Henriette Schrader-Breymann: Band 2 [2. Aufl. Reprint 2019] 9783111445748, 9783111079035


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German Pages 590 [604] Year 1927

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Inhaltsverzeichnis von Band II
Kapitel 1. Anfang und Entwicklung des Berliner Vereins für Volkserziehung
Kapitel 2. Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich
Kapitel 3. Persönliches Leben und Schicksale
Kapitel 4. Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899
1873
1874
1875
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
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1894
1896
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1899
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Henriette Schrader-Breymann: Band 2 [2. Aufl. Reprint 2019]
 9783111445748, 9783111079035

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Henriette Schrader-Breymann Ihr Leben aus Briesen und Tagebüchern

zusammengestellt und erläutert

von

Mary I. Lyschinska

Zweite Auflage

unter Mitwirkung von Or.Arnold Breymann

In zwei Bänden mit 8 Bildern

Berlin und Leipzig 1927

Walter de Gruyter & Co. vormals G.I. Göschen'sche Verlagshandlung / I.Guttentag, Verlags­ buchhandlung / Georg Reimer / Karl I. Trübner / Veit . Schrader zu vermachen.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich glaube, wir müßten auch zu den Briefen Bemerkungen, Erläute­ rungen hinzufügen, so z. B. kann der herrliche Brief von der Muhme doch sehr mißverstanden werden. Oder willst Du mit irgend einem andern Briefwechsel beginnen; ich denke, nur nach dem Probebriefe zu urteilen, gäbe uns die Muhme Schmidt gerade Stoff, Fröbel ins rechte Licht zu stellen; sie geht so offen mit ihren Erwiderungen heraus, und daran könnte man so vieles anknüpfen. Mein Mann ist nicht zu Lause, sonst würde ich Dir seinen Rat schreiben; er hat eine so verständnisvolle Kritik und kann so gut beurteilen, wie das Publikum die Sachen aufnimmt; weit entfernt da­ von, ihm zu schmeicheln, versteht mein Mann aber gewisse Spitzen der Individualität, die nur mißverstanden werden, abzurunden; ich habe immer den höchsten Genuß davon, mit ihm zu lesen und mich an seiner Kritik zu bilden. And vielleicht, liebe Luise, könnte ich nach Deinen Notizen eine Biographie von Dir schreiben, es ist für einen andern so viel leichter, so manches zu sagen, wie fut die Person selbst, von sich zu sprechen. Seit ich verheiratet bin, verstehe ich viel besser, was Du Fröbel ge­ wesen bist. DieMänner, welche angestrengt arbeiten, welche so ihr ganzes Wesen konzentrieren, gebrauchen imWeibe so oft einenRuhepunkt. Ich sage zuweilen scherzhaft zu meinem Manne: „Ich bin ja doch nur Dein Kopfkissen, wo Du Deinen Geist ausruhst". Gerade das WeiblichMenschliche ist dem Manne so nötig, vielmehr oft, als das direkr Geist, reiche oder Anterrichtete, im Gegenteil es würde ihn nur ermüden, wollte man ihn immer anregen und von ihn« unterhalten sein. Ich würde keine Verherrlichung in einer solchen Biographie niederlegt..; aber ich glaube, wenn man aus dem Verständnis derNatur heraus schreibt,'so verletzen auch die Eigentümlichkeiten derselben nicht, wenn sie mit dem ganzen Wesen gegeben werden. Das StudiumPestalozziS verhilft mir sehr zum weiteren Verstäub, nis FröbelS. Pestalozzi wollte die Elemente des Geisteslebens auffinden und ihre Entwicklungsgesetze; er war zugleich ein großer Sozialpäda­ goge. Fröbel hat sich nun besonders dem ersten Streben angeschlosscn und darin das Größte geleistet. Aber wie jeder Genius mit dem Stosse ringt, der ihn niederdrückt, den er zu bewältigen strebt, so müssen wir diesRingen verstehen, ihm nachgehen, nicht wie die blinden Nachbeter, jeden Schatten für Licht erklären; aber auch nicht am Schatten hängen bleiben und daS Licht darüber vergessen. Wir müssen nichts Fertiges,

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Kapitel 4:

nicht- Vollkommenes haben wollen, sondern dem Ringen und Streben als solchem nachgehen. And ich glaube, dafitr habe ich Verständnis, und ein liebevolles Verständnis; ich glaube, ich könnte dieWahrheit sagen, so weit ich sie erfaßt habe, doch ohne wehe zu tun. And, liebe Luise, Menschen wie Fröbel, Pestalozzi usw., sie sind alle für die Menschheit gekreuzigt. Geister, in denen die Menschheit sich gewissermaßen so oder so konzentriert, die unmittelbar Fühlung haben mit dem Genius der Menschheit — sie gehören der Menschheit mit all' ihrem Großen, mit all' ihren Schwächen, und letztere soll man nicht hinwegphantafieren; aber sie aus dem Ganzen [bet Persönlichkeit) er­ klären. ..................... Kennst Du denRektor Seyffarth in Luckenwalde, der Pestalozzis sämtliche Schriften herauSgab? Weißt Du etwas von der Biographie Pestalozzis von Mors? Du glaubst nicht, liebe Luise, wie es mich freut, daß ich so den Schwerpunkt Deines Wesens erkannt habe und dessen Wichtigkeit für die Sache so erfasse, aber siehe, es kommt jetzt so darauf an, daß wir eS klar und deutlich sagen und beweisen können, daß wir der immer mehr überhandnehmenden Schulmeisterei im Kindergatten wehren. And dazu müssen wir beide recht ernst arbeiten

Karl Schrader an seine Frau.

Breslau, Galisch'sLote! zum Goldenen Löwen. 26. Januar 1875.

Nachdem ich mich nach der Fahtt durch Kaffee gestärkt und vom Neiseschmuh gereinigt habe, schreibe ich Dir einige Wotte, um Dir zu sagen, daß ich hier ganz gut angekommen bin. Eine Depesche meldete es Dir schon im voraus, denn diesen Brief wirst Du wohl nicht vor morgen erhalten. 3ch bin im Schlafwagen gefahren und bin ganz zufrieden mit der Einrichtung. Als ich in Breslau ankam, war es scheußliches Wetter und noch ganz finster, jetzt (nach acht Ahr) ist eS besser, wenigstens regnet es nicht mehr. Der Taunziener Platz ist ein sehr anständiger Platz, etwa von der Größe des Askanischen, aber von allen Seiten gleichmäßig durch Gebäuden eingeschlossen und mit Gattenanlagen versehen, die ihn sehr fteundlich aussehen machen; mein Zimmer liegt nach demPlatze zu und ist sehr gut und geräumig. Kurz vor der Konferenz werde ich L. Bar

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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aufsuchen und mich erkundigen, ob und wann ich ihn heute nachmittag oder abend sehen kann; jetzt will ich noch etwas Olsten lesen, hoffentlich ist die Angst, die Du gestern abend hattest, heute von Dir gewichen, zum Teil war sie wohl Folge der Ermattung .... Leute läufst Du wohl in der Stadt herum*) und kommst nicht zum Ar­ beiten? Solltest Du nicht einmal für Dich — nicht um es zu schreiben — etwas klarer über den Begriff von Gemüt zu werden suchen? Gibt nicht Krause in seiner Psychologie darüber Näheres? Sollte nicht Krause­ besondere Bedeutung, die ihn über andere, selbst die größten Philo­ sophen derNeuzeit stellt — darin liegen; daß erPhilosophie undReligion in einer, dem modernenBewußtsein angemessenenWeise verbindet? Ich erinnere mich, daß Giffhorn mir einmal sagte, Krause sei mehrReligionsstister als Philosoph. Lebe wohl, Frau, sei nicht zu ttaurig, schreibe mir einen hübschen Brief und erwarte mich recht vergnügt am Donnerstag morgen, wenn ich nichts anderes schreibe Karl Schrader an seine Frau.

Berlin SW. 23.März 1875. Aushalten mußt Du nun schon in Neu-Watzum bis Donnerstag, sonst würden sie dort zu unglücklich sein, und Du würdest wahrscheinlich unverichteter Sache zurückkehren und noch einmal Hinreisen müssen. Aushalten muß ich hier auch ganz allein; Du hast ja doch Deine Mutter, aber ich sitze hier ganz ohne alles und kann noch nicht einmal jemanden etwas „vorjaulen." And so schwer «ine Trennung uns ist, so habe ich doch immer ge­ funden, daß sie auch ihre Früchte trügt. Entfernt von einander, erkennt man manches klarer, überlegt es unbefangener, und so hat jede etwalängere Trennung dazu beigettagen, uns über einander und über unsere Stellung zum Leben klarer zu machen. Ist eS auch nicht diese-Mal so? Du erkennst doch, daß manche Eigenschaften von mir nicht bloß Schwächen, sondern auch Stärken sind; vielleicht kommst Du auch ein­ mal dahin, etwas weniger zornig über meine Achtlosigkeit in Geldsachen zu sein. Ich weiß wohl, daß auch bei mir in vielen Dingen Bequemlich­ keit eineRolle spielt, daß ich manches beiseite schiebe und vielleicht nicht genug Wärme des Lerzens an eine Sache setze, mich selbst zu wenig in

*) Schraders suchten eine Wohnung mehr außerhalb der Stadt als der Askanische Platz.

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Kapitel 4:

ihr fühle. Daß muß ich bei Dir und durch Dich wieder erlangen, die Wärme persönlichen Gefühls, die Liebe zu einzelnen, die mir, außer der zu meiner lieben Frau, im Leben und Streben für das Ganze etwas abHanden gekommen ist. Morgen schicke ich Dir ein kleines Paket, in welchem sich für die Mutter ein Rahmen zu Deinem Bilde findet; ich glaubte, nach einer Erzählung von Annette, daß Du von den großen Photographien noch nachbestellt hattest, und ging zu Scharwächter, um noch eine für die Mutter abzuholen; ich habe sechs Stück nachbestellt. Albertine muß nun ihre Photographie leihen, bis sie eine von den neuen erhält. Für Alber­ tine liegen einige Feigen und etwas Schokolade in dem Kasten, von dem auch vielleicht eine gewisse Person etwas stiehlt — und für diese ein kleines Leckepötchen. Einen Geburtstagsbrief an die Mutter schreibe ich zu Sonntag. Äier ist alles in Ordnung; über das Häusliche schreibt wohl Annette. Dieser geht es besser, meinerMeinung nach sollte sie aber morgen noch nicht reisen, da sie immer noch stark erkältet ist. Liebe Frau, sei nicht gar zu traurig; ertrage diese Tage der Prü­ fung und Trennung so gut wie möglich und denke, daß ich ebenso traurig bin. Viele Grüße an alle

An frühere Pensionskinder. Berlin SW. Neujahr 1876. Gar manche Briefe liegen mir von früheren Schülerinnen zur Beanlwortung vor. Sie enthalten Fragen, die mich anregen, einmal wieder zu Euch zu sprechen aus dem Innersten meines Herzens, wie ich es von jeher gern getan habe; aber meine Zeit und Kraft reichen nicht aus, allen Anforderungen zu genügen, welche an mich gestellt werden. Wohl aber kann und will ich von Zeit zu Zeit ein gemeinsames Wort an diejenigen richten, welche noch gern von mir hören und teilnehmen an meinem inneren Leben. Jede einzelne wird doch wohl fühlen, wo ich ihrer besonders gedacht habe, wo ich ihr Antwort gebe auf ihre Fragen, sie anregen oder ermutigen möchte zu ernstem Stteben und Schaffen, wo ihr ein Trostwort erklingt aus einem Äerzen, welches das Leid der mannigfachsten Art versteht, weil ihm selbst der Schmerz nicht fremd geblieben ist. Das aber hoffe ich fest, daß diese Korrespondenz dazu dient, unsre Verbindung rege zu erhalten und fester zu knüpfen, und darum beginne ich freudig mit dem neuen Jahre diesen Brief.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Es ist mir lieb, daß eine von Euch mir durch eine Frage Gelegen­ heit geboten hat, mit der passendsten allgemeinen Betrachtung anzu­ fangen.

Sie hat mir eine Broschüre vonFrauMathildeReichhardt-Stromberg über Frauenrecht und Frauenpflicht übersandt und mich über man­ ches darin um meine Ansicht gebeten. In so vielen Dingen, meint sie, scheine ihr die Verfasserin ganz recht zu haben, und doch könne man oft daS Gefühl nicht unterdrücken, daß sie nicht dieWahrheit in ihrer ganzen Tiefe erfaßt habe. Mir ist beim Durchlesen der Schrift ganz dieselbe Empfindung gekommen. Das Buch hat mir wohlgetan, weil sich in ihm ein klarer denkender Geist, eine frische, praktische Natur ausspricht, welche die falschen Emanzipations-Bestrebungen unserer Zeit bestimmt zurückweise; aber das frohe Bewußtsein, selbst ihre weibliche Bestimmung voll zu erfüllen, läßt dieVerfasserin herbe urteilen über diejenigen, welche sie nach ihrer Meinung nicht erreicht oder ganz verfehlt haben; ja, mir scheint fast, als ob sie die Bestimmung der Frau zu einseitig auffasse. „Das Äerz tut mir weh", sagt sie unter anderem, „wenn ich die Menge menschlicher Geschöpfe sehe, die in der großen Kette des Lebens wie ausgelöste Glieder sind und dem ersten und höchsten Naturgesetz gegenüber unvollendet dastehen, und das sind die unverheirateten Frauen."

Als ich dieS las, tauchten Erinnerungen auS meinem Leben in mir auf, und ich sah im Geiste eine edle Frau, die ältere Schwester einer Zahl verwaister Kinder, welche sie mit Aufopferung ihrer selbst gepflegt und erzogen hatte, welchen sieMutter im edelsten Sinne deSWortes gewesen war- Ein solcheSWesen, das so enge verbunden war mit demWohl undWehe der Ihrigen, soll ein ausgelöstes Glied in der Kette des Lebens sein? Anvollendet soll es dastehen, wenn es am Schluffe einer langen und mühevollen, aber auch alle Tiefen des Äerzens erfüllenden und aufschließenden Tätigkeit zurückblicken kann, auf den reichen Segen, welchen es verbreitet hat?Neben dieses Bild einer jetzt schon lange Derklärten traten Erinnerungen an ihre verheirateten Freundinnen, von welchen nicht eine, trotz ihrer im gewöhnlichen Sinne glücklichen Ehe, auch nur annähernd diese Vollendung erreicht hatte, und ich mußte mich fragen: Ist denn nur in der Ehe die weibliche Bestimmung zu erreichen? Gibt es nicht auch andere Wege, ja gibt es nicht selbst Verhältnisse, in welchen sie nicht der richtige Weg ist?

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Kapitel 4: Ihr wißt, meine lieben Freundinnen, daß eS mir nicht in den Sinn

kommen kann. Euch die Bedeutung des Familienlebens und der Ehe geringschätzen zu lehren. Ich habe Euch vielmehr immer gesagt, daß die Frau ihr höchstes Glück und die leichteste Möglichkeit der Erfüllung ihrer

Bestimmung in der Vereinigung mit einem geliebten Manne und im Kreise ihrer Kinder findet. Aber nicht jeder ist dieses Glück beschieden, nicht jede findet den Mann, welchen fie wahrhaft lieben, mit welchem

fie eine wahre, auf vollem, gegenseitigen Verständnisse ruhende Ehe führen kann, und manche ist vielleicht auch durch höhere Verpflichtung gehindert, dem Zuge ihres Lerzens zu folgen. Diese Frauen können von weiblicher Vollendung nicht ausgeschlossen bleiben, wohl wandeln sie zu ihr auf einem beschwerlicheren Wege, aber er führt doch zum Ziele.

Dies mußte ich Euch gerade zur Einleitung für die Unterhaltungen sagen, welche ich ferner mit Euch haben möcht«, weil ich weiß, daß manche junge Mädchen nach Abschluß ihrer Erziehung meinen, das Leben ruhig genießen zu können und nichts mehr zu lernen zu brauchen, da sie die

Loffnung hegen, das Ziel ihres Strebens, eine baldige Verheiratung

zu erreichen. Wie aber vermögen sie dieser sichern Zuversicht sich hinzugeben? Wir können unser Geschick nicht vorher bestimmen, das liegt vielmehr in Gottes Land. Durch die Gaben, die er uns verliehen hat, und durch

die Verhältnisse, in welche er uns gesetzt, bestimmt er unser Leben und unser Schicksal, das wir fteilich oft genug nicht so nehmen, wie er es gibt, sondern wir trüben und verzerren eS durch verkehrtes Denken, Fühlen

und Landein. Auch deshalb können wir unser Schicksal nicht zum vollen Glück gestalten, weil wir die Sünde der Menschheit, die ja eins ist mit

Geist und Stoff, mit tragen müssen.

So kommt es, daß manche von uns nicht den Mann findet, oder dem Mann nicht angehören kann, mit welchem sie glücklich zu werden

hoffen kann, d. h. mit welchem sie im gegeseitigen vollen Verständnisse

und in reinster Liebe leben, sich höher bilden und entwickeln und segens­ reich für ihre Familie zu wirken vermag. And findet sie einen solchen Mann nicht, dann suche sie nicht ein Bündnis, das nicht zum Lei!«

führen kann. Keine Frau kann somit wissen, ob ihr die Ehe beschieden ist, wohl aber soll sie die feste, ftohe Aberzeugung haben, daß auch der einzelnen Lebensziel und LebenSglück nicht fehlen wird, wenn sie es nur in rechterWirksamkeit sucht. Diese kann aber sowohl bei der Verheirate­

ten wie auch bei der Anverheirateten nur auf demselben Grunde, auf

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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ihrerWeiblichkeit beruhen und muß deshalb im wesentlichen dieselbe sein. Wie dem männlichen so ist auch dem weiblichen Prinzipe seine Rolle in derWeltordnung zugeteilt, und dieseRolle kann und soll jede Frau ausfitllen. Das Prinzip der Weiblichkeit ist die persönliche Liebe, Liebe geben und Liebe wecken ist das Lebenselement der Frau, und aus diesem tiefbegründeten Zuge ihrer Natur geht auch das Bedürfnis der echten Frau hervor, überall, wo sie auch stehe, die Bedingungen zu schaffen, welche nötig sind, um die Atmosphäre der Liebe zu erzeugen, d. h. einen Kreis von Menschen, eine Familie im wirklichen oder bildlichen Sinne zur Intimität der Geister zusammenzuschließen, die sich beglücken und wohltun. Die Frau will das Kleine und Kleinste in Liebe verklären, und es dem einseitigMateriellen entreißen, sie will das Sinnliche vergeistigen, um wiederum dem Geistigen in der liebevollen Sorge, in der äußern Tat den faßbaren Ausdruck zu geben. Mit einemWorte, sie will lieben, Liebe geben, Liebe nehmen, und nur, wo ihr Landein von Liebe durch­ wärmt ist, kann sie echt weiblich segnend wirken.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Berlin 8^V. 16. Februar 1876.

So früh bist Du schon zum Bahnhof gefahren und hast doch keine Zeit gefunden. Deiner verlassenen Frau einen Gruß zu senden, den ich sicher erwartet hatte? Wahrscheinlich waren so viele Eisenbahner da, die Dich gleich in Anspruch nahmen. Ich ging schon heute früh in dieVolksschule, wo ich mit Annette bis 12 !lhr war. Der Lauptlehrer hat mir sehr gefallen, ich glaube, er hat ein Lerz für seine Schule, und ich fand in seiner Klasse, der ersten, Reinlichkeit, Laltung und Manieren der Kinder über Erwarten gut. Seine Stunde, Religion, als solche war, was sie in unsern Tagen sein konnte: Begriffs­ übungen, d. h. eigentlich Sprechübungen. Die Eigenschaften Gottes wurden wie die Eigenschaften eine- Körpers abgehandelt, nur mit dem Unterschiede, daß dem ersteren ost jeder faßbare Untergrund fehlte; doch tat mir dieNaivität, mit der die schwerstenDegriffe, wie ewig, unendlich, unermeßlich, heilig usw. erklärt wurden, wohl, im Gegensatz zu Düh­ rings philosophischen Auseinandersetzungen dieser Punkte, die mir unwillkürlich einfielen. Auch zeigte der Lehrer Lerz bei der Sache, ver-

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Kapitel 4:

band sehr hübsche Vibelstellen, Gleichnisse und Gesangverse mit der AbHandlung, fragte nach dem Dichter des Kirchenliedes und berührte dessen Lage und wie seine Worte auS derselben entsprungen seien; kurz, wie unvollkommen der Religionsunterricht auch in bezug auf das Ideal, welches mir vorschwebt, war, so hatte ich doch die Empfindung, der Mann gibt sich Mühe und wirkt gewiß Gutes. Er führte mich in die unterste Klasse von Kindern von 6—7—8 Jahren, die erst seit Oktober dort waren. Ein junger Lehrer leistete in bezug auf die kurze Zeit, die er die Kinder hatte (64 an der Zahl), enorm viel. Sie konnten fast fertig lesen, Diktat wirklich gut schreiben, manche ganz ohne Fehler, und sie rechneten ganz sicher im Zahlenraum von zwanzig. Aber wie ein Unteroffizier seine Soldaten einübt, so war der Lehrer den Kindern gegenüber, aber er übte eine Zucht über ihre Geister, die auch sein Eifer bewies. Doch hatte er keine Freudigkeit und klagte mir, welch' eine Quälerei er habe usw. Morgen muß ich schon um 8 Ahr dort sein. Gewiß ist diese Schule eine der besten hier, es ist auch viel Tüchtiges in ihr; aber gerade sie zeigt mir, wie nötig eine Reformation der Elementarklassen ist, wie die tüchtigsten, gewissenhaftesten Lehrer sich abquälen und keine Freudig­ keit beim Anterricht haben können, weil und wenn ihnen das Kind eine Sache ist, mit der sie operieren. Mündlich mehr darüber

Lenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum, 21.März 1876. Die ersten Worte, welche ich hier schreibe, gehören Dir. Als Du gestern fortfuhrest, war ich so traurig, allerlei melancholische Gedanken gingen mir durch den Kopf, Du mußt mich recht sehr trösten und mich recht sehr lieben. Dieses Fräulein Freitag ist neulich so wie ein Irrwisch in unser Äaus gefahren und rannte in alle möglichen Ecken und leuchtete hierhin und dorthin und sprach so schreckliche Dinge von den Männern, und daß keine wisse und wissen könne, was ihr geschähe und geschehen könnte, und daß die Gläubigsten meistens die Betrogensten seien. Das hat mich so traurig gemacht; aber wenn ich bei Dir bin. Du bei mir, dann berührt es mich persönlich nicht, es macht mich nur stolzer und glücklicher auf Deinen Besitz. Aber wenn ich dann allein bin, dann konrmen alle meineMängel zum Bewußtsein — aber nicht wahr, Karl, es kann doch einen Mann geben, wie Du bist?

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich finde doch dies« Frauenzimmer schrecklich; ich glaube, sie wolle»» sich am Schicksal rächen. - Ich habe mir hier fest vorgenommen, nicht in die Faulheit zu ver­ fallen, die mich so verführerisch umstrickt, wirklich, ich will mehr Energie entwickeln als bisher, und sie muß Gutes wirken, da nicht Eitelkeit und materieller Gewinn die Triebfedern sind, durch die sie in Bewegung ge­ setzt wird. Ach, wenn Du doch nur Sonntag hier sein könntest, ich sehne mich so nach einer Unterhaltung mit Dir. Ich entwachse so mehr und mehr den Kleinigkeiten des Lebens, umfasse Dein Leben und Streben so innig; ich denke so viel daran, wie Dein Leben noch eingreifen wird und muß in das des sozialen und politischen Körpers — hier wurde ich unter­ brochen, und einer nach dem andern sind gekommen, mich freundlich zu begrüßen und mir ihre Herzenswünsche auSzuschütten Lebe wohl.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 22.März 1876. Bis heute abend um 5 Ahr habe ich auf den ersten Brief von Dir warten müssen; weil er nicht vor 9^/zAhr ankam, und ich um 10 Ahr in der Sitzung sein mußte. Aber es ist ein recht guter Brief; etwas Wahumisch, aber doch viel weniger als sonst. Du grämst Dich über Fräulein Freitags Reden? Ich finde sie gar nicht verwunderlich, wenn man nur daran denkt, daß Fräulein Freitag, wie die ganze Partei, der sie angehört, aus der frauen- eine männerfeindlichePartei macht, wie z.B. die Sozialdemokraten, die vierteKlasse, die übrigen nicht nur als feindlich betrachten, sondern geradezu fttr nötig halten, die Feindschaft auf den höchsten Grad zu treiben, weil nur dadurch die nötige Energie zum Kampfe — ihrer Meinung nach — gegeben wird. So meint auch Fräulein Freitag nur durch die schlimmste Schilderung der bestehenden Äbelstände den Frauen Mut geben zu können, sich gegen die Männer aufzulehnen. Es ist Torheit, denn durch solches Auftreten erbittert mai» nur, während eS sonst möglich wäre, auch auS den Reihen der Männer Mitarbeiter zu finden.

ES freut mich, daß Du tapferer gegen das Leben wirst; nur so und wenn man sich nicht zu sehr gemütlich beeinflußen läßt, kann man auf die Welt wirken, ohne sich selbst dabei fortwährende Qual zu be-

Kapitel 4:

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reiten. Ohne eine gewisse Resignation, wenn auch nur bezüglich der Zeit, in welcher man ein Ziel erreicht, kommt man eben zu nichts. Darum bin ich auch für mich und mein Wirken ganz ruhig; kommt der Moment etwas zu sein, etwas zu tun, so greife ich sicher zu, und ich beachte gewiß die Gelegenheit; aber nicht im Sprunge, sondern Schritt vor Schritt ersteigt man die Löhe, ohne Gefahr zu laufen, jählings hin­ unterzustürzen. So halte ich meine Stellung im Eisenbahnwesen, selbst meine Tätigkeit für den Kindergarten und für Clauffon fiir Stufen, die mich höher führen sollen. And Du kannst und mußt mir helfen, nicht durch Landlangerdienste, sondern durch selbständige Tätigkeit, welche die meinige ergänzt. Das ist die allein würdige Weise für uns zusammen zu wirken, daß wir jeder für sich etwas sind und tun, daß aber beide aus einem Sinne Zusammenhängendes, ein Ganzes schaffen. Von hier wird Dir Annette, die auch geschrieben hat, alles tteulich berichtet haben. Die Berlin-Dresdener Sache geht weiter; die Bahnbesichtigung hat ein gutes Resultat ergeben ... Unsere Dividende ist recht gut ausgefallen... Kommen kann ich am Sonntage nicht, weil ich noch Sonnabendabend Konferenz habe, und weil ich wirklich es am besten halte, in dieser Zeit in meinen Arbeiten etwas reine Bahn zu machen; wir müssen uns also wohl bis Donnerstag nächster Woche gedulden. Länger darfst Du aber nicht ausbleiben; dann muß ich meine Frau wieder haben. Lebe wohl, liebe Frau, behalte mich immer recht lieb. Dein Mann. Grüße alle herzlich und sage Albertine, daß mir Kuchen und Äpfel

prachtvoll schmecken.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Berlin W. 29. Juli 1876.

Du wirst gewiß von dieser Letzerei noch krank. Du bist so ttaurig, ich wußte wohl bei Deiner Abreise, daß Du abgespannt wärest, und mein Lerz begleitet Dich mit stiller Sorge ... Du sagst immer: „Es muß sein!" aber muß es denn sein, daß Du durch Abermaß von Arbeit

Deine schöne glückliche Gesundheit ruinierst? Ach, heute gehst Du nun noch weiter fort, und ohne einen Ruhe­ tag geht es immer vorwätts, soll ich da nicht angsterfüllt und ttaurig

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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sein? .. .Wenn ich Dich nur erst wieder habe, dann will ich Dich auch pflegen und hegen; nicht wahr, Karl, jetzt ftagst Du nicht mehr, ob ich Dich auch lieb habe und verstehe? 3n mir selbst ist eine viel größere Ruhe, Sicherheit und Kraft ein­ gezogen.

Aber es hat doch etwas auf sich mit dem Worte: „Er soll Dein Herr fein." Ich habe e- mir nie denken können, daß ich mich fügte, habe es für unrecht gehalten, und nun tue ich es doch, und fühle mich viel glücklicher dabei, als im Kampfe mit Dir. Du begreifst eS vielleicht nicht, daß Du mich beherrschest; aber Du tust es doch, und ich glaube, es ist das richtige Verhältnis; denn ich bin endlich zum Frieden gekommen, nun ich nachgebe. Ich sehe jetzt so vieles mit Deinen Augen und setze mich mit leichterem Sinn über so manches hinweg; ist es Schwachheit, Karl, oder Liebe? Ich glaube letzteres, denn ich liebe Dich nur inniger als je.

Werde nur nicht krank. Mir geht es körperlich auch nicht ganz gut, d. h. ich bin so steif ... Unsere Gesellschaft war ganz nett, d.h. ich finde, die Frau • * * * hat etwas Unheimliches, in sofern sie mir so klug, aber so berechnend erscheint, auch gerieten die Schwestern in einen nicht sehr erquicklichen Stteit, der sonst ganz interessant sein konnte, aber mich einen Blick in aufgeregte Verhältnisse tun ließ. Diese Frau * * * * kommt mir so vor, als wenn sie auf irgendein Ziel zusteuert und immer laviert. Ich glaube, sie will sich hier einePosition als eine geistreiche Frau erringen, die ihre Fäden um Männer und Verhältnisse spinnt. Ich werde Dir erzählen, was sie von Dir will und durch welche Gelegenheit sie darauf gekommen ist. Jetzt arbeitet sie am ... Verein, scheint der Vorsitzenden sehr er­ geben; ich bin aber fest überzeugt, daß sie deren Beschränktheit vollkommen einsieht, und mich sollte nicht wundern, wenn sie eines Tages deren fetten Nacken zu ihrem Fußschemel macht. Zwischen diesen spielt eine Vorsteherin einer Mädchenschule eine wirklich komische Figur, so daß Mary ihre Rolle vergaß und sich eifrig mit ihr zu tun machte, um einen Grund zu finden, in ein herzhafteLachen auszubrechen. Die Schwedin, die Frau * * * *,Mary und An­ nette bildeten eigentümliche Konttaste. Wir hatten gestern abend kalten, frischen Lachs mit Remouladen­ sauce, dann Butterbrot mit Fleisch gegessen und zuletzt Aprikosen und

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Kapitel 4:

Johannisbeeren und dazuWeiß-,Rotwein und Bier getrunken.Maria, die Köchin, hatte ihre Sache gut gemacht .... Gestern habe ich noch ein Kapitel in Bain über Seelentheorien ge­ lesen, und der Schluß heißt: „Die Ansicht für zwei Substanzen haben alle Stützen verloren — eine Substanz mit zwei Klassen von Eigen­

schaften, zwei Seiten einer physischen und geistige» — eine Einheit mit zwei Gesichtern scheint allen Bedürfnissen des Falles zu genügen." Ist denn daS nicht Krauses Idee? Ich meine, auch dies war das letzte Wort, welches Fröbel nicht aussprechen wollte, und wozu nur un­ sere Obergöttin den Schlüssel zu besitzen glaubt..... Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 23. September 1876.

Meine Geschäfte in Dresden waren so früh beendet, daß es mir möglich war, statt um 6 Ahr schon 2.40 abzufahren; ich kam also gegen 8 Ahr zu Kauft an. Mary kam mir gleich auf der Treppe entgegen, um mir zu sagen, daß und weshalb Du abgereist seiest, und bald darauf kam auch Annette zu Laus und brachte mir Deine Grüße und Bestellungen. Ich schreibe Dir nun noch heute abend nach Neu-Watzum in der An­ nahme, daß Du morgen früh jedenfalls dort sein wirst, hoffentlich findet sich für Dich dort ein Unterkommen, wenigstens in dem Falle, daß der Mutter Zustand sich so gestaltet haben sollte, daß Du in ihrer Nähe bleiben mußt.Während ich dies schreibe, fährst Du in der größten Angst auf der Eisenbahn, hoffentlich treffen aber Deine Befürchtungen nicht zu, und Du findest die Mutter noch uitb vielleicht wohler, als Du dach­ test. Ich weiß, wie traurig es für Dich sein würde, wenn Du mit der Mutter, falls das Schlimmste eintreten sollte, nicht noch eine Zeit zu­ sammen gewesen wärest, und wie die Mutter so viel ruhiger aus dieser Welt scheiden und Du so viel gefaßter den schweren Verlust tragen würdest. Koffentlich sind alle unsere Befürchtungen zu schwarz. Sage der Mutter, daß ich ihr treuer Sohn sei, und daß ich es dadurch ihr immer zu beweisen suchen werde, daß ich ihrem liebsten Kinde soweit ich vermag, sie zu ersetzen suchen will. Ich erwarte dieftNacht noch oder morgen früh eine Depesche von Dir; morgen muß ich in den Angelegenheiten, die mich heute nach Dres­

den geführt haben, hier sein, Dienstag oder Mittwoch kann ich vielfticht nach Wolfenbüttel kommen; ich möchte so gern die Mutter noch sehen und sprechen; bin ich doch auch ihr Kind geworden.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich bringe jetzt Mary nach Lause und diesen Brief nach der Post, damit Du ihn womöglich morgen früh erhältst. Lebe wohl, liebste Frau, fasse Mut und vertraue auf die Liebe Deines Mannes.

An Frau Stadldirektor Baumgarten. LauS Neu-Watzum, Anfang Oktober 1876.

Wie gern spräche ich Sie und dankte Ihnen selbst für Ihr« Liebe und Teilnahme; aber ich kann Sie kaum bitten jetzt zu kommen, da in jedem Zimmer noch Kramerei ist. Von Montag an wird es ruhiger wer­ den, und bis Donnerstag bleibe ich hier, damit mein« arme, liebe Anna die schwersten Tage hinter sich hat. Wir waren ja mitten im Umzuge, als die Mutter starb, und eigent­ lich sollten die jungen Mädchen schon am letzten Montag zurückkehren. Mein Mann ist letzte Nacht von hier fortgereist. Natürlich möchte ich bei ihm sein, ich sehne mich nach seinerNähe; aber ich fürchte mich, von hier fortzugehen;MutterS Zimmer sind ganz so eingerichtet, wie sie waren, und es bleibt alles hier zusammen in ihrem Läuschen, was sie einst umgab. Anna wird nun der Sammel­ punkt der Familie sein und mich von ihr und ihrer Umgebung zu tren­ nen, wird mir unendlich schwer. Ich fühle dieMutter hier noch körperlich. Ich gönne ihr den Gottesfrieden, in dem sie entschlief, so von ganzer Seele; aber trotzdem ist die meine tief, tief betrübt. Sie war fern und nah der Gegenstand meiner innigsten Zärtlichkeit, höchsten Verehrung und Sorge, und ich fühlte immer ihre Mutterhand auf meinem Laupte. Nun Minna, Sie wissen alles, Cie beweinen noch heute die treue Mutter, Sie wissen, wie man um sie trauert. AmVorabend ihres Schei­ dens sagte sie mit süßester Zärtlichkeit: „Meine gute Lenriette, nun kann ich dir keine Briefe mehr schreiben" — nach einer Weile fügte sie leise hinzu: „Ich kann es mir noch gar nicht denken!" Und als meine Tränen bei diesenWorten stossen, tröstete sie mich. Ia,Minna, nun ist dies reiche schöneLeben beschlossen, ihre wunder­ bare Treue ist durch den Tod besiegelt. Wieder ist eine schöne Lebensfreude für mich abgestreift, und das Glück, das mir in meinemManne und andern geblieben, hat seine Krone verloren, denn alles, was ich fühlte und genoß im Leben, immer war es mir doppelt schön im Gefühl ihrer Mitfreude.

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Kapitel 4:

Leben Sie wohl, geliebt« Minna, ich hoffe Sie aber noch hier zu sehen. In treuer Liebe Lenriette Schrader.

An Marie Kellner. Berlin W. 23. Januar 1877.

Ich habe jetzt so schöne, aber auch so viele Arbeit, daß ich kaum zum Briefschreiben komme Ihr werdet gewiß mit Spannung der Rückkehr des Matthias*) entgegensehen, und er wird Euch selbst von dem, was er bei unS erlebte, berichten. Da meine Schwester Anna Dir von meinem persönlichen Leben berichten wird, will ich nur meine pädagogischen Bemerkungen, welche mir durch Lerrn Matthias' Anwesenheit so recht klar zum Bewußtsein gekommen sind, niederschreiben. Ehe die Menschen nicht den einseitigen Spiritualismus oder anderseits den Materialismus los werden, können sie die weittragende Bedeutung der Landarbeit und ihrer Verbindung mit der Lernschule nicht einsehen. Jede psychische Regung ist von einer ihr entsprechenden körper­ lichen Bewegung begleitet, und der Verkehr der Geister miteinander muß durch zwei körperliche Medien gehen: durch die Glieder des einen und die Sinne des andern. Werden nun diese Faktoren nicht von vornherein für und miteinander gebildet, so lassen sie einander im Stich. Bei der Landarbeit kommt es also nicht auf das Industrielle an, sondern auf die Erfassung des Punktes, Glieder und Sinne für das Ideal des Geiste- zu erziehen. Run hat der Lehrer vorwiegend die Geistesbildung als solche zum Vorwurf seiner Arbeit; aber er darf als Träger des Fortschrittes in der Pädagogik nicht die Verbindung zwischen Kopf- und Landarbeit aufgeben, die die Familie und der Kindergarten angebahnt und vor­ wiegend zu vertteten haben; er soll vielleicht zwei Stunden in der Woche der Landarbeit (die auf Ordnung, Reinlichkeit, Ästhetik des Laufes,

liebevolle Beziehungen der Familienglieder untereinander hinzielen) *) Direktor des Lehrerseminars in Wolfenbüttel und oberster Leiter der dortigen Volksschulen.

Auszüge au- Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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aufnehmen; die Fortbildungsschule hat die Sache dann weiter zu ent­ wickeln Ich glaube nicht, daß Matthias sich für die Landarbeit entscheidet; es gehören gewisse Anschauungen über den menschlichen Organismus oder die gesunde Naivität des Geistes dazu, um den groß, artigen Wert der Ausbildung der Land auf pädagogischer Grundlage zu begreifen. Matthias gehört aber zu den Spiritualisten, die sich zuwenig mit der Natur der Dinge beschäftigen. Es würde den Schullehrern gar nicht mehr Zeit rauben, wenn dem Unterrichte die Bildung zur Landarbeit.angefügt würde; sondern sie würde ihnen ein mächtiges Erziehungsmittel in di« Land geben. Wenn ich Zeit hätte, würde ich Dir eine Auseinandersetzung schreiben, die DuMatthias zeigen könntest; aber es wäre eine Operation seiner Geistesaugen nötig. Übrigens mußt

Du nicht denken, daß mir Matthias nicht gefallen hätte gewiß eine sehr edle Natur

.... er ist

Lenriette Schrader an ein Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Berlin W. 1877.

Da Sie wirklich ein warmes Interesse in der Sache der Frauenerziehung zeigen, so erlaube ich mir. Ihnen einliegende Papiere zu senden und Sie zu bitten, Ihren Einfluß hier auf folgende Puntte zu richten: 1. Mitglieder für unsern Verein zu gewinnen, die teils einfluß­ reich, teil- im Besitz materiellerMittel sind, um unsere Sache zu fördern. 2. Zu versuchen, ob man uns nicht von irgendeiner Seite zu Lilfe kommen kann, zur Gewinnung eines bessern Lokals. 3. Daß wir die Genehmigung erhalten, unsern Kindergatten sottzuentwickeln und den Versuch zu machen, die Arbeitsschule mit der Lernschule zu verbinden, vorerst in den unteren Elementarklassen. Vor meiner Verheiratung habe ich in der Anstalt Neu-Watzum bei Wolfenbüttel, die ich in Gemeinschaft mit meinen Geschwistern leitete, speziell den Kindergarten unter meiner Direktion gehabt und mit einem ausgezeichneten Elementarlehrer, Lettn A. Fricke, der jetzt in Braunschweig ist, den Elementarunterttcht nach Fröbelschen Prin­ zipien bearbeitet und in einer Klasse unserer Anstalt durchgefühtt, so daß wir den Anschauungsunterricht zum großen Teil in Darstellungsunterricht verwandelten und ausgezeichneteResultate davon sahen. Die Ideen über diesen Puntt schweben also nicht in der Lust. LHschtnska, Henrtett« Schrader H.

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Kapitel 4:

Wenn man es einmal in einer Lebensepoche vorwiegend mit der Durcharbeitung der Ideen, mit der Klarstellung von Prinzipien zu tun hat, und die Praxis nach einer Seite hin etwas in den Liniergrund tritt, so ist man, weil man überhaupt Ideen hat, noch keine unpraktische Idealistin, wozu unS die „praktischen" Leute gerne stempeln möchten. And wenn man nicht alles, was man kann und weiß, als Aushänge, schild mit sich trägt, so meinen sie, man habe davon nicht- in sich. Wie sehr viel Wahres in dem Buche von Ledwig Dohm, „Der IesuitismuS im LauSstande" ist, so könnte man dies auch auf das „Praktische", „daS Lilfreiche" usw. anwenden, es steckt auch darin ein großer IesuitismuS. Indessen bettachte ich meine frühere Wirksamkeit im Kindergatten, in der Elementarklasse als Durchgangspunkte; der Schwerpunkt meiner Tätigkeit liegt int Lehren und Bilden der weiblichen Natur für ihren Beruf als Erzieherin auf verschiedenen Gebieten mit vorwiegenderRücksicht auf Kleinkindererziehung. Ich glaube, daß wenige Frauen es besser als ich verstehen, daS Kleine groß zu erfassen, und die erste Erziehung in Zusammenhang mit den wichtigsten sozialen, religiösen und politischen Fragen zu bringen. Darüber zu lehren, darin mit Frauen zu arbeiten ist meine Mission, aber ich muß Gelegenheit zum Bilden haben — nicht zum Reden und gar zum öffentlichen Reden. Nie werde ich das tun; mein Platz ist im geschloffenen Kreise, wo sich persönliche Beziehungen bilden können. Mögen daS Reden andere tun, die dazu den Beruf fühlen, in mir liegt er nicht. Eine soll auch nicht alles tun, alle nicht dasselbe. Ich bin überhaupt nicht derMeinung, daß Frauen der Form nach geradeso wirken sollen wie die Männer, sondern, daß den Geschlechtern jedem eine besondere Mission gegeben ist; daß aber allerdings die Kluft überbrückt werden muß, die die Geschlechter noch geistig scheidet, und daß die Frau in jeder Beziehung frei von der Bevormundung des Mannes sein muß. Dies zu erringen gibt es verschiedene Wege, man kann die Sache von verschiedenen Seiten in Angriff nehmen. Der einen Frau liegt dieser, der andern jener Weg nahe, und Sie können sie nicht zusammenzwingen, es hat auch gar keinen Zweck. Nur sollte man einander ruhig seine Wege gehen lassen, dann findet sich schon zusammen, was zusam­ men paßt. Wir Frauen sind nun einmal individueller angelegt als Männer, haben auch die Aufgabe zu individualisieren, deshalb haben wir auch unsere Sympathien und Antipathien, wir sollen sie uns be-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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wahren und nur darüber wachen, daß sie uns nicht ungerecht oder gar gehässig machen. Am auf meine Mission zurückzukommen, so wünsche ich an den Kindergarten und die zu errichtenden Elementarklaffen eine vollständig organisierte Fortbildungsklaffe*) für pädagogische Ausbildung von Mädchen und Frauen zu schließen; nicht, um Systeme einzulernen, ich will nicht eine neue, einzelne Methode auf den Thron setzen; ich will das Weib bilden zu seiner Mission als Er-ieherin in der Familie und im sozialen Leben. Es soll den Menschen studieren sowohl nach seiner körperlichen, wie nach seiner geistigen Beschaffenheit und in seiner Beziehung zur Natur und Ge­ sellschaft. Es soll verstehen, welches Erziehungsideal der Jetztzeit ent­ spricht, welche Mittel man anzuwenden hat, um es zu erreichen, und wie man sich zu üben hat, um diese Mittel zu beherrschen. Die Erziehung zur Arbeit, die richtige Lenkung des Arbeitstriebes im Kinde, sobald derselbe im Kinde erwacht, wird den Mittelpunkt dieser Fortbildungsschule bilden. Natürlich braucht man zu einem solchen Anternehmen materielle Mittel, da man gute Kräfte zum Lehren anstellen muß, und die Schule sich vorerst nicht in sich tragen kann, denn in ihr handelt es sich nicht vorwiegend um ästhetische Genüsse, sondern um ernste, zuweilen strenge Arbeit, um ernste Zucht unser selbst. And unsere Frauenwelt, die Geld zu geben hat, liebt dies im allgemeinen nicht, und diejenigen, welche durch die Not des Lebens geschult sind, können nicht viel geben, und ihnen sollte man auch helfen. Ich habe diese Fortbildungsklasse mit Lilfe einiger Komiteemit­ glieder und in Verbindung mit unserm Volkskindergarten im Kleinen geschaffen. WaS sie «inbringt, mußten wir bisher zur Erhaltung unsereKindergartens verwenden. Da die Zeichnungen für denselben spärlich fließen, gebe ich die meisten Stunden selbst snatürlich ohne Sonorar]. Dies und die Ausarbeitung der Kurse ist meine Hauptarbeit in den letzten fünf Jahren gewesen. Außer meiner persönlichen Arbeit für den Kindergarten, die vorwiegend in der Ausbildung von Erziehungs­ kräften für denselben besteht, geben wir an Geldmitteln, was wir können. Da ich nie ein Lehrerinnenexamen gemacht habe, weil meine Ar­ beit für Erziehung so zufällig aus der Familie und aus meinem inneren *) Mütterschule gemeint.

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Kapitel 4:

Berufe nach und nach herausgewachsen ist*), so kann ich mich mit meinem Namen nicht als Direktorin an die Spitze einer Schule stellen,

hoffe aber in nächster Zeit Persönlichkeiten zu haben, die den bürger­ lichen Anforderungen genügen, und wenn unser Verein in eine Er-

Weiterung unserer Unternehmung willigt, wie ich sie eben besprochen, so bin ich bereit, nach jeder Hinsicht geistige und materielle Kraft für

das Gedeihen desWerkes einzusetzen, soweit es sich mit meinenPflichten als Gattin undLauSftau »erträgt Diese werden mit meiner Lehrtätig, keil nicht in schwere Kollision kommen, da mein Mann und ich so ganz

in Ideen über Frauenerziehung Überernstimmen, und es ihm eine Freude ist, wenn ich meine Kraft fiir diese Aufgabe einsetze. Mein Mann ist auch in andern Vereinen tätig, sowohl als zahlen­

des wie arbeitendes Mitglied, so wie ich auch als zahlendes Mitglied

verschiedenen Vereinen angehöre, denen ich dadurch mein Interesse be­

weise, wo ich aber, um mich vor Zersplitterung der Kräfte zu hüten, nicht tätig eingreifen kann. Ich bin mir aber auch klar bewußt, wie man von der einen oder andern Seite mißgünstig auf eine Erweiterung meiner Tätigkeit blicken

wird; daß man sofort einen Vorwurf gegen mich bereit hatte, als Sie anerkennend über mich sprachen, mag Ihnen zeigen, wie es hier ist. Ich verstehe es sehr wenig, mich zu wehren, und eS ist so leicht mög­ lich, daß ich hier nicht mit einer erweiterten Tätigkeit austomme. In­

dessen werde ich nie ohne Tätigkeit sein, da schon so viele freue Schüle­

rinnen mit mir durch Fäden verbunden find, die sich, wenn auch still, weit und weiter verzweigen, und die niemand mir mehr abschneiden kann. Da ich aber mit ganzer Seele dem Erzieherinnen- und Lehrerinnen­

berufe zugetan bin und die praktischen Erfahrungen gemacht habe, daß

ich in diesem Berufe etwas Wesentliches leisten kann, so würde es be­ glückend für mich sein, wenn ich ihn nicht nur auSüben, sondern auch

erweitern könnte. Verzeihen Sie diese lange Auseinandersetzung; aber ich glaubte sie der Sache, die ich vertrete, und in Rücksicht auf unser Gespräch über

dieselbe schuldig zu sein.

*) Lind weil es in Braunschweig zu der Zett kein Examen für Lehre­ rinnen gab, bis 55. Schrader-Breymann selbst die Veranlassung dazu war. (Notiz deS ÄerauSgeberS.)

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Mit freundlichen Empfehlungen von meinem Manne und mir an Sie selbst und Ihre Frau Gemahlin zeichnet Lochachtungsvoll

L. Schrader. Lenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. Sommer 1877. Wie geht es Dir bei dieser Litze? Ich befinde mich viel wohler, als ich eigentlich sein sollte, und ich habe einen großen Entschluß fürs Leben gefaßt. Dieser Sommer zeigt mir, daß ich viel mehr vertragen kann, als ich je geglaubt, wenn ich mich zur rechten Zeit schone und überwinde und einig werde mit mir selbst. Es ist mir so entsetzlich schwer geworden, die Verhältnisse zu be­ herrschen und mich in fie zu schicken. Tausend Unliebenswürdigkeiten meinerseits find daraus hervorgegangen, daß ich oft nicht die passenden Anzüge hatte und mich nicht denVerhältnissen gemäß einrichten mochte, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Sparsamkeitsgefühl. Nun habe ich von jeher doppelte Liebenswürdigkeit, doppelte Kraft entwickelt, wenn ich mich gut und passend angezogen fühlt« und meine Umgebung damit harmonierte. Ich habe das immer als eine Schwäche in mir bekämpfen wollen, es ist mir nicht gelungen, und eS hat nur geistiges Unkraut erzeugt. So will ich denn eins mit mir werden und jetzt eine Kapitalanlage machen, alles so zu haben, wie es für jede Gelegenheit paßt; jetzt kostet eS mich erst viel Geld, aber ich glaube, im Laufe der Zeit nicht mehr als bisher. Denn wenn ich mich von den Leuten überteuert glaubte, ging ich gleich ab und scheute mich vor jeder Besorgung. Ich weiß, ich verstehe jetzt noch nicht zu handeln; aber ich will eS lernen. Ich habe letzte Nacht wenig geschlafen, ich hatte mir nämlich noch ein Kleid bei G. bestellt, weil ich wußt«, ich würde mich in dem lila so unbehaglich fühlen, und wenn ich noch mit Dir reise, und wir vielleicht in irgend­ welche geselligen Beziehungen in Kopenhagen kommen oder so wohnen, daß wir table d’höte essen, so wäre ich wieder in Verlegenheit ge­ kommen.

Ich will nun so ausgerüstet sein, daß ich mit Dir durch Dick und Dünn gehen kann; im Salon mich präsentieren oder im Drecke spazieren gehen kann. Ja, lieber Karl, hätte ich nur Deinen Rat befolgt. Gestern

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Kapitel 4:

abend überkam mich nun erst noch einmal eine so tiefe Reue, daß ich Herzklopfen bekam und infolgedessen eine schlechte Nacht hatte .... Nun bin ich mit mir eins:Nie werde ich unangenehme Dinge auf­ schieben, was sein muß, gleich machen und viel mobiler sein, als ich war, immer passende Sachen habe ich dann und bin schnell fertig und scheue mich nicht vor Besuchen und Wegen. Von 8 bis %!! war Miß ** zur Stunde, sie langweilt mich, seit­ dem sie mir eine Mark Trinkgeld gegeben hat. Sie denkt ernstlich daran, den Winter hier zu bleiben; aber sie will gerne in Geselligkeit leben: „ES ist ziemlich langweilig, mit Frauen allein zu verkehren", meinte sie. Ich glaube, sie ist ehrgeizig und hat das Bedürfnis, eine Rolle zu spielen. Später. Welch ein schrecklicher Tag. Es kam ein Gewitter mit Lagel, und ich mußte lange warten, bis ich nach Lause kommen konnte, die Wege, an denen Bäume standen, waren grün und im Grase lagen noch dicke Eisstücke, hie und da lagen Äste am Boden, doch je näher man der Kurfürstenstraße kam, desto weniger schien dasWetter Spuren zu hinterlassen. Nur die Bellevuestraße stand ganz unter Wasser. Aber die Sonne brennt und sticht, und rund umher stehen wieder schwere Wolken, und es blitzt und donnert. Armer, armer Mann, in der Kon­ ferenz in Larzburg muß es fürchterlich sein. Lebe wohl. Deine Depesche habe ich gefunden, einen herzlichen Kuß von Deiner 30. Lenriette Schrader an ihren Mann.

LausNeu-Watzum, 25. Juli 1877. Gestern konnte ich nicht zu meinem Briefe kommen, Bruder Erich holte mich ab, er fuhr erst nach Antoinettenruhe und dann nach GroßStöckheim; während er seine Geschäfte dort abmachte, ging ich nach einem kleinen Dorfe an der Oker spazieren, ich glaub« Leiferde war es. Nachmittags war hier ein starkes Gewitter mit Sturm und Schloßen ge­ wesen, das die Luft gereinigt hatte, und ich genoß das schöne Landleben in vollen Zügen. Meine Kinderzeit lebte so lebendig in mir auf und mit ihr eine tiefe Sehnsucht nach Kindern; Karl, wie traurig, daß wir keine Kinder haben, die uns so lieben wie ich, wie wir dieMutter liebten I Ich glaube auch, ich weiß wirklich, was ihnen not tut; es hat sich so langsam und still in mir durchgebildet; die Begeisterung, die Fröbel mir

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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gab, ist geblieben, die Anruhe, welche sich damit verband, weil ich meinte, man müsse beständig an dem Kinde herumarbeiten, ist gewichen, und in mir lebt der Fröbelfche Sah auS der „Menschenerziehung": „3m Grunde sind die Erziehungsmittel so einfach; aber eben deshalb über­ sehen wir sie" usw. Dieser Satz lebt in mir, das Geheimnis der Er­ ziehung liegt in der Benutzung der gebotenen Verhältnisse, indem man diesen eine höhere Beziehung gibt und in der Beschaffung des Boden-, in den» der Mensch gesund und glücklich ist. Wie einfach und leicht ist die Erziehung auf dem Lande; aber, da es Städte gibt und Menschen darin, die Kinder haben, so müssen wir mit aller Kraft streben, das, was das Land an herrlichen Erziehungs­ mitteln gibt, soviel als möglich in die Stadt zu verpflanzen, und der Geist ist es ja doch, der dieNatur auf dem Lande zum Erziehungsmittel macht. Aber denkt man bei Läuserbau und Sttaßenanlagen usw. an die Kinder? Sag' einmal, Karl, könntest Du, wenn auch nicht jetzt, könntest Du Deine Verbindungen nicht benutzen, einen wirklichen Erziehungsverein zu gründen, der die Sache im Großen erfaßt? Ich fühle so viel mehr in allen Dingen als ftüher, und das erhöht den Naturgenuß, ich hätte mit der Lerche singen mögen, die auf einer Erdscholle saß und so in Lebenslust ihr Lied trillerte, ich fühlte, als ich auf der Brücke, die über die Oker führte, stand, „wie wohlig ist dem Fischlein auf dem Grund", und mit den Weidenzweigen, die die leichten Wellen netzten, ttank ich Kühlung. Die Eindrücke der Kindheit sind so mächtig und meine Natur ist ihnen so treu geblieben. Sonderbar fühlte ich mich gestern, eS war mir, als wäre ich Kind, als hörte ich derMutter, des Vater- Stimme, wenn sie mit uns spazieren gingen. Ja, Karl, könnte ich nur für ein Buch passend sprechen; aber sowie ich daran denke, werde ich ein anderes Wesen. Es ist mir, als trüge ich ein be­ quemes Kleid, und als sänke das Beste, was ich in mir habe, was ich im Gespräch und in meinen Stunden sagen kann, tief in meine Seele zurück und läge dort gefesselt. Als ich von dieser reizenden Fahrt nach Lause kam, machte LuiSchen Tante Emma ihren Gegenbesuch, und als sie fort war, ging ich mit Emma (Rauterberg) durch das Lolz; auf dem Rückwege traf ich Lerrn Mirsalis, der hier bei Anna Tee ttank, und so war der Tag dahin. And Du, mein Geliebter? Dein Tag war Litze, Arbeit, treue Pflichterfüllung ? Ich habe nun auch meine Tageseinteilung gemacht:

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Kapitel 4:

Morgens zwischen 7—8 Ahr stehe ich auf, trinke mein Brunnenwasser, frühstücke eine Stunde später, schreibe meine Briefe, bade um 11 Ahr,

letze mich eine Stunde hin und ziehe mich zum Essen um 1 Ahr an. Nach Tisch lese ich fiir mich, gehe spazieren. Ich muß täglich einige Stunden gehen, es bekommt mir so gut. Abends nach dem Tee bin ich mit den andern zusammen. Wir gehen früh zu Bett.

So, meinSerz, werde ich nicht viel arbeiten können; aber ich denke, es ist auch meine Pflicht, der Gesundheit zu leben

....

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 30. Juli 1877. Von meiner glücklichen Ankunst in Berlin hat Dich schon mein Telegramm unterrichtet; es geht mir auch ganz wohl, die Nacht habe ich von Braunschweig aus (von 1.30) ganz gut und fest bis fast nach

Potsdam geschlafen. Arbeit habe ich natürlich in Sülle und Fülle gefunden, aber nichts Besonderes. And wie geht es Dir? Es geht nun einmal nicht anders, als daß

wir noch einige Zeit getrennt sein müssen, und so müssen wir beide eS mit Geduld ertragen. Du hast ja doch auch den Trost, bei den Deinigen zu sein. Gestern Nacht traf ich auf dem Bahnhöfe in Braunschweig den

Landsyndikus O. höchst munter und im Begriff, eine Nachtfahrt nach

Frankfurt a.M. zu machen. Der Mann muß schon über Mitte der siebziger Jahre hinaus sein; wenn es doch mir in diesem Alter noch so gut ginge 1 Morgen denke ich an Clausson zu schreiben, um bei ihm wegen unseres Aufenthaltes und namentlich darüber, ob in der letzten Zeit des

August sein Kursus noch im Gange ist, zu fragen. Wäre letzteres nicht mehr der Fall, so entschließen wir uns vielleicht zu einer andern Reise.

Ich freue mich recht darauf, einmal mit Dir einige Wochen ohne

die gewöhnliche Tagesarbeit zusammen zu sein; wir wollen denn auch so behaglich als möglich zusammen leben und — da der September schon rauh sein kann, uns möglichst gute Quartiere suchen-

Willst Du etwas über Dänische Geschichte oder Geographie lesen, Karten oder dergleichen? Ich könnte ja ein Reisehandbuch, daS wir

demnächst doch haben müßten, gleich kaufen und Dir schicken. Soßbachs Predigt und Dein Adreßbuch schicke ich Dir morgen. Lebe wohl, liebe Frau, grüße Schwester Anna.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Lenriette Schrader an ihren Mann. Neu-Watzum, 31. Juli 1877.

Gestern hatte ich geschrieben, aber der Brief ist so traurig, daß ich ihn nicht abschicken will; ich mache mir Vorwürfe, Dich allein reisen

zu lassen. Dir so viel Last zu machen, aber heute habe ich den Entschluß gefaßt, das „Jaulen" zu lassen und mich Deiner zärtlichen Liebe und

Fürsorge zu freuen. Wenn ich Dir nur sagen könnte, wie meine Liebe zu Dir immer noch eine andere, neue und schönere wird

Könnte

ich doch auch so geliebt und verehrt sein von den Menschen wie Du; aber mir geht das Talent ab, und ich habe so viel Vorurteil gegen mich

zu überwinden, und wenn ich das Gefühl habe, die Leute sagen: „Wie kommt der reizende junge Mann zu solch einer Leirat, zu dieser alten

Frau", — dann stockt mir jede Geistesader, ich bin still und kann unfreundlich und unliebenswürdig sein. Anderseits ist das, was ich in mir trage, und was Du mir versicherst, daß es für die Welt einen Wert hat, so ernster Natur, ich kann es nur im großen ausgeben und so wenig kleine Münze daraus schlagen; ich kann den Leuten so wenig Liebens-

Würdigkeiten sagen, die in der gebildeten Welt anstatt Trinkgelder kurfieren, und die einem die Lerzen geneigt machen wie der LLndedruck

mit dem Taler.

Das alles geht mir ab; ich kann so schwer ge-

fallen und das drückt mich Dir gegenüber, auf den ich alles Schöne

und alle Ehre legen möchte; mein Stolz leidet darunter. Lätte ich nur mehr Selbstgefühl und Freiheit. Ich will erst diesen Brief senden, damit Du ihn morgen früh bei Deinem einsamen Frühstück hast, damit Du ein sichtbares Zeichen meiner

zärtlichen Liebe für Dich findest, mein Lerzensmann, ich küsse Dich lausend Mal, ich liebe Dich in jeder Faser meines Wesens Za, Karl, geliebt bist Du von einer in sich selbständigen Natur ganz bis zur Lingabe deS ganzen Wesens; geliebt bist Du nicht um ein

äußeres Gut, geliebt bist Du Deines Besten wegen, daS niemand klarer erkennen und mehr würdigen kann als ich. And frei, ganz lieben kann ich nur, wo ich die tiefe Sittlichkeit des WesenS fühle und erkenne. Ich

könnte einen unvollkommenen Mann mit moralischen Schwächen, den ich einmal geheiratet hätte, lieben, wie man ein Kind liebt, einen Men-

schen, den man nicht verlassen darf; aber so frei, so wirklich lieben kann ich nur, wo ich respektiere. O,Gott sei ewig Dank, daß ich respektieren

muß bei Dir, mein Lerzensmann. Karl, wenn Du nicht der Charakter

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Kapitel 4:

wärest, der Du bist, was könnte mir den Glauben erhalten? Ja, Karl, die Macht des Sittlichen ist unumstößlich, sie ist das Göttliche, o Dank, Dank Dir fttr das, was Du bist. Labe nur Geduld, Dein Leben und Streben wird mir immer klarer, ich ahnte Dich im Anfang unserer Ehe, aber ich verstand Dich nicht. Ich verstand wirklich nicht den Zusammenhang der Arbeit; ich hielt die Erzieher für die Aristokraten der Geisterwelt, und so meinte ich immer. Deine Eisenbahnarbeit sei nur Dein Broterwerb, Deine eigentliche Tätigkeit liege auf dem Felde solcher Bestrebungen, wie Du sie in Braunschweig verfolgtest; ich verstand zu wenig die Wechsel­ wirkung verschiedener Arbeitsgebiete, die da- Ganze ausmachen. ES wird Dir auch so schwer, durch Worte etwas von Dir zu lösen, und es den andern verständlich zu machen. Wie Fiedler sagt: „Will man die Kunst verstehen, so muß man ihr auf eigenen Wegen nachgehen", so ist es mit Dir. Frau Dr.Bethmann*) rät mir, einenBand von Grimm zu lesen: Kleinere gesammelte Schriften; wie treffend schilderte sie die Gebrüder Grimm als Typus einer uns zum großen Teil verlorenen Welt, die arbeiteten um der Sache willen, still, bescheiden, ohne Ge­ klimper und doch mitBegeisterung; nicht um den Erfolg, der der Person zugute kam, sondern nur um der Sache willen. Dieser Typus lebt noch in Dir. Die Frau Dr. Bethmann ist mit einem seltenen Scharfsinn für das Leben begabt und mit viel künstlerischer Phantasie

Lenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum, 9. August 1877. Ich habe in Stein**) überBildung gelesen, und er will, daß alles Bildungsmaterial fteigegeben werde. Mangel an Besitz der Eltern darf nie dem Kinde dieMöglichkeit abschneiden, jede Bildung, deren es fähig ist, zu genießen. Das klingt sehr logisch, ist aber doch, glaube ich, nicht richtig, aber ich habe eS noch nicht durchdacht. Mich soll wundern, ob sich nicht ein Grundfehler in seiner Psychologie findet; bis jetzt scheint sie mir richtig, und seine Auffaffung deS Staatslebens wirklich zugleich ideal und praktisch. Ich meine, es müßte gar nicht schwer sein, auf Grund seiner Darlegung Konsequanzen für die Frau zu ziehen, wie sie in der Verwaltung tätig sein muß und wie gerade die Entwicklung des Staates

*) Witwe des Staatsbibliothekars in Wolfenbüttel. **) Lorenz von Stein, Professor der Staatswissenschasten.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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zum Staatsbürgertum die Emanzipation der Frau fordert. Gerade Stein zeigt den Weg, die Pflichten der Frau gegen den Staat Hera»-,

zufinden, er zeigt, daß mit demNeuen, was das 19. Jahrhundert schafft, auch eine neue Stellung der Frau begründet wird, d. h. er selbst scheint diese Konsequenz nicht auS seinen eigenenWorten zu ziehen. Ich wollte,

ich hätte seine kleine Schrift: „Die Frau auf dem Gebiete derNational-

ökonomie." Du kannst mir nichts Besseres schicken als die Bücher, di« ich habe. Stein und Lange (Geschichte deS Materialismus) muß ich

gründlich studieren. Lätte ich nur jemand, der diese Studien mit mir teilte

Ich meine, eine Zusammenstellung gewisser Punkte aus

Stein und Schäffle (Bau und Leben des sozialen Körpers) würden eine Grundlage für die Lösung der Frauenfrage bieten; denn ist die Frau

eine Person, so ist die Staatsbürgerin und „die Frau als Staats­

bürgerin" müßte man entwickeln. Ich möchte, wenn ich dies durchgearbeitet habe, eine gute Geschichte der germanischen Staatsentwicklung lesen.

Lebe wohl, mein Äerz, sage mir endlich, ob und wann Du kommst. Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 9. August 1877.

Also, Du hast Deine letzte Krankheit, wie ich den Kummer, den

Du über das Äerannahen des Alters fühsst, nennen muß, überwunden? Aber ist nicht doch der Keim der Krankheit in Dir geblieben und eine Wiederkehr derselben zu erwarten? Was ist denn eigentlich der Grund des Kummers, die Krankheits­ ursache? Die Sache selbst, d. h. der Umstand, daß Du, wie alle Men­

schen, darauf gefaßt sein mußt, im Alter an äußerem Ansehen und Kraft zu verlieren? Ich glaube nicht, wenigstens ist hier wohl nicht der Hauptgrund; liegt er nicht darin, daß Du meinst, daß -wischen unö werde die Altersdifferenz vergrößert und sichtbarer gemacht? Soweit dies die Meinung der Welt betrifft, glaube ich, kannst Du Dich schon deshalb ganz ruhig Hinwegsetzen, weil die Leute, die sich mit uns ernst-

Hafter beschäftigen, auf deren Urteil wir etwa- geben, wissen, daß wir beide miteinander glücklich sind, daß dieser Punkt keinen Einfluß hat, und daß bei unserer Sinnesart auf etwas, was unter andern Am-

ständen vielleicht von Bedeutung sein könnte, kein Wert zu legen ist. DaS Wichtigste ist doch unser Verhältnis zueinander, und ich früge Dich selbst, ob Du je gefunden hast, daß dieser Punkt darauf Einfluß

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Kapitel 4:

hatte, daß ich mir Dich anders wünschte, als Du bist. So wie eS ist,

sind wir glücklich miteinander, wer weiß, ob wir, wenn es anders wäre, ebenso glücklich wären. Sehe ich auch äußerlich nicht älter, vielleicht

jünger sogar aus, al- ich bin, so bin ich doch älter als meine Jahre von jeher gewesen, und ich habe nie die vorübergehenden Reize der Jugend

geschäht; ich habe sie nie gesucht, als ich um Dich freite, sondern das, was in Dir unvergänglich ist und sich mit der Zeit nicht mindert, son­

dern mehrt. Deine Liebe und Deinen frischen, elastischen Geist. And den erhalte Dir, erhalte ihn Dir auch dadurch, daß Du ihn

nicht mit solchen Dingen quälst, die ihn nicht zu belasten brauchen.

Labe nur Verttauen zu meiner Liebe, wie ich zu der Deinigen! Wenn nichts Besonderes vorfällt, hoffe ich morgen bei Dir zu sein,

ich denke dann auch von Clausson Nachricht zu haben, glaube auch

sagen zu können, daß ich etwa vom 19. an mich frei machen kann,

d. h. daß bis dahin alle meine Geschäfte weit genug geordnet sind, um sie eine Zeitlang andern überlassen zu können. WaS Bruder Karl will, werde ich mitbringen; vielleicht kann ich

ihm auch in etwas behilflich sein, obwohl ich am 16. gerade noch nach Eisenach reisen muß, also wenig Zeit habe Wann ich komme, schreibe ich noch. Am 10. August. Leute habe ich endlich von Clausson über Karls­

ruhe die Nachricht erhalten, daß sein Kursus bis Ende August dauere, wir also seine Sachen noch sehen können, daß auch August und Sep­ tember noch recht schön sein könnten und häufig wären. Er freut sich sehr aus unser Kommen und will für uns sorgen, daß wir gut und billig

unterkommen. Wir können also, wenn ich Sonntag bei Dir bin, alle­ fest verabreden, auch über Deinen Vorschlag, noch einige Tage, sozu­

sagen, zu Vetterreisen zu benutzen. Was meine Bemerkungen über Dein dichterisches Talent betrifft,

so ziehst Du recht falsche Konsequenzen oder vielmehr ich sehe, daß ich mich nicht ganz genau ausgedrückt habe. Dir fehlt ganz und gar nicht der Sinn für die Form im einzelnen, sondern für die Form des Ganzen,

das Geschick zu komponieren, ein Geschick, da- sehr vielen Dichtern ab­

geht, auch vielen Künstlern. Dies Geschick, meine ich, läßt sich bilden, denn es beruht zumeist auf der Tätigkeit des ordnenden Verstandes, darauf, daß man sich klar ist zunächst über den Zweck, welchem die Kom­ position dienen soll, und daß man nun die Gedanken diesem Zwecke ge-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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mäß zusammen zu ordnen und einzeln entsprechend zu gestalten—mehr auszuführen oder nur anzudeuten usw. versteht. Was Dir im Weg« ist, scheint mir weit mehr das zu starke Lerandrängen der Gedanken zu sein, welches Dich in der Komposition stört, und Dir die Freude am Produzieren dieser Gedanken nimmt. Es ist kurz mehr Abneigung oder Ungewohntheit als Unfähigkeit. Lier geht alles seinen Gang. F. ist wieder da; die Geschäfte scheinen sich so zu entwickeln, daß ich reisen kann ohne zu große Sorge. Ich habe mir auch gestern schon ein neues Plaid — namentlich für Regen und für den Aufenthalt an der See berechnet, gekauft, da meines schon sehr alt ist und große Löcher hat, so daß ich es im Wagen wohl gebrauchen kann, aber nicht mehr zum Umhängen. Überlege Dir auch, was Du für die Reise an warmen Sachen etwa noch nötig hast. Wenn ich morgen reise, so telegraphiere ich Dir; ich komme ent­ weder 5.10 nachmittags (nachdem ich in Börßum gegessen) oder 10.50, abends inWolfenbüttel an. Geht es gar nicht anders, so fahre ich nachts 11 Uhr ab und bin 6.25 morgens inWolfenbüttel. Loffentlich kommt nichts mehr dazwischen, daß ich Dich endlich wiedersehe; ich weiß gar nicht recht mehr, wie Du bist, so lange sind wir getrennt. Lebe wohl, liebe Frau. m . ~?ettt Mann. Lenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 27. September 1877. Vielleicht erlebst Du doch noch einmal Freude an mir in bezug auf meine schriftstellerischen Versuche, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ver­ stehe ichDeinenStandpunkt besser als ftüher, und ich befolgeDeinenRat. ES handelt sich also nicht darum (wie ich es von Dir immer falsch verstand), eine Disposition zu machen, so daß man nach derselben daS Ganze fix und fertig schreiben kann, sondern darum, der Lauptideen ganz bewußt zu werden, die man entwickeln will. So muß ich z. B. erst die wesentlichen Momente des Familienlebens in Rücksicht auf mein Thema finden, sie ganz klar begrifflich fassen, mit Dir besprechen und dann zum Ganzen verweben. Ebenso das We­ sentliche deS Kindergartens, und dann auf den Unterschied von Kinder­ garten- und Schulmethode kommen; erst wenn ich di« einzelnen Teile habe, kann ich die Einleitung finden und das Ganze schreiben.

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Kapitel 4:

Deine Kritik hatte etwas Vernichtendes für mich und Deine Rat­ schläge etwas Verzweifelndes, weil ich Dich nicht verstand. Kannst Du jetzt wohl verstehen, warum es mir so schwer wird, von der Lehrtätigkeit auf die Schriststellerei zu kommen? Begabt mit einem Instinkt für die Wahrheiten des Lebens, für dasVerständnis seiner Erscheinungen, mit Talent zur Rede undWärme deSLerzens, habe ich zu lange vor einem kritiklosenPublikum gesprochen und auch seinerzeit Gutes gewirkt. Aber in einer Zeit, in der alles nach wissenschaftlicher Begründung strebt, nach begrifflicherKlarstellung, würde all meine Wärme für die gute Sache nur taube Blüten im größe­ ren Publikum treiben, wenn ich mich nicht der Seite befleißigte, durch die dieses Publikum zum Interesse der Dinge gebracht werden kann. Meine Schülerinnen schrieben mir den bestimmten Gang vor, und weil ich ihnen gegenüber gleich wieder gestalten konnte, waS ich las, so konnte ich lesen; aber mit dem Schreiben war es anders, da legte mir niemand einen Zwang auf, und ich selbst konnte es nicht. Deine Vorschriften verstand ich wirklich nicht, ich weiß nicht, weshalb. Zu schaffen, zu ge­ stalten war mir zum Bedürfnis geworden, ich konnte es nicht lassen. Ach, ich litt so tief, es machte mich im Gemüte krank, wenn ich nichts zu gestalten hatte, niemand, für den ich gestalten mußte. Ich konnte so wenig allein; d. h. meine Schülerinnen entwickeln mir die Gedanken, an ihnen bilde ich mich selbst, und mit einem andern, der helfend mir entgegentrete, wo es mir fehlt, könnte ich viel voll­ bringen; ich bin so für die Gemeinsamkeit geboren, auch zur Erreichung höherer, sittlicher Ausbildung. Ich bedarf des Wortes, des Aussprechens. Durch diesen Prozeß entwickelt sich zugleich der Gedanke, das Gefühl, und nichts wirkt beftuchtender auf mich als ein Entgegenkommen in dieser Beziehung

Kenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W., Kurfürstenstraße 53,5. Oktober 1877. Noch immer fährst Du weiter von mir fort, es ist 5 Ahr und schon viel Neues und Schönes hat sich in Deine Seele gesenkt. Als ich heute Deinen Brief aus Wien erhielt, wurde ich so schrecklich traurig, waS gäbe ich darum, hätte ich mit Dir reisen können, noch nie in meinem Leben war ich so reiselustig, und noch nie hatte ich solch eine Sehnsucht nach Rom. And nun reisten statt mehrere Lerren nur einer mit Frau

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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und Tochter, und Ihr seid eine Heine, gewiß sehr heitere Gesellschaft. Es wird gewiß alles gemeinschaftlich genossen, und ich werde nie, nie nach Rom kommen.

Ich weiß ja, daß eS in jeder Beziehung unvernünftig gewesen wäre,

jetzt mit Dir zu gehen, aber muß man nicht dann und wann das Un­

vernünftige tun, um das Glück und daS Schöne zu erfassen, führt der Pfad der Pflicht nicht schließlich in die graue Langeweile? And viel­

leicht verlierstDu noch dazu das viele schöne Geld, daS Du mitgenommen, wofür ich hätte mitreisen können I Sei nicht traurig oder böse, daß ich so rede; eS ist so himmlisch

schönesWetter, das weckt so die Sehnsucht, aus denMauern der Stadt zu entfliehen. Als ich mit Annetten in diesem öden Sande, in dieser

mageren Erde und der dunstigen Atmosphäre spazieren ging, o, da

sehnte ich mich wieder so schmerzlich nach der Natur. Ach, schreibe, schreibe nur soviel Du kannst und atme und lebe für mich mit da draußen in der freien schönen Welt I Morgen wandelst Du nun in Florenz, über­

morgen bist Du in Rom; noch nie war es mir so zu Mute bei diesem Namen. Doch still davon, ich habe Dir allerlei zu erzählen von — Berlin I

Gestern war es ebenso langweilig bei ** wie die Persönlichkeiten selbst, nur meine liebe, warme St

zu sehen, freute mich. Es ist

dort brav und schmucklos, eine Schulvorsteherin war dort, welche eine teure, vornehme Schul« und Pension hat, und daß sie ganz angenehm

aussieht, ist alle-, was ich von ihr weiß. Leute kam die Mutter einer

im Examen durchgefallenen Schülerin; erstere war tief gekränkt und

sprach von dem „Zopf der geprüften Lehrerinnen", sie habe auch wenig Achtung vor der hohen Pädagogie unseres Komitees und den „un­

zarten Berührungen", die ihrer Tochter, einem seelischen Wesen, zuteil geworden seien, „das nur gleich einerÄolsharfe töne, wenn der rechte

Lauch ihre Saiten berühre". Sie brachte mir, in Jamben geschrieben, Aussätze ihrer Tochter über die Lunnenschlacht von Kaulbach: „Last

du noch nie den Kampf derMorgenröte, Mit tiefer, schauervollerNacht

gesehen" usw. Trotzdem ich mich gar nicht einschüchtern ließ und ihr ruhig sagte, daß daS Komiteemitglied, welches ihre Tochter besonders

examinierte, zwar eine sehr gerade, etwas derbe Natur sei, doch das Lerz auf dem rechten Flecke habe, so schieden wir mit dem AuSrufe der Mutter: „Ach, könnten wir doch zusammen wirken!" Diese Frau

ist ein sonderbares Gemisch von Sentimentalität und Einfachheit, von

128

Kapitel 4:

Muttereitelkeit und vom Streben, das Rechte zu tun, von Verschroben» heil und, wie mir scheint, richtigem Verständnis. Also ihre Tochter soll trotz der schrecklichen Behandlung, die sie erfahren hat, kommen, und wa- mich freute, dasMädchen hat gesagt: „Nein, Mama, Frau Schra» der soll mich anders kennen lernen, ich muß den Kursus bei ihr durch­ machen!"

Nachdem kam eine der Krankenpflegerinnen, die Kindergärtnerin werden möchte, dann kam eine Karte vom Bruder Karl, der Arnold anmeldete, er kommt mit E. Straith. Dann kam eine Anfrage von Lausen, daß er uns besuchen möcht«, ich habe vor, ihn und Löhn Sonntag Mittag einzuladen, und um 4 Ahr kommen die Damen zu einer Besprechung mit Löhn. Dann gingen Annette und ich zu Pfuhls, wo wir sehr freundlich empfangen wurden, und er fühtte uns mit ungewohnter Lebhaftigkeit in sein Atelier.

Während unserer Abwesenheit war eine Dame mit ihrer Tochter hier, um sie zum Kindergartenkursus anzumelden. And nun, mein lieber Karl, weißt Du alles, es ist wieder Abend und so wurde aus gestern und heute der zweite Tag.

Es ist heute so wehmütig schönes Wetter wie vor einem Jahre, als wir Mütterchen zu Grabe trugen. Es ist etwas Wunderbares, wenn ein vollendetes Leben vor uns liegt, ein Leben, das mit dem eigenen von erster Stunde an auf das innigste verknüpft war. Es ist nun da, waS mir als das Schrecklichste erschien: Der Tod der Mutter, es ist da, was mir in Gedanken, bis es kam, stets das Lerz beklemmte. Ich sah das liebevolle Auge auf immer geschloffen, di« treue, sorgende, segnende Land gestorben; es ist geschehen, wovon ich so ost mit ihr sprach — und doch war ich schon wieder glücklich, und doch lebe ich weiter ohne sie. Nein, nicht ohne sie, sie ist lebendig in mir. Ach, Karl, komme, komme nur wieder lebenswarm und lebensftisch und halte mich wieder an Deinem klopfenden Lerzen. Noch immer sehe ich Dich fortfahren, sehe Dein Antlitz, wenn Du Dich wandtest und endlich das weiße Tuch, das war das letzte, und dann entschwand der Wagen mit Dir.

Lebe wohl, es küßt Dich innig

Deine Frau.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An Frau Stadtdirektor Baumgarten.

Berlin W. 6. Januar 1878. Mein Lerz tut mir oft recht weh, daß ich mit meinen geliebten Freunden nicht so viel mündlich und auch nicht schriftlich verkehren kann, wie ich möchte; aber das Leben mit seinen Anforderungen drängt förmlich auf mich ein, ich kann kaum alles bewältigen. And so muß ich heute sehr egoistischerweise von mir und meinen Wünschen reden, wo ich doch so vieles für Sie persönlich auf dem Kerzen habe. Durch eine Verkettung der Verhältnisse, die ich später auseinander­ sehen will, bin ich in Beziehungen zu Persönlichkeiten getreten, die von großem Einfluß für dieReformation des Erziehungswesens sein können.

Gestern habe ich erfahren, daß der Chef des Anterrichtswesens mich zu sprechen wünscht, und ebenso habe ich Gelegenheit, noch höheren Orts meine Wünsche darzulegen. Meine Stellung als Frau meines Mannes ist mir einerseits sehr förderlich, anderseits zweifelt man leicht an meiner praktischen Erfahrung, da man mich für eine Dame hält, die sich zumVergnügen mit Erziehung beschäftigt, und das ist auch wahr; aber natürlich in den Augen eines eingefleischten Schulmeisters ein Verbrechen. Nun haben meinMann und ich den großenWunsch, daß Ihr lieber Mann als Stadtdirektor mir ein Zeugnis über meine frühere Wirksam­ keit ausstellen möge. ES muß daraus zu ersehen sein, daß ich wohl zu der Organisation und Leitung einer Anstalt befähigt bin, welche Kinder­ garten und Elementarklassen für Mädchen und Knaben und dann die folgenden Stufen fürMädchenunterricht und Erziehung bis zurBerufSreife umfaßt, insofern ich auch Erzieherinnen und Lehrerinnen für den Kindergarten und Elementarstufe ausgebildet habe. Ich habe nun einen ganz bestimmten Plan; gelingt er, so kann ich vielleicht recht segensreich wirken; aber scheitert er, so wird das mich nicht irre machen, und ich werde meinen Ideen, die die Frucht ernster Lebens­ praxis sind, unter irgendeiner Form Leben geben. Es gibt auch stille, unsichtbare Kanäle, durch welche man zur Er­ neuerung des Lebens beitragen kann. Ich habe neulich einen Vortrag ausgearbeitet und gehalten: „Fröbels Stellung zum Kinderspiel und zur Kinderarbeit", der mir gut gelungen ist, und so habe ich wieder mehr vyschin»»«, Henriette Schrader ll.

