früher bezeichnet habe, waS ich aber aus der Stellung machen kann — die ich ganz neu schaffen muß — das wird die Zeit lehren. Dümmer werde ich dadurch nicht, darum kann ich die Mühe jedenfalls, selbst, wenn sie keinen großen pekuniären Gewinn bringt, übernehmen. Meine Zeit denke ich mir vorläufig so «inzuteilen, daß ich die Morgenstunden zum Lernen (zunächst Jurisprudenz, Nationalökonomie, Eisenbahnwesen, Erziehung), die Nachmittagsstunden zur Erledigung meiner Korrespondenz, kleinerer *) Der Schreiber war während der Festtage nicht nach Neu-Wahum gekommen, weil er eine größere Arbeit während der Weihnachtstage 1870 fertigstellen wollte.

474

Kapitel 18:

geschäftlicher Arbeiten, den Abend zur Produktion resp, zu größeren Arbeiten benutze.

Der Entschluß, in das große Laus zurückzukehren, wird für Sie

schwer sein, aber ich erkenne seine Notwendigkeit an; halb kann man ein solches Geschäft, wie die Beaufsichtigung einer Pension, nicht tun. In der Zeit bis Ostern werden Sie wenig Zeit zum Arbeiten haben, wenn Sie die drei Dinge, die Ihnen obliegen, Leitung der Pension, Anter-

richten der Lehrerinnen und Leitung des Kindergartens ordentlich

machen wollen. Ihre Kraft müssen Sie aber schonen, denn Sie müssen die großen Ideen, die Sie gefunden haben, noch verwirklichen, und dazu

gehört Gesundheit; vielleicht tun Sie es auch wohl einem Freunde zuliebe. Was Sie Ostern beginnen wollen, muß zeitig vorher feststehen und

darf nicht wieder etwas Laibes sein. Bleiben Sie in Neu-Watzum — und wenn es irgend geht, möchte ich dies vorziehen — so muß Ostern die Trennung von der Pension erfolgt sein, so daß darin nichts mehr zu

ändern ist, wenn auch das Neue noch nicht vollendet sein kann. Was

besser ist, lassen Sie uns reiflich überlegen, wenn ich irgend kann, komme ich zu dem Zwecke, d. h. zu der ernsten Überlegung mit Ihnen. Was Sie von den Menschen sagen, die sich um uns bekümmern, so

bin ich übrigens ganz Ihrer Ansicht; sie werden bald einen andern Stoff für ihr Geschwätz finden und uns nicht mehr belästigen.

Wir wollen und werden einander treu sein, werden uns gegenseitig

helfen zu eigener Freude und eigenem aber auch zu anderem Nutzen. Wir wollen zusammen arbeiten und uns die Arbeit einander dadurch erleichtern, daß jeder nicht nur der Lilfe, sondern auch der Liebe des

andern sicher ist. So lassen Sie uns im neuen Jahre mit Mut undLeiterkeit an die uns bevorstehende Arbeit gehen. Sie an die Grundlegung

Ihrer in ganz neuem Geiste gedachten Fröbel-Ideen, ich an die Vertie­

fung meiner Kenntnisse und die Vorbereitung einer späteren, größeren Laufbahn. Ein Larmonium will ich mir aber nicht anschaffen, und Flöte will ich auch nicht spielen, obwohl Sie letzteres so sehr wünschen, aber ich

möchte mich wohl mit einem Zweige der Naturwissenschaft oder mit einem Teile der Kunst näher befassen. Für das erste habe ich mehr Nei­

gung, schon weil es mich wieder in die Natur hinausführt und weil ich glaube, daß ich ziemlich bald so viel lernen kann, um Freude daran zu haben. Überlegen Sie doch, welchen Zweig der Naturwissenschaft Sie im Fröbelschen Sinne für den wichtigsten halten, oder, womit ich Ihnen

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 475 am meisten helfen kann. Laben Sie nicht etwas über Ihre Exkursion zur Tanne mit dem Kindergarten ausgeschrieben? Ich möcht« es so gern haben und die Erlaubnis dazu, es mit dem Lerrn E. zu besprechen und es ihm zu zeigen, wenn ich es für passend halte. Es freut mich, daß Sie von den Eltern der Kindergartenkinder Anerkennung finden, darf ich

nun einmal den Kindergarten besuchen? Vielleicht werde ich dadurch weniger grausam. Aber sehen Sie, es wäre wahrscheinlich von den Eltern Unterstützung zu erwarten, wenn Sie eine Elementarschule an­ legen wollten, und wenn Sie mit Ihnen noch mehr verkehren, so gewin­ nen Sie sie immer mehr. Glauben Sie nur nicht, daß Ihre Art aristo­ kratischen Wesens hinderlich ist; wahre Aristokratie, wenn sie von Lerzensgüte begleitet ist, gewinnt dieMenschen viel mehr und viel dauernder als das Lerabsteigen zu dem Standpunkte der Menge. Leben Sie wohl, und um das alles zu können, schonen Sie mir zuliebe Ihre Gesundheit. Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. ZI.Dezember 1870. Leute schreibe ich Ihnen als aktiver Staatsdiener, denn noch hat man uns nicht aus dem Tempel hinausgejagt, aber in wenigen Stunden habe ich Abschied genommen von einer zehnjährigen Tätigkeit, die mir trotz vieler Unannehmlichkeiten doch im ganzen Freude gemacht hat. Der Entschluß dazu war kein leichter, jetzt habe ich mich aber so vollstän­ dig hineingefnnden, daß ich kam» noch an Gegenwart und Vergangen­ heit, sondern fast nur noch an die Zukunft denke, und nun mit aller Ruhe das Fazit dieser zehn Jahre ziehe, daß sie mir viel genützt haben, wenn ich verstehe, das in dieser Zeit Begonnene und Erlebte zu ver­ werten. Mit frischem Mut will ich ein neues Leben beginnen, will von neuem lernen, damit ich demnächst zu meinem und der Menschheit Segen wirken kann. Wie wunderbar trifft auch hier unsere Entwicklung zusammen! Fast gleichzeitig entschließen wir uns zu einer Änderung unserer bisherigen Tätigkeit, beide ausgehend von einer in den Grundlagen gemeinsamen Anschauung des Lebens und der Ziele derMenschheit,und unserWirken so zu gestalten, daß wir uns gegenseitig zu helfen vermögen. Beide wissen wir wohl, was wir wollen, aber beide haben wir die Form, in welcher es auszuführen ist, noch nicht ganz bestimmt. Das Jahr, in das wir jetzt eintreten, soll und wird uns auch hierin Bestimmtheit, wird uns (lassen

476

Kapitel 18:

Sie uns es hoffen) der Erreichung unserer Zwecke näher bringen. War das vergangene Jahr eine Zeit des Suchens nach dem Ziele, so wollen wir in dem neuen, da wir es jetzt gefunden haben, ihm rüstig entgegen­ streben. lind lassen wir es uns in der freudigen Gewißheit tun, daß nicht nur gemeinsames Streben, daß uns eine wahre, innige Freundschaft fest verbindet, und daß ste uns helfen wird, wo der einzelne sich zu schwach fiihlt in dem Treiben des Lebens. So wollen wir mit ftohem Mute das neue Jahr beginnen, und alle Beschwerden, allen Kummer, welchen es un- bringen mag, gemeinsam

und darum um so leichter tragen. Bald bekomme ich auch von Ihnen einen Brief, in welchem Sie mir hoffentlich melden, daß Ihr Rheumatismus Sie nicht mehr plagt. Lassen Sie diesen ungebetenen Gast mit so manchen anderen Sorgen im alten Jahre zurück! !lnd nicht wahr. Sie werden im neuen Jahre recht vorsichtig mit Ihrer Gesundheit, ich will auch dafür in jeder Be­ ziehung ordentlich werden und will suchen, meine „Grausamkeit" (die ich Ihnen aber doch nicht als solche zugebe) abzulegen. Den Ihrigen bitte ich meinen herzlichen Glückwunsch -um neuen Jahre zu sagen. Ihrer lieben Mutter wünschen Sie in meinemNamen, daß wir bald Erich wieder unter uns haben. Dann zanken wir uns ge­ wiß nicht mehr über Politik, weil dann das Mitleid mit dem furchtbaren Leiden der Besiegten die Oberhand gewinnt über die gerechte Erbitte­ rung gegen die frivolen Erreger, und die durch sie hervorgerufene, un­ nötige Grausamkeit deS Krieges. Von morgen beginnt mein neues Leben, und morgen früh ist dasStudium der Erziehung an der Reihe; ich werde dann Ihre Ausarbeihingen studieren und mir die nötigen Notizen für mich, und wenn sich die Gelegenheit zeigt, auch Bemerkungen für Sie machen. Die Hefte werden Sie rechtzeitig zurückerhalten. Leben Sie wohl, bis ich Sie hoffentlich bald' wiedersehe, und begin­ nen Sie das neue Jahr ftoh und mit einer fteundlichen Erinnerung an Ihren treuesten Freund K. S.

Henriette Breymann an Karl Schrader.

Reu-Watzum. 2. Januar 1871. Gestern äußerten Mutter und Anna beide den Wunsch, Sie möchten gemeinsam mit uns eine Beratung über die zukünftige Gestaltung der Pension und meiner Stellung zu derselben halten, ich meinte aber.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K.Schrader bi-1872. 477 Sie würden nur dann gern kommen, wenn die Mutter Sie aufforderte, denn ich kenne Ihre groß« Zurückhaltung und Diskretion. Cs freute mich so, daß Anna gern einmal mit Ihnen sprechen wollte, ich wünsche so, daß sie Ihnen näher tritt, denn ich liebe sie alle, ja, so sehr, dann könnte ich nichts tun ohne Sie, aber ebensowenig könnte ich es leicht ertragen, wenn unsere Freundschaft mich isolierte von den Meinen, und das tut sie auch nicht, je mehr Sie die Meinen kennen, oder vielmehr, je mehr Sie sich gegenseitig kennenlernen; aber Sie, die Mutter und Anna sind so zurückhaltende Naturen, und man muß dem Dinge Zeit lassen. Ich hatte so gewünscht, daß Anna sich verheiraten würde, und «S schien auch so, aber es wird doch nichts werden; ich erzähle Ihnen gelegentlich die Sache. Es gibt so eigene Dinge, die sich zwischen das Glück zweier Menschen stellen; ich bin so fest überzeugt, daß Anna mit dem bestimmtenManne glücklich geworden wäre. Ich habe wieder so viel zärtliche Liebe von der Mutter und auch Anna erfahren, auch Karl und Lutschen sind so nett. Ich glaube, die beiden ersten würden doch sehr leiden, wenn ich einer unbestimmten Zukunft entgegenginge, und obwohl niemand hier, auch meine Mutter nicht, den einen Punkt, meine leiden­ schaftliche Liebe zur Fröbelei versteht, so sind sie doch alle eben gute Menschen — und meine Mutter ist noch mehr, sie ist eine unzerstückt treue Mutter, so daß die rein menschlichen Bande, die mich hier fesseln, so gewaltig sind. Ich denke, ich sollte versuchen, hier meine Pläne aus­ zuführen; aber mit so wenig Kostenaufwand als möglich, damit ich im Fall eines Mißlingens hier nicht durch pekuniäre Opfer an die Pension gefesselt bin. Sind Sie eigentlich praktisch in Geldgeschäften? Ich glaube eS nicht, Sie haben nie die Erfahrung gemacht, arm zu sein, aber ich weiß, was es heißt. Jetzt erst verstehe ich meinen guten, seligen Vater in seiner Sorge, die ich so oft für kleinlich hielt, in seiner Liebe zur Mutter, der er unter allen Ltmständen ein kleines Kapital sichern wollte, was sie selbst mehr als einmal für uns hingeben wollte, um sehnliche Wünsche zu erfüllen. Sötten wir die Pension nicht gehabt, so hätte das kleine Kapital für Adolf und Erich geopfert werden müsse n, und eS hätte vielleicht nicht gereicht, damit sie ihre Studien vollendeten .... Man gebraucht zum idealsten Zweck doch die materiellen Mittel .... Die Mutter mahnt mich zum Aufhören; es ist so traurig, daß diese rheumatische Geschichte so langweilig ist, ich darf nicht daran denken, Donnerstag ©tun­ ten zu geben, aber nach Tränen, Sorgen und Traurigkeit komme ich ins Stadium der Geduld

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Kapitel 18: Karl Schrader an Lenriette Breymann. Braunschweig. 17. Januar 1871.

Als ich Sie Freitag verließ, hatte ich schon das Gefühl, daß es für Sie nicht an der Zeit sei, Pläne zu machen, und was Sie mir schreiben, macht es mir vollständig gewiß. Sie sind gerade in einer Zeit zur klaren Erkenntnis dessen gekommen, was für die Frauenerziehung zu tun, und welches das Ihnen durch Ihre Begabung für dieselbe zugewiesene Wirken sei, in welcher Sie zu ruhiger Schätzung Ihrer Kraft nicht imstande waren. Früher konnten Sie sich begnügen, die leitenden Gedanken über das zu geben, was Sie ausgeführt haben wollten, weil Sie in bezug auf die Ausübung sich auf zuverlässige, Ihre Ideen verstehende und befolgende Kilfe stützen konn­ ten. Der Tod und Entfremdung haben die Verhältnisse verändert, und Sie sahen sich vor die Notwendigkeit gestellt, das, was Sie wollten, auch selbst in allen Einzelheiten durchzuführen. Dabei mußten Sie aber zu­ gleich die Erfahrung machen, daß es ein anderes ist, die Grundideen zu verstehen und ein anderes, sie in allen Einzelheiten durchzuführen; daß das letzte nicht bloß verstanden, sondern geübt sein will. Dieser ersten Entdeckung folgte bald die zweite, nämlich, daß Ihr Wissen in manchen Dingen noch unzulänglich sei; auch das hatte hauptsächlich darin seinen Grund, daß gerade das, was Ihnen fehlte, andere, die Ihnen geholfen, besessen hatten. Aber ttotz körperlichen Anwohlseins machen Sie fottwährendPläne zur Verwirklichung Ihrer Idee, arbeiten Sie mit Eifer an der Ausfüllung der Lücken in Ihrem Können und Wissen. Jetzt sehe ich klar, wohin diese fottwährende Aberanstrengung und Aufregung fiihren mußte, und ich sehe ein, daß ich mehr als ich getan, Ihnen hätte zureden sollen, einen andern Weg zu verfolgen. Ich habe das Maß Ihrer Kraft über- und in noch höherem Maße die Ihnen durch die Pension täglich obliegende Arbeit unterschätzt. Sie machten Pläne mit allem Feuer einer Gesunden, und, wenn Sie an die Ausführung gehen oder sie vorbereiten wollten, dann fühlten Sie, daß Ihre Kraft in dem Augenblicke des Versuches nicht ausreichte. Statt, wie es recht war, sich klarzumachen, daß dies ein vorübergehender Zustand sei und statt, wie Sie nach ruhiger Überlegung zu finden glaub-

ten, daß Sie einer längeren Vorbereitung zu der Ausführung Ihrer Pläne bedurften, sich die dazu erforderliche Zeit ruhig zu nehmen.

Korrespondenz zwilchen 55. Breymann und K Schrader bis 1872. 479

schoben Sie das, was in den Verhältnissen lag, auf eigene Versäumnis. Sie sagten sich, wenn Sie Ihre ftüheren Jahre so angewendet hätten, wie Sie jetzt möchten, dann manche Vorbereitung schon gemacht sein würde. Sie klagen sich selbst bitter an, weil Sie glauben, Ihre Pflicht nicht im vollen Maße früher getan zu haben. Ich will glauben, daß Sie früher mehr arbeiten und leisten konnten, aber ich meine auch, daß Sie sich weitaus zu bittere Vorwürfe darüber machen, weil Sie in Ihrer Ver­ stimmung das, was Sie geschafft und was Sie sich geistig erworben haben, nicht genügend würdigen. Schon früher habe ich Ihnen gesagt, wie viel mehr Sie zur Aus­ führung Ihrer Ideen schon an Fähigkeit besitzen, als was Sie noch zu erwerben haben. Was Ihnen noch fehlen mag, sind einige, in verhältnismäßig kurzer Zeit zu erwerbende Kenntnisse; den unendlich wichtigeren Teil besitzen Sie jetzt schon in weit reicherem Maße, als die allermeisten Personen, welche an ähnliche Aufgaben herantreten. Wie Sie sich selbst jetzt unterschätzen, habe ich recht daran gesehen, daß Sie nach zwei, in ungünstiger Zeit gemachten Versuchen schriftstellerischer Arbeit glauben, daß es Ihnen überhaupt an Fähigkeit dazu fehle. DerVersuch im Schriftstellern, den Sie gemacht haben, war gerade ein Programm eines neuen Unternehmens, und es war gerade hierbei vorzüglich nötig, Rücksicht auf das Publikum zu nehmen. Meine Ausstellungen bezogen sich gerade darauf, daß dies in der Begeisterung des Schreibens nicht genügsam geschehen war. Nichts kann leichter nach­ geholt werden, nichts lernt sich leichter als diese Rücksichtnahme. Dieser Mangel ist ein ganz untergeordneter, und ich bin fest überzeugt, daß Sie mit großer Wirksamkeit schriftstellern können, wenn nicht eine andere Tätigkeit Sie davon zurückhält. Wenn ich glaube, daß Sie in Ihrer gegenwärtigen Stimmung Ihre Fähigkeiten unterschätzen, so will ich Sie in Ihrem Entschluß nicht wankend machen; nur dagegen möchte ich reden, daß Sie das Erworbene zu gering anschlagen. And wenn Sie das Fehlende sich angeeignet haben, zur Ausführung Ihrer größeren Idee, dann wird sich auch ein Weg gefunden haben, alle Ihre Pflichten richtig zu vereinigen. Darum seien Sie frohen Mutes auch für die Zukunft, und sollten Sie bei Ihren Fröbelplänen später auf solche Kindernisse stoßen, daß ihre Ausführung unterbleiben müßte — was anzunehmen aber gar kein Grund vorliegt — so bedenken Sie, daß Sie in der neuen Weiterbildung Ihres Wesens selbst schon ein großes Gut erworben haben, das die manchen vorausgegangenen inneren Kämpfe wohl wert ist.

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Kapitel 18:

Deshalb tun Sie Ihre Arbeit, aber auch mit allerRuhe, mit welcher man ein gutes, freudig übernommenes Werk tun soll; streifen Sie die fieberhafte Angeduld ab, mit welcher Sie in der letzten Zeit an alles ge­ gangen sind, und verachten Sie nicht, vernachlässigen Sie nicht, was Sie früher erworben. Freuen Sie sich, daß Sie imstande sind, voller als andere das Schöne des Lebens zu genießen, und genießen Sie es auch. Dann wird sich Ihre Gesundheit schnell wieder kräftigen, und Sie werden schneller als bei der größten Eile das, was Sie wollen, erreichen. And lassen Sie mich, soviel ich kann. Sie dabei unterstützen, das Recht, sich gegenseitig zu helfen, ist ja das schönste Recht der Freunde. Ohne es bestimmt zu beabsichtigen vielleicht, haben Sie mir schon viel geholfen, und ich bin überzeugt, daß auch einst die Reihe an mich kommen wird, von meinem Rechte, von Ihnen Lilfe zu fordern, einen größeren Gebrauch zu machen. Das nächste praktische Resultat scheint mir nun zu sein, daß die letzt gemachten Pläne für Ostern vorläufig aufgeschoben sind, und daß weiterer Erwägung vorbehalten bleibt, wie und wann sie auSgeführt werden, und daß auch andere Dinge, z. B. unser religiöser Verein neu erwogen werden. Jetzt muß Plan und Ziel und Tätigkeit für alle unsere Bestrebungen klarer festgestellt werden, und ich halte es fitr ganz richtig, daß Sie bis auf weiteres mehr als passive, denn als aktive Teilnehmerin gerechnet sein wollen. Schon deshalb möchte ich, daß die nächste Zu­ sammenkunft mit L. Becker erst in der folgenden Woche stattfindet. Ich würde schwerlich kommen können, da große Durchzüge von Franzosen von morgen ab beginnen, und ich am Freitag bekanntlich bei den Zügen Dienst habe. Kalten Sie es für gut, so lassen Sie S>. Becker abschreiben, ich werde mich dann über die künftigen Pläne mit ihm zunächst schriftlich in Verbindung setzen. Morgen komme ich, aber vielleicht etwas später. Leben Sie recht wohl, und seien Sie guten MuteS. Mit herzlichsten Grüßen Ihr K.S. Laben Sie sich wieder erkältet? Dann wehe Ihnen 1 Lenriette Breymann an Mary Lyschinska.

Neu-Watzum. 6. Februar 1871. Wenn die Mutter nicht heute vor acht Tagen totkrank geworden (an einem entzündlichen Brustkatarrh und Luftröhrenentzündung), so hättest Du... schon wieder einen Brief von mir bekommen. Ach Mary,

Korrespondenz zwischen A. Breymann und K. Schrader bis 1872. 481 welche Angst, welche Sorgen haben wir gehabt, und kaum sind dieselben

von uns genommen, die Krisis ist überstanden, nun kommt die Mutter in

das Stadium großer Mattigkeit, aber der Doktor sagt, sie wird es über­ winden. Wohl wird sie in wenig Wochen 70 Jahre, aber ihre Natur ist

normal und elastisch.

Ans sucht das Leben oft schwer heim, und doch meine ich, nachdem die Angst um Mutters Leben von mir gewichen ist, es sei alles schön und herrlich um mich her; es ist wie ein Jubeln in der Seele über ein großes,

herrliches Geschenk. Gestern war der Assessor eine Stunde hier, zum zweiten Male seit

Mutters Krankheit, sich nach ihr zu erkundigen; das erstemal stand es schlimm, und er war so traurig, gestern waren wir so vergnügt 1 Wie

schön ist unsere deutsche Sprache: Teil-nahme, was drückt dieses Wort nicht alles aus! und ich habe den Sinn in seiner vollendeten Schönheit

durch den Assessor erfahren. Ernennt sich kalt und hart, und ich habe ihn stellenweise dafür gehalten; aber er ist es nicht, er hat nur kalte Gewohnheiten; er war so einsam mit einem so tief und fein fühlenden

Kerzen, mit einem so idealen Sinne, und so legte sich eine Kruste um

sein Inneres. Wenig, sehr wenig Menschen können teilnehmen, dazu gehört eine gewisse Tiefe der Empfindung, deren wenige fähig sind. O Mary, ich möchte ihn einmal in den Arm nehmen und an mein Kerz drücken, so

lieb habe ich ihn. Ob Du ihn inöchtest? Ich glaube, zuerst würdest Du Dir nichts aus ihm machen; er ist entsetzlich verschlossen und zurückhal­ tend und sieht nicht sehr großartig aus, eher ein bißchen schlau. And wenn er einmal «inen Strahl seines tiefen Gefühles aus dem Kerzen entläßt,

so scheint er sich förmlich über sich selbst zu erschrecken, aber ich halte diesen Strahl fest. Er schrieb mir neulich, er fühle seine Kärte schmelzen, und das

bewirke nur ich. Der Welt, was man die Welt nennt, gegenüber ist er stolz und Gott gegenüber so bescheiden, fast zu bescheiden. Ich fürchte

auch immer, er überschätzt mich, er hält mich für was Besonderes, und das bin ich eigentlich nicht, nur was Ordentliches. Er meint, ich bedürfe seiner

nicht so zu meiner Entwicklung, wie er meiner — ach, er weiß nicht, wie ich mich innerlich umgestalte! Doch Mary, ich will dies Kapitel schließen, aber ich habe ihn durch seine Art und Weise in Mutters Krankheit noch so anders lieb gewonnen

als srüher, und es quillt diese Liebe in meiner Seele wie ein befeuchtender,

erquicklicher Quell, und da ich Dir schreibe, so mußte ich es Dir sagen. Ly lchlnika, Henriette Zchrader l.

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Kapitel 18:

Lebe wohl, ach komme nächsten Sommer, o komme, ich muß Dich einmal wieder Kerz am Kerzen fithlen. Wie immer

Deine treue

Kenriette.

Kenriette Breymann an dieselbe. Neu-Watzum. Februar 1871.

. ... Zu meiner Lochzeit soll ich Dich einladen, sagst Du? Ja, liebe Mary, ob dieselbe jemals stattfinden wird, das glaube ich nicht. Ich sage nicht nein, nicht ja; ich überlasse unser schönes, wunderschönes Verhältnis ruhig dem Gange der Entwicklung. Mir ist es so klar, daß ich alles für ihn tun könnte, was ihn glücklich machte, und darum ist mir jede Form unseres Verhältnisses recht, die ihm die liebste ist, denn jede wird in fich rein und edel sein, wie er selbst. Die Liebe ist der Wendepunkt im weiblichen Leben, weil es bei ihr, bei uns vor allem auf das Glück des andern ankommt, und das, was den andern beglückt, hängt von seinem Sein und Wesen ab. Ich wiederhole, wäre ich 10 bis 20 Jahre jünger, als ich bin, so könnte ein solches Verhältnis wie meines zu ihm nicht stattfinden, denn die Zugend verlangt bei einer Liebe, wie ich für ihn fühle, auch den Besitz; ich würde nicht diese große geistige Freiheit mit derMacht der Liebe zugleich empfinden können, wie es jetzt ist. Darum sage man mir nichts aufs Alter, nur sei man natürlich und habe Gott vor Augen und im Kerzen; so ist jede Stufe schön. Auch die Leidenschaft der Zugend, die das Kerz bewegt, hat ihre wunderbare Schönheit; die Anruhe ohn« Berechtigung und die heißeste, leidenschaftlichste Liebe, wenn sie wahr empfunden ist, birgt eine echte Perle auf ihrem Grund«. Ach, wie sind die Menschen verrückt und voll Annatur, wie kann man es als eine Schwäche bezeichnen, was ein Naturgesetz ist, daß es das Weib zum Manne, den Mann zum Weibe zieht! Die Schwäche liegt in der Art und Weist des Verkehrs, nicht in der Sehnsucht nach Verkehr. Aber, weil die Menschen einerseits so roh sinnlich sind, so müssen sie um so zimperlich unnatürlicher anderseits sein, und die Natur verstecken unter der Lüge. Die Besserung derMutter schreitet so erwünscht als möglich weiter, und es ist eine Welt voll Glückseligkeit, das kleine Laus, das Zimmer, welches uns das teure Leben meiner Mutter birgt. Erich geht es auch gut. Zuletzt stand er bei Le Mans; er hat den

Korrespondenz zwischen Sb. Breymann und K. Schrader bis 1872. 483 Zug von Metz nach Chantillon, Vendöme und Le Mans milgemacht und war ost in großer Lebensgefahr; jetzt ist er vergnügt, ja, er kann sogar etwas Geld sparen; er liegt bei einem alten, reichen Ehepaare in

Quartier, die ihn sehr nett behandeln.

Lenriette Breymann an Karl Schrader. Neu-Watzum. 3. Oktober 1871.

Sie haben es so richtig erfaßt, was ich will: EinenMittelpunkt, wo die neue Zeit—nennen Sie sie Fröbel-Krausisch oder wie Sie wollen — gelebt wird. Ich bleibe dabei: Wenn Sie wollen, daß die Ideen von Staat und Kirche und vom höheren sozialen Leben Wirklichkeit werden sollen, aber tiefe, wahre Wirklichkeit, so müssen Sie die Frauen dafür bilden. Ich begreife nicht, daß wir so wenig aus der Geschichte lernen, in bezug auf Tüchtigkeit etwa- zu vollbringen .... Es fehlt unserer Zeit Charakterbildung; die Menschen, die Idealität haben, kommen nicht viel weiter als zu einem Gemütsgedusel, und es ist wie ein Schrei meines Lerzens nach der Übereinstimmung im Fühlen, Denken und Landein. Ich will die Sache im Innersten angreifen, und soweit als möglich vollständige weibliche Charaktere bilden. Charaktere bildet man nicht allein durch die Wissenschaft und ge­ mütliche Einwirkung, sondern ganz besonders durch das Tun. Das Feld der Arbeit und der Tat der Frau ist aber daS Laus und die Kinderwelt, und deshalb muß ich einen guten Kindergarten und eine vollständige Schule haben, sonst fehlt mir das Übungsfeld; doch wird es durch die beschränkte Zahl und durch das abgeschlossene Pensionsleben eine viel idealere Gestaltung annehmen können als im Schlosse. Ich muß dieMöglichkeit haben, die Mädchen häuslich zu bilden, wodurch ich einen Vor­ zug vor der Schloßanstalt habe. Ich fühle die Kraft in mir, in der tiefen Bedeutung des Wortes suchenden Frauenseelen eine geistigeMutter zu sein, unbemittelten Mädchen ihren vielleicht aus Not gewählten Beruf zu verschönen, ihn ihnen lieb und wert zu machen. Ich weiß, daß der Mensch gut und glücklich werden kann, wenn er alle, aber auch alle seine Geistes- und Körpertröste mit Energie ausbildet und zu einem schönen Ziele benutzt; ich weiß, daß ich einzelnen dazu helfen kann in einer Weise, daß von ihnen 31*