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Kapitel 4:

Vertrauen zu meiner schriftstellerischen Tätigkeit gewonnen, die mir ja unter allen Umständen bleibt. Also, liebe Minna, ein Zeugnis Ihres Mannes in Amt und Wür­ den, daS den Leuten Vertrauen einflößt zu meiner Erfahrung und praktischen Tätigkeit, kann möglicherweise von großerBedeutung werden für meine hiesige Arbeit, und damit für die Erhebung des Frauengeschlechts im allgemeinen. Einliegende Papiere senden Sie mir wohl zurück. Ich fange mit meiner Arbeitsschule Donnerstag hier im Laus« an und habe Anmeldungen aus Familien, an denen mir etwas liegt. So kommt man Stück für Stück ein bißchen weiter. Leben Sie wohl, Gott sei mit Ihnen und helfe uns allen, das Rechte zu tun und alles recht zu ertragen. Wie immer, in treuer Liebe Ihre $>. Schrader.

An Fräulein Amalie Sohr. Berlin, Kurfürstenstr. 53, den 15. Januar 1878.

Geehrtes Fräulein! Verzeihen Sie, daß ich erst heute meinem Versprechen, die Papiere zu senden, nachkomme. Solange Frau Schwabe hier war, wurde ich zu sehr in Anspruch genommen, und nachher war ich nicht wohl. Meine Arbeit bezieht sich auf zwei Punkte: 1. Frauen zu interessieren fiir di« erste Erziehung und den ersten Unterricht des Kindes etwa bis zum 10. Jahre als die wichtigste Arbeit der Frau, da diese Zeit grundlegend für das ganze Leben ist, und man im Kleinen das Große sehen, daS Kleine mit dem Großen in Beziehung bringen soll. 2. Die gebildete Frau für die erste Erziehung der Armen, für die Arbeit im Volkskindergarten zu interessieren, und sie zu veranlassen, dort selbst tätig zu sein, soweit nicht nähere Pflichten sie ans LauS fesseln. Die materiell und geistig Besitzende hat die heilige Pflicht, sich der Nichtbesitzenden anzunehmen. Meine Arbeit geht langsam, und die Zeit ist ihr nicht günstig, weil der Kampf ums Dasein die Menschen jetzt so in Anspruch nimmt, daß sie den ruhigen Blick in die Tiefe und nach oben verlieren; aber ich bin

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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so fest überzeugt von der Wichtigkeit der Sache, die ich vertrete, daß ich ihr bis an mein Lebensende treu bleiben werde. Meine Stunden sind:

Montag von 11—1, Mittwoch von 3—6, Freitag von 4—6, Sonnabend von 3—5.

Mit freundlichem Gruße Lochachtungsvoll

S>. S.

Donnerstag von 4—6 Arbeitsschule hier im Lause.

An Frau Luise Fröbel.

Berlin W. Januar 1878. Zu Weihnachten und Neujahr solltest Du einen Brief von mir haben, und nun ist der Januar 78 schon über die Lälfte verflossen, und keine Zeile von mir kam in Deine Lände. Aber Frau Schwabes Lier« sein hat mich aus dem Gleise des täglichen Lebens gebracht, daß ich sogar manches versäumen mußte. Labe vielen Dank firr Deine Sendung; unsere Kindergartenkinder sind noch zu klein für die Kindergartenuhr; aber wenn wir die Elemen­ tarklasse bekommen, werden wir sie sehr gut verwenden können. Vielen Dank für das Geflecht. Wir haben jetzt im Lause einen Landarbeitskursus nach Klaussonscher Methode jeden Donnerstag von 4—6, und mein Mann hat in einem andern Teile der Stadt eine Arbeitsschule für Knaben eröffnet. Ich möchte von Deinem Kursus etwas hören: Findest Du nicht die Schmidtsche Pädagogik äußerst unpraktisch? Ich meine, jungen Mädchen ist mit diesem Ideenfutter gar nicht gedient; sie brauchen die guten Werke der Pädagogen in Auswahl zu lesen, z.B. von Luther: Seine Rede an die Ratsherren und Bürger­ meister zur Errichtung von Schulen. Es ist ein Meisterwerk, daS nehme ich mit meinen Schülerinnen durch. Dann aus dem „Weckruf" von

Amos Comenius, aus Pestalozzis und Fröbels eigenen Werken; die Sache, die Sache selbst, nicht Ideen über die Sache! Mein Kursus macht mir viel Arbeit, da ich fast alle Stunden selbst gebe; aber auch viele Freude. Das stille Arbeiten und Studieren anderer Dinge außer 9*

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Kapitel 4:

direkt Fröbelscher führt mich zu immer klarerer Erkenntnis von Fröbels Pädagogik. Ich lese SchäffleS „Bau und Leben des sozialen Körper-", die Einleitung scheint mir etwas unklar, man muß sich an dasPraktische halten. Wieviel wert wäre es mir, könnte ich so manches mit Dir über Fröbel reden Tagebuch.

End« Januar 1878. Wenn der alte Kaiser nicht mehr ist, hören eine Menge Rücksichten auf, die ein anständiger Politiker dem ehrwür­ digen Alter schuldig ist. Die Kronprinzessin hatte die Begabung, die neue Zeit recht zu erfassen — sie müßte die Tochter ihres Vaters sein und dem Kronprinzen gegenüber gewissermaßen eine Stellung einnehmen, wie Prinz Albert bei der Königin Viktoria. Aber bei all' ihrer Bedeutung und liebenswürdigen Menschlichkeit fehlte ihr eins, was Prinz Albert im höchstenMaße besaß — die ernste Schulung des eigenen WesenS; sie hat es nicht der strengen Zucht unterworfen, wie ihr Vater, sie ist viel zu impulsiv gewesen und gestattete sich viel zu viele subjektiv« Antipathien und Sympathien, zu viel Anstürme gegen Widerstände, die sie doch nicht besiegen konnte. DaS bereitete ihrNiederlagen, welche eine künftige Kaiserin nicht erfahren sollte. So ging ein großer Teil ihres Einflusses, den sie ausüben konnte, wieder verloren, und es ist abzu­ warten, wie ihre neue Würde und Macht als Kaiserin auf sie wirken wird. Ihr Vater starb ihr zu ftüh, sie kam zu früh hier an den preußischen Äof, wo sie für ihre großangelegte aber noch ganz unentwickelte Natur keinen Boden fand und ihre Umgebung weit überragte, aber vielleicht um so unreifer war, als sie groß angelegt war. So hatte sie recht und unrecht ihrer Umgebung gegenüber in einem Atemzuge Lenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 27.März 1878.

Die Damengesellschaft war sehr liebenswürdig und * * und * *'* rühmten sich, daß sie tüchtiger seien als Männer, ich kam mir ganz altmodisch vor unter diesen Amazonen mit meiner Anerken­ nung der männlichen Kraft 28. März. Fräulein von Perpigna war eben hier und so reizend liebenswürdig wie noch nie. Sie brachte Fragen von dem Prinzen Kermann von Lohenlohe an Dich, der ein so lebhaftes Interesse an der

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Sache*) hat und großartige Pläne ausspricht. Er wünscht Dich sobald als möglich morgens um 11 Ahr zu sprechen. Die Frau Kronprinzessin ist sehr gegen den Namen Frauen­ verein*) und Liebreich hat sich auch gegen Fräulein v.P. dagegen aus­ gesprochen Die Vofsische Zeitung bedauert, daß unser Verein nicht „Frauenverein"*) heißen soll

Ich bin so müde, ich muß schließen, diese Kindergartenwanderungen nehmen vielKrast, weil ich mich meist ärgere; aber heute war eS reizend in AnnetteSMusikstunde.NächsteWoche will Fräulein v.P. in den Kindergarten kommen. Ich vergaß zu sagen, daß die Kronprinzessin unS wieder sprechen will

Frau Stadtsyndikus Eberty sagte mir, daß zum Lerbste ein päda­ gogischer Lehrstuhl errichtet werden solle und derLerr, welcher denselben übernehmen würde, sei ein strebsamer, talentvoller Mann. Sie sagte mir später, der Lerr bäte um Erlaubnis durch sie, mich besuchen zu dürfen. Leider kamen andere dazwischen, so daß ich nicht weiter darüber hören konnte

Später. Ein Lerr Dr.Paulsen, Sohn einesLolsteinerBauern, verheiratet mit der Tochter des Staatssekretärs Grunert — einer fast gelehrten Frau — soll im Lerbste den pädagogischen Lehrstuhl besteigen. Der Mann soll sich nie mit Pädagogik beschäftigt, nicht einmal große Vorliebe dafür haben, aber seine Frau soll die Wichtigkeit begreifen. Frau Eberty ist wohl jetzt meine wärmste Anhängerin; sie sagt, diese Stunden Dienstags geben ihr erst einen Einblick in die große Bedeutung der Fröbelschen Ideen, die Konsequenzen seien so überaus wichtig, und sie habe davon keine Ahnung gehabt; der Kindergarten hätte sie nie so ganz packen und erwärmen können. Sie hält mich hier für die einzige Person, die auf dem rechten Wege ist. DaS sind meine Erlebnisse mit noch etwas Kleinigkeiten, so Krümel­ zucker

Ich muß noch Zeitungen lesen und auf heute nachmittag lernen; von 4—6 Ahr habe ich Stunde ...... Lebe wohl.

*) ES handelte sich um den Aufruf zur Gründung deS Vereins für häusliche Gesundheitspflege in Berlin, welche auch im April 1878 erfolgte.

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Kapitel 4:

Lenriette Schrader an Frau Stadtdirektor Baumgarten.

Berlin IV. 23. Juni 1878. Wie lieb und gut von Ihnen, mir wieder Ihr treues Lerz zu öffnen, es ist doch etwas Köstliches um wahre Freundschaft. And was hat Ihr treues Äerz gelitten in der letzten Zeit; ich verstehe es, ich fühle es. Wenn wir uns doch einmal Wiedersehen könnten, wenn, ach wenn ich mich doch mit Ihnen, dem Direktor Matthias und Marie Kellner über die ernste, heilige Sache der Erziehung aussprechen könnte. Ich glaube, ich bin so viel weiter gekommen, so viel weiter einge­ drungen und habe alles auch vereinfacht. Ich habe einige, aber auch nur wenige Persönlichkeiten, welche mein Innerstes auf dem Gebiete der Erziehung erfassen und verstehen. Im ganzen ist man zu „praktisch", um den Dingen, die ich betone, Ge­ wicht beizulegen, denn es handelt sich bei den Dingen, die ich vertrete, nicht nur um Sachen, die man lernen kann, man muß etwas in sich werden lassen. Ich nehme die moralischen Fähigkeiten fast mehr in Anspruch als die intellektuellen bei mir selbst und bei andern. Ich schicke Ihnen unsern Bericht; auf dem Papiere steht es kurz und einfach, was so viel Mühe, Kampf, Entbehrung in sich schließt. Denken Sie, es war alles aufs schönste mit der Kronprinzessin und Frau Falk eingeleitet, die hier war und sich sehr interessiert zeigte; aber bald nachher verhielt sich die letztere still, und derMinister hat zu meinem Manne auf einer Abendgesellschaft bei Kronprinzen- lachend gesagt: „Meine Frau kann nicht über einige Vorurteile hinwegkommen." Diese sind ihr von den Pastoren eingeimpft. Einer von ihnen hat öffentlich gegen die Kindergärten gepredigt und gesagt: „Wir wollen im Oberlinverein für die kleinen Kinder besser sorgen, indem wir den Kleinen mehr bieten; wir wollen die Beschäftigungen der Kindergärten, die anPrinziplosigkeit und Irreligiösität leiden, auf die rechte pädagogische und

religiöse Grundlage in unsern Anstalten bringen." Ich weiß nicht, ob die Kronprinzessin der Sache treu bleibt, da Mächte auf sie einstürmen, die augenblicklich vielleicht das Ansehen haben, als stützten sie das Königshaus; indes glaube ich es. Ich suche mich auf dasVolk selbst zu stützen, der Gesundheitsverein hat hier ein Lokalkomitee gebildet und tritt mit unserm Verein in Verbindung, insofern wir die kranken Kinder unseres Kindergartens be­ suchen, und so mit den Eltern näher bekannt werden und dem Gesund-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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heitsverein empfehlen; die Sache hat eben begonnen. Sie können denken, welche Zeit mich das alles kostet, und ich komme immer und immer nicht zum Schreiben. Die Notizen und Stoffverteilung meiner Stunden, die ich jetzt ganz systematisch und schön in Ordnung habe, würden sie vielleicht nicht gebrauchen können, da sie nur mir verständlich sind. Vom 29. Juni bis zum 29. Juli bin ich frei, ich dachte nicht zu verreisen, sondernMitte September mit meinem Manne nachParis zu gehen und vielleicht von dort in ein südliches Seebad. MeinMann muß zu der Zeit zu einem Kongreß nach Paris, und er wird vorher keine Zeit haben. Nun würde ich vielleicht Anfang Juli mit meinem Manne auf acht Tage nach dem Larze gehen, wo er verschiedene Konferenzen hat, wenn vielleicht eine oder mehrere Zusammenkünfte mit Ihnen und dem Seminardirektor Matthias möglich wären, von denen ich mir «ine tatsäch­ liche Frucht versprechen könnte. Ich sehne mich sonst nach Ruhe, meine Kräfte sind erschöpft. Die Fröbelschen Ideen sind in ihrer richtigen Ausführung — und ich glaube, ich habe sie gefunden — in unserer Zeit rettend. Es wird anerkannt, daß die intellektuelle Bildung zu einseitig war; daß wir Gemüts- und Charakterbildung brauchen; aber wie dies beim kleinen Kinde zu tun ist, das verstehen die Menschen nicht, weil sie den Gedanken derMetamorphose auf die Erziehung angewandt, nicht fassen; nicht die kindliche Form verstehen, unter welcher die sittliche Tat, d. h. den Anfang zu ihr bildet. Eltern und Volksschullehrer müssen in diese Richtung geführt werden, damit die Verbindung zwischen Schule und Laus keine Phrase bleibt. Die Seminardirektoren haben einen großen Teil der Wiedergeburt unseres sozialen Lebens in der Land, Gott, es ist mir so sonnenklar, wo der Punkt liegt. Annette und eine tiefdenkende junge Mutter, Schülerin von mir, behaupten immer, ich lege Fröbel vieles unter, was meine Schöpfung sei; sie könnten es nicht aus Fröbel herauslesen; aber sie irren, doch will ich eins offen bekennen: Ich glaube, ich habe seinen Ideen entsprechen­ dere Formen der Anwendung gefunden und bin imstande, einfacher und klarer auszusprechen, was er meinte; aber ich leiste nur eine Art Ge­ burtshilfe, ich bin eine Pflegerin seiner Ideen; aber er hat sie gezeugt und gebildet. Ich könnte Männer wie DirektorMatthias bitten und flehen, ihren Seminaristen die Tiefe der Fröbelschen Anschauungen zu eröffnen, und

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Kapitel 4:

sie auf denWeg seiner Erziehung zu leiten. Auch das Kind ist bei seinem Eintritt in die Schule noch so der Mütterlichkeit bedürftig, und die Lehrer müssen das wenigstens wissen, was das bedeutet. Es wäre ja viel besser, die Elementarstufen würden von Frauen geleitet — da ist unsereWissenschast, da ist unsere Kunst. Aber Lehrer und Mütter müssen einander verstehen. Sehen Sie, es tut weh, so das Gefühl zu haben, man hätte für eine Seite des Lebens ein Heilmittel für Krankheit, und doch so wenig Gelegenheit zu haben, es anzuwenden. Liebe Minna, ich schließe vor­ erst

Henriette Schrader an Frau Stadtdirektor Baumgarten.

Berlin, Anfang Juli 1878. Ich war im Begriff eine kleine Arbeit zu machen, komme aber in den nächsten Tagen nicht dazu, schicke Ihnen die Blätter, bitte ziehen Sie sich die Ihnen brauchbaren Gedanken heraus, und schicken Sie sie zurück. Ich bin in derPraxis des Lebens; wie soll ich Kraft und Zeit finden zu schreiben? Aber ich werde alles tun, was nur möglich ist. Sie in Ihren Plänen zu fördern; ich kann viel leichter reden als schreiben. Kurz nach Absendung meines Briefes an Sie kam eine Einladung von der Kronprinzessin nach dem „Neuen Palais" zu Potsdam. Sie fuhr mit uns (meinem Manne und mir) nach ihrem Gute, zeigte uyS alle ihre Einrichtungen und sprach von ihren Plänen. Wir gingen mehrere Stunden zusammen spazieren, und heute schickte sie ihren Prediger aus dem Dorfe des GutesBornstedt. Ich war mit ihm in unserm Kinder­ garten; er war früher ein Gegner der Kindergärten, ich glaube er ist ganz bekehrt. Mit dem Mann« scheint etwas zu machen zu sein; aber ich habe wieder fiir ihn zu arbeiten. Ich habe mich sehr in unserm Kindergatten gefreut, und wir fassen immer mehrBoden imVolke. Ach Minna, es ist wunderbar, wie das Leben zusammengesetzt ist, wie jetzt am Lose Menschen und Einflüsse mitMenschen um die heiligsten Dinge spielen. Die Kronprinzessin hat einen durchaus sittlichen Kern, vom Predi­ ger habe ich viel von ihr gehört. Morgen gehen meine Fetten an, wahrscheinlich habe ich zwei Mo­ nate, in dieser Zeit wird hoffentlich für Sie etwas zustande kommen. In treuer Liebe L. Schrader.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Kenriette Schrader an Frau Stadldirektor Baumgarten. Berlin W. 11. Juli 1878.

Wir sind jetzt in einer eigenen Position. Mein Mann*) wurde auf­ gefordert, fiirFalksWahl zu agitieren, er hat es abgeschlagen und offen seine Gründe bargelegt; er wählt den gemäßigten Fortschrittsmann Klotz. Mein Mann ist sich klar, daß die Fortschrittspartei sich viele Ein­ seitigkeiten zuschulden kommen ließ; aber sie ist nach seinerMeinung die einzige Partei, aus der etwas Vernünftiges zu machen ist. Mögen G ewerbefreiheit usw. großeNachteile haben, sie sind zu beseitigen, wenn die Gesellschaft auf die Abhilfe dringt und selbst dafür arbeitet. Mein Mann will möglichst viel Selbstverwaltung; natürlich ist dies die un­ bequemste Form, aber sie entwickelt die Menschen. Ohne Schattenseiten undMängel entwickelt sich nichts, man muß sich nur fragen, welche Äbel die geringsten sind, und welche Einrichtungen die Möglichkeit geben, daß der einzelne möglichst tüchtig im Zusammenhänge mit dem Ganzen sich entwickelt, die Menschen müssen sich selbst verantwortlich fühlen, wenn sie Charaktere werden sollen. Nun finde ich, liebe Minna, daß die äußersten Spitzen der rechten und linken Seite mit ihren Bekenntnissen frei herausgehen müssen, wenigstens die rechte Seite auch dann, wenn sie Oberwasser zu haben glauben, eine gewisse Mittelpartei sucht vieles zu umgehen, die religiöse Frage z.B. Ich meine, es kommt jetzt alles darauf an, frei und offen zu bekennen, was man denkt. Ich habe nach reli­ giöser Seite, wie mein Mann nach der politischen, rücksichtslos offen gehandelt. Ich stehe dem Prediger in Bornstedt, dem Gute der KronPrinzessin, der ziemlich rechts steht, nun ganz offen gegenüber; ich habe ihm gesagt und geschrieben, daß wir die Erziehung zur Einheit nur be­ ginnen können, wenn wir eine religiöse Anschauung haben, die eine ein­ heitliche Weltauffassung zuläßt. Das Lutherische Glaubensbekenntnis aufdieAugustinischePsychologie gebaut, ist für uns eine Anmöglich­ keit geworden, die Psychologie von Jesus, wie sie der kritisch-historische Standpunkt bietet, ist ein ganz anderer. Da streitet man sich um die Natur Jesu — sähe man erst genau zu, was er über die Natur des Menschen gesagt, und wie er demgemäß gehandelt. Wie gern möchte ich Ihrer Aufforderung entgegenkommen und schreiben; aber wie soll ich eS machen? Ich habe keine direkte Lilfe, und

*) Karl Schrader trat erst im Jahre 1881 in den Reichstag.

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Kapitel 4:

eS gehören so viele Vorarbeiten dazu; es handelt sich um so viel Um­ gestaltung, und ich kann die religiöse, die soziale Frage nicht umgehen. Direktor Matthias kann aber kein Lutheraner sein, wenn er Lotze liebt. Ich habe Lotzes „Mikrokosmos" und lese oft darin; aber ich kann nicht viel auf einmal vertragen; er ist mir einesteils zu abstrakt, andernteils zu reich. Ich bin durch Auszüge von Lotze über das Gemüt auf ihn auf­ merksam gemacht; ja, er stellt daS Gemüt so hoch, er versteht so tief, was eS wirkt, und warum gehen denn die Lerren nicht zu Fröbels „Mutterund Koselieder"-Buch und sehen, wie die Gemütsbildung praktisch zu bewerkstelligen ist?

Ach, sie verstehen alle nicht den Gedanken der Metamorphose an­ gewandt auf das Gebiet der Erziehung; sie sind alle zu sehr im Fluge über der täglichen Wirklichkeit. Sie spekulieren zu viel, sie haben nicht die stille, schaffende Geduld, welche auch die notwendigen Anvollkommen­ heiten und Mängel der Wandlungen ertragen kann, welche die Ent­ wicklung der Idee durchmachen soll.

Wie das Weib still den Menschenkeim zu Fleisch und Blut werden läßt, diesen Keim, dem doch in der wahren Ehe die höchste seelische Übereinstimmung zugrunde liegt, so kann sich auch nur die Theorie, der wahre Gedanke nach und nach zu Fleisch undBlut verwirklichen, und ich glaube, auch hier hat dasWeib seine Arbeit im sozialen Leben, es muß in geistigerMütterlichkeit noch einmal geistig denMenschen gebären. Aber sagen Sie mir einmal, beste Minna, wo soll ich anfangen zu schreiben für das „Ganze" ?

Erziehung ist Lilfe zum echten Leben, und schreibe ich, wie ich innerlich schaue, dann finden es die Menschen unanständig — und doch muß man in dieNatur hinabsteigen, und sehen Sie, wenn ich schreibe und denke an das Publikum mit seinen schmutzigen Länden, da vergeht mir alle Begeisterung. Ich war so naiv, aber die Schloßgeschichte, dann meine Verlobung und meine Leirat und wie die Menschen sich dabei gezeigt, haben meineNaivität zerstört.

Geben Sie mir einen Rat, sollen wir einen Briefwechsel über Er­ ziehung beginnen, wollen Sie mir ganz bestimmte Fragen stellen? Wollen Sie mir helfen, daß durch das, was Sie fordern, nach und nach ein Ganzes entsteht?Man muß mich zwingen, man muß fordern, und ich muß an eine liebe Persönlichkeit denken, nicht an die Menschen im all­ gemeinen.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Wenn ich Ihnen schreibe, kann ich alles sagen, Ihre sittliche Natur, Ihre Bestrebungen sind für mich etwas so Köstliches, meine Seele ist in Ihrer Sphäre, kein Staub berührt sie, keine Disharmonie zerreißt sie. LiebeMinna, was ich weiß und sagen kann, ist ein Stück Leben, aber wenn ich es sagen soll, muß ich gewissermaßen dichten, d. h. muß im

Augenblicke nicht wissen, was ich tue. Blind muß ich es vollbringen. Sobald ich sehe — fassen mich zwar nicht der Lölle Schlingen — aber die der Kritik. Überlegen Sie sich die Sache einmal. Sehen Sie, warum kann ich sprechen? Weil es der Moment fordert. Fordern Sie etwas ganz Bestimmtes.

Leben Sie wohl.

Ihre treue

55. Schrader.

Lenriette Schrader an Frau Stadtdirektor Baumgarten.

Berlin W. 13. Juli 1878. Unsere Korrespondenz ist jetzt sehr lebhaft. Sie sind außer Annette die einzige Vertraute meiner Pläne. Lesen Sie Einliegendes; natürlich für Ihren Lerrn Gemahl und auch für Ihren Schwager, wenn Sie wollen, ist alles mitgeschrieben. Wir kennen Ihrer aller Diskretion und Treue. Ich fing gestern an, an Lerrn von Normann, Kammerherrn der kronprinzlichen Familie, zu schreiben, aber der Brief wurde ganz un­ brauchbar, doch können Sie aus demselben sehen, wie ich von der Sache denke. Man kann die Anstalt einfach beginnen oder auch großartig; ich bin für ersteres. Nun würde ich aber auch sehr viel fordern wie geben. Ich würde Annette geben als eine Lausmutter, und fie würde gehen. Dann dachte ich an Marie Kellner und Marie Schaper, wenn wir mit drei Läufern anfingen. Sollte aus der Sache etwas werden, sollte ich dauernd meine Land darin haben, so fange ich nur mit Menschen an, die ich kenne, deren Charakter mir eine Bürgschaft ist. Ich bin zu ungeschickt unter unlauter» Elementen, und diese Weiber, die da Parade mit ihren Taten machen, ich habe fie gründlich kennengelernt; sie sind angefressene Existenzen, angefressen von Ehrgeiz, der bei den Männern sich verträgt mit ihrer kernigen Natur, bei Frauen mir ein Ekel ist. Wenn etwas aus der Sache

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Kapitel 4:

wird, dann darf sie nicht allein in Lände von Berlinern ruhen. ES muß ein Kuratorium aus der deutschenNation ernannt werden. Sie und die Ihren und Direktor Matthias müssen helfen. Glauben Sie mir, wenn wir die Kronprinzessin für Erziehung interessieren können, so tun wir damit ein Großes, sie ist aber ehrgeizig, sie ist gescheit, tatkräftig, eigenwillig; aber sie hat einen gesunden Kern. Denken Sie, ich habe ihr offen gesagt, daß man ihr vorwirft, sie kaufe alles in England; ich habe ihr gesagt, daß sie viele Feinde hat. Sie bleibt mir doch tteu, wie Sie sehen, sie kann eine unangenehme Wahrheit hören, und das zeigt Gesundheit. And, liebe Minna, soll unser Verhält­ nis von Dauer sein, so muß ich von vornherein mich ganz geben, wie ich bin, ohne alle Diplomatie, ohne alle diese höfische Glätte. Mein Mann ist ganz mit mir einverstanden, er handelt wie ich, wenn seine Form auch anderer Art ist. Er sagt mir: „Gehe ruhig Deinen Weg, will die Kronprinzessin Wittlich etwas Gutes für die Erziehung tun, so gebraucht sie Dich, will sie es nicht, so kannst Du Deine Zeit besser anwenden." Sollte die angebahnte Sache ihrer Erfirllung näher treten, dann müssen wir uns einmal sprechen. Ach, die treuen, wirklich treuen Freunde müssen helfen. Sollte die Sache auch klein anfangen, sie bleibt nicht klein, die Kronprinzessin könnte das schon gar nicht verttagen. Sehen Sie, da müssen wir an treue Menschen denken. Ich denke auch an ein Lehrettnnenseminar und auch an eine Knabenanstalt in einem andern Orte und an ein Lehrerseminar. Die Mütter, Frauen, Lehrer, Prediger müssen vereint wirken.Nicht wahr,Direktor Matthias ist durch und durch ein ehrenhafter Charakter? Ich habe schon einmal von ihm mit derKronprinzessin gesprochen. Bleibt unser Verhältnis zwischen der Kronprin» zessin und mir gut, wird sie Kaisenn, bekommt sie vielen Einfluß, dann werde ich ihr Menschen empfehlen, so z.B. würde sie dann sicher wün­ schen, Matthias käme einmal zu ihr, um ihr die Bedürfnisse desVolkes auSeinanderzusetzen. Sie sagte mir beim letzten Fortgehen: „Ich bin sehr gern bereit,Menschen zu sehen, die Sie mir bezeichnen". Jetzt ist die Sache noch nicht reif. Die zu gründende Anstalt allein ist es nicht, was mich beschäftigt, sondern daß die Kronprinzessin von tüchtigenMännern und Frauen stets die Wahrheit erfähtt, daß vor allem ehrliche Charaktere ihr nahe kommen, wenn sie etwas unternimmt. Was Normann als seine persön-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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liche Ansicht gibt, ist natürlich die der Kronprinzessin und deS Kron­ prinzen, aber sie mußte diese Form wählen, sie auszusprechen. Ich möchte doch so gerne ein Zeugnis von Ihrem Manne haben, wenn nur endlich mein Mann dazu käme, Ihren lieben Brief in bezug darauf zu beantworten, er sagte: „Ich will Baumgarten auf die im Zeugnisse erwähntenPunkte schreiben. Jetzt muß ich eine Druckschrift für die Anstalt ausarbeiten; ach, es wird mir so schwer; ich kann systematisch unterrichten, meine Kurse sind schon ein verzweigtes System; aber so systematisch schreiben — ich kann es nicht, mein Inneres ist zu beweglich, ich bin innerlich zu jung. Leben Sie wohl, meine teure, treue Freundin, gebe Gott, daß wir der Frau im Lande, die am höchsten stehen wird, die deutsche Treue wieder zu Ehren bringen. Bismarck hat uns äußerlich hochgehoben, innerlich dem Antergange nahe gebracht. Arbeiten wir, daß die bösen Elemente, die er mit dem Guten gab, vernichtet werden, und daß wir so von dem Guten profitieren können. In treuer Liebe Ihre S>. Schrader. P. 8. Ich lege den Brief vom Prediger ein, die Pläne beziehen sich darauf, daß die Kronprinzessin einen Volkskindergarten und eine Arbeitsschule in Bornstedt anlegen will; sie hat schon ein neues Schulhaus und Arbeiterwohnungen bauen lassen.

Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 25. Juli 1878.

Der Brief, den ich heute erhalten habe, ist besser als der, welcher gestern ankam. Du tust gewiß am besten, wenn Du das genießt, was Du Schönes inRudolstadt findest und Deiner Gesundheit lebst. Ich glaube. Du idealisierst viel zu sehr, wenn Du meinst, ich wolle nur meine Pflicht tun und wollte nichts von Dir für mich selbst. Gewiß will ich das ebensosehr, wie Du es von mir willst, nur in etwas anderer Weise.Nicht nur das möglichst großeMaß augenblicklicherBefriedigung, sondern um dauernde Befriedigung ist es mir zu tun. Darum kann ich mich, wenn es mir auch schwer wird, etwas zu entbehren, doch im ganzen nur freuen und Dir helfen, wenn Du etwas möchtest, was für Deine Gesundheit oder Deine geistige Entwicklung von Wert ist, und darum

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Kapitel 4:

mag ich nicht, daß Du mir gegenüber solche Opfer ohne Not bringst, die Dich inVereinen oder andererRichtung schädigen würden. Darum habe ich nie Dienste untergeordneter Natur von Dir an­ nehmen wollen, und welche ich mir anderweit verschaffen konnte; denn der wahre Dienst, den Du mir — und rein vom Standpunkte des Egois­ mus aus — leistest, ist die reichere und reinere Entwicklung Deiner selbst, damit wir zu immer einträchtigerem Wirken befähigt werden. Dann können wir denVorteil wirklich voll genießen, den wir fast vor der ganzen Welt voraus haben: daß wir als Mann und Frau zu gleichartigem Wirken für die Menschheit befähigt, uns gegenseitig ergänzend und eng verbunden sind. Dabei sind wir äußerlich so gestellt, daß wir an hervorragender Stelle auch wirklich wirken können. Dazu uns stets mehr zu befähigen, die äußerlich getrennten Wir­ kungssphären mehr zu verbinden, das nmß unser Streben sein, und das wird uns auf die Dauer die höchste Befriedigung und der persönlichen Liebe die höchste Verklärung und Dauer, von allen äußeren Dingen ab­ gesehen, geben

Henriette Schrader an Frau Stadtdirektor Baumgarten. Rudolstadt i. Th., 31. Juli und 2. August 1878.

Leute erhielt ich Ihren lieben Brief hier, wo ich seit Montag vor acht Tagen bin und bis übermorgen bleiben werde; dann nach Eisenach gehe, um mitPastor Herman Becker und einem andern Theologen einige Tage zusammen sein werde, um die religiöse Frage zu besprechen; sie brennt mir auf dem Herzen. Ach, liebe Minna, es gelüstet mich nicht nach Kampf auf diesem Gebiet; aber ich finde, derMangel an Offenheit, die offenbare Lüge in dieser Beziehung hemmt die klare Geistesentwicklung. Sagen Sie, wie sollen wir den Religionsunterricht geben? Wie uns verhalten, wenn Kinder uns fragen, ob es wahr ist? In Berlin fühlt man alles Anbehag­ liche der Zeit doppelt, der Zwiespalt zwischenReligionsunterricht in der Schule und den Ansichten der Eltern wirken so zersetzend auf das Kinder­ gemüt; die Lehrer, welche Religionsunterricht geben und selbst nicht glauben, was sie lehren, nähren keine Idealität im Kinde; die Anbehaglichkeit desRedlichen, die Flachheit des Indifferenten, die Kälte des An­ gläubigen— Sie glauben nicht, wie das alles die Gemüter in den Bann tut — und ich ersehne deren Erlösung.

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And wir Frauen? Wie steht es mit uns und der religiösen Atm», sphäre, die wir der Kindheit und der Jugend schaffen sollen? Die Kritik dringt so in all« Schichten, so daß der naiv« Standpunkt nicht festgehal­ ten werden kann, und so erscheint mir, wie ich die Sache betrachte, volle, ganze Klarheit in unserer Stellung zur Kirche «ine Notwendig, leit

Karl Schrader an seine Frau (welche am Sterbebett« ihres Bruders Adolf Breymann wachte).

Berlin W. 25. August 1878.

Das Leben geht seinen ereignislosen Gang weiter; das einzige Bemerkenswerte sind Deine Briefe mitNachrichten von Adolf, welche wir jeden Morgen gespannt erwarten. Leute ist nur ein Brief gekommen, der, welcher an Albertine gesandt werden sollte und auch sogleich gesandt ist — mit ganz gutenNachrichten.Wenn ich den Brief richtig verstanden habe, so hat sich jetzt auch schon ein natürliches Bedürfnis nach Schlaf gefunden, und Adolf hätte auch ohne Chloral geschlafen; wenn man nur noch acht Tage weiter wäre 1

Dich muß ich ja wohl noch längere Zeit da lassen, und ich will es ganz gerne, so lange es Adolfs wegen nötig ist; ich möchte aber gar nicht, daß Du sogleich aus der Krankenpflege und aller Aufregung, die Du gehabt hast, in eine angestrengte Tätigkeit hier kämest, und möchte, daß Du, wenn irgend möglich. Dich vorher noch irgendwo erholtest. Ich werde vor Ende derWoche schwerlich auf einige Tage von hier fortgehen können, es ist zuviel hier liegen geblieben, und ich muß auch die Arbeitsschule in Ordnung bringen. Der Kultusminister hat uns eine Beihilfe von Mk. 400 zugesagt, und wir müssen vorwärts. Pflege mir nur den Adolf gut, daß ich mich freuen kann, wenn ich ihn wiedersehe .... Freuen wir uns, daß wir ihn transportiert und in Verhältnisse gebracht haben, in welchen er die Leilung ruhig erwarten kann, und in welchen Ihr ihn pflegen und behüten könnt. Das Leben hier ist ohne Dich und mit der steten Sorge um Adolf wenig erfreulich, indessen ist nichts daran zu ändern .... Die Nach­ richten lauten im Grunde nicht ungünstiger, als ich sie erwartet habe; dieRekonvaleszenz, wenn wir überhaupt von einer solchen schon sprechen dürfen, wird eine recht langsame sein. Ich fürchte sehr, daß er sich jetzt

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Kapitel 4:

viele, traurige Gedanken macht*) über die Versäumnis seiner Arbeit, über die Frage, ob er je seine vollen Kräfte wieder erlangen wird. Ich

glaube, sobald und so mild« als möglich müßte ihm der Gedanke nahe­ gelegt werden, daß dieserWinter für seine aktive künstlerische Arbeit verloten sei, und daß er daran denken müsse, die Seit seiner intellektuellen

Ausbildung, dem Studium der Kunstgeschichte und Philosophie dienstbar zu machen. Du wirst dazu imstande sein.

Ja, meine liebe Frau, Du kannst, mußt und sollst alles und läßt mich hier allein sitzen I Aber das will ich einige Zeit noch geduldig er­ tragen zu Deiner Beruhigung und um Adolfs willen, solang« es Dein«

eigene Gesundheit gestattet. Sobald aber die Zustände sich ändern, daß

Deine Eigenart dort nicht gerade nötig ist, oder sobald Adolf für sich selbst mehr sorgen kann, mußt Du fort, sonst gehst Du einem schlechten Winter und vielleicht einer ernsten Krankheit entgegen. Schone Dich soviel es irgend gehen will; ich bin Anna und Adolf sehr dankbar, wenn sie darauf etwas halten, denn Du vergißt Dich nur zu leicht; namentlich

sieh zu, daß Du täglich zum Spazierengehen kommst. Kann ich von hier aus gar nichts für Adolf tun? Soll ich vielleicht

außer Schlei auch Sardellen und Anchovis schicken? Ich schicke alles, was Du willst.

Unb weißt Du wohl, daß ich aus Deinem Betragen in den jetzigen Ereignissen gesehen habe, wieviel mehr Verstand und Einsicht auch für

das Hauswesen wert sind, als bloße Hausstauenroutine? Henriette Schrader an ihrenBruderOr. meck. ErichBreymann Berlin W. 10. Dezember 1878.

Mein lieber Erich I Du sprachest neulich den Wunsch aus, daS Buch von Fröb«l„Die

Menschenerziehung" zu haben, wenn ich nicht irre, ist sie bei Bruder Karl, oder Albertine besitzt dasselbe, die sie Euch gewiß gerne leiht. Aber ich sage vorher, ich glaube kaum, daß sie Euch nützt. Es sind großartige

und dabei so einfach natürliche Grundgedanken darin ausgesprochen, aber ost in schwulstiger, unklarer Form, so daß man schon tief in die Sach« eingedrungen sein muß, um die praktischen Konsequenzen daraus

zu ziehen. *) Lin halbfertiges Siegesdenkmal für die Stadt Braunschweig. Die Lattung der Lauptfigur wollte er ändern, und der Gedanke verfolgte ihn in seinen Phantasien.

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Weißt Du, die erste Erziehung ist so viel mehr indirekt als direkt. WaS wir selbst sind, wie wir an unS arbeiten, wie wir zusammen leben, die ganze Atmosphäre unseres Lebens ist das wichtigste für ein kleineKind. Die rechte Lauseinrichtung oder Lausordnung, der rechte Spiel­ raum, die rechte Spielzeit, die Spielmittel und Spielfteiheit, die Ein­ richtung der Kinderstube, die gute Gewöhnung der Gesundheit deGeistes und des Körpers angemessen, das richtige Ge- und Verbieten, di« strenge und doch liebevolle Konsequenz, so daß das Kind von vornherein sich fügen lernt unter der Autorität, die aber auch wirklich eine sittliche Autorität ist — das sind die wichtigsten Dinge für das kleine Kind; so einfach, so natürlich, wenn wir nicht egoistisch, launisch, bequem, leidenschaftlich wären — schwer, weil es sich darum handelt, uns vom Grunde aus zu veredeln. Lätte ich Kinder, so würden mein Mann und ich sicher öfter eine Morgenandacht halten, d. h. wir würden einander stärken, die Arbeit des Tages im rechten Sinne zu vollbringen, und das Kind, sobald es ein Weilchen (die Andacht muß nur kurz sein) still seine Ländchen falten kann, sollte dabei sein. Darüber, wie über Arbeit und Religion sind herrliche Stellen in der „Menschenerziehung". Das Beispiel ist die Lauptsache in der Erziehung, nicht die einzelne Landlung als solche, das Muster sein wollen; ich hasse Musteranstalten, Musterväter und -mütter usw. Nein, die- Beispiel im Ringen und Kämpfen gegen unsern größten Feind — die innere oder äußere Bequemlichkeit, den persönlichen oder Familienegoismus. Die Erziehung mit bestimmten Mitteln beginnt erst, wenn daKind arbeitsbedürftig wird, daß wir hie und da recht zu Lilfe kommen. Ein rechtes Übet für Kinder, vielleicht ein notwendiges, sind Kinder-

freuen und Kindermädchen überhaupt, und die besten sind noch die insoweit einfältigen, die das Kind vor äußeren Schaden bewahren. Schreibe mir doch bald einmal wieder, oder Du, liebes Lieschen, wie sich Gretchen entwickelt, und wenn Ihr „Die Menschenerziehung" lesen wollt, lest die herrlichen Stellen über Religion und Arbeit, Mit herzlichen Grüßen L. S. Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 17. und 19. Juli 1879. Ich erwarte von Dir bestimmte Nachricht, ob Du nach Salzburg mit zu gehen gedenkst; wenn Du gemütlich Dich nicht gar zu trostlos in Lhi chinIta, Henriette Schrader N.

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Kapitel 4r

Schlangenbad fühlst, so tust Du gewiß besser, dort zu bleiben . . . . Wunderlich genug ist die Politik jetzt; alle nicht gerade interessierten Menschen sind unzufrieden, und die interessierten, d. h. die Leute, welche Schutzzölle erhalten haben, merken schon, daß sie nichts davon haben; aber die braven Nationalliberalen werden doch Bismarck helfen,' die Privatbahnen zu kaufen. Lat er die noch, so hat er alles, was er will, und dann werden sie ihm schwer die Macht wieder aus den Länden winden können.Nun meinetwegen! Ich werde wohl Fräulein von Perpigna noch einen langen Brief über das monarchische Prinzip schreiben; ich sagte ihr, ich sei in dieser Zeit monarchischer geworden, sie erwiderte, sie sei republikanischer geworden. Am 19. Juli. Leute nachmittag bin ich in Potsdam bei der Kron­ prinzessin gewesen, eingeladen von Fräulein von P. zu einer Bespre­ chung über verschiedene Wohltätigkeitspläne. Da ich annahm, daß auch von dem Vorsitze in unserm Vereine für häusliche Gesundheitspflege wieder di« Rede sein würde, ging ich heute morgen zu Lerzog, zugleich um mich von ihm zu verabschieden. Alle bisher vorgeschlagenen Perfönen sind nicht geeignet, aber es waren neue Personen vorgeschlagen: Falk, Friedenthal, Sydow. Da alle diese Lerren nicht augenblicklich hier sind, oder noch nicht mit ihnen gesprochen werden kann, so kamen wir dahin zunächst, bis ein Präsident geschaffen ist, einen Vizepräsiden­ ten zu schaffen, welcher bis dahin die Geschäfte führt. Dieser muß ich sein, weil in der Tat niemand weiter da ist, ich habe mich aber entschieden dagegen gewehrt, etwas anderes zu sein, als ein reiner Stellvertreter. Mit diesen Ideen hat sich die Kronprinzessin befreundet; alle drei genannten Lerren sind ihr recht,Virchow hat sie aufgegeben. Nun von meinem Besuche inPotsdam. Als ich vorfuhr —Wagen und Bedienter waren am Bahnhöfe — wurde ich von einem mir bisher noch unbekannten Adjutanten, Kammerherrn oder dergl. in LuserenUniform vor dem Schlosse empfangen, der mir sagte, die Frau Kron­ prinzessin wünsche mich im Garten zu empfangen. Ich mußte draußen — unterhalten von dem Lerrn, einige Zeit warten, dann trat die KronPrinzessin heraus mit Frl. v. P. und den Kindern. Sie ging sofort in den Garten, und auf meine erste Begrüßung erkundigte sie sich sogleich nach Deinem Befinden, worüber ich ihr Auskunft gab. Dann aber ging sie gleich auf ein politisches Gespräch — Freihandel — über, welches uns fast eine Stunde in Anspruch nahm. Sie hatte

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wieder Bücher für mich bereit, die sie in den Garten holen ließ, sie hatte

sie auf ihren Tisch gelegt, dabei auch gleich Packpapier und Bindfaden, damit ich die Bücher nicht unverpackt im Eisenbahnwagen haben, und dieBücher auffallen möchten. Alles wurde zusammen herunter gebracht;

eS waren Bücher über Freihandel vom Kobden-Klub usw., sie las mir

daraus vor, und dann wurden sie eingepackt. Die Kronprinzessin sagte mir einiges, was darauf schließen ließ, daß sie sich etwas in acht nehmen

zu müssen glaubt. Sie ist über die politischen Verhältnisse sehr betrübt und schien namentlich davon frappiert, daß ich ihr sagte, man werde jetzt den zum Schutzzoll getanen Schritt nicht mit einemMale, sondern nur allmählich wieder zurücktun können, weil man sonst wieder gewaltsam

in die Entwicklung eingreifen werde. Am Schlüsse kamen wir auch auf

unsern Gesundheitsverein. Sie war sehr erfreut über den guten Stand

der Dinge in der Ackerstraße und sehr betrübt über das viele Elend, das dort ist.

In aller Eile bekam ich dann eine Tasse Tee in einem Gartenhause, wo die Töchter dicke Milch usw. hatten, und wurde dann wieder weg­

gefahren. Ich mußte aber versprechen, sofort nachNückkunft davon An­ zeige zu machen, da die Kronprinzessin mich sprechen möchte. Ich fürchte, daß ich die einzige Person bin, mit welcher sie über gewisse Dinge reden kann. Mir geht es ja sonst ganz gut; es drängt sich aber so viele Arbeit

aller Art jetzt zusammen, daß ich gar nicht durchzukommen weiß

L. Schrader an eine junge Freundin (ungenannt).

Berlin W. Ende der 70er Jahre. Mein liebes Fräulein l

£lm beim Schlüsse Ihres lieben Briefes zu beginnen, so wüßte ich nicht, daß sie einen Formfehler mir gegenüber gemacht haben; ich bin auch nicht die Persönlichkeit, der eine reine Äußerlichkeit ins Auge fiele,

und die dafür ein Gedächtnis hätte. And nun wollten Sie wirklich Medizin studieren? Ihre ganze Persönlichkeit, soweit ich sie kenne, scheint mir dafiir zu bürgen, daß Sie, ttoh des noch eigentümlichen Weges, den Sie wandeln, nicht die weibliche Natur verleugnen; aber große Klippen

haben Sie gewiß zu umschiffen.

ES ist mir immer ein Zweifel gewesen, aber seit meinerVerheiratung ist es mir so sonnenklar geworden, daß dieNatur nicht umsonst die Ge-

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Kapitel 4:

schlechter verschieden schuf, und daß eine Verschiedenheit der Leiber auch

Symbol ist für die Verschiedenheit der Geister. Ich sage nicht, daß diese oder jene Wissenschaft oder Kunst der Frau verschlossen bleiben soll, nein, gewiß nicht; aber die Art und

Weise zu arbeiten, um sich Kenntnisse zu erwerben, und die Art und Weise, dieselben zu verwenden, wird immer eine andere sein müssen

bei der Frau, als bei dem Manne, wenn sie nicht in die Eigenart ihres Seins zerstörend eingreifen will. Täuschen wir uns nicht, die Gleich­

heit des Studiums und der Ausübung des Berufs von Frauen und

Männern führt nicht zu jener höheren Geistesgemeinschaft, in welcher der Verkehr der Geschlechter seine Verklärung finden soll; sondern sie

begründet eine Kameradschaft, welche nur die natürlichen Verschieden-

heiten bestehen läßt ohne ihr« Idealität. Wie z.B. der Geistesprozeß für Kunstschöpfungen ein ganz anderer ist als der, welcher zu wissenschaftlicher Forschung führt, und wie beide,

jede ganz an seine Art und Weise hingegeben, eine andere Seite der Welterkenntnis ins Geistesbewußtsein rufen, das dann beide zu harmonischer Weltanschauung verschmilzt — so haben Mann und Weib

verschiedene Aufgaben zu erfüllen in bezug auf die Welterfassung, und

jeder soll in seiner Weise das Tüchtigste leisten, nicht aber sich selber schwächend, ins Gebiet des andern übergreifen.

Der Mann ist bestimmt, die Wissenschaft um ihrer selbst willen zu

verfolgen, glaube ich, das Weib nicht, ihr muß sie immer Mittel zum Zweck bleiben, sie erzieherisch zu verwenden; sie kann und soll nie ein­ seitig ihre Kräfte zur Verfolgung einer Richtung konzentrieren, denn

ihre Bestimmung ist, den Menschen als solchen liebend zu erfassen mit all seinen Bedürfnissen, und um dafür «in Verständnis zu gewinnen und Fähigkeiten, sie zu befriedigen, muß sie so vielseitig sein, und gerade daß sie es sein soll, wird sie verhindern, in der Wissenschaft und Kunst

schöpferisch einzudringen. Daß sie schöpferisch sein kann, wird sie vor

Oberflächlichkeit behüten, wenn der Ernst der Liebe für daS Wohlsein anderer sie beseelt. Kein Mädchen, das nicht von vornherein erblich belastet ins Leben tritt, kann sagen, darf sagen: „Ich will nicht heiraten". Wenn die Seele des andern die unsere im tiefsten Innern berührt, und die Naturen

sympathisch zu einander stimmen, dann erfüllt sich ein Geschick, dem wir

nicht widerstehen dürfen, ohne uns zu versündigen; aber mit der stillen

Äingabe an dasselbe begeben wir uns unter ein Gesetz der Natur, und

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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ihm haben wir zu folgen als Gattin, LauSfrau und Mutter, als solche haben wir unsere Person und Gedanken an eine Vielseitigkeit von Pflichterfüllung hingegeben, die, wenn wir ihr vorher nie lebten, schwer­ lich in rechter Weise zu erfüllen ist, und deren hohe Bedeutung wir verstehen müssen, um sie mit der Anmut der Seele zu erfüllen, die dem ganzen Lause seinen Zauber verleiht. Nicht in der Kameradschaft zwischen Gatte und Gattin vollzieht sich die Verschmelzung der Geister, die jeder in voller Eigentümlichkeit bewahtt und doch gegenseitig sich so bereichert, und je tiefer man ein­ dringt in die Eigenartigkeit des männlichen Wesens, desto höher ent­ wickelt sich die Eigenartigkeit der eigenen Natur, und so vollzieht sich ein Zweifaches: Man nähert sich einander immer mehr und wird doch für einander immer reicher, immer neu. Wie nun die Ehe zweierMenschen diesen Prozeß vollzieht, so kann und soll die ganze Menschheit in bezug auf das Geistesleben den Zeu­ gungsprozeß vollziehen, indem männlicher und weiblicher Geist in der Arbeit fiir die Menschen sich gegenseitig unterstützen und verschmelzen.

An Mary Lyschinska. Berlin W. Oktober 1879. Es kommt nach und nach über mich wie ein Frieden. Ich glaube, ich habe endlich die rechte Lilfe gefunden im Lause. Ich kann kein un­ geordnetes Lauswesen ertragen, und kann keine Zeit erübrigen, es regelmäßig zu leiten, was unsere Dienstboten bedürfen, wenn sie ordentlich sein sollen. Ich bin so dankbar im Lerzen für die Ruhe, die mir wird, und eS ist meine ernsteste Sorge, sie auch dankbar zu benutzen. Ja, unser Unterricht ist zum Teil nichts besseres als Stallfütterung, um Ochsen fett zu machen — und sie ist nur schlechter, denn von dieser Geistesfütte­ rung werden die Geister mager. Aber wie schwer ist eS, daß Idee und Ausführung, Prinzip und Form sich decken, das wird mir immer klarer; man braucht nur einmal die Geschichte des Lesenlernens zu studieren, um zu sehen, welch' eine Arbeit es ist, dasNatürliche und Einfache, den KindernNaturgemäße zu finden. Wir sagen den Kindern, eineVeilchenknospe ist ein Blütenwickelkind — ja wir Menschen sind wie sie, wir sind in uns selbst eingewickelt und verstehen uns selbst nicht, und halten nicht einmal so himmlisch still wie die Blumen, die sich naturgemäß entfalten, sondern wir machen bei unserer Entwicklung Lärm und Verrenkungen

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Kapitel 4:

und haben Arbeit, uns wieder eiuzurenken. Nur, wem Gott ein fried­

liches Alter bescheert, der wird still wie Blumen und entwickelt sich still und schaut durch diese Hüllen und Verrenkungen immer mehr das Naturgemäße in der menschlichen Entwicklung. Ja, Mary, Du hast so

recht, wir sollen nicht nur belehren in dem Erzieherinnenkursus, wir

sollen erheben und erbauen. Wir Frauen sollen gewiß auch denken lernen, aber die Verbindung unserer Verstandeskräfte mit anderen

Geisteskräften wiePhantasie und Gemüt ist eine andere wie beimMann,

und woran wir denken lernen, ist nicht die Frage, sondern daß wir denken, denn wir sind Menschen

An die Schwägerin Elisabeth Breymann in Wolfenhüttel. Berlin W., Steglitzer Str. 68. 28. Oktober 1879.

Hoffentlich seid Ihr nun auch längst eingewohnt und gemütlich in

den neuen, oder vielmehr altenRäumen, welche Dir so lieb und vertraut sind. Wir haben in unserer neuenWohnung das Gefühl, als wären wir schon lange hier, wie es wohl immer der Fall ist, wenn man sich ver­

bessert hat und sich behaglich fühlt

Unser Arzt hat mich zum dritten oder viertenMale untersucht, und er sagt immer, es sei Enervation des Herzens, ganz ungefährlich, aber

qualvoll.... Annette ist sehr befriedigt von ihrerWirksamkeit, aber wir

arbeiten uns auch immer mehr in die Löhe, und unsere Anstalt wird immer besser und vollkommener organisiert MeinMann steht auch vor demBerkaufseinerBahn, vielleicht kann

sich die Sache schon Anfang nächsten Jahres vollziehen. Bis 1885 bekommt er sein volles Gehalt, dann 2000 Taler Pension jährlich. Ich

glaube, wir werden trotzdem hier bleiben, meinMann hat schon ziemlich viele Verbindungen mit Zeitungen usw., er wird oft um Artikel gebeten, sie werden gut honoriert, und so denkt meinMann, was das Pekuniäre

betrifft, daß wir die Sache recht ruhig ansehen können; im übrigen wird er schon zu tun bekommen. Falk sagte neulich zu mir, er habe noch nie so viel Arbeit vor sich gehabt wie jetzt; er sprach sich bei einem Besuche

hier sehr offen über seinenRücktritt aus, und ich bin sehr gespannt, wie er im Abgeordnetenhause reden wird.

Lier ist immer große Erregung über di« Tagesfragen — Stöcker, Iudenhetze, Eisenbahnverkauf, Puttkamer, Simultansckulen usw. bil­

den das Tagesgespräch; es ist wirklich Pflicht eines jedenMenschen, sich

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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über die schwebenden Tagesfragen eine Ansicht zu bilden, um sie endlich in richtiger Weise zum Austrag zu bringen. Wir Frauen können doch sehr viel indirekt für das Wohl des Ganzen beitragen, wenn wir unsere Männer und Brüder und Bekannte unterstützen, für das Rechte einzutreten — es ist doch gar nicht genug als Pflicht erkannt, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, und doch kommt dem einzelnen schließlich zu­ gute, waS das Gemeinwohl hebt. Es ist wirklich schrecklich, daß die Wahlen so traurig ausgefallen sind und zeigen, wie wenig dieMänner noch ihre politischen Pflichten fühlen und nicht weiter denken als den Tag und ihr eigen Laus. Ist denn der liebe Erich jetzt ein guterBürger? Ihr müßt Euch wirklich wehren gegen Bernhard von Clairvaux*) und Lessings klare DenkungSart zu Ehren bringen. Braunschweig ist zum Gespött geworden, und ich begreifeLerrn von Leinemann nicht, daß er nicht geradezu Protest eingelegt hat. Aber zum Schluß noch tausend Dank für Dein reizendes Vergiß» meinnicht und den lieben Brief, auch daß Du meine Alpenrosen so schön verwendet hast. Ich habe die lieben Vergißmeinnicht so lange als möglich erhalten und mich an ihrer stillen Sprache erfreut. Lebe wohl, mein liebes Lieschen, küsse Deinen Dicken recht herzlich von mir und auch Dein liebes Gretchen, und habe lieb Deine treue Schwester Lenriette.

An Mary Lyschinska. Berlin W. 28. Dezember 1879. Du glaubst gar nicht, wie unsere traurigen politischen Verhältnisse auf mich drücken, wie sie mich lähmen. Der Liberalismus ist so flach, seine Religionslosigkeit, seine einseitig intellektuelle Richtung ist mir so antipathisch, läßt mich so unbeftiedigt; der Zusammenhalt im Oppo» nieren gegen gewisse Dinge, die mir selbst im kirchlichen Leben nicht passen, ist noch kein Zusammenhalt von positivem Inhalt und Dasein, dem man sich anschließen kann. Ich entbehre so sehr kirchliche Gemein­ schaft. Ich möchte nach England kommen, und die „Anitarians" kennen lernen und vielleicht mich dort anschließen Ich muß diese Zeit so viel an Friedrich den Großen denken, wie tat­ kräftig stand er da im Leben, wie hat er mit eiserner Kraft, mit uner»

*) Streit um die Aufstellung der Büste Bernhards oder Lessings in der Aula des Gymnasiums zn Wolfenbüttel.

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Kapitel 4:

schütterlichem Mute gestaltet — und doch wie traurig, wie einsam sein Alter Das Leben ist wunderbar schön; so lange man noch Lebens­ stoff vor sich hat, gestaltet man frisch darauf los, immer auf das, was noch werden soll, blickend, wenig ökonomisch mit Zeit und Kraft um­ gehend; und wenn der Schluß des Lebens nach und nach näher tritt, dann erblickt man erst, was man getan, die unvollkommenen, unvoll­ endeten oder verkrüppelten Gestalten, die unwiderruflich unsern Lebens­ weg bewölken; so wie wir sie schufen, wie wir sie erzogen, blicken sie unS traurig an; wir möchten sie sammeln und mit uns begraben — ach, daS Leben ist so schwer Dies alles ist sehr, sehr traurig, und doch lebe ich zwei Leben — eins der persönlichen Liebe, und ich danke Gott dafür. Ich habe noch ein zweites Leben, dasWirken und Schaffen für einen Fortschritt in der Erziehung, und dieses Leben hängt mit denMeinungen und dem Glau­ ben zusammen. And wirklich, was soll man glauben? Ich fühle mich so isoliert in meinen Bestrebungen hier Unsere Anstalt ist jetzt was sie sein soll, aber wer interessiert sich dafür, wer bietet die Land zur Weiterentwicklung? Gerade mein Standpunkt in der Frauenfrage, in der Religion, in der Pädagogik isoliert uns — ich habe keine Partei hinter mir, wohl einen kleinen Kreis der Getreuen. Nach außen hin stehen wir nicht so großartig da, wie manche andere Anstalt; in den Frauenversammlungen und „Tagen" spielen wir keine große Rolle. Wir werden nicht viel besprochen und gelobt, weil wir uns ^icht eingekauft haben in diese Ver­ sicherungsgesellschaft der Lobhudelei, und weil wir nicht fabrikmäßig arbeiten; aber im Innern haben wir etwas geschaffen, was unserm Streben entspricht Und doch, wenn Amos Eomenius, wenn Pestalozzi, wenn Fröbel großeMänner waren, wenn ihr Leben und Wirken noch Bedeutung für die Gegenwart haben, dann will auch ich etwas Großes, denn ich habe sie verstanden, und ich mache Ernst mit ihren Ideen in Beziehung auf Laus und Schule; mir sind sie nicht poetische Erregungen, mir sind sie Wahrheit und Wirklichkeit. Diese Männer zeigten, daß die Elementarerziehung nicht eine minderwertige, niedrige Stufe der späteren Erziehung ist, sondern eine Wissenschaft, eine Kunst für sich, die Grundlegung für das spätere Leben ist Der Instinkt allein erkennt in unsern komplizierten Lebensverhältnissen nicht mehr das Rechte, nützt vor allen Dingen die Zeit nicht aus, wie sie genützt werden sollte, um die

Henriette Schrader-Vceymann 1891.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Menschen zu stählen für den Kampf deS Lebens, zu bilden für das Werl der Liebe. Kennst Du die Darwinsche Lehre von der Anpassung der Natur des organischen Wesens? Doch schriftlich läßt sich in einem Briefe so schwer darauf eingehen. Daß wir die Zeit besser zu benutzen lernen müssen, zeigt sich in dem verkehrten Bestreben, die Kinder möglichst früh zu unterrichten, aber gerade das frühe Wecken der Erkenntniskräfte lähmt den Menschen für das Gestalten, für dasBeherrschen der Situation und der Dinge. Aber, wie gesagt, mit meinem wachsenden Verständnis der Welt und Menschen ist auch die Anruhe aus meiner Seele gewichen, mich den Menschen verständlich zu machen. Ich nehme die Sache historisch, es ist ein großes Beruhigungsmittel, sich in den Gang der Geschichte zu ver­ tiefen, aber in Einzelheiten, in Tatsachen, die auf ernster Forschung beruhen. Sie erklären di« Geschichte der Gegenwart, und wiederumMitleben derselben erklärt die Vergangenheit

Lenriette Schrader an Marie Kellner. Berlin W. 5. Januar 1880. Dein Brief, meine liebe Marie, ist mir viel im Kopfe herumgegangen, und ich habe mich ost gestagt: Fordere ich eigentlich Annötiges von * * * (Lausstütze), verlange ich überhaupt Dinge, die unwesentlich sind? Ich sage aber mit vollem Bewußtsein: Nein. Im Gegenteil, * * * hat mir nur in voller Klarheit die Mängel der Erziehung, die Mängel des Lebens auch in der Sphäre gezeigt, der sie entstammt. Mein Be­ dürfnis nach Sauberkeit, Ordnung und Systemattk ist nur das, was unsere Zeit fordert, Erhaltung der Dinge, die richttge Zeit- und Krafteinteilung, durch welche die Kausstau soviel leistungsfähiger wird; die richtige Verbindung des Denkens und Wissens auf wirtschaftlichem Ge­ biete mit der Technik und Landhabung, die zu allen Dingen gehört; die Sorgfalt, welche man den Dingen zu rechter Zeit widmet, das Geschick, mit nicht zu großen Mitteln doch eine gewisse Ästhetik des Lebens her­

zustellen .... Ich arbeite nun wieder mit Köchin und Lausmädchen, und ich glaube, ich habe Glück, wenigstens fühle ich mich befreit svon der „Stütze"). Laß Dir ein Beispiel geben: Ich weiß, daß man bei sorgfältiger Auswahl deS Rindfleisches und sehr sorgfältiger Behandlung desselben

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Kapitel 4:

durch Klopfen und durch verschiedene Hitzegrade beim Kocher, die man einfach durch Abnehmen des Topfes und Aufsetzen auf die Platte erreicht, oder vielmehr durch Lerausnehmen des Fleisches, welches gegessen werden soll, zu rechter Zeit — sehr schönes Suppenfleisch für 6 Groschen a t Pfund hier erzielen kann. * * * hat das nie gekonnt, überhaupt konnte sie das nur gut kochen, was dieser feinen Sorgfalt nicht bedurfte. Sie fand aber das Suppenfleisch, das wir nicht essen mochten, gut genug . . Nun machte ich mit meiner Köchin den Versuch, weil sie große Lust hatte, eine ordentliche Köchin zu werden — siehe da, wir hatten da­ schönste Gericht. Ich habe ausgezeichnete Kochbücher, aus deren ich mir alles zusammengestellt habe für die Behandlung des Lerdes, der ver­ schiedenen Geschirre, des Fettes usw. And da liegt die wahre Sparsamfeit, da liegt der Wohlgeschmack, diese Feinheit der Dinge, die nichts kostet als zur rechten Zeit denken, einrichten und zusammenbringen. Ich habe daS hier von einer Kochftau gelernt, die ein Muster der Leistung und Sparsamkeit war. Diese Frau stand tief unter * * * in Bildung. Nun schmähe ich nicht die Pastorenhäuser, aber ich habe einer. Zorn auf die Gemütlichkeit, die durch Bequemlichkeit, Beschränktheit, Eigensinn und unästhetisches Wesen erkauft wird. And * * * war nach dieser Seite in einer Weise bequem. Du würdest kaum glauben, wenn ich Dir er­ zählte wie. Sieh, Marie, der Kampf ums Dasein ist keine Phrase, unsere Zeit erfordert eine ganz andere Entwicklung der Kräfte als ftüher; aber ge­ rade durch diese Entwicklung der Kräfte kann wieder Muße gewonnen werden, die uns so notwendig ist, die der Erziehung daS wesentliche Moment in der Familie bietet; dieRuhe, in der das Kind gedeiht, die Stille in der es aufatmet, die Zeit, die man sich für seine kleinen Leiden und Freuden interessieren kann. Aber wir dürfen diese Gemütlichkeit nicht auf Kosten anderer Dinge erwerben. Sieh, diese Pastorenftauen und-Töchter (die gegenwärtigeGesellschaft ausgenommen),was können sie?Nur gerade das, was sie nach ihrem Schlendrian, nach ihrer Manier machen, und wenn sie mit wenigem auskommen, so leben sie dafür auch jämmerlich, unästhetisch und kümmerlich. And wenn sie eine Stelle suchen und kommen nicht in ein Kaus, wo geradeso mit demReisigbesen rein gemacht, wo geradeso Kaffee geplanscht wird, wie sie es gewohnt waren, so stehen sie da, wissen sich nicht zu finden und verderben vieles durch ihr Angeschick.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Eine gute Hausfrau und Mutter zu sein in unserer Zeit fordert eine Lebenstüchtigkeit, gegen die sich der alte Schlendrian noch sträubt, aber wir müssen ihm mit aller Kraft den Hals brechen. Wir müssen die einzelnen Richtungen, welche in der allseitigen Bildung (die die Frau zu ihrem natürlichen Berufe als Hausfrau und Mutter bedarf) ein­ geschlossen liegen, zu Ämtern ausbilden, die der unverheirateten Frau eine unabhängige Stellung in der menschlichen Gesellschaft bieten. Da ist die Krankenpflegerin von Fach und Amt, die nur Geschicklichkeit undWissen, welches auch dieMutter bis zu einem gewissen Grade gebraucht, weiter ausbilden muß; die Lehrerin, die Erzieherin, die Haus­ wirtin, die Putzmacherin, welches auch zur Kunst erhoben werden muß, die Kunstgärtnerin (Blumenpflege im Hause ist auch so wichtig). Daraus geht auch die kaufmännische Angestellte, die Geschäftsführerin, die Ver­ waltungsbeamtin in der Gemeindepflege hervor; dann das Kunst­ gewerbliche, alles Dinge, welche die wirklich tüchtige Familienmutter in ihren Anfängen treibt, die nur weiter zum Amte entwickelt werden, und die wieder allgemein verwertet werden, wenn die Beamtin zur Hausftau undMutter wird. Aber sieh —Mädchen tote * * * haben keinenBegriff von der Amts­ tüchtigkeit und Amtspflicht .... Annette ist ein Schah, endlich ein­ mal ein Mensch, der Bedürfnis nach Tüchtigkeit hat und keine quaddrige Sentimentalität

Henriette Schrader an Marie Kellner.

Berlin W. 24. Februar 1880. .... Auf den Aufschwung, den meine Seele nahm, ist ein rechter Dämpfer gesetzt. Meine Komiteedamen, die soviel Vertrauen in meine Stunden setzen, wünschen so unsern Kursus, der acht Schülerinnen zählt, zu einem wirklichen Seminar zu erweitern. And wir haben schon viele Vorarbeiten dazu gemacht, da sagte mir der StadtsyndikuS Eberty, dessen Frau mit im Komitee ist, und der uns sehr wohl will, daß er unter der Hand mit den Schulfürsten hier ge­ sprochen hat und uns rät, die Sache ganz im stillen fortzuführen; sowie wir ein Programm drucken lassen, müssen wir Erlaubnis von der Stadt und dem Ministerium haben, und da ich kein Lehrerinnenexamen gemacht habe, würde mir kein Gott dieVorsteherinstelle bewilligen.

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Kapitel 4: überhaupt hätten wir schon lange ungesetzlich gehandelt, und eS

könne mir, so wie den andern Damen jeden Tag die Erlaubnis zu unter­ richten entzogen werden, da jede Persönlichkeit, die in Preußen unter­ richtet, ob Kinder oder Erwachsene, einen Erlaubnisschein haben muß. Das kleinste Übelwollen gegen unsere Bestrebungen kann also jeden Tag meinWerk zerstören. Als ich in Gegenwart der Schwester eines hohen Schulrats, der einer der mächtigsten ist, äußerte, niemand von den Herren verstände ja etwas von der Fröbelschen Erziehungsweise, und ich könne sie eher ex«minieren als sie mich, lachte sie und sagte, ich möchte so etwas nicht laut sagen. Ich müsse, um Vorsteherin eines Kindergarten-Seminars zu sein, nicht nur ein Lehrerinnen-, sondern auch ein Schulvorsteherinexamen machen, Dinge lernen, die nichts mit der Kleinkindererziehung zu tun haben, und ein Examen ablegen. Ich glaubte ünterricht für Erwachsene sei srei, zumal ünterricht in einer Sache, die mit Stadt und Staat [gesetzlichj nichts zu tun hat. Aber nein I Von allen Seiten ruft man mir zu: „Schreiben Sie I" Hundertmal nehme ich den Anlauf — es geht nicht. Meine Kolleginnen sind reizend gegen mich, sie erbieten sich zu jedem Handlangerdienst, zum Abschreiben usw. Aber einmal habe ich kein Talent zu der Art des Schreibens, wie es dasPublikum bedarf, und dann kann ich mich nie konzentrieren. Leute haben wir eine Gesellschaft von zwölfPersonen mit Hummerremolade und Hühnermayonnaise, Erbsen und Zunge, Rehrücken und Trabanten, Eis, Obst usw. Meine Köchin kocht alles, aber ich muß immer nachsehen und ihr alles zeigen, mit ihr im Kochbuche nachlesen... ünd nun unsere schwankende Lage. Bismarck und Maybach zanken sich wegen der Anhalter Bahn. Maybach will nicht mehr kaufen, ihm ist angst geworden.Bismarck will die AnhalterBahn, um den süddeutschen Staaten zu Leibe zu gehen, er will alle Bahnen in die Gewalt bekommen als Reichsbahnen. Nun kommt es darauf an, wer Sieger bleibt — natürlich Bis­ marck. Es ist eine Nachsession des Abgeordneten-Hauses beantragt, und gestern abend sagte man meinem Manne, jetzt solle die Sache mit Eile betrieben werden.Vielleicht sind wir im August vogelfrei. Mein Mann hat Lust, Italien, Frankreich, England zu besuchen, sich vorerst auf Studien zu werfen. Diese acht Jahre hat er nur aus­ gegeben und im Praktischen gearbeitet. Bismarck wollte schon Anfang

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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deSWinters für 4 % kaufen, meinMann wehrte sich gegen diefenPreis, nicht gegen den Verkauf. Nun begann ein Spiel, um die Bahn auszu­ hungern, meinMann hat zu kämpfen, und in einer wichtigen Sache hat er gesiegt. Man wollte der AnhalterBahn fürWochen keinen Durchgang nach Wien auf Staatsbahnen gestatten; durch meinenMann kam die Sache im Abgeordnetenhause zur Sprache, und soweit ist denn doch die Ge­ sellschaft noch nicht gesunken, daß man dem zustimmte. Maybach mußte seinen Befehl zurückziehen. Aber diese- eine Beispiel mag Dir zeigen, wie aufreibend die Tätigkeit meinesMannes ist. Last Du vom ReichSgesundheitSamte hier gehört? Wir haben in dem vortragenden Rate desselben. Geh. Rat Finkelnburg einen sehr lieben Freund. Dr. Struck, der Leibarzt Bismarcks, ist Direktor deS Reichsgesundheilsamtes Unsere Beziehungen zum kronprinzlichen Lause sind die herzlich­ sten Die Stöcker und Genossen, die Iudenhehe, der Wellenschlag dieser Bewegung, die hier die Gemüter in Aufregung verseht, stört dieWolfenbüttler nicht mehr? Viel, viel könnte ich Dir erzählen vom Leben meiner Seele, in dem klar und klarer die Schönheit des Lebens emporsteigt, und dieMittel sich finden, diese Schönheit zu erlangen. Die Erziehung zur geistigen Mütterlichkeit, die das Kleine groß er­ faßt im Zusammenhang« mit dem ganzen Leben; die die Entwicklung der Seele des Kindes schaut und mit keuscher Zurückhaltung ihr fich naht und doch mit inniger Liebe, welche wie Strahlen der Sonne entwickelnd wirkt, ohne sie direkt zu berühren mit ungeschickter Land; diese Mütterlichkeit, die ihre Macht erstreckt über den Familienkreis hinaus; die ernst macht mit der Nächstenliebe, die der Gesellschaft Mutter ist und ihr hier mit Interesse, dort mit einer Gabe oder endlich mit Einsetzung der Persott, zu helfen sucht, wo keine näheren Pflichten fordernd an sie heran­ treten. Diese Mütterlichkeit, die so die Seele pflegen kann, die sie in ihrer Metamorphose versteht, sie muß erzogen werden, sie muß ihre Mission beginnen. Aber, wenn der Staat so mächtig wird, wenn sich alles in Staatsbeamtentum entwickelt, dann wird die Frauenkrast in Fesseln geschlagen. Wie wir es im Kleinen haben, so müßte es im Großen sein: Beamtinnen für Volkserziehung, Armenpflege, die Kindergärtnerin, die Leiterin des Volkserziehungshauses, der Gesundheitspflege, wir

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Kapitel 4:

honorieren sie, sie stehen in der Mitte, und um sie scharen sich freiwillige Kräfte. Sieh, Marie, ich habe alles im Kleinen, praktisch ist die Idee gemacht. Aber ich bedürfte der Erweiterung, der Ausbildungsschule. Den Namen Kindergärtnerin möchte ich fallen lassen — diese Beamtinnen müssen die Ausbildung von Erzieherinnen haben, die die menschliche Natur zu kennen streben — (Nachweis aus der Geschichte, wie es die Jetztzeit fordert, Geschichte der Pädagogik, Nachweis wie die tüchtige Wirtschaftsführung zusammenhängt mit der Geisteserhebung des Volkes,Wirtschaftslehre,Beschästigungslehre). Der Kampf ums Dasein, der oft in erschreckender Weise geführt wird, erfordert eine Ausrüstung der Kräfte in ganz anderer Weise und einen Reichtum des Gemütes. Ach, könntest Du Annette sehen mit unsern sieben Elementarklassenkindern! Sie versteht die Wohnstubenkraft Pestalozzis in die Schule zu tragen, und bis zum 10. Jahre vor allem muß dies sein. Ich schreibe Dir, indem ich den Tapezierer beaufsichtige, der noch bei den Gardinen beschäftigt ist. Ja, Marie, ich bin meiner Sache sicherer als je; aber sehe auch kla­

rer, wie wenig sie verstanden werden wird. Ihr Verständnis beruht zum großen Teil mit auf der Empfindung, und unser Intellektualismus hat sie verdrängt

Henriette Schrader an Frau Luise Fröbel.

Berlin W. Mai 1880. Also ist nun die liebe Albertine Middendorf auch tot, ich habe nur eine gedruckte Anzeige bekommen und kein Wort weiter gehört .... Ich habe durch die vielen Todesfälle in meiner Familie, durch unseres Freundes Kuntz Tod vor einem Jahre so gelitten — es hat mir soviel Kraft genommen, nicht Liebeskraft, aber die Fähigkeit sie zu äußern. Ich konzenttiere mich immer mehr auf meine Arbeit und meine Familie, die mich umgibt; wenn ich mich nicht aufreiben soll, habe ich diese Ökonomie der Kräfte nötig. Aber glaube mir, ich behalte die, welche mir nah standen, treu im Kerzen, und so gedenke ich Deiner oft Es sind schlechte Zeiten für das Verständnis von Fröbels Ideen — ich sage mit Absicht nicht der Kindergarten — denn es ist ein Anglück, daß man Fröbels Ideen mit dem Kindergarten identifiziert, der ja oft schrecklich ist. Aber umso wichtiger ist es, streng an den Grundideen fest­ zuhalten, und sie in der Praxis gemäß zu gestalten. Ich glaube. Du

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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würdest Dich freuen über unsere Anstalt; aber mit welcher Mühe habe ich sie geschaffen 1 Bisher gab ich allen Anterricht für die Schülerinnen allein mit Ausnahme von Singen und Geometrie. Jetzt habe ich aber einen Lehrer für Naturwissenschaften angestellt, der ausgezeichnet unterrichtet oder vielmehr doziert; überhaupt bin ich sehr dankbar für das Glück, tüchtig« Lehrkräfte zu haben, meist von mir selbst gezogene Schülerinnen.Meine Annette istVorsteherin der ganzen Anstalt . . . . so ist unsere Anstalt ein harmonisches Ganze, wirklich ich liebe sie wie ein Kind, und sie ist mein Kind, welches ich mit meinen besten Kräften nähre. Mein Mann ist ja so ganz mit mir einverstanden in dieser Arbeit, wie er überhaupt auch tätig mit in dieselbe eingreift. So habe ich ein wunderschönes Leben, wenn ich mich in meinem Kreise abschließe Ich würde mich so sehr freuen, Direktor Jessen und Frau hier kennen zu lernen, ich sprach neulich mit Wehrenpfennigs über sie. Jessens werden .

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W.

10. und 11. Juli 1880

.... Ich kann den Brief von Frau Leo wohl einige Tage zurück, behalten. Sie hat in allen wesentlichen Dingen, was die Zukunft der Ferienkolonien betrifft, recht. Gewiß muß die Zahl der arbeitenden Kräfte größer sein, wenn die Sache im nächsten Jahre wieder gemacht wird; man muß auch früher anfangen. In diesem Jahre hätte es nicht viel anders gemacht werden können; in diesem Jahre konnte man auch nicht zu viele Personen mitraten lassen, sonst wäre man nicht fertig geworden. Frau Leo übersieht auch wohl, daß dieses Mal die arbeitenden Frauen in doppelter Eigenschaft als Bezirkskomitee und als Koloniekomitee beteiligt waren. Mir scheint das Beste, daß man: 1. das jetzige Komitee — vielleicht durch einige wenige Personen verstärkt — zusammen läßt, und dasselbe genaue Grundsätze noch im Laufe des Winterausarbeitet. 2. Daß dieses Komitee künftig nur die generellen Angelegenheilen behält, d. h. Anschaffungen, Orts- und Lehrerwahl und Über­ sicht der Kinder. 3. Daß die Auswahl der Kinder den Bezirkskomitees deSVereins überlassen wird, diese werden sich hoffentlich imWinter vermehren und nötigenfalls für die Stadtteile, in welchen wir keine Komitees haben, eigene, kleineNebenkomitees bilden. .... Ob ich Dich in Iohannisbad besuchen kann, liebe Frau, kann ich noch gar nicht sagen .... Wenn ich nur wüßte, wie wir uns im August einrichteten I Gewiß wäre es am besten für Deine Gesundheit, wenn Du in Iohannisbad bliebest .... Eine Schweizerreise, die wir

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Kapitel 4:

ja, wenn Du nach Baden mitgehst, wohl machen würden, ist allerdings

schöner, aber von Arbeiten ist dabei natürlich nicht die Rede. In Iohannisbad würde ich keine Eisenbahnsachen machen, sondern mit Dir an Deinen Sachen und an Vorschlägen für die Organisation unseres

Kindergartens, sowie an allgemein politischen Dingen arbeiten. Wenn dazu Bücher und Papiere in größerer Menge nötig sind, könnten sie als

Fracht vorausgehen. Ich glaube, ein solches Zusammenarbeiten würde

uns noch näher zusammenführen und vielleicht eine dauernde Grund­ lage gemeinsamen Wirkens im Leben geben. Dabei meine ich nicht, daß wir den ganzen Tag uns quälen sollten; vorzugsweise sollst Du Dich

erholen, wenn man aber jeden Tag einige Stunden arbeitet, und wenn

ich das Gedachte stenographierte, so würden wir doch viel zustande bringen, gewiß genug, um als Grundlage für Späteres zu dienen . . . .

Du bist doch eine andere geworden, viel tapferer kleineren Un­

annehmlichkeiten gegenüber, stetiger auf die Hauptziele des Lebens ge­ richtet, und darum genießt Du auch mehr, was Du hast, Liebe wie Natur. Du erhebst Dich mehr über dem Leben, wie es sich für Dich,

Deinem innern Wesen nach ziemt. Du kannst noch viel leisten in der Welt, wenn Du Dir Deine Gesundheit erhälst; ich denke, wir werden

nun ganz gut zusammen arbeiten; ich will es gern. Jetzt scheinst Du nicht viel zu arbeiten, und das ist sehr gut; vielleicht ist es viel besser, daß Du dieses Leben die ganze Zeit bis zu Deiner Rückkehr hierher führst, und daß wir das Zusammensein dort mehr dazu benutzen, unser Leben nach derRückkehr vorzubereiten, als viel zu arbeiten. Liest Du dort Zeitungen ? Die nationalliberale Partei scheint nun

doch den letzten Nest ihres guten Rufes verloren zu haben und mit ihr sogar die Führer; derNuf nach neuen Leuten wird schon von allen Seiten erhoben; wenn sie nur da wären! d. h. Leute, die nicht bloß ein

praktisches, nächstes Ziel energisch zu verfolgen wissen, sondern die der liberalen Überzeugung einen neuen Inhalt, neue Ideale und inneren Zusammenhang geben können. Ich fürchte, sie fehlen .