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Kapitel 18:

aus wieder eine stille Wirksamkeit weitergeht; aber ich brauche dazu noch mancher Lilfsmittel .... Meiner Meinung nach hat das Leben nur Frische und Freudigkeit, wenn man genau weiß, was man will, und für dieses alles einseht; aber dann ist das Leben doch schön, und dazu braucht man sich nicht zum Märtyrer zu machen; dies bestimmte Wollen und Landein kann die einfachste Familie verfolgen, wie der größte Staatsmann — es ist ja einfach nichts anders, als ein sittlicher Charakter zu sein — ein solcher war meine Marie .... ich habe sie nie tiefer betrauert als jetzt. Es wird mir jetzt immer begreiflicher, wie die Menschen zu der Ansicht kommen, daß der Mann des Weibes Lerr sei, weil scheinbar ein Aufgeben ihrer selbst in der Ehe ein Aufgeben ihrer Interessen in die des Mannes gefordert wird, wie sie mit ihrem Namen in dem seinen ver­ schwindet. Aber diese Auffassung kommt von der Äußerlichkeit derMen-

schen, daß sie diese Ansicht hegten, indem derMann nach außen hin das vertretende Prinzip ist; aber wenn die Frau ein weiblicher Charakter ist, so hält sie gerade mit aller Macht das allgemeine Wahre, Schöne und Gute fest, kann es fester halten wie der Mann in ihrer geschützten Stellung, während er so hart zu kämpfen hat mit dem grob Stofflichen in der Welt, und so schafft sie die unsichtbare und doch mächtige Atmo­ sphäre, in der der Geist den Lauch der Sittlichkeit einatmet. Diesen Charakter braucht sie so gut in wie außer der Ehe; denn er wird sie, wo sie alleinsteht, auch mit einer Atmosphäre umgeben, die schützender wirkt als Mauern, Schloß und Riegel. Es ist ein Unterschied im Geistesleben der Geschlechter, und das Streben, ihn auszuheben, wird die traurigsten Folgen nach sich ziehen, während man das Eigentümliche so recht entwickeln sollte; aber das hat man so gar nicht getan. Eigentümlichkeit des Weibes ist aber nicht Lilflosigkeit und Schwäche; wohl aber tiefe Innerlichkeit, Weichheit, Biegsamkeit und Beweglichkeit. Dies äußerlich aufgefaßt und unentwickelt gelassen, entartet zur Oberflächlichkeit, Flatterhaftigkeit undLilflosigkeit. Aber freilich kann sie die wahre Weiblichkeit nicht entwickeln, wenn nicht zugleich die wahre Männlichkeit gebildet wird — denn was wird aus einem tatkräftigen Weibe in Umgebung von Männern, die nicht ihre Schuldigkeit tun? Lieber Karl, glauben Sie, daß ich die Mittel zusammen bekomme, das Material, welches ich gebrauche zur Verarbeitung für die Frauenbildung?Das ist es, was ich suche, und wenn ich mich totquälte, ich kann

Korrespondenz zwischen 55. Breymann u nd K. Schrader bis 1872. 485 es nicht allein bewältigen. Ich kann den Mädchen nicht die Wissenschaft­ lichkeit, die Schule bieten, denn meine Kraft liegt in der Verarbeitung

dieses Rohmaterials für die Frau; ich kann dieses Material mit Liebe, Wahrheit und Begeisterung durchdringen, und eS so ihnen zu eigen machen. Ich fühle mich darin oft mißverstanden; bin ich vielleicht hoch­ mütig ? Schonen Sie mich nicht, sagen Sie mir, worin ich verfehle I

Karl Schrader an Äenriette Breymann. Braunschweig. 9. Oktober 1871.

Fassen Sie di« Sache einmal mehr objektiv 1 Ihre Geschwister haben kein volles Verständnis für Ihre Ideen und haben andere Interessen als

Sie, aber ich bin fest überzeugt, von ihnen ist ohne zu große Schwierig, fetten alles zu erreichen, was Sie wünschen, wenn man ihnen nur zeigt, daß

durch Ausführung Ihrer Ideen ihre Interessen nicht geschädigt werden. So viel Interesse und Verständnis für Ihre Ziele haben sie doch, um sie

für die rechten zu halten und sie selbst zu fördern, wenn es der Pension

nicht schadet An Ihnen liegt es, zunächst die Verhandlungen in den Gang ruhi­

ger Erwägung zu bringen ohne Gereiztheit und diese Verzweifelung. Sprechen Sie mit Ihren Geschwistern zunächst; sagen Sie ihnen geradezu, daß Sie gar nichts gegen die Pension haben, sie gar nicht in ihrem Bestände schädigen wollen; daß Ihre Pläne sie sogar noch fördern;

sagen Sie, daß, wenn Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen (in billiger, ihre Anstalt nichts angehender Pension) hinzukomnten, sie nur eine Ver­

mehrung der Einnahmen durch deren Schulgeld haben, und daß die Kosten sowohl der Schule als auch der Kindergärtnerinnen und Lehre­

rinnen teils durch die von ihnen gebrachte Mehreinnahme, teils dadurch, daß die neuen Lehrkräfte auch der Pension mit dienen, wieder ein­ gebracht werden und daß Sie gern bereit sind, «inen extraordinären Beitrag zu leisten.

Sagen Sie ihnen geradezu, daß Sie Ihr Lebensziel in der Bildung erwachsener Frauen fänden, und daß Sie das jetzt mit Energie verfolgen

müßten, am liebsten zusammen mit den Geschwistern, sonst aber allein und mit völliger Trennung von der Pension, ja selbst an einem attdern

Orte. Zeigen Sie dabei Ihren Geschwistern die volle Liebe, die Sie zu

ihnen haben; das haben Sie Sonnabend nicht getan

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Kapitel 18:

Die Frau M. K., bei der ich gestern zu Tische gesessen habe, hat mir ihr Leid geklagt über Fräulein A., namentlich darüber, daß sie sich so ganz und gar auf das Unterrichten der Kinder beschränke, und nie etwas anderes im Kaufe tun wolle, auch für die Kinder nicht. Ihre Schüle­ rinnen werden sich mehr im Kauswesen beschäftigen lernen späterhin. Grüßen Sie die Mutter und Mary herzlich, seien Sie ruhigen Mutes und behalten Sie lieb 3hren treuen Karl.

Karl Schrader an Lenriette Breymann.

Braunschweig. 9.Dezember 1871. Was ich Ihnen, liebe Lenriette, neulich geschrieben hatte, war, glaube ich, lückenhaft, ich möchte noch über unsern Leseabend und über Adolf etwas mehr sagen. Wenn man Adolf reden hört über Kunst, so sollte man meinen, er wäre ein Realist der schlimmsten Sorte, während er in der Tat völlig so sehr Idealist ist, als der echte Künstler sein soll. Er sucht und sieht — wie früher die griechischen Meister — das Ideale im Realen, er stellt, wie Krause sagen würde, das Göttliche in den Dingen dar, aber diese Dinge, die er darstellt, sind darum nicht weniger, sondern mehr wirklich. Darum, weil ihn seine reine, feine Natur von allem Gemeinen fernhält, und ihn alles Gewöhnliche ganz unbewußt idealisiert sehen läßt, ist er völlig sicher, nie von dem Wege wahrer Kunst abzuirren, und wenn er jetzt in Worten mehr technisches Können, Auffaffen und Darstellen der Natur betont als den höheren Inhalt der Kunst, so ist dies eine ganz natürliche Opposition gegen eine Richtung, welche sich Ideale rein ab­ strahierte aus ihrem Geiste, und den Boden des Realen ganz verließ. Wenn einmal das Extrem der realistischen Richtung ihm entgegentritt, so wird er sich ihm ebenso wie dem Extrem der idealistischen entgegen­ stellen. Ich habe eine große Achtung vor Adolf als Mann und als Künst­ ler, und weiß gewiß, daß er, wenn er gesund bleibt, noch Großes schaffen wird. Er ist eine so tüchtige, selbstbewußte und doch bescheidene Natur und so harmonisch, daß er auch in der Kunst, wo es doch so leicht ist, seine Kräfte falsch zu schätzen, nie Dinge, die seiner Natur nicht ent­ sprechen, versuchen, das Begonnene aber schön vollenden wird. Wollen und Können sind bei ihm im schönsten Einklänge.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 487 Wie schade, daß er nicht bei Ihnen in Neu-Watzum bleiben kann!

Sie sind beide füreinander geschaffen, um sich zu vergnügen

Aber er muß fort, an einen Ort, wo er größeres wirken kann, denn er ist dazu berufen. Leute wird er hier sein, vielleicht kommt er heute abend in

den Klub. Geht es Ihnen gut und sind Sie heiter? Sie sollten es, denn so

manches Sie auch zu tragen haben an den augenblicklichen Verhält­ nissen und an der Sorge für die Zukunst, so ist doch vieles gut, und Sie

können hoffen, daß es immer besser wird, weil Sie selbst es werden. Bald

haben Sie das Gleichgewicht IhrerNatur schöner wiedergefunden; denn Sie werden sich immer klarer, was Sie wollen, können und sollen, und gelingt nicht alles im äußeren Leben gleich, wie wir es möchten, so zeigt sich doch manche Blüte und Frucht, an die wir nicht gedacht hatten.

Ich arbeite ganz heiteren Mutes. Ein Exemplar des Korrespondenzblattes des Erziehungsvereins werden Sie heute erhalten haben; Lohl-

feld schreibt mir, daß die Vorträge in Dresden immer mehr Beifall fin­ den, er stellt in Aussicht, daß er im Sommer sein« Vorträge für den Druck bearbeiten will. Außerdem teilt er mit, daß er an dem LandWörterbuch für den deutschen Volksschullehrer von Petzoldt mitarbeitet,

und daß das erste Lest erschienen ist. Der Pastor Hirsche aus Hamburg ist hier. Gestern abend habe ich ihn im großen Klub flüchtig gesprochen und mich auch ein biöchen mit

ihm gezankt. AufmeineBehauvtung, daß hier im Schulwesen in Braunschweig manches zu bessern sei, rühmte Hirsche Braunschweig im Ver­

gleich zu andern Städten; mit der Zustimmung mehrerer Anwesenden hielt ich ihm entgegen, daß das, was geschehen sei, längst nicht genug, und daß mehr zu leisten gar nicht so schwer sei, wenn man nur guten Willen

und richtiges Verständnis habe. Leider konnte das Gespräch nur ganz kurze Zeit dauern, weil Hirsche schon im Fortgehen war; vielleicht kann

heute die Unterhaltung wieder begonnen werden, was mir um so lieber wäre, als er dem Hamburger Erziehungsvereine angehört, den für den Allgemeinen Erziehungsverein zu gewinnen sehr wünschenswert ist.

Außerdem ist Hirsche in der Schuldeputation in Hamburg, hat also dort gewiß vstl Einfluß.

Wie geht es Ihrem jüngsten Kinde Mary? Ist sie wieder gesund,

so daß sie Mittwoch Krause mit hören kann? Bei sich werden Sie sie

schwerlich behalten können; sie muß zu ihren Eltern zurück Grüßen Sie Annette und Mary beide herzlich von mir

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Kapitel 18: K. Breymann an K. Schrader. Neu-Watzum. 21. Dezember 1871.

So glücklich wie gestern bin ich nie gewesen, in meinem ganzen langen Leben nicht, und noch nie habe ich eine so schöne Sicherheit, ein so tiefes Verbundensein mit Ihnen empfunden als seit gestern; ich bin heute nicht traurig, mein Lerz konnte sich Ihnen ganz geben, wie es ist, und ich fühlte das Ihre in meiner Seele. Immer höre ich Ihre Worte: „Vertrauen Sie mir!" und ich tue es, Karl — o wissen Sie, was es heißt, jemandem vertrauen —, ja, denn Sie vertrauen auch mir. Ich habe dieses, das Frauenherz so beruhigende Gefühl, in Ihnen einen Schutz zu haben, in Ihrem Kerzen volles, ganzes Verständnis zu finden. Unsere Liebe steht klar in Krause geschrieben und mit dem Bewußtsein im Kerzen, in Übereinstimmung zu sein mit den edelsten

Geistern und bem (Seifte in der Natur wollen wir auch festhallen aneinander und mit Mut die Konsequenzen tragen, die uns treffen, weil wir unsere Wege gehen, sie in Übereinstimmung zu bringen suchen mit Gott, aber nicht uns sinnlose Gesetze diktieren lassen von einer unnatür­ lichen, lügenhaften Welt Wir müssen für die neue Zeit kämpfen mit Wort und Tat, mit Dulden und Ertragen; nicht nur ein rein persönliches Gefühl leitet uns in unsere Verhältnisse, sondern ein Bewußtsein, im neuen Leben zu stehen. Sowenig das Wort „Individualität" in seinem Inhalte be­ griffen wird, ebensowenig das Wort „Karmonie", sowohl der Geisteskräste untereinander, als Karmonie zwischen Geist und Sinnlichkeit; und ich glaube, darum paßt die Frau vor allen Dingen zur Erzieherin, weil ihre Kand zart genug empfindet, um von vornherein die so feinen Fäden zwischen Sinnlichkeit und Geist zu weben, die diese beiden großen Faktoren des Lebens zusammenhalten. Es ist der Naturanlage des WeibeS so vertraut, das Sinnliche und Geistige in schönem Zusammenhange zu verweben, weil sie das Größte zu leisten hat im allgemein Menschlichen, während der Mann in einzelnen Richtungen seine Auf­ gabe findet, und es ihm daher viel leichter wird. Sinnliches und Geistiges zu trennen Glauben Sie mir, wenn wir junge Mädchen dazu erziehen, mit wirklicher Liebe für die Kleinen, die nicht ihr eigen find, zu arbeiten, so erwecken wir im Weibe das instinktive Gefühl der Mütterlichkeit; sie weiß es nicht, aber dennoch liebt sie ihr künftiges Kind — o so viel

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 489

mehr als sich selbst, und wir können einem Weibe in allen Lagen des Lebens einen Schutzengel mitgeben, wenn sie Kinder liebt und versteht; es umgibt sie eine stille Glorie, die ganz etwas anderes ist als Anstandsund Schicklichkeitsregeln, welche wie ein übertünchtes Grab erscheinen; sie weiß es nicht und soll es gar nicht wissen, wie alles, was sie für andere Kinder tut, sich still nach innen wendet und dort, ihr selbst un­ geahnt, bei vollem, frischen Mädchenleben die Glorie der Mutter-

würde vorbereitet, und was kann ein solches Mädchen dem Manne sein I Es ist vielleicht ein Zeichen von dem starken Egoismus meiner Natur, daß Liebe zu einer teuren Mutter, zu lieben Geschwistern und Schülerinnen nicht in mir schaffen konnte, was Liebe zu dem geliebten Manne bewirkte. Vielleicht sind andere Frauen darin besser veranlagt, ich will mich nicht besser darstellen, als ich bin, sondern der Wahrheit die Ehre geben und sagen, daß mein Kerz der Liebe zu einem Manne be­ durfte, um den natürlichen Egoismus nach und nach zu lösen in ein schönes Bedürfnis der Eingabe an andere. — Ich habe dies auch vor meiner Liebe zu Ihnen empfunden, und die Sehnsucht danach gehabt; aber es beginnt jetzt erst organisch und. still meine Natur zu durchbrechen; und so kann ich selbst vor Gottes klarem Angesichte kein An­ recht in dieser Liebe und ihrer Äußerung finden; kann nichts in ihr finden, was ich meiner Stellung, meinem Berufe zu opfern schuldig wäre; um so weniger, da ich gerade meinen Beruf so innerlich erfaßt und immer Menschen bilden wollte, wie ungeschickt ich es auch oft anfing; so strebte meineNatur auch menschlich zu sein, und dem bin ich gefolgt, das ist alles 1 And wenn mich auch manches trifft, was schwer zu ertragen ist, so ist das nicht Folge meines Verhältnisses zu Ihnen, sondern Folgen mancher Schwächen meiner Natur überhaupt, die zu ungeduldig, un­ ruhig, erregbar ist; Folge von dem Widerstreben meiner Natur, sich in den Mechanismus zu bequemen, ohne welchen doch kein Idealismus gründlich in der Welt wirken kann. Ich habe auch tapfer gegen diese gekämpft und kämpfe auch weiter; diese ändern sich auch mit dem Wachstum und der Vertiefung unserer Liebe; je klarer wir beide wissen, welch eine wirkliche Stütze wir aneinander haben, desto felsenfester gründet sich unser Vertrauen ineinander und miteinander in Gott, und dies heilt von Grund aus die Anruhe hier und gibt vielleicht eine schöne Beweglichkeit dort.