.................

Äenriette Schrader an ihren Mann. Iohannisbad. 11. Juli 1880. Du scheinst mit Briefen von mir überflutet zu sein nach der langen Ebbe, ob Du sie wohl alle liest? Ich habe eine Bitte, schicke einen von

meinen Briefen an Schwester Anna, was Du ihr schicken magst . . . .

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich habe noch keinWort von ihr gehört. Also gestern waren Schraders bei Dir? Gestern war bei mir ein heißer, schwüler Tag, nachmittag und nachts Gewitter, letzteres mit Saget, es war grausig, und ich sehnte mich angstvoll zu Dir. Leute scheint es aber herrlich zu werden und die neulich verschobene Partie mit Lahns soll heute gemacht werden. Gestern morgen waren wir zu Lause, nachmittags um halb fünf Ahr machten wir einen Spaziergang mit Lahns, ttanken aus dem Schweizerhäuschen Kaffee und gingen gegen abend insReuschtal, der schönste Ort, den ich bis jetzt sah. Denke Dir, ich mag I. lieber als Landro. In der großartigen Stille des Ampezzotales in einer Pension zu sitzen mit so einem Lausen müßiger, klatschsüchtiger Menschen ist für mich ein unvermittelter, un­ angenehmer Gegensatz, und dann fühlte ich mich nur selten körperlich wohl, während ich mich hier wirklich auch physisch meines Lebens freuen kann. Wenn ich so aus dem Bade komme, so ist das ein göttliches Wohl­ sein, ja göttlich, weil man sich als ein Stück Natur fühlt von göttlichem Odem belebt. Man. war so eins mit dem bläulichen Wasser, man ist eins mit dem Wachsen und Schwellen des üppigen Grüns auf den köstlichen Wiesen und schwebt doch über allem, man kann alles mit Bewußtsein lieben und genießen. Aber wie wenige Menschen kommen zu diesem intensiven Gefühle der Lebensschönheit des Daseins auf der Erde, und wie selten wird es den wenigen zuteil; ich habe eö ja früher nie gekannt. Wohl die Schönheit des Geisteslebens empfunden und durch dies be­ glückt; aber nie vorher die Larmonie, wie jetzt von Leib und Geist emp­ funden, und wie ist das eigentlich möglich in meinem Alter? Wenn ich doch so alt, so klar würde über daö Dasein, daß ich darüber schreiben und andern damit Helsen und nützen könnte l Wie kommt es, daß ich einen so frischen vom Alter unberührten Geist habe, wenn ich mich körperlich wohl fühle — ja, so unberührt, daß ich bei meinem Streben mich immer wie im Anfänge fühle, und immer weit mehr die Empfindung habe, daß ich soviel lernen möchte, als daß ich weise und fertig wäre — vielleicht kommt es von der Erkenntnis meines Angeschicks im Leben. Aber wenn ich mich kräftig und harmonisch fühle, ist es auch besser, ja, und kannst Du, kann ich es glauben, daß das Gefühl, passend angezogen zu sein, eine einfache Eleganz in der Erscheinung zu fühlen, daß das mich weit sicherer im Auftreten macht. Sei Du nur ganz ruhig, wenn es nötig ist zu repräsentieren, wenn ich mich entschließe, ohne Sorge etwas mehr Geld auszugeben, ich werde es alles machen und können. Es kann der Mensch von seiner Selbst nicht scheiden — mein kindisches Streben war

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Kapitel 4:

Vornehmheit; die Eitelkeiten in Berlin, die leerköpfigen Weltdamen, der Tod und der Ernst des Lebens, auch Müdigkeit und Bequemlichkeit und Sorge um die Zukunft haben in Berlin meine Natur verändert oder verschoben. Sie kommt wieder herauf— und Du hast recht gehabt — wäre ich vom Anfang an Deinem Wunsche gefolgt bei meiner Gar. derobe, ich hätte nicht nur viel Geisteskraft, sondern auch viel Geld ge­ spart; ja. Du hast recht, ich wollte Dinge verbinden, die sich nicht verbinden lassen. Jetzt habe ich mich so in den Stand gesetzt, wie es für mich in meiner Stellung passend ist. Ich habe nun auch Leute gefunden, die für mich arbeiten können, ich habe viel ausgegeben, habe aber, was ich brauche, und von jetzt an werde ich nicht nur gut auskommen, sondern noch genug für andere über haben. Ja, wenn ich mir alles, wie sich das so imMenschen entwickelt, verstände — es ist mir nicht nur meinetwillen, sondern um das Verständnis der menschlichen Natur interessant. Ich habe einen tiefenWunsch, eine heiße Sehnsucht, andern zu helfen. Gestern kamen Meyers Zerlina, Sohn und Frau zu uns, als wir mit KahnS Kaffee tranken. Er ist streng fortschrittlich. Wann schreibst Du von Deinem Konimen? Ich habe im Grunde immer Keimweh, aber der innige Wunsch für Dich zu leben, für Dich kräftig und heiter und mutig zu sein, hält mich empor. Wir wohnen hier ganz behaglich und seitdem wir nicht an der tadle d’höte essen, nicht so teuer. Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 13. Juli 1880. Leute habe ich gar keinen Brief von Dir bis jetzt (63/< Ahr) erhalten; es wird wohl daran liegen, daß ich den Brief vom 4. d. M gestern abend bekommen habe. Neues ist freilich von hier nicht zu schreiben, abgesehen von einem allerdings für den Betroffenen recht traurigen Fall. Der Listoriker Mommsen hat das Anglück gehabt, daß in seinem Arbeitszimmer ein Feuer ausgebrochen ist, welches fast seine ganze Bibliothek, darunter eigene und fremde kostbare Bücher und Handschriften, seine Manuskripte usw. verbrannt hat, damit nicht allein ein großes Wertobjekt, sondern die Früchte langer Arbeit und die Vorbereitung kommender Tätigkeit. Politisch ist die Zeit der Anentschiedenheit; in der innern Politik macht man Versuche zu neuen Parteibildungen, nicht bloß auf liberaler Seite, sondern auch auf konservativer; die erste möchte zur

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Klarheit über die eigentlichen Ziele der liberalen Gesinnung kommen;

die Konservativen möchten einen gemeinsamen Boden mit dem Zen­ trum finden. Aber der anfänglich fast allgemeineRuf nach der Trennung der wirklich liberalen Elemente der nationalliberalen Partei ist schon sehr

schwach geworden; von dem rechten Flügel geschieht anscheinend alles, um den linken nicht los zu lassen, und diesem fehlen die entschlossenen

Führer. So wird e- denn mit der Zersetzung der Parteien und der Ver­ nichtung der Führer weitergehen, bis in der Tat nur neue Leute helfen

können, sehr zum Schaden einer ruhigen Entwicklung.

Während alles so auseinanderfällt, baden, trinken und spazieren unsere hohenPolitiker und tun, als ob sie das gar nichts anginge.

Kier ist es ganz gutes Wetter, nicht gerade übermäßig heiß, aber

sonnig.

Du meinst in der Politik und vielleicht auch im praktischen Leben käme es auf die Moral nicht an? Für jeden dauernden Erfolg gewiß, denn nur etwas innerlich Gutes hat Bestand, aber man muß nicht vergessen: Erstens gibt es nicht viel Dinge, die allein böse sind, sie ent­

halten neben Bösem auch Gutes und daS letztere mag das erstere, sei es

von Anfang an, sei es in der Entwicklung überwältigen. Zweitens muß

man die Zeit nicht zu kurz bemessen; namentlich in der Politik. And erleben wir nicht schon heute, daß Bismarck durch die Fehler in ihm und

in seinem Verhalten Deutschland und sich schweren Schaden zufügt? Der Fehlschluß, den man zu leicht macht, ist der, daß weil etwas mit

schlechten Absichten oder auf schlechte Weise begonnen ist, es darum allein keinen Bestand haben könne. Dem subjektiv (d. h. dem in den handelnden Personen liegenden) Bösen kann doch ein objektiv Gutes beigemischt sein, das doch das Übergewicht bekommen kann und meistens auch wird. Aber, wie in der physischen Welt, so auch in der moralischen, bleibt keine Ursache ohne Wirkung; die Zahl der in den verschiedenen Richtungen wirkenden Ursachen kann aber «ine sehr große sein, so daß

dieWirkung der einzelnen selten oder nie rein erkannt wird. Was Dein Kerzweh betrifft, so kommt es gewiß vom Baden. Da

Du nun doch noch lange dableibst und noch viel baden kannst, so halte

ich es für das Beste, daß Du einmal längere Zeit (fünf, sechs Tage) ganz

auSseht, um Dich etwas zu beruhigen. Nach Riese*) zu gehen halte ich nicht für vereinbar mit der Absicht zu arbeiten, denn erstens gehen die

*) Gut des Schwagers P. W. Amsmck in Holstein.

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Kapitel 4:

Reisetage verloren, zweitens die Zeit, sich am neuen Orte «inzurichten, denn kommt es gar leicht so, daß es nicht mehr der Mühe wert scheint, ernstlich anzufangen. Laß uns nur in 3. bleiben. Grüße an Annett« und Küsse für meine Frau.

Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 21. und 22. Juli 1880. .... Zum rechten Nachdenken über unsere Arbeit bin ich heute noch nicht gekommen .... Als ersten Aufsatz — ich meine als den zuerst zu machenden dachte ich mir einen über Volkserziehung, welcher alsLauptschäden die mangelnde Gemütsbildung und die lediglich abstra k t intellektuelle Bildung bezeichnet, den Mangel an Religion audem Mangel an Gemütsbildung, die Anlust zur Arbeit aus dem fast ausschließlich rezeptiv vorttagendem Einpauken von Kenntnissen ab­ leitet, und die Mittel zeigen müßte zur Besserung. Es müßte nicht pole­ misch sein und ein knappes, klares Bild der Mängel und zugleich der Mittel zur Abhilfe bieten. Darunter würde neben der Fröbel-Pestalozzischen Methode die Einfügung der Arbeit (Industrie im Lause) die erziehliche Anterstützung durch das Volkserziehungshaus und eine dieser Vorbildung angemessene Fortbildung erscheinen. Ich will ver­ suchen, eine Disposition morgen mit zu schicken, die aber natürlich noch nicht endgültig ist, und das überhaupt nicht werden kann, da vieles sich erst bei der Ausarbeitung ergiebt; aber es ist doch ein Faden, an dem Du Deine Gedanken aufhängen kannst. Später. Ich habe noch immer keine Zeit gehabt, einen Plan für den ersten Aufsatz zu machen; Du überlegst Dir die Sache wohl auch und schreibst mir namentlich, was Du von Büchern nötig zu haben glaubst und von Deinen Schriften. Meiner Meinung nach sollten wir uns nicht mit viel gelehrtem Material plagen, sondern in der Lauptsache uns mit dem begnügen, was wir im Kopfe haben. Ergänzungen sind immer noch vorzunehmen, wenn wir wieder zu Laus kommen. Aber Dir ist vielleicht ein Teil Deiner eigenen Ausarbeitungen nötig. Meine liebe Frau, ich habe mich sehr gefreut, Dich einen Tag einmal wieder gehabt und mich überzeugt zu haben, daß Dir der Aufent­ halt dort wirklich nützt, und daß Du ihn in jeder Beziehung auch geistig zu benutzen weißt.Wir wollen uns nun auch alles für unser Zusammensein möglichst gut einrichten

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Henriette Schrader an ihren Mann. IohanniSbad. 23. Juli 1880. Heute ist es schön, obgleich es regnet. Das Herzklopfen hat mich verlassen, und damit schließen sich die Abgründe und Tiefen des Lebens, welchen die kranken Nerven mir immer öffnen und die Fähigkeit, Leid, Anvollkommenheit, Disharmonie und Zerrissenheit zu empfinden und bis auf den höchsten Grad steigern. Die Last und Anruhe, welche mich dann ergreift, noch jede Minute vor meinem Tode zu benutzen, die mich von Buch zu Gedanken, von Gedanken zur Feder treibt, hat sich gelegt. Ich denke ernst über solche Zustände nach und wie man ihnen be­ gegnen muß. Ich habe herausgefunden, daß ich einer praktischen Arbeit bedarf, die sich auf Dinge oder Persönlichkeiten hier beziehen; ich gebe deshalb Annette Stunde, Geschichte der Pädagogik .... Es tut mir leid, daß wir kskn anderes Buch als Lellwald haben, zumal er mehr Ideen als Positives gibt und im Positiven viel zu viel Allgemeinheiten, während ich so bedürftig nach Tatsachen bin. Er spricht immer von „Ver­ fall, Blüte, Ausbreitung, Niedergang" — aber worin dies faktisch be­ steht, davon lernt man wenig. Ich erinnere mich noch mit großem In­ teresse, daß Du unS etwas vorgelesen hast über Sklavenzucht bei den Römern; es war ein Brief eines berühmten Römers über die Art und Weise, Sklaven zu halten Ich muß oft [bei dieser Gelegen­ heit! an Krauses Ausdruck von der „leiblich - geistigen Phantasie" denken. Der erste Geschichtsunterricht muß sich jeder Moralisierung und Charakterisierung enthalten, er muß Stoff zu Anschauungen geben, er muß die „leibliche Phantasie" versorgen, nachdem die Zeit der Mythe und Sage vorangegangen, die möglichst wenig charakterisiert durch äußere Merkmale sein sollte; deshalb sind die Schnorrschen Bilder für die ersten biblischen Geschichten herrlich. Ich habe mir vorgenommen, an Prof. * * zu schreiben, ihn um echt wissenschaftlichen Stoff über Einzelheiten zu bitten. Du weißt gar nicht, welche Gedanken — oder vielmehr Schauungen in meiner Seele auftauchen, die ich noch nicht fassen kann, die sich nicht in die Erscheinung vor der sinnlichenWelt fassen lassen. Sie schweben oft bis an die Grenze und sinken zurück, wenn ich sie über dieselbe führen will. Ich schaue die unendliche Wichtigkeit der Elementarbildung, die Wichtigkeit der indirekten Einwirkung der Erwachsenen, die Herbeischaffung des Bildungsstoffes, dieser Vermählung von Autorität und

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Kapitel 4:

Passivität des Erwachsenen. And ich schaue die Notwendigkeit, daß Erzieher und Erzieherin momentan Anvollkommenheiten dulden, daß sie das Ganze desMenschen erfassen können und Individualitäten duldend lieben können. Sieh den Frieden in derPflanzenwelt, sieh dasWalten undWeben im Innern der Natur, ich sehe darin ein Symbol der Erziehung. Was plappert man nicht von der individuellen Erziehung, und wie ist sie mög­ lich bei unserm Schulsystem, das die Kinder so früh unter die Schablone

bringt, und wozu der Kindergarten auch noch beiträgt, wie er meist gehandhabt wird?RousseausRuf zurRückkehr zurNatur hat nicht nur eine Bedeutung als Polemik seiner Zeit — nein, darin liegt noch ein ganz anderer Sinn, den niemand so verstanden hat, wie Pestalozzi, und dem niemand so den Riegel vorgeschoben hat, wie er mit seiner Schul­ meisterei. Ach, weshalb glaubte Pestalozzi andern mehr als sich selbst — und doch wie leicht geschieht das, wenn man nicht in sich selbst vernarrt ist oder andere verachtet . .

.............

Lenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 26. September 1880. Eben habe ich die Depesche fortgeschickt nachNürnberg und Deinen lieben Brief erhalten, den Du in München geschrieben, oder vielmehr angefangen hast. Ich bin sehr gespannt aufDeinenVericht von der,,Sonnenblume"*) Ich habe Dir gestern eine Karte nach Preßburg, vorgestern einen länge­ ren Brief nach München geschrieben, über den Du hoffentlich Freude hast in bezug darauf, daß es mir gut geht. Auch ist unsere Anstalt wirksich ein schönes, lebendiges, einheitliches Ganze, daß es nicht untergehen darf. Viele Besuche sind vorige Woche dagewesen, die sich alle sehr freuten. Ich habe doch wieder vier Schülerinnen ohne Kauf, darunter die Lehtangemeldete ein sehr nettes Mädchen zu sein scheint. Fräulein Bertram prüft jetzt die jungen Mädchen, und es scheint ihr Freude zu machen, sie wird wärmer für die Sache. Es hat sich vieles in mir verein­ facht, geklärt, entwickelt; ich bin, glaube ich, Pestalozzis echte Schülerin, ich habe seinen mächtigen Gedanken erfaßt, ich fühle seine Pulse in mir schlagen, ich habe in vieler Beziehung seine Schwächen, und was er *) Eine Erziehungsanstalt.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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wollte, führe ich mit Fröbels Kilfe aus, aber Pestalozzi ist eigentlich mein Quell, aus dem ich trinke. Ich bin auch überzeugt, daß die Frau das nachschaffende Prinzip ist, halte das aber nicht für eine untergeordnete Stufe, insofern sie vielem Fleisch und Blut, Gestalt geben muß, wofilr der Mann nur Ge­ danken hat. So bin ich fest überzeugt,Pestalozzi und Fröbel kann nur eine Frau ausführen, ihre Ideen kann nur eine Frau praktisch gestalten. Es ist der große Gedanke, die große Würde der Menschennatur, der Natur etwas abzuringen, und es vermittelst des Geistes bis zum ge­ wissen Grade zu gestalten ohne die physischen Bedingungen. So ist es mit dem Kindergarten, die Übertragung des Wesentlichen der Familien-

erziehung in die öffentliche Erziehung ein Werk, das zugleich die Frau erlöst von» Zwange der Natur und sie zurMutter der Gesellschaft macht. So bin ich endlich an dem Kernpunkte der Sache angelangt, ich kann Dir und jedem jetzt in wenig Worten die Bedeutung der Fröbelschen Erziehung für die Familien und öffentliche Erziehung sagen, und was noch besser ist — ich kann sie ausführen und begründen durch die Praxis — die ersehnte Umgestaltung der Frauenerziehung geht auch daraus vor. Mein System, welches Du mit in Ordnung brachtest, ist Ziel derFrauenbildung und derSchulunterricht wird in konzentrischen Kreisen immer den Stoff behandeln, der sie zurMutter der Gesellschaft erzieht. And so habe ich, wie ich glaube, das Große der Pestalozzi-Fröbelschen Sache erfaßt, das eigentlich Reformatorische. Ich habe lange Zeit gebraucht, um das Einfachste einfach zu sagen. Mephisto sagt einmal im zweiten Teile des Faust: „Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer". Gestern war ich den ganzen Tag in Anspruch genommen, daß ich kaum essen konnte: Examen morgens. Stunden nachmittags, Konferenz über Examen-Besuche, Aussprache mit Frau Leo und Fräulein *. Letzterer haben wir den Standpunkt klar gemacht, und es scheint ge­ holfen zu haben; man muß sich immer die Leute erst zurecht rüffeln und erziehen. Dann kam ein guter Fröbelianer, der mich sehr ermüdete; diese Konfusion I Nun bei ihm ist es noch ein liebevolles Chaos, er hat mit gewissen Fühlfäden ohne Augen die Sache ergriffen und hält sie fest. Ich bin sehr ftoh, meine kleine Oase in dem Berliner Leben und Treiben zu haben, wo ich still den Gedanken rein erhalten und zur Tat reifen lassen kann. 12 L y s ch t n S t a, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

Lebe wohl, mein lieber Mann, Du hast herrliches Wetter und hoffentlich etwas Reisefreude. Genieße und lerne nur soviel Du kannst. Ich küsse Dich innig und denke Dein mit tteuer Liebe; es ist so ein Auf­ erstehen der schönsten Zeit meines Lebens in meinem Lerzen.

Deine

S>.

Karl Schrader an seine Frau.

Nürnberg. 26. September 1880. Ich habe mich sehr gefreut, daß ich, als ich heute morgen nach 11 Ahr hier ankam. Deine Depesche schon vorfand, die mich über Dich beruhigte; ich habe Dir gleich den Empfang bescheinigt, und Du hast schon längst meine Depesche. Leute abend um 6 Ahr fahre ich nun nach Wien ab, wo ich morgen früh nach 6 Ahr bin. AmMorgen habe ich mich bei Groß zu einer Besprechung über die Eisenbahn-Ausstellung angemeldet, und abends oder schon nachmittags fahre ich dann nachPreßburg, da finde ich hoffentlich einen oder mehrere Briefe von Dir. So­ lange bin ich, glaube ich, noch nie ohne Brief von Dir gewesen. Ich bin sehr begierig, von Dir zu hören, wie sich, vielleicht auch, ob sich ge­ wisse Dinge entwickelt haben. Manches von dem, was ich gesehen, habe ich Dir gestern schon geschrieben, anderes erzähle ich Dir; ich will mir Mühe geben, alles zu behalten. Auch das letzte Werk von SchmidtSchnor-Zenberg bringe ich mit und zwar in zwei Exemplaren, einem geschenkten und einem schon vorher gekauften. Es ist eine neue Spezies der Novelle, eine pädagogische Novelle, höchst ungeschickt vom künstlerischen Standpunkte aus; aber viel Gutes über Pädagogik, Philosophie usw. enthaltend. Vielleicht schicke ich ein Exemplar der KronPrinzessin; sie liest es vielleicht inWiesbaden. Leute morgen vorTisch bin ich imGermanischenMuseum gewesen, natürlich habe ich eben nur durchlaufen können und gesehen, was ungefähr da ist. Jetzt will ich noch einen Gang durchNürnberg machen, dann geht es wieder in das Coupe zu einer Nachtfahrt. Was tust Du inzwischen liebe Frau? Hoffentlich grämst Du Dich nicht zu sehr über die Welt. Du solltest in den Anvollkommenheiten, welche sie Dir zeigt, nur eine um so stärkere Aufforderung finden, auf DeinemWege zurBesserung derMenschen fortzuschreiten, denn je mehr ich von praktischen Einrichtungen für erziehliche Zwecke sehe, desto mehr seh« ich auch, daß Du allen vorauf bist in dem Verständnis des Grund-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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notwendigen und in der Ausführung desselben. Andere wissen besser, die Gedanken zu formulieren; Du verstehst sie nicht allein aus dem

Grunde, sondern weißt ihnen auch die Form zu geben, welche sie für die

Ausführung bedürfen Darum muß ich und will ich Dir ernstlich helfen. Lebe wohl und sei gutenMutes und behalte recht lieb Deinen

Mann.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Berlin W. 27. und 28. September 1880.

Du bist ein so herzensguter, lieber Karl, Du schreibst mir so oft und so lieb, und ich sehne mich so nach DeinerRückkehr, obgleich mir die Zeit

in der Arbeit verfliegt. Mein gestriger Brief zeigt Dir, wie ich jetzt mein Schiff vor Anker gelegt, wie ich jetzt meine Arbeit eingerichtet habe in die Erziehungs­ faktoren, welche die menschliche Gesellschaft herstellt — und das ist ein

Glück, daß diese innere Sicherheit kommt, denn von allen Seiten droht

meinem Werke Zerstörung. L. scheint mit dem wahrscheinlichen Käufer*), einem Äerrn von der

BerlinerBank,gutFreund zu sein und aus des ersteren flegelhaftemVe-

tragen ahne ich nichts Gutes . . . . Wenn L. Vizewirt wird, dann geht

es uns schlimm, undWohnungS» ist Lebensfrage. Wir bekommen es nie wieder so gut, wie wir es haben, abgesehen von dem Garten. Von ** verlautet nichts, nur sagte mir Frau Friedemann, die Sonnabend im Kindergarten war, ihr Mann habe gar keine Loffnung, die Geldlieferung zu erhalten. Lieber Karl, eine Liebe tust Du mir noch oder läßt sie mich tun, das sehr ordentliche Anschreiben mit Auslagen

und Einnahmen, was mit andern zu tun hat .... Du mußt doch sagen, daß ich eine ganz andere geworden bin in bezug auf Geldangelegenheiten, ich habe wirklich jede Kleinigkeit in der Beziehung abgestreist; willst Du nun deinerseits das Übergroße einschränken? Ich denke soviel darüber nach, wie ich Dich und mich dazu von

manchem erlösen könnte — von der Vielgeschäftigkeit. Ich möchte mehr Zeit für Dich haben, denke nur, ich bin noch keinen Abend zum Zeitungs­ kleben für Dich gekommen. Gestern warL. bis 6 Ahr hier, Annette und *) Des Laufes Steinmetz-Straße 16 in welche der Berliner Verein für Volkserziehung seine Anstalt eingemietet hatte.

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ich begleiteten sie nach dem Brandenburger Tor; auf dem Heimwege, und als ich dann zum Abendessen ein GlasBier getrunken hatte, fiel ich vor Müdigkeit um. Die andern Tage war ich abends in Anspruch ge­ nommen. Ich möchte mich doch vom Verein für häusliche Gesundheits­ pflege losmachen .... Ich glaube, es ist in unserer Zeit auch eine besonders wichtige Sache, das, was man tut, gründlich zu tun. Ich bin keine Natur, die Massen bewältigt, einmal ist meine Gesundheit nicht danach; dann istDenken auch eine Arbeit, und endlich ist das Bedürfnis meiner Natur, das einzelne auszubauen, und ich möchte eine Sache gut machen und mich der Persönlichkeiten, mit denen ich bei der Arbeit zu tun habe, annehmen. Mit Dir ist es ganz anders; Du bist soviel leistungsfähiger als ich, soviel beweglicher, aber — denke auch einmal in sonst langweiligenReisestunden darüber nach, was Du wirklich bewältigen kannst. Die Politik scheint für Dich sehr wichtig. Du mußt von oben herab die Zügel mit­ halten und führen; ich sehe, wie alles auf gut Freund und Verbindung ankommt, und wer soviel Talent besitzt, wie Du, zum wahrhaften Herrschen, zum Benutzen von Einfluß und Macht, der muß sie zu ge­ winnen suchen. Aber mache Dich frei von Dingen, die im Augenblick nicht gehen und allein auf Dir ruhen, wie z.B. der häusliche Gewerbe­ fleiß, laß Dich nicht in die Lumboldtakademie ein, und überlege Dir, was sonst an Dir herumbummelt.Natürlich muß Dich Deine Eisenbahn­ stellung zuerst heben, damit hängt aber Politik innig zusammen. Wir stehen jetzt schon sehr im Berliner Leben, viele Fäden sind uns in die Land gewoben — laß uns jetzt fest unsere Position fassen, mit unsern Verhältnissen und Kräften rechnen, ernst und gründlich. Um meine Gesundheit sorge Dich nicht, ich fühle mich wirklich recht wohl, der Hals wird besser, und übrigens geht es gut. Glaube nur, ich bin eine Katze in bezug auf Zähigkeit, ich sterbe nicht. Ich habe so das Bedürfnis eines frischen, tüchtigen arbeitsreichen Lebens, aber nur um Gotteswillen nicht so eine Vielgeschäftigkeit; so etwas ist mein Tod. Ich glaube auch nicht mehr an die Nützlichkeit von Reden, d. h. wenn ich durchWorte wirken will, so muß ich schreiben. Du könntest mir kein schöneres Geschenk von der Reise mit zurückbringen, als einen ernst durchdachten Arbeitsplan, aus dem die Rücksicht für mich gestrichen ist. Endlich, endlich soll ich wohl genug gebüßt haben für den Unverstand der ersten Jahre unserer Ehe; da wolltest Du, was ich jetzt ersehne. Du hieltest mich für reif für etwas, wofür ich jetzt

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erst reif bin. Du hast Dich nicht getäuscht in bezug auf meine Anlagen, wohl aber in bezug auf Entwicklung derselben, und weil ich gereist bin, darum verstehe ich Dich in DeinerNatur, verstehe Dich täglich, stündlich besser. Die Schattenseiten Deiner Großartigkeit lichtet man nicht durch kleinliches Wesen — überhaupt der Mensch wird nicht veredelt durch Lerumzerren an einzelnen Punkten seine-Wesens — nein, man muß hn ganz aufnehmen, liebevoll in die Seele, liebevoll in die Arme schlie­ ßen, mit vollem Verständnis ihn im Kerzen tragen, das Schöne in ihm pflegen. So durchglüht und durchleuchtet es schließlich die Schatten, die noch dunkel waren. O Karl, wenn Du nur wüßtest, wie so ganz anders meine Seele Dich liebt und versteht als früher.Nie habe ich Dich verloren; aber ich kannte Dich nicht, so wie ich Dich kennen lernte. Du

wärest mir, was die ganze Entwicklung Deines Wesens sein kann, und Du bist mir jetzt das Schöne, was der Kern Deines Wesens in sich faßt; sieh und ohne Resignation (diese hasse ich in der Liebe), ich fühle mich von Tag zu Tage mehr in Dir, ich fühle di« Ehe wachsen und sich ent­ wickeln. Nein, in bezug auf Dich kann, will ich nicht resignieren, und Dir zu Liebe kann ich noch vieles ablegen und vieles werden, und daran fühle ich die Macht und Größe und Fülle der ehlichen Liebe; aber denke, wenn Du oder ich gestorben wäre, ehe wir einander so erfaßten? Über­

haupt denke ich oft, welche Gnade ein langes Leben für den Menschen ist, der unaufhörlich an seiner (sittlichen) Bildung arbeitet, und dann muß ich an Adolfs Grab denken und weinen. Doch nun lebe wohl, es war so reizend gestern, unsere Korrespon­ denz per Telegramm und heute Dein lieber Brief und die Karte und so vieles darin. Ich bin sehr gespannt, wie sie in der „Sonnenblume" die Resultate erreichen; sage ich nicht immer, daß es ein Fluch ist, daß man immer so viel „zeigen" will? Leute gehen wir zum Kaffee zu Mariechen Koch. Lebe wohl, An­ nette und ich sind sehr gemütlich in Deiner Stube; komme bald wieder zu Deiner L. 28. September. Denke Dir, Karl, das Veste ist, wir fassen festen Boden im Volke. Annette hat gestern Eltern besucht und kam bestiedigt nach Lause. Eine Portierstau hat unsere Sammelliste bekom­ men und selbst etwas gegeben und das ganze Laus dazu gebracht, weil sie ein Kind im Kindergarten hat. Ein Schuster, Vater einer Schülerin,

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hat 24Mark gesammelt, weil er von seiner Tochter gehört hat, daß der Verein Geld braucht. Drei andere Frauen wollen ihre kleinen Mädchen ganz bei unS lassen, damit sie einmal Kinderpflegerinnen werden, und sie haben gesagt, daß die Mädchen so gern im Kaufe helfen, und dann sehnen sie sich so nach den Abendvorträgen, besonders auch nach mir. Ja, Karl, das muß ich wieder anfangen, das ist ein Erfolg, und in einer solchen Wirksamkeit muß man alle (stürme nach außen ruhig ertragen. Dein Dries gestern, in dem Du sagst, daß ich.dasRechte habe, hat mich so beglückt. Zusammengenommen mit den Erfahrungen, die ich jetzt mache in mir und an anderen, will ich — wollen wir alles daran setzen, die Sache aufrecht zu erhalten und zu fördern. Aber meine Stunde schlägt. Koffentlich bist Du in Preßburg und hast viele Briefe von mir. Lebe wohl, mein Kerz, es küßt Dich Dein treues anderes Kerz, K. An Frau Luise Fröbel.

Berlin W. 9. Oktober 1880. ................... In l*/z Jahren feiern wir Fröbels hundertjährigen Geburtstag, wenn wir doch einander näher wohnten, dann wollten wir zusammen eine Denkschrift verfassen. Wir müßten jetzt damit be­ ginnen. Ich komme nicht zu schriftstellerischer Arbeit, ich gebrauche dazu Ruhe, und mein Leben ist hier zu verschiedenartig in Anspruch genom­ men; es ist zur Sammlung nicht gemacht. Im Sommer soll ich immer eine Kur gebrauchen gegen rheumatisches Leiden, im Winter geht die Anruhe wieder an, aber unsere Anstalt schreitet still und sicher fort, und ich habe, außer Annette, acht Hilfskräfte unter mir und einhundert Kinder, dazu acht Schülerinnen im Kursus, der immer noch nicht öffent­ lich ist, aber vielleicht zu Ostern wird. Einen großen Teil der Stunden fiir die Schülerinnen gebe ich selbst, und so kannst Du denken, daß ich viel zu tun habe An Mary Lyschinska.

Berlins. Februar 1881. .................. Ich würde es gar nicht Bescheidenheit, sondern Ko­ ketterie mit Bescheidenheit nennen, wenn ich mir in meinem Alter nicht bewußt träte, worin meine Aufgabe besteht, und daß sie sehr wichtig ist. Es kommt alles darauf an, daß ich noch eine Zeit lebe und gesund bin, d. h. arbeitsfähig.

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Durch die Entwicklung unserer Elementarklafsen stellt sich die Auf« gäbe des Kindergartens erst recht klar, und daraus wieder die Aufgabe der Mutter und mütterlichen Erzieherin. Zurückhaltung üben, ein Kind mehr lieben als uns selbst, daS ist wahrlich die Sache, auf der alles be­ ruht. Es schleichen sich so grobe Fehler in die Kindergarten-Methode ein, man spricht ewig von dem „entdeckten Entwicklungsgesetz" und einer ihm entsprechenden „Methode", aber Gesetz erfordert nicht immer Syste­ matik, Syminetrie oder wie ich es nennen soll. Man kann sich auch nicht direkt auf den Beruf einer Erzieherin vorbereiten, denn gerade das Erfassen des Augenblicks und Gestalten desselben ist das Wirksame, und nicht immer ist die direkte Einwirkung auf das Kind das rechte, sondern das Schaffen des Bodens, in dem das Kind gedeihen kann; man soll zwar streben, vieles über das Kind zu wissen, aber man darf nicht alles bemerken, ja, man muß Anarten zur Zeit übersehen können. Man hat eben das große Problem zu lösen, daS frische Zuströmen der Naturkraft in die Seele des Menschen nicht zu hemmen, und ihn doch zu erziehen zur christlichen Liebe, zum Menschen der Gesellschaft, der sich ein- und unterordnen kann, und ich glaube, ich kenne den Weg. Es löst sich bei nur so vieles in die einfachen Elemente. Unsere Arbeitsklasse, die sich zur Flickschule erweitert hat, zählt seit gestern elf Kinder, und zur Elementarklasse sind vier Kinder aus dem Volke angemeldet; die Mütter haben aus dem Kaushaltsgelde dafür ge­ spart, da die Väter nichts geben mögen für „Mädchen" und die Ge­ meindeschule frei ist. Annette und ich haben süße, reine Freuden und küssen uns oft „imNamen des heiligen Fröbel", wie es in einem Theater­ stücke heißt, welches Komiteedamen verspottet. Wir haben nun eine Änderung der Statuten vor für unsern Kindergartenverein, um ihn zum „Verein für Volkserziehung" zu erweitern. Ich muß schnell die Flickschule einrichten, damit Tatsachen sprechen. Da haben wir von achtjährigen kleinen Mädchen so hübsch gestopfte Strümpfe (vorbereitet durch das Flechten), und andere Flickarbeit; im pädagogischen Abend ist das Volkserziehungshaus beschlossen. And nun muß ich Diners essen und geben, um Geld zu gewinnen für unser neues Werk, und dazu muß ich erst gestopfte Strümpfe und geflickte Lappen haben. Ich will aber den natürlichen Tätigkeitstrieb der Kinder zu rechter Zeit fassen, nähren, bilden; die Mütter im Volke haben dazu kein Ge­ schick, keine Zeit, keine Geduld.

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Ich will die Arbeit adeln, ihr ein heiteres Gepräge geben, ihrErzeügnis zur liebevollen, schönen Verwendung bringen; das bildet Ge­ müt und sittlichenWillen naturgemäß — aber durch Bällchen schwingen nach System und fingen: „Ein Ganzes, zwei Kalbe", usw. kommen wir nicht dahin; die gehören in di« Schul«. Im Kindergarten sollte das Spielgesetz scheinbare Willkür sein, wie ein jungfräulicher Wald sein — die Fröbelianer beschneiden ihn zum französischen Garten. Doch ich muß fort; ich habe um 12 Ahr Gesundheitsvereinskomitee und um 5 Ahr großes Diner. Tausend Grüße, Deine Ä.

An Fräulein Amalie Sohr. Bad Landeck i. Schlesien. 30. Juli 1881.

Ich habe hier mit- meiner Freundin, Annette Schepel, ein köstlich ruhiges Fleckchen gefunden, und so viel ich bis jetzt urteilen kann, ist Landeck das gemütlichste Bad, welches ich kenne Diesen Brief schreibe ich auf dem Balkon unseres kleinen Nestes, das wir un­ behaglich eingerichtet haben. Wohin ich komme, tue ich meinMöglichsteS, ein wenig Behaglichkeit und Karmonie in der Zimmereinrichtung zu schaffen, sei es auch in bescheidenen Grenzen. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, hier nicht zu denken, sondern zu vegetieren und einmal wieder wie eine Pflanze im Boden derNatur zu wachsen und unmittelbar in mich aufzunehmen. Ich habe mich schwer losgerissen von meinen Mappen, Schriften, Büchern, von der Atmosphäre, die mein Leben und Arbeiten um mich webt; ich hatte es überwunden, den Sommer nicht in derNatur zu sein, aber mein geliebter Mann und meine teure Freundin drangen darauf, daß ich von Berlin fortging, denn die Sammlung und Ruhe, die ich mit Tränen ersehnte, wollte sich in Berlin doch nicht finden.kNun bin ich in diesem lieblichen Tale, dessen Reize sich schmeichelnd und liebkosend um das Lerz legen, und hier erwacht das alt« Verhältnis zurNatur wieder Wenn ich nur wüßte, wie es mit meinem Manne wird; kurz vor meiner Abreise kam wieder ein Kaufgebot vonMaybach.Natürlich gibt es da viele Konferenzen fi»rmeinenMann,und er konnte mir nicht sagen, wann und auf wie lange er zu mir kommen kann. Ebenso steht es mit seiner Stellung zur Politik. In Braunschweig hat sich ein bitterer Parteikampf erhoben gegen die Sezessionisten. Sie nennen meinen Mann einen Radikalen, «inen Amstürzler und schreien:Wählt einen Kandidaten, der unterRu-

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dolf Bennigsens Fahne treu und fest zu Bismarck, Kaiser und Reich hält. Braunschweig ist ein Sumpf, einige Familien regieren dort, und die jüngeren Kräfte, die meinenMann aufstellen und die etwas gesunden 'Menschenverstand beweisen, dringen vielleicht nicht durch. Mein Mann kann wenig oder gar nichts tun für seine Wahl, da er nie seine übernommenenPflichten bei derAnhalterBahn vernachlässigen wird, die jetzt wieder einem kritischen Moment entgegengeht, und so ist es sehr zweifelhaft, ob mein Mann nicht unterliegt in Braunschweig Ich möchte vor allem eins berühren, was mir auffiel in Ihrem letzten Briefe. Sie sagen: Sie müßten zugeben, daß sich „sehr viel Idealismus in der Fröbelschen Erziehungsweise fände, die aber manches Reale geschaffen habe". Lallen Sie denn auch Idealismus undRealismus für Gegensätze, die sich gegenseitig ausschlleßen? Muß ein Idealist ein unpraktischer Mensch sein? Ich meine, Idealismus undRealismus gehören zueinander, wie Geist und Leib. And wie der göttliche Geist den göttlichen Leib der Well baute, so baut auch die Idee, das Ideal, das Urbild die wahre Praxis, die wahre Realität. Eine Idealität, die nicht zu realisieren ist, verdient nach meiner Anschauung nicht denNamen Idealität — sondern sie ist Phantasterei. Weil aber Fröbel nicht immer glücklich in der Wahl seiner Form war, so ist er doch deshalb kein Phantast! Ich möchte es fast beklagen, daß er die Kindergärten geschaffen und nicht lange genug gelebt hat, um den Kindergarten einzureihen in einen Erziehungsorganismus, der ein Ganzes bildet, wie unsere Anstalt in der Steinmetzstraße 16 schon zum Teil ist, zum Teil noch werden wird. Ein isolierter Kindergarten ist ein Unding, und ich harmoniere ge­ wöhnlich mehr mit den Leuten, welche die bestehenden Kindergärten angreifen, als mit denen, welche sie loben. Aber die Fröbelsche Erziehung erschöpft sich doch nicht im Kindergarten? Sie basiert auf der Pestalozzischen Anschauung vom menschlichen Wesen, daß man den Körper von vornherein als Material, nicht als Futteral des Geistes behandeln soll, und daß die ausübende Tätigkeit des Kindes gleicher Beachtung, gleicher Leitung bedarf, wie die aufnehmende; daß man den Gestattungsstoss für das Kind zu ordnen hat, wie den Lernstoff. Dies ist gerade jetzt

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um so nötiger, wo das Leben der Menschen, die Fabriken und die Mmgestaltung der Lauswirtschaft, das Anwachsen der großen Städte den Kindern und jungen Leuten immer mehr Boden entzieht. Sie sollen am Stoffe gestaltend wirken, die Glieder entwickeln, den Schöpfungs­ trieb vergeistigen; die Behandlung des Körperlichen in Rücksicht auf das Geistige ist von so unendlich hoher Be­ deutung, daß ich nicht begreife, wie man sich dagegen die Augen verschließen kann. Wenn ich mit meiner Weltanschauung von der menschlichenNatur jetzt, ohne Fröbel und Pestalozzi gekannt zu haben, ihrem Geiste und ihren Schöpfungen näher trete, so würde ich mich vielleicht mitWiderwillen von den meisten Kindergärten abwenden, aber dieMethode Fröbels mit Entzücken begrüßen als die erste Landhabe, die christliche Idee von der Vergöttlichung des Menschlichen und der all­ gemeinen Menschenliebe zu realisieren. Es ist eine ganz andere Frage, ob man Kindergärten billigt oder ob man die Fröbelschen Erziehungs­ ideen und deren praktische Ausführung akzeptiert. Fröbel hat auch für die Familienerziehung eine neue Grundlage gegeben insofern, daß die Eltern ihr Augenmerk richten auf den rechtenRaum und den rechten Stoff, an dem die Kinder ihre herauswirkende Tätigkeit üben, und daß die Eltern zu rechter Zeit und mit rechtem Maße die Lilfe leisten, ihr Kind in der Schaffensfreude zu erhalten. Doch das sind alles nur Bruchstücke, und es kann vielleicht wenig helfen, die Sache ins rechte Licht zu stellen. Ich muß sehen, ob mirMuße, Ruhe und Geschick zu Gebote stehen, ausführlich über die Sache zu schreiben. Mich kann es nicht im mindesten irre machen, wenn selbst geistreiche Leute wieLerrBaron von Stockmar und andere sich gegen Kindergärten erklären, im Gegenteil, ich täte wahrscheinlich an ihrer Stelle dasselbe, nur müssen sie nicht sagen, daß sie Fröbel, dessen Welt- und Lebens­ anschauungen kennen. Auch gegen diese können geistvolle Menschen ein­ genommen sein; kann ja der Materialist, wenn er konsequent sein will, die Grundidee des Christentums nicht akzeptieren und der orthodox Kirchliche nicht die wissenschaftliche Erfassung des Iesulebens und der Iesulehren. Aber niemand, der sichMühe gibt, sich in die zarten Anfänge des sich entwickelnden Kindesgeistes zu vertiefen, niemand, der den mikroskopischen Blick hat für die Zellen des Geisteslebens und damit Pesta­ lozzis und Fröbels Erfassung der kindlichenNatur vergleicht, kann gleich­ gültig bleiben.

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Es ist eine tiefe Philosophie in Pestalozzis und Fröbels Werken, freilich nicht für den Schöngeist, denn man hat viel Unschönes und Über­ flüssiges in der Form zu überwinden Diese Fröbelschen Beschäftigungen (wenn sie nicht zur Karikatur werden sollen), bedürfen einer zarten Land, eines mütterlichen Äerzens. Ein Mann konnte Schöpfer der Idee sein, nur eine Frau kann dem Kinde Fleisch und Blut geben, nur sie kann die rechte Form finden, denn sie ist nur in der weiblichen Empfindung zu erfassen; nur eine Frau kann das Eckige und Schwulstige, was Fröbel selbst hat, das gerippenhaft Mathematische in seinen Beschäftigungen hinwegnehmen und die Anmut geben, die unzertrennlich ist vom kindlichen Wesen

Daß in Eisenach eine Fröbelsche Ausbildungsschule für Kinder­ gärtnerinnen besteht, wußte ich nicht, ich kenne aber die Kindergärtnerin Fräulein Trabert. Sie haben ganz recht, wenn Ihnen der Kindergarten dort gefällt; er ist zwar nicht, was er nach meiner Auffassung sein soll, ein alleinstehender Kindergarten ist immer mehr oder weniger ein Anding — aber die Kindergärtnerin ist noch eine Schülerin Fröbels, sie ist sehr einfachen Geistes, vielleicht beschränkt in mancher Beziehung; aber sehen Sie, da haben Sie den Beweis, wie Fröbels direkte Einwir­ kung erfolgreich war. Fräulein Trabert hat ihrKerz getränkt an Fröbels Eingabe und Begeisterung, es ist ein Etwas in ihr entzündet, dieses ünmittelbare. Mütterliche, und dieser sichere Kontakt mit der kindlichen Natur. Aber diese alten, direkten Schülerinnen sterben aus, und da sie nicht in der Erkenntnis ergreifen, was sie im Gemüte erfaßten und festhielten, so stirbt mit ihnen auch der Einfluß Fröbels auf die Kinderwelt. Was Gemeingut der Gesellschaft werden soll, muß als Gedanke begründet und klargestellt werden, und die einzig richtige, immer frische Praxis muß sich stets aus der Idee erneuern.

Aber meine Freundin hier ist böse mit mir, daß ich so viel schreibe; in der Tat bin ich durch eine Badekur immer erregt und Schreiben macht mein Lerz zittern. Lassen Sie mich hören, wie es Ihnen geht. Ich erwarte meinen Mann Donnerstag, mit meinen besten Wünschen für Sie, bin ich Ihre ergebene L. Schrader.

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Lenriette Schrader an ihren Mann.

Bad-Landeck i. Schlesien. 1.August 1881. .... Von hier weiß ich nichts zu sagen, wir leben unser stilles, friedliches Leben, ganz nach Wunsch dahin. Wir scheinen in ein sehr ordentliches Laus gekommen zu sein, die Leute tun artig ihre Pflicht, alles, was man genießt, ist ordentlich, z. B. haben wir köstlich frische Eier; aber es ist sehr bürgerlich, die Zimmer klein, ohne jede Eleganz . . ich würde sehr gern hier bleiben, wenn ich wüßte, daß Du Dich hier wohlfühltest, aber ich ziehe auch gern um, wenn Du willst .... Landcck, oder wenigstens hier imLause ist wirklich ein Ort, wo man sich ausruhen, besinnen kann Was meine Arbeit betrifft, bin ich innerlich sehr beruhigt über dieselbe .... Die Pestalozzi-Fröbel-Ääuser sind die Form, um die P.-F.-Methode auszuführen, um ein Stück Familienleben in die öffent­ liche Erziehung zu verpflanzen; aber nun kommt es auf den Geist an. Dieser Geist erzeugt sich aus einer innigen Verschmelzung der Jesuidee und deS JesulebenS mit den Errungenschaften der Naturwissenschäft. Es kommt alles darauf an, von vornherein die sinn­ liche Natur des Menschen richtig zu erfassen; Pestalozzi und Fröbel haben dies so klar geschaut; aber die einseitige, materialistische Anschauung oder die dualistische und der fast gänzliche Mangel an Eesellschastsgewissen steht der Erkenntnis und Betätigung in bezug auf die neue Erziehung entgegen. Ich habe wenig Hoffnung für die Ver­ breitung der Pestalozzi-Fröbel-Läuser, es strebt alles nach einseitig intellektueller Bildung

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 2. August 1881. . ... Ich fürchte, daß es mir nicht möglich wird bis morgen abend hier ganz frei zu werden; ich telegraphiere Dir morgen mittag, wie es mit mir steht; gewiß denke ich aber Donnerstag abend zu reisen. Mache Dir keine Sorge um dieWohnung, und wenn es Dir in dem Laufe und den Zimmern, welche Du jetzt hast, gut zu sein scheint, so laß uns ja darin bleiben. Ich möchte nur einen Tisch zum Schreiben haben, mehr verlange ich nicht. Leider werde ich nicht frei von Arbeit sein; ich muß noch mancherlei inSachen unserer Verstaatlichung vorbereiten, und

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ich fürchte, daß mich auch die Wahlangelegenheiten *) noch beschäftigen werden. In Braunschweig wird weiter geredet und gezankt, und immer wieder hört man dieselben unklaren Phrasen. Durch das viele Reden kommt aber eins klar heraus; nicht zwischen nationalliberal und sezessionistisch, sondern zwischen rechts, rechts, rechts nationalliberal und liberal ist der Streit. * * * hat einen Brief geschrieben, in welchem nichts steht, und nun halten ihn anscheinend viele Leut« für liberal. Meinetwegen. Gestern abend war ich noch lange mit Falk zusammen. Von ihm habe ich gehört, daß Bennigsen ablehnt einen gemeinsamen, liberalen Wahlauftuf zu unterzeichnen, während die Fortschrittspartei, auch Richter sich dazu bereit erklärt habe. F. sprach gestern geradezu aus, daß B. sich so verhalte, um Minister zu werden; ob das richtig ist? Sind eigentlich Bambergs noch da?Wenn so, so grüße sie herzlich. Viele Grüße an Annette An M. Lyschinska.

Bad-Landeck. 14. August 1881.

. ... Ich werde folgende Punkte bearbeiten, und ich dachte. Du solltest sie auch aufnehmen: 1. Die Leute, welche sagen, das Familienleben sei der günstigste Boden für die Kleinkindererziehung, haben ganz recht; aber im allge­ meinen wissen die Leute nicht, weshalb sie recht haben, noch viel weniger wissen sie das Erziehungsmarerial, welches das Familienleben, der Fa­ milienhaushalt bietet, zu benutzen. 2. Was ist die Familie in der heutigen, zivilisierten Gesellschaft, was hat sie zu tun? (Siehe Schäffle „Bau und Leben des sozialen Körpers", vieles von ihm ist zu benutzen.) 3. In der richtigen Laushaltskunst (und richtig Laushalten ist eine Kunst, die noch längst nicht genug geübt wird) liegen die wichtigsten Erziehungsmomente für das Kind gegeben. Dem Kinde Teil zu geben, je nach seinen Kräften, an der häuslichen Arbeit ist unsere Aufgabe. 4. Unser Leben ist nichts anderes als ein Umsetzungsprozeß, ein Individualisierungsprozeß des Stoffes. Der Stoff, der uns im eigenen Körper gegeben ist, zu bilden in Rücksicht auf *) Karl Schrader wurde als Reichstagskandidat in Braunschweig in diesem Jahre zum ersten Male aufgestellt.

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Kapitel 4:

geistige Interessen ist die neue Erziehung von Pestalozzi und Fröbel, und dazu bietet keine Veranstaltung derWelt so reiches Material, wie die Kaushaltungskunst, welche inNücksicht aufPersönlichleiten geführt wird, denen wir ein edles Dasein schaffen wollen, denn gerade in der edeln Familie tritt die Individualisierung des Stoffes am schönsten hervor und liegt vor allen Dingen in der Land der Frau. 5. Nun lies Pestalozzi, was er über das Familienleben sagt: „Das häusliche", d. h. örtliche Verhältnis des Zusammenlebens vonWeib und Kind ist an sich weder sittlich noch unsittlich. Es bietet seinerNatur nach denen, die ihn ergreifen können, Stoff zur sittlichen Bildung dar, aber derMensch im häuslichen Leben ist frei, diesen Stoff sittlich zu ergreifen, oder nicht. Das häusliche Leben ist nur insofern bildend, als die Perfönen, durch die ein Laus gegründet, selbst häuslich gebildet sind . . . Sind sie unsittlich, unterliegen sie dem tierischen Sinn unseres sinnlichen Verderbens, so unterliegt auch das Laus demselben und hört auf ein menschlich bildendes Laus zu sein .... In welcher Form es auch dastehe, .... ob imWohlstande oder in der Armut .... das Laus wird kein, die edlenKräste derMenschennatur erhebendes und bildendes Laus."*) 6. Das ist aber die große Würde desMenschen, daß derMensch nicht örtlich an den Stoff gebunden ist, sondern bis zum gewissen Grade den Stoff, wo er ihn findet, geistig gestalten kann. Die Kunst beweist dies, was wir eigentlich unter Kunst verstehen. So kann das wahre, edle Weib bis zu einem gewissen Grade die Bedeutung des Familienlebens schaffen, und Annette wird es tun in demPestalozzi-Fröbel-Lause. And auf dieser geistigen Freiheit des Menschen beruht die Möglichkeit, ein Stück Familienleben in die öffentliche Erziehung zu verpflanzen. And daß die Kinder dort an den Arbeiten, den Freuden und Sor­ gen des Laushaltes tcilnehmen, das ist die Grundlage der neuen Er­ ziehung. Pestalozzi-Fröbel-Läuser bedürfen wir für Reiche und Arme. Die Reichen haben noch weniger Gelegenheit, ihre Kinder dienen zu lehren: „Dienen lerne beizeiten der Mensch (das Weib) nach seiner Bestimmung; denn durch dienen allein gelangt er endlich zum Lerrschen", das ist das wahrsteWort, was Goethe gesprochen. Wir haben diesesPrinzip in unsermKindergarten, dieKinder tun a n, oder für den Gegenstand selbst, das Nötige, oder durch ihn für andere. Jetzt will man alles von fickh an, viel zu früh, vermittelst der Er-

*) „An die Anschuld" . . . Band XII Seite 239.

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kenntnis zwingen; was die Erkenntnis erst leisten wird, wenn der Stoff bezwungen ist— das machen sich dieMenschen nicht klar. Also, ob Kindergarten oder Pestalozzi-Fröbel-Läuser oder nicht, das ist nicht die erste Frage, sondern die erste Frage ist: Übung der Glieder- und Sinnentätigkeit, also Übung am Stofflichen, Körper­

lichen, nicht in erster Linie zu Erkenntniszwecken, sondern einfach um den Stoff zu beherrschen inRücksicht auf den Geist, auf die Liebe; denn was das Kind darstellt, schafft, hängt wieder mit andern zusammen, es schafft in schönen Verhältnissen, und die Triebe, welche gerade in der 'Muskelbewegung ihren Ausdruck finden, werden unwillkürlich veredelt, es wird der sittliche Wille vorbereitet und dem Erkenntnisleben eine wirkliche Grundlage gegeben. Mit dieser neuen Erziehung hängt eine ganz neue Art und Weise der Bildung der Erzieherinnen zusammen. Nicht dasWissen einzelner Tatsachen macht die Erzieherin, sondern das Verständnis des Ent­ wicklungsgesetzes in derNatur und Geschichte, und die technische Fertig­ keit in haushälterischen, gewerblichen und künstlerischen Dingen, Gärt­ nerei usw., sowie der lebendige Verkehr mit Kindern unter einer wahr­ haft mütterlichen Erzieherin. Die technischen Fertigkeiten beziehen sich nur auf die Anfänge, die Kinder sollen sich ihr Spielmaterial selbst schaffen lernen. Locke sagt schon, man sollte nie Spielzeug kaufen; das führt die Kinder in Kunst und Gewerbe ein, die Großen schaffen für die Kleineren, dieNcichen für die Armen. Ich werde meinen ganzen Kursus umwerfen, wie, das schreibe ich später. Wenn wir dem Volke Freude an der Arbeit geben, so lösen wir den Fluch, mit dem wir aus dem Paradiese getrieben worden sind: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch «inNadelöhr gehe, als daß einReicher ins Himmelreich komme" — ja, weil derReiche gewöhnlich faul ist. Der Arme hat aber noch den Fluch der Arbeit, weil er nicht weiß, wie er arbeiten soll; er arbeitet zu unvollkommen und zu unschön, und darum ist es ihm eine Last. Natürlich muß noch «in Ausgleich geschaffen werden, der Arme arbeitet zu einseitig hier, wie derReiche da. Die Jugend muß dienen, ob reich oder arm, vornehm oder gering. Es steht uns eine große Umgestaltung in der Erziehung bevor; ich erlebe sie nicht. Du vielleicht. Halte nur fest an der bewegenden Grundidee; aber suche sie mundgerecht zu machen, wechsele großes Geld in kleineMünze

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An A. Sohr. August 1881. Ich freue mich sehr, daß Sie nun an eine neue Arbeit gehen werden, die das Gebiet*) betritt, auf dem ich so recht eigentlich mich zu Lause fühle, auf dem ich jahrelang gearbeitet habe nach den verschiedenen Richtungen hin. Es ist das Gebiet der Volkserziehung in bezug auf die weibliche Jugend und Ausbildung erwachsener junger Mädchen zu Er­ zieherinnen auf dem Grunde entwickelter und gebildeter Lausmütterlichkeit. Erzieherinnenbildung und Kindheits- und Iugendbildung sind un­ zertrennlich miteinander verbunden, die Erziehung ist nur in der Theorie eine Wissenschaft, aber in der Ausübung eine Kunst, und die Kunst erlernt sich durch Tun. Wenn von Fröbel dieRede ist, so denkt man meist an ihn als Schöp­ fer der Kindergärten, während diese Anstalten, wie sie jetzt meist organi­ siert sind und wie sie so zusammenhangslos mit andern Erziehungsfak­ toren dastehen, kaum von wesentlichem Nutzen sind für die menschliche Gesellschaft und wenig oder gar nicht znrNealisierung dessen beitragen, was Fröbel eigentlich wollte. Von der zweiten Schöpfung, welche Fröbel uns hinterlassen hat, seiner Ausbildungsschule für mütterliche Erzieherinnen, ist fast nie die Rede ....... In der Steinmetz-Straße 16 ist eben eine solche Mütterschule voll ausgebildet in der Anlage Es würde von größtemNuhen sein, unsere Anstalt mit mehr Geld­ mitteln zu unterstützen, um folgende neue Einrichtungen zu machen: 1. Den Spielsaal zu vergrößern, damit die Kinder auch im Winter mit Sand,Lolz, Steinen und bergt einfachemMaterial abwechselnd frei spielen können. Es ist derNatur des Kindes angemessen, daß es sich selbst sein Spielzeug häufig wählen kann, nicht soviel sitzt im Kinder­ garten. Die Fröbelschen Beschäftigungsmittel sind mehr Arbeits- als Spielmaterial für die Kinder; die Bewegungsspiele mehr Turnübungen unter gefälliger Form, als eigentliche Spiele. 2. Aufnahme einiger Waisenmädchen von 2x/a—8 Jahren, um damit die Schülerinnen des Kursus vollständig zu wirklich praktischen

*) 21. Sohr gründete eine Zeitschrift: „Die Frau im gemeinnützigen Leben", worin das Pestalozzi-Fröbel-LauS beschrieben wurde.

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Glühen der Lausfrau auszubilden, was sich so schon mit der Kinder­ pflege vereinen läßt. Anmerkung. Die Waisenkinder würden nach dem achten Jahre die Gemeindeschule besuchen, und daneben in der Anstalt eine gute Er­ ziehung erhalten auf Grundlage hauswirtschaftlicher Tätigkeit. Auf diesem Wege würden wir die Aufgabe vollenden können, ein Stück Familienleben in die öffentliche Erziehung zu verpflanzen, welche zum Zwecke hat, Mädchen aller Stände zur wahren Lausmütterlichkeit zu erziehen. Somit fördert man das Familienleben durch Erziehung, wozu in den Familien nicht immer Gelegenheit ist. Fröbel ist großartig und neu, d. h. aufPestalozzi ruhend in seinen Grundgedanken; aber in der Ausführung des einzelnen zu doktrinär, zu tüftelnd. Ich habe mich eben an das erstere bei ihm gehalten; mit Lilfe Pestalozzis und mit Goethes Schrift: „Die Metamorphose der Pflanze" glaube ich eingedrungen zu sein in die Grundanschauungen Fröbels; von diesen aus habe ich, unbekümmert um Fröbels Einzel­ praxis, aus der Theorie eine Praxis entwickelt und glaube als echte Schülerin Fröbels zu handeln .......

An A. Sohr. Landeck in Schlesien. 23. August 1881.

.... Seit dem 15. ist unsere Anstalt wieder im Gange, und da wir gerade jeht die Einrichtung des Laushaltes meiner Freundin in der Steinmetz-Straße 16 vorhaben, so gab es viel zu schreiben. Wir hatten zwar einen ausführlichen Plan gemacht und wollten eigentlich bis zum September warten; aber es machte sich so besser, jetzt anzufangen. Ich werde Ihnen einige Stellen aus den Briefen meiner Freundin, Annette Schepel, abschreiben: „Ich will morgen unsere Küche zurecht machen; mehrere Mädchen begleiten mich jedesmal beim Einkäufen, sie sollen wissen, was die Einrichtung eines Laushaltes kostet, wie man gut einkaust usw. Dann tragen sie alles in das nach Deiner Angabe gemachte Inventarbuch ein, das sie unter meiner Aufsicht führen. Mathilde (die Aufseherin der häuslichen Beschäftigungen) habe ich das Kochbuch ge­ geben, sie muß über das, was wir gerade vornehmen, nachlesen, es sind für sie noch manche gute Winke darin; ich nehme dann alles mit ihr durch. Es macht sich sehr gut mit den häuslichen Beschäftigungen, ich lasse die Mädchen alles tun, was vorkommt, z. B. hat A. T. das Paket für Euch Lyschinika, Henriette Schrader n.

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Kapitel 4:

mit gemacht, es ist erstaunlich, wie wenig geschickt dieMädchen im ganzen find, und wie wichtig ist es für eine Erzieherin, daß fie dieVorkommniffe

deS Lebens beherrschen kann" „Die Speisung der armen Kinder mit dem Aufwaschen und allem,

was dazu gehört, ist eine Arbeit, die durchdacht und gut organisiert werden muß, da die Kinder helfen; aber es macht sich ganz gut. Auch

die jungen Mädchen müssen ordentlich decken zum Frühstück um 1 Ahr; fie bleiben nun, wie Du es angeordnet hast, den Tag hier, bis sie mit ihren Arbeiten fertig sind; sie fügen sich sehr nett in alles und schicken Dir herzliche Grüße. Wie dankbar bin ich Dir, daß Du mich zu allem so

angeleitet hast, so daß ich mit Freuden alle diese Dinge mit den jungen

Mädchen tue"

Sehen Sie aus diesenNotizen, liebes Fräulein Sohr, wie alles im Gange ist, und welchen Schah ich an meiner Freundin habe, ja, hätte

ich sechs bis zehn solche Schülerinnen, wir kämen ein Stück weiter . . . .

Eben habe ich noch einen Brief von Annette, sie schreibt: „Alle sind nett, vergnügt, gehorsam, sie finden sich in alles, was ich anordne, so ist alles in gutem Gange, Waschen und alle häuslichen Beschäftigungen

haben gut angefangen" Karl Schrader an seine Frau.

Braunschweig. 16. und 17. Oktober 1881. (Nachts 11 Ahr.) Du hast mich recht schlecht behandelt; wederBrief noch Depesche habe ich heute von Dir erhalten, während ich Dir gestern und heute telegraphiert und heute auch noch geschrieben habe. Ich will aber feurige Kohlen auf Dein Kaupt sammeln, indem ich Dir wenigstens kurz meine Erlebnisse von gestern und heute schreibe.

Ich habe also glücklich fünfWahlreden hinter mir, gestern, wie ich schon mitgeteilt, Meerdorf, Wendezelle und Oelper, heute Kremlingen und Sickte. Es ist eine Arbeit, die Seelenruhe, guteNerven und Kennt­ nis der Braunschweiger vorausseht, dazu die Fähigkeit, angemessene

Quantitäten Tabakqualm ohne Schaden zu verdauen, und in alle kleinen

Anbequemlichkeiten sich mit gutem Äumor zu finden. Gottlob habe ick

diese Kandidateneigenschaften und befinde mich vollständig wohl und munter, auch ganz guter Dinge. Es ist ja freilich gräßlich, immer int

wesentlichen dasselbe sagen zu müssen. Es ist wunderbar, wie wenig die Leute hier von allen den Dingen berührt sind, welche uns in Berlin be­ schäftigen; die Reaktion steht ihnen nicht nah genug, die Frage des

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Staatssozialismus ebenfalls nicht; sie haben nur Interesse für die prak­ tischen Fragen; Zölle, Steuern, Tabakmonopol und Schule und Kirche; bei letzterer steht ihnen aber die Gefahr auch noch nicht nahe genug zu ernstlichem Interesse. In vieler Beziehung ist das Bauern-Publikum schlimm; es ist sehr schwer anscheinend anzuregen; man kriegt wenig Bei­ fall aus ihnen heraus und kann sich auch nicht so recht auf sie verlassen; aber es ist wenigstens ohne Voreingenommenheit und steht den meisten Fragen ziemlich kühl gegenüber, weil es ihm sehr gut geht.Wenn man dies in Anschlag bringt, so ist der Erfolg der fünf bis jetzt gemachten Reisen gut. Die Leute sind alle mit mir zuffieden gewesen, obwohl ich ganz tapfer gegen Getreidezölle geredet und ihnen auseinandergesetzt habe, daß sie sie gar nicht nötig hätten. Privatim haben sie mir das an vielen Orten zugestanden, öffentlich hat niemand opponiert. Sogar die Landjäger, die heute zur Überwachung der Versammlung da waren, interessieren sich für meine Wahl und versichern mich nicht allein des besten Erfolges, sondern einer sagte mir auch, daß der Kreisdirektor meineWahl begünstige, nicht aber der Kreisrat Vogler. Ich habe viele Leute gefunden, die mit der bisherigen Vertretung Braunschweigs imReichstage unzufrieden sind, viele auch, die mit einer gewissen Begeisterung für meine Person eintreten. Die Braunschweiger Leute sind sehr tätig, bereisen alle Dörfer und betreiben meine Kandida­ tur sehr energisch. Über ein Dutzend L.eute — die alle so oder so auf den

Dörfern bekannt und befreundet oder verschwägert sind, gehen mit, reden mit den Leuten und dergl. mehr. Längt der Erfolg von ihrer Tätigkeit ab, so siegen wir. 17. Oktober morgens. Eben habe ich Deine Karte erhalten; ich hätte gern mehr von Dir gehört, aber ich bin doch zufrieden, daß das Wenige, was ich höre, gut ist. Mir geht es gut, ich bin etwas verschleimt vom vielem Tabaksqualm, aber das wird sich wieder geben. Morgen (Dienstag) fahre ich nach Walkenried, wo ich den Abend rede, dann am Mittwoch nach Lasselfelde, wo ich 8ühr abends rede, und Donnerstag denke ich wieder in Berlin einzutreffen. Sonnabend und Sonntag muß ich wieder hier sein, vielleicht auch noch Montag hier sprechen. Gestern mittag bin ich bei Ramdohr gewesen, die Frau ist sehr nett und hübsch; natürlich läßt sie Dich vielmals grüßen. Lebe wohl, liebe Frau, grüße Annette, und denke an Deinen armen Mann, der heute abend in Querum redet, den Tag über aber einmal Ruhe hat .......

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Kapitel 4:

Lenriette Schrader an A. Sohr. Berlin W. 19.November 1881. .... Leider kann ich Ihnen von mir nicht viel gutes melden;

ich habe vielleicht zu früh angefangen zu arbeiten. Jetzt fühle ich mich

noch immer kraftlos, vielleicht reise ich auf acht Tage aufs Land, ich sehne mich nach frischer Lust, und wenn ichMenschen sehe, werde ich see­

krank. So bin ich still zu Kaust und sammle von Stunde zu Stunde, wo ich Unterricht gebe, oder Geschäfte habe, Kraft, um diese zu ver­ richten.

Meinen Mann sehe ich kaum, seine Gewissenhaftigkeit läßt ihn doppelt skrupulös die Eisenbahnsachen besorgen, und dabei die vielen

neuenPflichten.*) Aber ich fühle, ich weiß, er ist an seinem Platze, sein

ganzes Wesen drückt dies aus; denn, obgleich mein Mann frei ist von jeder Eitelkeit und Ehrgeiz, so ist es natürlich, daß ein gewisserBollgenuß derBeftiedigung über denMenschen kommt, wenn er da steht, wohin er gehört — und mein Mann gehört ins große Leben, ich weiß daS;

Kräfte, die bisher nur im Innern Leben undBewegung hatten, werden sich nach außenhin entfalten, und mehrt sich die Arbeit, so mehrt sich

auch Schaffenskraft.

Wäre meinMann nicht meinMann, so könnte ich ihn beneiden um seine wunderbare Larmonie des Körpers und Geistes, um dies herrliche,

köstlich« Gleichgewicht der Seel«. Jede Faser des Körpers ist bei ihm gesund — o dreimal unberufen l

Bis spät in die Nacht kann er sich denkend beschäftigen; aber sowie er sich zurRuhe legt — schläft er so ruhig und still. Die Wahlangelegenheit

hat ihm nicht eineMinute Schlaf gekostet — die körperliche Konstitution trägt viel dazu bei, aber auch dies Unpersönliche in meines Mannes

Natur; für ihn ist das Leben Entwicklung, Geschichte, und meinMann fühlt sich nur im Dienste derselben.

Aber verzeihen Sie, daß ich so rede — doch mein ganzes Äerz ist so

voll von ihm, dem Mittelpunkte meines Lebens, und ich fühle, daß ich Fröbel und alles hingeben könnte, wenn «S nötig wäre, ihm zu helfen, daß alles, alles, was in meines Mannes Seele liegt, auch der Welt zugute kommt. Ich fühle mich so in die Politik gezogen, ich möchte so *) Karl Schrader war Reichstagsabgeordneter geworden für Braun­ schwelg.

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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gern für meinenMann arbeiten, daß ich mich oft zwingen muß, mich für mein Werk zu konzentrieren. Ich darf es aber kaum sagen, mein Mann will nicht mein Leben aufsaugen, sagt er, es habe für sich selbst seine

Bedeutung. „Labe mich nur zärtlich lieb", fügt er hinzu, „werde wieder

kräftig und gesund, und Du tust alles für mich, mir Kraft und Freudig­

keit zu geben". Neulich mußte ich mir beim Kongreß der Ferienkolonien die hohe

Freude versagen, unsere vielgeliebte Kronprinzessin zu sehen. Ich hatte

den Verhandlungen beigewohnt, mußt« aber nach.Lause fahren, so

schlecht war mir zu Mute. Aus der Mitte der Damen ließ die Kron­ prinzessin sich meine Freundin, Annette Schepel, kommen und sagte ihr, sie freue sich schon auf unsere Weihnachtsfeier, sie liebe unsere Anstalt

sehr usw. Leute abend um 8 Ahr soll ich ins Palais kommen. Könnten

wir der herrlichen Frau und dem geliebten Kronprinzen eine Stütze sein,

meinMann seht alles für dies Lerrscherpaar ein, wenn es not tut. Aber

das Beste, was er jetzt tun kann, ist Vorsicht, ruhige Umsicht. Mein Mann sagt: „Erst habe ich zu lernen, die ganze Situation zu erfassen, die Geister zu erforschen und stille zu sein". Mein Mann dankt bestens für Ihre Wünsche, er hätte Lerrn von Stockmar gern wieder besucht;

aber er findet keine Möglichkeit; auch ich würde meinen Besuch bei

Frau v. St. gemacht haben, wenn es mir besser ginge

Karl Schrader an sein« Frau.

Berlin W. 5. Dezember 1881. (Abends 10 Ahr.) Ich schreibe Dir noch aus der Kommissions­ sitzung, um Dich zu bitten, mir doch morgen bestimmt anzuzeigen, wann

Du hier ankommst, damit ich Dich abholen und für Dich alles einrichten kann.

Leute habe ich zum ersten Male imReichstage gesprochen, und ich

glaube, ich habe die Aufgabe, die ich mir gesetzt habe, die aber auch ziemlich einfach war, in einer kurzenRede leidlich erledigt. Ich bin den ganzen Tag nicht zu Lause gewesen; aber etwas be­ sonderes wird nicht vorgekommen sein, da ich angegeben habe, daß ich

imReichstage zu finden sei, aber nicht ausgesucht bin. Von Dir weiß ich also noch immer nichts

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Kapitel 4: Henriette Schrader an ihre Geschwister. Berlin W. Am 1.Weihnachtstage 1881.

Meine lieben, lieben Geschwister 1 „So Ihr nicht werdet wie die Kindlein, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen" — aber wenn wir sind wie dieselben, so sind wir mitten darin; und ich fühle mich Kind in voller, warmer Weihnachts­ freude und bin im Himmelreich irdisch schöner Glückseligkeit. Dazu kommen die gutenNachrichten von Dir, mein geliebter Erich, auch Du kannst Weihnachtsfreude genießen, und es fließt so des Lebens Schönheit über mich hin, oder vielmehr sie flutet ins Herz und strömt aus dem Herzen. Je älter ich werde, je mächtiger wächst die Natur, diese ursprüngliche Lebenskraft und Lebensftische und »fteude, die Fähigkeit das Leben als Glück und Gut zu empfinden, und dem Leben zu ent­ sprechen. Ich habe dieses Jahr mit wahrem Vergnügen Weihnachts­ besorgungen gemacht, und wenn Annette und ich keinen Platz fanden zum Sitzen in der Pferdebahn, dann standen wir vorn, und wir waren so vergnügt und hatten das Gefühl, als trieben wir mit unserer Kraft den Wagen mit seinen Insassen dahin; das Gewühl und der Lärm, der mich sonst oft ärgerte, hatte etwas berauschendes,das Klingeln und Rufen und Tosen und Rasseln wirkte so prickelnd wie Champagner, und ich hätte gerne einmal „Juch!" gerufen, wie die Burschen auf der Bauern­ hochzeit, welche die Flasche schwenkten und in die Lust warfen — weißt Du noch, Anna, als wir bei Kraumens zur Hochzeit waren und ein Bursche sagte: „Schmeckt sei deiArftensuppe", und wenn sie dann juch­ ten und sprangen? !lnd dann gingen Annette und ich in einen Berliner Keller, wo es kein Tischtuch gibt und frühstückten da Iauersche Würste mit Bier und hinterher Käse, wir saßen da unter ehrlichen Männern und Weibern im Tabakqualm, und es gefiel uns so gut; denn alles ist so vorzüglich, sauber und anständig, und diese Obskurität hatte so was Anheimelndes. Wir nehmen uns auch vor, vierter Klasse auf unsern Koffern zu fahren. Ich erzählte Annette von meinen Iugendaffereien .... So saßen wir hinter unsern Bierkrügen und wanderten dann weiter. Ein anderesBild: Gersons Teppichhaus. Diese köstlichen Stoffe, die jetzt modern sind, in den satten Farben, Sammet, Seide und golddurchwirkt, sie schmei­ cheln dem Auge, und Sinne und ich habe manches davon erhalten; doch davon später. Schon lange wünschte ich dasBild: „Aurora" von Guido

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Reni in Farbendruck (nicht Oeldruch.Wir suchten verschiedenes in den

Kunsthandlungen einen andern Tag schon, als ich mit Karl ging, und fragten auch nach dem Bilde. Es war vergriffen und teuer, so kämpfte ich meinen Lerzenswunsch nieder und tröstete mich, dah es auch hübsch

sei,Weihnachten ein Opfer zu bringen für andere; denn wir haben dieses Jahr viel, viel Geld für unser-Kind, die Anstalt, in der Steinmetz-

Straße gegeben. And gestern abend, als Karl und Annette mich in die Weihnachts-

stube imPestalozzi-Fröbel-Lause riefen, wo in der sonstigen Elementar-

klasse, ein Zimmer neben Annettes Stube alles so reizend weihnachtlich war — was erblicken meine Augen? Das Bild, das herrliche Bild I And

Morgenröte der Liebe, des Glücks ergoß sich über mein Äerz. Kennt Ihr dies köstliche Meisterstück? Alles ist Grazie, alles Poesie, die Gestalten, die den Sonnenwagen umgeben, find wie aus Morgenröte geschaffen

und doch so kräftig schön, wie die erwachende grüne Erde vom Finger der Aurora geweckt. Nein, seit langer Zeit habe ich nicht eine solche Freude gehabt, als über diese Gabe. And wie glückstrahlend war mein Mann;

das jüngste Liebespaar kann nicht seliger sein als wir.

Aurora, Aurora. Dein göttliches Walten für Erde und Menschen lernte ich erst gestern verstehen, und mit diesem Verständnis erschloß sich

ein neuer Blick in die poesievolle Religion der Alten — ach, und sie setzt man in Widerstreit mit dem Christentum? Solche Christen sind arm,

und die Pfaffen erziehen Iammerbasen oder Leuchter. Am 2.Weihnachtstage. Gestern waren wir echte Berliner, wir aßen bei Dressel Anter den Linden, fuhren nach Lause, ein bischen zu schlafen, und dann wieder fort ins Theater. Leute ist Annettes Geburtstag, Annette, Miß Sime aus Galashiels und Fräulein Lelene Lange essen hier und wir werden einen recht gemütlichen, erquicklichen Tag haben. Lelene Lang« ist unS allen so lieb; sie ist so wahr und tüchtig, daß es eine Freude ist, mit ihr zu verkehren. Übermorgen haben wir Diner, Eisenbahndirektor Simmsons, die Frau

ist eine Tochter vom Prediger Jonas, dem Freunde Schleiermachers,

und beide sind so liebe, gescheute Leute; unsere guten Leos, die lieben Löwes. RospattS hatten auch zugesagt, aber plötzlich ist sein Vater ge­

storben. Rospatts sind unsere sehr guten Freunde, sie gibt in der An­ stalt Singstunde, und die Mädchen leisten Vortreffliches. Dann kommen Annette und Miß Sime und noch zwei Lerren, und fiirRospattS treten Althausens ein. Wir essen: Lühnerbouillon mit Fallei, Lummersalat

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Kapitel 4:

mit Kaviar garniert, ausgeknöchelte Ente gefüllt und geschmort mit Champignons, Kastanien mit Aufschnitt (von Deinem Idealfleisch, liebe Anna), Blumenkohl mit Krebssauce und gebackene Seezunge, gemachtenWildschweinsbraten undRehkeule, Salate, Kompott, zweier­ lei Blanemangers, Chokolade, Obst. Emilie hat alles allein gekocht, nach­ dem ich ihr die Einteilung gegeben, wie sie sich einrichten sollte; sie kocht mit wahrer Andacht, und es war ausgezeichnet. Ich bin wirklich sehr stolz auf meine Resultate, sie konnte nichts, als sie kam. Ich habe so vieles behalten von der guten Mutter, die so schmackhaft kochte, wie ich es nicht wieder gefunden, und Schwester Ledwig hatte ganz recht, wenn sie sagte: „Man schmeckt die Liebe darin". Ihr seht, liebe Schwestern, wie ich Eure köstlichen Gaben verwendet habe ....... DieseNacht bleibt Annette hier, und dann haben wir ein Plauder­ stündchen des Morgens Nun ist das schöne Weihnachtsfest dahin.

An A. Sohr.

Berlins. 5., 17. Januar 1882. Die Anstalt in der Steinmehstraße gedeiht unter der Leitung meiner Freundin (Annette Lamminck-Schepel) herrlich; daGedeihen läßt sich aber nicht durch Resultate erkennen, die man unter das Maß und auf die Wage bringen kann, sie lassen sich nur vonPerson zu Person empfinden. Ich mache immer mehr di« Erfahrung, daß eine Massenerziehung, bei der die Methode alles erzwingen soll, ein Anglück für uns ist, be­ sonders für die Entwicklung des weiblichen Geschlechts; wir müssen zu­ rück zu der persönlichen Einwirkung des einzelnen auf den einzelnen, kurz, auf die Familienerziehung. Aber dieser schreckliche Lang derMenschen zurBequemlichkeit tteibt die Mütter und Väter, die Mühen der Erziehung von sich abzuwälzen, sie „Anstalten" aufzubürden, und in diesen wird das Handwerk immer überwiegender. Ich verachte dieseSchematische und Positive in unsern Schulen nicht, aber es ist zu viel. So können aber solche Anstalten, welche den Geist des Familien­ lebens aufnehmen (d. h. Pflege der persönlichen Beziehungen und Ein­ wirkungen in unserer Zeit), neue Säfte erzeugen im Erziehung-wesen, welche- wirklich auch anfängt, an Bleichsucht zu leiden. Die Menschen wollen alles mitBüchern und wissenschastlicherBelehrung zwingen, und

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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man vergißt ganz, daß im praktischen Leben und Arbeiten Bildungs. Momente liegen, die gar keinBücherlernen geben kann, und durch letzterer wird auch der Egoismus gepflegt. So kann ich denn von unserm Standpunkte aus mit großer ‘Be­ friedigung zurückblicken auf die Entwicklung unserer Anstalt; aber auch in Rücksicht auf Zahl und Maß liefert sie erfreuliche Resultate. Doch Sie kommen und werden sehen und fühlen, daß es uns ge­ lingt, ein Stück Familienleben in die öffentliche Erziehung zu tragen. Auch ist das Komitee für Krankenpflegerinnen (Viktoria-KrankenPflegerinnen) gebildet und in der Organisation begriffen. Die Kron­ prinzessin hat den Vorsitz, Frau Lelmholz ist ihre Vertreterin, zu dem Komitee gehören außer den Genannten: Frau Schulrat Cauer, Frau von Krause, FrauProfessor Leyden, Lerr Georg vonVunsen, General­ arzt Dr. Wegner, Syndikus Eberly. Die Auffindung von Krankenpflegerinnen macht große Schwierig­ keiten. Fest engagiert ist noch keine Wenn nicht einerseits die Gesundheits- und Krankenpflege so innig zusammenhinge mit der Erziehung, so würde ich mich, nachdem ich die Vermittlung zwischen der Kronprinzessin und den andern übernommen hatte, aus diesem Komitee zurückgezogen haben.

17. Januar. Meine eigentlichste Neigung geht dahin, mich in Gatten, Laus und Steinmetzstraße abzuschließen, aber meinMann sagt, ich soll die Fäden, die mir in die Land gelegt sind, pflegen und — wie gesagt — es hängt ja alles zusammen, wobei ich beteiligt bin ... . Ich schrieb Ihnen wohl, daß ich in der Steinmetzstraße auf meine Kosten eine Badestube machen ließ für die Anstalt und den GesundheitSverein. Es werden jede Woche über 50 Kinder gebadet An Luise Fröbel.

Berlin W. 22. Januar 1882. es ist meine aufrichtige Überzeugung, daß Fröbel Dir viel verdankt in den Jahren, wo Du um ihn wärest; er hat es mir selbst ausgesprochen, wie wohl Du es ihm machtest im Lause, und ich habe es gesehen und erfahren, als ich bei Euch war in Mariental. Auch ist es ebenso meine wahre Überzeugung, daß Du die Idee der

Kindergärten tiefer erfaßt hast in Deinem Gemüte als die Männer, sie müssen alles hart anfaffen und schulmeisterlich behandeln. Du hast daS

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Kapitel 4:

nie gewollt; Du fühltest klar, wie es sein sollte. Du mußt es nun nicht schmerzlich empfinden, wenn ich ebenso offen sage, daß Dir die Gate

fehlte. Dein so richtiges Empfinden in Worten klar wiederzugeben, daß

Du Dir dadurch nicht die Geltung verschaffen konntest bei andern, die Du bei Fröbel hattest; ihm war Dein Innerstes enthüllt, und das

hat ihn beglückt; er schaute in Deine liebe Seel«, wie Du seine Idee der

Kindheitspflege aufgefaßt hattest. Wärest Du von Jugend auf geschult,

wäre Dein Verstandesleben entwickelt gewesen wie Dein GemütSleben, hättest Du einen großen Schah von positiven Kenntnissen zu Gebote gehabt, so hättest Du Dich besser wehren können gegen so manche-, wes Dich zurückdrängte — und dann, liebe Luise, wärest Du zu empfindlich. Das Hochgefühl eines großen Mannes Gattin zu sein, das ganz berech­ tigte Bewußtsein, ihm etwas, ja, viel zu sein — und das bist Du ge­

wesen — hat Dich zuweilen andern gegenüber, die sich mehr an andere Dinge halten als die, welche Deine Stärken waren, und die es Fröbel gegenüber waren, nicht in die rechte Stellung gebracht. Wir beide konn­ ten uns ja eine Zeitlang auch nicht vertragen — ich meine Du und ich —

natürlich hatte ich auch Schuld, und zwar ein gutes Teil, denn einWesen, das so unruhigen Geistes war, suchend und unvollendet, stößt hart an in der Umgebung

Ich schrieb Dir wohl im letzten Briefe, daß ich mich vorwiegend der Volkserziehung widme, aber auch der gesundheitlichen.

Jetzt arbeiten wir an der Aufgabe, ein Leim für Krankenpflege-

rinnen zu gründen, die von einemVerein besoldet werden, und dann nur arme Kranke pflegen. Die Kronprinzessin steht selbsttätig an der Spitze; gestern vor acht Tagen waren wir bei ihr eingeladen zur Sitzung; sie präsidierte, und nach der Sitzung kam der Kronprinz, und wir tranken Tee, eS war sehr nett und gemütlich. Ich bin fast jede Woche einige Stunden bei der Kronprinzessin, und ost ist der Kronprinz da. Beide

haben ein so warmes Lerz filr dasVolk, sie haben sich zu ihrer silbernen Lochzeit 1883 alle Geschenke verbeten, aber sie möchten einen Fonds

haben für Volkspflege und Volkserziehung. Unsere Weihnachtsfeier in der Anstalt war sehr hübsch; die Kron­

prinzessin mit ihren Töchtern und Lofdamen waren dort und ganz

reizend. Ein kleines Mädchen, welches ihr nahe stand, nahm sie auf den Arm und gab es dann ihrer ältesten Tochter, und dergleichen liebevolles Eingehen ist immer bei ihr

Auszüge aus Briefen und Tagebüchem von 1873—1899.

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An A. Sohr.

«Berlin W. 14. März 1882. Zwischen dem Trubel, in dem ich durch so manche kleine Ereignisse, wie Logierbesuch usw. lebe, habe ich mich an dem Vortrag« des Äerrn

B. von Stockmar über Washington erquickt. Ich habe mich so an dem Seelenbild erfreut, das der Autor uns enthüllt, und mit dem Schluß­ worte stimme ich so ganz überein, daß Mittelmäßigkeit in der rein intellektuellen Begabung unterstützt von den sittlichen Eigenschaften der GemütS- undWillenskraft, daßLarmonie derKräfte große Wirkungen hervorbringen kann. Dieser Gedanke ist so tröstlich, und er weist unS auf den Wert und die Wichtigkeit der Erziehung hin insofern, daß wir mit aller Kraft arbeiten sollen, dem Kinde Gelegenheit zur Gemüts- und Willensbildung zu geben — und daß wir auch das Feld frei zu machen haben von der Überschüttung mit sogenannten positiven Kenntnissen und verfrühten Angriffen auf das Begriffsvermögen. Ich bin eigentlich recht traurig über unsere Zustände auf politi­ schem, wie auf erziehlichem Gebiete; ich fürchte, wir entwickeln unS in einer Richtung, daß nur großes ünheil uns die Augen öffnet, und erst Stift kommt nach vielem Elend. Eine Dame sagte mir neulich: „Frau Schrader, Sie mühen sich ver­ gebens ab mit Ihrer Anstalt; solange Sie in ihr wirken, wird sie blühen; aber die Menschen verstehen nicht die Bedeutung der Grundprinzipien Ihrer Arbeit, Sie sollten sich mehrRuhe gönnen und schreiben." Ich weiß ja, daß eine oder einige Anstalten gar keine Bedeutung haben für das große Ganze, ich weiß, daß der Boden für das, was ich erarbeite und erstrebe, jetzt nicht günstig ist, und vielleicht in nächster Zeit nur ungünstiger wird. Vielleicht hat die Dame recht, ich sollte meine Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln; aber ich müßte einen großen Teil meiner praktischen Tätigkeit, müßte meine geselligen Beziehungen nufgeben, um Ruhe zu gewinnen An Luise Fröbel.

Berlin W. 13. April 1882. Meine liebe Luise! Unsere Fröbelfeier war heute auf besonderen Wunsch der Frau Kronprinzessin, weil sie am 21. nicht mehr hier ist, und wir auch nicht mit der öffentlichen konkurrieren wollten.

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Kapitel 4:

Der Kronprinz kam auch, und er bat mich, neben ihm Platz zu nehmen, und sprach mir so liebevoll von Fröbel. Auch der Kronprinz hat ein so feines Verständnis für Fröbels Bedeutung, wie ich es früher gar nicht dachte. Dies muß Dir eine Genugtuung sein, daß das kronprinzliche Paar Fröbel diese Anerkennung zollt, gerade wo Preußen Fröbel das tiefste Anrecht getan. Liede Luise, von allen Seiten sind mir heute warme Glückwünsche gespendet über die schöne Feier, eben sind die letzten Töne verklungen, und Du bist die erste, der ich ein Wort sage. Es würde meine größte Freude sein, wenn ich beitragen könnte, auch Dir den Lebensabend noch zu verschönern, und nie habe ich es aus dem Auge verloren; aber Wa­ ich für Dich tun möchte, dazu ist noch nicht ganz die Zeit gekommen ... Später. Ich hatte mich gefreut, Dir recht ausführlich zu schreiben, aber nun ist die Aufgabe an mich ergangen, heute abend im Lehrerinnen­ verein über Fröbel zu sprechen; ich spreche sonst nie öffentlich, aber heute kann ich es nicht ablehnen. Dann haben wir Sonntag eine heitere Feier vor, einige sechzigPersonen werden bei uns zu Abend sein, FrauRechtSanwaltFriedemann hat ein kleines Stück gedichtet,Mittelpunkt desselben ist die Bekehrung eines Lehrers durch eine Kindergärtnerin (Wichard Lange und Alwine). Morgen ist öffentliche Fröbelfeier vom Fröbelverein. Am letzten Sonnabend war ich zu der Kronprinzessin eingeladen, sie empfing mich mit Kuß und Umarmung und sprach in einer Weise über Fröbel, so daß ich hoffen darf, die Zukunft von Fröbels Werk ist gesichert Sieh, liebe Luise, ich habe mich still verhalten, bin weder zu Ver­ sammlungen gereist, noch habe ich geredet noch geschrieben. Aber ich habe viel gearbeitet, und eine glückliche Verkettung der Verhältnisse, vor allem mein herrlicher Mann, haben mir geholfen, Einfluß zu ge­ winnen an höchster Stelle, weil ich eine Anstalt geschaffen mit treuen, hingebenden Kräften, die Fröbels Ideen, so hoffe ich, weiter entwickelt hat, als hie meisten Kindergärten. Das lege ich alles, alles nieder zu Fröbels Geiste, der unS in diesen Tagen besonders nahe ist, und innig flehe ich zu Gottes Geiste, daß er mir weiter helft. Dich schließe ich in warmer Liebe und Erinnerung an mein Herz und bin in steter Treu« Deine Henriette.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An die Schwestern.

Berlin W. 15. 24. April 1882. ...................Ich muß Euch noch sagen, daß ich sehr beglückt von meinemBesuche bei der Kronprinzessin bin, sie hat sich warm über unsere Fröbelfeier zum hundertjährigen Geburtstage ausgesprochen und ge­ sagt: „Der Staat muß Mittel für Kindergärten geben, und Kinder­ gärtnerinnen müssen so gut gestellt werden wie Lehrerinnen; nicht daß der Staat die Sache in die Land nehmen soll, nein, das muß in den Länden von Frauen bleiben, aber Mittel muß er geben." And, geliebte Schwestern, daß der Kronprinz gegenwärtig und so vergnügt und heiter und befriedigt war, daS ist eine wichtige Sache. Ja, ja, eS kann sich mein Traum noch realisieren, daß ich Ober­ göttin der Kindergärtnerei werde, d. h. vielleicht Inspektrize derBerliner Kindergärten, und daß wir hier einen Zentralpunkt für die Fröbelsche Erziehung bilden. Wenn ich eine wirkliche tüchtige Ausbildungsschule gegründet, so daß ich meine Arbeit in einen sicherenBoden gesenkt habe, dann kann ich sagen, ich habe nicht umsonst gelebt. Als mir nach der Feier von allen Seiten so viele Glückwünsche ent­ gegengebracht wurden, als man mir sagte, jetzt sähe man, daß ich Großegeschaffen, wurde mir ganz eigen, ganz traurig zuMute; denn war unsere Anstalt schlechter, wenn die Feier nicht gut ausfiel? Da sah ich erst, an welchemAbgrunde ich gewandelt hatte mit der Feier — vernichtet war ich in den Augen der Welt, hätten wir Fiasko gemacht. Gott sei Dank, daß ich vorher daran nicht dachte, sonst wäre ich um der Anstalt willen in eine fiebrige Aufregung geraten, wie wohl alles ausfallen würde. Aber heute abend ist es wieder still im Lerzen, nicht um persön­ lichen Ruhm, nicht um die Eitelkeit der Welt ist es — nein, diese Feier hatte eine Bedeutung für das soziale Leben, indem das künftige Kaiser­ paar Fröbel die Anerkennung zollte. Morgen über acht Tage haben wir pädagogischen Abend, es wird eine Nachfeier für Fröbel werden, es wird ein kleines Stück aufgeführt, welches Frau Friedemann gedichtet; ich glaube, es wird sehr nett. Am24. Unsere großeFröbelfeier im AnhalterBahnhofe und unsere gesellige Feier hier im Lause waren beide schön im wahren Sinne des

Wortes. Erst wurde das kleine reizende Theaterstück aufgeführt, von Frau Friedemann gedichtet, das Ihr auch einmal spielen könnt, und nachher habe ich geredet. Ich weiß nicht, es ist, als sei etwas in mir frei

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Kapitel 4:

geworden. Man hatte Tränen in den Augen, und solch inniger Dank über meine Reden ist mir noch nie zuteil geworden! und ich fühle noch einmal jugendliche Begeisterung! Dieses Leben in seinem Kerne ist mein

eigentliches Leben, und ich bin still und ruhig — ich habe große Erfolge

gehabt — wie man so sagt, aber es läßt mich ganz still, ganz still; aber,

daß ich immer mehr Einfluß gewinne, daß ich hoffen darf, eine Saat ge­

sät zu haben für die Zukunft, das ist die Erfüllung eines Strebens, welches mir mein Lebenlang im Lerzen wohnte, ohne daß ich es gleich

ganz verstand. Zch bin ordentlich beruhigt, daß ich einen täglichen Kummer habe, sonst wäre ich angst vor der Schönheitsfülle meines Daseins! Ich habe rasend viel zu tun, eine hübsche Anzahl neuer Schülerin-

nen, Vorbereitungen zurReise nach Karlsbad und laufende Arbeit. Es wird mir entsetzlich schwer, mich loszureißen

Tagebuch.

24. April 1882.

Ich möchte ein Buch schreiben, das den Titel

trägt: Labe Geduld, und in diesem Buche würde ich die Entwicklung

meines Lebens schildern. Ich hatte keine Geduld, ich forderte damals vom Leben ein Leben, wie es mir jetzt zuteil geworden ist, und diese An­

geduld hat mir und andern manches Leid gebracht

And nun ist

doch gekommen, was ich forderte und mir so spät erschien I Ich habe ihn,

den ich suchte, ohne zu wissen, daß er existierte, ohne ihn zu kennen! MeinesÄerzenssehnsucht war Liebe zu einemManne zu empfinden, wie er ist, von ihm geliebt zu sein, mit ihm ein Dasein zu führen, wie es

mir geworden. In wenig Tagen sind es zehn Jahre, daß er mein, ja ganz mein ist; aber nicht gleich wußte ich, was ich besaß, die ersten Tage

sind für eine im Grunde ernste Ehe, in der zwei in sich selbständige Na-

turen sich verschmelzen, gewiß nicht die glücklichsten, wenigstens scheint

es mir so, als wäre ich jetzt viel, viel glücklicher, als früher; ob ich das nach

zehn Jahren, wenn ich noch leben sollte, wieder sage? Ach hätte ich nur gewußt, daß einMann so eigenartig schön im Innern, so voll Liebe für

mich, mein werden sollte; wenn ich hätte schauen können, wie sich mit ihm mein Leben sich so reich entwickeln und gestalten sollte — wie würde ich das, was mir geboten wurde, anders erfaßt und schön genossen, wie würde ich geruht haben in manchen Augenblicken meines Lebens.

„Wer hat, dem wird gegeben" — wer das Gute und Schöne, was das Leben bietet, erfassen, halten, umgestallen kann, dem setzt sich

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Gabe an Gabe an den Punkt des Lebens, den er sein nennt, weil er ihn

erkennt in seinem Segen — und wie viele Segenspunkte barg mein Leben, unendlich viele 1 Aber sie waren mir nicht verloren — nur hätte ich sie ganz anders noch genießen können. Jetzt ist keine Saft, keine An­

geduld, keine Unruhe mehr in mir; ich habe, ich lebe im vollen Bewußt­ sein meinesBesitzes, und dasBewußtsein ist gleich einem Spiegel, in dem

mein Lebenslicht und Glück tausendfältig zurückstrahlt — ja „wer hat, dem wird gegeben".

An M. Kellner.

Karlsbad i.Böhmen. 5.Mai 1882. Kurz vor meiner Abreise erhielt ich Deinen lieben, traurigen Brief, ach, ich kann Dich so ganz, ganz verstehen und kann Dir darum nichts zum Troste sagen, es ist nur künstliche Überreizung oder Todesmüdig­

keit, wenn man vor der Zeit Friedensmomente hat — es ist Täuschung, wenn man meint, irgend etwas könne uns trösten, helfen. Nein, das Losreißen geliebter Personen durch den Tod ist ein wirkliches Zerreißen

unserer Natur und unseres Wesens, und ich begreife vollständig, wie man dann verbluten, verdorren, verderben kann. Du wirst es nicht, ich auch nicht, in mir ist eine zweite Welt neben dem persönlichen, und sie macht ihreRechte geltend mitMacht, sie drängt

mich über Gräber auf neue Bahnen, und mein Schicksal hat sie mir

geebnet durch die Liebe und Hilfe meines herrlichen, so innig und zärt­ lich geliebten Mannes. Eine neue Welt ist mir erbaut dadurch, daß er mich fortnahm aus der alten. Aber wen, wird ein solches Glück zuteil, wem werden solche Erleichterungen, wie sie mir geworden sind?

Siehe, Marie, darum achte und liebe ich meine Schwester Anna doppelt, die ihr Kreuz in Neu-Watzum auf sich genommen hat. Ich glaube, wäre ich in den alten Verhältnissen geblieben unter Tod und Treulosigkeit, wie ich sie von Anna Vorwerk erfahren, eine Treulosig­

keit, die mir immer größer erscheint, je mehr ich doch der Welt beweise,

daß ich wohl imstande bin, meine Ideen zu verwirklichen, wäre ich dort geblieben, ich wäre gestorben oder verdorben. So hat mich ein wunderbar gnädiges Geschick gerettet von einem Abgrunde, den ich jetzt klar erkenne. Aber wenn uns etwas gesund

machen kann vom Schmerze, so ist es das Verfolgen einer Idee, das Interesse im andern als in uns selbst — oder täusche ich mich — ist es meinesMannes Liebe und sein Besitz, die allein mir helfen?

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Kapitel 4:

Die Selbsttäuschungen sind so groß, daß ich sehr vorsichtig ge­ worden bin in meinen Annahmen. Ach, Marie, keine Mutter mehr zu haben, ist eine überaus schmerzliche Erfahrung, man mag so alt sein, wie man will, solange man eine Mutter hat, solange bleibt etwas vom Kinderherzen, vom Kinderparadies in uns; erst wenn sie gestorben, ist es auS damit, und das erfährst Du nun. Du liebe, arme Marie! Wenn Du doch öfter mit Anna verkehren könntest, ich finde, die Menschen in gleicher Lage können einander am meisten sein, And unsere Mütter hatten einander lieb, ich weiß noch, wie ost meine Mutter erzählte von der Deinen .... Ach, lieb« Marie, wir wollen unsere Erinnerungen an die alten Zeiten recht pflegen, die in uns leben, recht festhalten . . . ♦ Der Gegensatz von meinem Berliner und hiesigen Leben ist groß. Dort konnte ich mich, besonders in den letzten Wochen, kaum auf mich selbst besinnen, hier ist es still; ich kenne keine Menschenseele hier, ich lese auch die Kurliste nicht, ich will gar nicht wissen, ob jemand hier ist, den ich kenne, ich fürchte immer, daß jemand den Zauber der Einsamkeit und Stille durchbricht, in dem ich gefangen bin. Ich habe ein Mädchen mit hier, was eine große Annehmlichkeit ist ... . Wir sind in einem sehr netten Lause, und mein Zimmer hat eine köstliche Lage, Garten, Fluß, Berg, Wald sind unmittelbar am Lause, und so bin ich mitten in den Wald hineingezaubert — und dieser Frühling in Karlsbad ist so schön, wie ich lange, lange keinen erlebte. So fühle ich mich denn mehrNatur als Mensch, ich fließe so hinein in den Zauber derNatur, ich empfinde mich im All und fühle mich im Knospen undWerden und diesWerden in mir. And dazu der Luxus des Schweigens — ich kann stille sein, nie­ mand will etwas von mir, ich flute dahin in derMenschenmenge, die sich hier schon gesammelt hat und habe mit niemanden etwas zu tun. Ich denke auch eigentlich nichts. Ich lasse mir das Essen holen und gehe nur einsame Pfade; dann kommen die Briefe von meinem Manne und die Zeitungen. Ich habe «in Buch, der Roland von Berlin von Willibad Alexis, welches von alten Zeiten redet, dann schreibe ich, und mein Tag ist so ausgefüllt, daß er mir nie lang erscheint. Nur wenn der erwartete Brief von meinem Manne nicht kommt, dann fange ich an zu leben; ein Leben mit Leimweh und Schmerzen; aber ich bin auch jetzt scheu ruhiger, da diePosten so unregelmäßig zu gehen scheinen; denn bis jetzt ist noch von jedem Tage Nachricht gekommen, wenn auch etwas ver-

spätet hie und da.

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Lebe wohl, liebe gute Marie, schreibe mir bald wieder. Es grüßt und küßt Dich innig. Deine treue Kenriette.

Karl Schrader an sein« Frau. Berlin W. 5., 7., ll.Mai 1882. Gestern habe ich Dir nur eine Karte schreiben können, weil ich den ganzen Tag durch Reichstag und Parteitag in Anspruch genommen war; mein Vetter Bar mußte auch mit machen. Deinen Brief habe ich gerade noch zu meiner großen Freude erhalten, ehe ich fortging und daraus gesehen, daß Du Dich, soweit es gehen will, jetzt in Karlsbad ganz behaglich fühlst. Der Doktor erwartet aber noch eine Krisis?WaS ist das? Werde nur nicht trübselig, wenn es Dir nicht gut geht, und hoffentlich machst Du eine etwaige Krisis noch ab, solange ich hier bin, denn, wenn ich auf meiner elenden Gotthardfahrt bin, höre ich von Dir nur unregelmäßig, während ich hoffe. Dir ziemlich ostNachricht geben zu können. Denn wahrscheinlich muß ich zur Eröffnung der Gotthardbahn reisen; eS wird großer Wert darauf gelegt, daß die geschäftsführend« Direktion dabei, und zwar durch mich vertteten ist.Wenn mög-

sich, suche ich «S zu verhindern, ich fürchte aber, daß es nicht geht. Auf derRückreise von der Schweiz würde ich dann nach Karlsbad kommen, um Dich abzuholen. Also gestern war großer Parteitag, der ganz gut verlaufen ist; die Nationalzeitung wird Dir Reden und Beschlüsse wohl ziemlich ebenso früh bringen, als Du diesen Brief erhältst. Bar, der doch den Sachen sehr unbefangen gegenübersteht, war auch ganz befriedigt. In einer Dersammlung, in der dasProgramm festgestellt wurde, hatte ich eine eigentümliche Genugtuung. In früheren Beratungen war ein Satz des Programms, der über das Verhältnis von Kirche und Schule handelt, sehr angegriffen und hatte schließlich eine etwa- andereRedaktion gefunden. Mir erschien auch diese nicht gut, ich machte also abends noch eine andere ttnb schickte sie gestern früh brieflich Lasker, der dieRedaktfon desProgrammö zu besorgen hatte. In der Versammlung gestern mittag (6.)

trägt LaSker beide Redaktionen vor, bezeichnet meine, als von einem KollegenPlaten ausgegangen, zieht sie selbst der früheren vor.-Alle sind einig, daß sie viel besser, als die frühere ist, sie wird mit großem Beifall angenommen und schließlich zeigt sich, daß ich der Autor bin, und Lasker iit der Eile — ohne jede Absicht — sich geirrt hat. LyschtnSka, Henriette Schrader H.

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Kapitel 4:

Die Zeil geht hier schrecklich langweilig dahin; zu Lause gibt es keine liebe Frau, und die Welt ist ledern. Zn der Politik ist ein trostloser Stillstand; niemand hat rechte Lust zu den Dingen, selbst die Vorlagen der Regierung verraten nur zu deutlich, daß denen, welche sie ausarbeiten, der Ernst fehlt. Liederliche, unbrauchbare Vorlagen, in der Versammlung eine Vertretung der Regierung, welche nur Bekanntes wiederholt, Redensarten macht und schlecht informiert ist; jede Klarheit in der Gesamtleitung der innern Politik fehlt, und nun Bismarck wieder einmal krank ist, wissen die kleinen Minister gar nicht, was sie machen sollen.

Die Nationalliberalen bleiben ewig die Alten; sie haben immer Angst vor der Konsequenz ihrer eigenen Ansichten. !lnser Programm hat einen sehr guten Effekt gehabt; endlich sieht man einmal eine klare und verständige Äußerung einer politischen Partei über ihre Stellung zu den Tagesfragen; namentlich aber wird es unS in der Reihe der Liberalen selbst viele Freunde gewinnen und hoffentlich dazu beitragen, die neuen Politiker mindestens uns zufuhren. Für die Wahlen kann es uns von großerBedeutung sein

Also kommen die Leute zu Dir? Ganz ohne menschlichen Verkehr geht es doch auf die Dauer nicht, vielleicht gefällt Dir auch Frau Löper. Leute war * * * bei mir, um mit mir über Ferienkolonien zu sprechen . . So gehen die Dinge ihren Gang weiter, langweilig und geschäftsvoll und wenig erfreulich. Ich möchte sehr gern bei meiner Frau in Karlsbad sitzen, oder daß sie hier wäre, aber es ist nun einmal nichts. Gottlob, daß nun bald die Lälfte der Zeit hin ist ... . Leute abend gehe ich zu einer vorbereitenden Versammlung für die Kronprinzensammlung zur silbernen Lochzeit

Karl Schrader an seine Frau.

Luzern. 21.Mai 1882.

Leute bin ich ohne Nachricht von Dir, morgen bestelle ich mir ein Telegramm hierher, um von Dir zu hören.

Meine Fahrt nach Karlsbad wird wahrscheinlich am 24. nachts 11 Ahr angetreten werden, und ich komme dann entweder nach 10 Ahr morgens oder 5.34 Min. am 26. in Karlsbad an. Darüber gebe ich Dir noch nähere Nachricht.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Leute habe ich mich den Tag über ganz gemütlich in Basel Herum­ getrieben; Basel ist eine sehr nette, sehr wohlhabende Stadt, hat aber für den flüchtigenBeschauer nicht vielBesonderes. Nachmittags 5.30 fuhren wir mit Extrazug nach Luzern bei gutem Wetter. Die Eisenbahnfahrt ist sehr interessant, inon sieht die um den Vierwaldstätter See sich gruppierenden Lochgebirge schon lange vor Ankunft in Luzern; sie waren so gefällig, sich ganz unverhüllt und klar zu zeigen. Auf der ganzen Fahrt wurden wir an den Bahnhöfen von jubelnden Menschenhaufen begrüßt, Luzern war festlich geschmückt. Für unsere Unterkunft dort war gesorgt, und ich fand nach einiger Kon­ fusion ein recht gutes Zimmer. Morgen früh wird eine Fahrt nach dem Rigi wahrscheinlich ge­ macht, und nachmittags ist feierlicher Empfang der Gäste durch die Schweizer Behörden und dann Bankett. Übermorgen ist die eigentliche

Gotthardfahrt bisMaitand. Die Schweiz ist schön und jetzt im Frühling, wo sie noch in voller Frische ist, doppelt schön; aber der Menschentrubel, in dem man ist, nimmt ihr den Zauber; ich möchte lieber mit meiner Frau hier sein, und alle die verfluchten Diners sollte der Teufel holen. Leute habe ich in der Gesellschaft nur Tee getrunken, und nach einem kleinen Spaziergange mich in mein Zimmer zurückgezogen, um an Dich zu schreiben und zu telegraphieren, damitBrief und Telegramm morgen früh abgehen. Wie mag es Dir jetzt in Karlsbad ergehen? Ich glaube. Du schwärmst jetzt mit Freunden und Freundinnen umher, und ich kann nur von hier naa, Lause fahren. Du hast mich gewiß nicht nötig? Oder soll ich lieber kommen? Dann haben wir noch fünf Tage für Karlsbad, da wollen wir recht gemütlich zusammen leben

Lenriette Schrader an Frau Marie Löper-Lousselle. Berlin W. Anfang Juni 1882. Ihr lieber Brief ist wie einRuf aus meiner Jugendzeit*) — so war ich wie Sie in diesemBriefe, so bin ich im Grunde noch; aber grausames Leid und eine strenge Schule Berliner Lebens mit kalter Kritik und Unbarmherzigkeit am besten, was ich geben konnte — haben mich merk­ würdig verwandelt. Ich bin brauchbarer für die Welt geworden, viel brauchbarer; und daß ich mein Lerz behalten habe, danke ich dem *) Eine enthusiastische Freundschaftserklärung nach kurzer Bekannt­ schaft in einem Badeort.

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Kapitel 4:

wunderbarsten Geschick — ich besitze meinenMann und einige Menschen ganz; aber ganz, und was das sagen will, versteht nur der, der lange

gelebt und die Menschen kennen gelernt hat. Liebe und Freundschaft,

sie kommen vom Simmel, und doch müssen sie erworben werden auf Erden; und ich glaube, ich darf sagen, die Meinen und ich, wir haben

einander erworben.

O lassen Sie sich nicht erkalten, nicht täuschen, wenn ich nicht mehr bin wie Sie, es könnte sein, ich erschiene Ihnen hart oder kalt, die Leute

sagen es mir ost oder sagen eS andern über mich. Ich habe nur Selbst­ erhaltungstrieb gehabt, die Leidenschaft meines Herzens besonders für

Freundschaft hätte mich sonst zum Verbluten gefühtt. Ich habe ein Doppelleben, Fröbel hat mir etwas auferlegt, und ich habe ein sehr starkes, individuelles Leben.Werden Sie enttäuscht sein, wenn ich Ihnen

sage, daß ich gar nicht leide, keine Kinder zu haben? Ich hatte einmal Sehnsucht, schmerzliche Sehnsucht einen Knaben zu besitzen, ganz, ganz wie mein Mann, wie ich ihn mir denke als Kind, ich glaubte, ich müßte

ersticken an der Fülle meiner Liebe ohne diesen Knaben, diesen blonden,

still heiteren Knaben — aber mein Mann hat mich geheilt von dieser Sehnsucht — Gott, wie viel haben wir einander zu sagen. Sie und ich, wieviel habe ich in mich verschlossen vonNatur Sprechen Sie nicht mit mir von mir, nicht was ich bin, oder nicht

bin; ich bin ein ringender, strebender Mensch, der aufrichtig spricht: „nicht, daß ich es ergriffen hätte, aber ich jage ihm nach, daß ich es er­ greifen möchte". Laßt uns sprechen von einem hohen Ziele, dem wir gemeinsam zustreben — und sprechen Sie von sich, ach ich kann Ihre seufzende, ringende Seele verstehen; Sie können mir vertrauen, denn ich

habe gelitten in der mannigfachsten Weise. Wir werden mit unsern

Freunden eine kleine, stille Gemeinde bilden, einander lieben, tragen und ergänzen. Ich bin gar nichts Besonderes, bitte, bitte glauben Sie dies mein Wort, es ist so schmerzlich zu enttäuschen. Wir wollen arbeiten

zusammen für das „höhere Dritte", da- über uns steht; die glühendste Liebe und Freundschaft findet nur darin ihren Schutz gegen Vergäng­ lichkeit, darin ihre letzte Verklärung, darin ihren Gottesfrieden. Ja,

fragen Sie mich, laßt unS ringen gemeinsam nach Klarheit. Ich nehme

Ihre Seele sanft und warm und innig an mein Herz

.....................

Am 14. Juni. In meiner Jugendzeit las ich einmal ein Wort von Jean Paul: „Kränkliche Kinder werden mit ihrem eigenen „Ich" fett

gemacht". Das Wort hat mächtig auf mich gewirtt, so war eS bei mir l

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Wenn mir in meinem Elternhause meine Fehler, die in natürlichen Anlagen begründet waren, vorgehalten wurden, wie die Sündhaftigkeit der menschlichenNatur, so hat eS gar keinen Eindruck auf mich gemacht. Ich fing früh an zu räsonnieren. Ich sagte mir: „Weshalb schafft Gott den Menschen so, nun kann er zusehen, wie er mit ihnen fertig wird". Daß Adam gesündigt, als es nicht nötig war, erweckte nur meinen Zorn und Laß gegen Adam, weil ich darunter leiden mußte, und wenn mir geant­ wortet wurde: „Du hättest es geradeso gemacht an Adam- Stelle", so meinte ich, daS sei gar nicht ausgemacht, das könne man nie wissen, eS wäre ganz darauf angekommen, wie mir der liebe Gott alle- vorgestellt; wenn man wieder auf die Schwäche der menschlichenNatur zurückkam, dann war ich wieder mit dem Schöpfer da, der fie so gemacht. — Aber das Anregen der göttlichen Kraft in mir, die mich zum höhe­ ren bringen konnte, als ich war — das wirkte auf mich. Wie, weshalb die menschliche Natur so geworden — das konnte ich dahin gestellt sein lassen, aber die Möglichkeit des Werdens war der Angriffspunkt für meine Seele. 19. Juni. Diese „Ich"-Fütterung finde ich sehr viel in sogenannten „Verhältnissen" von Freundschaft — so «in stillschweigendes Überein­

kommen, sich gegenseitig denLeiligenschein zu putzen, oder einen solchen mit streichelnden Länden aufzusetzen. Ich finde in solchen Unterhal­ tungen mit „tränenfeuchten Augen" und „melancholisch spöttischem Lächeln" sehr viel Salongalanterie, Salonparfüm geistiger Art, ja, Koketterie, .... Für solche Art Verhältnisse, die auf gegenseitiges Schönfärberei beruhen, auf dem Ästhetisieren und Verzärteln des so starken Individualismus habe ich gar keine Sympathie. Kennen Sie Schleiermachers Monologen? Dies Buch war meine Iugendbibel;^ch habe das Gefährliche eingesogen, was in den Blättern liegt, ehe man versteht, sie im historischem Zusammenhänge zu nehmen mit demRingen nach den Rechten der Individualität; ich habe aber auch den tief sitt­ lichen Ernst in mich ausgenommen, der Schleiermacher und seine Werke kennzeichnet. IederMensch, der sichChrist fühlt in tieffterBedeutung desWotteS, muß seine Mission erkennen und mit Lilfe des göttlichen, christlichen Geistes vollbringen, und wenn er sie erkannt hat, und sie erfüllen will, muß er ihr dienen; ob Sie äußerlich Arme, Krüppel und Lahme pfle­ gen, ich innerlich lahme Naturen (und Gott weiß, was ich mit ihnen zu

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Kapitel 4:

tun habe), ist gleich; wir dienen, wenn wir das wahrhaft Beste in den „Armen" fördern, oder nach besten Kräften zu fördern suchen.

And wem Lerrschernatur gegeben und er herrscht (d, h. er stellt Menschen und Dinge an den rechten Platz zu rechter Arbeit, und tut

es stetig und treu), er die nt, nur die Form ist anders, als wenn man sich anstelle» läßt; dasWesen ist gleich. Es ist lächerlich, Kindern täglich selbst die Nahrung zu bereiten, selbst die Köpfe zu waschen, selbst alles zu reinigen, wenn man begabt ist,

so und so viele anderePersönlichkeiten zu erziehen, die nachher in rechter Weise Kinder pflegen; aber man muß stets geschickt und bereit sein als dienendes Glied, wie man das zu nennen pflegt, einzutreten, wo es fehlt,

wo das Beispiel zuerst nötig ist; es ist eine Koketterie mit der Natur, wenn man eine — ich sage sogenannte „untergeordnete" bescheidene

Stellung einnimmt, während man beanlagt ist, auf einen größeren Kreis zu wirken. Man soll das tun, wovon man überzeugt ist, daß man am besten seine Kräfte verwertet und in Harmonie mit den uns von Gott

gegebenen oder fteiwillig übernommenen Verhältnissen und Pflichten, oder man soll sie zu lösen suchen nach bestem Gewissen.

Ja, ich halte es für eine Pflicht, sich nicht selbst aufzureiben, man soll suchen zur Ruhe zu kommen, man soll mit seinen Gaben, Ver­

hältnissen und dem Leben Abrechnung halten. Ich halte eine stete Harmonie in der menschlichen Natur für unmöglich, solange der Mensch sich noch entwickelt: „Es irrt der Mensch, solang er strebt" — bei Gott,

das tut er.

Das Gleichgewicht der Kräfte in unserer Seele wird immer von Zeit zu Zeit aufgehoben — ich weiß es am besten — aber immer strebt die kräftige Seele wieder zum neuen Gleichgewicht auf höherer Stufe; die Perioden der Schwankungen und Störungen dauern nach Ent­

wicklung und Umständen länger oder kürzer, aber Ruhe muß kommen,

sonst verzehrt die Natur sich selbst. Ich leide auch unter dem zeitweisen Aufhören des Gleichgewichtes natürlich und sehr, denn ich bin ein aber ich suche das „Ich"-Fett, wenn es sich bei mir angesetzt hat, wieder zu verwerten als Dünger für neues Erd­

ringender Mensch,

reich. Nicht wahr, gräßlich!!I Ja, ich mag gräßlich sein für gewisse Ästhetisierung!

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr. Laus Neu-Watzum. Wolfenbüttel, 7. August 1882. Laben Sie wohl Zeiten im Leben gehabt, in denen Sie so in Anspruch genommen waren, daß Sie sich die Ohren und Augen zuhalten mußten, um nur nichts zu hören, nichts zu sehen, was nicht absolut nötig war zu den Dingen, die Sie zu bewältigen hatten? So war es letzthin mit mir — und endlich bin ich in den Lasen der Ruhe einge­ laufen mit meinem Manne — aber Frau Schwabe*) wartet auf uns! Nachdem ich von Berlin aus alle Ortschaften, die ich auf meiner Karte Ihnen genannt, besucht, hatte, die Lalbkolonien noch in Berlin sowie Sitzungen in unsernVereinen; dazu zog meinMann in ein anderes Zimmer in unserer Wohnung, und einmal eine Einrichtung angerührt, so zieht dies eine Menge Veränderungen nach sich — ich hatte Tape­ zierer usw. und mußte eineMengeDispositionen treffen,ehe ich abreiste. Nun bin ich hier für den Monat August mit meinem Manne und meiner Freundin, welche schon vorher abgereist war. Frau Schwabe ist entzückt von Ihrem Buche, aber es war ihr aufgefallen, daß mein Mann und ich nicht darin genannt sind, während Miß Archer, die positiv nichts für die Sache gearbeitet hat, darin figu­ riert, und so ängstigte sie sich, daß Sie vielleicht nicht für uns eingenommen seien. Ich lachte recht herzlich über ihre Sorge und sagte ihr, wie lieb wir Sie hahen, wie hoch wir Sie verehren, und daß eS gerade ein Beweis sei, wie gut Sie uns verstehen, daß Sie gar nicht fürchteten. Miß Archer zu nennen und unS nicht. Frau Schwabe rief erleichterten Lerzens: „Gottlob!" And nun wird Sie Ihnen schreiben und danken; sie sagt: „In demWerke istLerz und Feuer I" Fra« Schwabe ist noch hier in Deutschland. ES grüßt Sie herzlichst Ihre L. Schrader.

An A. Sohr. Laus Neu-Watzum, 16. August 1882. Zum erstenMale seit den schrecklichen Leidenstagen**), die ich hier «lebt, bin ich wieder auf längere Zeit hier, und eS war wohl voraus-

*) Eine bekannte Dhilantropin, welche man scherzhaft mit dem Namen „Me Furie der Barmherzigkeit" betitelte, um ihre Energie zu charakterisieren. **) Leiden und Sterben des Künstlerbruders, Adolf Brepmann, am l>en September 1878.

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Kapitel 4:

zusehen, daß die Erinnerung mich überwältigte und verbunden mit

einer Erkältung mich krank machte. Seit mehreren Tagen liege ich zu

Bett, doch heute fühle ich mich wohler, und wenn auch im Bette, schreibe ich Ihnen

Sie verstehen, teure Freundin, daß es zwei verschiedene Dinge sind, Ideen zu haben, und die richtigen, praktischen Formen zu finden, diese

Ideen vollständig zu decken. Ich behaupte nun offen und ehrlich, daß Fröbel selbst, wenn ich mich so ausdrücken darf, in der Form seiner Ideen, wie sie im Kinder­

gatten ausgeführt werden sollen, nicht weiter gekommen ist, als bis zur Kttstallisation. Ms er noch lebte, als er noch selbst mit den Kindern wirkt«, deckte seine wunderbarePerfönlichkeit, seine ganz eigenartige Stellung zu den

Kindern, die Lärten, Ecken und mathematischen Formen der von ihm

ausgehenden Praxis. Die Fülle seiner Liebe zu den Kleinen, die Tiefe seines Verständnisses ihrer Natur und Bedürfnisse gaben seiner Praxis einen Zauber, der mit dem Scheiden seiner Persönlichkeit erlosch, so daß

sowohl die Kindergärten wie auch seine Schriften, die Praxis betteffend,

ganz mit Recht viele Angriffe erfahren haben, da sie häufig in vollem

Widersprüche zu seinen Ideen stehen. Lesen Sie z. B. einmal seine» Aufsatz: „Wie Lina Lesen und Schreiben lernte" und anderes, so bieten

sie zahlreiche AngriffSpuntte und ruhen doch auf großartigen Ideen, die Fröbel nur nicht zum Ausdruck bringen konnte

Ich sage aufrichtig, ich glaube, daß es mir gelungen ist, von der Kristallisation der Form zum organischen Leben derselben durchzu­ dringen und zur Einfachheit und Natürlichkeit andererseits zurückzu­

kehren. Auch habe ich mich mehr an der Idee im großen ganzen gehalten, als an den Kindergarten als Anstalt und auf deren Verbreitung, auf welche in ihrer jetzigen Form und Gestalt und Isoliertheit ich gar keinen

großenWert lege. Es liegen schon inPestalozzi, ja in AmoSComenius undRousseau

dieselben Grundgedanken, wie Fröbel sie aufstellt; aber letzterer hat die praktische Landhabe geboten, diesen Ideen Gestalt und Form in der Er­

ziehung zu geben; daß dieser erste Versuch nicht" vollendet in der Form

sein konnte, ist natürlich. Auch ist Fröbel nicht dabei stehen geblieben, nur die Gedanken seiner Vorgänger aufzunehmen, er hat sie auch als

Gedanken weitergebildet und kombiniert, neu beftuchtet

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Sehen Sie, penn Fröbel die Menschen zur Gotteinigung, zur Lebenskunst erziehen wollte, so wollte er den Bildungsstoff auS dem Leben nehmen. Deshalb müssen die Fröbelschen Anstalten einen

Lebensmittelpunkt haben; Laushalt, Familienleben, wie wir es

jetzt in der Steinmetzstraße 16 haben. Die Kinder helfen Fräulein Annettes Garten bebauen, ihr Laus bestellen, die täglichen Verrich.

tungen des LaushalteS werden benutzt als Erziehungsmittel.

Die erste Stufe dieser Erziehungshäuser für Übung in der Lebens» kunst ist der Kindergatten; wir haben ihn und schon den zweiten begon­

nen, und mein ganzes Stteben ist darauf gerichtet, vorerst die Mädchen bis zurKonfirmation zu behalten, um sie neben der Schule in der Lebens­

schule (die im allgemeinen in der Form der Lausmütterlichkeit geübt wird) zu bilden. Eine Kochschule, Nähschule, wohin die Mädchen viel-

leicht später ein Jahr gehen, entwickelt nicht so schnell die Eigenschaften, Fähigkeiten und Geschicklichkeiten, welche die Familienmütter brauchen,

die Schulen auch nicht, und die Familien in den unteren Volksschichten, die mit der Not des Lebens zu kämpfen haben, geben auch keine An­ leitung oder nicht genug, und es ist eine brennende Frage für das soziale Leben, gute LauSmütter zu erziehen; den Leuten, besonders den Mäd­

chen, die erwerben sollen, erst die allgemeine Grundlage zu geben, die das Menschliche — bei den Mädchen daS Menschlich-Weibliche

ausprägt.

Fröbel gibt ganz und gar den Stoff, den Boden zur Erziehung der Lausmütterlichkeit, oder vielmehr er weist darauf hin: An möglichst edeln Lebensverhältnissen fürs Leben gebildet werden, indem das Kind von früh an seinen Kräften gemäß mit an

der Bildung dieser Verhältnisse schafft — das ist Fröbelsche Erziehung. Würfel, Spiele, Papierfalten usw. sind aber keine vollstän­ digen Lebensverhältnisse — sie sind nur Zutaten — eine Seite. Vorbereitung auf die Schule — aber Laus und Los, wo Sorge für Men­

schen, Tiere und Pflanzen die Anstalt beschäftigt, und vor allem eine

Anstalt, wie die unsrige, die in Verbindung mit dem Gesundheitsverein steht, wo wir gesundheitliche Küche für die Kinder haben, wo sie ge­

speist werden, wo die lebendige Wechselwirkung zwischen einem persön­ lichen, Fräulein Annettes Laushalte und dem Gemeindeleben statt­ findet — da ist Lebensstoff, da ist Lebensschule, eine Familienschule.

*) Siehe „Mutter- und Koselieder", „Auftuf an die Frauen" 1840.

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Kapitel 4:

Man wird Ihnen vielleicht von anderer Seite sagen: Wir haben auch Tiere und Pflanzen, ja, aber es ist nur Gegenstand von Lehr­ stunden; wo ist die Verwendung? und ich lege darauf so großenWert, daß die Zivilisation, welche den Kindergarten geschaffen, die einfachste Natur hervorbringt; daß das Kind wohl frei spielt und sich bewegt in d«mNaume,den man ihm gibt; aber daß, wenn es arbeitet, wenn man seine Hilfeleistung heranzieht, dies nicht spielerisch geschieht, sondern einem wirklichen Zwecke dient. Die meisten Kindergärten spielen zu reflektierend und arbeiten zu spielerisch — das liegt in der Einrichtung, in dem Stoff, den die Kinder zu bewältigen haben; es liegt aber auch darin, daß die Kindergärtnerinnen viel mehr Lehrerinnen als hausmütterlich sind.

Da komme ich auf einen andern Punkt, welcher mich von den an­ dern Fröbelianern unterscheidet, nämlich die Organisation des Kursus für die Kindergärtnerin; ich kann aber jedes, was ich tue, nachweisen als Konsequenz aus Fröbels Grundgedanken, welche er in seinen Schriften niedergelegt hat.

Teure Freundin, die konsequente Durchführung der PestalozziFröbelschen Idee wird langsam aber sicher eine Umgestaltung unserer Erziehungsweise Hervorrufen; sie wird die Bücher, die Beschäftigung mit diesen in ihre gehörigen Grenzen weisen, und das Leben mehr als Vildungsstoff in den Vordergrund bringen; aber nicht wie früher, son­ dern kunstvoll (nicht gekünstelt), geordnet als Erziehungsstoff zur Cha­ rakterbildung, in der Gewissen und Herz eine bedeutende Rolle spielen. Von allem, was ich Ihnen heute geschrieben, können Sie Gebrauch machen, wenn Sie es für nötig erachten

An A.Sohr.

Ende August 1882. .... And nun Frau von Marenholtz. Ich würde die Frau an Ihrer Stelle jedenfalls aufsuchen. Frau von Marenholtz ist ein sehr bedeutender Geist, schöpferisch in Gedanken, und in ihrer Art und Weise aufopfernd und hingebend für die Fröbelsche Idee. Sie war die einzige, welch« bei Fröbels Tode die Sach« Hoch­ tz'«lt, sie konnte es auch; sie war eine gereiste Dame zwischen vierzig und fünfzig Jahren, war in gewisserWeise unabhängig und von altem Adel und hoher Stellung, waS ihr einesteils Kampf brachte mit dem Vor-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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urteil ihrer Gesellschaft, andernteils ihr aber hier und im Auslande die Türen der Salons öffnete. So verehre ich die Frau immer noch, obgleich es nach jahrelangem Verkehr zwischen uns zum Bruche kam. Sie ist nämlich im Reiche der Fröbelschen Sache von einer ganz unerträglichen Herrschsucht beseelt

und will absolut die einzige sein, die Fröbel verstanden hat; nur sie besitzt den Schlüssel zu den Mysterien seines Geistes. Ich bin ihr gegen­ über viel zu unabhängig. Natürlich verstand ich Fröbel nicht so tief wie sie, als ich bei ihm studierte, ich war ein junges Mädchen, sie konnte meine Mutter sein; ich hatte ein persönliches Leben vor mir, hatt« Hoffnungen, Wünsche für mein Herz; sie hatte nach einem elenden ehlichen Leben abgeschlossen mit der Welt persönlichen Lebens, als sie Fröbel kennen lernte. Was mir wie ein aufgehender Stern am Firmamente war, war ihr ein Rettungsanker im schrecklichen Schiffbruch des Lebens. Ich bedurfte der Zeit und ganz ungestörter Entwicklung in bezug auf di« Fröbelsche Idee; denn — ich spreche ganz objektiv von mir — ich war berufen, eine neue Blüte zu zeitigen am Baume der Fröbelschen Er­ ziehung

An M. Lyschinska. Neu-Watzum, 31. August 1882. . ... Du willst — und ich billige daS ganz in Harmonie mit Dei­ nen persönlichen Verhältnissen — Du willst, solange es möglich ist, ordentlich bezahlt werden und selbständig sein. Ich finde das durchaus richtig. So traurig es ist, daß unsere Zeit so materiell ist, so sehr freut es mich, daß die Deutschen auch mehr und mehr aus ihrem Schwärm­ dusel kommen. Hat etwa Schiller so Schönes geschaffen, weil er hungern mußte? Nein, im Gegenteil, er würde länger gelebt. Schöneres, Größeres ge­ leistet haben, wenn er nicht so elendiglich hätte leben müssen. And daß Goethe so universell war, so Großartiges geleistet hat nach den »erschiedenstenRichtungen, das verdankt er seinem Genie nicht allein, son­ dern auch seinem guten Essen und Trinken, seiner Behaglichkeit des Da­ seins. Nein, mein Ideal des Lebens ist, daß man den nötigen Erwerb­ sinn hat, und trotzdem nie das eigentliche Ziel aus dem Aug« verliert, und deß, wenn ein Entweder oder eintritt, man auch sein Kreuz auf sich nchmen und sich ans Kreuz schlagen lassen kann. Wieviel könnten wir nrch tun durch unsere Erziehung, demMenschen den Kampf ums Dasein

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Kapitel 4:

zu erleichtern und ihn gerade dadurch zu höherer Idealität zu entwickeln, z.B. wenn wir die Zeit in der Mädchenerziehung anwenden würden, sie in der Periode, in welcher sie so große Lust haben, gerade das tun ließen, was sie beglückt; durchschnittlich haben jüngere Mädchen so viel Lust zu häuslichen. Näh- und Schneiderarbeiten usw. Sage einmal, mutet man einem dreizehn-, vierzehnjährigenMädchen mehr zu, wenn es eine Laube, einenLut macht, oder wenn es Lessings Laokoon verstehen soll und drgl. ? Man stellt an seine geistigen Fähigkeiten enorme Ansprüche und läßt die übrigen brach liegen. Wir sind aber alle diese Dinge so gewohnt, daß un­ ganz abnorme Sachen gar nicht auffallen — aber zur Sache, wenn ein Mädchen kochen, schneidern, putzmachen usw. versteht, dann kann sie sich immer selbst helfen; sie kann enorm viel sparen, und wenn sie nicht alles selbst tut, so kann sie die Leute und ihre Arbeit beurteilen. Ja, sie kann sich auf verschiedene Weise ihren Unterhalt erwerben; sie kann bei unwürdiger Behandlung oder Stellung den Leuten alles vor die Füße werfen; und das muß man können. Ich habe ein ganz großes Mitleid mit Menschen, die ums tägliche Brot sich etwas gefallen lassen müssen. Deshalb soll derMensch nicht nur nach einemNotpfennig in barem Gelde trachten, sondern nach einem Not­ behelf an Leistungen; man muß nicht nur eins können, was Brot gibt; oder vielmehr nicht nur eine Form der Anwendung der Kräfte verstehen. Bon Tag zu Tag wird es mir klarer, wie wir dem Zerfall des Familienlebens entgegensteuern, wenn wir nicht die Lauswirtschaft als Kunst aufnehmen und behandeln, und die Grundhandgriffe und Be­ griffe bis zum vierzehnten Jahre die Mädchen lehren; die einzelnen Richtungen der Laushaltungs- und Erziehungskunst lassen sich zum Fach ausbilden: Krankenpflege,Näh- und Schneiderarbeit, Kochkunst, Gartenbau, Blumenzucht, Lehrerinbildung usw. Die Frau hat es nun absolut mit dem rein Menschlichen zu tun, und wenn ihre Fachbildung nicht darauf ruht, so ist es für sie und andere ein Elend. Gestern nachmittag war es sehr gemütlich, Bruder Karl und Luischen führten eine so anregende, schöne Untergattung; Luischen sprach sich auch ganz offen aus und machte aus die Gefahren aufmerksam, wel­ che mit der „Volksbeglückung" leicht Zusammenhängen; ich war ganz ihrer Meinung. Arnold war selig — „Tante Anna," sagte er beim Ab­ schied, „diesen schönen Geburtstag werde ich nie vergessen 1" And Arnold hat oft etwas in der Stimme wie Adolf; mir war wunderbar zu Sinn, ganz wunderbar!

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Lenriette Schrader an ihren Mann.

Laus Neu-Watzum, 31. August 1882. Gestern habe ich Deine Karte, heute Deinen Brief erhalten. Ich dachte so viel an Dich, ich vermißte Dich so gestern am Familientage, ich fühlte mich so vereinsamt. Es geht mir sehr gut. Wie ist es Dir persönlich und politisch ergangen? Bruder Karl hat mir von den politischen Ansichten der Okeraner erzählt, sie sind aber kindisch 1 Sie denken, Ihr seid verkappte Republikaner, nur schlauere Umstürzler als die Fortschrittspartei, welche sie als die roten Republi­ kaner ansehen! Was soll man dazu sagen? Sieh, lieber Karl, ich bin so viel ruhiger geworden; ich werde nicht mehr so ängstlich sein, etwas zu vollenden, ich habe ja Kinder,Mary und Annette. Ich verstehe sie immer besser und besser auch zu nehmen. Ich habe Dir doch ganz ordentliche Menschen mit in die Ehe gebracht, und was Du an Vollendung des Charakters mehr besitzest als ich, das gebe ich durch meine lieben Kinder. Lind ich danke es der frohett Reinheit Deiner Natur, daß Du sie lieben kannst in treuer, wirklich brüderlicher Freundschaft. Nein Karl, was ich für Anruhe in unser Leben gebracht, das war die Angeduld meiner Seele für meine Arbeit — ich lasse meinen Kindern über zu vollenden, was ich begann; aber, wenn sie sterben, wie Adolf starb? Das ist der Wurm, der nicht sterben will, die Grausamkeit derNatur, di« ich empfinde, das Abbrechen eines unvollendeten Lebens, das allen Kampf und Schmerz des Ringens durchgekostet hat und am Ziele totgeschlagen wird ... mein armer, armer Adolf! Komm nur bald wieder, daß ich Dein Leben fühle, und lebe wohl, lebe wohl, ich küsse Dich innig. Deine treue 55. An A. Sohr.

Neu-Watzum, 3. September 1882.

...... Sie müssen durch Ihre Schriften vermitteln, welch eine bedeutende Frau unsere teure Frau Kronprinzessin ist. Es ist empörend, wie man sie verkennt; die Kronprinzessin ist zu schüchtern mit dem Besten, was sie hat — könnten wir ihr nur helfen, sich königlich zu erheben über diese elenden, kleinen Seelen. Aber sehen Sie, im Grunde haben edle Naturen immer etwas von Schüchternheit; sie überwinden das erst ge-

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Kapitel 4:

wöhnlich im höheren Alter, denn edleNaturen haben eine hohe Achtung vor dem Menschen von Laus aus, und dieser oft unbewußte Respekt bindet manches in der Seele vor der Gesellschaft, wie sie gewöhnlich ist. Die Seele sammelt einen kleinen Kreis Vertrauter um sich, einen Kern des innern Lebens, und auf ihn sich stützend, erhebt sie ihren Flug. Ich hab« diese Erfahrung an mir teuren Menschen mehr als einmal gemacht. Bedeutende Menschen sind ja immer ihrer Zeit voraus, vereinen sie mit der Bedeutung ein zartes Gewissen und Gemüt und Edelsinn, so währt es lange, ehe sie sich bewußt werden, daß sie der Menge voraneilten; sie wollten sich gern in der Gesellschaft zurechtfinden, sie erwarten ihres­ gleichen, und sie finden fie nicht, denn sie kommen nicht zuerst auf den Gedanken, daß sie über der Menge stehen Ich will natürlich nicht dieMenschenverachtung hiermit befürworten, denn sie ist der Keim der großen Unmoralität im politischen Leben. Aber Menschenerkennt­ nis, Menschenbehandlung müssen die lernen, die auf das große Ganze wirken wollen, und sie müssen Verachtung lernen gewisser Urteile, und vor allem Verachtung in bezug aufBeifall gewisserMenschen; sie müssen stellenweise Vereinsamung ertragen können. Von der ersten Zeit an, als ich mit unserer Kronprinzessin in Be­ rührung kam, erschien es mir doch eine wichtige Aufgabe, dieser Frau treu zur Seite zu stehen, ihr zu helfen, und ich bin heute derselbenMeinung, kenne aber mehr als früher die Schwierigkeiten und weiß, daß es nicht allein getan ist mit einem liebevollen Aerzen, daß mehr dazu ge­ hört. Der Boden, auf dem Fürsten wandeln, die Atmosphäre, die sie einatmen, sind eigenartig. Unsere Kronprinzessin ist noch jung, jünger im Geist als an Jahren; darin liegt das Schöne und zugleich ein Etwas, was ihr selbst Schwierigkeiten bringt. Dazu ihre entsetzlich schwere Lage und ihr Temperament. Aber, wenn sie nur die rechten Freunde findet, und wenn sie festhält, so habe ich die kühnsten Hoffnungen für das, was sie wirken kann. Sie können als Schriftstellerin, verehrte Freundin, viel tun, dem Publikum die geistige Bedeutung unserer Kronprinzessin zu vermitteln (wie Sie schon angefangen haben, es zu tun). Sie schreiben wirklich gut, warm und praktisch Sie können als Schriftstellerin so viel tun, die Kronprinzessin in ihrer Stellung als Protektorin und Schöpferin

des wahrhaft Reformatorischen nach verschiedenen Richtungen zu be­ festigen. Wenn ich diesen Ausdruck „befestigen" gebrauche, so ist das keine Andeutung des Mißtrauens gegen die hohe Frau, sondern nur

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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gegen die Kabalen eines Loses und einer Partei, die so abscheulich sind und doch eine gewaltige Macht ausüben, gerade weil sie sich an di« Schwächen der Menschen wenden. Sie können als Schriftstellerin der hohen Frau Menschen zuführen, die das ausrichtige Bestreben haben, dem naturgemäßen Fortschritt Vorschub zu leisten. Was Sie schreiben werden, wird historisches Material, deshalb schonen Sie sich, seien Sie gut und artig, und so hochinteressant Ihre jetzigen Studien sind, versenken Sie sich nicht zu tief in sie

An M. L öper-Louselle.

Berlin W. 28.November 1882. ............. Pestalozzi und Fröbel waren beide große Psychologen, wenn sie auch keinerlei psychologische Systeme aufgestellt haben .... Fröbel hat ganz besondere Forschungen über die Bedeutung des Tätigkeitstriebes im Kinde angestellt und sich mit der richtigen Pflege desselben beschäftigt. Ich gebe aber Pfarrer Bion ganz recht, daß seine Theorie und Praxis nicht ganz stimmen. Die Bedeutung des Spiels hat Fröbel schon gekennzeichnet in der „Menschenerziehung"; seiner praktischen Behandlung desselben kann ich nicht ganz zustimmen. Unsere Einwirkung auf des Kindes Spiel muß mehr eine indirekte als direkte sein. Wir haben zu sorgen: l.Für den rechten Spielraum, 2. für Spiel­ mittel, 3. für Spielzeit, 4. für Spielfreiheit, 5. für Spielteilnahme. Der letztePunkt ist der streitige. DieGrenzen find so zart, und in demKindergarten wird den Kindern eine falsche Teilnahme zuteil; fie wird ihnen aufgedrängt. Der Tätigkeitstrieb teilt fich in Spiel- und Arbeitstriebe. Beim Spiel ist die Tätigkeit als solche Lauptzweck, der Inhalt des Spieles ist «in subjektiver, bei der Arbeit kommt schon das Resultat der Tätigkeit in Betracht, das Kind folgt einerNötigung von außen oder von innen, die fich auf den Tätigkeitszweck bezieht, der Inhalt der Arbeit ist ein objektiver. Nun fallen beim Kinde die Formen von Spiel und Arbeit häufig zusammen, die Erscheinungen sind ähnlich, die Grenzen sehr fein, und die Trennung kann in gewissen Stadien nur in der Theorie gemacht werden — gerade wie die Einteilung der Geistesvermögen, die man in der Psy­ chologie macht, während in derWirklichkeit diese Trennung nicht besteht. Dennoch ist die Theorie von großer Bedeutung, weil man dadurch mit Sicherheit vorgehen kann bei der Pflege des Tätigkeilstriebes in

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Kapitel 4:

bezug auf Darreichung von Stoff und Gewährung von Teilnahme. Fröbel selbst hat die Grenzen in der praktischen Behandlung der Kinder zwischen Spiel und Arbeit zu sehr verwischt, daher die Reflexion int Spiel und ost spielerische Arbeit — er wollte das nicht. Fröbel stand so sehr unter dem Einfluß der romantischen Schul«; Novalis hatte in Fröbels Jugend einen bedeutenden Einfluß gehabt und Schelling durch sein Werk: „Bruno, die Weltseele". Fröbel hatte keine stetige wissenschaftliche Bildung genossen, er muß immer als Auto­ didakt bewachtet werden; er hatte eine leidenschaftliche Seele, eine leb­ hafte Phantafie und hat viele Dinge mehr im Gemüt und in der Phan­ tasie erfaßt, ohne sie kritisch durchzuarbeiten. Durch Schellings Einfluß bekam das Symbol für ihn eine große Bedeutung, aber Fröbel ging ins Kleinliche, ins Deuteln und Tüfteln; der Subjektivismus, durch Fichte angeregt, gelangte in Fröbel zu großer Blüte, und doch gab es imLelldunkel der Fröbelschen Seele wieder Gedanken von blitzender Klarheit, und er dokumentierte ost seine bedeutende Anlage zum scharfen Denker. Fröbel ist in mancher Hinsicht eine monströse Natur — die auch wieder einfach sein konnte bis zur Nacktheit — oder wie ich mich sonst ausdrücken soll. Gerade weil Fröbels großartiges Denken nie losgelöst werden konnte von Wunderlichkeiten seiner Seele, so ist es von großer Wichtigkeit, die Formen, unter denen er seine Ideen gibt, einmal ganz beiseite zu lassen, einfach seine Gedanken aufzunehmen und die ihnen entsprechende Form zu suchen Nun noch ein Wort über eine Fröbelschriststellerin Sie ist talentvoll, oder vielmehr sie besitzt eine gewisse Geschicklichkeit — aber ihre Schriftstelleret ist mir im tiefsten Grunde zuwider. Aus ihren Schriften habe ich nur Proben gelesen, aber das Fräulein besingt und bereimt jedes mögliche Gefühl, jede mögliche Anschauung der Kinder I Sehen Sie, Fröbel wollte ja vor allem dem Kinde Zeit, Raum, Stoff und hie und da der Mutter zatte Anleitung geben, das Kind zur Selbsttätigkeit zu fiihren — darum war das Material, welches er unS gab, so einfach; wenige Flechtblätter, wenige Liedchen usw. Nun aber wuchern die Bücher, die Lieder, die Muster wie Unkraut empor und erdrücken des Kindes Seele. Gegen das frühe Einprägen von positiven Kenntnissen eifern die Fröbelianer, und sie geben Schlimmeres; sie fühlen, sie sentimentalisieren, sie denken dem Kinde alle- vor, es ist ein Ekel; sie überlassen ihm nur einen gewissen Mechanismus .... .Wo ist die keusche Ehrfurcht vor der kindlichenNatur?

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr.

Berlins. 10. Dezember 1882.

Bei meiner Vorbereitung auf meine heutige Stunde,

Geschichte der Pädagogik, wo ich Fichte im Zusammenhänge mit Fröbel durchnehme — lese ich einen Aufsatz von Fichte Sohn über National­ erziehung und Fröbel. Es heißt unter anderem darin:

„Man muß Fröbel nicht so betrachten, als wenn man alle seine

Vorschläge, Anweisungen und Vorschriften zu befolgen hätte — diese verlieren sich nicht selten inS Kleinliche, Sonderbare, Bizarre oder Ge­ schmacklose. DieseÄußerlichkeiten, welche von seinen Anhängern geradezu

aufgegriffen und gepflegt worden sind, haben anderseits die große Be­ deutung seines pädagogischen Prinzipes verdunkelt, wenigstens nicht zu allgemeiner Anerkennung kommen lassen.

Man muß statt solcher Außenwerke des tiefer liegenden Grund­ gedankens sich bemächtigen, der höchst vielseitiger und verschiedenartiger Ausbildung fähig ist

" Später sagt er: „Fröbels Mittel zur Er­

ziehung lassen sich insgesamt auf ein höchstes Gesetz aller Erziehung zu­ rückführen. Fröbel nannte es wohl zu allgemein und zu sehr an die

Formeln einer damals herrschenden Philosophie erinnernd, „das Gesetz

der Vermittlung der Gegensätze". Klarer und bezeichnender für die eigentliche Leistung Fröbels wäre vielleicht zu sagen: Das Gesetz der stetigen, sprunglosen Entwicklung des Kindesbewußtseins aus den eige­

nen Anlagen

"

Ich (55. S.) finde durchaus nicht, daß Fichtes Satz den Fröbelschen deckt. Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Gesetz der Gegensätze

und Vermittlung machen: Nicht nur hat es darin seine Bedeutung für die Erziehung, daß wir das Kind für z. B. Freiheit und Gebundenheit usw. erziehen, sondern daß wir anerkennen, daß der Mensch sich durch

Lervortreten entgegengesetzter Richtungen entwickelt, und man dem Rechnung tragen soll. 3. B. das Knabenalter vorwiegend körperliche

Entwicklung, Freiheit, Angebundenheit, äußeres Leben. Jüngling, in­ neres Gebundensein an ernste Studien, Träume, Ideale, Vorwiegen der

Phantasie usw. Man würde einesteils nachsichtiger sein gegen manche Ausschweifungen, andernteils so viele verhüten

Ly scht n»ka, Henriette Schrader II.

15

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Kapitel 4: An A. Sohr. Berlins. 15. Dezember 1882

............. Ob ich das Viktoria-Lyzeum übernehmen möchte? So können nur Menschen fragen, die keine Ahnung haben, was ich bin und was vom V.-L. verlangt wird .... Also sollten Sie wieder gefragt werden, so sagen Sie, daß es wohl das Anpassendste sei, was geschehen könne, wenn man uns zusammenbringen wollte. Ich kenne jetzt aber eine Persönlichkeit, die ich für geeignet halte wie keine, nämlich Fräulein Selene Lange, Vorsteherin der Klasse zur Ausbildung von Lehrerinnen bei Fräulein Krain. Ich begreife nicht, wie ich nicht eher an sie gedacht habe .... Ja, wenn die Sache in die Sand dieser wissenschaftlichen, gebildeten, charakterfesten, reinen Seele käme, die ebenso schlicht im Auftreten, wie sie wahr und edel von Geist ist — dann würde ich eine große Freude haben. Sie und Fräulein Lange sind Frauen, deren Gediegenheit der Bildung mir Respekt einflößt, deren Studium und Leistungen den Stempel hohen sittlichen Ernstes tragen, die eine Atmosphäre erzeugen, in der ich mich wohl fühle. Wären Sie jünger und kräftiger, dann würde ich sagen, Sie und Fräulein Lange sollten Ihr Dasein für eine Anstalt wie das V.-L. einsehen. Die Anstalt entspricht einem brennenden Bedürfnisse in Berlin, und wenn sie wird, was Miß Archer aus ihr machen wollte, was sie mir in.vertraulicher Stunde mitteilte (damals sprach sie nicht von Gymnasialbildung), wäre es wohl der Mühe wert, für die Sache ein Leben einzusehen; ein Leben von einem gediegenen Geiste. Aber zu einer Gestaltung der Sache, wie sie mir vorschwebt, gehören junge, frische, aufstrebende Kräfte, nicht Menschen, wie Sie und ich, die schon ganz und gar den Schwerpunkt ihrerWirksamkeit gefunden haben. Sie sind Schriftstellerin, wie spät Sie auch den Beweis geliefert haben. Ich bin — ja, wie soll ich es bezeichnen — ich bin Mutter und Sausfrau und erziehe Kinder und Töchter der Gemeinde und helfe, eine neue Elementarerziehung begründen, durch welche einst die Kinder aller Stände gehen müssen und werden. Wir haben jetzt im Kursus sehr wohlhabende Mädchen, welche einfach einen gewissen Abschluß der allgemeinen weiblichen Bildung nach der Schulzeit bei uns suchen. Sie kochen, waschen, pflegen Kinder, und

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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studieren. Wir haben Kant, Fichte u. a. besprochen in deren Wirkung

auf das erziehliche Leben; ich arbeite Tag und Nacht, das Problem zu lösen, den Zusammenhang der sogenannten kleinen Dinge nachzuweisen mit den höchsten Gedanken und ernsten Forschungen der Wissenschaft. Ich habe ein Buch von Noirö „DasWerkzeug und seineBedeutung

für die Entwicklungsgeschichte derMenschheit". Ich habe darin herrliche Dinge gefunden über die Bedeutung der Land und deren Bildung, und Kant steht wieder da mit seinen tiefsinnigen Gedanken über diesen

Punkt. Jetzt studiere ich Schelling von Fischer, um mir ganz klar zu werden überSchellings Einfluß auf Fröbel und, was ich lerne, verarbeite ich still und gründlich in mir und gebe das neugeborene Resultat den

Schülerinnen der ersten Klaffe in einfachster, faßlicher Form. Mehr und

mehr gelingt mir, was ich erstrebe, und ich fühle mich so glücklich und be­ friedigt, aber auch vollkommen abgeschlossen in den Meinen und in

meiner Arbeit:

Erziehung zur modernen Lausmütterlichkeit

für das weibliche Geschlecht und Elementarerziehung für

die Kindheit. So, mein liebes Fräulein Sohr, habe ich mein Leben gegründet,

bin mit den Meinen und meinem Pestalozzi-Fröbel-Lause verwachsen mit tausend Wurzeln und Fäden und gewinne immer mehr Boden für dieselben Leben Sie wohl, es geht mir besser, weil ich ganz zurückgezogen

lebe. An A. Sohr.

Berlin W. 17. Dezember 1882. Das Leben wird hier um so unbequemer, weil man immer

vorsichtiger sein muß.

Viel tun, seine Sache verstehen, wenig reden und verstehen, nicht alles zu hören, hilft einen durch

......

Gestern waren meinMann und ich von 1/4 nach 8 bis nach 10 Ahr bei Kronprinzens. Er kam um 9 Ahr, der liebe herrliche Mensch — er

sprach den Wunsch aus, am 22. abends zu der Bescheerung *) mit zu kommen. Teures Fräulein, dieses Fürstenpaar bedarf treuer, stiller Freunde

*) Im Kindergarten des Pestalozzi-Fröbel-Äauscs.

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Kapitel 4:

Die Kronprinzessin hat mir Bücher vonMarieRebe geschickt, eines derselben möchte sie besprochen haben: „Lauswirtschaft und Kranken­ pflege fürs Volk" Ich habe eine höchst interessante und, wie ich glaube, wissenschaft­ liche Broschüre: „Die Frauenftage im Mittelalter" von Specht, welche zeigt, daß die Sache immer da war, nur gewachsen ist, und „die blaue Blume" der Romantik scheint unsere Bekannte auch mehr vom Lörensagen zu kennen, als daß sie sie auf dem Boden gesucht hat, in dem sie wirklich wurzelt . . Später. Mein Brief ist liegen geblieben gestern, und so will ich Ihnen noch ein Wort über die Feier sagen (für die verstorbene Vorste­ herin des Viktoria-Lyzeums, Miß Archer). Ich war tief ergriffen, obgleich L. nicht „schön" redet und an der Form manches auszusetzen war. Daß der Inhalt aber gediegen war, davon liefert die Wirkung den Beweis. Vor dieser Feier waren meine Erinnerungen gemischterNatur; mein Lerz neigte sich ihr zu und fühlte sich doch in der Lingabe gehemmt. L. hat diesen Zustand des Wider­ streites gehoben und mich befteit von dem Mangel des Schönen in meinen Gedanken. Er war ihr gerecht, er erklärte ihre Schwächen aus ihrer Anlage und Entwicklung, und wie sie von ihr selbst dahingesunken sind, als sie die unvollkommene Erde verließ, so sind sie dahin gesunken in der Erinnerung. Frei und schön kann ich ihr „holdseliges" Lerz lieben, ungehemmt kann ich aufschauen zu ihrer „Lichtgestalt", und nichts tut dem eigenen Lerzen wohler, als sich einem andern Lerzen zu ergeben. Noch wurde mir eine schöne Freude zuteil, ich saß bei Frau B. von Stockmar und fand sie wohlaussehend, weich und herzlich An Frau Stadtdirektor Baumgarten.

B ertin W. 1. Februar 1883. Ist es nicht traurig im Leben, daß den reinsten, schönsten Verhält­ nissen ost die Mittel versagen, sie zu pflegen? Wie verstehen wir einander, wie lieb haben wir einander, und wie wenig haben wir voneinander! Ich habe mich so sehr über Ihren Gruß zum neuen Jahr gefreut und erwidere ihn von ganzem Lerzen, und ich wünsche so für uns beide, daß uns Las neu begonnene Jahr einander näher führen möge. Auch von Marie Kellner hatte ich einen Brief; aber es kommt mir vor, als träte sie meinen Bestrebungen, meinen Interessen ferner als

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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früher, und es schien mir so, als ich im letzten Lerbste mit ihr zusammen war. Ich hingegen gehe immer mehr in denselben auf. Ich bat meine Schwester Anna, Ihnen etwas zu schicken über einen Teil meiner Tätig­ keit; es war eine Vorlage für die Kommission, welch« eingesetzt war, die Tätigkeit der Krankenpflegerinnen zu den Bezirkskomitees des Gesundheitsvereins zu regeln, und da diese Lerren wenig von unserer Arbeit wußten, so machte ich die Vorlage. Ich muß noch einiges zur Erklärung hinzufügen. In der Steinmetzstraße 16 ist die zweite Etage ausgebaut und eingerichtet von dazu geschenktem Gelde für sechs Pflegerinnen und deren Vorsteherin, Fräulein Fuhrmann. Letztere ist schon hier und scheint eine treffliche und tüchtige Persönlichkeit zu sein; nächsten Monat treten zwei Pflegerinnen ein, die in Kiel unter Esmarch ausgebildet sind; zwei hier aus Bethanien und später zwei aus der Charite. Der Äbelstand bei

unserm Unternehmen ist noch, daß kein Lpspital eingerichtet ist für einen einjährigen Kursus, und die meisten Krankenpflegerinnen aus un­ gebildeten Kreisen kommen; so streben wir denn nach einer Ausbil­ dungsschule für gebildeteKrankenpflegerinnen; jetzt haben wir hie und da Pflegerinnen untergebracht zur Ausbildung, wo die Chefs in Kran­ kenhäusern freundlich mit ihrer Lilfe entgegenkommen. Im Komitee für Ferienkolonien habe ich erreicht, daß wir für Mädchen ein stehendes Laus für den Sommer haben inPförten bei Sommerfeld. Dort werden nun von Juni bis Oktober Rekonvaleszente geschickt, es werden Ein­ richtungen getroffen, daß die Mädchen ihren Kräften gemäß arbeiten — ich bin sehr gegen diese gewöhnliche Art der Ferienkolonien, hoffe aber von der neuen Einrichtung großen Segen fiir Körper und Geist. So arbeite und wirke ich nach verschiedenen Seiten hin, weil ich in diesen Bestrebungen nur verschiedene Zweige eines Stammes sehe: Volkserziehung, Körper- und Geistespflege. Unser Kindergarten ist nun zum Pestalozzi-Fröbel-Laus ge­ worden. Nun, meine liebe Minna, habe ich mich Ihnen wieder etwas nahe gebracht, und ich hoffe, ich bin Ihnen nicht ftemd geworden mit meinem Wesen. Grüßen Sie Ihren verehrten Mann und Marie Kellner. In unwandelbarer Treue Ihre Lenriette

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Kapitel 4:

Tagebuch.

1883. 3.April. Wie kindisch war ich noch im höheren reifen Alter; ich glaube, vor fünf oder sechs Jahren, als ich zuerst mit der Kron­ prinzessin bekannt wurde, wie erwuchsen mir die Schwingen, und wie bauschte meine Seele aus vom Gase des Enthusiasmus. Ich war überrascht von dem Liebreiz ihrer Erscheinung, den ich nicht erwartet hatte, von der Natürlichkeit ihres Wesens, von dem mir zu­ gewendeten Vertrauen. Noch immer steckte in mir ein Stück Pfarrer­ tochter vom Lande, ein Stück von deren Vater, der Fürsten ansah als von Gottesgnaden — und wie unabhängig ich mich auch dem Vater gegenüber gebärdet hatte, wie republikanisch ich geschwatzt — im Blute war mir doch diese Untertanentreue und die Anlage zum Verehren der Fürstlichkeit. Und nun war ich im Fürstenschloffe, sprach mit einer wirklichen Prinzessin, nachdem mein Sinn so ost in der Kindheit von Königinnen und Prinzen geträumt; nachdem ich einst ganz bitterlich geweint, daß ich keinePrinzessin sei. Ja, ja, es war noch einRest vonKinderträumen und Iugendromantik und Ehrfurcht vor den gekrönten Läuptern in mir, und was so im Blute steckte, das wurde auch durch Philosophie in Gedanken gefaßt: Die Fürsten haben wir uns gewählt als die Repräsentanten unserer Nation, als die Spitzen und Vertreter des Besten, was wir be­ sitzen. Sie müssen mit einem gewissen Schimmer umgeben sein, und vor ihnen ist das Knie zu beugen, wie vor dem Besten, was wir besitzen. Und wie sie stehen auf der Löhe und wirken und schaffen mit Gedanken für ihr Volk, so muß der getreue Untertan die Land bieten zurNealisation ihrerPläne für dasWohl deSVolkes. Mir wurde diese Land gereicht von oben; ich glaubte mich berufen zu einer großen Mission, ich glaubte, ich würde einst mit Macht begabt, den Fortschritt zu fördern. Dazu kam mein Sinn fürs Schöne, fürs Besondere, für das Exklusive. So las ich wieder Märchen, wie in der Kindheit, meine Phantasie war erfüllt von Königinnen, nur waren Buch und Bilder und Sprache aus anderm Stoff, von anderer Art als demMärchenbuch der Kindheit. So fühlte ich mich gehoben, fühlte mich als AuSerwählte, und mit Enthusiasmus kniete ich vor dem Trone einer liebreizenden Prinzessin voll Bedeutung des Geistes. Jahre sind vergangen, seitdem ich zuerst das Knie vor ihr gebeugt. Soweit mir bekannt, hat sich in der Stellung zu der hohen Frau nichts

Auszüge aus Briefen uav Tagebüchern von 1873—1899.

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geändert, weder was Karl noch mich betrifft; wir sind ihr nur — so scheint es — vertrauter und lieber geworden. Aber in mir hat sich eine starke Wandlung vollzogen; mein ge­ sundes, bürgerliches Blut ist frei geworden von Beimischungen derRomantik; Dunst und Nebel sind gewichen, und mit nüchternem Verstände sehe ich Menschen und Verhältnisse sich entwickeln und bewegen. Am 7. April. Gestern abend war Karl eingeladen zu * * * ,wo er noch andere Setren traf, welche mit ihm über die Verwendung des Fonds, welcher zu der silbernen Lochzeit gesammelt ist, sprechen wollten, er blieb lange, es war über 1 Llhr, als er kam, noch länger haben wir gesprochen 21. April. Das waren ereignisvolle Tage. Man muß alles lernen, wenigstens ich muß alles lernen: Das Leben in der großen Stadt, das Leben in Vereinen mit seinem Getriebe, das Leben mit fürstlichen Per­ sönlichkeiten oder vielmehr mit den daraus erwachsenden Verhältnissen zu andern, die nicht leicht zu beherrschen sind; aber ich hoffe, ich bin keine ungelehrige Schülerin und werde den Einfluß, der mir zu werden scheint, nur zum Guten wenden, wenn er sich überhaupt befestigt. Ich baue nicht auf ihn, sondern nur auf meine eigene Leistungsfähigkeit und die Liebe und Lilfe meiner Geliebten, Getreuen Leute ist Fröbels Geburtstag. Ich hatte nicht auf das Datum ge­ achtet, bis ich es über einen Brief an die Kronprinzessin schrieb, welcher eine Skizze einschloß, die Reformation der weiblichen Erziehung betreffend, dieNeformation durch die Einführung der Arbeitskunst in die Erziehung zur Ergänzung der Anterrichtskunst und zu harmonischer Wechselwirkung beider; kurz dieReformation der weiblichen Erziehung auf Grundlage des neuen, von Fröbel gegebenenPrinzipes. Dies schrieb ich für die Kronprinzessin, welche mir Zuschriften an sie über weibliche Bildung gegeben hatte zur Beurteilung. Lieber seliger Oheim, welch' schönes Angebinde zu Deinem Geburtstage — wenn die Kronprinzessin Sympathie empfände für meinWort, das ich ihr sandte, und wenn diese Sympathie zu Taten führte, die Du segnetest aus lichten Löhen. Ich glaube, ich bin reif,Macht in die Lände zu bekommen, Einfluß zu gewinnen auf das Erziehungswesen der weiblichen Jugend. Ich glaube, mein ganzes Wesen würde zu neuer, schöner stillen Entfaltung kommen, wenn mir Macht gegeben würde zum Wirken ins Große. Ich würde mit größter Sicherheit mich bewegen, mit friedlicher Ruhe meine Pfade wandeln, ich habe gelernt, über mich weg zu sehen, habe gelernt zu

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Kapitel 4:

hören und zu beobachten und mich für mich selbst zu behalten. Ich glaube, meine Natur ist für Machtstellung angelegt, nicht für eine solche, zu der man auf die Schultern anderer emporsteigt, die man sich mit Lilfe anderer erschwindelt; nein, für den Besitz einer Macht, die aus der eigenen Kraft und dem eigenen, sittlichen Willen erwächst, die man keiner Protektion, keinem Schmeichelwort verdankt; sondern der Tat­ sache, daß die Person oder Verhältnisse, welche uns Macht verleihen, unserer bedürfen. An M. Lyschinska.