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Kapitel 18: And so, mein lieber Karl, wollen wir miteinander ruhig die Kon­

sequenzen unserer Liebe tragen, mag eine Zeit schwerer Prüfung über

mich hereinbrechen.

Nichts, Karl, nichts wollen wir rein äußerlich

nehmen, nicht, waS man ängstliche Vorsicht nennt, üben; aber wir

wollen klar und klarer werden, was wir wollen, und diesem höheren

Wollen, diesem innersten, göttlichen Sein wollen wir unser Leben

unterordnen. Haben wir es objektiv für recht erkannt, wie wir leben, und lernen wir einander immer tiefer und inniger verstehen, so wollen wir unsern Mitmenschen und der Nachwelt durch unser Leben ein

größere- Recht auf individuelle Freiheit, die Harmonie zwischen Natur

und Geist, dem jedesmaligen äußern Verhältnisse angemessen er-

kämpfen, indem wir unser inneres Glück nicht mit Füßen treten, aber

dasselbe wiederum ausstrahlen lassen in Liebe für andere. Ist das Christentum, sind Krause, Fröbel eine Wahrheit — nun wohl, Karl, so lassen Sie uns versuchen, sie zu l e b e n. Sie und ich können

überhaupt nur leben, wenn wir streben, Charaktere zu sein, d. h. wenn wir Harmonie zwischen Handeln, Denken und Fühlen herstellen, eine

Harmonie von Geist und Natur, den jedesmaligen Verhältnissen ange­

messen. And was wir fortan füreinander tun, wie wir einander stärken durch persönliches Leben und Beisammensein, durch persönliche, zärt­

liche, warme Liebe, wir sind nicht allein getrieben von dem Zuge unserer Herzen; nicht nur auS dem Bedürfnis, einander der Zusammengehörig­

keit zu versichern; sondern wir tun es im Bewußtsein des Rechtes; im

Bewußtsein, daßGottMann undWeib für-, nicht gegeneinander ge­ schaffen; füreinander in den verschiedensten Verhältnissen, und daß

jedes Verhältnis zwischen Mann und Weib in sich unschuldig be­ schlossen und rein ist, wie Krause sich ausdrückt, wenn es seiner jedesmaligen Natur gemäß ist, und jeder innern Entwicklung die äußere Form folgt, die ihr gemäß. Jedes Alter hat auch seine besonderen Grenzen und Freiheiten,

die eben ganz in der Natur der Sache liegen, und die Hauptsache bei dem Verhältnis der Geschlechter ist eben die: Die Menschen erziehen zur innern Sittlichkeit und Harmonie, und dann zwei Menschen, die in

sich reif und entwickelt sind, aus der Vormundschaft der Welt zu ent­

lassen. Fühlen z. B. zwei Menschen, die sich innig, herzlich, aber fteundschastlich lieben, daß ihre Liebe eine andere wird, die nur in der Ehe

Korrespondenz zwischen S>. Breymann und K. Schrader bis 1872 491

ihr volles Ausleben finden kann, so werden sie entweder eine solche schließen oder alles vermeiden, was sie leidenschaftlich erregt. Ja, ich

meine, es muß den Menschen gestattet sein, besonders in späteren Jahren

zusammen zu leben, zu wohnen, ohne verheiratet zu sein; man muß endlich dahin kommen, den beiden Menschen vollständig Vertrauen zu schenken, ihr inneres Leben in Äarmonie mit dem äußeren zu gestalten. Doch so weit sind wir noch lange nicht, und doch glaube ich, daß mit größerer Freiheit größere Sittlichkeit einzöge. In dem Zwange, der jetzt herrscht, schleicht sich in vieles, was berechtigt ist, fast immer eine

Ungerechtigkeit mit ein, und dies empört und treibt die Menschen ost zu

einer Leidenschaftlichkeit, die sich nie entwickelt hätte, wenn nicht der

Druck den Gegendruck hervorriefe.

And so Karl, wollen wir wohl anhören, „was die Leute sagen", denn „die Leute" sind auch Menschen, aber wir wollen sie allmählich erziehen

zu größerer Freiheit des Geistes. Ich bin ebenfalls für einen freieren herzlichen Verkehr zwischen jungen Leuten beiderlei Geschlechts, ohne daß sie sich Keiratsversprechen geben. Wissen Sie, mein lieber Karl, was meine Lebensaufgabe ist? Nicht absolut eine Erziehungsanstalt oder ein Institut oder irgend

dergleichen zu haben, sondern ein Leben und Streben, das Arbild der

Menschheit aus seiner Verzerrung mehr und mehr anZ Licht zu ziehen. „Der Mensch in seinem dunkeln Drange" gilt auch von mir. Keine Stellung paßt für mich, in der ich den Krause-Fröbelschen Ideen un­

treu werden müßte; denn sic ermöglichen die Realisierung des Christen­ tums. Von vornherein lag der Keim in mir, dem Arbilde der Mensch­

heit zuzustreben, aber mit ihm trug meine Natur viele, viele Schwächen,

die um so stärker wirkten, weil niemand mein eigentliches Wesen ver­ stand, niemand mich erzog. Was die Welt uns Trübes schafft, was wir in ihr bekämpfen, habe ich nicht viel davon in mir selbst? Ich weiß jetzt,

daß manche Schwäche schon hinter mir liegt, und wenn mein eigent­ liches Wesen reiner ans Licht tritt, so verdanke ich es vor allem meiner Liebe zu Ihnen

K. Schrader an 55. Breymann. Braunschweig. 19. Januar 1872. Daß Sie keinen Brief heute morgen erhalten haben, daran ist Ihr

Bruder Karl schuld, der gerade die Zeit mir wegnahm, als ich schreiben

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Kapitel 18:

wollte. Von Ihnen habe ich auch keinen Brief erhalten, weil Sie gestern durch andere Gedanken zu sehr in Anspruch genommen waren. Sie haben gewiß etwa-Kanonenfieber gehabt, und Ihrem Lesen merkte man an, daß Sie ängstlich waren. Trotzdem haben Sie, abgesehen davon, daß Sie die Stimme zuweilen zu sehr sinken ließen, sehr gut ge­ lesen; oft fühlte man die Begeisterung, die Sie beim Schreiben einiger Stellen beseelt hatte, durch. Seit ich Sie das Buch*) habe lesen hören, bin ich noch mehr als vorher überzeugt, daß es auf alle, die es lesen, einen großen Eindruck machen wird. Der Gedankengang ist klar, der Ausdruck so präzis, wie man es nur wünschen kann, so daß die Schwierigkeiten des Gegenstandes und der Behandlung gar nicht gefühlt werden. Ich habe die allerbeste Hoffnung für den Erfolg des Buches auch in weiteren Kreisen; neugierig bin ich, was Kohlfeld dazu sagen wird. Vielleicht bekommen Sie heute oder morgen den ersten Bogen zur Korrektur, so daß wir morgen nachmittag — wenn Sie meinen Besuch nicht abbestellen — sie zusammen machen können. Vielleicht kann ich noch einige Arteile über Ihr Buch sagen, die ich heute wohl von andern höre. Gestern war ich sehr stolz darauf, liebste Henriette, daß Sie mich so lieb haben; ich fühlte, wie Sie bei einigen Stellen Ihres Manuskripts beim Schreiben und beim Lesen an mich dachten, und wie sich so manches auf unsere Liebe zuriickfiihren ließ. Nicht wahr, ich habe recht? Behalten Sie mich ferner so lieb zunächst einmal bis morgen. Hoffentlich treffe ich Sie dann von einer Sorge, die Sie gequält hatte, erleichtert und wohlauf H. Breymann an K. Schrader.

Neu-Watzum. 21. Januar 1872. Was soll ich Dir sagen, mein einziger, lieber Karl, mein Herz ist so voll, meine Seele nur ein Glück! Ich denke nichts, ich fühle nur in Dir! Was ist das Leben so wunderbar, da arbeitet man, da müht man sich ab um die Menschen, da ringt man mit der Welt und leidet tausend Schmerzen, und dann findet man in einer Seele alles, alles, was die Welt nicht geben kann, und in ihr vergißt man sie und die Sorge um sie............ *) Grundzüge der Ideen Friedrich Fröbels, angewendet auf Kinder­ stube und Kindergatten. Braunschweig, Schwetschke und Sohn (Bmhn) 1872.

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 493

Wie können die Menschen existieren ohne Liebe, Karl, ich begreife es nicht; aber nur, weil sie nicht wissen, was sie ist, weil sie nie das zweite, eigentliche Leben lebten, so vegetieren sie fort in dem ersten und

nähren sich an armseliger Kost und bilden sich ein, glücklich zu sein. Ich denke mir den Übergang vom irdischen Leben zu einem andern Dasein nach dem Tode wie den Schritt von einem Leben ohne Liebe ins Reich derselben, und gestern habe ich zum ersten Male die ganze Herrlichkeit dieses Daseins empfunden ... Die Wirklichkeit hat mich ergriffen in

ihrer ganzen Schönheit und ein Gleichgewicht in mir begründet -wischen

Sinnlichkeit und Geist, was das Höchste ist, das die menschliche Natur

erreichen kann Karl, ich glaube wir sind doch gut« Menschen, sonst könnten wir

nicht so glücklich sein. Du bist auch glücklich in mir, wie ich in Dir, mich quälen keine Zweifel mehr, keine Angst erfaßt mich, daß Du mich nur liebst, weil ich Dir mein Kerz mit seiner Liebe gezeigt; Du sagst. Du

hast mich schon so lange liebgehabt, und das muß ich doch durchgefühlt haben, trotzdem Du eine starre Decke der Zurückhaltung und Kälte

darüber breitest; aber nun ist sie geschmolzen und wollte und könnte sie je sich wieder Hilden, ich küßte sie hinweg; denn ich weiß ja nun,

welch ein tief liebendes Kerz Du hast. O, suche es nicht mehr zu ver­ bergen, Karl, Gott hat uns füreinander geschaffen; wir gehören ein­

ander für alle Ewigkeit, diese Wahrheit ist so tief und still, und doch so

laut in meinem Kerzen. Mein ganzes Wesen wird von Dir befreit, «S ist, als wäre ich gewisser Bande los geworden und stände voll und ganz

im schönenBoden der Natur, die, vom Geist geheiligt und verklärt, ihre Auferstehung feiert. Weißt Du, was es ist, sich wirklich fiihlen? Ist es nicht bei Dir dasselbe, bist Du nicht vom Schein ins Sein getreten? O, zehn Vorträge wollte ich halten mit all den scheußlichen Ängsten

für einen Tag wie gestern und, Karl, wie gern will ich arbeiten, wenn ich Dich habe, mit Dir immer tiefer eindringen ins Leben mit diesem

wundewollen Verständnis unseres Seins. O, die Menschen freveln an Gottes Güte, die die Sinnlichkeit verdammen, wo sie mit dem Geiste

vermählt, das Kerz zum Kerzen zieht; da ist Gott selbst mit seiner Liebe. Nein, ich glaube, Gott hat sie uns gegeben dem Geiste zur Stütze, denn

die Zärtlichkeit gibt uns vom Wesen des andern mehr als Worte es können, und wo die Geister so zusammengehören wie die unsrigen, da ist es eine stille, heilige Konsequenz, daß auch die „rein leibliche Liebe",

wie Krause sagt, dem Geiste seinen Körper gibt. War es nicht besser. Du

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Kapitel 18:

bliebest gestern hier, als daß Du in den Landwerkerverein gingest? Karl, verachte die Natur nicht; ich will Dich nicht Deiner Pflicht ent­ ziehen, aber laß uns klar sehen, wo wir andern am meisten nützen.

Denke an Dein stüheres Leben, was wäre aus Dir geworden, wenn es

so weiterging mit dieser Unterdrückung Deiner Natur — nicht wahr, wir wollen Fröbelisch sein und die Vermittelung der Gegensätze suchen?

Wir wollen für andere arbeiten, aber nicht die Möglichkeit von uns

weisen, selbst glücklich zu sein; ich will alles tun, was Dein wirkliches Glück begründet, und wenn Du mich weit fortschicktest, und es Dir wirklich nützen könnte, so ginge ich. Willst Du eS glauben, wirklich glauben, daß ich einmal einen Menschen mehr liebe als mich selbst?....

Du weißt, ich liebe Dich über alles, über diese Anstalt, über meine

Familie, über alles, was ich mir denken kann, und wenn ich Dir nicht mein ganzes, ganzes Leben weihe, so ist es nicht mein persönlicher Wille,

Du weißt es wohl. Ich habe meiner Natur nach das tiefste Bedürfnis, jedem innern Zustande eine entsprechende äußere Gestaltung zu

geben und finde mich schwer in unser Leben, wie es jetzt sich macht. K. Schrader an L. Breymann.

Braunschweig. 25. Januar 1872.

Meine liebe Henriette 1

Zum ersten Male schreibe ich an Dich als meine liebe Braut, die mir ganz gehören will, wie ich ihr. Wir haben gestern die Seligkeit empfunden, die darin liegt, mit einem geliebten Menschen sich so ganz

verbunden zu wissen, verbunden in aller Lebensgemeinschaft zu gemeinsamer Verschönerung und Veredelung des Lebens. Fühlten wir nicht beide, daß für uns, obwohl wir doch nicht tatenlos durch die Welt

gegangen sind, das wahre Leben, das nur in der vollen Gemeinschaft von Mann und Weib besteht, erst beginnen soll, daß wir beide von einem Zwange erlöst werden, der unsere Naturen zusammenschnürte, bis sie schmerzten? Wir freuen uns, nun einmal Menschen für uns, nicht

bloß nützliche Werkzeuge für andere sein zu können.

Wenn wir uns, mehr wie es andere vermögen, versichert halten

können, daß wir einander wirklich glücklich machen können, und wenn wir deshalb mit weit mehr Mut wie andere in die Zukunft blicken kön­

nen, so wissen wir doch auch, daß wir sowenig wie andere ohne Prüfung und ohne Kummer durch das Leben gehen werden. Wir kennen den

St orrespondenz zwischen 55. Breymann und St. Schrader bis 1872. 495

Ernst des Daseins und empfinden voll, was es heißt, wenn wir unS ver­ sprechen, ewig einer dem andern ganz zu gehören, und Leid und Freude zusammen zu tragen. Nicht mit dem Leichtfinn der Jugend, als ge­ reifte Menschen, die wohl wissen, was uns das Leben bringen kann, haben wir uns unser Wort gegeben; alle die Deinigen fühlten mit uns, daß wir einen ernsten Schritt taten, und neben aller Freude wurden uns ernste, ja traurige Gedanken nicht erspart. Gleich vom Anbeginn müssen wir wieder nicht bloß fiir uns, sondern auch für andere sorgen; wir müssen ja die Verpflichtungen, die unser früheres Leben uns auferlegt hat, achten Sieh, liebe Lenriette, es ist nicht der jubelnde Rausch der Freude, wie sie andere, weniger ernste Brautleute empfinden mögen, aber es ist um so heiligere, tiefere Wonne, die uns beseelt. Sind wir nicht wunderbar zusammen­ geführt und zusammengehalten trotz aller Lindernisse, die uns im Wege lagen? Sehen wir nicht jetzt, wenn wir die letzten Jahre überblicken, wir auch Traurigkeit und Schmerz dazu hat dienen müssen, uns enger zu verbinden und uns füreinander umzugestalten? Sollen wir nicht darin eine Fügung GotteS erkennen, die uns so zusammengeführt hat, und darum auch die heilige Verpflichtung, unserer Bestimmung nachzu­ gehen? Wenn morgen kein Teeabend wäre, so käme ich; es ist aber besser, ich komme Sonnabend ... jetzt müssen wir öfter voneinander hören. Lebe wohl, liebste Lenriette, und behalte lieb Deinen, nun ganz Deinen Karl.