Berlin W. II.Mai 1883. Ich hoffe sehnlichst auf einenBrief von Dir. Ich lese das letzte kleine Büchelchen von Ellice Lopkins*) mit großem Interesse, ja, mit Herz­ klopfen; denn immer dacht« ich, kommt jetzt, jetzt der rechte Vorschlag? Aber nein, immer Buch, Wort, Belehrung, nur ein kleiner Schim­ mer von dem, wasNot tut zuletzt:, .Asmall hörne for girls out of Service“. And ich sehe immer Pestalozzi flehend seine Lände falten und rufen: „Gebt dem Kinde Vater- und Muttersinn!" und ich sehe seine inneren Schauungen, wie er weiH, daß es unserer hohen Natur entspricht, daß wir Vater- und Muttersinn geben können ohne physisch Vater und Mutter zu sein. And Fröbel schreitet dann ernst und festen Schrittes daher und weist auf seinen Kindergarten. Last Du je Fröbels Auftuf in 1840 gelesen zur Gründung seines Kindergartens und 1843 seinen Rechenschaftsbericht? Sieh, alles, alles, was unser Pestalozzi-FröbelLaus anstrebt, gibt er in den Grundzügen, nur fehlen ihm die Mittel an Geld und Menschen; er realisierte, was er konnte, und dies Stück­ werk nehmen seineNachfolger für das Ganze 1 And ist es nicht sonderbar, daß ich das Ganze im Geiste trug und zu schaffen begann, ehe ich Fröbels Programm wirklich kannte? Das ist mir eine neue Geistesvereinigung mit ihm geworden. Liebe M>, der erweiterte Kindergarten, wie Fröbel ihn bezeichnet, ist unser PestalozziFröbel-Laus. Du findest den Plan in dem Bande von FröbelsWerken, „Pädagogik des Kindergartens". Wichtiger ist fast noch sein Bericht von 1843. In dieser Anstalt wird geleistet: *) Eine bekannte englische Frau, Dichterin und Arbeiterin auf sozialem Gebiete in Brighton.

Auszüge aus Btiefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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1. Die körperliche Arbeit. Di« Arbeit für andere ist nicht Zeichen der Armut, der Dienstbarkeit und Abhängigkeit, auch nicht ein Mittel zur äußeren Nützlichkeit, sondern wesentliches Erziehungsmittel für Kindheit und Jugend aller Stände, und dadurch nimmt Fröbel der sogenannten niedrigen Arbeit den lehtenNest des Sklaventums . . . .

An dieselbe, 22. Mai. Vorgestern habe ich Deinen lieben Brief erhalten. Ich glaube nicht, daß Karl im Zuli schon frei ist, wir werden wohl erst im August nach England kommen und gleich an die See gehen, auch soll ich durchaus hier in Deutschland Karlsbader Brunnen trinken. Vielen Dank für Deine Bemühungen, es ist wohl besser, wir gehen zuerst in ein Äotel. Weißt Du, ich bin die vornehmen Leute müde, ich halte nichts mehr von großen Namen, oder ist das in London anders? Ich möchte am liebsten mit einfachen, ernsten Leuten zu tun haben. Ich kann mich so gar nicht protegieren lassen, kann gar nicht schmeicheln; würde es Dir leid tun, wenn ich keine Empfehlungen von der Kron­ prinzessin hätte? Ich sagte ihr, daß ich zu müde sei, um Leute in London zu sehen und gleich an die See gehen würde, und so hat sie nur meinem Manne Empfehlungen gegeben; aber sie wünschte dringend, mein Mann möchte im Juli nach London gehen. Ich finde es eine entsetzliche Sitte bei Euch, daß die Leute die Fremden besuchen, man ist ja dadurch ganz unfrei. Ich fürchte, ich mache Dir nicht viel Freude in England, liebeM., wirst Du nicht enttäuscht sein, wenn keine Equipagen der vornehmen Leute für mich kommen? Ich glaube, ich bin viel hochmütiger geworden als früher, weil ich viel klarer sehe; ich gehe ungern um mit Leuten, die mich nicht als ihres Gleichen ansehen, und ich möchte wirklich nichts mit Euren vornehmen Leuten zu tun haben .... Nun, wir sehen uns im August, dann sind wir still zusammen an einem altmodischen Orte, dann leben wir drei, mein Mann, Du und ich zusammen. Du gibst uns englische Stunde, und wir bereiten uns auf London vor. Deine S>. S. An Frau Direktor Luise Jessen. London W. 23. Juli 1883. Chichester Street Upper Weatbourne Terrace.

Meine liebe Frau Jessen l Mit rechter Sehnsucht sehe ich einem Briese von Ihnen entgegen. Möchten Sie mir so gute Nachrichten geben, als wir von uns geben

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Kapitel 4:

können. Ich glaube, nichts auf der Welt könnte mir so gut tun, wie daLeben hier; ich habe mich seit Jahren nicht so wohl gefühlt und genieße

alles, was uns hier geboten wird mit vollen Zügen. Dabei ist unser Leben

hier durchaus behaglich; trotz vielem, was wir hören und sehen, gibt es Zeit zur Sammlung undRuhe.Nicht dasNichtstun ist es, was erfrischt,

sondern das Andere, was man tut. Wir sehen meist Leute jetzt, die bald abreisen, und die uns viele Freundlichkeit erweisen und Empfehlungen jeder Art verschaffen. In

acht Tagen wird London leer sein von diesen Freunden unsererseits,

dann werden wir Anstalten besuchen, die nicht Ferien haben, werden

fleißig die englische Sprache und Schriften studieren über Dinge, die uns interessieren, und im September oder Oktober besuchen wir Schulen. Wir haben so viel Stoff, daß wir denken, die ganze Zeit in London zu

bleiben, um uns nicht zu zersplittern; indeß wissen wir es noch nicht. Wir wohnen hier ruhig und sehr angenehm; die Luft in derNähe

von Negent's Park ist sehr gut, und Spaziergänge in diesen herrlichen Schöpfungen versetzen uns in den Frieden und die Stille, wie sie das Landleben bietet; für mich haben diese Parks einen unbeschreiblichen Zauber, sowie andererseits die Großartigkeit des Lebens und Treibens

der City. Lind zwischen all dem Neuen und Fremden tauchen soviele

liebe bekannte Gesichter auf, eine ganze Anzahl früherer Schülerinnen versammeln sich um uns, dazu ist meine Schwester Anna hier,Lerr von Bunsen traf mit uns zusammen, Fräulein von Perpigna besuchte uns usw. Diese Verschmelzung von Altem undNeuem verleiht dem Aufent­ halt einen seltenen Zauber. Liebe, schöne Erinnerungen wurden auf­ gefrischt, neue Bande werden angeknüpft, und durch alles zieht sich der

köstliche Lauch geistiger und körperlicher Erfrischung. Aber wie Altes

und Neues meine Seele hinnimmt und beschäftigt, so verschmilzt auch

Nahes und Fernes, und ich denke viel an Sie, an Ihr Laus und an unsere gemeinsame Arbeit .... Bitte lassen Sie sich alles sagen, auch über die Ungezogenheiten der Kinder, und ob esWaisenkinder sind. Laben Sie von Octavia Lill gehört und von ihrem herrlichen Werke? Freitag werde ich sie kennen lernen. Jetzt lese ich viel über

Indien; Miß Bishop's Kusine, Miß Manning, ist Schriftführerin der

Gesellschaft für weibliche Erziehung in Indien. „Der Frauen Zustand ist beklagenswert", die Gesellschaft beschäftigt sich im Augenblicke mit Aussendung von Krankenpflegerinnen und weiblichen Ärzten für

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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indische Frauen, deren Männer nur für die Söhne Ärzte bezahlen; aber

nicht für Frauen undMädchen. Leute besuche ich eine Anstalt, „Boys Lome" genannt, und um 10 Ahr abends gehen wir in eine Gesellschaft; bisher waren wir nur

einmal spät aus, sonst immer zu Lunch oder Diner oder zum ersten

Frühstück % 10 Ahr des morgens; letzteres ist die Mode in der diplomatischen Welt. Diese Art der Zusammenkünfte ist höchst angenehm,

nicht anstrengend und höchst gemütlich.

L. S.

Wir grüßen beide herzlich.

An Frau Direktor Jessen. London W. 31. Juli 1883.

Meine liebe Freundin! Sie erlauben mir wohl, Sie so zu nennen, denn das Wort floß mir nämlich unwillkürlich auS der Feder, und ich fühle mich, trotz unserer

kurzen Bekanntschaft, so zu Ihnen hingezogen und hoffe, daß auch Sie mich lieb haben und mir trauen, und daß wir miteinander arbeiten

werden. Wie freue ich mich für Sie, daß Ihnen neue Freuden bevorstehen, und ich hoffe und wünsche, daß die Sorgen, welche damit verbunden

sind, nur kleine sein mögen im Vergleich zu dem Glücke, das Ihrer lieben Tochter und Ihrer wartet. Freilich werden Sie nun mehr abgezogen werden von unserer gemeinsamen Arbeit; aber es wäre ganz unnatürlich von mir, wollte ich das beklagen unter diesen Amständen. So nehmen Sie meine innigsten Glückwünsche und seien Sie meiner herzlichsten Teil­ nahme gewiß. Freilich ist es schlimm (für die Arbeit im häuslichen Gesundheits­

verein und bei den Ferienkolonien), daß ich auch so lange abwesend sein werde von der Arbeit, und ich muß wünschen, daß es recht lange sein werde, denn der Stoff, der sich mir bietet, ist so überreich, und ich kann unendlich vielNutzen daraus ziehen für meine Arbeit zu Lause. Nicht

im Kopieren von Dingen, die ich hier sehe; aber imVerarbeiten derselben zum geistigen Extrakt, der das allgemein Menschliche enthält, welches für alleNationen paßt.

Löchst interessant ist es mir, zufällig zu den hiesigen Ferienkolonien

gekommen zu sein. Bei Octavia Lill traf ich eine Dame*), welche viel

*) Miß Margaret Tillard.

236

Kapitel 4:

mit Ferienkolonien zu tun hat, und bei ihr war ich heute zum Tee. Sier haben einzelne Persönlichkeiten angefangen, Kinder aufs Land zu schicken, jetzt fühlen sie dasBedürfnis, sich untereinander in Verbindung zu sehen, und im Serbst ist bei der erwähnten Dame ein Meeting, um ein Komitee für Ferienkolonien zu gründen; wir sind dazu eingeladen, und ich bin aufgefordert „toread a paper“ bei der Gelegenheit. Diese Aufforderung ist mir höchst wichtig, weil sie mir Gelegenheit gibt, man­ ches zu sagen. In Girton College, der englischen Frauenuniversität, war es höchst interessant, wir wurden so zuvorkommend empfangen und bekamen die eingehendste Auskunft über alles — und diese Schöpfung ist so eigen­ artig englisch, daß eine solche Anstalt in Deutschland gar nicht existieren könnte, so oft man auch schon den Wunsch aussprach. Gleiches zu grün­ den. Cambridge, zu welcher Aniversität Girton College gehört, ist aber eine Art, die mich geradezu bezaubert hat, diese Großartigkeit in alter­ tümlichen Bauwerken gepaart mit gleicher Großartigkeit der Anlagen in der Natur habe ich nie zuvor gesehen; die ganze Vornehmheit der englischen Nation tritt uns in Cambridge entgegen. Ich suchte mir auch Eingang in die Küche eines College zu verschaffen und habe da Ein­ richtungen gesehen, die ganz der Großartigkeit der Gebäude undNatur entsprechen. Tags darauf war ich in einer Infant school in Stepney, London unter der Londoner School Board; im einzelnen erzähle ich Ihnen später von allem. Aber der Kontrast zwischen den Einrichtungen für körperliche Entwicklung der students of Cambridge Colleges und die für die arbeitende Bevölkerung bis zum 7. Jahre war frappant. Die armen Kleinen haben nicht ein Fleckchen Erde, wo sie graben könnten, keinen Saufen Sand, wo sie gestalten könnten, der Sos, wie das Gebäude, alles alles grau, kalt, hart wie Stein, ja nur Stein.

Später. Ich komme wenig zum Schreiben und will diese Zeilen nur schließen, da wir morgen nach Frogmore*) gehen. Die Kronprinzes­ sin hat uns die Erlaubnis vermittelt, das Mausoleum dort zu besuchen, wo meines seligen Bruders Engel stehen. Ich fürchte mich vor dem Tage, und doch zieht es mich dahin. Mit Ihren Ideen über Ferienkolonien bin ich ganz einverstanden, bitte schreiben Sie mir nur alles, auch das !ln*) Begräbnisstätte S. K. S. d. Prinz Gemahls Albert, angrenzend an Windsor Park.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

237

angenehme, und wenn ich von hier helfen kann, so sagen Sie es mir nur. Ich hoffe, wenn auch nicht bald, doch später recht gestärkt zurückzu­ kommen und heiterer und widerstandsfähiger gegen alle diese Kleinig­ keiten, die mich oft weit mehr als nötig, irritierten. London ist ein Ort, wo der Blick sich erweitert, die Seele gekräftigt wird für gute Werke und Arbeit an der Kultur der menschlichen Ge­ sellschaft, hier ist viel gesunde Energie und jene Rücksichtslosigkeit, Kleinigkeiten gegenüber, ohne welche man nicht weiter kommt in der Welt. Ich hoffe recht davon zu profitieren. Mit herzlichen Grüßen, auch an Frau Leo, wenn Sie sie sehen. Ihre getreue

& (~

An Frau Direktor Jessen.

London W. August 1883. Ich freue mich immer so sehr, wenn Sie mir einen Einblick gestatten in Ihr eigenes und häusliches Leben. Sie wissen, wie warm es mein Äerz berührt, und wie glücklich es mich macht, in Ihnen eine Frau ge­ funden zu haben, welche so ganz den Kern des Lebens erfaßt hat und festhält und Pflegt, aus dem fich das soziale Leben erneuern muß — die edle, deutsche Familie — und die doch der zweiten Anforderung gerecht wird, dieWechselwirkung zwischen Familie und sozialem Leben lebendig zu erhalten und in derselben tätig zu sein versteht. Es ist dies eben eine neue Seite der modernen Zeit, daß die Familie einerseits kernfest in sich, und doch andererseits nicht mehr so abgeschlossen in sich darstehen dürfe, als sie ftüher sein konnte. Ja, ich glaube, daß gerade wir deutschen Frauen in dieser Be­ ziehung eine große Mission zu erfüllen haben, und sie erfüllen werden. Doch davon ein andermal. Mein Mann wird, wenn es irgend möglich ist, Sie besuchen*) und Ihnen manches näher erklären, was ich hier nur andeuten kann. Wie ich wohl gesagt habe, finde ich nichts glücklicher, als wenn wir von Zeit zu Zeit einmal unsere Äeimat verlassen, uns einmal frei von täglichen Pflichten und Verantwortungen in dem ftemden Lande bewegen; es ruht einesteils aus, und es klärt andernteils das Auge für die Verhält*) Durch plötzliche Einberufung des Reichstages mußte K. Schrader von England nach Berlin auf einige Tage reisen.

238

Kapitel 4:

nisse in der Leimat, und ich fühle täglich mehr, wie sich dieser Prozeß in mir vollzieht, und somit mein Aufenthalt ein recht segensreicher für mich wird, wie ich hoffe. Mehr als je wird mir aber klar, welche große Bedeutung Fröbel, auf Pestalozzi und Amos Comenius ruhend, in der nächsten Zukunft gewinnen wird, nicht nur für Unterricht und Erziehung der Kinder, sondern vor allem für die Bildung der weiblichen Jugend, wenn eben die Ideen dieses Dreigestirns zusammen verwoben und praktisch aus­ geführt werden. Amos Comenius und Pestalozzi beide in ganz ver­ schiedener Weise haben schon bestimmt auf die wahre Emanzipation der Frauen hingewiesen, und Fröbel hat den Anfang gemacht, die Sache praktisch ins Werk zu sehen, indem er die erste Erzieherinnenschule gründete, die wir überhaupt besitzen. Wir haben Lehrerinnenbildungs­ anstalten; aber wir hatten, bis Fröbel kam, keine Erzieherinnenschulen. Wie Fröbels ganze Idee so unvollkommen von ihm selbst zum Aus­ druck gekommen ist, ja, ich möchte sagen, wie sie nicht über den Embryo hinaus kam — so war auch seine Kindergärtnerinnen-Vildungsanstalt nicht anders. Ich war seine Schülerin und kann es beurteilen — und seineNachfolger bildeten sie nicht dem eigentlichen Grundgedanken nach aus, sondern machten daraus eine Lehrerinnenbildungsanstalt dritten, vierten Grades; sowie sie den Kindergarten zur Schule machten, wäh­ rend Luise Fröbel nicht in letzteren Fehler verfiel; leider war sie nicht kräftig genug im Geiste, um ihrePraris theoretisch zu vertreten. Es ist mir hier so ganz klar geworden, welche große, wichtige Arbeit es ist, die von den großen Männern geahnte und geplante Frauen­ bildung immer mehr praktisch zu machen. Wir haben die Anfänge dazu in der Steinmehstraße; aber nur die Anfänge, und ich habe mich ent­ schlossen, meine Kraft auf diese Anstalt zu konzentrieren: Die Frau zu erziehen zur geistigen Mütterlichkeit — zur Mutter im sozialen Leben, so gut wie früher das eigene Laus. Ihre Stellung wird je nach Alter, Gaben, Stand und Verhältnissen eine verschiedene sein; aber sie muß nach und nach — und das werde ich nicht mehr erleben — gerade in der Gemeinde eine ganz andere Wirksamkeit entfalten, teils freiwillig, teils als besoldete Beamtin. Auch im Verein für häusliche Gesundheitspflege liegen wichtige Keime für die Entwicklung der wahren Frauenemanzipation, und da­ rum will ich die Fühlung mit ihm nicht verlieren; aber ich werde keine leitende Stellung mehr in ihm einnehmen. Dies vertraue ich Ihnen an,

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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weil ich es Ihnen schuldig bin zu sagen, da Sie gewissermaßen auf

meine wesentliche Hilfe nach meiner Rückkehr rechnen. Ich werde aus keinem Komitee austreten, denn man kann nicht wissen, wie Personen und Verhältnisse wechseln, und ob es nicht vielleicht einmal für meine

spezielle Arbeit in der Steinmetzstraße gut ist, die Verbindung nicht ab­ zubrechen. Oder vielleicht könnte noch einmal meine Person wichtig sein für den Gesundheitsverein und seine verschiedenen Zweige, ohne daß ich

soviel Detailarbeit hineinsetze, wie bisher — kurz, ich bleibe darin; aber, da ich vorerst nach meinerRückkehr wenig oder gar nichts leisten werde, so muß ich Ihnen dieses ehrlich sagen. Wenn ich obiges ausspreche, so

meine ich nicht, daß ich Ihnen nicht helfen will mitRat und Tat; aber ich kann nicht wieder die Initiative ergreifen. Sie verstehen mich — ich verliere gar nicht das Interesse an der Sache, ich bin immer für Sie privatim, und wenn es nötig ist, in der

Sitzung zu haben; aber ich sehe nicht mehr so mein ganzes Lerz ein, den

Dingen eine Richtung zu geben, welche ich für die rechte halte. Ich finde z. B. diese Ferienkolonien usw. noch so furchtbar äußerlich, ich

fühle so klar, wie großes mit der Zeit geleistet werden könnte im Ge-

sundheitsverein und gewiß auch geleistet wird; aber für den Augenblick sind verschiedene Elemente, die in Schranken zu halten und zu bekämp­

fen, um dem Tieferen dieBahn offen zu halten, so viel Kraft meinerseits erfordert hat, daß ich mich aufrieb, oder sie dem Werke entzog, das doch mein erstgeborenes, mein eigentliches Kind ist

An eine ungenannte Freundin in Berlin.

London W. 14. August 1883.

Leute haben wir einen interessanten Morgen gehabt, wir waren in einer Sitzung eines Lokalkomitees für Armenpflege, von einem weib­

lichen Mitgliede, Miß Tillard, eingeführt. Hausbesitzer und Hausbe-

siherinnen wählen „guardians of the Poor‘: (Armenvormünder), und

unter diesen sind auch Frauen; Frauen wählen, also können sie auch

gewählt werden, sie haben keine höhere Instanz über sich, wie die Armen­ vorsteher in Berlin, sondern sie bilden die Armenverwaltung. Seit längerer Zeit hat sich ein großer Teil der Privatvereine und Privat­

wohltätigkeit mit der öffentlichen Armenpflege vereinigt, und jeden

Dienstag von 11 bis 2 Ahr ist eine solche Sitzung. Dieses vereinigte Komitee existiert in jedem Bezirk von London, also öffentliche Armenpfleger- oder -Pflegerinnen treffen sich da in

240

Kapitel 4:

einem Lause mit Bevollmächtigten der Privatvereine, ein Lerr und eine Dame, welche abwechselnd als Ehrensekretärin den Dienst vetsehen und den Vorsitz führen. Das System, wie Arme sich melden, ist fast ganz wie bei uns im Gesundheitsvereine, nur werden die Nachforschungen viel eingehender gemacht, di« Entscheidung hängt nicht von «inerPerson ab — darüber später. Wir saßen von 11 bis 2 Ahr; der Ferien wegen waren wenig Leute da: Vorsitzender, ein aus Indien zurückgekehrter General, eine herrliche Erscheinung, zwei Prediger, ein Armenvormund und eine Ehrensekre­ tärin — wie einfach, wie gemütlich und wie würdig verlief die Sache. Es war keineRede der Bevormundung der Frauen, es wurde eine An­ zahl Fälle besprochen, unter denen manches interessant war; z.B. wenn die armen Leute an einer Stelle Londons keine Arbeit finden, so wird dafür gesorgt, daß sie in einen andern Bezirk ziehen; eine große Rolle wird der armen Frau gegeben, die sie nach und nach abbezahlen muß, aber sie bekommt dieRolle nur unter derBedingung, daß sie dahin zieht wo Mangel an einerRolle ist, damit sie ihrenNachbarinnen nicht etwa das Brot nimmt. Die Bezirkskomitees stehen alle miteinander in Verbindung, so daß die „rollende Familie" dem Komitee der Gegend, wo sie hinzieht, unterstellt wird, um zu wissen, wie es ihnen geht. Unser Komitee steht auch mit Personen und Komitees in Verbindung, welche Ferienkolonien, Rekonvaleszentenheime haben; überhaupt hat unser Komitee eigentlich nur die Vermittlung übernommen mit den verschiedensten Wohlfahrtseinrichtungen in den verschiedensten Bezirken Londons. Mit den viel größeren Rechten, welche man hier den Frauen einräumt, fühlen sie auch viel größere Verpflichtungen, und England besitzt einen großen Schatz in einer verhältnismäßig großen Anzahl reicher oder wohlhabender, unverheirateter Frauen, die eine schöne, unabhängige Position haben, und die ihre Zeit und Kraft guten Werken leihen. Es spielte heute in der Sitzung niemand „eine Rolle", es war kein Schwatzen und Schreien durcheinander; aber auch keine steife parlamentarische Ordnung; die Leute wenden ihre gesellschaftliche Bildung auch im Vereine an, jeder läßt den andern ausreden und ist stille, wenn ein anderer spricht. „Time is money", sie schweifen nicht ab; wirklich diese einfache Weise, die Dinge zu behandeln, gefällt mir so. Auch sprechen die Männer und Frauen über Dinge, die sich nicht umgehen

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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ließen und nicht gerade angenehm waren, aber so einfach und natürlich. Wirklich, diese gänzliche Llngebundenheit und doch vollständige Ruhe und Ordnung, die nicht auf äußerenRegeln, sondern auf sehr stark ent­ wickeltem AnstandSgefühl ruhte, imponiert mir sehr. Verschiedene Personen mit Anliegen waren vorgefordert, um vor dem Komitee vernommen zu werden, und die Art und Weise, wie der General auS Indien mit ihnen sprach, war ausgezeichnet. Ein junger Mann, der mit 20 Jahren geheiratet und dessen Frau zwei Kinder in die Ehe gebracht (ich glaube von ihm) hatte, bekam eine krästigePredigt, so kurz, so passend, und man sah, sie machte Eindruck. Eine Frau, die mit ihren Kindern nach Amerika auSwandern wollte und Lilfe brauchte, bestand ein sehr geschicktes Verhör. Sie lassen aber keine Frau stehen, ob sie in Lumpen kommt oder nicht; der Vorsitzende bietet ihr einen Stuhl an. Eine Mutter kam mit ihrem kleinen Mädchen, sich für die Ferien­ kolonie zu bedanken: „Nun Kleine", sagte die Sekretärin, „nun spare jeden Pfennig, daß Du das Reisegeld für nächstes Jahr zusammen­ bringst, denn Du möchtest doch wieder fort, nicht wahr?" Das Kind lachte mit dem ganzen Gesicht und nickte usw. Henriette Schrader an ihren Mann.

Londons. 27.August 1883. Abends nach Deiner Abreise. Ja, das Zuhausekommen, wenn der Geliebte fehlt, ist schwer; es ist alles öde und still, und ich fürchtete, die Tür nach Deiner Stube aufzumachen ... Du sitzt nun mit Deinem Matrosenkamerad auf der Eisenbahn, und wenn ich mich zu Bett lege, steigst Du auf das Schiff, und wenn ich schlafe, schwankst Du auf dem gräßlichen Meere, und erst Donnerstag kannst Du meinen Brief haben ..... nun, ich hoffe mit glücklicher Zuversicht, Dich bald wieder zu haben und dann, dann ist alles vergessen, und wir werden die schönste Zeit unseres Aufenthaltes hier noch erleben. Gute Nacht, es ist jetzt halb 11 Ahr, und Mary sagt. Du seiest schon zwanzig Minuten auf dem Schiffe. 28. Ich bin hinüber geschlüpft früh morgens, um meine Schreiberei zu holen und Dir einen guten Morgen zu sagen. Ich schlief unruhig, dann träumte ich, daß ich imReichstage war, woBismarck eine donnerndeRede hielt und Euch alle in den Staub warf, und daß Du ihm einen Brief schriebest, worin Du Abbitte tatest. Dieser Brief machte auch die Runde imReichstage und kam in meine Land — ich war so wütend, Lylchtnlka, Henrlett« Schrader N.

16

242

Kapitel 4:

daß ich glaubte zu schreien und erwachte, und dann schlug unsere alt­ modische Ahr mit ihren Schnörkeleien beim Schlagen sieben, und ich

fühlte mich erleichtert und froh, daß Du kein Schmeichler, kein Bedienter wärest, der seine Seele nie in Larven stecken wird, den letzten Rest von

Sklaventracht. And ich bin ordentlich froh und glaube, daß Du glücklich gelandet bist und bald in Berlin sein wirst. And bald bist Du wieder bei

mir in dem alten, grünen England und in unserm lieben, stillen, prud-

deligen Lodings, w o es doch so lieb ist. Es ist doch so schön mit dem Liebsten, was man besitzt, fortzufliegen und sich in der Fremde in ein Nest zu sehen. Ich liebe dasNeisen jetzt so sehr, und es gab eine Zeit, wo ich es

haßte. And ich denke. Du fährst so im heiteren, stillen Sinnen und

bewegst Deinen Kopf hin und her mit „Km—hm" oder „so ist es". Du hast doch mehr Freudigkeit am Wirken, als Du denkst, und wenn nicht,

so küsse ich Deine Seele warm, warm für das Leben I Ja, Karl, wie verschieden sind wir doch — Du hättest an Indiffe-

rentismus zugrunde gehen, ich hätte mich vernichten können in Erregung. Ich habe wieder so viel Vertrauen, daß wir einander ausgleichen, und daß die Wärme unserer Liebe den Verschmelzungsprozeß vollziehen

wird. Ich habe wieder Glauben, und ohne Glauben kann ich nicht

existieren. Ich sehne mich immer nach einer Kirche, und ich muß sie

finden, ich bedarf ihrer; ach, Karl, würdest Du wohl einmal mit mir ver­ suchen, in die Kirche zu gehen? Denke Dir, was ich nicht mit Dir teilen kann, verliert zum Teil seine Schönheit für mich. Ich war so schrecklich

traurig, daß Du nicht mit bei Spurgeon wärest I Ob Du auch wohl alle Deine Sachen hast: Fahrkarte,Regenschirm

und Buch? Mary war sehr niedlich gestern, als Du fort wärest, gerade wie sie als Kind war, sie fühlt sich, glaube ich, für mich verantwortlich,

sie sorgt, daß mein Fuß nicht an einen Stein stoße I Wie reich bin ich doch, wie gut geht es mir, und ich freue mich so auf die zweite Kälfte

unseres Kierseins. Weißt Du, daß ich nie in der Jugend eigentlich Lebensfreude, eigentliches Lebensgefühl hatte; ich konnte sehr genießen, mich an et-

was freuen, eS mußte etwas Bestimmtes sein, um das Gefühl der Freude hervorzurufen. Jetzt habe ich so oft das Gefühl des Lebens an und für sich, ich fasse und empfinde das Leben an sich als ein Gut — ich kann ein Tier, eine Pflanze begreifen, aber mein Lebensgefühl ist schön, ist

menschlich. And wann steigt es in mir auf?Wenn ich mich eins fühle mit Dir.

Auszüge aus ‘Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Sieh, dies Lebensgefühl, sich mit allem eins zu fühlen, ist das Para­ dies der Kindheit, und ich möchte es ihr erhalten lange, lange, und darum bin ich so gegen das frühe Bewußtwerden der Amgebung. Aber Du hattest gewiß recht von Deinem Standpunkte — die Kinder gewisser Klassen sind nicht im Paradiese, sie sind schon hinausgetrieben, sie gemeßen nicht die Gesundheit der Kindheit, und da ist doch Deine Idee das richtige, nur vergiß nicht zu sagen weshalb. Last Du je einen Zusammenhang DeinerNatur mit derNatur ge­ fühlt? Ich habe es oft empfunden; ja, es war so stark in mir als junges Mädchen, daß ich auch den Zusammenhang mit der Erde empfand, wenn ich im Grase unter Bäumen lag — ich ging unter, ich wußte nicht mehr, wo die Grenze war zwischen mir und der Erde und allem, waö sie hervorgebracht. Dann fühlte ich in meinem Kerzen ihre Schöpferkraft pulsieren und den Geist Gottes in allem und in mir selbst, und wenn ich erwachte aus diesem Traume, wenn sich die Bande wieder loslösten, die der Erdgeist um meinen Leib und meine Seele schlug, wenn ich meinen Atem fühlte, den das leiseRauschen der Bäume aufgesogen hatte; wenn ich wieder fühlte, daß meinKaar und das Gras, auf dem eS ruhte, nicht ein und dasselbe war, dann sprang ich wohl auf, umarmte den Baum, der seine Zweige über mich hielt und Tränen entströmten meinem Auge — sieh, Karl, diesen Pantheismus erlebte ich, ohne eine Ahnung zu haben, daß es eine große Gefühls- und Gedankenströmung gab in der Welt, in den Kerzen und Köpfen der Menschen, die zusamme»gefaßt, den Namen tragen. Darum verstehe ich Goethe in seinen Worten zu Gretchen, darum verstehe ich so, was Goethe glaubte; ja, wirklich, wenn einer dieWeltseele empfunden hat, so war ich es, wenn ich den Baun» an mein Kerz drückte bis zum Schmerze. Was liebte ich da — die Seele Gottes, die cmporstieg in ihm, und die ihn steigen machte in meiner Seele, und meine Seele suchte Verschmelzung mit der göttlichen Seele. Denke Dir mich als junges Mädchen mit der glühenden Sehnsucht im Kerzen, mit diesem mächtigenNaturgefühl, mit diesem heißen Drange zu lieben — was wäre aus mir geworden, hätte ich nicht meine Mutter gehabt, meine stille treue, herrliche Mutter, die mich zwar nicht zu leiten verstand, die aber doch ein Leitstern für mich wurde, weil ich sie lieben und verehren konnte, und so liebte ich sie mit aller Leidenschaft meiner jungen , noch so bewegten Seele voll Anruhe und Widersprüche. Du hast mich oft genug eine Dichternatur genannt, ich habe etwas davon; aber nicht genug, um Dichterin zu sein; denn von früh an stand ein 16*

244

Kapitel 4:

anderes in meiner Natur auf die Frage nach dem „Warum", und nur einem Goethe ward es gegeben, daß Grübeln dem Dichten keinen Eintrag tat, und das Dichten nicht die Schärfe und die Konsequenz des Denkenstörte. Es kam eine Zeit, wo ich ein Wesen war, so ganz „von des GedankensBlässe angekränkelt", und Bücher konnten mir gar nicht helfen, nur Menschen, und von Menschen wärest Du der erste, der wirklich in der Gedankenwelt Gewalt über mich hatte. Meiner Mutter Einfluß auf mich hat nie aufgehört, aber ich war immer die Selbständigere, oder wie ich es sagen soll; ich habe andere Menschen geliebt, meine Schwester Marie, ach, wie geliebt; glaubte auch einenMann zu lieben, usw. Aber mit niemanden habe ich es ausgehalten, niemand mit mir, d. h. ich suchte, was ich nicht fand, und ich sehnte mich so zu finden. Ich lernte nur vom Leben und vonMenschen und forderte, verlangte viel vom Leben, von den Menschen. Die Arbeit unter ihnen wurde mein Buch, bis Du kämest; endlich, endlich kämest Du — o Karl, kannst Du wohl meiner Seele nachfuhlen? And kannst Du begreifen, daß fie noch so jung, so unvollendet ist? And willst, willst Du ihr helfen zur höheren Vollendung? 29. August. Winchester, Royal-Lotel. Da fitze ich nun auf dem erhöhten Sitz im Erker, zu dem man aus unserm Schlafzimmer durch einige Stufen hinaufsteigt, drei große Fenster geben uns einen Weitblick über die Dächer von Winchester auf St. Giles Lügel, wo in alten Zeiten der größte Markt Englands war, zu dem die Landelnden von Genua, Antwerpen, Lüttich usw. kamen. Er stellt jetzt denPark vrn Winchester dar mit einem großenRosenplatz und Schaukeln für Kinder. Nun weiß ich, daß Du glücklich in Berlin ankamest, das erste Ziel meiner Frage Sehnsucht, nun kommt das zweite: Wann kommst Du wieder? Wie stehl es mit der Politik, mit demReichstage aus? Ja, hier hört und erfährt man nicht-, und die deutschen Zeitungen habe ich nickt, fie helfen mir auch nicht viel, fie sind zu alt, wenn sie hier ankommcn. Ich muß mich in Geduld fassen. Nach dem Frühstück. Wir haben ein kleines Gespräch mit ter Wirtin gehabt, sie fragte, ob ich zufrieden sei; eine würdige Matron, einfach bürgerlich, aber gebildet. Es heimelt einen so an, daß dieWirnn sich selbst um die Gäste bekümmert; die Frau scheint reich, der ganze Zuschnitt des Äotels macht den Eindruck eine- wohlgeleitetenPrivathausts; Diener und Mädchen scheinen direkt unter der Äerrin zu stehen; alles ist

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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sauber, ruhig und durchaus wohl geleitet — wie angenehm ist da- —

wie scheußlich dagegen sind Aktienhotels.

Mein lieber Karl, seitdem ich Deine Depeschen, Briefe und Karte

habe, ist eine Ruhe über mich gekommen, die mich meine Reise so recht genießen läßt, und es entzückt mich, was ich genieße, und dabei die guten

Bücher, die uns unterrichten und Mary, die heute aufgelebt ist, inter­ essiert sich für alles und sie ist selbst so gut unterrichtet.

Es ist doch schön, so viel Geld zu haben, daß man reisen kann — ich reise jetzt so gerne, aber ich muß über Mary lachen, sie will alles hübsch

und gut haben, und wenn ich sage, „Mary, das könnten wir billiger einrichten", dann sagt sie: „Dein Mann würde das gar nicht wollen, er

hat mich zum Schatzmeister gemacht, und ich weiß, wie er daS will, und so bekümmere Dich um nichts und mache Gebrauch von mir und genieße alles, ohne Dir Sorge zu machen !"Nun, ich will es auch, es ist so schön,

das Leben zu genießen, und wenn Du erst sicher wieder hier bist, dann wird meine Freude vollkommen sein 1

...... .

Sage dem Mädchen, sie soll noch meinen Muff und meinen

Sammethut mit Dir schicken

.

Später. Dank, tausend Dank für Deinen guten Morgen vom

festen Lande, nun will ich auch ruhig und still sein, ich hatte Dein Tele­

gramm um 9 Ahr. Ich denke nur an Dich und an meinen Vortrag. Das Leben und die Arbeit sind meine Schul« gewesen, und Du

wärest meine Erlösung, und Dir und dem Leben will ich di«n e n. Ich bin wirklich ganz Weib, und es gibt nach einer Seite eine

Anterordnung des Weibes unter den Mann, sie muß da sein, aber in aller Würde. Ich werde noch den richtigen Ausdruck dafür finden. Das

Weib ist das Nachschaffende, fieh, ich bin es in den Ideen von Pestalozzi und Fröbel; die Frau ist nicht wie der Mann schöpferisch, sondern wie dieFrau schöpferisch

Ist es etwa keine Schöpfung dem Lebenskeime Form und Gestalt

zu geben? Wenn die Menschen nur begriffen, daß im Geiste die Gesetze fich ähnlich vollziehen, wie im Körper, dann würden sie die Bedeutung

der Ehe besser begreifen, die Ehe des männlichen und weiblichen Geistes in der Gesellschaft, und die Notwendigkeit der Verschiedenartigkeit und

der Gleichwertigkeit der Aufgaben; wenn nur gewisse Dinge erlöst

würden vomBanne und Fluche der Niedrigkeit in der Anschauung der Menschen. Ich will Dir etwas von meinem Vorirage schreiben:

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Kapitel 4: Wer sind unsere Armen und Bedürftigen? Alle die, denen die

wesentlichen Güter des Lebens mangeln, und die sie sich nicht auS

eigenen Mitteln verschaffen können. Und was sind die wesentlichen Güter deS Lebens? Alles, was zur Gesundheit deS Leibes und deS

Geistes und der harmonischen Verschmelzung beider notwendig ist. £lnb was ist denn notwendig? Ein gesunderWohnort, gesundeNahrung und Kleidung und die rechten Bildungsmittel für dasLerz, den Willen, den Verstand. Wenn dem so ist, so haben wir viele Arme und Bedürftige

unter uns, so waren, so sind wir alle oft arm und bedürftig. And was

ist der Grund unserer Armut und Bedürftigkeit unter uns, die bei dem

einem hier, bei dem andern dort sich zeigt, oder verborgen liegt? Läufiger Verschwendung und Nichtachtung dessen, was uns gegeben wird, als

ursprünglicher Mangel, ursprüngliche Entblößung. O es gibt keine be­ sondere Kaste der Armen und Bedürftigen, wir gehören alle zu ihnen,

es sind nur verschiedene Grade, Färbungen und Zweige der Armut und Bedürftigkeit, der eine fleht um Brot, der andere um Verständnis und

Liebe. Dem einen fehlt Genußfähigkeit mitten im Luxus, dem andern fehlt nur daS äußere Mittel, um in Freuden aufzujauchzen. Ein bunter

Flicken, den der Reichen gelangweiltes Kind verächtlich fortwirft, greift das arme, nackte kleine Wesen auf der Straße gierig auf, verbirgt sich mit ihm in dem feuchten Winkel seiner vielleicht ekeln Wohnung und summt in stiller Glückseligkeit sein Wiegenlied der Puppe, zu der es den

bunten Lappen gestaltet — arm oder reich, wo ist die Grenze? Es gibt keine, wir gehören alle zu den Bedürftigen, so oder so, oder

waren doch zu irgend einer Zeit einmal arm und bedürftig, ilttb nur wenn wir dies fühlen, wenn wir nicht vergessen und stets im Bewußtsein behalten, daß wir einmal alle des Wohltuns anderer bedürftig waren, wenn wir die Zugehörigkeit zu den Armen fühlen, lebendig fühlen, nur dann können wir wirklich wohltun. Ist es denn so­

viel erniedrigender, für Brot deS Leibes zu danken als für Brot der Seele? Sind wir nicht alle einander viel schuldig, steifen wir uns so sehr auf den Vorzug, mehr Brot zu haben als der andere? !1nd gerade, weil

wir dies tun, weil wir immer die Grenze ziehen zwischen uns und den „Armen", weil wir im Banne der Aristokratie des Geldes, des Geistes

oder Standes stehen, darum bringt unser Armenwesen, unsere Wohl-

tätigtest, wie wir gewisses Landein bezeichnen, verhältnismäßig so wenig Frucht, darum ist es so kalt, so geschäftsmäßig oder fanatisch.

Wie dieWärme so nötig ist, den chemischen Lösungsprozeß zu befördern.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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der bei jedem organischen Wachstum sich vollziehen muß, so die Liebe, aber die Liebe, die Wärme gibt, kommt nicht aus dem Gefühl der Löhe, der Protektion, sie kommt aus dem Gefühl des Gemeinsamen, des Gefühls, daß wir nehmen, wo wir geben, und das Nehmen wird immer größer, je weniger Gewicht wirnuf unser Geben legen, je weniger wir es als etwas Besonderes ansehen, das wir tun, als eine Gabe, die wir reichen. Nein, mit dem vollen, ganzen Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Armen müssen wir unter sie treten, einfach mit dem Gefühl an dem Gesetz der Ausgleichung zu arbeiten, da wir alle direkt oder in­ direkt mit schuldig sind an allem, was den Frieden der Gesellschaft stört, und ein kurzerRückblick auf die Geschichte der Armen und Armenpflege wird dies zeigen.

An die Geschwister.

Coldeast. Southhampton. 4. bis 6. September 1883. Was ist das für ein Leben voll wechselnder Eindrücke, hier komme ich mir wie verzaubert vor, es ist hier wieder so ganz anders wie bei Sir Julian Goldsmid; hier ist mehr ein modernes Landhaus, dort war ein Schloß zum Teil im altertümlichen Stil, großartige Repräsen­ tation, hier mehr weiche, elegante Behaglichkeit mit dieser eigentüm­ lichen englischen Einfachheit bei allem Luxus; das schönste finde ich hier die Fremdenzimmer. Bei Sir 3. G. liegt das großartig« Schloß auf einem Berge (d. h. englische Berge), mit alten dunklen Zedern um­ geben, und hier liegt das Landhaus, welches ich ein fürstliches Lustschlößchen nennen möchte, in der Ebene, in einem Park, der die ganze wilde ungestörte Natur eines Leidelandes einschließt, so daß, wenn man aus der Kultur der nächsten Umgebung des Laufes — freilich auch eine breite Strecke hinauskommt, man sich plötzlich in die für mich poetische Stille des Leidelandes versetzt fühlt. Um das Laus diese köstlichenRosen, die alten Bäume, diese Gruppen von Lorbeer undRhododendron, hoch, voll und buschig und doch weich abgerundet, dazwischen die heiteren Blumenbeete und von dem oberen Stocke aus, wo ich wohne, der Blick auf die Znsel Wight und das silberglänzende Meer, das sie umspült — alles grün, grün waldig. Und nun diese Stille, nnd heute morgen dieser Sonnenschein, der herniederflutet und die balsamische Lust vom kräftigenden Lauche der See durchzogen — und das alles genieße, fühle ich von dem Zimmer aus, welches so behaglich und fteundlich und ein-

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Kapitel 4:

fach und vornehm ist — so glänzend sauber und bequem, alles, was man bedarf und nichts zuviel, und die Betten! Zum ersten Male habe ich wieder gelegen und geschlafen, wie in Deutschland, und das Lein­ zeug fein, blendend und so diskret gestickt, daß es nicht prahlt. Weißt

Du, Anna, daß es mir die größte Freude machen könnte, mich etwas englisch einzurichten? Der Toilettentisch etwa wie Karls Schreibtisch, nur ganz zierlich mit vielen Schubläden, daß man alles bei der Land hat und statt des Aufsatzes ein mächtiger Toilettenspiegel, zu beiden Seiten Laubenstöcke. Dann ein Ideal-Kleiderschrank zum Aufhängen der Röcke, zum Legen der Taillen und eine besondere Vorrichtung für die Lüte: Zwei Türen zu beiden Seiten, in der Mitte ein Spiegel von oben bis unten usw. Gestern abend, als ich zum Schlafen hinauf kam, war ein warmes Bad bereitet, und dabei sieht und hört man keinen Menschen, die Fußtritte verhallen auf den dicken, weichen Teppichen, die übrigens nicht festgenagelt sind, sondern mehr als ein Fußbreit vom Boden ringsum unbedeckt lassen. Aber es ist jetzt 8 Ahr morgens, um 9 Ahr wird gefrühstückt, ich muß mich anziehen Mary ist nach Salisbury gereist, sie will bis zum 15. auf dem Lande bleiben, sie will einmal sehen, ob von Tooveys noch jemand lebt, vielleicht fahren wir auch dahin Später. Glaube nur nicht, liebe Anna, daß ich die schweren Tage, die der August und September 1878 brachten, vergessen habe, o nein, aber ich habe sie fest in mich verschlossen, was mich bewegte, denn es ist immer so schwer, so verwundend, daß ich zu mir sagen muß, ich will nicht 'daran kranken. Die Engel in Frogmore haben wir noch nicht gesehen, — ach Gott, welche Zukunft stand Adolf bevor! — Doch stille —. Gestern führte mich Mrs. Montesiore jm ganzen Lause umher, Küche, Vorratsraum usw. Die Einrichtungen sind so, daß es kaum mögsich ist, daß ein Mädchen oder ein Diener sich beschmutzt, es wird auch nie etwas schmutzig, aber die Dame des Laufes ist auch eine vorzügliche Lausfrau, und obgleich sie keinen Finger rührt, so weiß sie jede Kleinig­ keit, und besonders weiß sie alles von ihren Leuten, sie hat ihnen eine sehr würdige Laushälterin gesetzt, die wie eine Mutter für die Diene­ rinnen sorgt, welche unten sind; zwei Kammerfrauen stehen direkt unter Mrs. und Miß M. In dem Zimmer der Diener, die unter einer Att Lofmeister stehen, darf nie ein Dienstmädchen eintreten, es kommt eine

alte Frau aus dem Dorfe, welche dort alles besorgt. So etwas von Schulung der Dienstboten ist mir noch nicht begegnet, alles wird be-

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dacht, und nie wird man gestört, es wird einem nichts aufgedrängt; aber man ist wie von einer Vorsehung umgeben. Ich habe aber manches gesehen, was wir, was Du, liebe Anna, sehr gut in Deine Küche ein­ führen kannst, was gar nicht kostspielig, nur praktisch ist; bitte, bitte, liebe Anna, richte die kleine Küche ein; ich habe reizende Ideen für Dich, ganz deutsch; ich werde ganz neugeboren durch diese Reise und gedenke nun, noch etwas Tüchtiges zu leisten. Ich werde den vorgeschrittenen Schülerinnen wie Emily Last und einigen andern alle vierzehn Tage zwei Stunden extta geben, und dazu noch einige andere Damen nehmen und meine englischen Erlebnisse ver­ werten: Was England mir zu denken gab in bezug auf Volks- und Frauenerziehung. Da werd« ich einen Vottrag, auf mehrere Stunden verteilt, halten: 1. Die Frauen-Aniversität Girton College, Cambridge und dasPestalozzi-Fröbel-Laus inBerlin. 2. Die englische Frau in der öffentlichen Schul- und Armenverwaltung. 3. Das religiöse Leben in England und der Glaube, den Jesus hatte, d. h. über den letzten Vorttag bin ich mir nicht ganz klar, ich mache hier Vorarbeiten, d. h. in London An Frau Direktor Jessen.

London W. 20. September 1883. Laben Sie gestern nicht ein Zupfen und Zerren an Ihrer Seele gefühlt? Ich dachte so lebhaft an Sie, wünschte so von ganzem Lerzen, daß Sie mit uns waren in einer Kochschule für zwölfjährige Mädchen aus hem Volke; die Lehrerin war so ausgezeichnet, daß ich sie eine Künstlerin in ihrem Fache nennen möchte. Mit 20 oder 24 Volksschulen für Mädchen ist jedesmal eine Kochschule verbunden, und ein Seminar für Kochlehrerinnen soll auch vorhanden sein, was ich auch natürlich noch besuchen werde. Die Kochschule bestand aus drei Räumen, Küche, Garderobe und Zubehör. Die Kochgeräte waren einfach, wie sie in eine gute, bürgerliche Küche gehören, zwei Kerde mit Kohlen geheizt, neben dem Küchen­ schranke eine lange Anrichte mit Schubladen zu vergleichen mit einem Dörte, welches die Geräte ttug. In angemessener Entfernung von diesem Anrichte-Schrank ein langer Küchentisch, welcher das geräumige Zimmer in zwei Teile teilte; jenseits des Küchentisches erhoben sich drei Reihen Bänke amphitheattalisch erhöht, ganz schulmäßig eingerichtet. Ich lege eine zwar sehr unvollkommene Zeichnung «in.

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Als wir eintraten, eine Stunde nach Anfang, saßen sechzehn Mädchen auf den Bänken. Die Lehrerin stand vor dem Küchentisch oder viel­ mehr vor dem Gasherde, der zur Demonstration in der Mitte vor dem Tische angebracht war. Auf der Schultafel war ausgeschrieben, was zu dem zu kochenden Gerichte verwendet wurde, genau die Quantität an­ gegeben und der Preis. Es wurden einfache, gute Speisen bereitet, wie sie bei demDolke beliebt sind. Die Lehrerin war dabei, denMädchen die Zubereitung zu zeigen — sie schauten an — dann diktierte sie ganz langsam und einfach, was sie tat. Sie machte darauf auf wichtige Kleinigkeiten aufmerksam, die nicht geschrieben, aber besprochen wurden. Nachdem sie damit fertig war, examinierte sie kurz, und nun wurden zwölf Mädchen gerufen, sie wuschen sich die Lände, zogen einen Kittel an, und zwei und zwei bereiteten die besprochenenMehlspeisen, die vier übrigen hatten abzuschreiben und auswendig zu lernen. Die Lehrerin gab so vortrefflichen Anschauungsunterricht im Kochen mit so einfachen, praktischen Erklärungen und Besprechungen, daß die Kinder ihre Sache prächtig machten — freilich kochten sie nicht zum ersten Male. Dabei war eine Ruhe, eine Ordnung und doch ein Eifer. Aber die Lehrerin hatte ihre Augen überall und ihre Land nur, wo es dringend notwendig war, sie führte die Mädchen mit einem Blicke zum Rechten, die Organisation war meisterhaft, kein Mädchen stand müßig. Als die Sache beendet war, reinigten dieMädchen die Anrichte und Bretter, mit denen sie zu tun hatten; leider wurde das Abwaschen einer Frau überlassen. Die Kinder falteten auf das sorgsamste ihre Kittel, setzten sich wieder auf die Bänke und bekamen ihre Aufgabe in den kleinen, selbst verfaßten Kochbuche, dessen Abschrift sie nach dem Diktate sauber und sorgfältig von der Lehrerin nachgesehen, gemacht hatten. Dann standen sie alle auf, machten ihren Knix und wünschten der Lehrerin: „GutenMorgen". Ich sah in Salisbury eine Kochschule, wo aber nur praktisch gelehrt wurde, auch ganz reizend; aber int kleineren Maßstabe. Die Lehrerin hatte immer zwei Stunden für eine Klasse und immer sechzehn bis achtzehn Mädchen. Die Kinder kauften meistens das Essen selbst für ihre Eltern, sie waren stolz und glücklich, davon nach Lause zu tragen, und auch die Lehrerinnen in der Schule kauften, und Kinder, die über Mittag in der Schule blieben, oder nachmittags nach der Schule essen. Es wurden keine großen Portionen gekocht und ver-

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schiedene Sachen; alles wurde nicht an einem Morgen gezeigt, was die, Mädchen gekocht hatten, nur, glaube ich, ein bis zwei Gerichte. Es scheint mir dies alles vorzüglich organisiert; ich werde mich noch mehr danach erkundigen. In Salisbury stand die Kochschule nur mit der Gemeindeschule in Verbindung und zu gleicher Zeit mit einem Bezirks­ verein von Damen, welche dort für Kranke und Rekonvaleszente kochen ließ, es wurde immer den Tag vorher angemeldet, was nicht seststand zur Verteilung. Als wir dort waren, wurde Beestea gemacht, Reis mit Milch, Kartoffelbrei und ein Braten, alles für Rekonvaleszente. Die Mädchen waren auch aus der Gemeindeschule und lernten in Ver­ bindung mit dem Kochen Laushaltungskunde in der Schule. In Salis­ bury war ich auch in einem Lehrerinnen-Seminar, das ganz vorzüglich eingerichtet war, die Lehrerinnen mußten auch kochen lernen. O wie nötig wäre das unsern Lehrerinnen; ich habe bei den Ferienkolonien bei den meisten die traurigsten Erfahrungen gemacht, daß sie unordentlich und ganz unpraktisch sind. Was sagen Sie zu meinen Erfahrungen? Es beglückt mich und betrübt mich, daß ich ausgeführt sehe, was ich so­ lange in der Seele trug; aber ausgeführt sehe in einem andern Lande als das meinige. Laben Sie Loffnung, daß wir in der Steinmetzstraße einen Anfang machen könnten? Schreiben Sie mir Ihre Ansicht hierüber, ich bitte Sie.

Mit Grüßen für Sie, wie für die lieben Ihrigen von meinem Manne und mir. Ihre L. S. Tagebuch.

September 1883. Ich beschäftige mich viel mit unserer teuren Kronprinzessin und überzeuge mich immer mehr, wie sehr sie richtiger, ergebener Freunde bedarf. Die Frau Kronprinzessin müßte sich vielmehr zeigen, müßte trotz Antipathien sich doch nicht zurückziehen, sondern von ihrem Protektorate Gebrauch machen, in offener aber huldvoller Weise ihren Einfluß geltend machen. Mir liegt ja alles daran, die hohe Freundin populär im Volke und in der gebildeten — nicht sogenannten — Gesellschaft zu sehen. Die Kronprinzessin hat so mächtige Feinde; aber der wahrhaft gebildete Mittelstand und die bessere Volksklasse sind eine mächtige Stütze, und es liegt im Deutschen soviel Bedürfnis nach einem edeln Fürstenhause,

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es ist der Instinkt in ihm, die Vertretung des Besten zu sehen, was wir erstreben, was wir sind. Die wahrhaft konstitutionelleMonarchie ist dem Deutschen innerste» Bedürfnis, und unsere Kronprinzessin ist eine wahrhaft konstitutionelle Fürstin. And wenn der konstitutionelle Fürst sich stützt auf sein Volk, verstehe ich das so, daß er in ihm das Beste, was er besitzt, fördert und pflegt und seiner naturgemäßen Entwicklung nachgeht, wie er seine eigene, die seiner Kinder pflegen soll.Wenn er das tut, hat er nichts zu fürchten in Deutschland, denn der Deutsche will nichts anderes im Grunde. Gerade er ist autoritätsbedürftig, er will den Herrscher und deutschen Kaiser. Deutsche Kaiserin zu sein, ist eine schöne Aufgabe; aber freilich ein Schweres ist dabei: Das Aufgeben der starken Sub­ jektivität, wenn ein Fürst, eine Fürstin diese besitzt, das Gefühl stündlich zu betätigen, daß man nicht sich selbst gehört, daß man einem großen Reiche sich hingeben muß, daß man sich immer möglichst klar und ver­ ständlich zeigen muß, daß man die liebenswürdige Form, die dem edeln Inhalte entspricht, bis ins einzelne ausbilden und betätigen muß; daß man sich nicht gehenlaffen darf, außer im aller intimsten Kreise — und wo ist dieser oft für den Fürsten? Das — ja, das ist eine schwere Aufgäbe, besonders für eine starke, mächtige Natur — in einer solchen liegt soviel Kraft, soviel Stoff; aber auch soviel zu verarbeiten. Gibt es einen Menschen, der unserer teurenKronprinzessin hier hilfteich zur Seite steht ? der sie liebt um des Reichtums willen ihrer schönen Natur, ganz abge­ sehen von ihrer Stellung; aber der auch ihre Aufgabe klar vor sich sieht, und dem sie einRecht einräumen würde, ihrFreund oderFreundin zu sein in der höchstenBedeutung des Wortes; der mit ihr arbeitete fürs Volk? Sie müßte sich dieser Person gegenüber ganz gehen lassen, ihr oft beschwertes Herz entlasten dürfen, alles, was sie sagte, müßte dort wie im Grabe ruhen; aber es müßte auch der ganze Mut der Auftichtigkeit in dieser treuen Seele wohnen; sie müßte lebendige Fühlung haben mit der Welt, und sie müßte raten, helftn, die Popularität zu gewinnen, die ihr auch einst zugute kommt bei den Regierungsgeschästen, welche die Fürstin teilen wird und teilen soll. And ich hatte mir immer gedacht, * * * fei berufen, diese Freundin zu sein. Sie ist warm und ideal, um große Gedanken zu hegen, die die Fürstin realisieren soll, sie ist diskret und unabhängig, sie kann jede Stellung in der Gesellschaft einnehmen, die sie will und kann sich zurückziehen, wenn sie will. Sie hat auch die Zeit, denn Zeit gehört auch dazu; vor allem hat sie den fesselnden Geist.

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Sehr wichtig sind auch die Beziehungen zwischen England und Deutschland. Eine englische Freundin erzählt mir, wie wenig in England Deutschlands Politik in ihren verschiedenenRichtungen bekannt sei, und Deutschland in seinem Größenwahnsinn tut ja leider alles mögliche, um England zu beleidigen. Bon großer Wichtigkeit scheint mir auch, unsere Aufmerksamkeit auf Brüssel zu richten, dort ist eine mächtige Bewegung fitrVolkserziehung, natürlich zuerst in bezug auf die Volksschule und Kindergärten, letztere nur betrachtet vom Standpunkte und als Vorstufe zur Schule; aber eS ist das schon wertvoll. Der Bürgermeister von Brüssel, Mons. Buls, hat meinen Mann und mich einmal besucht in Berlin und sorgt immer sehr freundlich dafür, daß Personen, welche ich empfehle, einen Einblick in die dortigen Schulverhältnisse tun; deren Bewegung er hauptsächlich veranlaßt hat. Ich habe Mons. Buls geschrieben und geraten, der Kronprinzessin einigeBerichte zu schicken. Die Kronprinzessin kann eine Mission für uns haben in Berlin und in Deutschland in Rücksicht auf die Entwicklung und Bildung vieler Seiten unseres sozialen Lebens. Es ist gar nicht zu leugnen, daß eine weit größere Bewegung unter die Gemüter gekommen ist, für daS Volk zu sorgen seit der Gründung des häuslichen Gesundheitsvereines, seit den Ferienkolonien usw. Es sind dies greifbare Dinge. Die Einwirkung und Betätigung der Frau Kronprinzessin ist von großer Tragweite in dieser Bewegung; aber wir müssen auch sorgen, daß Parteiungen ver­ hütet werden, oder vielmehr, wir könnten noch viel nachhaltiger wirken, wenn verschiedene Bestrebungen und Vereine sich mehr in die Kände arbeiteten. Ein wesentliches Mittel dazu wäre, wenn die Frau Kronprinzessin öfter Zirkel von Frauen und Männern um sich vereinte, welche an An­ stalten oder Vereinen unter dem Protektorat der Kronprinzessin stehen. Ich habe ja letzten Winter das Glück genossen, fast jeden Sonn­ abend von der Kronprinzessin empfangen zu sein, unvergeßliche Stunden mit ihr verlebt; aber würde es nicht den Zwecken, welche die Kron­ prinzessin zu erreichen wünscht, sehr förderlich sein, wenn diese Sonn­ abende öfter in obigerWeise benutzt würden? Ich selbst bringe bei diesem Vorschläge das größte Opfer, aber ich schlage den Einfluß der Frau Kronprinzessin auf die öffentlichen Angelegenheiten so hoch an.

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In der Krone muß sich das männliche und das weibliche Prinzip vereinen, wie in der Ehe und Familie zur Erziehung. Unsere Kronprinzessin erscheint mir als eine ganz hervorragende Persönlichkeit unter den Fürstinnen. VollVerständnis für die politischen Fragen tritt sie vollständig als Mutter der Nation auf in ihren Wand­ lungen, pflegt die Kultur und versteht die Forderungen der Volks­ erziehung für unsere Zeit inLarmonie zu bringen mit den Forderungen der politischen und wirtschaftlichen Seiten des Lebens. Bei vollständi­ gem klaren Erfassen der männlichen Seite der Krone vertritt sie in der Tat und handelnd die weibliche Seite. Die gebildete, freie Bürgerin ihr gegenüber muß sich innerlich alsMensch demMenschen gegenüber fühlen.

September 1883. „O wie gebunden ist desWeibes Glück!" sagt Goethe, ich möchte sagen, wie gebunden ist desWeibeö Kraft! — wenn sie eine Deutsche ist — wie gebunden ist die Kraft, die über des Laufes Grenzen hinüber reicht. „Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen ist Pflicht und Trost" — Ja, für die deutsche Frau ist es wirklich ein Trost, wenn Gatte, Kinder, fordernd an sie herantreten, und ihre Pflicht sie heißt, des Geistes Kräfte aufzubrauchen im Dienste der Familie. Aber, wenn man keinen fordernden Gatten und keine Kinder hat, und wenn der Gatte auf der Löhe der Kultur steht, und seines Weibes Leben als für sich etwas Bedeutendes ansieht in bezug auf ihre Wirksamkeit im sozialen Leben und sie nicht aufbrauchen will für seinePcrson und seinen Beruf? O für die deutsche Frau ist es fast barbarisch, wenn nicht der Gatte über sie gebietet. Za, das eitle, ehrgeizige organisatorisch angelegte Weib, oder die Schriftstellerin, sie findenRaum in unserer Gesellschaft; auch die Klein­ magd der Männer im sozialen Leben, die sich zufrieden geben mit den Brocken, den ihr der Magistrat in der Armenverwaltung oder Waisen­ pflege hinwirft — nein, das kann ich nicht.MeinemManne könnte ich dienen, für sein Glück mich hingeben, in seiner Geisteskraft meine Geisteskraft aufziehen lassen — weil ich ihn liebe — liebe im heiligsten Sinne des Wortes, weil er edel, klug, hilfreich und gut ist — weil mein Dienst an ihn der Dienst des Guten wäre — aber denMännern will ich nicht dienen, ihre Kleinmagd will ich nicht sein in dem vollen Bewußtsein meiner Ebenbürtigkeit und vollen Selbständigkeit meines Wesens in Gedanken und Tat.

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Ein eitles, agitatorisches, ehrgeiziges Weib bin ich auch nicht, eine Schriftstellerin ebensowenig, meinMann will mich nicht für sich; für das was ich leisten kann: Me mütterliche Erzieherin zu bilden für Laus und Gemeinde, für Volkserziehung zu arbeiten ist keinBoden und kein Geld, um ihn zu kaufen — was bleibt mir übrig? Ach, fast der Wunsch, nur „einen rauhen Gatten" zu besitzen, um den Trost zu haben, ihm zu gehorchen. An Frau Direktor Jessen?

London W. 9. Oktober 1883. Ich danke Ihnen recht sehr für Ihre beiden Briefe und besonders für Ihre Mitteilungen aus Ihrem persönlichen Leben, sie tun meinem Lerzen so wohl, sie sind so erquicklich, während das Vereinslebey mir jämmerlicher und kleinlicher als je erscheint. Sie, liebe Frau Jessen sind mir immer ein Trostpunkt, wenn ich an Berlin denke und unser Wirken dort Lier lerne ich soviel, habe so seltenes Glück, inmitten eines aus­ gezeichneten Frauenkreises mich zu bewegen, von ihnen soviel ausge­ suchte Freundlichkeit, ja Lerzlichkeit zu erfahren, daß ich wirklich be­ reichert heimzukehren hoffe und erlöst von Empfindlichkeit für die Stiche des kleinen Angeziefers kleinlicher Gesinnung im Vereinsleben. Wie in London alle Verhältnisse des öffentlichen Lebens den Stem­ pel der Großzügigkeit tragen, so ist auch das Vorgehen der englischen Frauen großartig. Freilich kann man daö in Deutschland der äußeren Weise nach nicht nachmachen, weil uns die Bedingungen fehlen; aber man kann sich die Gesinnung aneignen, die groß ist und die überall hinpaßt. Cs ist enorm, was England in den letzten Jahren für Fortschritte gemacht hat in der Entwicklung geistiger Bildung und besonders durch den Einfluß der Frauen, die Großes leisten an Arbeit für Frauen-, Volkserziehung und Armenpflege. Wenn die Engländer nur nicht in dasselbe Fahrwasser geraten, in dem wir rudern; eine viel zu große Überschätzung deS frühen Wissens im Vergleich zu der praktischen und eigentlichen Erziehung überhaupt — so wird England das größte Volk der Welt werden in der Crziehungsfrage, bei der mächtigen Naturkraft und der Möglichkeit freier Bewegung. Lätte ich Söhne und Töchter, und könnte ich es irgendwie ermöglichen, sie müßten, wenn sie erwachsen und reif wären, eine Zeitlang in England leben. Wir Deutschen scheuen uns so vor dem freien, kräftigen Leben, das natürlich seine Rohheiten

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hat; wir scheuen uns so vor der Unvollkommenheit und Unschönheit der Entwicklungsform, und so lassen wir lieber keine volle Entwicklung zu, damit nur die groben Formen nicht erscheinen. Und doch ist Unvoll­ kommenheit nicht Sünde, sondern eine notwendige Erscheinungsform, wenn man zum Vollkommenen strebt in Kraft, Ehrlichkeit und Trme. Meine liebe Frau Jessen, ich wüßte nichts auf der Welt, waS mich so hätte beglücken können, als dieser Aufenthalt in England; er ist meine „finishing school“, ich bedurfte des tiefen Eingehens in ein neues Leben, um das, was in mir gebunden lag, zur Entfaltung zu bringen. Ich komme mit größeren Gesichtspunkten heim, als ich ging, hoffentlich mit größerer Energie für öffentliches Wirken und auch — was dazu absolut notwendig ist, mit größerer Ruhe und Gefühllosigkeit gegen gewisse Dinge. Ob ich mich noch am Gesundheitskomitee in der Steinmetzstraße beteilige, wird zum großen Teile davon abhängen, wie ich mich mit Ihnen verständige, und wie Sie sich zu der Sache zu stellen wünschen. Wenn ich auch fest entschlossen bin, mich weit weniger stören zu lassen durch Erbärmlichkeiten und Mangel an Noblesse des Charak­ ters, so bin ich ebenso entschlossen, der Sache nicht unnütz eine Faser Kraft zu opfern. Ich habe hier gesehen, daß dem Geiste nach möglich ist auszufithren in der Armenpflege usw., was ich als Ideal im Lerzen trug, wenn auch die Form der Ausführung, die Kombination der Dinge bei uns eine andere sein muß als hier; aber das wirklich Gute paßt dem Geist« nach für jedes Land, und ich habe noch einenPunkt derWirksamkeit inBerlin, von dem aus vieles sich entfalten läßt, was gerade für Berlin eineNotwendigkeit ist. Kommen im Gesundheitsverein Elemente oben auf, die das eigentlich Erzieherische nicht pflegen, sondern nur für sich und den äußern Erfolg arbeiten, und sind diese Clemente nur durch beständigen Kampf niederzuhalten, so lasse ich die ganze Sache laufen, denn die Zeit, und vor allem die Kraft, die ich dort im Kampfe einsetzen muß, kann ich an anderer Stelle rein zur Produktion verwenden. Ich habe, Gott sei Dank, einen gesunden Kern im Pestalozzi-Fröbel-Kause in der Stein* metzstraße und ziehe mir immer mehr verständnisvolle Kilfen heran; auch knüpfe ich hier soviel« Fäden mit meinem Berufsleben, die ich sicher nicht wieder fallen lasse. Wenn im ganzen Berlin nicht geneigt ist, Englands Bedeutung für uns anzuerkennen, so tue ich es, und ich lasse gern da­ reine, frische, naturkräftige Blut, das noch in England pulsiert, in meine, Adern strömen und werde es mir durch nichts rauben lassen.

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Aber so weiß ich auch, was England von uns nehmen muß zu seiner Ergänzung und Vollendung, und vielleicht bin ich nicht ganz un­ tauglich dafür, englischen Frauen einen Teil der Dankbarkeit durch di« Tat abzutragen, welche ich im Aerzen fühle für alles, was sie mir geboten. Mein Mann denkt ganz wie ich; aber er wird jedenfalls im Ge­ sundheitsverein seine Stellung wieder einnehmen und behaupten. Ich werde Ihnen so viel erzählen, so viel mit Ihnen zu besprechen haben, daß sie hoffentlich ein bißchen Zeit für mich ansammeln; ich freue mich so, daß Ihr lieberMann auch gern in London war, und sich wohl­ tätig berührt fühlte von dem Leben hier. Wir gehen nach Oxford, Bir­ mingham und Cambridge, ich werde Miß M. in Girton College auf­ suchen, eine Freundin von ihr hat mich hier aufgesucht. Di« Kron­ prinzessin wünscht, daß wir noch einmal nach Cambridge gehen, NewnHam Hall zu sehen. Dann haben wir die Bekanntschaft von Postminister Fawcett*) gemacht; er ließ uns die ganz große Zentralpost und den Telegraphenbetrieb hier zeigen, und hat uns auf Ende d.M. nach Cam­ bridge eingeladen, wo er an der Universität liest. Er und seine Frau sind sehr bedeutende Nationalökonomen. Mit den herzlichsten Grüßen

Ihre getreue

S>. S.

An M. Lyschinska. Köln (Bahnhof). November 1883.

Du wirst denken, daß wir Berlin nah sind, aber dem ist nicht so, wir kommen erst morgen früh zwischen 7 und 8 !lhr an. Ich bin noch mit rechterWut auf England von England geschieden. Wir hatten ein scheußliches Schiff, ich war entsetzlich seekrank, und sie hatten so viel Pakete an Bord, daß das Einladen in Dover und Aus­ laden in Calais so viel Zeit in Anspruch nahm, daß wir den Anschluß an den belgischen Zug verfehlten und in Lille von 2 Ahr in der Nacht bis 6 Ahr liegen blieben und mit dem nächsten Bummelzug nach Köln fuhren, wo wir seit 4 Ahr sind, und von wo wir um 8 Ahr abfahren werden. *) Ein erblindeter Mann, welcher zu gleicher Zeit als Postminister, AriversttätSprofessor, Schriftsteller und Mitglied des Anterhauses Lervorrazendes leistete. Lyschintla, Henriette Schrader n.

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Kapitel 4:

Ich habe wohl nie eine so scheußliche Reise gemacht, scheußliche Wagen vollgestopft von Reisenden, und diese- langsame Fahren und ewige Anhalten, so daß ich dasVorspiel der Seekrankheit nie los wurde. Die Belgier warten nie mit ihrem Zuge, sie sind überhaupt ein wider­ wärtiges Volk, sie haben weder die Vornehmheit der Engländer, noch die Grazie der Franzosen, noch das Sympathische der Deutschen; kurz, durch ihre Rücksichtslosigkeit sind wir sitzen geblieben, und die geizigen Franzosen fahren nicht den Fernzügen nach, wie es in Deutschland geschieht — nein, was das Verkehrswesen anbelangt, ist doch kein Land so weit vorgeschritten, wie Deutschland. Überhaupt ich freue mich, wieder in Deutschland zu sein, und vor allem scheint meinMann behaglich zu sein; Du hättest nur sehen sollen, mit welchem Appetit er heute gegessen hat. Nun, I have given Germany a good scolding osten enough, aber nun bin ich ihr wieder gut, so recht vonLerzen gut. Ich war ganz stolz auf unsere stattlichen Bahnbeamten, die so frisch gewaschen aussehen, so wohlgenährt, mit ihren schönen Bärten und roten Wangen; überhaupt kommt es mir so rein, so aufgeräumt vor nach London. Als ich neulich nach Croydon fuhr, war ich eigentlich entsetzt über die Aus­ dehnung und Scheußlichkeit der Vorstädte Londons; es ist, als fühle man ein gieriges, zitterndes Wühlen in der Erde nach Verdienst und Geld. Ich werde nie verlieren, was ich gewonnen habe in England, und ich werde mich immer unter dem Zauber des frischen, freien Lebens Wien, aber gerade auf der Fahrt nach Croydon hatte ich das Gefühl eines Fiebernden in Deinem Lande. Wie warm, wie behaglich ist man hier in den Wartesälen, freilich fehlt etwas frische Luft, aber man ist ganz warm, nicht halb gebraten, halb gefroren, wie bei Eurem Feuer, das mehr poetisch als praktisch ist. And hier ist alles zur Bequemlichkeit desReisenden eingerichtet; nachdem wir uns ganz umgekleidet, bestellte ich ein Diner im Speisesaal: Suppe, Fisch, Lasenbraten mit Bohnen und gebratenen Kattoffeln, Omelett aux fines herbes und wirklichen Kaffee für meinen Mann; ich ttank zuerst Bier und nachher noch Wein mit meinemManne, und wir stießen an und ttanken auf unsere Gesund­ heit in Deutschland. Karl hat schon wieder rote Backen, daS Essen war ausgezeichnet und von allem nur einePortion, so daß wir alles aufaßcn.

Ich plaudere so mit Dir, mein Kind, als wärest Du noch bei uns, und es sind gleich 24 Stunden, seitdem wir uns trennten. Der Abschied wurde mir so schrecklich schwer

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr.

Berlin W, Steglitzer Straße 68. 10. Januar 1884. Ich schreibe Ihnen heute nur, um Ihnen zu danken, daß Sie freundlich liebevoll an uns denken .... Die Kronprinzessin begünstigt meinen

Plan sehr, eine Laushaltungsschule mit demPestalozzi-Fröbel-Lause

zu verbinden; in einem eigenhändigen Schreiben*) drückte sie ihre warme

Sympathie dafür aus, und sie schickte 600 Mark, die sie zu wohltätigen Zwecken geschenkt bekommen. Ich habe schon viel Geld für den Zweck

aber auch viel Arbeit.

Mein Mann hat so viel mit den Krankenpflegerinnen zu tun; er, Lerr Ohlshausen und Lerr vom Rath sind gewählt, in Verhandlungen

mit dem städtischen Krankenhause zu treten, daß dort unsere Kranken­ pflegerinnen Fuß fassen. Kurz, es ist ein regeS, bewegtes Leben in den Vereinen. Eine Dame, die ich in London kennen lernte, ist hier, unsere

Anstalt zu studieren, und da sie nur kurze Zeit bleibt, so drängt sich

vieles zusammen. So bin ich von Morgen bis Abend beschäftigt, zumal wir wieder mehr an der Geselligkeit teilnehmen als früher. Finden Sie

darin die Erklärung unserer knappen Korrespondenz

Bis jetzt waren wir jede Woche bei unserer hohen Freundin, ich glaube, es ist sehr gut für dasVereinsleben, daß meinMann wieder hier ist, er ist so sachlich und objektiv. Es scheint jetzt alles in Äarmonie sich zu

vollziehen. Die Aufgaben, welche zu lösen sind, sind so groß, daß wirk­ lich keine Zeit und Kraft für Zank übrig bleibt.

Ich habe recht ruhiges, ja kaltes Blut bekommen und werde nie wieder meinLerz an einen Plan hängen; sondern Menschen wie Dinge

ansehen und gebrauchen. Natürlich steht inmitten dieses Lebens, still und unberührt, der Freundekreis, dem ich traue, glaube, den ich liebe ....

An M. Lyschinska. Berlin W. 21. Januar 1884.

Ich bin doch wieder mit ganzer Seele in meiner Arbeit, und ich finde im Pestalozzi-Fröbel-Lause so wertvolle Keime zu dem, was rin Erziehungshaus sein soll, die mir erst recht zum Bewußtsein gekommen

find, seit ich in England war. *) Siehe Seite 12.

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Kapitel 4:

Ich glaube doch, daß Deutschland vorangeht in der grundlegenden Erziehung, in derRealisierung geistiger Mütterlichkeit, angeschlossen die

Lausmütterlichkeit; aber was wir haben, muß sich mehr mit dem öffent­ lichen Leben verbinden, mit der Energie und technischen Tüchtigkeit der

englischen Frau; wir müssen einander helfen und ergänzen. Bitte lies über „die Idee der Elementarbildung" von Pestalozzi

Band 17*, Seite 176, mit dem unteren Absatz beginnt das für uns

wichtige. Es ist so klar, so einfach geschrieben, es sollte übersetzt werden

Bitte sage Carry Bishop, daß ich mit Emily Last die englischen

Schulbücher durchspreche, und sie mit unserer Methode vergleiche; wir fangen mit dem A,B,C-Buche an, das sollte sie auch mit ihren Schüle­

rinnen tun. Euer Bestes liegt in den Büchern, manch« sind reizend.

Soeben erhalte ich von einemMitgliede der Birmingham Schul­ behörde Kinderarbeiten aus den dortigen Schulen mit einem sehr netten

Briefe von Miß Kendrick. Auch Deinen Brief erhielt ich; als ich ihn gelesen hatte, hatte ich

erst recht tausend Fragen zu tun. Nun liegt dasMeer zwischen uns, das

schreckliche Meer An A. Sohr.

Berlin W. 21.März 1884. Das Leben mit seinen vielfachen Ansprüchen und Arbeiten läßt mich

so wenig zum persönlichen Dasein kommen, daß ich Ihnen lange nicht geschrieben habe. Inzwischen hat sich vieles zugetragen, besonders in der politischen Welt.

Sie werden von der Vereinigung der Sezessionisten und Fort­

schrittspartei gehört haben, natürlich; aber der innere Zusammenhang, die innere Bedeutung der Sache und Stellung zum ganzen ist nur

wenigen bekannt. Lier im Lause waren di« Versammlungen der Ver-

trauten, und die Sache wurde mit solcher Diskretion behandelt, daß die Welt keine Ahnung hatte von dem, waS sich vollzog, bis es eine vollendet« Tatsache war.

Die Wirkung derselben ist nun eine sehr verschiedene in verschiedenen Teilen des Reiches, ebenso in den Gesellschastsschichten und dem *) SeyffarthS Ausgabe von Pestalozzis Werken, Brandenburger Aus­ gabe 1873, der Supplementband.

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Parteileben der Berliner Gesellschaft. In Braunschweig z.B., wo man immer den Nationalliberalen sehr nahe stand, hat die Sache großen Schrecken verursacht, und der Name Eugen Richter wirkt so ängstigend auf die Gemüter, daß viele dort sich von der Gemeinschaft mit meinem Manne zurückziehen, weil er den unerhörten politischen Fehltritt in ihren Augen begangen hat, mit diesem enfant terrible in Gemeinschaft zu treten, während gerade E.R. — wie es scheint — in der Sache ein großes Opfer gebracht hat, denn um seine Alleinherrschaft ist es unter Männern wie Stauffenberg usw. geschehen. Vielleicht war auch Fusion seinerseits mehr Folge des Selbsterhaltungstriebes als der Selbsthin­ gabe; denn man hört allerlei, daß er nicht mehr so sicher stand in seiner eigenen Partei, weil Kähnel doch im stillen Ringen mit ihm um die Führerschaft der Fortschrittspartei war. Es ist jetzt großes Klagen in Braunschweig von meines Mannes Freunden, und es heißt, es sei sehr zweifelhaft, ob man ihn durchbringen, ja aufstellen kann. Mein Mann ist ganz ruhig und still, er arbeitet immer aufopfernd und fleißig für das, was der Moment, bringt und sagt: Abwarten.

Nun kommt viel darauf an, daß die Pattei Zeit gewinnt, sich zu zeigen, und daß nicht jetzt schnell derReichStag aufgelöst wird, was möglicherweise die heutige Session mit sich bringt. Indeß scheint Windhorft auch Interesse daran zu haben, daß die Lage desNeichstages nicht ver­ ändert werde, da bei der Zusammensetzung der Parteien dem Zenttum die Entscheidung bei der Abstimmung züfällt. Gestern war ich imReichStage bei der ersten Verhandlung über das Sozialistengesetz. Windhorst will es einer Kommission überweisen, die deutsch-fteisinnige Pattei auch. Wenn Sie diesenBrief erhalten, werden Ihnen die Zeitungen sagen, was geschehen ist, es hängt viel davon für die neue Partei ab, daß das Gesetz zur Kommissionsberatung kommt. Bismarck hielt eine lange, wenig schneidige Rede gestern, Puttkamer war äußerst schwach, Bebel vorzüglich,Windhorst-glänzend. Die Regierung hatte sich nämlich verrechnet, sie war präpariert, die neue Pattei anzugreifen, hatte erwartet, sie würde herauskommen; aber sie hatte die Taktik, zu schweigen. DieNationalliberalen haben ihre Bereit­ willigkeit erklärt, das Sozialistengesetz zu verlängern, Bismarck kokettiert wieder mit ihnen, und sie hoffen durch die Lage aer Dinge, mit ihm gehen zu können und sich zu stärken.

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Kapitel 4:

Windhorst hat Bismarck harte und ernste Worte gesagt; wenn er schließlich zustimmt zur Verlängerung deS Gesetzes, so kostet es dem Reichskanzler viel. Nun steht eS bei dem ganzen Kampfe um die Herrschaft des ge­ bildeten Vürgerstandes mit dem Junkertum — wohl verstanden nicht mit der gebildeten Aristokratie, von der freilich Preußen nicht viel auf­ zuweisen hat. Das Junkertum charakterisiert sich durch Frömmelei,Beschränktheit, Abwesenheit jeder Idealität, durch Treiben von Interessenpolitik und Herrschsucht auch über die Krone — und nun handelt es sich um die große Frage: Wird der Kronprinz sich auf das Bürgertum stützen — wird er zu einer Entscheidung kommen? Ich wünsche mir oft einMann zu sein, um in den Kampf gegen daS Junkertum antreten zu können, in dem ich den Hemmschuh des wahren Idealismus sehe, nach allen Seiten hin. Diese Junker — sie krochen vor Napoleon I., Stein hat sich mit ihnen herumgeschlagen — Sie wissen das alles und besser als ich, wie das Junkertum immer da gebuhlt hat, wo es seinen eigenen, jämmerlichen Vorteil suchte. Jetzt ist es wieder geschäftig und lebendig und sucht sich zu befestigen, und nicht nur das Junkertum von Geburt, nein, daS von Gesinnung, das bürgerliche Strebertum, welches noch elender sich benimmt, weil es sich protegieren läßt vom geborenen Junker — o da gäbe es viel zu erzählen von unsern gesellschaftlichen Verhältnissen und eigentümlichen Verbindungen — ach, was weh tut —Männer der Wissenschaft und Kunst gehören viele dem Junkertum an, deren große Weisheit und Genialität deS Wesens sie nicht schützt vor der Borniertheit, Beschränktheit und Jämmerlichkeit auf dem Gebiete des sittlich-religiösen Lebens. Wenn ich vomKampfe desBürgertums mit dem Junkertum spreche, so meine ich nicht einBürgertum, wie unter LouisPhilippe, einBürgertum der Geldspekulation und Geldaristokratie, sondern den wirklich freien Bürger wie Rickert, Schrader, Eberty usw. Am dieses fteie Bürgertum zu stärken und zu heben, können die Frauen unendlich viel beitragen, wenn sie lernen, sich mit wenig Mitteln zu behelfen, selbst einzutreten in den Kampf um das tägliche Brot, wenn es sein muß; wenn sie die Bedeutung des freien Bürgertums verstehen, sich dafür begeistern und tüchtig machen für dasselbe einzutreten; wenn sie frei von der Schwäche oder Eitelkeit bleiben, in gewisse Gesellschaftskreise zu treten, deren Zutritt den Bürgerlichen gewöhnlich ein Etwas kostet, und wäre es nur ein

AuS-üge auS Briesen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Landkuß, der nicht vom Lerzen kommt; oder dieLinnahme eines protegierenden Lächelns. Liebes Fräulein Sohr, Sie haben mir einmal gesagt, daß man mich in manchen Kreisen für schroff und wenig liebenswürdig halte — glauben Sie mir, ich bin das vonNatur nicht, aber der Abscheu, mich prote­ gieren zu lassen, oderLob mit Lob einzuhandeln, ist so tief in mir, daß es unter den jehigenVerhältnissen wirklich nicht immer möglich ist, dabei liebenswürdig zu sein. Dazu kommt meine vielseitige Arbeit, die Kraft absorbiert; zur Liebenswürdigkeit gehören auch Zeit und Kraft. Ich muß Ihnen lebewohl sagen für heute. y getreue $>. S. Tagebuch.

28. April 1884. Das Getriebe unserer politischen Parteien und unserer Politik überhaupt ist sehr verwickelt und schwer zu verstehen, eben weil der Leiter der Dinge so viel von persönlicher Leidenschaft, der Leidenschaft der Lerrschsucht getrieben wird. Der Atemzug eines steten, wohl situierten Mannes ist ihm verhaßt, er will herrschen, die Fäden zurechtlegen, daß sie in seinerLand zusammenlaufen, und er daSReich wie im Marionettentheater am Draht regieren kann. 9. Mai. Ich las in den Zeitungen, daß man damit umgeht,Monopole in bezug auf Dynamit in den verschiedenen Ländern zu errichten und spreche meine Freude und dieLoffnung darüber auS, daß Karl dafür stimmen würde, wenn die Sache vor den Reichstag kommt. „Die Geschichte spielt schon lange", äußerte Karl, „und sie sollen diesMonopol haben, aber es liegt ihnen gar nichts daran vorerst, es ist ihnen recht, wenn Attentate geschehen, welche ihnen die Kandhabe zur Knutenherrschast bieten. Du mußt nur nicht denken, daß es der jetzigen Regierung mit irgend etwas ernst ist, nicht im geringsten. Man kommt zu ganz falschen Kombinationen, wenn man annimmt, die Regierung kümmere sich wirklich um das Wohl und Wehe ihrer Untertanen — das ist ihr ganz gleich —, sie will nur Macht, Unterdrückung aller Selb­ ständigkeit und Zenttalisierung der Gewalt in einer Land. Was das für moralische Wirkungen hat, welche Folgen für die Zukunft derMonarchie daraus entstehen, das ist ihnen alles gleich. Kaiser,Reich, Volk kümmert sie wenig, das ganze Ziel aller Machinationen heißt: „Absolutismus in BismarcksLand", und „die Abfälle für seine Kreaturen", fügte ich hinzu.

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Kapitel 4: An A. Sohr.

Berlin W. 22.Mai 1884. Das Leben fließt so rasch, daß ich immer noch nicht dazu gekommen

bin. Ihnen zu schreiben, obgleich ich Ihnen die Fortsetzung einesBriefes

schulde; aber ich kann sie nicht mehr schreiben, meine Gedanken sind in einer anderen Richtung. Sie werden es vielleicht verwunderlich finden,

daß meinMann und ich trotz der unerquicklichen Zustände, recht vergnügt und wohl find, aber so verwirrt das äußere politische Leben mit seinen sich kreuzenden Interessen ist, so klärt sich unser inneres Leben und die

Stellung zu dem Getriebe immer mehr. Ich lese viel Geschichte, und das

tut mir unendlich wohl: „Wir haben unsre Sach' auf nichts ge­ stellt I", d. h. wir wollen nichts als Wahrheit suchen und vertreten. Nichts für sich selbst wollen, als im engsten Kreise friedlich leben, un­

abhängig, wenn auch so einfach, die Dinge vom historischen Stand­

punkte betrachten und kräftig einsetzen an der Stelle, wo wir unser Arbeitsfeld sehen, das ist doch die einzige Grundlage zum heiteren

Lebensgenuß, das ist was Schiller meint, wenn er sagt, „Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an. Wenn man den sichern Schatz imÄcrzen

trägt".

Freilich verkenne ich keinen Augenblick, daß wir sehr vom Glück begünstigt sind, was ich früher nicht so ganz einsah, sondern eine große

Kärte des Schicksals für meinenMann in der Verstaatlichung der Eisen­ bahnen fand. Gift gegenMaybach und Bismarck imÄerzen trug.Vlieb mein Mann im Eisenbahnwesen, so war ihm eine äußerlich bedeutende

Stellung sicher, d. h. wenn eben Privateisenbahnen bestehen blieben.

Der Verein für Eisenbahnen hatte in meinem Manne eine schöpferisch treibende Kraft, und er trug sich mit weitergehenden Plänen für die

Bildung der Gesellschaft. Doch die freie Bewegung freier Männer wurde gehemmt und alle Keime organischen Lebens, die mein Mann

gelegt und gepflegt, wurden von oben her zertreten. Der Bankerott des jetzigen Eisenbahnsystems, welches an Lows Goldmacherei erinnert, kann

und wird nicht ausbleiben; aber vielleicht bricht er zu einer Zeit aus,

in der meinMann nicht mehr jugendfrisch und disponiert sein wird zu

helfen, die Karre aus dem Drecke zu ziehen. Die Geschichte hat mich gelehrt und getröstet-und sie Hilst ein Stück Welt nach dem andern ab­ zustreifen — denn was ist Ansehen derPerson, Geld,Macht gegen Ein­

heit deS inneren Lebens und Friedens desLerzenS — dies allein ist der

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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wahre Lebenspunkt — alles andere ist Zugabe.Man muß dieBedeutung von Jesu Leben und Lehren erleben, um zu begreifen, daß von seinem Erscheinen ein Wendepunkt in der Weltgeschichte ausgeht. Ich bin nicht ohne Empfänglichkeit für das Weltliche; Macht, Ehre, Reichtum weiß ich wohl zu würdigen, und vielleicht gerade weil ich ganz realistisch nach dieser Seite veranlagt bin, erhöht es die Lebensfreudigkeit in mir, immer ungestörter dem idealen Momente zu leben, das doch immer das Über­

gewicht hat in meinerNatur. Ja, vom Glücke sind wir unendlich begünstigt, weil wir frei sind. Ich tue Blicke in das Leben von Staatsbeamten, die mich schaudern machen, wenn ich denke, mein Mann wäre Vater von einer zahlreichen Familie ohne Vermögen, wenn ich denke, er wäre Staatsbeamter — aber ehe die Frau nicht zurEinfachheit und zur wirklichen Arbeit erzogen wird, ehe sie nicht versteht, welche Bedeutung es hat, ein Charakter zu sein, ehe sie nicht die ganze Tragweite fürs sittliche Leben in der Gesellschaft erkennt, wenn ihr Mann innerlich frei ist, und wie viel von ihr abhängt, daß er es sein kann, eher werden wir nicht aus dem Elende der Intereffenpolitik herauskommen. In der heütigenNummer derNationalzeitung ist ein vortrefflicher Artikel (Limmelfahrtstag), Leitartikel über dieNationalliberalen.Nun, liebes Fräulein Sohr, ich könnte Ihnen Bogen schreiben, und es würde mich sehr interessieren, mit Ihnen alles zu besprechen. Wie leid tut es mir, daß ich Sie nicht einladen kann, bei uns zu logieren. Wir haben kein Fremdenzimmer mehr wie früher zur Disposition, es wird benutzt von einem Sekretär, welcher jeden Tag kommt und nach Diktat meines Mannes stenographiert, oder sonst für ihn arbeitet. Auch ich habe Schreibhilfe für Ferienkolonien nndPestalozzi-Fröbel-Kaus und dergl.; nächstens schicke ich Ihnen Berichte, es ist alles im guten Gange und

Werden. Ich glaube, es trägt viel zu meiner Gesundheit bei, daß ich Schreibhilse habe, so kann ich meine besten Kräfte schonen. Wir haben ein

hübschesBüro für denVerein für häusliche Gesundheitspflege; da arbeite ich oft nachmittags mit der Sekretärin, und das macht sich prächtig. Am abend der Abreise der Kronprinzessin ließ sie mich kommen, und wir haben wohl zwei Stunden ernste Dinge geredet. Ich weiß, daß man sehr geschäftig ist, uns zu verdächtigen, und die politische Stellung, welche mein Mann einnimmt, mahnt doch wohl zurVorsicht von oben. Ich glaube, der Kronprinz ist in der schwierigsten Lage von der Welt. Unser Verhältnis zu Kronprinzens kann nur von Dauer sein, wenn es

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Kapitel 4:

ein vollständig innerlich freies von unserer Seite ist.Wir sagen nicht: Wir wollen so und handeln, weil wir den Einfluß bei Kronprinzens für wichtig schätzen, und wir ihn nicht gewinnen könnten, wenn wir nicht so oder so handelten, nicht so oder so Taktik üben. Nein, streben nach Wahrheit und edler Freiheit, Würdigung hi­ storischer Entwicklung, Schonung, Amsicht, wohin sie gehört, aber nicht ein Haarbreit Konzessionen an irgend jemand oder an irgend etwas machen, was die ehrliche Meinung des Aerzens oder des Kopfes auch nur in ein leises Schwanken brächte.

Tagebuch.

Mai 23. 1884. Die große Vergötterung des Reichskanzlers fließt zum großen Teil aus der Quelle des Philistertums: Aus der Bequemlichkeit. Selten hat es wohl eine gelungenere Kombination gegeben als die von Bismarcks Charakter- und Verstandeseigenschaften und Glücks­ umständen, wodurch er den Deutschen das gab, was der Traum und das Streben langer Jahre war: Deutsche Einheit, deutsche Macht. Das heißt, den meisten seiner Zeitgenossen, besonders dem jungen Nachwuchs, der nichts getan hat, um die Machtstellung Deutschlands zu verdienen, war es ein Geschenk. Aber wie einerseits BismarcksNatur war, ohne Skrupel und Rücksicht den Momenr zu benutzen, zu nehmen und zu tun, was ihm gefiel und seinen Zwecken entsprach, so blieb, nach­ dem die Tat geschehen, der Charakter, welcher fie vollbrachte, mit seiner Tatkraft und Eroberungslust derselbe und kehrte sich nach innen, als die Grenzen gezogen und abgeschlossen waren, und die gewaltige Kraft für Eroberungen nach außen auf sich selbst zurückgeworfen. Diese Kraft ist eine rohe, keiner Zügelung, keiner Veredlung fähig, denn es fehlt ihr jedes ideale Moment. So wirkte sie zerstörend nach innen, wie sie aufbauend nach außen geschaffen. Für die Benutzung des Geschenkes war die deutsche Nation nicht reif — nicht einmal für die Annahme — denn sie ergriff das Anheil­ volle, was der Kanzler bot, mit demselben Enthusiasmus wie die hohe Gabe, und so war von vornherein die unselige Saat gestreut, die jetzt üppig aufzuschießen beginnt und uns in den Kampf zieht um deutsche Einheit, deutsche Macht und deutsche Freiheit, und in diesem Kampfe werden wir erst reif werden für diese Güter.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchem von 1873—1899.

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Lenriette Schrader an ihren Mann.

Zoppot,VillaRickert. 20. Juli 1884. Ich habe rechtes Leimweh nach Dir, obgleich es mir gut geht. Dazu bin ich dumm, der ganze Aufenthalt hier, dasWehen der wundervollen Luft, das Rauschen der Bäume um mich her hat etwas Einschläferndes, und Du möchtest liebe Briefe haben? Bitte komme bald, daß ich wieder wach werde. Zuweilen ist etwas Traumhaftes um mich her, und der Traum ist zuweilen ängstlich ohne bestimmte Bilder Frau Rickert erzählte mir vonVogumil Goltz, den sie gekannt, und gab mir sein Buch von „demMenschen", oder wie es heißt. Es ist etwas Geniales in demselben .... und dieser Mann, der seinen Geist hoch, empor hebt über das Zeitliche und im Glauben an Ansterblichkeit schwelgt, fürchtete sich vor dem Alter? Als wir und verheiratet hatten und in Kreise kamen, in denen nur Jugend, Schönheit, Salongeist, Reichtum und Einfluß galten, habe ich mich aufgelehnt gegen mein Aussehen, daß ich mich Dir gegenüber gc* altert fand, und meine Zeit und Kraft daran gesetzt, dies zu ändern. Ich schäme mich dessen jetzt in tiefster Seele, denn ich war noch nicht einmal geschickt in Toilettenkünsten und wiederum zu rechtlich sparsam, um ihnen alles zu opfern. Seit ich aber ernste Arbeit gefunden, denke ich fast gar nicht mehr daran, und ich kenne keine Furcht vor dem Alter außer — daß seine Schwächen kommen könnten, ehe ich gesagt habe, was in mir lebt, und was der Welt auszusprechen, mir so unsäglich schwer wird. Ich merke nur an einem das Altwerden, das ist meine größere Stille unter denMenschen, die nicht eine der Seiten meineSWesenö berühren, die innerlich so lebendig in mir sind. Früher band ich mit jedem an, und es hieß immer: „Wenn irgend etwas in einem Menschen steckt, Äennette holt es heraus": aber ich glaube, dies war mein Lebens-, mein Wissensdurst, Menschen und Leben kennen zu lernen, ohne daß ich mir dessen selbst bewußt war. Jetzt hat das Suchen sich mehr nach innen gewandt, und ich bin still nach außen. Aber wenn ich bei Dir bin, oder überhaupt im Kreise von Menschen, die mir nicht fremd sind, wenn ich für mich selbst bin, da fiihle ich kein Altwerden, im Gegenteil, ich fühle mich so jung, ja, fast kindisch jung, denn ich habe noch soviel vor im Innern, ich möchte noch soviel lernen, begreifen, leisten, ich fühle mich im Anfänge. Aber ich möchte etwas vollenden, ehe ich sterbe, ich möchte andern etwas geben, was ich mit Schmerzen gesucht — willst Du mir helfen?

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Kapitel 4:

Ich sehne mich, einst einen seligen Tod zu sterben, wie meine Mut­ ter; ja, Karl, sie war eine bedeutende Frau; sie war ganz Mutter, soweit sie gebot über Kräfte, waren sie einem gewidmet, ihren Kindern l Ich kann nicht von dem Gedanken, vielmehr vom Gefühle los­ kommen, daß dem Menschen zu wenig Lilfe wird bei seinem Streben» daß die Grausamkeiten derNatur zu groß sind im Verhältnis zum Be­ dürfnis des Geistes. Sieh, ich empfinde nie ein Lebenszeichen von der Unsterblichkeit meinerMutter; was ich empfinde von ihr, schöpfe ich auder Vergangenheit und der Erinnerung — wo ist jetzt der Geiss, und wie ist er— dieser Geist heiliger Mutterliebe, die ihre Land durchlebte ? And ihr dasMagische gab, welches Trost, Beruhigung, einschmeichelnde Seligkeit und Kraft zugleich dem Kinde ihresÄerzens bot? Ohne meine Mutter hätte ich Pestalozzi nie verstanden, denn auf ihm ruht eigentlich die ganze, neue Erziehung; in ihm ist doch die Be­ deutung des Sinnlicheü erlösender Gedanke geworden. Was gäbe ich um einen fühlbaren Lauch meines Muttergeistes, aber nichts, nichts dergleichen wird mir zuteil, keine Stimme, keine Be­ rührung irgend einer Faser meines Wesens empfinde ich je, und ich mag eigentlich gar nicht die Gräber und an Gräbern sitzen und weinen; meine geschäftige Phantasie kriecht gleich unter die Blumendecke und sieht das Grauen der Zerstörung; meine Phantasie ist oft schrecklich, fürchterlich und kann mir Todesqualen bereiten. Warum werden nicht alle Menschen verbrannt, ich hoffe, es kommt einst so, und es wird etwa­ erfunden, waS nicht an einer so harten, nüchternen Maschinerie hängt, wie der jetzige Verbrennungsprozeß, sondern es wird ein Brennpunkt gefunden, ein Konzentrationspunkt der Glut, welche die sterblichem Reste unserer Toten vor unsern Augen im Momente verzehrt, und un­ erlöst von den entsetzlichen Bildern des Verfalls. Nein, es ist fast un­ erträglich, daß der Leib unserer Geliebten, der uns heilig ist, dem wir die ganze Zärtlichkeit unseres LerzenS geben, Gegenstand des Grauen­ werden kann, die Kultur sollte das verhüten. Sage mir, Karl, hast Du niemals unter der Grausamkeit derNatur gelitten? Ich habe furchtbar gelitten und leide auch noch; ich bin überHaupt mit einer Leidensfähigkeit begabt, die fast etwas Tragisches hat und andersteils auch wieder mit einer Genußfähigkeit, die mich den Limmel empfinden läßt. Wenn wir uns hochhalten wollen in dieser ttostlosen Zeit [ber Reichstagswahlenj, so muß unsere Liebe nie latent sein; wir müssen auch fromm und fleißig sein, d. h. letzteres bist Du viel

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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zu viel, das sage ich nur zu mir; ich kann nur arbeiten unter einem Impulse, und oft ist das Feld der Tätigkeit so nüchtern, und das Leben erscheint so öde, daß ich mich lieber in albernen Romanen betrinke, als etwas Reelles tue. Aber, Karl, Du mußt verschiedenes von Dir abschütteln; wenn man für so viele zu kochen und zu brauen hat, wird das Bier zu dünn. Nein, Du fütterst auch zu viele durch Deine Gefälligkeit, o bitte tue das nicht. Deinen Artikel habe ich noch nicht ordentlich lesen können, nur gesehen, daß der Schluß viel besser war. Wie sieht es mit den häuslichen Angelegenheiten aus? Lier ist das Wetter für mich schön, wir machten gestern eine herrliche Fahrt. Nun lebe wohl, und komme bald zu Deiner andern Lälfte.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin VV. 22. Juli 1884. Vielen Dank für Deinen lieben Brief. Es ist ganz gut, wenn Du einmal einige Zeit mehr vegetierst als menschlich lebst; das gibt Dir am ersten Kraft. Ich bin heute morgen mit einem hiesigen Vertreter von Senking in der Steinmetzstraße gewesen, um das Lokal zu besichtigen für die Kochschule. Dann war der Baumeister bei mir, mit welchem ich die Sache auch besprochen habe. Wegen der Wegnahme der Wand sind keine Bedenken, die Schornsteinfrage ist noch nicht klar. Nun aber muß die Entscheidung bald kommen, wann die verschiedenenBauten gemacht werden sollen. Das ist alles von Geschäften. Es ist ja richtig, daß sehr vieles an mir hängt, aber es ist nur so schwer, es los zu schütteln. So vieles, was Du für Gefälligkeit ansiehst, ist ja nur mein Geschäft, ich meine mein politisches. Wenn ich für die „Nation" oder das „Reichsblatt" oder einige unserer Korrespondenzen schreibe, so geschieht das ja nicht aus Liebenswürdigkeit für den Redak­ teur, sondern um entweder eine bestimmte Ansicht zu »«treten, oder das Blatt im Interesse der Pattei zu fördern. Außerdem lernt man immer dabei, indem man schreiben lernt, oder auch die Gegenstände näher studiert, über die man schreibt.Ähnlich geht es mit andern Dingen.

Das Leiden, welches mich wie die ganze politische Welt bedrückt, ist, daß viel zu viele Fragen auf einmal aufgeworfen sind. Mich, der ich nicht

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Kapitel 4:

eine Reihe von Jahren mitten in der Politik gestanden habe und an allen Ecken und Enden zu lernen habe, trifft das natürlich ganz be­ sonders. Du sprichst ja vom Altwerden jetzt viel ruhiger als früher. Warum soll man sich davor fürchten, solange man seine gesunden Sinne und Verstand und leidliche Gesundheit behält. Man muß ja auf mancheverzichten, kann aber auch entbehren, und wenn die Schnellkraft im Vergleich zur Jugend geringer wird, so ist doch die Konzentration größer und die Leistungsfähigkeit nicht geringer. Man muß nur die Veränderung, die mit dem Wesen vor sich geht, ruhig akzeptieren, und aus dem neuen Wesen das Beste machen, das davon ausnutzen, was gut ist. Auch im Verkehr mit Menschen sollte man vielleicht weniger raten, aber doch eigentlich freier sein. Man steht doch über so vielen Menschen und Dingen, wenn inan älter geworden ist, und könnte ihnen viel eher etwas geben. Die Jugend nimmt, aber ist nicht geben seliger als nehmen? Man muß nur recht geben, d. h. nicht mit dem Gefühl, daß man dasWeggegebene viel lieber behalten hätte. über die „Grausamkeit derNatur" werden wir uns schwerlich ver­ ständigen. Grausam ist nur das, was unnötig ist in derNatur, wie überHaupt; in der Welt ist aber nichts Unnötiges. And macht der Mensch nicht aus allen Ereignissen erst das, was sie für ihn sind? An sich sind sie ihm nichts, erst seine Art sie auf sich zu beziehen, machen sie zu etwas für ihn. And das ist die Herrschaft des Menschen über die Welt, daß er sich geistig über sie stellen kann. Er kann sie lieben, verachten, hassen, wie er will, die Welt hat keine Macht über ihn, außer soweit er sie selbst einräumt. Natürlich ist ja diese absolute Freiheit gegenüber der Welt keinem Menschen möglich, aber er sollte sie erstreben. Er kann sie aber nur er­ langen, soweit es überhaupt möglich ist, wenn er die unabänderlichen Gesetze der Welt anerkennt und im einzelnen Falle sich ihnen unterwirft. Das heißt nicht gleichgültig sein, die tiefste Trauer ist damit »erträglich, aber es ist nicht Widerstand, der immer aufs neue erbittert und reizt. Wie man es nun nennen mag, Anterwerfung unter die Gesetze der Welt oder den Willen Gottes tut nichts zur Sache; aber ohne diese Anterwerfung geht es nun einmal nicht, und sie ist schwer, wenn sie nicht auf der Überzeugung beruht, nicht bloß, daß sie notwendig, sondern auch daß die Gesetze, denen man sich beugt, gut sind. Das zu

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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glauben erreicht man freilich nur, wenn man sich entweder auf den lindsich religiösen Glauben stellt, der gar nicht fragt, oder wenn man sich klar macht, wie unbedeutend all« Einzelereignisse in dem großen Welt­ ganzen sind. Dieses ist die Lauptsache, das Einzelwesen ist nur ein Teil von ihm und hat ihm gegenüber keine Berechtigung, soweit es sich nicht durch eigene geistige Kraft erwirbt. And hat der Mensch durch seinen Geist nicht ungemeinen Einfluß selbst auf die Wirkungen der Natur­ gesetze; und kann nicht ein Gedanke das Größte wirken? Za, wirkt überhaupt etwas als der Gedanke? And kann nicht derMensch sich über die Welt stellen? Du stehst immer im Kampfe gegen die Weltordnung im ganzen. Sie reizt Dich zumÄrger und Zorn, und die Fehler des einzelnenMenschen werden Dir so verdrießlich, weil Du daraus nur immer neue Be­ weise für die Schlechtigkeit derWelt abnimmst. Da bin ich unversehens in allerhand Philosophie gekommen, die Dir für Dein vegetatives Kurleben vielleicht nicht einmal gut ist; Du überlegst aber vielleicht solche Fragen dann ruhiger, wenn Du, wie in Zoppot, ganz außer ihnen stehst. Weißt Du, daß Du mir noch gar nichts darüber geschrieben hast, wie Du lebst, wie es Dir geht, usw. usw. Ich habe keine recht« Idee von Dir in Zoppot. Soll ich denn bald kommen? Sobald ich irgend kann, gewiß, jetzt geht es aber noch nicht. Weißt Du von Rickerts Plänen im ersten Teil August?Will er aufReden reisen? Einsam ist eS hier und trostlos, aber es muß einmal durchgemacht werden; ich sehe auch ein, daß ich hier bleiben mußte; denn ich wüßte nicht, wie sonst so manche Dinge jetzt ihren Gang gehen sollten. Lebe wohl, liebe Frau, stärke und erhole Dich recht für Deinen Dich sehr liebendenMann.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Zoppot,VillaRickert. 22. Juli 1884.

.... Gestern abend saß Rickert gemütlich bei uns, Frau Rickert war bei ihren Eltern. Er sprach wieder von Deinem Radikalismus und Deiner Erbitterung gegen Bismarck, Deiner Anterschätzung des Genies „und", fuhr er fort, „da ist auch ein Punkt der Verwandtschaft zwischen mir und Bennigsen; ich kann nicht von der Bewunderung des Genies lassen". Auf meine Erwiderung, daß wohl die Kraft und der Wille Bs.

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Kapitel 4:

etwas Imponierendes habe, daß ich aber rohe Kraft nie bewundern könne, da erwiderte er: „Bitte sehr, einMann, der dieMäßigung besaß, vorWien und Paris Lalt zu machen, besitzt mehr als rohe Kraft". And, Karl, Rickert ist gar nicht ohne Noblesse, gar nicht ohne Feinheit des Gefühls; aber Rickert vernachlässigt die Bildung des Menschen auf andern Gebieten als dem der Politik sehr, und doch liegt gerade der höchste, sittliche Wert der politischen Arbeit wieder im Zusammenhänge dieser Arbeit mit dem rein Menschlichen. Sieh, lieber Karl, darum bitte ich Dich immer, laß die Fasern Deiner Seele, die für die Kunst usw. so große Empfänglichkeit haben, nicht verkümmern, es ist eine falsche Öko­

nomie, die Ihr sPolitikerj tteibt, glaube es mir. Ich will Dich nicht von der Arbeit, die auf Dir liegt, abziehen, im Gegenteil, ich will sie vervollkommnen. Du mußt neben Deinem feinen, verständnisvollen, klaren Geiste Deine Phantasie nähren. Du mußt Dein Selbst nicht so gleichgültig behandeln. Du liebst mich. Du hast es gesagt, und ich fühle es mehr wie je in den letzten stillen Tagen unseres Zusammenseins; tue mir etwas zuliebe in meinerWeise, auf meinenWegen, ich will Dir auch Gleiches mit Gleichem vergelten, gewiß mein lieber Karl. Laß mich den Tropfen Ehrgeiz in Dein Wesen flößen, der das Salz, das Gewürz ist, laß mich die Eigenliebe in Dir pflegen, die eine Notwendigkeit ist zur Selbsterhaltung; laß uns da austauschen, ich will wirklich gefälliger werden, wenn Du es etwas weniger bist, ich will etwas aufgeben von einem starken Triebe der Selbsterhaltung, wenn Du den Deinen mehr pflegst; wenn ich milder, hingebender, gefälliger für andere werde, willst Du es auch für Dich nehmen, und willst Du auch Deine Seele nähren mit dem, was ich andern um Deinetwillen gebe? .

Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 23. Juli 1884. Stute bekommst Du einmal auf Deinen langen einen kurzen Brief. Wenn Rickert Bismarcks Genie bewundert, so hat er recht; er ist ein gewaltiger Mensch, aber Rickert und die meisten Nationalliberalen haben darüber eine Zeitlang das kühle Urteil verloren. Ich tadele sie nicht darum. Sie sahen Bismarck plötzlich als einen ganz andern Men­ schen seit 1866 an, das war er aber nicht geworden, sondern er war nur durch die Ereignisse von 1866—1870 über sich selbst hinausgehoben und fand sich dann ganz allmählich in sein altes Wesen zurück. Ich schreibe Rickert nur einen kurzen Zettel. Ehrgeizig soll ich werden? Ja, aber was

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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soll ich erstreben? Alle Dinge, die ich erstreben könnte, sind schwer zu

haben und bedürfen vieler, vielleicht unnütz aufgewendeter Arbeit. Politik ist keine leichte Sache; sie verlangt viel Wissen undKönnen, und das meiste davon muß ich erst lernen. And ich bin wirklich in einer Unglück-

lichenPeriode — für einen Anfänger — in diePolitik hineingekommen. Der zu beherrschende Stoff ist so groß, der Kampf so schwer, daß es

wirklich schwer ist, vorwärts zu kommen. Aber wir wollen sehen

Lenriette Schrader an ihren Mann. Zoppot, VillaRickert. 30. und 31. Juli 1884.

Ich lese Goethe.Wie nimmt er alles vom Standpunkte des Gan­ zen und höchsten; seine Einleitung zur Farbenlehre usw. Jetzt ist die Welt in lauter Einzelheiten zersplittert.

Goethe hat mir den Anterschied -wischen Deiner und meinerNatur

erklärt. Er spricht über das Weimarer Theater und spricht in dieser Ab­ handlung über Shakespeare; darin kommt vor: „Die größten Qualen sowie die meisten, welchen der Mensch ausgesetzt werden kann, entsprin-

gen aus den fast einem jeden innewohnendenMißverhältnissen zwischen Sollen und Vollbringen, und diese sind es, die ihn auf seinem Lebens­ gange so oft in Verlegenheit setzen. Die höchste Verlegenheit unauflöslich

oder unaufgelöst, bringt uns die tragischenMomente dar." Du sagst mir, daß Du eine einfache Natur seiest. Die Schönheit dieser Einfachheit liegt darin, daß Wollen und Vollbringen bei Dir in

Larmonie sind. Bei mir nicht. Cs liegt eine Lilfsbedürftigkeit in meiner Natur, die außer meiner Mutter, glaube ich, kein Mensch verstanden

hat, und an die auch Du nicht glaubst, wenigstens nicht in demMaße, wie sie vorhanden ist — sonst hättest Du, statt Vorwürfen — oder wie ich es nennen soll — Mitleiden, tiefes, tiefesMitleiden, und Du bist der einzige Mensch, dessenMitleiden ich ertragen könnte, ja, nach

dessen tiefem Mitleiden ich mich sehne, dessen Mitleiden mir helfen könnte. Meine Mutter verstand die Lilfsbedürftigkeit meiner Natur,

aber sie konnte mir nicht helfen, wie Du könntest. Ja, in ihrer Todesstunde sagte meine Mutter zu mir: „Grüße Deinen lieben Mann, ich weiß Dich in guten Länden, hättest Du Deinen Mann nicht, so wäre

ich nicht ruhig gestorben; ich glaube. Du hättest am meisten darunter

gelitten. Deine Mutter nicht mehr zu haben." Dies Milleiden, das ich von Dir erflehe, erteilte mir im gewissen

Sinne die Absolution auf meine Beichte, die ich so ost vorDir abgelegt;

Lyscht«»la, HenrleU« Schmder II.

18

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Kapitel 4:

aber nur dies Mit-Leiden kann mir den Frieden der Absolution

geben, nicht die Predigt und enthielte sie tausend Wahrheiten, Klarheilen und hohe Gedanken. Nachmittags. Nun brauche ich vorerst kein Mitleiden, aber recht

warme Mitfreude, daß wir uns Wiedersehen — ja, Wiedersehen I Aber

Du kommst. Du kommst; wenn auch Barth noch nicht da ist; wenn auch Besuch sich meldet, und wenn er auch krank würde. Du kommst. Du

kommst lMary kommt vorerst nicht, sie reist nach Thüringen. Lebe wohl und komme,

D. jo.

An denselben.

Zoppot, VillaRickert. 31. Juli 1884. Die Gedanken über Erziehung, von denen ich sagte, daß sie sich in

mir loSgerungen haben unter Schmerzen, blieb ich Dir schuldig. Es waren die, daß man jedes Kind mit dem tiefsten Mitleiden zu betrachten

hat, überhaupt jeden Menschen; nur aus einem wirklichen Mitleiden heraus kann sich die rechte Stellung desMenschen zumMenschen finden.

Ist nicht Schopenhauer von diesem Gedanken ausgegangen? oder bei ihm stehen geblieben? Angekommen bei diesem Gefühl, gibt es aber zweiWege, der, welcher zur Lebensvernichtung, und der, der zur Lebens­

steigerung führt. Ich möchte so gern Schopenhauer lesen, er kann mir nicht gefährlich werden, denn er kann mir nach dieser Seite hin nichts

neues sagen. DerMensch hat entweder ein offenes Lerz für die Mensch­ heit, oder er hat keins; letzterer ist ungestörter in seinem Dasein auf einer mehr tierischen Stufe, denn für das Tier gibt es kein Tierreich. Öffnet sich aber das Herz für das Weh des andern, dann hält es mit Macht

Einzug, daß es in alle Kammern eindringt und Luft, Licht, Lebens-

sonnenschein daraus verdrängt. Das Weh erscheint, in Vergleich zu

unserer Kraft es zu lindern, so gewaltig, daß diese Kraft gelähmt wird,

und der Pessimismus ist da. Ich glaube, es gehört zur Tugend der Gottesfürchtigkeit, nicht hinaus zu wollen über unsere Kraft, nicht so

weit sehend und so tief fühlend zu sein; letzteres gehört auch zu dem Prometheusbeginnen und wird bestraft mitPrometheusqualen. Die Stellung, welche die verschiedenen Lebensalter zu der Kinder­

erziehung einnehmen, ist auch eine verschiedene — nur das reife, höhere Alter kann diesMitleid fühlen, von dem ich sprach. Wollten wir jungen

Leuten diesen Zustand begreiflich machen, oder gar in ihnen erwecken.

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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so würden wir eben kein Mitleid mit ihnen haben, sondern mit größter Grausamkeit ihre knospenden Kerzen entblättern. Wenn man von Erziehung spricht, d. h. von der Erziehung eines Kindes, so richtet sich der Blick gewöhnlich auf ein Wesen, mit dem man nun zu hantieren hat, und unter Erziehung denkt man sich auch zu leicht ein fortwährendes Lantieren mit den Menschen. Daher haben gerade stille, gesunde Naturen einen Widerwillen gegen Erziehung, vor allem gegen die Fröbelsche Erziehung, denn was meist für sie ausgegeben wird, ist ein ewiges Kontieren, ein Knistern mit Papier, ein Klappern mit Klötzen, wirklich viel Lärm um nichts. Die wahre Erziehung hat es aber vielmehr mit den Dingen sder Umgebung des kleinen Kindes) zu tun, als mit dem Menschen; di« Erziehung ist den Sinnen viel weniger vernehmbar als der Seele, sie ist vielmehr ein Inneres als einÄußeres, einWirkendes als Gewirktes. Die wahre Erziehung ist so still, sie kehrt zuerst in uns selbst ein, sie beginnt mit Gebet, d. h. mit demLinwenden unserer Seele zu Gott, zu dem Löchsten, was durchs Gebet in unsere Seele strömt, um dann das Kleinste zu schaffemWiesich dasweiße Licht in lausend Strahlen bricht — so schafft die Erziehung unter dem mannigfachsten Farbenspiel, wie Scherz und Ernst, Schweigen und Reden, Bauen und Einrichten, Schmücken und Ordnen, Lächeln und Seufzer, Kören und Sehen — ein Nachgehen und Ergreifen. Wo der Gang der Zivilisation mit dem Aufbauen zugleich zerstört — da baut die Erziehung auf; wo die schöpferische Natur zurücktritt, da schafft die Erziehung; wo dem Kinde die Gefahr der Ode wird, da bringt die Erziehung die nötige Fülle; wo der Überfluß sich häuft und mit Erstickung droht, da nimmt die Er-

ziehung leise hinweg, um Verwesung zu verhüten. Lind dabei ist sie dem zu Erziehenden so wenig direkt sichtbar, wie das Gesetz, das schöpferisch wirkt. Sie drängt sich nicht dem Zöglinge auf — aber sie ist da, und wenn er geängstigt sucht nach etwas, so Hilst sie ihm finden, und wenn er fragt, so bleibt er nicht ohne Antwort, und wenn er sich weinend an ein Kerz werfen will, so findet er eins, und nicht nur ein Stein und Kärte und ewiges Schweigen, wie dieNatur für mich hatte. Die Erziehung muß sein wie das Gesetz derNatur, klar, bestimmt, konsequent, und wie dieNatur in der Form beweglich, mannigfaltig und bunt — aber ohne ihre Grausamkeit; diese löst sich allein im Menschen­ herzen, das Mitleid hat. Wie wenig habe ich gelernt, weil es mir nicht geboten wurde in der Beziehung zum Löchsten, und wieviel hätte ich 18*

276

Kapitel 4:

lernen können, und dadurch der Tragik vorbeugen im Mißverhältnisse zwischen Wollen und Vollbringen. Nichts sollen wir dem Kinde bieten ohne Beziehung zumSöchsten; aber diese Beziehung wird nicht immer

durchs Wort ausgedrückt, viel weniger durch den Gedanken; sie erscheint

ost nur im Lächeln. Wie der Gedanke zur rechten Zeit gegeben die Ansterblichkeit der Seele nährt, so wirkt er tötend, wenn man ihn direkt bringt in zu stüher

Stunde; aber unsere nüchterne Zeit hantiert nur mit Gedanken oder

Gedankenschemen, sie hat die Engel der Kindheit verloren, die Poesie, das Symbol, welches den Gedanken einhüllt in das zarteste Gewand der Sinnlichkeit, bis die Seele gereist ist, daß sie ohne zarte Sülle das

Anfassen verträgt. Freilich, wer nicht versteht, fühlt, ahnt, glaubt, aus

welchem Bedürfnis die Mythe geboren ist; wer nicht mit den Sirten auf dem Felde knieen kann, und 'gen Simmel schauen, wenn die Engel

singen: „Ehre sei Gott in derSöhe, Frieden auf Erden und dem Men­ schen ein Wohlgefallen", der kann und soll auch diese Wundermähre

nicht erzählen, und wer es wagt, sie zu erklären — der kommt mir vor

wie einer, welcher die Farben abkrahen will von einem Bilde, zu sehen, ob der Geist darunter sitzt.

Später.

Lieber Karl, kaufe mir noch einige Bücher, wenn wir

wieder zusammen in Berlin sind. Bücher? Ja, z.B.Rahels Schriften; ich muß das Betrinken mit Gartenlaubengeschichten usw. aufgeben, aber darf mich dann auch nicht so ermüden [bei dem Brunnentrinken). Sier

fühle ich mich körperlich viel besser, wünsche mir so viele moralische Kraft, alle Morgen vor dem Frühstück eine Stunde spazieren zu gehen ....

Tagebuch.

7. August 1884. Bismarck liegt gar nichts an der Entwicklung

des vierten Standes; er will die Macht der herrschenden Klassen be­ festigen und die Macht des Staates, an dessen Spitze er steht. Seine Sozialpolitik ist darauf berechnet, den vierten Stand abzufinden, damit

er eben nicht zur Macht gelangt.

8. August 1884. Ein tiefer Wunsch meiner Seele wird mir wohl unerfüllt bleiben: Ich möchte mit einem Naturwiffenschaster (nicht mit

einem vorwitzigen Lehrling) Goethes naturwissenschaftliche Forschun­ gen lesen, sie haben einen Zauber für mich, dem ich aber nicht nachgeben darf, weil ich so manches in mir aufnehmen würde, was in der einzelnen

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Tatsache nicht ganz richtig ist, und mich zu falschen Bildern führen würde. Aber Goethes ganze Art und Weise zu forschen, die Natur zu betrachten, in sich aufzunehmen und zu bearbeiten ist einzig schön und würdig. Ich trete Goethe immer näher, d. h. ich erfass« verschiedene Richtungen in ihm. Ich wünsche mir recht viel Zeit zum Lesen; wie spät ist der Boden in mir bereitet für das stille Aufnehmen. Äenriette Schrader an ihren Mann. Zo ppot, Villa Rickert. 28. August 1884. Daß ich Dich nicht finde, wenn ich wiederkomme, ist zwar recht schmerzlich; aber es wäre unzeitgemäße Sentimentalität, darüber zu klagen. Ihr seid im Kriege *) und ich muß froh sein, daß es nicht um Kopf und Äerz, Arm und Bein gilt, und daß sie Dir nichts antun und nehmen können, was Dich von meinem Lerzen risse, denn duellieren wirst Du Dich hoffentlich nicht. Ich mache mir auch nichts aus Brand­ reden, vielmehr aus der stillen, klaren Einsicht und äberzeugungsgabe.

Aber um eins möchte ich Dich bitten. Deine Natur nicht einseitig aus Büchern und dieser Parlamentsgesellschaft zu nähren. Du mußt Deine Phantasie auch pflegen. Deine Naturwärme nicht ausgehen lassen, bitte höre auf mich Es tut mir nur leid, daß ich nicht genau weiß, wie Du zu dem Kulturkampf stehst, ich habe, dieser Frage gegenüber, mich nie sym­ pathisch berührt gefühlt und die Leldentat Falks nie bewundert. Du wirst nun endlich einsehen, daß die Leute sehr ordinär sind, und daß Bismarck doch der klügste ist, der immer nur auf die Jämmerlich­ keiten der Menschen zählt. Solch' eine Arbeit, solche Opfer, wie Du sie jetzt bringst, sie werden ihre Rückwirkung, fürchte ich, nicht versagen, wenn die Niederlage noch das ihrige tut, den Geist zu drücken; aber ich bedauere keinen Augenblick, daß Du so handelst, es war die Konsequenz eines ehrlichen Charakters, eines überzeugungstteuen Mannes. Nun wollen wir auch allen Nutzen ziehen aus den gemachten Er­ fahrungen und das Schwerste zu lernen suchen, was idealen Naturen das Schwerste zu lernen ist — mit den Jämmerlichkeiten der Menschen zu rechnen, nie auf ihre Konsequenz, nie auf ihre Ausdauer oder Opferfreudigkeit zu bauen. Nein, Karl, erst muß einen der volle, ganze Men­ schenekel erfassen, ehe man fähig wird, wirklich mit vollständiger Ruhe und Selbstlosigkeit für das jämmerliche Geschlecht zu arbeiten.

*) Durch die politischen Verhältnisse im Reichstage.

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Kapitel 4:

Von Stöcker könnt Ihr nur lernen; in seine Versammlungen hättet Ihr nur gehen sollen; N. kann davon erzählen, da ist niemand seiner Schlauheit gewachsen — und doch suhlen die Leute, daß nicht alles richtig ist; es bedürfte einesMannes, wie Du bist, um in der Stöckerschen Versammlung den Elenden zu entlarven

Lenriette Schrader an Frau Annette Rickert. Berlin W. Anfang September 1884.

Es bleibt mir noch ein wenig Zeit vor meiner Fahrt nach Charlottenburg. Mary und Annette schlafen noch, mein Mann wandert diktierend in seinem Zimmer, und ich bin ganz, ganz bei Ihnen. Wie hatte ich gewünscht zur Zeit hier zu sein, um nicht gleich in Arbeit und Stürzerei zu kommen, damit die Larmonie meines Daseins, bei Ihnen schon eingeleitet, in stillerRuhe ausklingen konnte. Es sollte nicht sein, aber ich habe doch «inen großen Gewinn aus der Qual meiner Seele gezogen, welche die letzteWoche mir bereitete — ich habe die ganze Zartheit und Schönheit Ihrer Menschenliebe kennen gelernt; zu der tiefen, hochachtungsvollenFreundschaft, welche ich lange fürSie empfand, hat sich eine zärtliche Liebe entwickelt, die fast niemand mehr in mir er­ weckt, außer Kindheit und Jugend. Liebe Frau Rickert, bewahren Sie mir Ihre Liebe, ich bitte Sie darum. Außer in meinem Lause war meine innerste Seele immer ein­ sam inBerlin, wenn ich auch mancherPersönlichkeit herzliche Zuneigung schenkte, und solche von ihr empfing — aber ich hatte nie ein Laus, nie diesen gegenseitigen Verkehr, in dem man aufeinander rechnen und bauen kann, so daß man Freud und Leid mit einander durchlebt. And wie ich Sie und Emmy zärtlich liebe, so habe ich für Ihre ganze Familie ein so warmes, aufrichtiges Interesse, und ich hoffe, Sie geben mir Gelegenheit, es zu betätigen, das ist mein Lerzenswunsch Ich fand alles hier [in Berlin) so voll gestopft, so ohne Luft [nach dem Land­ leben in Zoppot), alle Zimmer schienen mir zusammengeschnürt, meine Schlafstube eng wie ein Sarg — kurz, ich glaube, hätte ich die See er­ reichen können mit ihrer kühlen Tiefe, ich hätte mich hineingestürzt; aber mein Mann würde mich gehalten haben, wie er mich denn auch an sein Lerz nahm, dessen Tiefe doch schöner ist als die der See, und in der eine Wärme lebt, die, wenn er sie über mich ergießt, mir neues Leben gibt, anstatt den Tod. And so ist alles, alles wieder gut; ich fühle mich im

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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tiefsten Lerzen glücklich, ich fühle Kraft nachzuholen, ich habe alles in Ordnung im Innern, und wie ich Ihnen sagte, daß ich nur aus dem tiefsten Ernste heiter sein kann, so bin ich es auch ganz, und ich wollte nur, wir könnten unser Laus nach Zoppot hintragen, dann müßten Sie alle, alle heute bei uns sein, und wir wollten uns des Lebens so recht erfreuen.

Später.Nun bin ich wieder hier, es war sehr nett bei derPrinzessin Christian, trotzdem sie eine Stunde vergeblich auf mich gewertet hatte, weil die Depesche falsch war, worüber der Lerr Leutenant und andere zanken werden. Dann waren wir noch bei Ledwig Leyl (Mary und Annette fuhren mit mir und gingen zum Mausoleum)

An Fräulein Emily Rickert (Tochter von FrauRickert). Berlin W. Mitte September 1884.

Welch' eine schöne Überraschung, meine liebe Emily, Deinen Brief

beim Frühstück zu erhalten. Sein Inhalt hat mich sehr erfreut und amü­ siert. Es hat mich wirklich sehr interessiert, einmal zu erfahren, wie Dein Bruder und Lerr Keibel denken; aber es ist merkwürdig, so logisch ihre Ansichten erscheinen und gewiß vielen dadurch imponieren, so haben sie nur dazu beigettagen, meinen Glauben wieder so recht zu erwärmen und mich von ihm durchdringen zu lassen. Wir leben in einer Zeit des Überganges ich begreife voll­ kommen die Abneigung, ja die Erbitterung gegen die jetzt herrschende Kirche, gegen den in ihr herrschenden Materialismus, gegen Götzen­ dienerei und Lüge! ünd aufrichtige Ansichten, wie die der jungen Leute, sind mir tausendmal lieber, als Pfaffenttug und Pfaffenschein­ heiligkeit. Wir gehen eben einer neuen Zeit entgegen, in der alte Formen gesprengt und abgetan werden, und um dies zu erreichen, ist vielleicht einRadikalismus nötig, wie er in den besprochenen Ansichten derLerren zutage tritt. Aber es lebt in unserm Geiste noch etwas anderes, als das Licht der Intelligenz, das ist die stille Glut und Wärme des Gemütes, und durch die ünmittelbarkeit derEmpfindung werden uns ebenso Offenbarungen, wie durch das Zergliedernde des Verstandes. Aber eine Seite unseres Wesens muß die andere korrigieren und vervollständigen. Das Gemüt ohne den Verstand würde sich verirren in haltlose Schwärmereien, ja, in Aberglauben; der Verstand ohne das Ge-

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Kapitel 4:

müt aber führt zur Kälte in seinen Konsequenzen, die schließlich alles vernichtet, von dem wir doch eigentlich leben, und ich habe oft erfahren,

daß die Skeptiker gerade die Schönheit des Lebens in derWirkung dessen

empfinden, dessenDasein sie verneinen, oder imRaisonnement desVer-

standes unterschätzen. So wenig geschickt sich Lotze ausdrückt, so ist doch

der Standpunkt, den er vertritt, der Standpunkt der Zukunst, wenigstens liefert er einen Beittag zu demselben, um Gemüts- und VerstandeS-

leben zu versöhnen, dem Glauben seine Rechte einzuräumen neben dem Wissen.

Ich weiß, liebe Emmy, durch manch vertrautes Gespräch mit Dir in stiller Stunde, daß Du Dich ernst interessierst für alle diese Fragen,

und ich hoffe. Du wirst Dir dieses Interesse bewahren, ohne Dich irgend­ wie mit den Dingen zu quälen. Es ist schon eingerichtet in unsererNalur,

daß zwischen dem Gebiete des Verstandes und Gemütes noch ein dritte-

liegt — das des Handelns, und daß auf diesem Gebiete immer reicher Stoff gegeben ist zu bewältigen.

Ich habe es immer bewährt gefunden, daß unser Handeln der bestr Läuterungsprozeß ist für unser Denken und Empfinden, und daß wir eine Fülle von Arbeit haben, wenn wir streben, erst einmal so viel zi

verwirklichen, wie uns aufgegangen ist im Gefühl oder in der Erkennt­ nis in bezug auf dasRechte und Schöne, und wer zur Harmonie gelangt zwischenGeben undNehmen, und in dieserHarmonie dieSchönheit, welch: das Leben bietet, genießt, wer aus dieserHarmonie das Leben selbst ar und für sich als etwas Köstliches empfindet, in dem ist auch die Anlage zur Harmonie des Denkens und Fühlens gegeben, und es wird sich seine Zeit in ihm weiter entwickeln, wenn es das Leben fordert. Ja, meine liebe Emily, Du brauchst nicht traurig zu sein, daß Dr

Dein Leben nicht in der Kunst konzentrierst, wie Fräulein Keibel un)

Fräulein Ludka usw. Die Kunst ist nur ein Symbol fürs Leben, uiü

wie unentbehrlich sie uns sei zum höheren Leben, sie schafft doch wied wie im Anfänge beim Aufstehen. O Karl, leidende Menschen müssen ganz

anders beurteilt werden als gesunde; diese entsetzliche Reizbarkeit einer­ seits und das Gefühl der Kraftlosigkeit andererseits, wer dies nicht kennt,

soll Gott auf den Knieen danken. Mit Wehmut denke ich an meine Jugend zurück, in der ich kaum je das Gefühl der Gesundheit gekannt. Dein heutiger Brief hat mich eigentlich still traurig gemacht, aber

beruhigt; es ist so erhebend. Dich frei zu wissen von jedem Ehrgeiz. Was

sind große Männer? Die Größe wird jetzt immer nur gemessen an besonders sichtbaren Zeichen, fteilich gebraucht die Masse auch solche; aber wie oft sind solche Zeichen ein übertünchter Maulwurfshaufen.

Es gibt Geister, die eben, weil sie Geister sind, unsichtbar wirken, weil an ihnen nicht die Schlacken menschlicher Schwächen haften.

Sieh, so bist Du, rein von den Fehlern des Ehrgeizes, der Eitelkeit, der Labsucht, wirst Du nur dann die Dir gebührende Stelle im Leben

einnehmen, wenn sie direkt aus Deinem Tun und Wirken hervorgeht.

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Kapitel 4:

Hättest Du Ehrgeiz, hättest Du das grobe irdische Element zu Deinen Gaben, so ständest Du schon längst an einem andern Platze; aber dann wärest Du eben nicht der stille, reine Geist. Du machst Ernst mit dem Ehristentume, welches fordert: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes I" And wer Ernst macht, trägt auch dessen Konsequenzen. Ich bin viel lebhafter in meinen Gefühlen und Begehrungen als Du, aber die Erkenntnis des Rechten beeinflußt sie wunderbar. Ich begehrte innerlich mit Lebhaftigkeit die Stellung für Dich und mich im Leben, die uns gebührt; aber jedes unreine Mittel, sie zu er­ langen, war mir von jeher unmöglich. And wenn ich je versuchte, mit weltlicher Diplomatie zu handeln, so bin ich immer durchgefallen. Du hast mir gezeigt, wie meine Mission auf dem Gebiete der Erziehung eine tief innerliche ist, die nicht als Heilsarmee mit Pauken und Trompeten verkündet werden kann, und ich bin nach und nach so stille in mir ge­ worden. Ich fühle aber hier, wie wohltuend auch diese Stille für andere ist; ich bin nicht mehr wie früher so voll Zündstoff; ich kann nicht mehr wie früher jeden Menschen in jedem Momente erfassen und begreifen, ich ge­ brauche zu allem mehr Zeit; aber ich glaube, es zündet sich immer mehr und mehr die stille Leuchte in meiner Seele an, die, wenn diese Flamme die rechte Nahrung erhält, zugleich leuchtet und wärmt und nicht erlischt. Für meineMission sind alle diese inneren und äußeren Erfahrungen von unbezahlbaremWette — wenn ich überhaupt eine habe. Ich mußte diese Erfahrungen machen, um den Menschen, das menschliche Leben zu verstehen, die Eigentümlichkeit der weiblichen Natur ist wirklich in mir als Typus ausgeprägt; Gott hat sie mir verliehen mit allen ihren Schwächen und auch Gebrechen der jetzigen Zeit — aber es ist noch et­ was darüber. Sieh, Karl, es kommt darauf an, die Grundfäden im Ver­ ständnis des Menschen zu erfassen, sie festzuhalten. DaS Gesetzmäßige in der Entfaltung des Menschen ist das Bleibende; aber es tritt in tausend wechselnden Formen in die Erscheinung; wir sind noch immer schwankend in der Anschauung der Grundtypen. Wenn ich nur wohl bleibe, mit Dir im innern Einklänge stehe, wenn ich eine gewisseRuhe, wenn auch erst später erlange, daß die Gedanken still auf- und niedersteigen können, und ich sie auf dem Papiere fesseln und so ein kleines Teilchen beitragen kann zur Erlösung meines Grschlechte- — dann, Karl, werde ich einen köstlichen Lebensabend haben.

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Es kommt so vieles in mir zurNuhe, ich werde so viel unabhängiger von der Welt und Dingen, die mich stüher hin- und herzerrten. Es ist, als könnte ich die ganze göttliche Schönheit, welche das Leben birgt, noch et* fassen und genießen und andere zum Genusse helfen. Ich kann nur im­ mer so viel geben, als ich verstehe, und es steigen oft so gute Engel mit göttlicher Klarheit in mir auf und nieder

Lenriette Schrader an ihren Mann. Neu-Watzum. 28. Juli 1886.

Ich habe wohl doch die Brunnenkrankheit, die ich zu umgehen hoffte, ich schreibe Dir gerade, wie es ist, damitDu ganz ruhig sein kannst. Später. Das war eine interessante Sendung von Dir, ich liebe den jungen Montefiore sehr und nehme wirklich innigsten Anteil an seinem Leben, so ergreift mich der Schritt, den er getan, für Menschen seiner Art gewiß der wichtigste im Leben, wirklich im Äerzen. Mich berührt Dein Brief sehr tief. Mir ist zumute, wie einer Knospe sein muß, könnte sie bewußt empfinden vor dem Aufbrechen; aber da­ zwischen ist Angst gemischt, und welchen Wechselfällen ist nicht jede Knospe, auch die des Geisteslebens preisgegeben? Ich könnte jetzt alles, jedes tun, um gesund zu werden und zu bleiben. Was sich an Lebenserrungenschaften in mir entwickelt, ist nicht mein eigen, daß ich Gewalt darüber hätte; ich kann es nicht machen, ge­ liebter Karl, und es ängstigt mich, es könnte mir entfliehen so oder so, ehe ich es ausgesprochen in dieser oder jener Form. Freilich, was wahr ist, geht nicht unter; wir sind nur ein Gefäß, und mit seinem Zerbrechen verfließt der Inhalt nicht, wenn er ein würdiger ist. Aber eS ist wohl natürlich, daß man selbst den Inhalt ausgießen möchte, dessen Entstehung und Gestaltung durch so viel Mühsal errungen wird. WaS wird Dein und mein Leben noch werden in Gemeinsamkeit, wenn wir auch die Gestaltung unseres äußeren Lebens unter „das höhere Dritte" stellen? Dir ist schon so vieles Natur, was die Konsequenz des großen christlichen Gesetzes verlangt; mir nicht, deshalb ist in Deiner Seele nicht diese ost schmerzliche Bedürftigkeit nach dem „höheren Dritten", und der bewußten Unterordnung unter dasselbe. Dieser mächtige Zug in Kingsley nach dieser Hingabe ist mir so sympathisch — kurz, das religiöse Moment, das bewußt religiöse, welches «in Zustand im Gemüte bedingt. Lyschin»ka, Henriette Schrader U.

22

338

Kapitel 4:

Pestalozzi nimmt eine mächtige Stelle ein unter den christlichen Sozialisten; ich will es Dir beweisen. O Karl, wenn Du wüßtest, welch' ein blühendes Leben in mir erwacht durch den Gedanken an lebendigere Gemeinschaft mit Dir. Ich bin so viel abhängiger als Du von gewissen Bedingungen, aber werden sie erfüllt, so wird diese Abhängigkeit zu einer Macht, welche der Natur Fülle und Frische gibt! Denke ja nicht, daß ich meine, ich müsse immer an Deinen Rock­ schößen hängen — nein, nein — aber ich glaube jetzt. Du wirst mich »erstehen: Finden Ehegatten sich in Gott (wie ich Gott verstehe), im Be­ wußtsein und Gefühl, treffen sie zusammenin dem innersten Keim und Lebenspunkte des geistigen Daseins — so entsteht dadurch die größte Freiheit der Bewegung, die größte Mannigfaltigkeit der Form der Be­ teiligung. Lieber Pestalozzi, wirst Du uns auch helfen? Wir können nicht ge­ nug trinken an Menschen, aus deren Äerzen der Born der Liebe quillt. Wenn ich einig mit Dir und mit dem Löchsten, was ich ahne, bin — dann hoffe ich mit Würde, wenn auch mit Tränen Abschied zu neh­ men von dieser schönen Erde.

Äenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum. 30. Juli 1886. . ... Ich bin, glaube ich, mehr ein „Pflanzenmensch" als ein „Menschenmensch", der ich sein sollte. Ich bedarf zu meiner Entwicklung einmal jetzt der Sammlung undRuhe; aber ich glaube, nur für eine Zeit. Es ist schrecklich, von mir so viel zu schreiben, und was mir nötig ist usw., ich würde nicht daran denken, wäre ich nur Deine Frau; aber Du hast mir wieder und wieder gesagt, daß ich noch eine andere Mission zu er­ füllen habe, und es ist mir so vieles neu in mir hier geworden in Ge» danken, Anschauungen und Empfindungen in bezug aus eine solche Mission, daß ich fast wieder an dieselbe glaube, und dabei eine Verant­ wortung fühle, die mich bei Komplikationen des Lebens ängstigen kann. Aber ich fühle jetzt dasRechte. Laß uns die Schweiz definitiv auf­ geben, hier so lange wie möglich bleiben, und dann vierzehn Tage oder so nach AndreaSberg gehen. Mary reist mit dahin. Aber natürlich tue ich das nur, wenn es Dir von Äerzen recht ist; Du stehst mir höher als jede andereMifsion. Ich habe mich ernstlich geprüft; ich bin nur, was ich sein kann, wenn ich mit Dir in Äarmonie lebe, von Dir die Achtung fühle, die doch der Grund und Boden all' der Liebe ist, deren ich bedarf.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Laß uns diesesParlamentsjahr so weiter leben und bis zu dem Ab­

schlüsse desselben im reinen sein. Verlangt das Leben, das ja augenblick­ lich einem Kriegszustände zu vergleichen ist, noch in den abnormen Ver­

hältnissen zu leben, so wollen wir es mit Bewußtsein tun; aber dann

verzichte i ch auf jedenVerkehr mit der Gesellschaft, richte unser Leben im

Lause einfach, ganz einfach ein, und so soll es schon gehen in Berlin. Ich werde mit Schwester Anna ernstlich sprechen, daß ich hier den Som­

mer zwei Monate so leben kann, wie jetzt, ob sie hier ist oder nicht; ich

kann ja später Klara mitnehmen, die kochen kann. Wollen wir eineReise machen, Anstalten oder Kunst oderNatur genießen, so machen wir eine

solche zu diesem Zwecke, dann versteht eS sich von selbst, daß man An­ ruhe mit in den Kauf nimmt. Karlsbader werde ich wohl alle Jahre

trinken müssen, glaubst Du? Erich findet die Kur klein. Ob Du nun

wohl zufrieden bist? Ich furchte mich nun gar nicht mehr vor dem Leben in Berlin; überhaupt habe ich Mut und Freudigkeit, mein einziger lieber Karl — ach, mein Sterben sollte eine Limmelfahrt sein 1 tzs gibt, es gibt ein Leben, in dem man sprechen kann: „Tod, wo

ist Dein Stachel, Grab, wo ist Dein Sieg?" Glaubst Du nicht, Gelieb­ ter, daß Du und ich uns im christlichen Sozialismus zusammentreffen? Wer weiß, ob ich nicht noch einmal zu den Arbeiterinnen rede? Aber

wenn es geschieht, dann geht es aus einer inneren Notwendigkeit her­

vor, dann kenne ich keine Angst, keine Scheu, dann rede ich nicht mehr

aus mir selbst; aber ich muß werden, muß nichts wollen als gut wer­ den, meine elementare Kraft geht ihre Wege. Schilt nicht auf meinenZorn, wenn er sich auch öfter auf ihm nicht würdige Gegenstände wirft, er ist ein Stück der Kraft, deren ich bedarf. Mein Weg war lang, durch tausend Umwege mühselig — aber darin

liegt ein Stück Erkenntnis des Lebens, daS andern zugute kommt. Die Erfahrungen, Errungenschaften auS meinem Leben und das Gelesene finden sich hier in Ruhe organisch zusammen. DaS Buch von

KingSley hat in meiner Entwicklung «ine große Bedeutung. Last Du sein« Reden an die Arbeiter über Kunst gelesen? Wie er das Porträt

eines Dogen den Leuten nahebringt? Ich habe eine neue Idee bekom­ men für den Unterricht; Pestalozzis Bild gibt mir alles an die Land

über ihn zu reden in meiner Weise, wie Kingsley über den Dogen in

seiner: Der christliche Sozialismus, angewandt auf die Erziehung. Der christliche Sozialismus bezieht sich auch auf die verschiedenen Alters22*

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Kapitel 4:

stufen und Geschlechter. Ist nicht das Kind durch Jesus befreit aus der Knechtschaft, wie der Sklave und das Weib? Aber dieser Sozialismus, wenn er den Frauen vom Standpunkte der Erziehung gepredigt wird, muß sich mit den historischen und naturwissenschaftlichen Errungen­ schaften der Jetztzeit verbinden; feste Punkte, bestimmte Laken muß man den Leuten geben, wenn sie ihre Gedanken und Gefühlsfäden an­ hängen und fortspinnen sollen. JedeSache, die wir bekämpfen wollen, müssen wir durchPositives überwinden, z.B. wollen wir den einseitigen Intellektualismus bekämpfen, so dürfen wir ihm nicht das Gemüt ent­ gegensetzen, sondern es als fehlende Ergänzung an die Seite des herrschenden knüpfen. Ich kann schriftlich nicht alles beschreiben, was sich in mir bildet; aber ich werde es Dir sagen. Vorerst arbeite ich auf meine Müttervorträge, die ich wieder aufnehme, dann aber auch denke ich an die VolkSmütter unseres Kindergartens, mit denen ich früher zu tun hatte. Nun muß ich erst wieder zu mir selbst kommen; hatte ich meine Naivität verloren, weil ich meine Blindheit verlor — so gewinne ich sie wieder, indem ich ganz sehend werde, aber ich kann so etwas nicht machen, es muß kommen Viel schreiben kann ich nicht mehr, und Du kommst nun bald — kommst Du Dienstag? Ich möchte Dich so gerne einholen. Gott sei Dank, daß wir nun hier bleiben, daß es nun nicht gleich wieder an ein AuSreißen aus dem Erdboden geht, in dem man Wurzeln geschlagen und die rechteNahrung findet, die zum Gedeihen wirkt. Die Beschäftigung der Gärtner hier hat so etwas Wohltuendes, dieser fülle, tägliche Fleiß, das frische Gemüse so sorgfältig verpackt, mit kühlen Blättern zugedeckt; ach, bringe ihnen nur nicht eine größere VerWertung ihrer Arbeit bei, wenn sie zuftieden sind; dann packt sie der Spekulaüonsteufel, die Lust an realer Tätigkeit geht verloren, die Leute kommen mir alle vor wie Schatzgräber, die alles umwühlen, selbst den Grund ihres Laufes, um Geld zu finden, so daß es einstürzt. Über diesen Punkt muß ich noch mit Dir sprechen, was diese Speku-

laüonSwut betrifft. Lier empfindet man den Segen des Austausches der Kräfte, in Berlin, wie aufReisen berührt der Kampf ums Dasein so widerwärüg, indem jeder sein Fortkommen auf denRuin deS andern baut, seinen Besitz erwirbt durch Beraubung. Kaum steht ein Lotel, daS etwas prosperiert, gleich kommt ein anderes daneben mit noch höheren, künstlich ausgeklügelten Bequem-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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lichkeiten, um das erste zu vernichten, die Übervorteilung derReisenden usw., es ist scheußlich I Ich will mich gar nicht von dem Kampfe zu­ rückziehen, aber nur einmal zur Besinnung kommen, und das tue ich hier. Leben die Menschen nicht wie Bären und Wölfe miteinander, muß man nicht immer auf der Lut sein? And Du armer, einsamer, gequälter Mann, freust Du Dich denn auf Deine Frau? Ich glaube. Du hast Arsache dazu, ich bin innerlich so reich geworden, es ist mir so viel Glück aufgegangen, daS doch alles nur Wert hat in Gedanken an Dich. Lebe wohl, ich küsse Dich innig; D. L.

An Frau A. Rickert. Neu-Watzum. 2Y. August 1886.

Welch' unerwartete und große Freude hat mir Ihr lieber Brief bereitet — ein so lieber langer Brief! Ich danke Ihnen warm und herzlich dafür, Ihre Liebe, Ihr Ver­ trauen zu mir ist mir ein wahrhaft schönes Geschenk des Limmels, ich wollte, ich könnte bei Ihnen sein und Sie warm und liebevoll küssen, ich habe für einige Menschen ein solches Zärtlichkeitsgefühl, und Sie ge­ hören zu diesen; aber ost kommt es mir zudringlich vor, wenn ich mei­ nem Lerzen darin freien Lauf lasse, doch heute nach Ihrem lieben Briefe kann ich es nicht verschließen, wie warm ich fühle. Dürfte ich doch Ihr Laar streicheln und es küssen I O liebe Frau Rickert, lachen Sie mich nicht aus, und lassen Sie niemand über diese Zeilen lachen — ich fühle mich so glücklich, wenn ich so warm und zärtlich empfinde wie für Sie. Ich kann mich so ganz in Ihr trübes Empfinden hineindenken bei den Leiden Ihrer Eltern, ich habe die meinen auch so geliebt und war mit meiner Mutter so ganz besonders innig verwachsen. Das Trennen, komme es rasch oder langsam, ist ein hartes, bitteres, tief einschneidendes Weh, niemand kann es einem abnehmen, niemand kann uns darüber trösten, wir müssen das alles in uns selbst verarbeiten und verklären. Wir sind hier hängen geblieben und werden hier bleiben bis zum 5. oder 6. September, aber mein Mann ist seit dem 3. August auch hier. Ich habe mich mit meinen Geschwistern so schön eingelebt, ich habe eine warme Liebe zi: deren Kindern, und ich lerne diese wieder kennen, so daß ich meinen Mann bat, mich hier zu lassen. Aber wie oft ich mich trotz­ dem nach Ihnen, und was zu Ihnen gehört in Zoppot, sehne, kann ich nicht sagen

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Kapitel 4:

Wirklich, liebe FrauRickert, es quält mich so oft bei Ihnen zu sein, wenn ich denk«, wie schön es bei Ihnen ist, und wie viele Sie lieben und Sie dort genießen möchten. Dann habe ich immer einen „Schwanz" *),

und das Serumreifen ist so schrecklich, und ich kann doch nicht so lange bei Ihnen bleiben!

So sind die Komplikationen des Lebens ost so groß, daß sie unS manche, schöne, süße Freude nicht zur Blüte kommen lassen. Ob ich nicht überhaupt noch an der Vielseitigkeit meiner Interessen und Liebe zu­ grunde gehe? Alles bedarf der Zeit, der Kraft — selbst liebe Menschen,

wenn man sie lange nicht sieht und nicht mit Ihnen lebt, entschwinden bis zu einem gewissen Grade dem innern Leben. Ich habe hier nicht nur

meine Geschwister, sondern auch mehrere treue Freunde — ja, was habe

ich doch entbehrt, daß ich dem einen oder dem andern nicht schrieb, und doch konnte ich es nicht!

And dabei meine Tätigkeit für einen weiteren Kreis.

Immer klarer geht eS mir auf, wo der Schwerpunkt des wahren Fortschritts liegt — in der Erneuerung des Familienlebens auf Grundläge wahrer Religiosität und in harmonischer Wechselwirkung mit Wis­ senschaft, Kunst und sozialem Leben; da ist der Hebel, der im Mittel­

punkte alles Daseins liegt. Ich bin durchaus nicht gegen die Gründung von Anstalten usw., im Gegenteil, sie helfen nach vielerRichtung, aber ich möchte denRest meines Lebens immer ausschließlicher dem innersten

Punkte widmen. Manches habe ich hier gedacht, gelesen, geplant; ich fühle mich im ganzen durchaus nicht kraftlos, aber eins drückt mich — die Komplikation der Verhältnisse, und ich habe oft schmerzliche Sehn­ sucht nach Sammlung und Vertiefung!

Wie viel möchte iih Ihnen noch schreiben, ich hatte gerade einen stillenMoment, als Ihr lieber Brief kam, und da konnte ich nicht wider-

stehen, Ihnen gleich ein Wort zu sagen

Marys Augen glänz­

ten bei Ihrem Gruße — ja, ich muß mich von Ihnen losreißen, liebe

FrauRickert. Herzliche Grüße an Ihre Kinder, ich würde so gern mit Heinrich

lesen und streiten.

Ihre treue __________

Henriette Schrader.

•) Freunde, welche Henriette zu sich lud, weil sie sie nur in den Ferien sehen konnte.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An M. Lyschinska.

Neu-Watzum. 28. August 1886. Mein inniggeliebtes Kind, nun bist Du von mir gegangen nach stillen, schönen Tagen und Stunden, die wir zusammen verlebt — noch

nie hat mir ein Zusammensein mit Dir so wohlgetan, wie diesmal, und ich fühle von neuem, wie unauflöslich und innig wir zusammen verbunden sind, füreinander und für eine höhere Sache. Laß den Glauben

nur nicht sinken — nein, halte ihn hoch; es ist, wie gesagt, unendlich viel

schwerer, als man in der Anschuld der Jugend denkt, das Schöne, was im Leben der Menschen verborgen liegt, allseitig anS Licht zu fördern,

und es geht unendlich viel langsamer als man möchte, aber unzweifel­ haft ist der Fortschritt da im großen ganzen Ich glaube, es ist von großer Wichtigkeit für unsere Sache, daß ich mich verheiratet habe und dadurch in eine ganz neue, mir früher unbekannte Welt versetzt wurde. Im Streben der Menschen nach dem höchsten und heiligsten mußte eine Zeit kommen, in der die Ehelosigkeit

als eine höhere Stufe (katholische Kirche) andern gegenüber angesehen

wurde, es mußte so sein; denn die geschlechtliche Frage ist eine sehr schwer lösbare

ich begreife, wie man durch Negation die Sache ab-

schnitt — und doch ist in ihr wieder die Vollendung des Menschen in

seiner sinnlich-geistigen Schönheit zu finden. Ich würde sehr gern mit einer weiblichen Ärztin, die eine edle Frau ist, über diesen Punkt reden. Es kann so enorm viel getan werden in der Erziehung durch Vergeisti-

gung des Schöpfungstriebes, rechte, mit Geist verbundene körperliche Ermüdung und durch reine, innige, zärtliche persönliche Verhältnisse be­ sonders älterer Persönlichkeiten jüngeren gegenüber. Besonders sollten Mütter mit Heranwachsenden Kindern zärtlich sein — diese edle, warme

und innige Zärtlichkeit einer Mutter, getragen von geistigem Verständnis und weitergehenden Interessen, kannWunder wirken bei dem Sohn. Aber heraus, heraus aus ihrer Engherzigkeit und übergroßen Subjektivi-

tät muß das Frauen-, das Familienleben treten, das ist das Wichtigste unserer Zeit 1 Ich habe eben eine ttaurige Nachricht erhalten von A., daß die Schwedin, welch« mir gestern drei Zeilen schrieb, so leidend ist, daß sie

wahrscheinlich nach Schweden zurückkehren muß

Es ist auch ein

großer Verlust für unsere Sache, wenn sie unfähig zur Arbeit würde.

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Kapitel 4:

Später. Ich habeM. Schaper längere Zeit hier gehabt, und es ist gleich Mittagszeit, wir warten nur noch auf Schwester Anna. Ich habe mein blaues Kleid an und will mich in den Garten sehen und in dem Buche von Aeland „The Education of the Citizen" lesen. Lebe wohl, mein warmgeliebtes Kind, wenn dieser Brief in Deinen Händen ist, ist die Reise überstanden und Du bist wenigstens bei Dir zu Lause. An A. Rickert.

Berlin W. Herbst 1886.

.... Ich bin inNeu-Wahum ganz fleißig gewesen, ich habe einen offenen Brief an die beteiligten Mütter geschrieben über die Fortsehung der im Frühjahr begonnenen Vorträge, dessen Lauptthema ist — die Fortbildung der mütterlichen Erzieherin — mit Hinweis auf die Vor­ bildung derselben. Ebenso habe ich die Bearbeitung eines Aufsatzes vonPestalozzi be­ gonnen, welcher nachweist, wie die Bildung des Kindes in der Familie beschaffen sein muß, damit es sich zum kräftigen Staatsbürger entwickle. Pestalozzi kennt keine Trennung der Privatmoral von der öffentlichen Moral, keine absolute Scheidewand zwischen Familien und öffentlichen Interessen usw. Dieses Schriftstück enthält köstliche Dinge und Dr. Theo­ dor Barths Aussatz *) sagt in seiner Sprache, in seiner Art der Anschau­ ung dasselbe wie Pestalozzi, wenn auch in ganz anderer Verknüpfung, wie sie die Verhältnisse der Gegenwart bieten. Dr. Barth sieht in der Übertragung der Privatmoral auf das öffentliche Leben die eigentliche Kultur, und wie Dr. Barth und seine Freunde ja alles einsetzen für die Übertragung, so müssen wir Frauen unsere Kraft konzentrieren auf die Stärkung derPrivatmoral, damit unsereMänner mehr und ausgiebige­ ren Stoff vorfinden als jetzt. Aber soll die Moral unserer Kinder ausreichen für den Kampf im öffentlichen Leben, so muß das öffentliche Leben auch bei der Familienerziehung berücksichtigt werden, und die Mütter müssen so mitwiffen und begreifen, um was es sich handelt in der menschlichen Gesellschaft. Der persönliche Egoismus darf nicht in Familienegoismus ausarten; er muß nach und nach verschmolzen wer­ den mit den Interessen für andere. Somit soll die Familie in lebendigen Wechselverkehr treten mit den öffentlichen Interessen.

*) „Zwischen zwei Welten" siehe „Die Nation" Sept. 11. 1886.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Liebe Frau Rickert, was bieten unsere Schulen den jungen Mädchen für Kost, und wie wenig stärken sie junge Mädchen ihre Tatkraft, indem sie vor der Ehe etwas Zeit erübrigen für die vielen, die wild und hülflos heranwachsen?

An M. Lyschinska.

Berlin W. 19. Oktober 1886.

. ... ich hatte mich so sehe gesehnt nach einem Lebenszeichen von Dir . . . Du hast bei allem, was Du schreibst, die Kritik vor Augen, und daS macht Dich unsicher. Kannst Du Dich nicht einmal mit Kühnheit dar­ über emporschwingen? Auch mußt Du mehr in die Quellen Dich ver­ senken, in Fröbels und Pestalozzis Werke Dich versenken und aus ihnen schaffen I Ach, wie gut könnte ich jetzt schreiben, aber Berlin wird mich vernichten IWenn ich Dir sagen sollte, wie das Leben und die Besuche über mich fluten und mich überfluten — es ist zum Weinen I Wir haben auch so viele Schülerinnen und so verschiedener Art, daß ich meine Stunden teilen mußte, und deswegen nun wieder mehr zu tun bekomme, so wie ja die Schülerinnen, besonders die Ausländerinnen mich sehr in An­ spruch nehmen. Annette ist ganz abgearbeitet, sie hat auch zu wenig reelle Lülfe. Mildred Bowers ist aber sehr tüchtig für ihre Arbeit. Leute abend wird Mariechen Amsinck*)zu uns kommen. Ich hatte so viel Logierbesuch, daß ich meine Köchin nachts bei ihren Eltern schlafen ließ und das Mädchenzimmer noch einrichtete.

21.November. Leute finde ich einen Augenblick Zeit, diesenBrief fortzusetzen. Zch habe oft ein Gefühl wie Gehirnerweichung, weil ich mich so ganz treiben lasse, wohin die Verhältnisse mich führen. Ich freue mich so sehr,Mariechen hier zu haben, aber ein Mensch, den man liebt, der einen interessiert, umwurzelt und und nimmt uns hin; so sitze ich oft stundenlang mit ihr Und stopfe Wäsche. Aber diese Erfahrung ist mir wichtig und interessant. In der Last des Lebens bildet sich kein Gemüt, kein wahres Verhältnis, jchließen sich die Lerzen für einander nicht auf. DieMutter desLauses muß einenRuhepunkt bilden, einenBoden, auf dem so manch' überschüssige Geisteskraft sich ablagern kann. *) ihre Nichte, Tochter ihrer Schwester Albertine.

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Kapitel 4:

Folgen wir dem jetzigen Zuge nach öffentlicher Arbeit im Frauenleben, so gehen wir einer Zersplitterung des Daseins entgegen, welche dasBeste in uns vernichtet und zu einem kaltenMechanismus derWeltbeherrschung führt, wie wir jetzt schon den Mechanismus der Welterfas­ sung huldigen. Aber ich glaube allerdings, daß wir noch eine geraume Zeit um die Stellung der Frau werden ringen müssen, denn sie muß dem Manne gleichwertig dastehen, und für die Menge muß das auch im öffentlichen Leben sein. Aber nach diesem Wettlauf, nach dieser Anruhe und Vielgeschäftig, keit wird sich daSWeib besinnen, sie wird still stehen und fragen: Wo ist mein Platz? And sie wird das Heiligtum der Familie erkennen und den köstlichen Segen der Zurückgezogenheit und Stille, der Hingabe an die volle Ausbildung der Persönlichkeit schätzen. Auch die, welche nicht in die Ehe tritt, wird die Familienmutter in der Gemeinde vertreten und für die Einsamkeit des Herzens einen Ausgleich finden in derVertretung der Interessen desWeibes im öffent­ lichen Leben. Sieh, Mary, so ist mein Leben mit Mariechen hülfreich, ich wachse in derselben, es entwirren sich die Fäden deö Lebens immer mehr, und klar liegt dessen Entwicklung vor wir; aber Muße, dies zu formulieren für die Welt, die wird mir nicht. Aber vielleicht kannst Du nach meinem Tode manches aus meinenBriefen zusammenstellen, was derWelt nützt. Ich beschäftige mich sehr viel mit meinem Tode, und oft steigt der sehr müssige Wunsch in mir auf, ich möchte dreißig Jahre alt sein. Ich hoffe, es wird mir Zeit gegeben, des Lebens so müde zu sein, daß ich gerne von ihm scheide; jetzt würde der Tod mich nicht überraschen, nicht schrecken; aber er würde mich nur resigniert finden, mich einer harten Notwendig­ keit beugend. Schwester Anna ist noch hiir, wir sind sehr gemütlich zusammen­ gewesen

An M. Lyschinska.

Berlin W. 16. bis 23.Dezember 1886. Ich fange heute an. Dir einen Weihnachtsbrief zu schreiben, obgleich ich gar nicht weihnachtlich gestimmt bin. Ich war neulich mit Mariechen Amsinck im Reichstage, und ich hörte Menschen, welche Vertretet der herrschenden Klasse sind — o es ist schrecklich, so machtlos zu

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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sein, gegenüber dieser Anmaßung und Dummheit. WaS soll ich sagen, es ist erschreckend, wie die Beschränktheit der Menschen wächst in so

rapidemMaße und mit ihr die Frivolität, die Dinge zu behandeln. Da-

bei diese gespannten Zustände überall, dies Barbarentum der Russen und zwischen alledem unser neunzigjähriger Kaiser, in gewisser Weise verehrungswürdig.