Lenriette Schrader an ihre ehemaligen Pensionskinder in Neu-Watzum. Berlin. 23. 25. Mai 1872. Meine lieben, jungen Freundinnen 1

Der Schritt ist getan, ich habe ein altes Leben verlassen und bin in ein neues eingetreten; der 30. April war mein Lochzeitstag. Von diesem Tage weiß ich Euch wenig oder gar nichts zu sagen, als daß ich von vieler Liebe Zeugnis erhielt, und mit tiefer Freude und heiligem Ernste meinem lieben Manne die Land reichte, mit dem ich schon seit Jahren in Freundschaft verbunden war, mit dem ich alle meine geistigen Interessen geteilt hatte und mich in diesen von ihm ver-

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Kapitel 18:

standen fühlte, wie von niemand früher. Wir kannten einander, und so war es nicht der Lochzeitstag, welcher uns den ganzen Ernst des Schrittes den wir taten, besonders nahe gebracht hätte, der mir der Schmerz der Trennung brachte — nein, der Ernst unserer Verbindung war schon gelebt, und der Schmerz der Trennung von den Meinen, von einem Werke, an dem ich lange Jahre Mitarbeiterin gewesen, hatte sich seit meiner Verlobung still innerlich vollzogen. Andere werden es übernehmen. Euch von dem, was eine Lochzeit mit sich bringt, zu erzählen; ich rate Euch aber nur Augenzeugen zu glauben, denn die gute Stadt Wolfenbüttel hat sich allerhand Märchen erdacht .... von verschwenderischer Pracht; von alledem ist nichts wahr. MeinMann hatte mir eine hübsche, aber an sich einfache Toilette geschenkt: Ein lila Sammetkleid und einen weißen Brüsseler Spitzenschleier; ganz ohne Schmuck von Gold, Perlen oder Diamanten war der Anzug, und meine lieben Geschwister schmückten das Laus mit Grün und Blumen; das war alles, aber die einfachsten Dinge geschmackvoll geordnet, machen oft den Eindruck von etwas Besonderem, und an die schöne Larmonie des Arrangements von Turnhalle, Eßsaal, Empfangs­ räumen knüpfte wohl die müßige Einbildung Wolfenbüttels das Weitere an. Es ist eine eigentümliche Erscheinung im geselligen Leben, wie die Menschen so selten sich an dem Glück anderer wirklich freuen, wie sie so selten einfach bei derWahrheit bleiben, und wie sich das Interesse, das sie an andern nehmen, so leicht verzerrt, und sie der Individualität nicht ihr Recht lassen. Wie sie über Dinge richten, an ihnen zerren und kritteln, die sie doch nichts angehen imGrunde, und wie sie am wenigsten vertragen können, wenn man aus alle dem nichts macht, ruhig seinen eigenen Weg geht und in eigener Weise glücklich ist, ohne andere zu ftagen. Das Wahre, Schöne und Gute hat nicht nur eine Form, sondern viele; wie sich das einfache Weiß in tausend Schattierungen von Farben bricht, und gerade dieMannigfaltigkeit dem Leben seinenReiz verleiht; so sollen wir auch lernen, uns am Wahren, Schönen und Guten, ja, schon am Streben danach zu erfreuen, trete es auf in welcher Form und Gestalt eS wolle. Der Mensch ist ein beschränktes Wesen, er kann sich hauptsächlich nur in einem Typus ausleben; aber er kann sich unendlich bereichern in sich selbst, wenn er liebevoll auf andere eingeht und in Liebe sich das

Korrespondenz zwischen 55. Breymann und K. Schrader bis 1872. 497 bei andern zu eigen macht, was er in seiner Beschränktheit nicht leben kann. Die wahre Mitfreude am Glück anderer, das wahre Mitleiden bei ihrem Leiden vervollständigt das eigene Leben und macht es reich und schön. Später. Lier wurde ich unterbrochen von dem Besuche von Agathe Toberentz, einer früheren Schülerin von mir; sie lebt hier mit ihrer Schwester, und da sie in ihrer eigenen Läuslichkeit wenig zu tun, für niemand besonders zu sorgen hat, so arbeitet sie in einem Volks­ kindergarten, weil sie das Bedürfnis fühlt, mehr und Ernsteres zu tun, als sich selbst zu leben. Die eine oder andere von Euch hat sie wohl getonnt und freut sich, von ihr zu hören, daß sie frisch, wohl und heiter war; ich werde sie Sonnabend, wo mein lieber Karl zu einer Konferenz nach Magdeburg reisen muß, besuchen; mein erster Besuch in Berlin. Wir lebten bis jetzt ganz still für uns, außer daß wir die Freude hatten, Adolf, Dr. Schrader und Frau und Lerrn Professor von Bar bei uns zu sehen. Sie haben unsere LäuSlichkeit kennengelernt, finden unser Leben gemütlich, gar nicht wie man es sich in einem' Lotet denkt; es ist auch hier anders, indem meist Leute hier logieren, welche längere Zeit in Berlin bleiben. Wir haben drei hübsche Zimmer, die Aussicht in einen Park, und somit bin ich nicht getrennt von der Natur, von Bäumen, die ich so liebe. Auch in den Zimmern ist es behaglich; ich mache morgens und abends den Tee, koche Eier usw. und besorge schon manches kleine, häusliche Geschäft, was mir ordentlich wohltuend ist. Meine Gedanken haben dabei Zeit auszuruhen, wie sie überhaupt einmal von andern Dingen in Anspruch genommen werden, als früher. Karl spricht gern mit mir von seinen Geschäften; ich interessiere mich für dieselben und freue mich, daß ich alles verstehen, ihm in seinen Gedanken und Arbeiten folgen kann, und daß ich das Leben von einer neuen Seite kennen­ lerne. Er dagegen geht auf alles ein, was mich in bezug auf Erziehung beschäftigt, macht Pläne mit mir, wie wir etwas tun können, den Men­ schen zu helfen. Dann lesen und studieren wir manches zusammen, vor allem augenblicklich die Werke des Philosophen Krause, wozu wir be» sonders in Dresden, wo wir kürzlich waren, neue Anregungen be­ kamen. Karl hatte dort am letzten Freitage Konferenz, wir fuhren heute vor 8 Tagen dorthin, wir hatten vorher im Lotet Bellevue Zimmer be­ stellt. Dort fanden wir ein schönes Bukett von Rosen, Adolfs Gabe, L y I ch t n t r a, Henriette Schrader I.

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Kapitel 18:

und auch einen Brief von Mary Lyschinska auf dem Tische; es ist so schön, wenn man an einem fremden Orte von Zeichen der Liebe be­ grüßt wird; man fühlt sich so heimisch. Bellevue ist ein reizendes Kotel; wir aßen abends im Glassalon, in dem man die schönste Aussicht auf die Elbe hat; ein Freund Karls, Dr. Kohlfeld, war unser Gast, und ebendieser Mann, mit dem wir viel

zusammen waren, hat uns viel Anregung und Stoff zum Denken ge­ geben; er ist einer der tüchtigsten Lehrer Dresdens, schon zehn Jahre an einem Realgymnasium, und seine freie Zeit wendet er zum Teil an, Frauen Vorträge zu halten, indem er in der tüchtigen geistigen Bil­ dung der Frau einen Kaupthebel zum Fortschritte des Menschenge­ schlechts sieht. Dieser Dr. Kohlfeld findet nun in Krause einen Philo­ sophen, der es versteht, die großen Gegensätze und Widersprüche des Lebens, die den Menschen oft packen und zersplittern, friedlich zu ver­

schmelzen, und der die konzentrierten Wahrheiten des Christentums er­ weitert und verständlicher macht. Krause und Fröbel gehören zusam­ men, ersterer hat die wissenschaftliche Grundlage gegeben, Fröbel die direkte Anwendung der Gedanken auf die Erziehung kleiner Kinder. Ich habe Kohlfeld gebeten, die Krauseschen Werke oder wenigstens einiges von ihm zu bearbeiten, daß sie auch jungen, ernst denkenden Mädchen zugänglich sind, und nicht nur, wie jetzt, Männern von Fach und Wissenschaft. Am Freitage, wo mein Mann eine Konferenz hatte, führte mich Bruder Adolf in die Bildergalerie. Wir erlebten dort schöne Stunden, nahmen einige italienischeMeister durch, z.B.PaulVeronese,Correggio, Tizian, Raphael, und Adolf, der ja zwei Jahre in Italien war, er­ öffnete mir für manches ein Verständnis, indem er mich auf vieles auf­ merksam machte, was dem, der das Land nicht kennt, in welchem die Schöpfungen entstanden, leicht entgeht. Am Nachmittage fuhren wir von Dr. Kohlfeld geleitet zum Stiftungsfeste deS Freimaurer-Instituts, wo eine große Mädchenpension von 70—80 Zöglingen ist; sie führten einen wunderschönen Reigen auf; der Turnlehrer war zugleich Tanz­ lehrer und zeigte wirklich in der Praxis, wie bei jungen Mädchen das Turnen neben der Kräftigung des Körpers vor allem die Anmut desselben entwickeln soll. Ich fühlte mich ganz in meine alte Welt versetzt, und alle Interessen, die mich mein Leben hindurch beherrscht, wurden lebendig angeregt. Unser Rückweg führte uns über die Terrasse, ein prachtvoller

Korrespondenz zwischen $5. Breymann und K. Schrader bis 1872. 499 Sonnenuntergang entzückte uns, undNatur und Geist, den die Herren in interessanten Diskussionen entwickelten, verschmolzen zu wunder­ barer Schönheit ineinander. Mir traten zuweilen unwillkürlich die Tränen in die Augen; es war mir, als trieben mich die Wellen der Schönheit des Lebens so still dahin, und mit tiefem Atemzuge der Seele genoß ich das Glück, das mir durch mein neues Dasein geworden — so sicher zu ruhen in der Liebe, Treue und in dem vollen Verständnis eines andern Herzens und im Verein mit ihm die Blumen edeln Ge­ nusses pflücken, die uns geboten wurden — das war volles, schönes Leben. Die Herren aßen mit uns im Bellevue zu Abend, und da entspann sich ein lebendiger Streit zwischen Dr. Lohlfeld und mir, der bis spät hin dauerte, sich aber schließlich in Verständnis auflöste; wir stritten über die Art und Weise, durch andere Bildung der Schauspieler das Theater zu veredeln. Sonnabend machten wir noch einen Besuch bei Adolf, eine Spazierfahrt im großen Garten, aßen dort zu Mittag und fuhren dann dem lieben Neu-Watzum zu. Nur bis Dienstag konnten wir bleiben, aber die kurze Zeit unseres Dortseins war mir wie ein lieber, sanfter Kuß, so schön, so wunderschön war es dort. Ich habe nie daS Glück gering geschätzt, eine geliebte Familie zu haben; aber erst jetzt empfand ich den Segen in einer neuenVerklärung; meine teure, verehrte Mutter und die lieben Schwestern und Brüder wiederzusehen, wo ich nicht mehr für immer unter ihnen weilte, wo ich zu der Liebe, die ich immer für sie gehegt, noch ein neues, reiches Liebesleben bringen konnte, war fast Seligkeit; auch mein Karl war so vergnügt, und so feierten wir ein herrliches Pfingstfest. Ich muß und darf es offen gestehen, daß durch Albertine und Werner Amsinck ein Element in die Pension gekommen ist, das ihr zum großen Segen werden kann. Karl und LuiSchen können sich nun ganz auf den Unterricht konzentrieren und werden die Klassen gut leiten. Albertine mit ihrer Milde, Aufopferung und Tüchtigkeit bringt so das wahre mütterliche Element, sie nimmt Anna so vieles ab, so daß ich diese viel freier und heiterer fand, und Werner ist so frisch und heiter; wir haben herzlich gelacht über seine Einfälle. Albertine und Annette Schepel haben ihren Liebesbund von früher erneuert, sie sind einander viel, und das ist mir für beide eine große Freude. Annette weiß so ganz, was ich erreichen wollte mit den jungen Mädchen, sie ist Albertine eine Stütze, und Albertine versteht auf Annettens reiches inneres Leben ein* 32»

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Kapitel 18:

zugehen. So wird Annette wohl vorerst in Neu-Watzum bleiben, und

eS ist mir für meine Schwestern und für die Pension ein Trost, wenn sie bleibt. Bei mir ist aber immer ihre Leimat; in der neuen Wohnung, die

wir zum Oktober beziehen, wird ihr Zimmer eingerichtet, sie ist mit Rücksicht auf Annettens Zusammenleben mit uns gemietet, und jederzeit findet sie bei uns eine heimatliche Stätte. Ich freue mich recht auf meine eigene kleine Kaushaltung, Auguste

wird zu uns kommen, und dann nehmen wir noch einen Burschen. Karl hat es nicht gern, wenn ich mich selbst viel mit Einzelheiten im

Lause beschäftige, aber er weiß wohl eine gute Führung desselben zu schätzen, und di« kann nur stattfinden, wenn die Frau alles versteht, und so muß ich meine Zeit zu Rate halten. Am 10 Ahr geht Karl auf das

Bureau, da werde ich mit Auguste 2—3 Stunden wirtschaften und alles

so einrichten, daß Karl es gemütlich findet und doch meine Gegenwart nicht entbehrt, wenn er kommt. Sein Bureau ist Askanischer Platz 7, unsere künftige Wohnung auf demselben Platze Nr. 4, ich habe dort eint schöne Aussicht ins Freie, in liebe grüne Bäume, ich hoffe alles behaglich einzurichten und werde mich unendlich freuen, wenn Ihr mich

aufsucht in meiner neuen Leimat. Leider muß ich den Sommer über noch eine Kur gebrauchen, da mein rheumatisches Leiden, wenn auch viel besser, so doch nicht gehoben

ist. Wann, ist noch nicht bestimmt; der Gedanke an diese Trennung von meinem liebenManne und meinem neuen Leben hier zieht wie einWol-

kenschatten über mein schönes, stilles Glück; ich spreche so auS voller Seele mit der Prinzessin in Tasso: „Was ich besitze, mag ich gern bewahren: DerWechsel unterhält, doch nützt er kaum." Für die Jugend ist

es anders, der Drang, das Leben zu verstehen, äußert sich auf verschiedene Weise, sie liebt den Wechsel; aber im reiferen Alter, wenn man da Arbeit, Befriedigung in seinem häuslichen Leben findet, fürchtet man eher die Anterbrechung, als daß man sie willkommen heißt, auch ohne eine schmerzliche Trennung, wie sie Karl und mir bevorsteht. Wir leben hier so still und häuslich und wissen kaum, daß wir in

der Weltstadt sind. Am 2 Ahr essen wir in meines Mannes Zimmer;

während der Kellner abräumt, sind wir in meiner Stube und plaudern, oder lesen Zeitungen. Gegen 4 Ahr geht Karl noch einmal zumBureau, oder läßt sich eingegangene Arbeiten hierherbringen. Er hat eS gern,

wenn ich in seinem Zimmer bin, wenn er arbeitet, ost liest er mir vor, was er geschrieben, läßt mich Asten lesen und führt mich so in seine Ge-