23. Dezember. Ob ich den Brief an Dich zur Post bekomme? Diese Weihnachtsunruhe mit Paketen um uns her — Fräulein Lange

nennt Weihnachtsfeiern unsererZeit einen mit einer (Sauce von christlicher Liebe übergossenen Tauschhandel; ja, so ist es, aber manche Leute stehen sich schlecht dabei und tragen die Ankosten.

Immer steht ein Bild vor meiner Seele, wie ich Weihnachtsabend verleben möchte: Auf dem Lande, in tiefer Einsamkeit, wo es wirklich

Arme gibt, die redlich leben und streben, an die man das ganze Jahr gedacht. And nun wandert man am heiligen Abend, in glitzernder Frostnacht mit Gaben der Liebe umher und findet reinliche Stuben und ge­ waschene und gekämmte Kinder unter einem Bäumchen mit wenig Lich­

tern, die sich aber wiederspiegeln im Glanz der Augen, und himmlische

Lelle verbreiten in den reinen Lerzen, die noch unschuldige Weihnachts­ freude empfinden können, unberührt von Gier, Berechnung und Neid. And man legt dann ein Stück zur Wärme oder zum einfachen Schmuck oder Kräftigung des Lebens unter den grünen Zweig. Ein Ländedruck,

ein kurzes Wort des Austausches über den Stand der Dinge und ein herzliches Lebewohl und Vergelt's Gott erfüllt und schließt den kurzen Besuch. So macht man die Runde; einsam und verstreut liegen die

Lütten, in die man einkehrt, und zwischen dem eigenen bescheidenen Leim und denWohnungen derMenschen steht derWald, den man durch­ schreitet, ein Tannenwald voll Kristallgefunkel; da schimmert das heimi­

sche Licht; wie Orgelklang ertönt es vom Spiel des Larmoniums, der Knecht führt das Pferd in den Stall nach demRitt nach der Post, den

«r täglich unternimmt. Der am Vorabend unter heiterem Geplauder ge­ meinsam geschmückte Christbaum wird angezündet, die längst schon be­

schafften Gaben sind aufgebaut. Diener und Lerrschast, der einsame Küster und die Predigerwitwe mit ihrem Sohne hören denRuf und er­

scheinen , und alle vereint genießen das Liebesmahl, das amNachmittag still bereitet war. Überall Ordnung und Stille im Lause, im fernsten Winkel, in jeder Truhe Sauberkeit und Weihnachtsduft, beschafft und hervorgezaubert in derVorfreude auf den Tag des Lerrn, den festlich zu

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Kapitel 4:

begehen, die Kerzen sich sehnen. And nun das Vertiefen in die Offen­ barung vom Gesetz der Liebe, von dem Einssein in Denken und Landein, inWort und Tat, von Leib und Seele, von Form und Inhalts vom Glauben und Wissen, von Fühlen und Denken. Das ist das wahre Abendmahl zur Feier der Geburt des großen Verkündigers des Gesetzeder Erlösung — der Erlösung von uns selbst, ohne den Verlust unseres Selbst; das ist die Stärkung zur Arbeit, auf der auch das Laus in der Christnacht erbaut ist, und die von ihm ausgeht in engeren oder weiteren Kreisen. O Mary, wo, wo ist ein Fleck dieses Iesusriedens und dieser Möglichkeit, sich zu vertiefen? Ich sehne mich so oft nach Dir. Loffentlich kommt dieserBrief noch zur Weihnachtszeit in Deine Lände

An Frau A. Rickert.

Berlin W. 15. Januar 1887. Trotzdem Sie mit Ihrem Lerzen in Ihrer Umgebung warm und innig beschäftigt sind, so werden Sie doch oft an uns hier und an dieVorgänge im politischen Leben gedacht haben, welche uns so tief,auch unser persönliches Leben berühren. Durch die große Güte Ihres Mannes war es mir gelungen, den so hoch interessantenVerhandlungen am Donners­ tage imReichstage beizuwohnen. Lätte es einer weiteren Aberzeugung bedurft, daß unsere Männer im vollen Rechte stehen und handeln, so hätten die Vorgänge des 13. Januar voll und ganz davon überzeugen müssen. Erst war ich recht mißgestimmt, daß Lerr Rickert nicht sprechen konnte wegen Leiserkeit, aber nachher war ich froh, daß Richter die großeRede hielt, weil er so gehaßt ist, und einen so billig erkauften Vor­ wand für lauwarme und urteilslose Leute bietet, sich von der Deutschfteisinnigen Partei abzuwenden wegen Richters . . . .Wesen. Er hat so vorzüglich gesprochen . . Aber wer kann es wissen, ist das Volk, sind die sogenannten Gebildeten reif genug, um unsernMännern zu folgen? Oder müssen sie durch die Steinwürfe schlimmer Krisen aus ihrer Trägheit und aus ihrem Strebertum aufgerüttelt und zur Besin­ nung gebracht werden? Aber wie dem auch sei, die Deutsch-Freisinnigen konnten nicht anders handeln, als sie getan, und nun muß man die weitere Entwicklung erwarten. Daß übrigens alles aufgeboten wird, die Deutsch-Freisinnigen in ihrer Aktion zu hemmen, davon bin ich fest

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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überzeugt, und mich soll wundern, wie man es zustande bringt. Bis­ marcks Erscheinen im Reichstage erschreckte mich. Ich fand ihn so gespensterhaft, und er erscheint mir in mehr als einer Beziehung als sein eigenes Gespenst.

......

Als ich das letzteMal bei der Kronprinzessin war, fragte sie: „Was macht mein Liebling unter Ihren Schülerinnen?" And auf meinen fragendenDlick nannte sie Emmy. Sie erzählte mir von demNachmittage in Parez, und wie lieb es von E. sei, ihr die selbstgepsiückten Wasserrosen zu geben: „Fräulein Rickert ist gewiß eine tüchtige Kindergärtnerin?" fragte sie weiter. Ich freute mich, dies bejahen zu können; wir sprachen noch manches Wort über E. und Ausbildung von Schülerinnen, sie er­ kundigte sich nach Verschiedenem, E. betreffend, und es tat ihr so se hr leid zu hören, daß E. nicht so wohl wie sonst gewesen sei. Mit wahrer Teilnahme hörte sie von dem Tode Ihrer Mutter — ich finde immer, daß die Kronprinzessin viel menschliches Interesse an andern nimmt...

Tagebuch.

20. Januar 1887 Alle persönlichen Gedanken und täg­ lichen Sorgen treten zurück hinter dem einen: Die politische Situation unseres Vaterlandes. Die Deutsch-Freisinnigen haben den Kampf aus­ genommen gegen den Absolutismus — aber ob der Punkt, wo sie ihre Streitmacht einsehten, nicht eine zu gefährliche Situation bietet? Als ich den großen historischen Moment am 13. im Reichstag« mit erlebte, Richters große Rede, die eine sittliche Tat war, mit hörte, und dagegen desReichskanzlers Gebahren beobachtete, so war es mir, als ob ich einen Blick tat in diese „Kombination von Brutalität und Künstelei" (wie ein italienischesBlatt sagt), da war mir kein Zweifel, daß die Deutsch-Frei­ sinnigen die einzigen Vertreter des moralischen Standpunktes in der Politik waren, und mit erhobener Stimmung kehrte ich heim. Aber bald drängte sich in meinen Kampfesmut ein Zweifel, ob mein Mann und seine Genossen pädagogisch gehandelt, und dieser Zweifel wird mit jedem Tage quälender.

Wie würde eine Mutter einem furchtbar eigensinnigen Kinde gegenüber handeln — oder ich will lieber sagen eine Erzieherin gegenüber ihrem Zöglinge? Wie eine einsichtsvolle Frau einem Tyrannen, der als Ehegatten ihr Leben beeinflußt?

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Kapitel 4:

Muß man nicht oft und wiederholt nachgeben und Anrecht leiden, bis man endlich de »Punkt findet, wo man mit Erfolg einfetzen kann? Ich habe mit Schmerzen gelernt, daß es nicht immer zutrifft, daß der grade Weg der beste ist — und das ist überhaupt das Schwere in der Welt — das ist aber dasPädagogifche, und diesePädagogie findet auch in der Politik ihre Anwendung. Die Deutsch-Freisinnigen müssen weit mehr als jetzt Völkerpsycho­ logie studieren. Bismarck hat die Deutfch-Freisinnigen dahin gebracht, wo er sie haben wollte; er hat einen genialen Blick für die Schwächen derMenfchen. AnserePartei hat denBruch angeknüpft an einenPunkt, welcher das Volk auf die Gegenpartei zieht; nur denkenden, politisch reifen Menschen war es möglich, die Situation zu begreifen. Am 22. Januar. Wie bin ich traurig — mein Mann, mein ge­ liebter Mann ist fort nach Danzig, dort steht es wie in Braunschweig und in Lalle usw. Es vollzieht sich innerhalb der Freisinnigen Partei eine Sezession: Eine Zahl der Deutfch-Freisinnigen sucht einen Kompromiß mit den Nationalliberalen, und sie suchen einen Deutsch-Freisinnigen auS ihrer Mitte aufzustellen, der sich auf das Septennat ver­ pflichtet; es vollziehen sich Verbindungen, welche doch zu einer Mittel­ partei führen können. Manchem Nationalliberalen war es nicht mehr geheuer in feinem Kreise, der auf abschüssiger Bahn sich befand, mancher Deutsch-Frei­ sinnige war mißvergnügt über die Fusion; jetzt vollzieht sich die Schei­ dung, ein Teil der Nationalliberalen geht mit den Konservativen, wie das Bündnis zeigt.

Mein Mann sagt, daß der Kleinbürger und Arbeiter, soweit er nicht Sozialdemokrat ist, die Situation am besten begreife; Karl ist mit großer Stimmenmehrheit in Danzig als Kandidat proklamiert, aber wie am 21. Februar die Dinge stehen? Ich kann ein Gefühl nicht unter­ drücken, als fehle auch selbst in den Wahlarbeiten bei uns der ganze sittliche Ernst —ich meine nicht das Pathos — nein, der Ernst, den ich meine, äußert sich einfach; aber der ernste Mann, wie er nach meinem Dastirhalten sein sollte, muß dem berechnenden Feldherrn gleichen, der die Situation nach allen Seiten hin prüft und kennt, und seine Truppen danach aufstellt und dirigiert, unter diesen müssen dann auch die kühnen Führer sein, die freilich im Zusammenhänge mit dem Generalfeldmarschall hie und da kühn einspringen.

Auszüge auS Briefen und Lagebüchern von 1873—1899.

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Was wollen die Deutsch-Freisinnigen als Gesetz aufführen, da Bismarck am Montag erklärt hat: „Ich will kein Monopol — nur im Falle eines unglücklichen Krieges, und dieser kommt, wenn das Sep. tennat nicht durchgeht. Ich denke nicht daran, das geheim« Wahlrecht aufzuheben, denn ich bin der Vater von diesem Kinde." Sollen sie sagen: „DerReichskanzler lügt, glaubt ihm nicht"? Das wäre eine leichte Rede aber ohne Wirkung. Rein, sie müssen alle die kleinen Wahlmanöver aufgeben, die Sache im Grunde auffassen, nachweisen, daß Bismarck ein Junker ist, und die Bedeutung diesesWortes im ganzen Umfange klar machen. Sie müssen zeigen, daß es sich gar nicht um die Punkte allein handelt, sondern um einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem Reichskanzler und der wahren Kultur und ihren Vertretern. Solche Gegensätze stoßen zusammen, und der Punkt, an dem der Kampf ausgenommen wird, ist nur insofern nicht gleichgültig, weil sich nach ihm die Beurteilung der kämpfenden Parteien und deren Kampf­ berechtigung bildet. DerKampf kann, darf nicht ausbleiben, so lange noch ein Funken Idealismus (nicht Phantasterei) im Volke lebt und anderseits die Brutalität sich in einer Person verkörpert wie Bismarck, und in ihrer ganz abnormenMachtstellung eine machtvolleWirkung auf die Gesellschaft ausübt. Die Partei, welche den Fortschritt der wahren Kultur vertritt, kann, wird vielleicht unterliegen in diesemRingen mit demMachtkoloß, aber die sie treibende Idee wird in dem Kampfe vieles, was latent in den Geistern liegt, frei machen; vieles an- und auffegen, was später zur Fortentwicklung drängt. Mit der möglichen Niederlage der wahren Fortschrittspartei tritt wahrscheinlich für den Moment — ein historischer Moment kann Jahre umfassen — die Stagnation ein. Wenn derBann dann gebrochen wird, werden die früher entwickelten Kräfte ffei, schneller geht die Erstarkung des sittlichen Lebens, und vielleicht stehen die Seelen entschlafener Kämpfer in den Überlebenden wieder auf. So verarbeitet die Geschichte

das Tun der Menschen ineinander; nicht jeder kann sich abheben als brsondere Gestalt vom Grunde des Gewebes, aber Gott sieht ins Herz und weiß, wer reines Herzens ist. Du bist es. 27. Januar. Es scheint etwasBewegung in die Geister zu kommen, verschiedeneRedner gehen auf den Kernpunkt zurück, sprechen über die Gefahr für die Verfassung durch den personifizierten Absolutismus in

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Kapitel 4:

Bismarck; so ist es recht. Ich hoffe, meinMann wird da ein Bedeutendes leisten. Alles muß getan werden, um ihm Ruhe zu verschaffen; wie schwer wird es mir jetzt, nicht sein Sekretär, nicht einWerkzeug in seiner Land zu sein. O Ihr Weiber, die Ihr Berufe haben wollt, gerade wie die Männer, Ihr müßt das Gelübde der Ehelosigkeit ablegen — die Ehe findet gerade ihre schönste Erfüllung in der Verschmelzung der Verschie­ denartigkeit, nicht in der Kameradschaft. Bismarck liebäugelt mit dm Papste und plant vielleicht einen Lande! mit ihm, um das Zentrum für das Septennat zu fangen. Am 30. Januar. Mein Geist wird ganz gefangen genommen von dem politischen Kriege; ich kann ein Schwanken der Stimmung nicht unterdrücken, zuweilen erscheint es mir ein taktischer Fehler zu sein, daß die Deutsch-Freisinnigen Bismarck den Willen getan, das Septennat zu verweigern; die Richtersche Zeitung hat immer denselben Peitschen­ knall: Monopole, Wahlrecht usw., diese Letzerei kommt mir so künstlich gemacht vor, als wenn man sich in eineWut redet, um den innern Zweifel zu beschwichtigen. Es fehlt manchmal das Thermometer der heiligen Überzeugung, und dieser Kneg kommt mir dann vor, wie ein heilloser Spektakel unnützer Buben auf beiden Seiten, welche die besseren Ele­ mente hier- oder dorthin mit fortreißen. Komme ich zu diesemPunkte, dann fühle ich mich innerlich gequält. Da tat sich etwas auf in mir: Der einzig haltbare Grund, gegen das Septennat zu stimmen, liegt tiefer; er hängt mit derArbeiterbewegung und der Sozialdemokratie zusammen. Letztere ist keine nur momentane Erscheinung, keine nur vorübergehende Anart einer Volksklasse, die sich mit ein paar Ohrfeigen und Stubenarrest beseitigen läßt; sie ist in einer historischen Entwicklung des vierten Standes begründet. Das Sozia­ listengesetz ist einer der größten politischen Fehler, welcher begangen werden konnte, indem es unreifen, einander widerstrebenden Geistern in der sozialistischen Partei einen gemeinschaftlichen Feind gab, gegen welchen anzukämpfen, alle unter einen Lut bringt. Ohne das Sozialistengesetz würden Kämpfe in den eigenen Reihen ausgebrochen sein, und diese hätten dem modernen, wahrhaft gebildeten Politiker, welcher das Berechtigte in der Arbeiterbewegung zu verstehen vermag, Ge­ legenheit gegeben, diesem Stteben mit Verttauen entgegen zu kommen und anderseits den exttemen Anforderungen, die in ihren Konsequenzen zur Vernichtung einer Seite der menschlichenRatur führen, entgegenzutreten. Es würde sich ein Scheidungsprozeß in der Arbeiterpartei voll-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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zogen haben, die reifen Elemente würden das wahre Wohl des Volks verstehende Führer erhalten haben, die Entwicklung in bezug auf die

Stellung der Arbeiter hätte einen natürlichen Lauf genommen — die Revolution war besiegt, oder vielmehr ihr wird vorgebeugt.

Das Sozialistengesetz und vor allem die vulgäre Handhabung des-

selben setzt die Regierung den Arbeitern gegenüber ins Anrecht. Sie legt der Partei Beschränkungen, Opfer und Disziplin auf, welche einer­ seits die Willenskräfte stärkt, anderseits die Leidenschaft entfacht, die List

und Verschlagenheit großzieht, und dies alles im hohen Grade auf die Kindheit und Jugend in ihrem Kreise vererbt. Auf dieseWeise und durch

unsere Leeresorganisation dringt die Sozialdemokratie immer weiter ins Militär, und auch durch junge, gebildete Leute, welche sich in immer

größerer Zahl sozialdemokratischen Ideen zuneigen, erwachsen ihnen

auch sozialdemokratische, militärische Führer. Organisation, Gehorsam, Anterordnung unter das Parteiinteresse lernen die Leute in ausgiebi­ gem Maße, und wenn der Moment gekommen ist, die Unterbrüder erfolgreich zu bekämpfen, so wird solche Schulung ihre Resultate zeigen. Roch haben umsichtige, das moderne Leben verstehende Politiker die Äoffnung nicht aufgegeben, das Vertrauen der besseren Zahl der

Arbeiter zu gewinnen. Sie werden die schwere Verantwortung auf sich nehmen, gegen das Gesetz zu stimmen und dasselbe, wenn es in ihrer

Macht liegt, zu Falle zu bringen. Vielleicht wird es aber zu spät sein, und sie werden unter den Folgen einer heroischen und sittlichen Tat be­ graben, aber in den Seelen der Edeln, welche die Geschichte der Zukunft mit erleben und die Geschichte unserer Gegenwart mit Verständnis schreiben, wieder auferstehen. Entwicklungskrisen, wie wir sie durch­ zumachen haben, fordern oftVorpostengefechte und dieRiederlage derer,

welche dabei ihre Pflicht taten.

Mein Mann findet Vorstehendes ganz richtig, nur noch unvoll­ ständig, wie ich mir selbst schon gesagt hatte.

AnM. Lyschinska. Berlin W. 28. Januar. 2. u. 9. Februar 1887.

Das war einmal ein fröhlicher Gruß, den ich gestern von meinem lieben Vögelchen erhielt

Wie kommt es denn, daß bei Euch auch

ein solcher Niedergang der idealen Interessen ist, da Ihr doch keinen BiSmarck habt? Da Ihr Euch frei bewegen könnt in politischer Be.

8el. des kleine­ ren Mittelstandes und der Arbeiter, soweit solche noch nicht sozialdemo­ kratisch sind, und aus den höheren Klassen ein allerdings kleiner, aber geistig bedeutender Teil. Wenn dies noch nicht den entsprechenden Aus­ druck findet, so ist die Arsache teils die rücksichtslose Wahlbecinflussung, teils die Persönlichkeit Bismarcks, teils gewisse Interessen. Der erste Grund trifft die unteren Klassen, die beiden andern wesentlich die höhe­ ren. Sie, die beiden ersten, sind, wenn man eben will, leicht zu beseitigen. Bismarck wird ohnehin in kurzem so an körperlicher und geistiger Kraft verlieren, daß er den Platz nicht mehr behaupten kann. Die große An­ klarheit und Anselbständigkeit in den gebildeten Klassen wird sie auch einer neuen kräftigen Beeinflussung zugängig machen; ich meine, nicht einer gewaltsamen, wie jetzt, sondern dadurch, daß eine etwas großzügige Politik konsequent verfolgt wird. Diese muß aber so sein, daß sie zugleich eine feste Stütze in den tieferen Schichten findet, und durch diese einen starken Einfluß auf die höheren Klassen übt. Eine solchePolitik anzuzeigen und vorzubereiten ist unsere Aufgabe. Gibt uns eine künftige Regierung nur wirkliche Freiheit der Wahl, so wollen wir für eine solche Politik schon die Abgeordneten schaffen. Daß sie R. recht wohl ansprechen würde, bezweifele ich nicht. Freie Bewegung auf wirt­ schaftlichem Gebiete, Entwicklung der Arbeiter usw. zu größerer wirt­ schaftlichen und sozialen Selbständigkeit und Reife, Wahrung der vorhandenen, politischen Rechte und des Ansehens des Reichstages, dabei stärkere Betonung derRechte des Reichs gegenüber den Einzelstaaten, in diesen und ins besondere in Preußen, Fürsorge für Kunst und Wissenschaft usw., religiöse Freiheit, Entwicklung der Schule. Dabei keine Versuche, die Stellung des Kaisers und Königs von Preußen

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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herabzudrücken, im Gegenteil, diejenige des Kaisers zu erhöhen. Das scheint mir ein passendes, für Jahrzehnte sehr reiche Arbeit gebendes, viele geistige Kräfte fesselndes, der großenMenge des Volkes genehmes, und schließlich allen Teilen mit Ausnahme einigerBevorzugten nützendes Programm zu sein. Die wirkliche Schwierigkeit, namentlich für die erste Zeit, liegt darin, die genügende Zahl tüchtiger und vertrauenswerter Männer zu finden, welche die Leitung der Staatsgeschäste übernehmen. Darin liegt die Chance für Leute wie Bennigsen. Ob Du meine Eberswalder Nede weiter verteilen sollst? Ich habe nichts dagegen; was die Danziger betrifft, die übrigens viel kürzer wiedergegeben und speziell auf Danzig zugeschnitten ist, magst Du ermessen; wahrscheinlich ist aber nicht viel davon zu haben.......... die Arbeiter wollen nichts von Boehm wissen, weil er gegen seine eigenen Arbeiter rücksichtlos sein soll; die Kriegsangst macht hier nicht viel mehr aus. Baumgartens Brief ist sehr gut; den Weserkreis sieht er zu günstig an, weil er nicht weiß, wie dort von den Behörden gearbeitet wird; sein Vetter wird es schwer haben. Daß ihm seine Welfische Erklärung ge­ schadet habe, ist mir dort wenigstens nicht bekannt geworden. Übrigens hast Du die Landeszeitung falsch verstanden; ich bin nicht

in einen falschen Zug in Börssum gestiegen, sondern in den für mich richtigen, d. h. nachÄolzminden fahrenden; die Zeitung will nur höhnen, sie will andeuten, daß ich in meinen, d. h. den WolfenbüttlerWahlkreis, hätte fahren müssen. Vielleicht könnte ich nach der Wahl einmal in Wolfenbüttel reden? Sei nur auch gutenMutes; wenn wir unterliegen, so ist es für eine gute Sache und nach ehrlichem Kampfe; aber wirklich hat eine weitere Verminderung unserer Zahl keine so große Bedeutung, wenn wir sonst nur fest und zusammen halten, wie ich das hoffe. Für eine neue Politik wäre dieser Reichstag doch nicht geeignet geworden. Dazu bedarf es noch einerWahl. Lebe wohl, liebe Frau; nun ist es nicht mehr so lange, daß ich wieder bei Dir bin

An Marie Kellner. Berlin W. 19. Februar 1887. Bis jetzt hat meinMann noch gutenMut; daß er in WolfenbüttelLelmstedt siegt, daran glauben wir nicht, aber ich kann mir das Ver­ gnügen nicht versagen. Dir noch vor der Wahl auszusprechen, daß der

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Kapitel 4:

Name meines Mannes vielen guten Wolfenbüttlern recht unbequem, und er nun auch der Ehre teilhaftig wird, von dieser Art Menschen gründlich gehaßt zu werden. Komme es, wie es wolle,Arbeit finden wir überall, und den Glauben an unsere gute Sache verlieren wir nicht. Im Gegenteil, es wird nur fester, wir kämpfen für das christliche Element in der Politik 1 Wenn man die erste Feuer- und Schmerzenstaufe der Verleumdüng, des Kampfes mit Engherzigkeit und Anverstand überwunden hat, dann bekommt man eineÄornhaut oder den verwundbarenPunkt durchs Lindenblatt gedeckt, unter der das Leben frisch pulsiert und der Organis­ mus sich einer guten Gesundheit erfreut. Ich bin jetzt in meinem eigensten Elemente — was mir früher den Kampf verleidete, kam aus der Quelle einer gewissen Äochachtung vor denMenschen, die mich das Bedürfnis fühlen ließ, mich mit ihnen zu verständigen, in Larmonie mit ihnen zu wirken, jeder in seiner Sphäre, an seinem Platze — es hat schwer ge­ halten, mich von der Sehnsucht, die zumBedürfnis nach solchen schönen Zuständen ward, zu erlösen. Jetzt bin ich frei, und wie eine neue Jugend kommt es über mich in dieser Freiheit. Ich war im Grunde eine sehr bescheidene, demütige Natur — so wenig die Menschen das glauben mögen, ja, Marie, ich war es; fast bei jedem Menschen war es mir derMühe wert, Verständi­ gung mit ihm zu suchen, und Verkennung und Mißgunst schmerzten mich tief; ich fühlte mich so gern unter denMenschen, ich stellte mich nicht über sie, und so erlitt ich viel Quetschungen und Stöße und Verwun­ dungen. Ich beklage diesen Durchgangsprozeß zu einem unabhängigen Dasein nicht, aber ich danke Gott von Kerzen, der mir geholfen hat, mir letzteres zu erringen. Jesus hat mich zuerst freigegeben vom Dogmenzwange, von dieser lähmenden Kirchenlehre, diesem Materialismus und Mechanismus der Erlösung durch sein Blut im kirchlichen Sinne, von diesem Zweifel an der unbedingten Hoheit Gottes, von diesem qualvollen Widerspruch zwischen solchem Kirchenglauben und dem Wissen und Denken. Nach dieser Freimachung ist mir dasMenschwerden des Göttlichen in strahlen­ der Glorie aufgegangen, und ich habe zu Jesu Füßen gesessen und bin unter seinem Kreuze gestanden, an dem er litt um derWahrheit willen — Jesu Tod war die Konsequenz seines Lebens, seiner Lehre — und was hat man aus dieser ebenso einfachen als großartigen Tatsache ge­ macht?

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Und frei, frei sein von den Fesseln des Materialismus im Kirchenglauben schließt tausend Lör- und Sehorgane der innern Natur auf, und sie vernimmt nur das Rauschen des heiligen Geistes, wie sie sich im Menschenherzen weben, Menschenschicksale durchziehen, und sie spürt ihnen nach. Das fteigewordene Auge sieht in der Lilie des Feldes, in dem Sterne am Firmamente den christlichen, den Gottesgedanken und vernimmt die tausendfache Sprache aus GottesMund!

Und dieser Freiwerdung von der Knechtschaft der Kirche, d. h. der jetzigen, zieht eine Befreiung der andern Art nach sich; von und mit derselben erwächst einReichtum von Lebensformen für das eigene Sein.

Daß auch unreine Elemente in unsererPartei sich finden, entspricht einemNatur- und Geistesgeseh; begleitete sogar einen Jesus sein Judas Zschariot. Jesus wußte auch, daß der Friede nicht kommt ohne Kampf, und so ist es! Und es ist etwas Erhebendes um diesen Kampf, soviel Trübes auch aus der Tiefe der menschlichenNatur ans Licht auftaucht; soviel Komik sich in den Ernst der Situation flicht. Nein, ist es zu glau­ ben, die Landeszeitung im Herzogtums Braunschweig ruft Jungfrauen und Frauen auf, ihre Männer zur rechten Wahlurne zu führen, weil sonst ihnen der Krieg den Gatten, den Sohn, den Verlobten von der Seite reißen wird! Was hat der Krieg mit diesen Wahlen zu tun, was das Septennat überhaupt mit einem nahenden Kriege? Es ist doch wunderlich, was man den Leuten bieten darf an Ungereimtheiten, und es ist stark, wie dieRegierung auf die Borniertheit und Dummgläubig, keit der Menschen zählen darf. Beschränktheit, Bequemlichkeit, Wohllebigkeit und Strebertum imBunde machen es einer brutalenRegierung leicht, derNation den Fuß auf denNacken zu setzen.Wohl nie ist ein so frivoles Spiel getrieben mit der wachsenden Friedensliebe der Völker, als in diesem Wahlkampfe, und wenn wir Krieg bekommen, so wäre Bismarck wert, daß ihn die erste Kugel träfe — und wenn er davor geschützt ist — so wird sich vielleicht eine andere für ihn finden, die er jetzt selbst sich schmiedet.

Gestern war ein Beamter hier, der meinen Mann sprechen wollte, zufällig kam ich in Gespräch mit ihm — welch einen Laß gegen die Regierung sprach er aus, was erzählte er von Wahlbeeinflussungen, und welches Bild entwarf er mir von der rastlosen, emsigen Tätigkeit der Sozialdemokraten unter dem Boden der Gesellschaft, welche Sympathie zollte er diesen jetzt so mißhandelten Leuten.

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Kapitel 4:

Ich halte es für dasWichtigste vonNiederlagen, innern Vorteil zu ziehen. Politik zu treiben in jetziger Zeit ist keine geringe Kunst, bei Gott eine schwere, und jeder muß erst sein Lehrgeld zahlen. War die Fusion nicht ein Fehler?Nein, sagt Karl, aber der Fehler war der, daß die Leute, welche die Fusion anregten, später nicht ihre Schuldigkeit taten Richter gegenüber, damit er mehr und mehr aus seiner Stellung als Vorsitzender der Parteileitung gedrängt wurde. In der Übernahme einer Sache liegt nicht immer ein Fehler, wenn diese Übernahme mißliche Folgen hat, sondern in der Behandlung des Übernommenen. . . .

Tagebuch. 2. März 1887. In der „Nation" vom 19. Februar schreibt 55. Ianitschek aus Florenz über die Frauenfrage im Renaissance-Zeitalter, und man sollte denken, nach allem, was er sagte, daß er wirklich für die wahre Würde und Bedeutung der Frauen eintritt, bis wir ihm aufmerksam lauschend, dann plötzlich am Schluß wieder den Pferdefuß hervorlugen sehen, welchen der Schriftsteller (wahrscheinlich ihm ganz unbewußt) unter demMantel der Frauenwürde, mit dem er sich bekleidet, trägt. So heißt es am Schlüsse: „Die Schranken zu überschreiten, welche nicht der Geist, aber die Natur demWeibe gezogen, versuchte jenes Zeitalter nicht. Auch dieFrau, die alle ihre Anlagen auf das höchste entwickelt, blieb ganz weiblich, indem sie auf den Beifall desMannes niemals verzichten mochte . . . . DaS letzte Ziel aller ihrer Eroberungs- und Crwcrbspolitik blieb doch derMann." Ehe der Lochmut derMänner nicht (inen gründlichen Stoß erhält, der wie weit ihn auch einer abzustreifen scheint — immer in dieser oder jener Gestalt, oft in wunderbarerNaivität wieder hervortritt, eher wird der Frau die Bahn nicht frei, auf der sie zu wandeln berufen ist, auf der sie sich vollständig entfalten und jenen wahren Liebreiz gewinnen kann, welcher aus dem innersten Kerne der Menschenwürde entspringt. Aber wir selbst müssen diese Bahn erobern und zwar durch den Mut denMännern zu mißfallen. Wie die Bequemlichkeit der Menschen, vor allen den Deutschen der Hemmschuh großer Entwicklung nach so mancher Seite hin ist — so auch in bezug auf die wahre Frauenemanzipation. DieMänner sind im ganzen noch viel zu unentwickelt und ungebildet, um die moderne wahre

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Weiblichkeit ertragen zu können — sie ist ihm zu unbequem. Daß die Geschlechter verschiedene Domänen ihrer Wirksamkeit haben, liegt einfach in der Anordnung der Natur, die eben zwei verschiedengeartete Menschenwesen schuf. Daß man die Frau unter den Mann stellte, hat seinen Grund im Zeitalter der Kerrschast roher, physischer Kraft; dann auch in der Verirrung der Kirche, welche versuchte, sich von der Natur und ihren Gesetzen zu lösen, und in der modernen Zeit der Überschätzung der Verstandesseite im Menschen und dessen einseitiger Entwicklung. Meiner Überzeugung nach ist der Mann von vornherein mehr als die Frau angelegt zum abstrakten Denken, zur starken Konzentration der Verstandeskräfte, wie es nach einer Seite die Wissenschaft fordert. Aber ist diese Seite „höher" als die deö Gemütslebens? als die Fähigkeit, dem Geiste das Fleisch und Blut zu geben — das Medium zu pflegen und zu gestalten, ohne welches ein Geist mit dem andern auf dieser Welt gar nicht verkehren kann? Ist diese Seite etwa „höher" als die Anlage, das Kleine mit feiner, zarter Land zu gestalten, und besitzt die Frau etwa deshalb wenigerVerstand als derMann überhaupt? Kant selbst bezweifelt dies; aber er spricht der Frau eine andere Art von Verstand zu als dem Manne; er meint, der Verstand gehe eine andere Art von Verbindungen ein mit den übrigen Seelenkrästen, als der des Mannes. Die große Domäne der Frau in der Erziehung, der Beherrschung des Wirtschaftlichen im engeren und weiteren Sinne, im kleineren und größeren Kreise — diese allgemeine Bestimmung ihres Geschlechts — ist es etwas Antergeordnetes gegenüber der Arbeit desMannes? Es scheint nur so, weil ihre Arbeit nock nicht mit dem Aufwande von Verstand und Wissen unterstützt wird, deren sie bedarf, da liegt die Täuschung; diese Durchdringung von Wissen und Geschicklichkeit fehlt ihr. Erziehungswissenschaft mit Einschluß der körperlichen Pflege und deren Boden, die hauswirtschastliche Tätigkeit, ist Lebenswissenschast. Erziehungskunst — Lebenskunst, beide zu verstehen und zu üben, verlangt «inen logisch gebildeten Verstand, ein nicht geringes Quantum wissenschaftlicher Kenntnisse, und die Frau ist so gut fähig auf ihrem Gebiete wie der Mann auf dem seinen, das Äöchste an geistiger Be­ deutung zu leisten.Nur sind die Verbindungen vonWissen und Können bei der Frau anders als wie beimManne .

366

Kapitel 4:

An Anna Breymann.

Berlins. 17. März 1887. .... Last Du jetzt eine passende Persönlichkeit für Deine haus­

wirtschaftliche Tätigkeit, so schicke sie jetzt hierher, das System zu er­ lernen, ich biete Dir unser Laus für sie an .... Die Kronprinzessin hat Charakter genug, um sich nicht stören zu lassen in ihrer Arbeit mit mir für Volkserziehung. Politik ist natürlich

ausgeschlossen. Ich wurde vom Lofmarschallamt zur Konfirmation ein­ geladen und jedem andern Gaste gleich behandelt. Ich muß sagen, es

stärkt mein Vertrauen zum kronprinzlichen Paare, daß sie entschlossen

scheinen, sich in Beziehung zu Werken, die nichts mit Politik zu tun haben, nicht stören zu lassen und deren Vertreter festhalten, trotzdem wir dieNiederlage erlitten haben und Schrader, Forkenbeck *), Stauffenberg

usw. zu den bestgehaßten Männern bei Bismarck gehören. Saft Du gehört, daß Forkenbeck nicht zu Kaisers Geburtstag eingeladen ist? während der 2. Bürgermeister eine Einladung bekam und — hinging I

Es wird erzählt, daß alle Deutsch-Freisinnigen auf einer Liste stehen

und dem Kaiser als Landesverräter geschildert sind. Auch soll dem

Kronprinzen diese Liste zugeschickt sein mit dem Befehl, jede Beziehung mit diesen Leuten abzubrechen. Es soll Bismarck gelungen sein, den

Kaiser gegen die Leute auf der Liste persönlich aufzubringen; etwas Wahres muß daran sein, denn die Sache mit Forkenbeck ist eine Be­ leidigung, wie sie nicht größer gedacht werden kann. Als die Kron­

prinzessin mit ihrer Schwester (Prinzessin Christian) im Kindergarten

war, wurde mir vorher geschrieben, sie wünsche keinerlei Veranstaltung, hoffe aber, daß ich dort sei. Anter solchen Amständen ist es doch treu,

daß sie an der Arbeit mit Leuten hält, die in die Acht erklärt wurden. Auch hat sie meinemMann als stellvertretendenVorsitzenden und Georg

von Bunsen (der auch zur Partei gehört) als Vorsitzenden des Gesund­ heitsvereins bestätigt, was gewiß nicht liebenswürdig ausgenommen ist, denn es soll über alles berichtet werden. Am letzten Mittwoch hatte ich

eine Abschiedsaudienz, da das kronprinzliche Paar übermorgen nach Ems reist; sie trug mir allerlei Wünsche vor in bezug auf die Vereine und

entließ mich mit herzlichem Lebewohl. Du glaubst gar nicht, welche

Spannung herrscht zu erfahren, wie Kronprinzens stehen, und wie *) seit 1878 Oberbürgermeister von Berlin, welcher wegen seiner liberalen Gesinnung dem Fürsten Bismarck nicht genehm war.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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jedes Wort über sie zur Lawine wird; ich habe keinen Grund zur Ge­ heimniskrämerei und sage, wenn ich gefragt werde: „Die Kronprinzessin läßt ihre Arbeit für das Volk nicht fallen mit mir, und etwas anderes habe ich nicht zu sagen". Nun, geliebte Anna, lebe wohl An Frau A. Rickert. Berlin W. 11. Juli 1887.

Ich muß Ihnen vor unserer Abreise*) schreiben, und da wir morgen und übermorgen Besuch erwarten und Annette Freitag abreist und wir Sonnabend, so will ich schnell ein stilles Stündchen heute ausnützen, indem A. auch bei ihrer Korrespondenz sitzt. Es ist so reizend, wenn Annette hier sitzt, und wenn es kühl ist und wir hinten in unserer „Sommerwohnung" sitzen, bilden wir uns ein, daß wir zusammen im Bade sind und einander ganz gehören, was ich umsomehr genieße, da mein Mann hier ist (wenn auch in Arbeiten »erfunken), doch bei uns ist, und ich kein Leimweh nach ihm habe, keine Briefunruhe usw. Annette kam sehr angegriffen her am Sonnabendabend es geht ihr aber schon besser. Diese liebe Annette, was hat sie wieder geleistet in dem letzten Vierteljahr, was könnte ich ohne sie in der mir so am Lerzen liegenden Sache tun, und wie vervollständigt sie mein per­ sönliches Leben Neulich abend folgten wir einer Einladung von Goldschmidt, unter andern war Virchow dort, er unterhielt mich ganz vorzüglich. Ich er­ innerte ihn an sein früheres Interesse für Kindergarten und Frauen­ bildung. „3a", sagte der Professor, „das war die Zeit, in der man noch naiv war und sich einbildete, auf die Schulerziehung einen Einfluß zu gewinnen, es kommt mir jetzt ganz komisch vor, daß man so etwas ge­ träumt hat." Dann sprach er über Modesucht in der Wissenschaft; wie er schon dreimal aus derMode gekommen sei. Er erklärte mir prachtvoll einfach den Prozeß der Eisbildung durch die Maschine und die Macht der Kohle, wie wir sie in der Brauerei sehen usw. Es wecken oft wenige Worte in mir viele Gedanken, und wie mir Virchow so einfach und klar die Gewalt der Naturkräste unter dem Menschengeiste zeigte — da sah ich klarer als je, wie diese Macht des Geistes am eigenen Leibe zur Gel-

*) nach dem Engadin.

368

Kapitel 4:

tung kommen muß, und welches großartige Menschengeschlecht entstehen könnte. Wäre ich nur zwanzig Jahre jünger, es ist als reifte jetzt vieles in mir, was mich zur Sicherheit und Klarheit führt in den Erziehungsftagen und Erziehungsarbeiten — oder könnte ich wenigstens schriftlich zusammenfassen, was mich Pestalozzi, Fröbel und das Leben gelehrt haben; aber diese beständige Anruhe in unserm Leben lassen mich nicht zu der Sammlung kommen, die mir nötig ist; ich habe zu vielerlei In­ teressen und Beziehungen, ich muß absterben für anderes, und nur eins verarbeiten lassen. Ich meine nicht, daß nicht andere die Entwicklung der PestalozziFröbelschen Ideen fortsetzen werden, aber man sucht zu seiner Selbst, befriedigung einen gewissen Abschluß Ich kann so gut verstehen, wenn Marie Löper ausruft: „Ich glaube, ich tauge nur noch zum Arbeiten I" Es ist dies aus der Emp­ findung dahin geschwundener Jugend und eines großen Teils des Lebensstoffes, der einst vor uns lag und nun hinter uns liegt. Was ist aus diesem und jenem Menschen, aus diesem und jenem Verhältnis ge­ worden, das wir in der Entwicklung kannten. Der Iugendreiz liegt hauptsächlich im Werden und Erwarten. Aber über der Jugend, die vergänglich ist, gibt es eine ewige Jugend, und sie wächst gerade aus der Arbeit, die uns in einer Epoche des Lebens gewissermaßen aufrecht erhält, wieder hervor. Sie erstreckt sich über uns selbst und andere und läßt uns die Sterblichkeit der Dinge vergessen — oder verklärt sie uns wieder zum Werden und Erwarten — ob dieser Zustand auch im Menscheu entsteht, der nicht an eine persönliche Fortexistenz der Seele glaubt? Ich kann mir keinerlei, auch nicht die leiseste Vorstellung über das Wie machen, habe auch nicht das geringste Bedürfnis dazu, aber es ist ein nicht zu ertötendes Etwas in mir, das mich festhalten läßt an deir Glauben der persönlichen Ansterblichkeit. Was rede ich Ihnen dann vor, liebe Frau Rickert, und so in fliegender Eile und unter Claras Fragen, die hier arbeitet, ich muß schnell schließen

Tagebuch. Juli 1887. Ich habe an Pestalozzis Wiege gestanden, sie mit meinem Finger berührt und sie lange betrachtet. In ihr schlummerte das Kind Heinrich Pestalozzi, ich sah es im Geiste, schaute dessen Entwicklung und Schicksale und eine tiefeRührung ergriff mein Herz.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ist dies ein Zeichen deutscher Sentimentalität? Mag es sein, ich

schäme mich derselben nicht. Am 12. Januar 1746 legte man das Kind­ lein in dieWiege, am 17. Februar 1827 bettete man den Greis in seinen

Sarg — aber Kind war er geblieben im schönsten Sinne des Wortes, Kind im Glauben und in der Liebe, aus denen sein Tun für die Kinder­

welt quoll, und wieviel Tränen auch sein Auge geweint, er hat doch das Himmelreich geschaut, von dem Jesus spricht: „Wenn Ihr nicht werdet, wie die Kindlein, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen".

Pestalozzi war ein Kind Jesu geworden. Ich kenne keinen Geist auf derWelt, keinen Geist derMit- undVorwelt, der uns Frauen für unsern erzieherischen Beruf mehr geben könnte als Pestalozzi, wenn wir uns in

seine Liebe, in seinen Glauben und sein Schauen hineinleben, denn zarter und tiefer hat nie eine Mutter ihr Kind geliebt als Pestalozzi die Kindheit; wärmer, ja feuriger hat niemand an die Menschenwürde ge­ glaubt als er, und an dieMöglichkeit dasMenschenleben schön und herr­

lich zu gestalten; klarer hat niemand die Keimpunkte des menschlichen Geistes und dessen Entwicklung geschaut als er, und die unendliche

Wichtigkeit begriffen, welche die Pflege des ersten Kindeslebens betrifft, und dieNotwendigkeit, dasWeib für dieselbe zu bilden. Ich begehe keine Ungerechtigkeit gegen Fröbel und andere päda­

gogische Geister, wenn ich das ausspreche, es liegt keine Unterschätzung der Wissenschaft und ihrer Erforschung des menschlichen Wesens darin. Fröbel steht hoch bei mir, er und die wissenschaftlichen Forschungen

müssen, was Pestalozzi gab, ergänzen, unterstützen. Aber Pestalozzis Art und Weise hat etwas dem weiblichen Wesen so Verwandtes. Seine

Unmittelbarkeit, seine Wärme, Begeisterung, Hingabe, sein in tiefster

Bedeutung dichterisches Schaffen berühren die weibliche Natur auch unmittelbar; sie erzeugen in den edelsten Anlagen ihres Geistes Leben, Bewegung, Wachstum und Blüte. Es ist überhaupt von der höchsten

Wichtigkeit, die Unmittelbarkeit des Weibes zu pflegen; gerade diese Seite, durch welche man das Leben noch in ganz anderer Weise erfaßt

als durch den Verstand und das Denken, darf uns nicht verloren gehen,

wenn wir nicht einen wesentlichen Teil der Lebensauffassung einbüßen sollen. Vor allem bedarf die mütterliche Erzieherin, die Bildnerin des

Elementaren im Menschen, des Unmittelbaren, des höher Instinktiven für ihren Beruf, was freilich durch Wissen und Denken ergänzt werden muß; aber immer auf dem Grunde des Gemütslebens, welches durch sein Ahnen oft dem zerlegenden Verstände vorgreist, und durch die

Lhschtnita, Henriette Schrader n.

24

370

Kapitel 4:

«inenden Kräfte der Liebe und des Glaubens zusammenhält, was der Verstand in seinen Operationen oft schmerzlich trennt. Am unsere Schülerinnen auf das Selbststudium Pestalozzis vor­ zubereiten ist es nötig, daß wir sie selbst in seinen Geist einführen. Ich werde dazu verschiedenes ausPs. Schriften zusammenstellen und später unten bezeichnen. Wir, die wir P. schon in uns ausgenommen, die wir ihn lieben, verehren und verstehen, müssen mit ihnen in seinen Schriften lesen, ent­ weder anknüpfend an Vorkommnisse aus dem wirklichen Leben, oder solche mit seinen Worten in Verbindung bringen. Aber nachdem wir so den Grund gelegt haben zu der Vereinigung des Pestalozzischen Geistes mit dem ihrigen, ist es auch notwendig, auf diesem Grunde der unmittelbaren Erfassung seines Wesens ein geordnetes Wissen, was er uns gab, flir unsern erzieherischen Beruf zu erzielen. Die Resultate seiner Erforschung der menschlichenNatur sind in verschiedenen Schriften zerstreut, und wir müssen sie zusammenstellen und möglichst systematisch ordnen. Ich werde diesen Versuch in möglichst einfacher Weise machen inRücksicht auf unsere Schülerinnen. Er hat wirklich den Grund gelegt zu einer neuen Erziehungsepoche, und nur durch ihn erscheint auch Fröbel in seiner ganzen Bedeutung. Pestalozzi weist uns darauf hin, daß kein großes Leil für die Erziehung zu hoffen ist von einer einzelnen Wissenschaft, einer einzelnen Methode des Lehrens oder Behandelns des Einzelnen, so bedeutungsvoll dies auch sein kann im Zusammen­ hänge mit dem, was et „das Fundament aller Erziehung" nennt. Spezialitäten sind es nicht, welche die Erneuerung der Erziehung schaffen, sondern die „Wohnstubenkraft"

An Marie Kellner. Parpan über Chur. Graubünden. Schweiz. 30. Juli 1887.

Sieh, liebe Marie, die vollständige Auftichtigkeit zwischen zwei Menschen von Liebe, Verständnis und Sympathie gettagen, wirkt so segensreich; ich lerne von Dir, nehme so manches in mich auf. Aber wie kannst Du denken, Marie, ich wollte die Kirche abschaffen? Nein, alles, alles will ich beibehalten, Abendmahl, Trauung, Taufe, Konfirmation; aber befteit von dem Götzendienst. Könnte ich Dich doch einmal längere Zeit sprechen. Wäre ich Prediger, ich würde den Glauben predigen, den

Jesus hatte; kennst Du ihn?

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Er glaubte an ein liebendes Grundprinzip aller Dinge — an Gott — er glaubte an die Möglichkeit der Vervollkommnung der menschlichen

Natur; er stellte daS Entwicklungsgesetz auf, daß wir als Menschen den

unserm tierischen Körper angeborenen Egoismus bis auf die gebotene Grenze zurückdrängen und die Interessen der andern in uns aufnehmen sollen, d. h. wir sollen streben im Kerzen, Verstände und Willen die

göttlichen Gesetze zu erkennen und die Verhältnisse des Lebens: Essen, Trinken, Kleider, Schuhe usw. bis zu den feinsten Geistesregungen mit

diesen Gesetzen in Einklang zu bringen. Wir können es vermöge der göttlichen Vernunft in uns; aber nicht einer, nein, ein Zusammen­ wirken aller macht es möglich, und die Menschen in diesen Interessen

zu fördern, ihnen Lilfe zu bringen, selbst wenn wir sie hassen, daS ist Feindesliebe. Du und ich, wir sind in Menschenliebe verbunden, ge­ trogen von natürlicher Sympathie, welche dieser Menschen — dieser

Christusliebe den höchsten Zauber gibt, sieh, das ist dasLöchste, was das Leben bieten kann. And solche Liebe strahlt in den verschiedensten Far-

ben: Gatten-, Geschwister-, Kinder-, Elternliebe usw. Aber die natür­

liche Liebe ohne Christusliebe, ohne den Ernst der göttlichen Interessen, ach, sie ist ein Naturprodukt und denNaturgesetzen des Entstehens und Vergehens, des Festhaltens und Lösens, des Aufblühens und Der-

welkens unterworfen, wie Goethe dies in den Wahlverwandtschaften zeichnet, ohne es vielleicht selbst ganz zu verstehen. Nur Christusliebe ist ewig, nur Christusliebe erlöst, «ur Christusliebe besiegt Tod, Kölle, Teu­ fel; aber sie ist nicht ein Langen an seinem Kreüze, nicht ein Götzendienst seiner Person; sie ist ein Erfassen seine- Geistes, seines Schauenin die Tiefen und Löhen, seines Erfassens des einigen Lebens von Natur — Mensch — und Gott; sein sich Ergreifenlassen vom heiligen Geiste, sein Dienen derMenschheit, nicht um feinet-, nein, um der Ein­

heit willen von Gott undMensch, worin er inbegriffen ist. O Marte, wandeln wir mit seinem Verständnis der Natur und

Gottes, beten wir an, waS er anbetete, glauben wir, was er glaubte, an diese ewige Fottentwicklung des menschlichen Wesens; glauben wir, was er glaubte von der menschlichen Natur, und vollziehen wir die

Wiedergebutt im Geiste. Wird ein Kind nicht wiedergeboren in der Familie, von den Eltern, wenn sie verstehen, die göttlichen Gesetze auS-

zuprägen in der Att und Weise des Lebens? Wie der Baum im Erd­ reich wurzelt, auS ihm und der Atmosphäre seine gesunde oder ungesunde

Nahrung zieht, so daS Kind im Leben von der Familie. Ob unser Körper

24»

Kapitel 4:

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ein Tempel Gottes werde oder nicht, das hängt von demW i e des Essens, Trinkens, Kleidens, Schlafens ab; von der Durchdringung der Erkenntnis und der Liebe bei jeder Handreichung; von der Erziehung des Fleisches in Larmonie mit der göttlichen Vernunft in uns. Aber dazu gehört Freiheit, Einheitlichkeit der Anschauung, Er­ greifen der höchsten Menschlichkeit in Jesu, die ihre Einheitlichkeit in Gott undNatur gefunden in seiner Zeit, in seinemVolk, in seiner In­ dividualität, und die nun in der millionenfachen Mannigfaltigkeit der Individualitäten geboren werden muß. Wie Gott und zeigt, daß auch die Mannigfaltigkeit der Erscheinung unendlich ist, wie die Blumen seines Feldes, Waldes, seiner Berge! Knieen wir mit Jesu in Geth­ semane, im Kampfe mit ihm, mit ihm Marie! Sieh, das wollte ich predigen, wäre ich ein Prediger im Amte; die Menschen wollte ich losreißen aus diesem verquälten Götzendienste der Kirche. Ich wollte ihnen die großartige Psychologie der Bergpredigt entwickeln, ihnen die Eigenartigkeit so mancher Erscheinungen und Aus­ sprüche in der Bibel im Zusammenhang« mit der Geschichte enthüllen; ihnen daö Bild malen von Korinth, wie es Beyschlag tut, wohin Pau­ lus seine Wirksamkeit führte. Wahrheit, Wahrheit, Marie, danach hat meine Seele geschrieen 1 And die Taufe? Ich wollte der Gemeinde ans Äcrz legen, welch eine Mahnung jedes neue Kindlein ist, und jede Tauftedc sollte eine Erziehungörede sein; eingesenkt mit heiligen Gesängen sollte daS Kindlein werden in Jesu Geist, getragen von der Gemeinde. And wie heilig ist die Eh« in der Christuüliebe; dqs Abendmahl, welch tiefsinniges Symbol — doch ich muß aufhören, mein Äerz klopft, die Löhenluft ergreift noch meine Nerven und mein Blut.

Lebe wohl, liebe Marie,

Deine getreu« Lenriette. An Anna Breymann. Berlins. 17. September 1887.

Gestern abend spät sind wir wieder heimgekehrt, nachdem wir von Zürich bis Berlin 28—30 Stunden in einer Tour gefahren sind. Es ist mir aber prachtvoll bekommen; doch ist mir alles noch so wunderbar, wieder soviele Räume zur Verfügung und dienstbare Geister zu haben und reine Kleider und ordentliche Sachen, ohne daß man jeden Stich

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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selbst machen muß und jede- Stück ersparen und fortlegen muß, daß man alles beisammen behält.

Berlin sehe ich noch nicht; die schönsten Visionen ziehen noch vor meinen Augen, der blaue Comer See mit seinen üppigen Äsern, die

blühenden, voll Lebensfreude, in glänzender Farbenpracht strotzenden Gärten der Neichen mit rieselnden Bächen, kühlen, versteckten Teichen und Wasser verstäubenden Springbrunnen; die Marmorpaläfie von

Oleanderbäumen umblüht, und wo dunkelrote Rosen sich an den grau­ blättrigen Olbäumen hinausschlingen, und wo Alves und Zypressen stehen ernst und dunkel zwischen all' dem Licht und der Farbenpracht.

And dann wieder erheben sich vor meinem Geiste die ernsten, stillen

Berge mit ihrem ewigen Schnee himmelhoch über die grünen Matten, wo Edelweiß blüht, das wir selbst gepflückt. Ach, ich bin so reich, so reich heimgekehrt, Anna, Du mußt hinaus, nur da still zu sitzen in der ernsten oder üppigen Schönheit, sich umwehen zu lassen von dem reinen Gottesodem, das allein macht uns zu einem

andern Menschen. Ich hatte vergessen, wie gut dasReisen tut, sonst hätte ich nicht so lange gewartet

An M. Lyschinska.

Berlin W. 20. September 1887. Am 16. September sind wir heimgekehrt, erneut an Leib und

Seele und mit den schönsten Erinnerungen von der Welt; aber di« Wir­ kung der Berliner Lust ist immer eine so nachteilige sür mich, daß ich jedesmal nach längerer Abwesenheit von Berlin hier krank geworden

bin. Diesmal hat es mich insofern recht hart bettoffen, daß ich meinen rechten Arm nicht gebrauchen kann infolge von heftigem, nervösen Muskel-RheumatismuS. Klara ist seit Sonnabend wieder hier, und so

habe ich jemanden, dem ich diktieren kann. Ich hätte Dir eineMenge zu

sagen, aber ich will mich auf das nötigste beschränken, da ich noch eine

Menge Dinge zu erledigen habe. MeinMann und ich haben große Lust, uns einmal in Zürich niederzulassen, wenn wir nicht mehr in Berlin sein wollen oder können.

Ich habe in der Beustschen Schule doch ganz vorzügliche Dinge gefunden in bezug auf Geometrie, Planimettie, Rechnen und bergt,

alles was zu diesen Fächern gehört, ist ganz vorzüglich entwickelt und

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Kapitel 4:

durchgeführt, ebenso Heimatkunde und Geographie. Aber von der Einheitlichkeit in bezug auf Unterricht und Erziehung, wie Fröbel und Pestalozzi dieselbe wollen, habe ich nichts gefunden. Verslandesbildung und Wissen ist ihr Evangelium, wie dies überhaupt jetzt im Vordergründe bei Lehrern und Erziehern steht.

Was nun Frau von Marenholtz' Standpunkt betrifft, so wünsche ich, daßDu den Unterschied zwischen uns beiden klar *) hervorhebst. Frau

von Marenholtz ist mir viel zu doktrinär, die Kindergärten nach ihrer Unterweisung sind viel zu viel Schule, die Arbeiten der Kinder sind vor­

wiegend verstandesmäßig auf mathematischer Grundlage; das berühmte

Schöpfungsgesetz, welches die Kinder bei den Fröbelschen Gaben an­

wenden, ist im Grunde ein Mechanismus, das wahrhaft künstlerische

Schaffen, dessen Keime schon in dem Kinde gepflegt werden sollen, und bei denen die fteie Phantasie die Hauptrolle spielt, wird durch vorzeitige Reflexionen zurückgedrängt. Ich könnte noch viele Einzelheiten auf-

führen und kritisieren, aber ich habe jetzt keine Zeit dazu. Ihr neues Handbuch böte eine Gelegenheit zu einer eingehenden Kritik ihres Stand-

Punktes. Vor allen Dingen ist bei Frau von Marenholtz eine sehr große

Lücke; sie selbst hat oft einen richtigen Ausspruch FröbelS wiederholt, daß die Beschäftigungen der menschlichen Gesellschaft auf ihre primitiven

Anfänge zurückgeführt werden müßten, und daß man den Kindern den

rechten Stoff und die rechte Gelegenheit bieten müsse, die primitiven Anfänge zu üben.Nun ist das wirtschaftliche Leben bis zu einer Stufe entwickelt, daß es sehr viel Verstand, Kombinationsgabe, praktische Tüchtigkeit, aber auch verbunden mit allen diesen Faktoren vieler Liebe bedarf, um das gesellschaftliche Leben anders und besser zu gestalten als

jetzt, wo der Kampf ums Dasein immer heftiger entbrannt ist, und

der Egoismus des einzelnen immer krasser zutage tritt. So ist auch das wirtschaftliche Leben auf seine primitiven Anfänge zurückzuführen und dem Kinde dienstbar zu machen, so daß eS in demselben tätig sein kann.

Die hauSwirtschastliche Seite deS Familienlebens, wenn dieselbe Mittel zu höheren Zwecken der Menschenbildung ist, wie sie sein sollte, schließt die verschiedenen Seiten des wirtschaftlichen und gesellschaft­

lichen LebenS überhaupt in sich. Die Beschäftigung mit der ersteren be­ reitet das Kind nun praktisch vor auf das volkswirtschaftliche und bringt

♦) Seitdem geschehen, stehe Handbuch der Frauenbewegung, m.Teil, Artikel: Kindergarten. Verlag Mörser, Berlin.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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das Kind in natürliche Beziehung mit derNatur, der Industrie und den meisten menschlichen Verhältnissen. Wenn nun Frau von Mattnholh sagt, der Kindergarten sei ein notwendiger Erziehungsfaktor für die Kinder, aber hauswirtschaftliche Tätigkeit müsse der Familie überlassen werden, so ist das einfach Ansinn. Wenn alle andern Beschäftigungen im Kindergarten getrieben werden, und der Kindergarten dem Kinde ein Bild des gesellschaftlichen Lebens geben soll, so kann die Hauswirtschaftliche Tätigkeit in demselben nicht fehlen, denn dieMütter verstehen noch viel weniger das Kind zu derselben anzuleiten, sie in Verbindung zu bringen mit Äbung christlicher Liebe, mit der Vorbereitung zu Kunst und Wissenschaft, als nach bestimmten Regeln zu bauen, fallen und siechten, da letztere Dinge viel leichter sind als letzteres. Aber gerade darum wollen die Leute ihre alte Routine nicht fahren lassen. Durch die ruhige Organisation der hauswirtschaftlichen Tätigkeit in Verbindung mit den übrigen Fröbelschen Beschäftigungen wird den letzteren gerade das kalte, vorwiegendMathematische und oft Gekünstelte genommen, und der Kindergarten wird von warmem, organischem Leben durchdrungen, dies setzt natürlich eine andere Art von Bildung der Kin­ dergärtnerinnen voraus

An ihren Bruder Dr. med. Erich Breymann.

Berlin W. 29. September 1887. Mein lieber Erich!

Es geht sehr viel besser mit meiner Gesundheit, aber es ist eine große Reizbarkeit der Nerven in dem rechten Arm zurückgeblieben, so daß ich immer Schmerzen habe, wenn der Arm hängt und wenn ich schreibe. Du verzeihst deshalb wohl, wenn ich heute einen diktierten Brief sende. Ich habe mich so sehr über Deinen lieben Brief und die Bilder der Kinder gefreut, nur bin ich ganz betrübt, daß mein Liebling, Erich, gar nicht so hübsch ist, wie in Wirklichkeit; daran bist Du schuld, daß Du den Jungen nicht mehr zum Gehorsam erzogen hast. Ich wollte die Bilder so gerne wie die Bücher für die Kinder selbst kaufen, deswegen kommen sie so spät. Es gibt nämlich so verschiedene Ausgaben von Brehm, und ich war erst unschlüssig, ob ich eine kleinere nehmen sollte, oder die größte in verschiedenen Abschnitten. Ich habe mich zu letzterem entschlossen, dem Goetheschen Ausspruch folgend: „Für die Kinder ist nur das beste gut genug", und so erhaltet Ihr vorerst drei Bände der Säugetiere.

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Kapitel 4:

Nach und nach werdet Ihr das ganze Werk bekommen. Ich habe nun aber eine große Bitte, daß Ihr den Kindern die Bücher für jetzt nicht in die Land gebt ohne Euer Beisein. Diese Ausgabe von Brehm ist nicht für Kinder, aber das sind die kleineren Ausgaben auch nicht, und so glaube ich, es sei das beste, ersteres zu wählen in Rücksicht darauf, daß Ihr den Kindern daraus vorlest, oder noch besser ihnen das erzählt, was für sie paßt. MeinMann ist ausgegangen, dieBücher zu kaufen und abzuschicken, weil ich selbst auch heute noch keine Kommissionen machen darf. Ich hoffe, daß Ihr die Sendung noch zeitig und in guter Ordnung erhalten werdet. Sollte letzteres nicht der Fall sein, bitte, dann schreibt mir gleich. Karl kam neulich sehr vergnügt von seiner Reise zurück, und ich habe mich so gefreut, daß Ihr einige heitere Stunden zusammen verlebtet. Es scheint ja Anna wieder viel besser zu gehen, und daß sie vorerst ihrer Sorgen enthoben ist. Wollt Ihr wirklich EureReise nach Berlin aufgeben, wie mir mein Mann sagt? Ich hatte mich so darauf gefreut. Euch hier zu sehen. Da meinMann aber meinte, Ihr würdet nicht kommen, so haben wir unser Logierzimmer an Lerrn von Bar aus Göttingen vergeben für eine Woche vom 7. Oktober an, aber vielleicht kommt Ihr doch noch später. Also Gretchen soll nun noch mehr studieren als bisher? Der Plan, den Du mir mitteilst, mag ja unter den obwaltenden Umständen noch der beste sein, ich bin aber immer sehr traurig, daß die Kinder nicht mehr im Lause tätig sind in den Jahren, wo sie solche Beschäftigungen sehr lieben, und wie schön könnte man solche Arbeiten, welche sie freilich unter der Leitung der Mutter verrichten müßten, mit Einführung in Botanik, Zoologie, Chemie und Physik verbinden, weil ja die ganze Laushaltung in so inniger Wechselwirkung mit der Natur und ihren Kräften steht Wie viel Gelegenheit gibt sie auch zur ästhetischen Bil­ dung, wenn alles hübsch geordnet und sauber gehalten wird wie bei Euch; wenn z.B. Kinder helfen beim Bilder putzen usw. und man sie einführt in die Schönheit derselben, soweit diese ihrem kindlichen Gesichtskreise zugänglich sind. Das Tun im Leben, wenn es vergeistigt wird durch tiefere Interessen an den Dingen, fördert mehr als alles andere eine ge­ sunde, harmonische Bildung. Es macht so glücklich und zufrieden, es fesselt Eltern und Kinder in einer Weise aneinander, welche bis ind spä­ tere Leben fortwirkt. Meine schönsten Kindeserinnerungen sind immer noch, wenn ich „eine kleine Butter" machen durfte, mit der Mutter

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Käse machen usw. vornahm, und wie viel wirksamer würde das alles noch gewesen sein, wenn die Mutter noch mehr naturwissenschaftliche Bildung gehabt hätte. Ja, das sind so meine Wünsche und Träume für die künftige Ge­ neration, daß die Schule mehr entlastet wird bei der Erziehung, und die Familien die Kinder, besonders in jüngeren Jahren, mehr zu Kaufe haben und mehr beschäftigen als jetzt. Ich sehe nun alle meine Kraft daran, meinen Schülerinnen im Pestalozzi-Fröbel-Lause die Grundlagen zur mütterlichen Erzieherin zu geben, aber Laus und Schule haben uns so schlecht vorgearbeitet. Sie kommen mit einer gewissen Prätension etwas zu wissen, aber die wahre, geistige Bildung fehlt fast allen. Nun, lieber Erich, scheltet mich nicht für meine pädagogischen Erörterungen, ich habe täglich mit diesen Dingen zu tun, und so kommt es leicht, daß man auch darüber redet. Für heute lebt alle recht wohl. Ich bin mit herzlichen Grüßen

Deine getreue Schwester Lenriette.

An Martha Breymann (Nichte). Berlin W. 15. Oktober 1887.

Meine liebe Martha I So lange hat es mir schon auf dem Kerzen gelegen. Dir einmal zu schreiben, und immer kam cs nicht dazu. Mein Leben hier in Berlin ist recht unruhig und vielseitig; man muß alle Kraft zusammen nehmen, um sich nicht zu zersplittern in den verschiedenen Interessen, welche das Leben einer großen Stadt bietet. Im letzten Sommer habe ich zwar eine köstliche Ruhezeit gehabt mit Onkel Karl zusammen. Wir sind beinahe zweiMonate fort gewesen und haben sie teils in der Schweiz im Engadin, teils in Italien am Corner See verbracht; ich glaube, ich bin nie glück­ licher in meinem Leben gewesen als auf dieserNeise. Wir haben so un­ endlich viel Schönes genossen, und daß wir einmal uns ganz selbst leben konnten in erhabener oder glänzender oder lieblicher Natur, das hat meine Seele so tief erquickt und derselben neue Lebenskraft gegeben. Aber freilich habe ich ein etwas schlimmes Andenken an diesen Aufent­ halt in den Löhen der Berge und Gletscher mitgebracht, nämlich höchst quälendenNerven-Rheumatismus im rechten Arm. Eine zeitlang mußte

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Kapitel 4:

ich sogar das Bett hüten und konnte meinen Arm gar nicht gebrauchen. Jetzt kann ich mich wieder frei bewegen, fühle mich auch sehr wohl, nur vertrage ich das Schreiben noch nicht, habe stellenweis quälende Schmer­ zen, von denen ich dann ganz abgemattet werde, und aus diesem Grunde bekommst Du auch einen diktierten Brief. Es freut mich so sehr, liebeMartha, zu hören, daß Du Dich so glück­ lich in Deinem jetzigen Leben fühlst, eS wird Dir dieser Aufenthalt in Schottland fürs ganze Leben eine schöne Erinnerung sein und mehr als das, er wird bildend und innerlich gestaltend auf Deine Seele wirken. Ich hoffe, daß Du hinreichend Freiheit des Geistes haben wirst. Dich nach Deiner Rückkehr bald wieder in die heimischen Verhältnisse zu finden, und daß nicht eine Zweiteiligkeit in Dein Wesen tritt, die so leicht die Freude am Leben und an den Verhältnissen, in denen wir nun einmal wurzeln, stört. Auch ich habe so viel Liebes früher in Schottland und vor vier Jahren in England erfahren, daß ich mich manchmal dahin zu­ rück sehne; so widerwärtig mir der ungebildete Britte ist, so halte ich den wahrhaft gebildeten fitr den entwickeltsten Menschen, einige Persönlich­ keiten in Deutschland ausgenommen, den ich kenne. Wie selten finden wir in unserer Leimat ein so tiefes Verständnis der Männer, eine so hohe Achtung vor der Frauennatur, wie ich das so häufig in England gefunden habe, und wie ganz anders nimmt schon eine große Anzahl englischer Frauen teil am öffentlichen Leben, als dies in Deutschland der Fall ist; wie ganz anders auch greifen sie handelnd ein in das Leben der Gemeinde und in so manche öffentliche Institution als bei unS. Ich schwärme gar nicht für diese Gleichstellung der Frauen und Männer, d. h. ich halte die Frau im ganzen durchaus nicht dem Manne untergeordnet, aber sie hat ihre Stärke an andern Punkten des menschlichen Wesens, wie der Mann und umgekehrt. Es gibt aber meiner Meinung nach keine Richtung im Leben, di« nicht des Einflusses wahrer Weiblichkeit direkt oder indirekt bedürftig wäre, und wenn, man den Frauen Kleinlichkeit und Engherzigkeit vorwirft, so ist man gegen viele ungerecht, weil sie ja nie Gelegenheit hatten, größere Gesichtspunkt«

ihres Wirkens zu erfassen. Wie gern beschäftigt man sich mit den so­ genannten Kleinigkeiten des täglichen Lebens, wenn man den Zusam­ menhang derselben mit den großen Interessen der Welt versteht. Ist nicht das Laus, die Familie gewissermaßen die Zelle des ganzen sozialen Lebens, und ist es nicht von der allerhöchsten Bedeutung, ihre Gesundheil und schöne Entwicklung zu pflegen, und kann man diese Pflege dem

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häuslichen Serbe angedeihen lassen, wenn man nicht versteht, die Be­ dingungen zu erfüllen, die wahres inneres und äußeres Wohlergehen in der Familie schaffen? Kann man seine Dienstboten wahrhaft regieren und erziehen, wenn man ihnen nicht selbst vorangehen kann in der tüch­ tigen Sandhabung der praktischen Dinge? Was ein wahrhaft edles Familienleben auf tüchtiger, wirtschaftlicher Grundlage für die Kinder«rziehung und für das große Ganze bedeutet, das verstehen heute nur wenige Menschen. Die Familie hat ihre Entwicklungsgeschichte wie alles andere organische Leben, und unsere Zeit fordert eine andere und neue Leistung der Familie als früher. Eine tüchtige Sausftau und Tochter werden, gerade weil sie tüchtig sind zu leiden und zu regieren, auch noch Zeit haben für andere Dinge und Interessen, mit denen ja jedes Saus so innig verwachsen ist. So hoch ich die Bestrebungen der englischen Frauen schätze, geistiges Leben zu erfassen und zu beherrschen, so stehe ich doch anderseits eine große Gefahr darin, daß sie sich im ganzen wenig wirtschaftlich beschäftigen, und ihre Kinder nicht von vornherein zur Wirtschaftlichkeit erziehen. Wie sehr kann man jede häusliche Beschäftigung vergeistigen durch ein wachsendes Interesse an den Naturkrästen, mit denen man es ja immer zu tun hat, da sich ein beständiger Amsetzungsprozeß bei den meisten häuslichen Verrichtungen vollzieht, da wir die zerstörenden und bildenden Kräfte kennen lernen und mit ihnen zu rechnen haben. Ich wüßte überhaupt keine Richtung des menschlichen Wesens, die bei der wahrhaft verständnisvollenSausarbeit nichtBerührung und Förderung fände, und was das schönste bei derselben ist, es bezieht sich ja alles, waman in dieserRichtung tut, auf den Menschen, auf die Bildung schöner, reiner Verhältnisse. Wenn ich Kinder hätte, würde ich sie in ihrer Kindheit und Jugend tief einführen in hauswirtschaftliche Tätigkeit, und aus einer solchen heraus würde ich den ersten Unterricht entwickeln und über­ haupt einengroßenTeilihrer harmönischenBildung an dieselbe knüpfen. Jemand, der mit Serz und Verstand eine Sauswirtschast zu leiten »etsteht in allen ihren Beziehungen zurNatur, zur Industrie, zum Sandel und Gewerbe usw. wird sich leicht im größeren, öffentlichen, wirtschaft­ lichen Leben -urecht finden, weil im Familienhaushalte die primitiven Anfänge gegeben find zu den Formen der Weltwirtschaft, wie z. B. Finanzen usw., und die Wirksamkeit der Frau im öffentlichen Leben bedingt vor allem ein Verständnis für das Wirtschaftliche im Kleinen und Großen.

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Kapitel 4:

Es ist vor einiger Zeit ein hübsches kleines Buch herausgekommen von einem unserer Freunde, „Die Hauswirtschaft und der Markt" von E. Eberly, der mir dasselbe gewidmet hat. Wenn Du einmal zu unS kommst, mußt Du es lesen. Es tut mir oft recht leid, liebe Martha, daß ich Dich so lange nicht gesehen habe, und Dein inneres Leben eigentlich wenig kenne, aber vielleicht führt uns die Zukunft noch einmal zusammen, was mich recht freuen würde. Ich nehme ein so großes Interesse an der weiblichen Jugend, ich arbeite noch immer für dieselbe, gebe regelmäßige Stunden imPestalozzi-Fröbel-Äause und habe viel mit der Einrichtung

und Fortentwicklung desselben zu tun. Wir haben jetzt wieder eine nette, schottische Schülerin, Miß Alice Cree, eine Verwandte von Miß Sime in Galashiels, deren Schule jetzt dort einen großenRuf hat. Es ist wirk­ lich wundervoll, wie treu die entwickelteren Schülerinnen an uns hängen, und wie die sechs Engländerinnen und Schottinnen, welche hier bei uns studierten, förmlich eine kleine Gemeinde unter sich bilden. Jetzt ist uns eine Griechin angemeldet, und wir haben mehrere Amerikanerinnen, eine Finnländerin usw. in unserer Anstalt gehabt. In unserm Kaufe treffen oft die verschiedensten Nationen zusammen, augenblicklich habe ich viel mit einem Spanier zu tun, dem ich die Prinzipien unserer Er­ ziehungsweise erkläre. Papierfalten, Ausschneiden, Klötzchen usw. ist freilich bei uns nicht die Hauptsache, sondern die praktische Entwicklung der Pestalozzischen und Fröbelschen Grundgedanken, die freilich sehr wenig bekannt sind und immer mehr unter Papierschnitzeln und Klötzen vergraben werden. Ich habe Dir soviel von den Dingen geschrieben, die mich fort­ während beschäftigen, ich habe aus Deinen Briesen gesehen, liebe Martha, daß Du Dich für ernste Dinge interessierst, und da schrieb ich Dir auch gern über solche. Daß Du Freude an dem Buche von Kingsley hast, ist schön, der Inhalt desselben hat mir auch viel gegeben, und wenn ich auch K. in manchen Punkten, das Kirchliche betreffend, für einseitig halte und niemals mit ihm übereinstimmen würde, so tut das dem Geiste wahrer Religiosität, die sein ganzes Leben durchdringt, keinerlei Ab­ bruch. Im Gegenteil ich finde denselben herrlich und fühle mich durch ihn gehoben und erquickt, besonders auch deshalb, weil dieser Geist sich in Taten umsetzt, und so ein in der Theorie und Praxis einheitliches Leben schafft. Alles, was Du mir von Deinen Erlebnissen schreibst, hat mich aufrichtig interessiert, und Du kannst mir wirklich eine große Freude durch Deine Briefe bereiten; ich danke Dir auch herzlich für Deine lieben

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Wünsche und das kleine Bildchen. Setze ja Deine Malstudien fort, die Ausübung einer Kunst hilft uns oft wieder ins Gleichgewicht zu kommen im Leben, wenn uns Gedanken, Bücher und Menschen nicht immer helfen können. Aber auch abgesehen davon ist es so wohltuend, sich in die zarte Schönheit der Blumenwelt zu versenken und den Versuch zu machen, sie im Bilde wiederzugeben. Wenn man sich in dieser Weise beschäftigt ohne Eitelkeit und Ehrgeiz in bezug auf die Leistungen, so vergißt man sich selbst, und das halte ich für die größte Wohltat des Lebens. Du erinnerst Dich gewiß noch oft und gern an Tante Annette, sie ist und bleibt meine treueste Freundin auf dieser Welt, und daß ich hier mit ihr zusammen wirken und leben kann, ist mir eine innige Freude. Freilich wohnt sie nicht mehr bei uns, da die Anstalt sich so ausgedehnt hat, aber sie hat in derselben eine schöne Stellung, sie ist geliebt und geehrt, beherrscht ihre Arbeit mit Liebe und Verständnis und hat dabei eine schöne Unabhängigkeit. Eine frühere Schülerin von uns aus Bern, Rosa Meister, ist ganz bei ihr geblieben, und die beiden haben ihren gemütlichen Laushalt. Nun, meine liebe Martha, will ich schließen, ich grüße und küsse Dich herzlich und bin Deine treue Tante Lenriette.

An Marie Löper-Lousselle.

Berlin W. November 1887. Ich freue mich sehr, daß Du jetzt an die Bearbeitung der höheren Töchterschule gehst, ich schicke Dir einige Papiere, aus denen Du die gewünschten Büchertitel entnehmen kannst. Ich empfehle Dir ganz besonders die Sachen von Groth, es sind in letzter Zeit Aufsätze von ihm über den Laselstrauch herausgekommen, in denen auch die Arbeit für die Naturgegenstände mit herangezogen wird; zwar ist es für Dorf­ jungen berechnet, aber das Prinzip bleibt für höhere Schulen dasselbe. Die genannte Bearbeitung ist fast das Beste, was ich auf dem Gebiete der Botanik kenne, und ich wollte eigentlich immer einmal an Groth schreiben. Sollte es Dir zu große Schwierigkeit machen, diese Aufsätze zu beschaffen, so will ich sie Dir einmal schicken, wenn Du sie mir nach einigen Tagen zurücksenden kannst. Kannst Du nicht mit den „NeinschenBlättern" und der „Lehrerin" einen Austausch machen?

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Kapitel 4:

Warst Du in Deinem zweiten Teil der Töchterschule nicht auf Deine Rede in Augsburg zurückgekommen? Gerade die Töchterschule kann nur leisten, was sie leisten soll, wenn sie in lebendiger Wechselwirkung mit dem Lause und dem Familienkindergarten steht. Vor allem bezieht sich dies auf den naturkundlichen Anterricht. Aielleicht kann Dir mein Lest 2 nützen, was die Vorbereitung des Kindes auf die Naturkunde in der Schule betrifft; dann ist in demselben auch das Prinzip ausgesprochen, wie der in Frage stehende Unterricht wenigstens auf den Elcmentarstufen geleitet werden sollte. Die Schule macht folgende Feh­ ler: 1. sie fängt denNaturunterricht zu spät an, 2. sie entwickelt ihn nicht aus dem Leben und 3. verbindet ihn nicht mit dem Leben» Dazu muß ihr vor allem die Familie helfen oder eine ParallelAnstalt, welche sich aus dem Kindergarten als erweiterte Familie mit erweitertem Familienhaushalte entwickelt. Die Kinder brauchen dann nur 3—4 Stunden vielleicht in der Schule zu sein und finden die (Er­ gänzung des systematischen Lernens in dem diesem entsprechend ge­ ordneten, privaten oder öffentlichen Familienhaushalte mit Garten, Lühnerhaus usw.

Die Naturpflege und Naturerkenntnis ist für die Frau von noch höherer Bedeutung als für den Mann, denn sie tritt ja in der Ehe unter dasNaturgesetz und gibt sich selbst als Boden derNatur und des Geistes zur Erzeugung und Erhaltung des Menschengeschlechts. Erst wenn die Frau den Geist in der Natur erfaßt und allem Geistigen wiederum Fleisch und Blut gibt in körperlicher Erscheinung, erst dann werden wir den rechten, neuenBoden für die neue Erziehung gewinnen. Ich habe stets folgendes Prinzip unsern Schülerinnen fest ein­ geprägt:

Stelle erst das Kind in den Dienst der Dinge, ehe Du die Dinge in den Dienst des Kindes stellst.

DiesesPrinzip muß vor allen Dingen bei der Erfassung desNaturlebens befolgt werden. Fröbel sagt einmal in der Menschenerziehung: „Die Pflanzenpflege des KindeS sind dessen erste Erziehungsversuche" und in der Tat, aus der Besorgung der Pflanzen und Tiere geht eine ganz andere Erfassung deSNatur- und Menschenlebens hervor als aus dem anschaulichsten Unterrichte. Jeder gewöhnliche Anschauungsunter­ richt ist immer ein gewissermaßen egoistisches Moment für das Kind: Die Blume wird zerzupft, damit sie dem Kinde diene, ehe das Kind

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gelernt hat, seine Kräfte zu der schönen Entfaltung der Blumenwelt anzuwenden usw. Die Pflanzenpflege kann noch so unendlich viel dazu beitragen, daS große Gesetz der Metamorphose dem Kinde nahe zu bringen, erst die Ahnung, später das Verständnis; ein Gesetz, welches ebensogut durch die Geschichte wie durch die Natur geht, nur aus dessen mangelhafter Erkenntnis die beschränkten, kleinlichen Auffassungen inReligion, usw. hervorgehen. Du kennst natürlich Goethes „Metamorphose der Pflan­ zen"? Kennst Du auch seine „Metamorphose der Tiere" und seine Äußerungen über die Art und Weise der Aufnahme seines Büchleins über diePflanzenmetamorphose? In der Töchterschule muß alles darauf angelegt werden, das Anterrichtsmaterial von vornherein so zu ordnen, daß es dem erwachsenen Mädchen Mittel ist zum tiefen Verständnis der menschlichen Natur und menschlicher Verhältnisse. Im eigenen Lause oder in dem fortent­ wickelten Kindergartenhause muß der Arbeitsstoff mit dem Lernstoff so verschmolzen werden, daß dasMädchen sich durch Arbeit tüchtig machen kann zur Ausübung der Lebenskunst, wie die Schule ihm die Lebens­ wissenschaft bietet. Bis zum vollendeten siebenten Jahre aber sollte das Kind in der Familie oder im Kindergarten in einheitlicher Erziehung beider Richtungen verbleiben, wenigstens das Mädchen

An M. Lyschinska. Berlin W. 22. und 30.November 1887.