Korrespondenzzwischen L.Breymann undK. Schrader bis 1872. 501 schäfte ein. Gegen abend machen wir einen Spaziergang, um x/a9

trinken wir Tee, und wenn wir nichtBesuch haben, liest Karl mir noch

vor, wobei ich flicke oder dergleichen. Was es in Berlin Sehenswertes gibt, sparen wir uns auf, bis wir Besuch haben; nächstens erwarten wir einen so lieben, lieben, meine geliebte Annette; Karl und ich studieren

Kunstgeschichte mit Bezug auf dasMuseurn, um Annetten gute Führer zu sein. Auf dieseWeise haben wir selbst vielNutzen von unserrnBesuch,

und niemand braucht zu fürchten, daß wir uns aufopfern, wenn wir mit ihm ausgehen; wir verbinden damit unser eigenes Vergnügen. Karl freut sich immer, daß er keine Frau hat, die noch wenig in der

Welt gesehen und die nun gern von ihm ins Theater und Konzert ge-

führt sein möchte; er liebt die gemütliche Häuslichkeit, gemeinsame ernste

Arbeit und ein ernstes, ruhiges Gespräch sowie heitere Plauderei über alles, und darin stimmen unsere Neigungen so ganz zusammen. Karl

sagt oft, junge Leute sollten vor der Ehe reisen, tanzen, sich amüsieren, damit sie diese Seite des Lebens ausgelebt haben und mit der Heirat

in den Aasen ruhiger, schöner Häuslichkeit einlaufen, die sich gründet

auf ernste, tüchtige Arbeit. Nun habe ich Euch so viel vorgeplaudert, daß Ihr wohl ganz müde seid zu lesen, und deshalb will ich fiir heute Abschied nehmen, meine

lieben Kinder. Ich grüße Euch herzlich und hoffe bald von jeder zu hören, an die dieses Schreiben gelangt. Lebt wohl!

Eure Henriette.

Kapitel 19.

Autobiographisches von Karl Schrader. (Ein Fragment.) Q|Wein93etet Ludwig Schrader war ein angesehener Arzt inWolfen*Vv büttel, wo ich [em 4. April 1834] geboren und erzogen bin und daS ich erst 1861 mit Braunschweig vertauscht habe. AuS früherer Ehe waren schon drei mit mir noch zusammen lebende Kinder vorhanden, von denen aber eines früh verstorben ist; ich hatte noch einen jüngeren, rechten Bruder, Adolf, der mit mir aufwuchs. Kurz nach dessen Geburt starb meine Mutter, eine geborene Bar auS Hannover; ich bin also ohne Mutter ausgewachsen. Mein Vater war ein ernster, in sich gekehtter und stark beschäftigter Mann, den wir Kinder sehrachteten und liebten, der in jeder Beziehung für unS sorgte, aber nicht verstand, zu unS, als wir älter wurden, in ein rechteSVerhältnis zu kommen. Wolfenbüttel war ein kleines Städtchen von nur 8000 Einwohnern, aber ein vornehmes. ES hatte nämlich eine Anzahl von höheren Staats­ behörden in seinen Mauern, daS Landeskonsistorium, das oberste Ge­ richt, ein Mittelgericht und zwei untere Gerichte, eins für die Stadt, eins für einen Landbezirk, und eine Kreisdirektion, die Verwaltungs­ behörde des Kreises. Dazu kam von Beamten, waS daran hing, zahlreiche Advokaten und Notare, Anwälte und Ärzte und junge Juristen.

Das gab eine verhältnismäßig große gesellige Oberschicht, welche sich in sich abschloß. Dazu kamen noch viele Beziehungen zur nahgelegenen Residenzstadt Braunschweig. Das humanistische Gymnasium der Stadt war nicht groß; zu meiner Zeit zählte es nicht viel über 100 Schüler in allen Klassen; die oberen waren zum größten Teil von den Söhnen der Beamten besucht. Die Stadt war eine Beamtenstadt ohne nennenswerte Industrie und Kandel, die Kaufleute und Landwerker lebten von dem örtlichen Verbrauch und von dem wegen der vielen Behörden starken Verkehr mit den Landesbezirken.

Karl Schracler 1881.

Autobiographisches von Karl Schrader.

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Die Umgebung ist ländlich mit nahgelegenen großen Wäldern. Meine erste Jugendzeit, die ich mit meinem unt 21/a Jahre jüngeren Bruder Adolf gemeinschaftlich verlebte, war sehr friedlich. Mein Vater hatte vor dem Tode meiner Mutter große Geselligkeit gepflegt, und ein großes Laus erworben mit geräumigem Lose und einem kleinen Garten. Er behielt es nach dem Tode meiner Mutter, aber wir bewohnten nur noch die Parterreräume, die obere Etage war völlig möbliert, doch unbewohnt; ein großes Nebenhaus war ganz unbenutzt. Wir Jungens hatten also Raum genug in Laus, Los und Garten und konnten uns dort frei bewegen; wir hatten Pferd und Lunde, der Garten stieß an Nachbargärten, zu deren Kindern Beziehungen freundschaftlicher, auch wohl feindschaftlicher Art bestanden. Es wurde Krieg geführt und Friede geschlossen. Unserer Gesundheit bekam dies Leben gut. Mein Vater sorgte dafür, daß wir Leibesübungen trieben wie Turnen, Schwimmen, Laufen, in späteren Jahren wurde auch Fechten gepflegt. Unsere Ernährung war reichlich und gut, aber es gab weder eine» Überfluß von Fleischnahrung noch irgendwelchen Alkohol. Ich galt fiir ein schwächliches Kind, entwickelte mich aber in diesem Leben gut; eine Krankheit außer den Masern habe ich nie gehabt; Kuren nicht ge­ braucht; ich habe mich so gekräftigt, daß ich bis zu dem Augenblick, wo ich dieses schreibe, Krankheit nicht gekannt habe. Auf dem Gymnasium waren wir beide Brüder gute Schüler, die ihre regelmäßigen Klaffen absolvierten, beide machten wir gute Abiturientenexamina. , Das Gymnasium war nicht durch besonders geistreiche Lehrer aus­ gezeichnet; manche ließen sowohl in Disziplin als auch iu Wissen und Unterrichtskunst zu wünschen übrig, aber die Schüler der oberen Klassen bildeten sich, eben weil sie meist gleichartige und unter sich schon bekannte Knaben waren, ganz gut von selbst. Dazu trug eine eigenartige Einrichtung viel bei: Das Turnen war in jener Zeit als demagogisch in Preußen verboten, auch im Lerzogtum Braunschweig kein Teil des Schulunterrichts, aber es hatte sich am Braunschweiger und am Wolfenbüttler Gymnasium als eine Einrich­

tung der Schüler erhalten. Diese bildeten in Wolsenbüttel eine eigene, von dem Gymnasium uüd dessen Lehrern völlig unabhängige Turn­ gemeinde mit eigenem Turnwart, Vorturnern, eigenen Turngeräten und Kostüm, sogar mit eigener, nur durch ihre selbstgewählten Leiter, ohne jegliche Verabredung mit der Lehrerschaft geübte Disziplin. Die

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Kapitel 19:

Primaner und Sekundaner stellten Turnwart und Vorturner; einen Turnlehrer hatte man nicht, die Turnkunst wurde durch Tradition übertragen. Große Turnkünste leisteten wir nicht, aber wir hatten desto mehr Gelegenheit zum Laufen und Springen, denn der Turnplatz war im Walde. Wir haben dabei frühzeitig gelernt unseresgleichen zu gehorchen und zu befehlen, und das ist im späteren Leben uns vielfach zugute gekommen, das Verhältnis war dadurch auch ein besonders kamerad­ schaftliches. Die Turner waren nicht nach Schulklassen, sondern nach Alter und turnerischer Fertigkeit abgeteilt; alle Schüler des Gym­ nasiums duzten sich gegenseitig.

In meine Schuljahre fiel die Revolution von 1848. Das Land Braunschweig hat keine größeren Anruhen erlebt; die Regierung setzte der Reichsregierung kaum Widerstand entgegen; die Soldaten wurden auf die Reichsverfassung vereidigt, Abgeordnete zumReichstage wurden gewählt. Aber dabei blieb es nicht. Der verständige Staatsminister von Schleinitz schuf selbst fteiheitliche Reformen sowohl für Verfassung als auch für Gesetze der Landesverwaltung und Justiz. Die Reaktion blieb natürlich auch für Braunschweig nicht aus; aber sie kam doch nur in sehr milder Form. Der Äerzog hielt sich zurück, ließ das Land durch seine Minister regieren, und diese waren auch nicht geneigt, große reaktionäre Maßregeln zu treffen. Schon vorher hatte man mit der Ablösung der grundherrlichen Lasten, mit der Aufteilung des ländlichen Grundbesitzes und damit verbunden mit einer zweckmäßigen Zusammenlegung der Äcker begonnen, zum größten Vorteil des Landes, das dadurch schon früh einen stark begüterten Bauernstand und eine blühende Landwirtschaft erhielt. Wir Schüler wurden von allen diesen Dingen, wenn wir auch nicht daran teilzunehmen hatten, berührt, und die Ereignisse der späteren Jahre ließen uns in die Revolutionszeit verständnisvoller zurückblicken.

Als die Zeit der Berufswahl herankam, war weder für mich noch für meinenBruder ein Zweifel daran, daß wir Juristen werden mußten; das ergab sich aus unserer ganzen Umgebung. Der Vater drängte uns nicht zum ärztlichen Berufe; er kannte dessen Mühen und Schatten­ seiten zu gut, der älteste Sohn hatte ihn auch schon ergriffen. In derPrima waren zu meiner Zeit nur 10 Schüler.Nach heutigen pädagogischen Begriffen trieben wir schreckliche Dinge. Wir hatten zwei

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feindliche Verbindungen, die miteinander zankten. Sie duellierten sich mit stumpfenRapieren, aber ohne rechte Schutzdeckung; wir gingen auch gelegentlich in die Kneipen und hielten eine Art Kommers, aber wir waren dabei durchaus fleißig und ordentlich. In der kleinen Stadt, wo wir jungen Leute alle gut bekannt waren, gab es zu Exzessen keine Ge­ legenheit. In der Prima spielten die studentischen Beziehungen und Gegen­ sätze schon eine Rolle. Die schon studierenden Bekannten suchten die jüngeren für ihre Richtung einzufangen. Die einen gingen zur Uni­ versität als angehende Füchse der Korps, die anderen als Anhänger der Progreßverbindungen. Die letzteren waren ein Ergebnis derRevolution, welche das Jahr 1848 auch den Universitäten gebracht hatte. Diese richteten sich gegen den alten Komment der Korps und gegen den Duell­ zwang; es waren in Göttingen — unserer Landesuniversität — all­ gemeine Ehrengerichte eingerichtet, um das Duell zu beseitigen. Es bildeten sichVerbindungen, die Progreßverbindungen, welche das Duell entweder ganz untersagten oder doch nur unter besondern Voraus­ setzungen erlaubten und jedenfalls keinen Duellzwang zuließen. Ich und meine näheren Freunde, wir waren entschlossen, nach Göttingen zu gehen und in eine Progreßverbindung, die derReubraunschweizer, cinzutreten, während die andern in das Korps der Altbraunschweiger im Sommer 1853 eintraten. In unserm Kreise waren sehr viele nette und tüchtige Leute, die es zu etwas in der Welt gebracht haben. Wir waren fröhliche Studenten, die gern kneipten, aber ihre Studien nicht ganz vernachlässigten und sich gegenseitig dazu anregten. Meine Kollegien besuchte ich ziemlich regel­ mäßig, und ich arbeitete auch immer so viel, daß meinKollegbesuch frucht­ bar war. Ich bekam Interesse für die Jurisprudenz und lernte juristisch denken. Dabei half mir namentlich mein Vetter, Louis vonBar, der sich sehr früh juristisch auszeichnete. Neben juristischen Kollegien hörte ich auch nationalökonomische. In ein näheres Verhältnis trat ich zu keinem derProfessoren. MitVorliebe trieb ich die Fechtkunst, aber ich hielt daran fest, das studentische Duell für töricht zu halten und vermied die Gelegen­ heit zu kontrahieren. Von anderer Seite suchte man sie nicht; man wußte, da ich sehr viel auf dem Fechtboden zu sehen war, daß ich alle Waffen zu führen verstand. Im dritten Semester gingen Vetter vonBar und ich nach Berlin; auch mein jüngerer Bruder begann dort seine Studien.

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Studentisches Leben gab es nicht in Berlin, dazu war die Stadt schon zu groß, und das Dutzend Göttinger Bekannten, das dort zustimmen hinging, fiel schnell auseinander infolge der Verschiedenheit unserer Studien und Interessen. Wir dreiVettern blieben und wohnten zusammen. Das Berliner großstädtische Theater u. bergt lernten wir kennen, arbeiteten aber fleißig. 3m vierten Semester gingen wir nach Göttingen zurück und blieben zusammen, bis ich im Frühjahr 1856 meine drei Jahre absolviert hatte. Mein erstes juristisches Examen bestand ich leicht und gut und machte dann in Wolfenbüttel den dreijährigen Vorbereitungskursus durch und lernte das, was durch eigene Arbeit zu erlernen war. Die Anleitung der Beamten, denen ich überwiesen war, ließ manches zu wünschen übrig, aber durch Praxis und eigenes Weiterarbeiten in der Jurisprudenz lernte ich so viel, daß ich dem zweiten Examen ohne Sorge entgegensah. Das gesellige Leben der Stadt gestaltete sich für die jüngeren Iu. risten sehr angenehm; allerdings große Gesellschaften gab es nicht, die allermeisten der für die Geselligkeit in Betracht kommenden Familien waren Beamte, die nicht viel mehr als ihr Gehalt hatten. Ihre Söhne lebten, solange sie nicht selbst ein Amt hatten, von dem, was ihre Eltern ihnen geben konnten. Der Kreis der Geselligkeit war ein ziemlich ex­ klusiver; zugelaffen waren nur die Familien der akademisch gebildeten Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Geistliche und nur einige durch Verwandtschaft mit diesen verbundene Kaufmannsfamilien; das Militär spielte eine geringeRolle, weil Wolfenbüttel nur eine kleine Garnison hatte und die Offiziere ihre Beziehungen mehr in Braunschweig hatten. War die Geselligkeit nicht gerade mannigfaltig — so war sie doch im wesentlichen, da es sich um alteBekannte handelte, harmlos, und namentlich entwickelte sich zwischen den jungen Leuten beiderlei Geschlechts ein ganz gemütlicher Verkehr. Sein Zentrum hatte er in dem sogenannten großen Klub, in welchem sich im Winter Sonntag abends der Kreis zusammenfand. Es wurde vorgelesen,Musik gemacht, getanzt; daran schlossen sich allerhand sommerliche Vergnügungen. Ich habe da viele fteundschaftliche Be­ ziehungen zu jungen Damen gehabt, an die ich mich gern erinnere, im Augenblick, wo ich dies schreibe, im 79. Lebensjahre, sind von ihnen wenige noch auf dieser Welt. Unter ihnen war eine, die ich deshalb erwähne, weil sie im Leben meiner Frau eineRolle gespielt hat: Anna Vorwerk, die Tochter des Obergerichtsrats Vorwerk, ein sehr gescheites.

Autobiographisches von Karl Schrader.

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gebildetes Mädchen, auch recht musikalisch; wir verkehrten viel mitein­ ander, ohne uns näher zu kommen. So ging es der jungen Generation überhaupt. Die jungen Männer, in der Mehrzahl Juristen, hatten kein Vermögen und mußten lange auf Anstellung warten; die Mädchen konnten auch auf keine großeVermögensmitgabe rechnen. So amüsierten wir uns ohne ernste Liebesgedanken miteinander.

Mein jüngerer Bruder studierte weiter in Göttingen und Heidelberg, und als er damit zu Ende war, kam er auch in dasselbe Leben in Wolfenbüttel. Die Verschiedenheit unseres Charakters und Wesens bilbete sich früh aus. Ich hatte das Leben leicht genommen und verlangte eigentlich nicht mehr von ihm, als daß ich anständig und erfolgreich den gewöhnlichen Gang der Beamtenlaufbahn durchmachen könnte; ich strebte auch nicht nach persönlicher Anerkennung, aber ich fand sie desto leichter, weil ich für mich nichtsBesonderes wollte und anderen entgegen­ kam. Das Gegenteil war mein Bruder. Er wollte als ein tüchtigerMann und besonders als tüchtiger Jurist geschäht werden und war gegen andere oft abstoßend. Das Leben hat er sich dadurch erschwert; dazu kam, daß seine Gesundheit nicht die beste war, seine Augen waren schwach usw. Alles dies war bei mir in bester Ordnung, und es war mir deshalb schon leicht, ein freundlicher, liebenSwürdigerMensch zu sein. Aber so leicht, wie eS nach dem Gesagten scheinen könnte, war daS Leben uns Brüdern doch nicht.

Mein Vater war früh ein alter Mann geworden. Er hatte sich an ein völlig einsames, der Geselligkeit nicht zugängliches Berufsdasein gewöhnt; es fehlte ihm an Anregung.

Einen großen Stoß hatte seine Gesundheit erlitten durch die Cholera-Epidcinie, die im Jahre 1850 in Wolfenbüttel herrschte und in wenigenWochen von den 8000 Einwohnern 500 dahinraffte. Alle Ärzte

der Stadt waren außerordentlich beschäftigt, die Krankheit beschränkte sich keineswegs auf die ärmeren Klassen, sondern griff stark auf die der Wolfenbüttler Gesellschaft angehörigen Kreise über und trat mit solcher Heftigkeit auf, daß sie oft in einem Tage verlief, so daß der Tod fast ohne Krankheit eintrat. Das brachte denÄrzten zu der Arbeit noch viele starke GemütSerrcgungen. And dazu kam, auf das äußerste niederdrückend, die vollständigeRatlosigkeit der Krankheit gegenüber.

Die Praxis meines Vaters ging zurück; er mußte sich einschränken, und die Ausgaben für uns Söhne wuchsen. Glücklicherweise hatten wir

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Kapitel 19:

ein kleines mütterliches Vermögen, welches in der Verwaltung derVrü. der meiner Mutter, des Geh. Finanzrats von Bar und des Oberforst, meisters vonBar, beide hannoversche Beamte, stand. Aus diesem wurden meinem Vater Erziehungsbeihilfen gewähtt. Linser Llniversitätsstudium wurde daraus bestritten; wir bekamen dadurch eine selbständige Stellung. Der Vater litt schwer unter unserer Abwesenheit während der Universitätszeit, er wurde immer mehr ein einsamer, trübsinniger Mann, was er freilich in seinem ärztlichen Berufe niemals zeigte, aber uns Söhnen machte er manches Mal das Leben schwer, wenn er über unsere Teilnahme an diesem oder jenem Vergnügen traurig war. Die Rücksicht auf meinen Vater hat denn auch für uns Brüder einen Schritt verhindert, der mein Leben vielleicht völlig verändert hätte. Mein Onkel der Geh. Finanzrat, der ein sehr angesehener Mann in Hannover war und bei dem König in besonderer Gunst stand, schlug uns vor, in den hannoverschen Staatsdienst zu rieten, wir lehnten ab, um den Vater nicht allein zu lassen. Nach seinem Tode, als ich schon mein zweites Examen gemacht hatte, trat dieselbe Frage wieder an uns heran. Mein Bruder nahm an, ich lehnte ab, denn ich hätte nicht in den Justiz, dienst übertreten können, ohne das hannoversche zweite Examen zu machen; das hätte aber mehrere Jahre gekostet; für mich war also der Verwaltungsdienst übriggeblieben, der mir aber nicht paßte, weil ich dann aus besonderer Begünstigung ausgenommen worden wäre und in einen Dienst, der meinen politischen Überzeugungen nicht zusagte.

Seit dem Ende der fünfziger Jahre versagte die Gesundheit und Kraft meines Vaters unter wiederholten Schlaganfällen immer mehr; ich trat ihm damals besonders nahe und habe ihn auch in seiner letzten Krankheit mit gepflegt. In diese Periode fiel meine Vorbereitung zu meinem zweiten Examen; neben dem Krankenbette meines Vaters mußte ich studieren. Die schriftliche Arbeit sollte ich einreichen, und ich erfuhr bald, daß sie genügend befunden sei, als man mir anbot, mit Rücksicht darauf, daß man annahm, mein Vater würde sterben zu der Zeit, in welcher das mündliche Examen stattfinden sollte, dieses hinauszuschieben. Ich lehnte dankend ab, weil aus der Verschiebung anderen, welche mit examiniert werden sollten, Schaden erwachsen wäre, und weil es sich für mich nach meiner Überzeugung nur darum handelte, ob ich eine bessere

oder schlechtereNummer bekam. Ich habe die letzte Arbeit, die in 8 Tagen abgeliefert werden mußte, amBegräbnistage meinesVaters, am 8.März 1861 erhalten und das Examen gut bestanden.

Autobiographisches von Karl Schrader.

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Wir jungenWolfenbüttler Juristen waren nicht politisch tätig, aber doch lebhaft im freiheitlichen Sinne interessiert. Die Bewegungen des Jahre- 1858,59, die Gründung des Nationalvereins, hatte uns stark ergriffen. Ein etwas älterer von uns, AlbertBaumgarten, hatte sich an einer Versammlung des Nationalvereins beteiligt, er wurde dafür zur Rechenschaft gezogen, schied aus dem Staatsdienste aus und wurde an der Stelle seines Vetters, Lermann Baumgarten, in LeidelbergMitarbeiter an der von Gervinus herausgegebenen Geschichte des XIX.Iahr» hunderts.Wir andern begnügten uns damit, unsere fteiheitlichen Über­ zeugungen, die uns übrigens nicht verübelt wurden, auftechtzuerhalten, ohne einen praktischen Anteil an derPolitik zu nehmen. Lier, wo die erste Periode meines Lebens abschließt, mögen noch einige Worte über meine Beziehungen zu meinen Geschwistern und zu meinen hannoverschen Verwandten Platz finden. Mit den Geschwistern aus erster Ehe bestand ein durchaus ge» schwisterliches Verhältnis trotz des ziemlich großen Altersunterschiedes. Die erste Frau meinesVaters war eine Schweizerin ausBex imWaadtlande, sie brachte ftanzösischesBlut in die deutsche Familie. Das machte sich weniger bei meiner Schwester als bei meinen Brüdern geltend. Meine Schwester hatte sich früh verheiratet mit dem Oberförster duRoi aus einer angesehenen, seit langem in Braunschweig ansässigenRefugieFamilie. Sie haben bis zu ihrem im hohen Alter schnell nacheinander erfolgten Tode in glücklichster Ehe gelebt (nur Töchter hinterlassen, die sich nicht verheirateten und von welchen nur eine noch lebt). Mein älterer Bruder Louis war früh 'Arzt in Wolfenbüttel ge­ worden. Seine Jugend fiel in eine Zeit, in welcher die jungen Leute dort ein ungebundeneres Leben führten als zu meiner Zeit; es wurde damals von vielen lustig gelebt, mehr Geld verbraucht, als da war. Schulden gemacht und gespielt. Manche von ihnen sind an den Folgen jenes Lebens zu meiner Zeit zugrunde gegangen. Mein Bruder, der ein geistreicher und liebenswürdigerMann war, hatte mitgemacht. Als Student hatte er sich in die Tochter einesMalerS verliebt und heiratete sie, die in das Wolfenbüttler Leben wenig, zu meinem Vater gar nicht paßte. Er erwarb sich eine Praxis, die ihn ausreichend ernährte; daS einzige Kind war ein« Tochter, welche noch lebt. Mit meinen hannoverschen Verwandten war ich auf dem besten Fuße. Mit Louis von Bar, dem Sohne meines älteren Onkels, blieb ich stets sehr befteundet. Louis'Vater sah es gern, weil er in mir einen

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Kapitel 19:

weltgewandten Mann sah, der seinen geistig viel bedeutenderen Sohn in mancher Weise ergänzen und ihm helfen konnte. Seine Schwester, die, ein Jahr älter als ich, ein sehr schönes, geistreichesMädchen und viel umworben war, betrachtete mich stets wie einen Bruder. Sie ist auch schon lange tot. Weniger nahe kam ich den Kindern deS Oberforstmeisters von Bar, aber mit einem Sohne, der als Major gestorben ist, und einer kürzlich verstorbenen Tochter stand ich doch wie mit meinen beiden Onkels selbst auf dem besten Fuße. Mit dem Sommer 1861 beginnt die zweite Periode meines Lebens. Nach den Bestimmungen für die braunschweigischen Beamten mußten die Referendare (so hießen sie damals nach abgelegtem zweiten Examen, vorher fithrten sie den Namen Auditoren), bei braunschweigischen Behörden sich beschäftigen, ohne Anspruch auf irgendeine Belohnung. Faktisch dauerte es einige Jahre, ehe sie das klägliche Tagegeld von einem Taler erhielten. Auf die erste Anstellung konnten sie manches Jahr warten; bis dahin mußten sie von ihrem Vermögen leben; ich konnte es aber nicht von den Zinsen allein, sondern nur aus dem Kapital selbst. Vor dem Examen war ich bei dem Kreisgericht in Wolfenbüttel, ich blieb auch nachher dort. Mein Onkel, der meine schlechten Aussichten sehr bedauerte, riet mir, mich einmal an einen ihm gut bekannten hohen Beamten in Braunschweig zu wenden, den Generaldirektor der braunschweigischen Staatsbahnen, von Amsberg. Dieser nahm mich fteundlich auf und schlug mir am Schluß unserer Unterhaltung vor, doch bei seinerVerwal. tung einzutreten. Das konnte ich in gleicher Weise wie bei einer andern Staatsbehörde ohne Entgeld und ohn« irgendwelchen Anspruch auf Anstellung. Ich nahm an und siedelte im Juli nach Braunschweig über; eine entscheidende Wendung in meinem Leben war damit eingetreten. Die eigentliche Verwaltung der Eisenbahnen lag in den Länden des Finanzrats Kunnen und des Finanzassessors Wolf als administrativen Dezernenten und des Baurats Scheffler als technischem Dezernenten, alle drei tüchtige Leute, der letztere ein ausgezeichneter Techniker von vielseitigem Wissen. Amsberg, der in früheren Jahren wirklich geleitet hatte, war geschäftlich mehr zurückgetteten; er war alt geworden, befaßte sich mit den Einzelheiten nicht mehr, aber er hatte der Verwaltung eine eigenartige Selbständigkeit demMinisterium gegenüber verschafft, so daß dieses fast gar nicht in dieVerwaltung eingriff.

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Bald sah ich, daß ich einen großen Entschluß gefaßt hatte, ich wurde besonders von den beiden administrativen Beamten als ihr Hilfsarbeiter freundlich ausgenommen und kam allmählich in ihre Geschäft« hinein und damit eigentlich aus den braunschweigischen Verhältnissen heraus. Die braunschweigische Bahn war eine der ältesten deutschen Eisenbahnen und- die erste Staatsbahn in Deutschland. Amsberg hatte sie durchgesetzt; die erste Strecke ging von Braunschweig nach Larzburg über Wolfenbüttel; dort schloß sich eine zweite Strecke an bis über die preußische Grenze bei Oschersleben hinaus und eine dritte Strecke nach Kreiensen; eine vierte Strecke von dort nach Holzminden war, als ich eintrat, im Bau. In Oschersleben schloß sich die den Namen Mägdeburg-Halberstädter Bahn führende Privatbahn nach Magdeburg an, dort die nach Berlin führende Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisen­ bahn. Von Braunschweig über Peine war durch die hannoversche Staatsbahn die Verbindung bis Minden, durch die Köln-Mindener Eisenbahn die Verbindung bis Köln und über Köln mit Frankreich hergestellt. Die braunschweigische Eisenbahn war also ein Teil der ersten großen, durch den Norden Deutschlands führenden, den Osten mit dem Westen verbindenden Weltstraße geworden ünd damit in den großen Verkehr hineingezogen. Meine Erlebnisse in dem Eisenbahnwesen zu schildern, liegt nicht in dem Nahmen dieser Erinnerungen; ich habe dies nur hervorgehoben, um zu zeigen, daß ich durch den Eintritt in dieseVerwaltung hi ganz andere und viel weitere Interessen hineingeführt wurde, als irgendeine andere Stellung mir hätte bieten können. Aber daß ich in dieser Laufbahn bleiben würde, war lange Zeit ungewiß. Zwar bekam ich nach einigen Jahren mein Tagegeld von einem Taler, wurde mit dem Titel Finanzsekretär definitiv angestellt und lebte in den angenehm­ sten Verhältnissen mit meinen nächsten Vorgesetzten, auch dem General­ direktor von Amsberg, mit diesem aber nicht immer. Ich hatte in der Verwaltung einen Gegner, einen sehr tüchtigen Subalternbeamten, dem ich im Wege war, und der mich hinunterzudrücken versuchte und verhindern wollte, daß ich in di« Stellung eines Mitgliedes kam. Dies gab mancherleiReibung, so daß ich mehr als einmal vor dem Entschluß stand, wieder in den allgemeinen Staatsdienst einzutreten. Ich kam aber immer mehr in die Geschäfte hinein, nahm nicht bloß an den innern Angelegenheiten, sondern auch an den Verhandlungen mit andern Eisenbahnen teil, lernte daS Eisenbahnwesen kennen und machte viele

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angenehme Bekanntschaften bei andern Verwaltungen, was mir später sehr nützlich war. Eisenbahnwesen, Verkehr und wirtschaftliche Fragen nahmen jetzt weit mehr als die Jurisprudenz mein Interesse in Anspruch, daneben aber auch soziale Fragen. In wenigen Jahren hatte ich viele Bekannt­ schaften in der Stadt gemacht, war in manche öffentlichen Angelegenheften hineingezogen. Ich wurde Mitglied und Vorstandsmitglied des Männerturnvereins, der wesentlich aus Handwerkern und jungen Sub­ alternbeamten, aber auch einigen älterenMännern, die im Jahre 1848 in das öffentliche Leben eingetreten waren, bestand. Als Fechtwart des Vereins bin ich bis zu meinem Fortgang von Braunschweig tätig ge­ wesen, und ich habe als solcher nochBajonettfechten gelernt, um im Jahre 1864, als die politische Begeisterung für Schleswig-Lolstein den Ge­ danken einer Beteiligung an dem dortigen Kriege in vielen erweckte, die jungen Leute darin mit ausbilden zu können. Einen Zweigverein des in Berlin von Lette begründeten Vereins für das Wohl der arbeitenden Klaffen, einen Spar- und Vorschuß, verein, eine Gesellschaft für den Bau von Arbeiterwohnungen brachte ich mit einigen Freunden und Bekannten aus den verschiedensten Kreisen zusammen; auch einem Erziehungsverein trat ich bei. Allmählich wurde ich für gemeinnützige Angelegenheiten eine führende Persönlichkeit, teils weil ich in meiner amtlichen Stellung ziemlich un­ abhängig war, teils weil es gar wenig Leute in der Stadt gab, welche sich mit solchen Dingen befassen mochten. Das Jahr 1866 brachte mir noch eine andere Aufgabe. Die Erfahrungen des Krieges hatten bewiesen, wie schlecht für Verwundete und Kranke der Leere gesorgt war; der Vaterländische Frauenverein nahm sich der Beschaffung und Ausbildung der Pflegekräfte an. Ein Zweigverein wurde in Braunschweig gegründet, vornehme Damen, an ihrer Spitze die Frau des Staatsministers von Campe, bildeten denVorstand, ich trat als Schriftführer ein. Der Verein widmete sich seinen Aufgaben mit Ernst, beschaffte eine Pflegestätte, nahm Pflegerinnen an und arbeitete im Jahre 1870/71 eifrig an der Verwundetenpflege mit; ich konnte dabei in meiner doppelten Eigenschaft alsVorstand des Vereins und alSMitglied der Eisenbahnverwaltung leitend mittätig sein. In dem Verein hatte ich durch meine Stimme die Entscheidung dafür gegeben, daß nicht weltliche Pflegerinnen, sondern Diakonissen angestellt wurden, nicht aus Vorliebe für das Diakonissenwesen, son-

Autobiographisches von Karl Schrader.

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der« weil, wie die Dinge damals lagen, aus diesem Kreise allein brauch­ bare Pflegerinnen bezogen werden konnten. Nach meinem Abgänge hat sich daraus ein großes Diakonifsenhaus entwickelt, das der Stadt gute Dienste leistet. Diese öffentliche Tätigkeit lenkte indessen meine Tätigkeit von meiner Dienststellung nicht ab, ich behauptete mich und wurde schließ­ lich als ordentliches, stimmführendes Mitglied der Generaldirektion der Eisenbahnen mit dem Titel Assessor und mit dem glänzenden Ge­ halt von 700 Talern angestellt. Dabei wurde mir gesagt — und es war richtig — daß ich eine besonders gute Karriere gemacht habe. Mein soziales Interesse habe ich auch für die Eisenbahnverwaltung nützlich zu machen gesucht. Angeregt durch die Pariser Ausstellung des Jahres 1867 hatte ich mich mit den Mühlhausener Bestrebungen für den Bau von Arbeiterwohnungen beschäftigt. Daraus ging ein völlig ausge­ arbeiteter Plan hervor, nach welchem die Braunschweigische Eisenbahn­ verwaltung für ihre Arbeiter und Beamten Wohnungen bauen sollte. Die Direktion wurde dafür gewonnen, derPlan wurde demMinisterium vorgelegt, es wurde ihm aber keine Folge gegeben, weil inzwischen die Verwaltung selbst verschwand. Die Braunschweigische Eisenbahn, die bis Holzminden ausgebaut war, war jetzt ein durchaus rentables Unternehmen, das in jeder Finanzperiode große Überschüsse brachte und gegen deren Leistungen

und deren Beförderungspreise keinerlei Beschwerden geführt wurden. Allerdings waren ihre Verhältnisse in einer Beziehung geändert. Zur hannoverschen Eisenbahnverwaltung hatte sie in nahen, durch die geographische Lage herbeigeführten Verhältnissen gestanden; nach der Eroberung Hannovers durch Preußen und Einsetzung einer preußischen Staatseisenbahndirektion unter Leitung des Präsidenten Maybach hatte dies zwar aufgehört, aber beide Netze blieben aufein­ ander angewiesen. Neue Projekte, welche Konkurrenzen zu bringen drohten, waren im Gange, namentlich der Bau einer Eisenbahn von Berlin über Lehrte, die eine zweite Berlin-Kölner Verbindung her­ gestellt hätte; dagegen wendete sich ein anderes Projekt, an dem die Braunschweigische Eisenbahn sich beteiligte, nämlich der Bau einer Linie aus der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahn bei Eils­ leben über Helmstedt, und eine Verbindung zwischen Berlin und dem Rhein über die braunschweigische Bahn Oschersleben—Holzminden nach Elberfeld und Aachen bestand auch schon. Eine gewisse VerkehrsLylchtnlka, Henrtetl« Schröder I.

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teilung mußte also eintreten, freilich ernstliche Verluste hatte di« Braun­ schweigische Bahn davon nicht zu befürchten. Aber der Generaldirektor von Amsberg hatte solche Befürchtungen oder äußerte sie wenigstens gegenüber demMinisterium und veranlaßte dieses zu einem Anttage an di« Landstände, die Eisenbahn an eine Privatgesellschaft zu verkaufen. Diese Gesellschaft hatte sich aus der Berlin-Potsdam-Magdeburger, und der Bergisch -Märkischen Eisenbahngesellschafi unter Beteiligung der Darmstädter Bank gebildet. Die Landstände lehnten den Plan ab, weil sie gar keinen Grund ein­ sahen, daß das Herzogtum ein gutes Unternehmen und den großen Einfluß, den dieses ihm auf die Wohlfahtt des Landes gab, »er-

äußern sollte. Im Jahre 1870 wurde derPlan wieder ausgenommen und dadurch durchgeseht, daß man für den Fall, daß das Lerzogtum Eigentümerin der Bahn blieb, fürchtete, den Besitz an Preußen zu verlieren, besonders aber dadurch, daß ein großer Teil deS bar zu zahlenden Kaufpreises zu einer Dotation der Kreise verwendet werden sollte. Dadurch wurden die sehr einflußreichen ländlichen Grundbesitzer gewonnen. Die Mitglieder der Direktion waren in ihren Ansichten geteilt ge­ wesen. Mit dem Generaldirektor war einer der administrativen Dezer­ nenten, Finanzrat Wolf und der Baurat Scheffler für den Verkauf, ich mit dem Finanzrat Kuntze stimmten gegen denselben. Eine unsre An­ sichten darlegende Druckschrift hatte ich ausgearbeitet. Als der Verkauf durchgeseht war und die Direktion gebildet werden sollte, wurde ich von den Verttetern der Käufer — mit denen ich seit langem in den besten Beziehungen stand — gefragt, ob ich bereit sei, zu Bedingungen, di« natürlich erheblich bessere waren als meine bisherigen, in die Direktion einzutteten; zugleich erklätte man mir, daß sie den Finanzrat Kuntze nicht wählen könnten, da dagegen von der Regierung Widerspruch erhoben sei. Kuntze hatte nämlich als Mitglied des Landtages gegen den Verkauf gestimmt. Ich lehnte ab, weil ich mein Schicksal von dem Kunhes nicht trennen wollte. Nach dem Ver­ kaufsvertrag hatten die nicht überttetenden Direktionsmitglieder auf Lebenszeit ihren vollen Gehalt, soweit er nicht durch die staatliche Pen­ sion gedeckt wurde, aus Mitteln der Gesellschaft zu beziehen. Ich wurde pensioniert mit der Begründung, daß eine für meinen Rang — alSMitglied einer obersten Landesbehörde — geeignete Stelle im Lande Braunschweig nicht vorhanden sei.

Autobiographisches von Karl Schrader.

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Ich wußte dies vorher und war darauf vorbereitet, in anderer

Weise für mich sorgen zu müssen. Am liebsten wäre ich Politiker ge­ worden, denn ich hatte mich in den lehten Jahren viel mit Politik be-

schäftigt und im Herzogtum eine gewisse politische Bedeutung auch

durch meine Haltung gegenüber dem Cisenbahnverkauf gewonnen. Den Gedanken, der ausgesprochen wurde, mich in den Reichstag zu wählen,

lehnte ich ab.

Es war inzwischen wieder etwas in mein Leben «ingetreten, das ihm eine neue Wendung gab. [Ster bricht das Manuskript leider ab.[

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Unter Mitwirkung zahlreicher Gelehrter herausgegeben von ARTUR BUCHENAU, EDUARD SPRANGER, HANS STETTBACHER. Etwa 20 bis 24 Bände im Oktavfor­ mat. Jährlich erscheinen etwa 3 Bände. I. Band. Etwa 27 Bogen. Mit 1 Bildnis in Kupferdruck u. 2 Faksimiles. Geh. M. 10.—, in Leinen M. 12.50, in Halbleder M. 15.— II. Band. 311/2 Bogen. Geh. M. 12.—, in Leinen M. 14.50, in Halbleder M. 17.— Pestalozzi-Plakette für die deutschen Schulen zur Erinnerung an den 100. Todestag des großen Pädagogen am 17. Februar 1927. Vom Bildhauer OTTO ILLEMANN. Aus Eisenguß. M. 15.—

Pestalozzis Sämtliche Werke.

Sämtliche Pädagogische Schriften von Friedrich Eberhard von Rochow. Herausgegeben von FRITZ JONAS und FRIEDRICH

WIENECKE. Vier Bände. I. Band: Oktav. XV, 359 Seiten. 1907. M. 4.— / II. Band : Oktav. 396 Seiten. 1908. M. 4.— / III. Band : Oktav. IV, 529 Seiten. 1909. M. 5.— / IV. Band : Oktav. X, 477 Seiten. 1910. M. 5.— Man darf wohl sagen, daß das Interesse für Rochow in weiteren Kreisen mit Erfolg neu geweckt worden ist, und man wird darum auch das Erscheinen der ersten, auf textkritisch gesicherter Grund­ lage ruhenden Gesamtausgabe der pädagogischen Schriften mit Freude begrüßen. ,,Literarisches Zcntralblatt.“ Allgemeine Erziehungswissenschaft. Von peter PETERSEN. Groß-Oktav. VIII, 276 Seiten. 1924. M 5. —, geb. M. 6.50 Überzeugt davon, daß überall und für jeden die Masse, die Voraus­ setzung zur Selbstentfaltung des Geistigen im einzelnen sei, stellt der Verfasser Betrachtungen über die Masse nut Nachdruck in den Vordergrund, klärt pädagogische Grundbegriffe wie Persönlichkeit, Entwicklung, Bildung: übt erfreulich offenherzige Kritik und fordert wie F W. Dörpfeld eine freie Volksschule, selbstverwaltet von Familie und Erzieherschaft. ,,Pädagogische Warte“. Pädagogik. Ethische Grundlegung und System. Von MAX WENTSCHER. Oktav. XVIII, 386 Seiten. 1926. M. 14.—, geb. M. 16.— Das geistvolle und abgeklärte Werk . . . Seit Jahrzehnten wurde unserer Literatur kein Werk gegeben, von so überragender Diktion und Geschlossenheit. „Blätter für Schulpraxis“ Geist des Lehramts. Eine Hodegetik für Lehrer höherer Schulen. Von WILHELM MÜNCH. Dritte, mit der zweiten verbesserten, gleichlautende Auflage. Mit einem Vorwort von AD. MATTHIAS, und einem Nachwort von ED. SPRANGER. Oktav. XX, 435 Seiten. 1913, M. 6.— geb. M. 7.— Diese gediegene Einführung in die Berufsaufgabe der Lehrer an höheren Schulen ist nach dem Tode des Verfassers als unverän­ derter Abdruck der vorigen Auflage mit einem Vorwort von Ad. Matthias und einem Nachruf von Eduard Spranger herausgegeben worden.

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Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen

und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegen­ wart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Von FRIEDRICH PAULSEN. Dritte, erweiterte Auflage, herausgegeben und in einem Anhang fortgesetzt von RUD. LEH­ MANN M. 28.—, geb. M. 33.— I. Band; (1450—1740). Groß-Oktav. XXX, 636 Seiten. 1919. II. Band (1740—1914). Groß-Oktav. XII, 834 Seiten. 1921. Das epochemachende Buch hat einen wesentlichen Einfluß auf die Neugestaltung der deutschen höheren Schulen ausgeübt und dadurch eine geschichtliche Bedeutung gewonnen, wie es nicht vielen päda­ gogischen Schriften beschieden ist. „Literarischer Handweiser." Geschichte der Pädagogik. Von Hermann weimer. Fünfte, vermehrte und verbesserte Auflage. 160 Seiten. 1921. (Sammlung Göschen Bd, 145.) Geb. M. 1.50 Zukunftspädagogik. Berichte und Kritiken. Betrachtungen und Vor­ schläge. Von WILHELM MÜNCH. Dritte, umgearbeitete und erweiterte Auflage. Mit einem Vorwort von ADOLF MATTHIAS. Oktav. XII, 310 Seiten. 1913. M. 4—, geb. M. 5.— Die zahlreichen Artikel, die Münch über die Schriften der Reformer verfaßt hat, sind in seiner „Zukunftspädagogik" gesammelt. Es ist erfreulich, daß die dritte Auflage als „wohlfeile" Ausgabe erschienen ist; möchten recht viele Berufserzieher diesen Wink beachten. „Neue Preußische Kreuz-Zeitung." Ernste Antworten auf Kinderfragen. Ausgewählte Kapitel aus einer praktischen Pädagogik fürs Haus. Von RUDOLF PENZIG. Fünfte, erweiterte und verbesserte Auflage. Oktav. 348 Seiten. 1920. M. 3.—, geb. M. 4.40 Die Erziehungsarbeit der Schule an Schwachbegabten. Erfahrungen und Ratschläge für Lehrende, Eltern und Behörden. Von OTTO BOODSTEIN. Oktav. XV, 432 Seiten. 1908. M. 8.— Aus Arbeit und Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Von J. TEWS. Oktav. 244 Seiten. 1922. M. 2.—, geb. M. 3.— Kurzer Abriß der Psychologie für den Unterricht an höheren Schulen, an Lehrer- und Lehrerinnen-Bildungsanstalten sowie für das eigene Studium. Von ARTUR BUCHENAU. Zweite Auflage, Oktav. 66 Seiten. 1918. M. 1.—, geb. M. 1.50. Leben Schleiermachers. Von Wilhelm dilthey. i. Band, Zweite Auflage, vermehrt um Stücke der Fortsetzung aus dem Nachlasse des Verfassers, herausgegeben von HERMANN MULERT. Groß-Oktav. XXXII, 879 Seiten. 1922. M. 17,—, geb. M. 19.— Unser Fachkatalog ,,Philosophie-Psychologie-Pädagogik" steht XInter­ essenten durch jede Buchhandlung oder direkt vom Verlag#kostenlos zur Verfügung