Du kannst Dir wohl denken, daß wir alle tief niedergebeugt sind durch die Leiden unseres teuren Kronprinzen; ich bin zuweilen so davon ergriffen, daß ich oft ganz unfähig bin, etwas anderes zu denken oder zu tun. Welches Schicksal wird der Kronprinzessin warten? Lier in Berlin herrscht eine furchtbare Erbitterung gegen sie, weil man sie — und doch ganz mit Anrecht — für die Arsache hält, daß Mackenzie dieBehandlung des Kronprinzen in die Land genommen und ganz verkehrt erfaßt haben soll Seit einiger Zeit liest der Kronprinz keine Zeitungen mehr, und man sagt mir, daß die Amgebung der Kronprinzessin sich die größte Mühe gibt, ihr die Blätter vorzuenthalten, die in so roher Weise auf ihre vermeintliche Schuld hindeuten, oder sie geradezu aussprechen. Ich glaube kaum, daß sich die Engländer in einem ähnlichen Falle zartfühlen-

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Kapitel 4:

der und gebildeter benommen hätten, die Gesellschaft scheint jetzt

überall auf den Löhepunkt der Roheit angelangt zu sein. Von der Heiligkeit des Anglücks hat sie keine Ahnung, und in den tiefsten Seelenwunden wühlt sie ebenso grausam, wie sie im Mittelalter

sich an Körperschmerzen der Gefolterten weiden konnte. Die Folter ist nicht auS der Welt verschwunden, sie hat nur ihre Art und Weise

geändert. In einer Beziehung ist es mir ganz recht, daß meine fortgehenden Armschmerzen mich ganz von der Welt isolieren, zumal sie mir bei

Schonung und Ruhe meist gestatten, recht fleißig zu arbeiten. Ich ver­ senke mich in Geschichte und Physiologie und bearbeite die Errungen­

schaften meiner Studien für meine Stunden; freilich kann ich nicht

immer zu denselben nach der Steinmetzstraße gehen, aber dann lasse ich dieMädchen hierher kommen. Am 30. Ich hatte mich sehr nach Nachrichten von Dir gesehnt, meine geliebte Mary und freute mich, als ich Deine Karte sah. Wenn es

Deine Verhältnisse erlaubt hätten, so hätte ich jetzt Gelegenheit, Dir eine segensreiche Wirksamkeit in Amerika zu verschaffen, wenn Du es

wolltest. Ansere Beziehungen zu Amerika mehren sich und werden immer lebendiger. Man beginnt dort zu fühlen, daß die Kindergärtnerei dort eine recht äußerlicheRichtung nimmt und sehnt sich nach etwasBesscrem

und Reformatorischem. Ich freue mich sehr, daß Du zu Mr.V. inBcziehung getreten bist.

Betone nur ja die systematische Entwicklung von den einfachsten Be­ schäftigungen bis zu den nützlichen Gegenständen .... Weise auf Locke hin, welcher verlangt, daß sich die Kinder ihr Spielzeug selbst machen sollen; zeige dem Lerrn, wie die Flechtblätter der Kleinen zum

Teppich in der Puppenstube benutzt werden, wie die ersten Faltformen mitBuntstiften angemalt, zum Spielzeug dienen. Wie des Kindes Spiel

das Leben des Erwachsenen im Kleinen und in kindlicher Weise darstellt, so bildet die Verfertigung der Spielsachen eineVorstufe für Anfertigung

von Gebrauchsgegenständen im wirklichen Leben, deren Anfang auch

schon im Kindergarten mit Einschluß der Vermittelungsklasse geinacht wird. Du erinnerst Dich der Decken, Körbchen usw. Weise doch den Lerrn auf die ethische Seite der Arbeitsverteilung im Kindergarten hin;

wie die Größeren für erweitertes Spielmaterial der Kleinen sorgen, und wie diese es verfertigen können

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich werde nächstens Miß Manning eine Schrift von Fräulein Selene Lange und einePetition an das Abgeordnetenhaus hier schicken. Ich habe mich mit unterzeichnet, weil ich den Zweck, den die Schrift haben soll, durchaus billige, bin auch mit den meisten Punkten derBegründung der Petition einverstanden; aber ich finde manche Einseitig, (eiten und Anzulänglichkeiten in demselben. Bitte sage das Miß Manning mit herzlichen Grüßen von mir. Zm Falle, daß sie sich eingehend für die Sache interessiert, würde ich gern über meine Abweichungen von Fräulein Selene Langes Schrift mich weiter aussprechen. Ihr findet übrigens in derselben ein treues Bild unserer Töchtererziehung auf dem Gebiete des Schulwesens. Gerade heute geht es mir recht schlecht, liebe Mary, ich muß still auf dem Sofa liegen, sonst kann ich es vor Schmerzen nicht aushalten. Es war schon einmal so viel besser, und nach gerade erfaßt mich Sorge um meine Gesundheit Soffentlich kann ich bald bessere Nachrichten geben. Ich bin in inniger Liebe Deine Senriette. An Anna Breymann.

Berlin W. 3. Dezember 1887. Du hast mir eine so große Freude bereitet mit Deinem Serzensbriefe, daß ich zwar noch imBette, aber doch gleich schreiben muß. Wie freue ich mich Deines Interesses am Allgemeinen 1 And „wer den Sinn aufs Ganze hält gerichtet. Dem ist der Streit in seiner Brust geschlichtet I" Du wirst einen schönen, inhaltsreichen Lebensabend haben, besonders wenn Du die Frauenerziehung in Zusammenhang mit den weiteren Bewegungen in der modernen Erziehung bringst.*) Ja, die Kochschule ist an der Zeit; aber sie muß nicht halb gemacht werden. Dein Fräulein soll aber jedenfalls bei uns wohnen. Liebe, liebe Anna, es würde mich aufs höchste beglücken, wenn wir noch immer einheit­ licher im Geiste arbeiten könnten, und einer Idee leben ist das Söchste. Deine Mütterlichkeit, Sorgsamkeit und Treue — weißt Du noch, daß *) Anna Breymann richtete im Erziehungsinstitute Neu-Watzum Koch- und SauShattungskurse ein, deren Leitung Fräulein Selene Asseburg übernahm, nachdem sie das Lehrchstem im Pestalozzi-Fröbel-Sause erlernt hatte. Lyschtnrka, HenUetlr Schrader II.

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Kapitel 4:

Adolf Dich Eurikleia nannte — müssen noch tausendfältige Frucht tragen, verbinde sie mit einer Idee, und Du legst fruchtbare Samen­ körner für die ZukunftI Zch darf nicht mehr schreiben

An Marie Kellner. Berlin W. 3. Dezember 1887. .... Über Deinen lieben Brief habe ich mich so sehr gefreut mit Ausnahme der gesundheitlichen Berichte. Sage einmal, könntest Du in Wolfenbüttel nicht einen pädagogischen Lesezirkel unter Deinen Freun­ den begründen, worin die Lehrerin, die üniversitätSzeitung, dieNation, das Archiv von A. Sohr ausgenommen würden? DieNation ist kein direkt erzieherisches, sondern ein politisches Blatt, aber sie enthält so viel Bildungsstoff, daß sie den Gesichtskreis der Lehrerin erweitert, und viel­ leicht würde sich so oder so ein praktisches Ergebnis aus der Lektüre gewinnen lassen. Wie mag Euer Volkskonzert ausfallen? Ich interessiere mich so sehr für dasselbe. Wenn Du und Frau Stadtdirektor Baumgarten kräftiger wäret, so würdet Ihr doch trotz hämischer Kleinstädterei Bewegung in den Sumpf bringen. Ich fasse Menschen und Dinge jetzt so ganz anders an als früher, es berührt mich so gar nichts mehr persönlich, es gestaltet sich alles historisch. Ich lache die Menschen und ihre Jämmerlichkeit einfach auS, frage beiGelegenheitKirchengötzen, ob sie wirklich an sich selbst glauben, und sage den Lerrn derWelt, den so eingefleischt hochmütigenMännern, daß ich sie für furchtbar naiv halte in ihrer Erhabenheit über das weib­ liche Geschlecht, und erzähle ihnen dann einige Geschichten. Solche Art Behandlung bringt sie gewöhnlich in Verlegenheit, und ich komme auf diese Weise viel besser mit den Menschen -urecht, als bei langen ernst, haften Diskussionen. Wer meine Ansichten wissen will über Religion, Frauenfrage usw., dem sage ich sie ohne alle ümschweife, und wenn die Leute dann Fragen an mich stellen oder Bemerkungen machen, die mir einfältig oder nicht vom guten Willen beseelt scheinen, zucke ich einfach die Achseln und drehe ihnen den Rücken. Aber für den kleinen Kreis meiner wahren, treuen Freunde bleibe ich, wie ich immer war, suchend, forschend mit ihnen, die Wahrheit zu ergründen, die Gemeinschaft pfle­ gend für alles Gute und gönne mir die Wohltat, ihnen ganz zu »ertrauen und mich ihnen gegenüber gehen zu lassen in meinem Naturell, welches ich mir dadurch erhalte.

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich freue mich so, daß Dir mein Brief über Religion wohl getan hat. Wo ich wirkliche Naivität in Glaubenssachen finde, da ist sie mir wirklich heilig, aber selten genug kommt sie vor, häufig genug stecken die Leute in einer selbstverschuldeten Beschränktheit, wenn es nichts Schlimmeres ist; denn es ist meine feste Überzeugung, daß ein aufrichti-

gesNeligionsbedürfniS auch ein starkes Streben nachWahrheit enthält, und dieses führt uns immer zum Lauschen auf die verschiedensten Stim­ men und zum Forschen auf den verschiedensten Gebieten. Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, wo ich nichts sehnlicher wünschte, als mich der orthodoxen Kirche voll und ganz hingeben zu können, ich habe mit Sehnsucht gesucht, Beruhigung in mir zu finden, in ihren Schriften geforscht; ich konnte kein mich befriedigendesMoment finden. Von den tiefen Seelenschmerzen, die ich um das kronprinzliche Paar gelitten, will ich jetzt nicht sprechen; eö ist so eine momentane Stille eingetreten, ohne daß sie meinem sorgenden Kerzen schon wirklich Be­ ruhigung gäbe. Ich bin wie immer Deine treue

Henriette. An M. Lyschinska. (Diktiert.)

Berlin W. 8. Januar 1888.

Du wirst gestern eine Karte von mir bekommen haben, und ich glaube, daß es wieder bergauf mit mir geht, indeß kann ich ein Gefühl der Unsicherheit noch nicht überwinden; aber ich sehne mich jetzt aus dem Hause zu kommen, was bisher durchaus nicht der Fall war, und so denke ich, meine Natur fordert jetzt wieder, daß ich ins Leben trete, und das ist ein Zeichen von wiederkehrender Gesundheit. Wenn wir uns nur ein einzigesMal sprechen könnten, sowohl über Deine Arbeit als über Erfahrungen im allgemeinen. DeineMitteilungen haben mich auf dasHöchste interessiert, und ich finde in ihnen bestätigt, was mir sofort bei meinem letzten Besuche in England (1883) klar vor Augen stand: Wir deutschen Frauen sind doch berufen, die geistige Mütterlichkeit in der menschlichen Gesellschaft zu begründen, welche, wie sich von selbst versteht, das Verständnis der lindlichen Natur in sich schließt. Trotz Eurer großen Dichter, trotz Eurer großenNaturforscher habt Ihr keinenNationalinstinkt für das Kind25*

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Kapitel 4:

heitsleben und dessen Forderungen, und das ist ohne Zweifel bei den Deutschen der Fall. Müssen wir deutschen Frauen Euch nachstreben, unsere rechte Position in der öffentlichen Gesellschaft einzunehmen, so solltet Ihr aber zu unS kommen in unsere Kinderstube und die Einfach, heil unseres Familienhaushaltes kennen lernen, den wir schon weit mehr als Ihr in den Dienst der Erziehung stellen. Wenn das von beiden Seiten anerkannt würde, so könnte ein höchst ersprießliches Zusammenwirken entstehen. Die Liste vonNaturgegenständen, welche Du mir aus einer Klein­ kinderschule schicktest, kommt mir vor wie eine Keule, mit welcher man das Gehirn der kleinen Kinder schlägt, und wie bei solchen Zuständen den rechten Anfang finden? Ich meine, durch die einfache, ungeschminkte Wahrheit. Ehe Du «in Buch schreibst zur Anterweisung der Lehrerinnen, d. h daS Material zusammenträgst, an dem sie sich bilden können, schreibe erst das Buch derMethode der Einführung des Kindes in dieNatur mit einzelnen Proben von Material. Der Ausgangspunkt für ein solches Buch kann von zwei Seiten in Angriff genommen werden: 1. daß physiologisch-psychologischeNachweise geliefert werden, was das Kind in den ersten sechs Jahren an geistiger Nahrung und an der Art derselben bedarf, und solltest Du nicht Material von Euren Schrift­ stellern, wie Äuxley z. B. finden? Sonst kann ich Dir welches schicken oder Titel geben, und Du findest die Sachen in der großen Londoner Bibliothek, wie Finkelnburg usw. oder 2. daß Du einfach ejn Kinderleben beschreibst, wie Du ein solches erlebt und beobachtet hast nach der Richtung seiner Bedürfnisse, sich in Beziehung zurNatur zu sehen. Mir geht noch ein vielfachesBerständnis auf für mein und meiner Geschwister Kindheits- und Naturleben, und ich weiß so genau die Punkte anzugeben, wo Vater und Mutter die Fäden hätten fassen und halten sollen, welche ein inniges, verständnis­ volles Verhältnis auch für spätere Zeiten zwischen Kindheit und Natur hätten knüpfen können. Sollte Eure Sprache wirklich so arm sein in bezug auf Kindheitspoesie? Tauche doch einmal unter in Eure Lyrik, in Eure Sprache über dieNatur — ich glaube hier wäre ein Feld für Mildred Bowers, sie hat ein gewisses Geniales gerade nach dieser Richtung in sich. Sie ist so beanlagt für die poetische Erfassung der Kindesnatur, ohne dabei in läppische Sentimentalität zu verfallen. Sie wäre auch imstande bei weiteren wissenschaftlichen Studien, die zarten Anfänge

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derWissenschast mit demPoetischen zu verbinden, denn eS fehlt ihr nicht an Logik und Schärfe deSVerstandes Zeige nur erst den Leuten dieNotwendigkeit einer andernMethode, das Kind in dieNatur einzuführen, als Eure jetzige, und gib zwei oder drei praktische Beispiele, vielleicht das Äuhn, die Goldfische (wenn fie bei EuchMode sind), dann dasWaffer.Bei der praktischen Behandlung

des Gegenstandes wirst Du zeigen können, wie gründliches Wissen der Frauen auf dem Gebiete der Naturkunde notwendig ist, um die Ge­ legenheit zu schaffen, daß das Kind selbst Erfahrungen macht, und dieselben mit Äilfe seiner mütterlichen Erzieherin in LebenSeinigung mit andern Dingen bringt, oder vielmehr die Lebenseinigung der ver­ schiedenen Richtungen erfaßt. Oberflächliches Wissen unsererseits wirkt tötend auf die Kinder, wenn wir es ihnen beibringen wollen, und da wir jetzt noch keine gebildetenFrauen haben zur richtigen Leitung derKinder, sage lieber zur richtigenBeeinflussung derselben auf dem Felde derNatur, so müssen wir wenigstens das Interesse für dieselbe im weiblichen Ge­ schlechte erwecken, damit es mit dem Kinde forscht. Die mir geschickte Liste, sowie die verschiedenenBibelsprüche usw. sind eben Totschläger der kindlichen Natur, und was erstere betrifft, so könnte sie bei unS nicht vorkommen. Grüße Lucy Satter*) von mir und sage ihr, wie sehr ich mich über ihre schriftstellerische Tätigkeit freue; man soll nur immer kühn und frisch ins Leben eingreifen und den Lebensstoff zu gestalten suchen, besondersollte unsere kleine Gemeinde dies tun, und ich muß wirklich solche Arbeit auf meine Schülerinnen legen, denn ich selbst erfahre zu viele Hemmnisse der verschiedensten Art, um zur schriftstellerischen Gestaltung meiner Arbeit zu kommen. Für heute lebe wohl, selbst schreiben kann ich immer noch nicht. Jbenriette Schrader an Marie Kellner. Berlin W. 22. Januar 1888. Die Broschüre von Fräulein Lange hat furchtbar viel Staub auf­ gewirbelt, und wenn, wie wir hoffen, das Abgeordnetenhaus die Peti­ tion**) zur Diskussion bringt, wird es erst recht losgehen.

*) Meine eifrige und treue Gehilfin unter der Londoner Schulbe­ hörde, welche ebenfalls im Pestalozzi-Fröbel-Lause in Berlin ausgebildet war. (Der LerauSgeber.) **) Die Vorbereitung und Zulassung der Lehrerin zu den mittleren und oberen Klassen in öffentlichen Mädchenschulen.

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Kapitel 4: DieWahlkLmpfe voriges Jahr, die Krankheit des Kronprinzen und

dessen hoffentliche Genesung, sowie die Petition und Broschüre*) haben

so vielfache Gelegenheit gegeben, die Geister zu studieren und zu etlennen, und ich muß aufrichtig gestehen, daß wenn ich meinen Geist

nicht historisch )u bilden suchte, ich in Versuchung käme, mein Selbstgefithl über das rechte Maß hinauswachsen zu lassen und recht hoch­ mütig zu werden, sowohl in bezug aufWiffen und Denken als auch in

bezug auf gewisse Charaktereigenschaften. Aber Lochmut ist wieder

Dummheit, und da ich letztere nur zu üppig wuchern finde in der menschlichen Gesellschaft, so werde ich mir die größte Mühe geben, nicht in

diesen Fehler zu fallen. Anter der Gegnerschaft, welche fich in bezug auf unsere Petition und die derselben beigegebene Broschüre gebildet hat,

tritt nach Plänkeleien einiger Zeitungsschreiber gegen uns, zuerst

Dr. Sommer mit seinerBroschüre auf in vollerRüstung auf den Kampf­ platz. Er zerpflückt sie mit männlich starker Land und wirft sie vor den

Augen des Publikums als abgetane Sache zu derMenschheit Schnitzel in den Papierkorb

Von verschiedenen Seiten hält man mich für die Verfasserin von

Lelene Langes Begleitschrift, aber ich bin sogar nicht einmal durchaus

mit allem einverstanden, indem ich manches zu einseitig und zu eng gefaßt finde. Ich will dies in kurzen Sätzen zusammenfassen: Erstens legt die Verfasserin der Schule zu viel Einfluß auf die Erziehung bei, zweitens trennt sie zu sehr die Geschlechter. Es ist durchaus nicht der Fall, daß der Vater immer die Knaben, die Mutter die Mädchen besser versteht, und das Ideal ist doch, daß sich der Einfluß beider Eltern harmonisch durchdringe und auf Knaben und Mädchen gleichmäßig erstrecke. So sollte es auch mit der Einwirkung beider Geschlechter in der Schule sein.

Damit hängt der dritte Punkt zusammen, welcher mir nicht sympathisch ist: Die Art und Weise der Verteilung der Lehrfächer unter

beide Geschlechter. Ich glaube es macht sich in der Schrift geltend, daß Fräulein Lelene Lange ohne mütterliche Erziehung und die größte Zeit ihres Lebens ohne Familienanschluß gestanden hat. Sie ist übrigens eine ganz ausgezeichnete Persönlichkeit, sowohl in bezug aufCharakter als auch auf wissenschaftliche Bildung.

*) Beglettschrtst zur Petition von Lelene Lange verfaßt.

AuSzüg« auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Eie ist Vorsteherin eines Seminars, in dem sie die wichtigsten wissenschaftlichen Stunden selbst gibt und somit mit allen Schul- und Examensverhältnissen innig vertraut ist. Sie genießt bei Männern und Frauen die höchste Achtung, und mir selbst ist sie eine liebe Freundin.

An M. Kellner. Berlin W. 8. Februar 1888.

Leute erhalte ich durch Lerrn LermannFräuleinVorwerks Schrift, und das Lesen derselben hat mich eigentümlich berührt Zusammengefaßt liegt der ganze Zesuifismus ihrerNatur in den Schluß­ worten von dem „anmutigen Zweige in Frauenhand — derBitte(l) — gegenüber einschneidenden Forderungen, die Frauen nicht schön und wohl ansteht." Mir sind Tränen des Zornes und der Verachtung in die Augen getreten, denn ich weiß, wie Fräulein Vorwerk von den meisten Männern denkt, wie hoch sie sich über dieselben erhaben fühlt, vor dem sie sich anmutig verneigt mit dem Zweige der „Bitte" — in ihrer Land I Später. Zch will schweigen von meinem Kummer, der mir daS Lerz zerfrißt, die Sorge um unsern Kronprinzen 1 Bleiern liegt der Limmel über uns, und ich fühle mich wie ein Gefangener in dem Folter­ zimmer, dessen Decke langsam, langsam aber sicher sinkt, uns zu zer­ malmen. O deutsche Nation, wie sinkst Du mit dem Leben dessen, der den Funken in seiner Seele trug zu einem reinigenden Feuer in unserer Verkommenheit. Gerade gestern, während unser armer, ach, so geliebter Lerr unter demMesser lag, vollzog sich eine Schmach imReichstage, die vielleicht nicht grell als eine solche ans Licht tritt für den, welcher nicht die innern Fäden kennt, aus denen sich das ans Licht tretende politische Leben webt. Zch meine die Rede Stöckers und Bennigsens Schweigen. Bennigsen hat sein« Namensunterschrist unter den Aufruf für die Stadtmission damit motiviert, daß gerade andere Elemente sich des Volkes Elend annehmen müßten, um letztere zu überwinden; nun nimmt er den Dank Stöckers für seine Tat entgegen, schweigend ent­ gegen. Du und manche andere haben wohl gedacht, ich überschreite in leidenschaftlicher Erregung — bei dem letzten Wahlkampfe die Grenzen der Gerechtigkeit. Diese Augenblickspolitik wohin führt sie? Die Junker und Konservativen kämpfen einen historischen Kampf um ihreVorrechte; ihre Machtstellung — es ist ein historischer Sinn darin, die National­ liberalen der Gegenwart sind Eintagsfliegen, die von den Würmern

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Kapitel 4:

ihrer eigenen Eier verzehrt werden. Wenn sie den Konservativen geholfen haben, sich zu befestigen, werden sie von ihnen abgeschüttelt. Wir kön­ nen uns jetzt auf nichts berufen, als auf die Geschichte. Ich lese viel Geschichte und lese die Zustände des heutigen Tages nur unter anderer Form, unter anderer Farbe. Es ist der enge, alte Kampf um dieMachtstellung, um das Binden der Geister und das Knebeln des heiligen Geistes, an dem freilich manche mitarbeiten, die scheinbar zu seiner Mannschaft gehören. Lind doch wird in diesem Gewühl und Ringen immer etwas mehr frei vom heiligen Geiste — nur kommt es auf die Führung im Kampfe an, welcher der Nationen der Vortritt gebührt; da steigen trübe Zweifel in mir auf, ob die Deutschen nicht immer tiefer zurücksinken von ihrem einstigen Posten: Träger des Idealismus zusein! Ich habe noch immer eine leise, fühlbare Erinnerung an meine Leidenszeit, erhole mich indessen weit rascher, als ich erwartete; ich fühle, daß mir nichts von meiner alten Elastizität verloren ging, und daß ich noch manches schaffen könnte, wenn ich mich nicht geistig so gebunden fühlte, d. h. nach außen hin. Innerlich fehlt mir die alte Schaffensfreude nicht

An Marie Kellner. Berlin W. 11. Februar 1888.

Eben wollte ich den Brief an Dich absenden, als ich Deinen erhielt. Ich danke Dir tausendmal für Deine lieben Worte, Du bist immer die alte, treue, wahrhaftige M., Du weißt gar nicht, wie lieb ich Dich habe. Daß ich Sommer die Schrift vonKelene Lange zuschickte, ist eigent­ lich ohne besondere Überlegung geschehen, sondern in dem Gefühl, daß

Sommer im tiefsten Grunde ein Gegner der Frauenemanzipation, wie ich sie verstehe, ist, und daß auch sein Schulwesen dem altenMechaniSmus huldigt Man muß von Zeit zu Zeit einmal etwas unter die Leute werfen, was sie erregt und verhetzt, wenn man praktische Psychologie studieren will. ES ist so merkwürdig, wie verschieden Fräulein Langes Schrift, an deren Schärfen ich so unschuldig wie nur möglich bin, beurteilt wird. Kennst Du Fräulein Lange? Sie hat nach allen Richtungen hin die volleWahrheit gesagt, und eS ist selten jemand so kundig in bezug auf Schulverhältnisse wie sie. Sie hat eine für eine Dame und Lehrerin

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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seltene Stellung, ist eine so reine, jungfräuliche Natur, daß es mir gankomisch vorkommt, wenn Ihr Euch entrüstet zeigt über Anzartheit, auch Du Brutus! Fräulein Lange Hat eine fast magische Gewalt über jungeMädchen, und manche Mutter hat mir schon gesagt, daß sie Fräulein Lange -u großem Danke verpflichtet sei. Fräulein Lange ist Vorsteherin eines großen Lehrerinnenseminars im Anschluß an die Crainsche Töchter­ schule. Ihre Schülerinnen sind von den Äerrn Examinatoren besonders respektiert; es ist noch nie eine von ihr durchgefallen, sie geht zum Diner zu Provinzschulräten usw. Gerade ihre Stellung, ihre Erfahrungen mit den Hunderten von Schülerinnen auS allen möglichen Töchterschulen haben ihr die Schrift eingegeben. Ich denke, ich sollte über Fräulein Lange etwas schreiben, über ihren Bildungsgang, ihrWesen, ihre Leistungen und Erfahrungen. Sie ist eine der hervorragenden Frauen hier in Berlin, mit der ich freundschaftlich verkehre, weil ich ihren Charakter für so ganz intakt halte. Sie hat ein kräftiges Selbstgefühl, das ist nicht zu leugnen; aber sie kennt keine Intrige, keinen Iesuitismus. Sonderbarerweise zanken Fräulein Lange und ich uns beständig. Sie ist mir zu literarisch, versteht die Be­ deutung derNatur, der Volkswirtschaft nicht ganz und unterschätzt die Bildungsmomente des praktischen Lebens. Es fällt mir mein kleines, grünes Buch wieder ein, in welchem auch Minna „Unanständigkeiten" fand. Ach, liebe Marie, wenn etwas un­ schuldig und rein war, so war es daS Gesagte; es war so theoretisch, was ich jetzt umsomehr beurteilen kann, da ich als verheiratete Frau, die den Blick in das wirkliche Leben nicht scheut, ganz andere Gelegenheit habe als Anverheiratete die Dinge kennen zu lernen. Pestalozzi sagt ein großesWort: „Wer dieReinheit liebt, darf den Schmutz nicht scheuen". Das bedenke. Fräulein Lange ist die Reinlichkeit selbst, sie ist zart und unberührt und die Personifikation von Keuschheit Ich muß schließen An Anna Breymann. Berlins. 7. und 10.März 1888. Ich schrieb Dir wohl, daß wir auch heute zu einem Diner bei Leyls geladen sind um &/2 Ahr. Bis 3 Ahr hatte ich im Kindergarten zu tun, und als ich gerade bei Annetten mein Frühstück verzehrte, kommt mein

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Kapitel 4:

Mann plötzlich ins Zimmer mit den Worten: „Ich kann nicht mit Mr

fahren, ich habe ÄS. für mich abtelegraphiert einer anberaumten Sitzung wegen, in der ich nicht fehlen darf — ich kann auch sonst nicht fort von

Berlin — der Kaiser ist sterbend. Bismarck ist seit drei Stunden im

Schlosse, Prinz Wilhelm auch, und dann wurdeMoltke aus demReichs-

tage geholt. Aber Du darfst nicht darüber sprechen." Merkwürdigerweise sind heute so guteNachrichten aus SanNemo in den Zeitungen, aber wer weiß hier, was wahr ist? Ob wohl morgen

früh unser armer, lieber, kranker Kronprinz Kaiser ist? Mein Mann hatte heute einenBrief von mir an die Kronprinzessin zurPost gebracht,

und als er von dem Pestalozzi-Fröbel-Lause fortfuhr, sagte er noch zu­

letzt: „Du wirst nun zum letzten Male an die Kronprinzessin geschrieben

haben". Es läßt mich das alles ganz ruhig, wenn man so viel Schmerz durchgemacht hat wie ich, und besonders in letzter Zeit um den Kron­

prinzen und das verhängnisvolle Schicksal unseres teuren Vaterlandes,

dann wird man still. Am 8 Ahr sollte eine Vorlesung von Fräulein Lange für das Pestalozzi-Fröbel-Äaus beginnen, um 7 Ahr kommt eine frühere Schü-

lerin angestürmt mit der Nachricht: „Der Kaiser ist tot! Am l/z5 Ahr

ist er gestorben, wir haben eben durch Telephon die Nachricht aus der

Stadt bekommen." Ich mußte also nach der Keithstraße fahren, um zu sehen, was mit dem Vortrage würde. Der Regen strömte, die junge Schülerin fuhr mit Mir. Dort angekommen, standen mehrere Gruppen, Extrablätter lesend: „Der Kaiser ist nicht mehr!" Dann kamen andere und riefen: „Es ist nicht wahr, der Kaiser lebt! Die Polizei konfisziert alle Extrablätter und es werden andere ausgegeben, um die ersten zu

dementieren." Was sollen wir tun mit unsermVortrage? Äin- undWiderreden — „der Kaiser ist tot, es soll nur verheimlicht werden"; „nein, er lebt, er

wird besser, glauben Sie mir". Schließlich gab ich den Ausschlag: „Ich glaube, daß wir unter den obwaltenden Amständen den Vortrag aufgeben, es ist gewiß bei vielen

Kerzensbedürfnis, sich still zurückzuziehen, und für alle gebietet es die

Schicklichkeit, eine, wenn auch noch so ernste Sache, die unsere Gedanken abzieht von den ernsten Stunden unseres Königlichen Laufes, aufzu­ geben."

Ich glaube, meine Entscheidung war die richtige. Eine Anzahl Be­ sucher ließ sich ihr Geld gegen Rückgabe der Einlaßkarten wieder ein-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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händigen, andere verschmähten dies; nachdem die Kosten gedeckt, Trink­ gelder bezahlt, blieben 3—4 Mark für das Pestalozzi-Fröbel-Laus übrig Nun noch das eine: Bismarck drängt auf Schließung deSReichstages. Log das Extrablatt nicht, so blieb er beisammen beim Kaiserwechsel und konnte dem neuen Kaiser große Dienste leisten; ist er aus­ einander — dann ist es schwer, ihn gleich zu berufen, wenn es Bismarck nicht will. Später. Ich schrieb gerade, während der Kaiser starb, d. h. ich glaube, er war schon so gut wie tot, als gestern die Tatsache widerrufen wurde. Leute machte die Köchin ihre Küchengänge und kam nach Lause mit den Worten: „Der Kaiser ist nun wirklich tot, die Menschen stehen vor dem Telegraphenbüro und geben die Depeschen ab." „Nun", er­ widerte ich, „ich glaube es nicht eher, als bis ich eine amtlicheNachricht habe". Wenige Minuten danach kommt der Lauswart mit dem polizei­ lich genehmigten Extrablatte: „Berlin, März 9. 8 Ahr 30 Minuten. Soeben ist S. M. der Kaiser gestorben." Bald darauf folgt ein Rohrpostbrief meines Mannes mit den Worten: „Der Kaiser ist tot, bestelle das Diner ab." Ich schrieb Dir wohl, daß wir aufMontag 20Personen eingeladen hatten. Niemand von diesen hatte abgesagt. Nun ist mein Lerz wieder im Gleichgewichte — ich trete an das Totenbett des alten Kaisers mit Ehrfurcht und Stille, alle seine edeln Eigenschaften, seine Einfachheit, Ehrlichkeit und Treue steigen für mich empor und bedecken das menschlich Schwache seiner Natur mit dem Mantel der Liebe. So ist es recht, er hat derNatur ihren Tribut gezahlt. 10. März. Gestern waren wir bei Rickerts zu Mittag um 5 Ahr. Barths, welche eine Treppe unterNickerts wohnen, hatten auch Gäste, und nach Tisch waren wir alle bei Barths zum Tee beisammen. Es war «in interessanter Abend, und die Kritik über des neuen Kaisers Laltung begann. Ein Teil der Lerren fühlte sich verletzt durch das Vertrauens­ votum, welches der neue Kaiser dem ganzenMinisterium ausgesprochen, da man erwartet, daß er Puttkamer sogleich beseitigen würde. „Wenn das Volk jetzt in seinen gerechten Erwartungen, daß die schlimmsten, unedelsten Subjekte und ein Verfahren beseitigt wird, welches auf abschüssige Bahnen geführt, getäuscht wird, dann ist es ein Anglück, daß der Kronprinz noch zurRegierung gekommen ist, denn jetzt sieht man in ihm den Vertreter des Rechtes, und er hält noch einen ge-

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Kapitel 4:

wissen Idealismus aufrecht — aber passen Sie auf, ich habe es immer gesagt, man hat sich im Kronprinzen getäuscht", so redete einer der Lerren lebhaft. „Das Anglück, welches wir zu beklagen haben", erwiderte ich, „liegt in der schweren Krankheit des neuen Kaisers; so weit ich ihn verstehe, ist er weniger ein Mann der kühnen Tat, als ein Leiter ruhiger Entwick­ lung, nun hat er vielleicht die Überzeugung, nur noch eine sehr kurze

Spanne Zeit zu leben, und weiß man wie die Krankheit seine Seelen­ stimmung, seine Weltanschauung beeinflußt, welchen Druck Bismarck auf ihn ausübt? Anderseits ist der Kaiser noch nicht hier, soll der ferne, kranke Mann von dort aus schon jemandem einMißtrauensvotum geben, so daß sich hier die Kabale präpariert auf Dinge, die dem Kerrscher neue Verwicklungen bieten? Ich meine, es hat nichts zu bedeuten, als eine kluge Mäßigung, wenn er von der Ferne aus alle Minister um ihren Beistand bittet — wenn der neue Kaiser seinen oft ausgesprochenen Ansichten treu bleibt, so wird ganz von selbst der Anstoß kommen, Puttkamer zu entlassen". Die meisten stimmten mir bei. Sehr sympathisch berührte die ge­ gebene Freiheit in bezug auf die Trauer, aber wie verschieden war die Lesart dieser Verordnung. Die einen sahen darin ein freisinniges Wort, einenBruch mit derPolizeigewalt, einen Appell an die Selbstbestimmung des Volkes; andere verstanden, daß er sich vorzugsweise als Kaiser darin zeige, indem er den verschiedenen Ländern keine Vorschriften machen könne zur Trauer und fanden die Sache sehr klug; wieder andere hielten die Verabredung für einen Akt deS guten Äerzens, damit die Leute nicht so viel Schaden leiden sollten. Es war ganz interessant zu hören, wie man die verschiedenen Ansichten motivierte. Ganz empört waren alle über die Art und Weise, wie Puttkamer die Verkündigung desTodes des altenKaisers in Szene gesetzt hatte; ge­ heult wie ein Krokodil, welches sich zum Fraß seines Opfers rüstet — und eben des neuen Kaisers mit keinem Worte erwähnend. Es wurde darüber gestritten, ob dies eine mit Bismarck verabredete Sache gewesen sei, und letzterer erst in letzter Minute zum Entschluß seiner würdigen Ansprache gelangt sei, oder obPs. eigene Unverschämtheit dieser» groben Verstoß gemacht. Dann kam ein Schreckschuß: Ein Lerr der Gesellschaft war ausgegangen, Zeitungen zu holen, und ein glaubwürdiger Herr erzählte ihm, man klebte Plakate an die Säulen deS Inhaltes: „Volk, empfanget die

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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neue Kaiserin, wie sie eS verdient." Major Linze sprang auf voll (Em­ pörung und rief seine Fäuste ballend: „Nun, das wollen wir sehen, wir sind auch noch da 1"

„Nichts besseres könnte uns passieren, als eine feindliche Demon­ stration gegen die frühere Kronprinzessin — dann bekäme unsere Partei Oberwasser, wir würden Kapital daraus schlagen", rief ein anderer. Ich glaube, ich wurde ganz blaß, denn da ich weiß, w i e der Kaiser seine Frau liebt, wie er sich grämt, daß sie so angefeindet wird — so war mein erster Gedanke: „Eine Beleidigung der jetzigen Kaiserin könnte auf unsern armen kranken Lerrn tötlich wirken!" Ich sprach es aus, und man stimmte mir bei. Es wurden nun allerlei Laßgeschichten gegen die jetzig« Kaiserin erzählt, unter anderm: Eine Dame kauft Apfelsinen und bittet um recht gute; „Ja, antwortet das Apfelweib, die will ich Ihnen schon geben, die faulen haben wir nötig, wenn die neue Kaiserin durch die Straßen fährt".

Nun ist bis heute nachmittag noch nichts weiter bekannt von den Anschlägen gegen di« Kaiserin Viktoria. Mein Mann ist zu einer Ver­ sammlung von der volkswirtschaftlichen Gesellschaft imNeichstage; wenn er heimkehrt, wird er wohl verschiedenes erfahren.

Gestern früh kam Miß Inglis, die Kammerfrau, und brachte mir einen so lieben Brief von der damaligen Kronprinzessin. Er war am 5. geschrieben, kurz vor der Nachricht, daß der Kaiser ernstlich krank sei. Der 5. war amMontage, am Dienstage hörten wir hier noch nichts, nur fiel es auf, daß die Zeitungen nichts vom Kaiser brachten; am Mittwoch fing das Sterben an. Welch' ein Glück, daß unser jetziger Kaiser gerade jetzt seine guten Tage hat; noch kann ich den Mut nicht fassen, an eine wirkliche Besse­ rung zu glauben. Wie praktisch gewisse Leute die Ereignisse auffassen: AlsKarl gestern dasDiner beim Koch abbestellte, klagte dessen Schwester, daß sie nichts zu tun haben würden in nächster Zeit und fügte hinzu: „Ja, es wäre besser, der Kronprinz wäre jetzt gestorben, nach einigen Wochen müssen wir doch die ganze Geschichte durchmachen 1"

Bitte erzähle meine Berichte nicht weiter, aber schicke sie Albertine; sie schickt sie mir dann gelegentlich wieder. Es interessiert mich, später zu sehen, wie alles geworden ist, was man jetzt noch werden sieht. Lebe wohl, meine liebe Anna, immer Deine treue Ä.

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Kapitel 4: Tagebuch.

24. Februar 1888. Vor einem Jahre habe ich oft zu diesen Blät­ tern gegriffen, weil ich namenlos litt, litt in der Leidenschaft der Ge­ fühle, in der Aufregung der Empörung, im Zweifel über daS in Frage

stehende Eeptennat.

Ich leide nicht weniger jetzt, aber anders — man muß alles, alle­ lernen, auch daS schwere Leid, der unterdrückte Teil zu sein, wie mein

Mann und seine Partei! And was wird noch kommen, noch werden? Wie viele heiße Tränen

habe ich schon geweint um unsern Herrn I Ich nenne ihn gern so; wie viele Qualen um sie, die arme, arme Frau, so nah einem fieberhaft er­ sehnten Ziele, und nun so grausam, über alles grausam herabgeriffen in

ein endloses Leid. Nur von einer kleinen Schar wahrerFreunde wird ihr

die Teilnahme werden, welche die Heiligkeit eines furchtbaren Schicksal­

erzeugt. Es gibt so große Scharen roher Gesellen, die ihren Sturz er­ sehnen, die ihn, wenn er kommt, mit Schadenfteude begrüßen — die niedrigen, kleinen Geister, die sie fürchteten in ihrer einstigen Macht, sie werden ftohlocken. Die Witwe, die dann allein steht, ohne das Herz eines

so zärtlich liebenden und sie so würdigenden Gatten. Ja, allein und man sagt mir, ttoh dieser fast rötlichen Einsamkeit müsse sie in Berlin bleiben

ihrer Töchter wegen.... Diese verlangen dem Leben entgegen mit seinen Freuden, wie junge Mädchen und in ihrer Stellung einmal sie

fordern.

An Frau Marie Köckert.

Berlin W. 8. März 1888.

Eben habe ich Ihren Brief gelesen, und es zieht mich mit warmer, inniger Sehnsucht zu Ihnen, wie freut mich der Zufall, daß ich gerade

etwas Zeit habe zwischen zwei Besuchen, die sich bei mir gemeldet haben. Der eine ist fort, der andere ist noch nicht da. Ja, liebe, gute Marie, könnten wir unS einmal sprechen — es ist ein unwillkürliches Weh in meinem Kerzen, wenn ich an letzten Winter

denke, wie viel mehr Glück ich aus unserm Verkehr hätte ziehen können, wenn ich meine jetzige Stille des Herzens damals schon besessen. Aber

man muß auch lernen zu leiden, und wer mit eingehendem Interesse in dem Volke, in seiner eigenenNation lebt, der empfindet und leidet mit

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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ihr, oder vielmehr er wird von ihrer Entwicklung, wenn sie-auf abschüssige Bahnen gerät, schmerzlich berührt, und eS ist kein leichtes, Männer wie Bamberger, Stauffenberg, meinenMann usw. zurNegation verdammt zu sehen, während gerade sie zum positiven Schaffen veranlagt sind. Mer nicht wahr,Marie, für uns Frauen sind persönliche Leiden schwerer zu ertragen, als solche, die sich auf das Allgemeine beziehen? Ich denke es mir — denn beim Leid um das letztere bleibt einem immer der ideale Kernpunkt des eigenen Daseins im Verständnis mit dem Auserwählten deS Äerzens. Ich arbeite fleißiger denn je, und finde die Arbeit das einzig er» lösende; in ihr fühlt man, daß ein Etwas existiert, das unsLalt gibt, das den Pessimismus ausschließt, das uns versöhnt und Frieden bringt; die Arbeit für andere eröffnet unS so manche Blicke in die Schönheiten des Menschenlebens und in den Wert desselben. So füllt sie denn mehr als je mein Äerz aus und wehrt dem verzehrenden Grame um unser kronprinzliches Paar. Würde ich mich in deren grausames Schicksal ver­ tiefen, würde ich der Zukunft unseres Landes nachgrübeln, es bliebe mir keine Kraft, so ausgesucht hart finde ich die Kombination der Verhältnisse; mir gehen bei der Arbeit neue Lebensfreuden auf; die Freuden an den Verschiedenheiten der Charaktere, die Individualitäten zu studieren, sie zu betrachten wie die Gewächse des Feldes. Früher suchte ich zu viel Übereinstimmung und schob zu leicht beiseite, was sich nicht einfügte in

mein eigenes Selbst; dadurch wird man im reiferen, höheren Alter ein­ sam. In der Jugend läßt man sich leicht hinnehmen und erregen, man kommt oft blind über Abgründe zwischenMenschen hinweg, und glaubt so vieles von andern, was man nur überträgt vom eigenen Sein. DaS hört später auf, man sieht — und nun muß man erst wieder tiefer, ob­ jektiver sehen lernen, um wieder liebevoll die Umgebung zu erfassen Aber bei alledem komme ich nicht zu dieser alles nivellierenden Toleranz, mein kräftiger, gesunder Laß gegen gewisse Dinge im Leben und deren Ver­ treter bleibt mir, und ich möchte ihn nicht missen. Später. Der alte Kaiser wurde schon gestern um Mittag als sterbend bewachtet, aber er erwachte auS einem totenartigen Schlummer, er ergriff selbst den Löffel und aß etwasKraftbrühe, man glaubte an eine Lebung der Kräfte. Um 1/^4 Uhr bekomme ich von meinemManne eine Rohrpostkarte folgenden Inhalts: „Man hat den Kaiser so gut wie auf­ gegeben"

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Kapitel 4:

An Anna Breymann. Berlin W. 21 .März 1888.

Ich erlibe innerlich so viel, ich erfahre und lerne immer mehr auch

da, wo ich oft glaubte, ausgelernt zu haben. Ich war schon zweimal bei

der Kaiserin. And Du brauchst es nicht zu verschweigen, obgleich es nicht gut ist, über diese Dinge viel zu sprechen und sie so einfach und natürlich zu behandeln wie möglich. Die Frau hat eine wunderbare Kraft, sie

arbeitet schon wieder auf dem Felde der Erziehung und bespricht mit

mir manche Pläne, aber ihre ganze Erscheinung spricht mehr als das Wort von der Erschütterung, des ganzen Wesens, die sie erfahren hat. Anna, es ist fürchterlich hier in Berlin. Es gibt eine Partei, die auch gegen den Kaiser wühlt — sie nennen ihn Cohn I, den Iudenkönig

(seines Ausspruchs religiöser Duldung wegen), und weil er den jüdischen

Minister Friedberg zum Berater hat, seinen früheren Lehrer. Kaiser Wilhelm wird als Heiliger betrachtet und mit großer Ostentation werden Feier über Feier gehalten. Der jetzige Kaiser Friedrich III. wird gänzlich

ignoriert von vielen Seiten. Ein Gedicht von Ernst v. Wildenbruch setzt der

Geschmacklosigkeit und Anverschämtheit nach dieserRichtung die Krone auf, wenn Du Gelegenheit hast es zu lesen, dann versäume dies nicht.

Ich überzeuge mich immer mehr, daß ein Kampf unter den sich entgegenstehendenNichtungen unausbleiblich ist. EineBersöhnung zwischen

Pfaffentum und wahrer Religiösität ist nicht möglich, ebenso wenig zwischen Junkertum (d. h. Menschen, welche den Geist des Volkes be­

schneiden und eine naturgemäße Entwicklung verhindern wollen) und wahrem Liberalismus. Auch unser HöheresBürgertum ist versumpft in

Wohlleben und Servilität, im Auldigen des augenblicklichen Erfolges —

so wird das Bürgertum den Kampf mit dem Junkertum nicht aufneh­ men, und über den Mittelstand hinüber werden sich andere Schichten er­

heben. Die Schwierigkeiten des schwerkranken Kaisers bei der Sachlage der

Dinge sind so enorm, daß mir dabei schwindelt; und daß im Lofleben so viel alter Zopf ist, daß die Amgebung der Fürsten noch aus der Aristokratie gewählt werden muß, die mit wenig Ausnahmen abgelebt ist,

bringt wieder den Fürsten, die gerne mit dem gebildeten Bürgertum verkehren, neue Komplikationen, denn der Adel hält es für sein alleiniges

Vorrecht, mit Königen umzugehen und arbeitet mit aller Kraft, unS

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Bürgerlichen von den Personen, die sie als ihre alleinige Beute ansehen, zu trennen. Der alte Kaiser hat Vorrechten des Militärs und dem Adel Vorschub geleistet, er hat sogar dem letzteren große Geldsummen ge­ liehen und verschafft, die sie oft gar nicht zurückbezahlt haben usw. Letzteres wird gewiß nie geschehen unter FriedrichsRegimente. Es war ja alles Intereffenpolitik und Interessenwirtschaft. Das Militär fürchtet, daß es nicht mehr als der alleinige erste Stand unter den Dienern des Königs angesehen wird usw. Vetter W. hatte unter anderm Raisonnieren im Eisenbahnwagen gehört, meinMann würde wohl nun befördert werden, denn seine Frau sei mit der Kaiserin befreundet und eine Engländerin noch dazu I Wir Berliner Frauen haben also eine Adresse an die Kaiserin in Angriff genommen; im engeren Komitee sind: Frau von Lelmholz, Baronin von Stockmar und ich. Sobald der Wortlaut der Adresse entgültig festgestellt ist, schicke ich sie Dir. Von manchen Seiten begegnet man Sympathie, von andern Opposition. Unter andern haben wir einen Brief von einer Schulvorsteherin erhalten, die wirklich ein Zeichen der Zeit ist — sie spricht sich gegen die Adresse aus, und dahinter steckt mehr. MeinMann stimmt mit mir überein, daß hier in Berlin jetzt eine ähn­ liche Korruption herrscht, wie vor der großen Revolution in Paris, nur mit dem Unterschiede, daß jetzt der vierte Stand existiert und viel denken­ der als das Volk von 1793. Es ist nicht gut im Publikum, die häßlichen Beziehungen und Ver­ leumdungen deS Kaiserpaares zu wiederholen, aber Dir gestatte ich einen Blick in das Gettiebe, damit Du einen Begriff hast von dem Stande der Dinge, denn Du interessierst Dich ja so lebhaft für dieselben. Cs sollen Bilder zirkulieren von der Kaiserin und Mackenzie mit der Unterschrift: „Die Königsmörder". Gestern sagte Frau Eberty: „Denken Sie sich nur, Gretchen kam gestern von meiner Schwiegermutter nach Lause, wo sie Besuche derselben getroffen und erzählte weinend: „Mama, sie sagen, die Kaiserin habe einen Geliebten 1" Nun ist dies eine alte Geschichte, eine zeitlang war diese Rederei einmal still, aber sie wurde immer gefliffentlich genähtt, damit sie nicht auSgehen sollte. Kannst Du begreifen, daß man ganz angeekelt wird im moralischen Gefühle, daß man krank werden könnte! Ich überzeuge mich immer mehr, daß das größte, was wir tun können, ist, den Menschen zu bilden, denn woher stammt die Politik, waS ist Politik? Jetzt noch der Kampf der Einzelintereffen, der MachtLyschiotta, Henriette Schrader U.

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Kapitel 4:

stellung. Wenn im Christentume Wahrheit ist, wenn nicht alles Lug und

Trug ist, dann muß Politik Förderung der gegenseitigen Interessen werden, das kann aber nur kommen, wenn der einzelne veredelt wird, denn die Gesellschaft besteht aus einzelnen. Je mehr ich in die Annatürlichkeit und Komplikation der Fürstenstellung blicke, desto klarer wird es mir, daß sie kaum Gelegenheit haben, dasVolk, ja nicht einmal denMenschen kennen zu lernen. Die Fürsten haben viel zu sehr eine Ausnahmestellung von Kindheit auf, und Höf­ linge sind kaum Menschen im wahren Sinne des Wortes, sie sind Be­ diente in der schlimmen Bedeutung des Wortes. Ein würdiger alter Herr sagte mir einmal: „Ich weiß aus Erfahrung, daß es nicht möglich ist, ein wahrer Charakter zu bleiben, wenn man am Lose lebt — die Höflinge hängen nun wieder mit der Regierungspartei zusammen, die gerade amRuder ist. Ich habe in dieser Zeit oft gedacht bei den skandalösen Vorgängen im Dome, bei dem Wechsel der Hofchargen, bei diesem Gepränge deS kaiserlichen Begräbnisses usw., worüber ich Einzelheiten erfuhr, es sei doch eigentlich des Volkes und der Fürsten unwürdig, solch' ein künstliches Gebäude und eine solche Menschenmaschinerie um sich her aufzubauen und einzurichten, die sie in eine solche Ausnahmestellung bringen; es ist korrumpierend. Ich habe ein Gefühl der Anhänglichkeit an den angestammtenFürsten,wenn er den Thron mit Würde behauptet und finde, daß eine Republik schöner in der Theorie als in der Wirklich, keil ist — wie ich in Genf und der Schweiz erfuhr — so halte ich fest an unserm Fürstenhause, an einer wahrhaft konstitutionellen Monarchie; aber es ist meine feste Aberzeugung, daß die Erziehung und das Leben der Fürsten republikanischer sein müßte. Weißt Du denn, daß das Hofzerimoniell, Rangordnung usw. eine ganze Wissenschaft ist? Freiwillig kann kaum eine Änderung in diesen verkünstelten und verschnörkelten

Dingen gemacht werden. Die Fürsten sehen darin eine Art Schutz, und die Adelspartei (lieber sagen wir Iunkerpartei) wollen lieber ein Stück Boden als ihre Machtstellung opfern; aber, ob man nicht in nicht zu ferner Zeit gewaltsam dieses innerlich hohle Gerüst niederreißt? Wir denken so ost in unserer Anschuld, Fürsten find frei! Sie sind die gebundensten, denn sie müssen sich immer auf eine Partei stützen, und sie gebrauchen immer Menschen,und die meisten Menschen in der Um­ gebung von Fürsten sind noch Tiere, die sich um den hingeworfenen Knochen zanken.

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Darum ist die Wirksamkeit für uns Frauen in einem kleinen ab­ geschlossenen Kreise so schön, weil die Verhältnisse so einfach liegen, und es viel eher möglich ist, in Natürlichkeit zu leben und alles ideal zu ge­ stalten, weil wir Mensch zu Menschen stehen, Kerz zum Kerzen. Aber wissen sollten wir Frauen, wie es in der Welt ist, um unsern Kindern mit dem idealen Sinne und Streben zugleich den Stahl ins Blut zu geben, den realistischen Sinn, der nicht erschrickt vor den Dingen, wie sie sind; sich nicht verblutet an dem Schmerze über unser eigenes Ge­ schlecht. Auch führt die Einfachheit unserer Verhältnisse und die Ex­ klusivität leicht zur Äberhebung unserer selbst; es ist leicht gut zu sein

im stillen Kämmerlein — weniger leicht in komplizierten Verhältnissen: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, Sich ein Charakter in dem Strom der Welt". Alle meine Erlebnisse, und sie sind vielfacher Art, dienen mir als Studie, und ich selbst lege mich zu dem Stoffe, den ich studiere — das Geheimnis der Erziehung erschließt sich mir immer mehr. Betrachten wir uns recht genau in unsern Eigentümlichkeiten, in unsern Schwächen, Stimmungen, Launen, Erregungen, und nun denken wir daran, wie dies des einzelnen wirkt in der Masse, in der Gesellschaft; da schafft es öffentliche Zustände; aber alles ist auf den einzelnen zurückzuführen. Ich erlebe jetzt Geschichte, d. h. man erlebt sie immer, aber die Kapitel sind nicht immer gleich interessant, und man ist sich des Inhaltes dessen, was man erlebt, nicht immer bewußt. Meine jetzigen Erlebnisse öffnen mir aber immer mehr die Augen und daSVerständnis, wie Ge­ schichte gelehrt werden muß, um bildend auf denMenschen zu wirken. Man gibt viel zu viel fertige (beurteilte) Tatsachen, zu wenig die Ent­ stehung und das Werden. Man verliert den Menschen aus dem Auge vor allen Staatsaktionen, Schlachten, Feldzügen usw.

Tagebuch. 22. März 1888. Welch ein erlauchtes Ehepaar nimmt jetzt den Thron des deutschenReiches ein. Seine Ehe zeigt unS die herrlichste Verfchmelzung der höchsten Männlichkeit und Weiblichkeit, jede in voller, schöner Selbständigkeit für sich und doch vereint zu sittlicher Tat. Wie Gott die Geschlechter geschaffen hat, nicht daß sie einander gleich feien, sondern daß sie einander ergänzen, so gibt es keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Lebensform, welche nicht ihre weibliche Seite bekundet, eine Seite, die von der Frau ergriffen und gepflegt sein will und muß, wenn das Leben in voller Gestaltung erblühen soll.

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Es ist so verkehrt, des Ledens Normen nur in der Vergangenheit zu suchen; die Geschichte offenbart unS die Entwicklung des menschlichen Geschlechts — das Gesetz der Metamorphose — ihr Studium befähigt uns, die neuen Formen des Leben- zu schauen, die zum Durchbruch drängen; sie zu pflegen, ihre organische Entwicklung zu fördern, ist wahrhaft historisch; dies bewahrt uns vor gewaltsamem Durchbrechen neuer Elemente, deren Gestaltung die neue Zeit fordert. Was fiir uns Frauen unsere Kaiserin Viktoria bedeutet, das habe ich tief erkannt. Sie zeigt uns die wahrhafte Befteiung deS weiblichen Geschlechts in der Ehe, in der Arbeit an der Kultur unserer Zeit, und gerade unsere jetzige Zeit fordert diese Entwicklung des Weibes, die Befteiung und Bildung ihrer Kräfte zurMitarbeit am sozialen Leben mit größerem Bewußtsein und bessererVorbereitung. Auf den oben berührten Grundgedanken bauend, daß beide Ge­ schlechter in ihrem Verhältnis zueinander verschiedenartig aber gleich­ wertig find, hat unsere Kaiserin schon als Kronprinzessin, trotz er­ schwerender Amstände, schon Bedeutendes auf dem Felde der Erziehung nach den verschiedenstenRichtungen hin gewirkt. Ihre tiefgehenden An­ schauungen über Stellung und Wirksamkeit des weiblichen Geschlechtes bewahren alle, welche sich dem Streben unserer erlauchten Kaiserin anschließen, vor Einseitigkeiten und Ausschreitungen, welche diese Zeit deS Ringens in der Frauenwelt, wie überhaupt Übergangsepochen so

leicht mit sich bringen. Nicht sollen wir streben, Arbeiten zu übernehmen, welche seiner Natur nach besser vom Manne verrichtet werden, und wofür wir Frauen auch keine Zeit haben, wenn wir die unsrigen tuy wollen; aber durchdringen soll sich die Wirksamkeit der Geschlechter auf allen Gebieten, das fordert, wie eben angedeutet, unser« Zeit und durch die Erfüllung dieser Forderung können manche Gefahren abgewendet werden, welche unserm Kulturleben drohen. Ebenso hat unsere Kaiserin Viktoria den modernen Gedanken der Einheitlichkeit im erziehlichen Leben vertreten. Die Einheitlichkeit — nicht Einerleiheit — von Körper und Geist, daß bei der körperlichen Pflege deS Kindes von vornherein Rücksicht auf sein geistiges Sein genommen werden muß, da Heide bestimmt sind, einander zu erklären, zu ergänzen, in Larmonie zu durchdringen. So müssen beide für einander erzogen werden, denn die tiefste und zarteste Bewegung unseres Geiste- bedarf ja immer eines körperlichenMediumS, um sich zu äußern Diese Einheitlichkeit zwischen Körper und Geist erfordert auch die Ein-

Auszüge auS Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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heitlichkeit in der ganzen Erziehung; die wahrhaft gebildete Erzieherin, sowohl für die erste, wie für die sogenannte höhere Erziehung. Denn die erste Erziehung ist ja die grundlegende und im Säuglinge bereitet sich schon derMann, dasWeib vor. Aber auch die Einheitlichkeit zwischen Familienleben und öffent­ lichem Leben hat die hohe Frau erfaßt.

An Anna Breymann. Berlin W. 22.Mürz 1888. Ich habe gestern und heute zu Saufe bleiben müssen, die großen Anstrengungen innerlich und äußerlich, das Wetter, unter dem ich mich wie lebendig begraben fühlte, haben mich etwas erschöpft und erkältet. Man konnte in den schlimmen Tagen ost keine Droschke bekommen . . . ich bin schließlich zu Fuß in den Kindergatten gelaufen. Montag mor­ gens Examen bis x/al Uhr, um 3 Uhr Konferenz bei Frau von Stockmar, um 6 Uhr im Schlosse Charlottenburg, von dott in Gesellschaft, wohin ich nicht gegangen wäre, wenn ich nicht dott etwas auszurichten hatt«; am folgenden Tage wieder Examen, dann Keithstraße 11, dann Sitzung, dann Diner bei uns von 12 Personen. Dann war ich aber fettig, weil die Tage vorher ebenso schlimm waren und dabei viel innere Erlebnisse. Später. Eben ist meinMann fort, wir müssen ja heute auch eine Feier im Kindergarten halten, auch das muß ich alles arrangieren. Erst gestern abend wurde meinem armenManne dieRede zugeschoben, mein armerMann ist immerMädchen oder Knabe für alles. Selene Asseburg ist hingegangen, sie kann Dir alles erzählen. Seute war mir der Bese hl meines Mannes, zu Sause zu bleiben, ganz wohltuend; ich kann mich einmal sammeln; ich habe zuviel innerlich erlebt, erfahren. Ich bin den Umständen so dankbar, welche mir gestatten, einen Einblick in die unbeschreiblich schwierigen Verhältnisse des Kaiserpaares zu tun. Jetzt sind aller Augen und Serzen mit Spannung darauf gettchtet, ob und wie weitgehend die Amnestie proklamiert wird. Die meisten politischen Vergehen rühren ja von dem Zusammenstoß mit Bismarck oder dessen Anschauungen her. Wird der noch immer All­ mächtige ein Serz haben für unsern edeln Monarchen oder wieder ein Stück von dessen Popularität opfern? Sieh, Anna, davon hängt eS ja ab, wie weit der Kaiser gehen kann. Wäre letzterer nicht krank, nun so

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müßte man andere Ansprüche an seinen Mut stellen; aber er darf ja an Loffnung und Freiheit nichts entfesseln, was er nicht mit starker

Land in die rechteBahn lenken kann. Denn das müssen wir uns klar machen, nach Friedrich III. folgt Wilhelm II., der sich seinen Großvater zum Muster nimmt als OOjähri-

gen Greis und in andern Dingen. Nun ist es aber von höchster Gefahr in unsern Zeiten, wo soviel Zündstoff im Volke liegt, einen häufigen Wechsel des Systems herauf zu

beschwören. Blieb Friedrich III gesund, und wollte er ein großer Kaiser sein, dann mußte er fest, aber langsam den wahren Konstitutionalismus zur Herrschaft bringen. Er mußte immer Bismarck respektieren, aber es mußte eine Zeit kommen, in der sich letzterer ins Anrecht setzte, denn er kann den Liberalismus auch den edelsten, gemäßigtster Sorte nicht

fassen, und nun kam der Moment, wo Friedrich zu zeigen hatte, was er war und was er ni ch 1 war. Dann mußte sich auch zeigen, ob wir würdige

Untertanen eines großen Kaisers waren, oder feige, servile Löflings-

abkömmlinge. Dann mußte Deutschland seinen Kaiser zwingen, liberal zu sein, aber ihn auch stützen mit aller Kraft und Macht, oder Kaiser und

Volk sinken in den elenden Sumpf dumpfen Dahinlebens. In bezug auf die Adresse liberaler Frauen an unsere Kaiserin sammele ich auch wieder interessantes Material zur Kenntnis der Men­

schen und Verhältnisse. Ich bedaure wirklich Fräulein Lange von Äer-

zen, welche sich schließlich dazu hergab, das Schriftstück fertig zu stellen. Cs war und ist keine Kleinigkeit, so etwas zu unternehmen. Eine gewisse Partei, welche sich für Hof- und welterfahren betrachtet, behauptet, daß wir stillschweigend voraussetzen müssen, die Kaiserin sei vollkommen, führe jedes Unternehmen vollkommen aus, und jede Anerkennung, die

wir ihr zollen über irgend etwas Schönes und Großes, sei gewissermaßen

eine Anmaßung; das ist die Gedankensumme ihrer Auseinandersetzun­ gen. Als wir an die Ausdrücke vor den Unterschriften kamen, behaupteten die Gegner, es müsse heißen, natürlich nach furchtbaren Floskeln und Redewendungen „verharren wir ersterbend" usw. Ich konnte mich nicht enthalten darüber zu lachen, besser gesagt zu lächeln, was den höchsten Zorn der Gegner herausforderte. Man meinte, wir wollten

nicht vor Leuten, die Verständnis hätten für das, was für eine Kaiserin

gehöre, so dumm erscheinen, man hätte gewiß gesagt, so „pöbelhaft". Es war indessen so viel gesundes Empfinden in der Versammlung von

zwölf Damen, daß wir eine andere Schlußform gebrauchten, um dem

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„ersterbend" aus dem Wege zu gehen. Fast alle diese „ersterbenden" Krea­ turen machen sich aber nicht das Geringste daraus, ihrer Kaiserin den guten Ruf zu nehmen, und sie nach allen Seiten hin mit geistigem Kot zu bewerfen, den sie freilich aus ihrer eigenen schmutzigen Seele kneten. Man erzählte mir gestern, die Kaiserin sei insultiert, wie, wo, wann — wußte niemand zu sagen Es steigt in mir die Vermutung auf, daß solche Geschichten gemacht werden. Man bestraft einen armen, hungrigenDieb — den Verleumder, Dieb an dem gutenRufe desMenschen, läßt man laufen.Nun muß ich die Akten für jetzt schließen. Ich bin so erschöpft von den sich kreuzenden Interessen und Arbeiten, und doch muß ich mir noch viele Einzelheiten, die ich erlebe, notieren und fest-

halten. Lebe wohl, meine liebe Anna.

An Anna Breymann.

Berlin W. 30.März 1888. Du glaubst gar nicht, wie ich mich danach sehne, einmal einige Stunden ruhiger Mitteilung an Dich zu haben; es macht mich glücklich, daß Du so regen Anteil an den Weltereignissen nimmst und ich Dir somit aus voller Seele über alles schreiben kann. Mir selbst tut eine solche Aussprache so wohl, sie führt mich zu ruhiger Sammlung und Ver­ tiefung in die historische Ausfassung der Dinge. Die Adreß-Angelegenheit, von der ich Dir schon schrieb, ist eine ganze Geschichte für sich. Innerhalb des Komitees und außerhalb, in der Tagesgeschichte spiegelt sich wieder das Leben der Parteien; der Enthusiasmus des Lerzens einerseits, die kalte Überlegung, die ihren

Vorteil sucht, hämische Bosheit, welche kein Mittel scheut, ihr sich gestecktes Ziel zu erreichen und dann der gemeine Klatsch, welcher die Leer­ heiten kleiner Seelen ausfüllt, andererseits tteiben ihr Spiel miteinander, wie es im Leben geht. Es ist nicht angenehm für eine Frau, in der Presse genannt und besprochen zu werden, wie es mir geht, da Frau vonLelmholz und ich als die ürheberinnen der Sache genannt sind. Ein Blatt preist unS Frauen hoch wegen unseres Mutes und stellt uns auf ein Piedestal, uns über die Weiber zu erheben, welche „im Klatsche wühlen und dem Pfaffen die schmutzigen Lände küssen". Eine andere Zeitung verweist uns unsere Aufdringlichkeit und will uns klar machen, daß die Kaiserin auf hohem Throne weder unserer Sympathien noch unseres

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Kapitel 4:

Schuhes bedurfte. Dagegen verteidigt uns die schreibselige Feder von Eugen Richter, indem er sagt, die ehrenhafte Äausftau wolle nur der Kaiserin, als Frau, ihren Dank darbringen für alles Gute, was sie schon als Kronprinzessin geleistet habe usw. Indeß bin ich für alle solche Dinge gut vorbereitet und abgehärtet, wie es bei der Frau eines Abgeordneten, welcher zu der „bestgehaßten" Partei gehört, natürlich ist. Ich schrieb Dir wohl früher, daß die Vorstandsdamen der Vereine, welche in naher Beziehung zur Kaiserin stehen zu dem Adreßkomitee zusammentraten .... Es ist durchaus nicht junkerhaft, auf Seite der Kaiserin zu treten, und gewisse Kreise fürchten sich ihre Position für die Zukunft zu verderben. Andererseits fürchten sie aber doch sich jetzt miß­ liebig zu machen durch ihren Ausschluß von den übrigen Vorstandstarnen .... Erinnerst Du Dich noch der Geschichte von Erich und Anna S., als einmal die Äußerung fiel, die beiden sähen sich ähnlich,

wie beleidigt und wütend sie sich plötzlich anschauten? So könnte es * * * und mir gehen, weil es uns gewiß widerwärtig war, miteinander genannt zu werden. Der Adreß-Entwurf, welchen ich Dir schickte, hat verschiedene Phasen durchgemacht, und mich soll wundern, in welcher Fassung er denn endlich dem Auge der Kaiserin unterbreitet wird. In der letzten Sitzung konnte ich wegen Erkältung nicht zugegen sein, man erzählte mir, daß die Junkerpartei angewandelt kam, welche mit Lerren, die dem Lose nahstanden ,die von Fräulein Lange entworfene und noch von ihr selbst etwas geänderte und verkürzte Adresse einer scharfen Kritik unterzogen und umgeschrieben hatten. Nun waren die andern Damen insofern in einer unangenehmenPosition, weil sie weit weniger in dieVerkünstelung und Verschrobenheit derLofsprache «ingeweiht sind, als die Damen der Iunkerpartei, und da weder einProtokoll geführt, noch sonst ordnungsmäßig verfahren wurde, behielten die Iunkerinnen recht, und alles Ursprüngliche und wirklich Bedeutungsvolle wurde somit aus der Adresse herausgequetscht. Meine Freundinnen haben einen rührenden Eifer und Enthusiasmus entwickelt bei der Sammlung von Anterschristen, und ich werde wohl an tausendNamen oder mehr aufweisen können. 31. Ich muß soviel« Briefe in Adreßangelegenheiten, soviele Voten schicken, und Mittwochmorgen hatten wir mündliches Examen von 10 bis 1 Ahr, vorher täglich zu repetieren und dazwischen immer heute Leute,

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die Auskunft haben wollten über die besprochene Sache und dergl. In solchen Zeiten ist mir Klara von großemNuhen Der Laß gegen die Kaiserin ist in verschiedenen Kreisen aufs Löchste gestiegen, und einige Damen haben kaum glaubliche Erfahrungen gemacht bei ihrem Sammeln von Unterschriften. Mir ist viel Sympathie entgegengebracht. Seit es sich ausgesprochen, daß bei mir eine Liste aus­ liegt, kommen mir ganz ftemde, nette und feine Damen, um bei mir zu unterschreiben und danken mir, daß ich ihnen Gelegenheit gab, der Kaiserin ihre Lochachtung zu bezeugen, zu beweisen, daß sie nichts gemein haben mit dem empörenden Klatsch. Man greift ihre weibliche Ehre an, und sagt, ihr Geiz, Lerrschsucht, undeutsches Wesen, Lieblosigkeil gegen ihre Verwandten seien bekannt. Gegen die deutschen Ärzte

soll sie sich unerhört grob betragen haben und sich von Mackenzie den Los machen lassen, weil er ein Lofmann und Schmeichler sei. Alle diese Sachen werden mit Einzelheiten erzählt mit einer Offenheit, die jeder Scham spottet. Zch erfahre das von meinen guten Freunden, welche mir erzählen, was sie hören, und ich würde es gewiß nicht wiederholen, wenn mir die Sache nicht historisch bedeutsam wäre. Immer, immer muß ich an die Zustände vor der französischen Revolution denken, an den Laß gegen die „Österreicherin", so ist es hier gegen die „Engländerin". Die

meisten Offiziers- und Beamtenftauen haben ihre Unterschriften unter die Adresse verweigert, manche ganz offen auS Laß gegen die Kaiserin, andere mit der Ausrede: „Bei Beamten- und Offiziersfrauen verstehe sich von selbst, daß sie ihrer Kaiserin treu seien". Den Ministerfrauen ist «S verboten, ihre Unterschrift zu geben. Frau L. erzählte mir, daß ihr eine Dame, die sie um ihre Unterschrift gebeten, gesagt habe: „Diese Adresse soll ein Lochachtungsbeweis sein — ich achte aber die Kaiserin nicht, und das können Sie wiedersagen". Andere wollen nicht unterschreiben aus dem Vorwande: „Es sei ja nur Parteisache und gehe aus liberalen Kreisen hervor." Nun haben diese Damen Angst vor der Presse, und es wurde auf jeder Liste geschrieben: „Man bittet auf privatem Wege recht viele Unterschriften zu sammeln und Sorge zu tragen, daß die Sache nicht in der Presse besprachen wird". Auf diese Weise kommen wenig oder gar keine Bogen ins Zentrum der Stadt und ebensowenig nach N. und 0. Von dort nun ertönt die Klage: „Diese Adresse ist Sache einer vornehmen Clique imWesten, uns würdigt man nicht, sich bei der Sache zu beteiligen. Durch diese Angst

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der Damen vor der Öffentlichkeit, der wir nun doch nicht entgangen

sind, ist unsere Organisation die möglichst schlechte, und ich wundere mich, daß wir noch sovieleNamen erhalten. Kedwig Äeyl hat auch über

lausend. Mein Mann riet, wir sollten an alle anständigen Zeitungen kur­ ven Inhalt unseres Anternehmens melden, Zentralstellen zum Anterschreiben angeben und bitten, daß die Sache vorläufig nicht weiter be­ sprochen würde. Die Zeitungen rächen sich immer für das, was ihnen verschwiegen wurde, und so ist es auch gekommen. Es ist nun von verschiedenen Seiten gebeten, die Zeit der Samm­ lung für Unterschriften zu verlängern — heute um 11 Ahr haben wir Sitzung, mich soll wundern, was herauskommt. Ich gehe mit Wider­ willen in diese Konferenz, aber es muß sein. Liebe Anna, was habe ich schon alles in Berlin gelernt, ja, dies Berlin ist eine Lebensschule, wer den Mut und die Kraft hat, sie durchzumachen, kann in ihr profitieren. Es ist aber ein Glück, daß meine Bekanntschaft mit den scheußlichen Zu­ ständen der Gesellschaft nicht früher eintrat, ich wäre gewiß dem schwer­ sten Pessimismus verfallen; jetzt fühle ich mehr als je das Gegengewicht des Idealen in mir, besonders auch in meiner Wirksamkeit. Sie ent­ faltet sich immer klarer und einheitlicher, und ich kann trotz der Erleb­ nisse, die die Welt bewegt, mit ganzer Lingabe an meinen Stunden arbeiten, ja, es ist mir eine Wohltat, wenn mir die Zeit dazu wird. Bor allem ist mir aber mein Mann ein so leuchtendes Vorbild, nein, Anna, von dieser Aneigennühigkeit seines Landelns kannst Du Dir kaum einen Begriff machen, und er ist jetzt so ganz besonders liebe­ voll und zärtlich; wir fühlen beide, glaube ich, den Segen einer wahren Ehe, gerade wenn das äußere Leben uns nur Trübes bringt. Mit Sehnsucht wartet das Volk auf die Amnestie, sie erscheint nicht, mit sicherer Erwartung sieht es einer bedeutenden Geldspende entgegen — sie kommt nicht, und mancher fängt an zu triumphieren, daß er den früheren Kronprinzen richtig taxiert habe, zu wenig Selb­ ständigkeit 1 Erinnerst Du, daß ich oft die Frage aufgeworfen: Wird er den schwierigen Verhältnissen mit seinerNatur gewachsen sein?Mancher hält es für ein Anglück, daß der Kronprinz zurRegierung kam, sie sagen „der Funke von Idealität, welcher noch imVolke steckt, heftet sich an den jetzigen Kaiser, man erwartet etwas, ohne sich klar zu sein, was — wird diese Erwartung, wie wir fürchten, getäuscht, so sinkt das Volk tiefer als je l"

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Ich richte noch nicht, ich rechne mit seiner Krankheit; aber die Akte der Standeserhöhungen und Ordensverleihungen sind nicht gerade er­ mutigend. Offenbar ist jetzt eine gute Zeit fitr ihn — er ist gestern in Berlin gewesen, und Key! hat ihn gesehen. Als er hier ankam, war es schlimm, ich wußte es, hatte aber ver­ sprochen mit niemandem außer meinem Manne davon zu reden; aber nach allem, was ich damals erfuhr, habe ich Loffnung auf ein längereLeben für ihn; ob es ein Glück ist? Der Kaiser soll außerordentlich fleißig sein, aber viel zu viel Einzelheiten bearbeiten; es entspricht dies seiner redlichen, gewissenhaftenNatur; aber, ob es ein königliches Gewissen ist, das in ihm lebt? Ich zweifele noch nicht, ich frage nur; vielleicht will er erst lernen, sich erst orientieren; vielleicht hat er nicht Zeit so in Detail zu beginnen — er sollte einige große Schritte tun, aber k a n n er? MeinMann hat immer gesagt, vorerst wird der Kronprinz an Bis­ marck gebunden sein, wenn er Kaiser wird; aber der Gang der Dinge wird ihn vor der Entscheidung stellen, ob er dasVolk für sich haben, oder ein Sklave desLausmaier werden will; die Deutsch-Freisinnigen könn­ ten viel tun, diese Entscheidung herbei zu führen, jetzt aber denken sie an den krankenMann, das lähmt alles. Man erzählt sich viel von den bevorstehenden Verlobungen der Prinzessinnen und daß die Kaiserin jetzt nur Lausinteressen verfolge, sie komme B. aufs äußerste entgegen, um ihn für die Verbindungen günstig zu stimmen und sie häufe soviel Geld wie möglich zusammen für ihre noch unverheirateten Töchter und sich selbst. Es solle auch deshalb durchaus nicht Krebs sein beim Kaiser, weil es der Verheiratung der Kinder imWege stehe der Erblichkeit wegen. Ja, Anna, was mag sich da alles abspielen im Innern des Charlotten­ burger Schlosses, wohin jetzt derMittelpunkt derRegierung verlegt ist — bewacht im äußern von vielen Soldaten (Leyls haben allein achtMann Einquartierung) bewacht innerlich von Bismarck und seinen Kreaturen — denn gestern hat sich der Kaiser zum ersten Male in Berlin gezeigt. Man murmelt, die Kaiserin sei bei einer Fahrt nach Berlin insul­ tiert und deshalb das Aufgebot derMassen von Schutzmannschaften bei der Trauercour — wie verkehrt. Mutig, hoffnungsvoll muß sich die Kaiserin zeigen, jeder möglichen Insulte ins Angesicht schauen — passirt ihr etwas in dieser Beziehung, und sie nahm es hoheitsvoll auf— io war sie gerettet von der Schmach der Verleumdung. Aber ich fürchte, man spielt ein böses Spiel mit ihr und dem Kaiser, sich auf die Polizei­ macht zu stützen.

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Was gelangt jetzt zu Ohren der beiden? Nichts was nicht durch Kanäle geht, in denen trübes Wasser fließt. Von meinen Besuchen bei ihr erzähle ich vielleicht später. Wir glauben, daß die Proklamation und daSRegierungsprogramm schon in S.R. verfaßt war, noch in der Zeit der Theorie und fern von dem Allmächtigen, dem, wie Rickert einmal sagte, ein Zauber -«Gebote stände,welchem man schwer entgehen könne, wenn er es für derMühe wert halte, ihn auszuüben.

Wenn er nun mit der Kaiserin spielte, wenn er ihr als politisch großer Frau schmeichelte, würde sie dann nicht unterliegen? Lind daß sie gleich ihrer Mutter sehr starke Lausinteressen hat, ist wohl nicht ab­ zuleugnen, und daraus entspringen andererseits wieder so schöne Seiten ihrerNatur — soll nicht der Laß, ja Laß, der ihr entgegengeschleudert wird, die Voraussicht eines kurzen Kaisertums verbunden mit andern Eigenschaften sie beeinflussen, vorzugsweise für ihr und ihrer Kinder Unabhängigkeit zu sorgen? Ich hatte es zwar nicht gedacht, aber wer kennt die Macht der Einwirkungen von Dingen, die wir nie erfahren haben? In kleinen Verhältnissen haben unsere Schwächen und Fehler nur kleine, und selbst kaum merkbare Wirkungen, und so kommen wir ost gar nicht zur rechten Selbsterkenntnis, wenn wir nicht ein scharfes Auge, ein unerbittliches Arteil für uns selbst haben. Jesus war ein großer Psychologe, auch wenn er sagt: „Du siehst den Splitter im Auge Deines Nächsten und nicht denBalken im eigenen".

Ich werde diesen Brief fertig schreiben vor der Konferenz. Neulich sagte Frau Eberty zu mir: „Über Sie geht es aber furchtbar her in der Stadt". „So?" erwiderte ich, „was habe ich denn verbrochen?" „Sie sollen alles in Bewegung setzen, den Luisenorden zu erlangen und sich deshalb wegen der Adresse sich bemühen." Wenn es weiter nichts ist — lieber Limmel, das wäre am Ende noch eine unschuldige Eitelkeit, die ich nun zufällig nicht mehr besitze, es ist gerade das Gegenteil. Ich habe eine tiefe Empfindung für wahre Lochachtung, Liebe und Verständnis, es macht mich glücklich, wenn ich die Wirkung fühle, die ich im Guten ausüben kann, aber gerade äußere Anerkennung — selbst Worte von Leuten, die nicht meine Nächsten sind — ertrage ich nicht, und wenn ich denke, ich säße jemals auf einem Sammetsessel, um angefeiert zu werden, so fühle ich mich schon see­ krank.

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Von anderer Seite hieß es, Frau Äedwig Leyl und ich strampelten zusammen nach dem besagten Orden. Nun leb wohl, liebe Anna, Deine wen. S.

An Anna Breymann. Berlins. 1. April 1888.

Ich will die gestrigen Erlebnisse rasch verzeichnen. Die Sitzung ver­ lief sehr gut in einer Beziehung, die Gräfinnen benahmen sich ganz wie da frage ich mich: welche Eigen­ schaften, Kenntnisse und Fertigkeiten müssen beim weiblichen Geschlechte

(mit diesem beschäftige ich mich vorerst) erworben werden, um zur Ver­ edlung der Familie beizutragen. Die letztere ist die kleinste soziale Einheit, trägt aber im Embryo all« Richtungen, welche das große Ganze der menschlichen Gesellschaft er­ füllt, in sich; von ihr aus muß also die höhere Entwicklung des ethischen Daseins ausgehen. Freilich ist sie auch von vornherein eng mit demGanzen verbunden und von ihm beeinflußt, und somit muß man ein Interesse für Politik und Volkswirtschaft haben man muß, jeder in seiner Weise, helfen, solche Einrichtungen zu beseitigen, welche zur Lüge und Kriecherei usw. führen, und dagegen solche Verhältnisse fördern, welche dem Menschen möglichst freie Entwicklung zur Wahrheit und Festigkeit des Charakters gestatten. Die Frauen sollen nicht mehr ausgeschlossen sein vom Verständnis des Lebens, welches auf die Entwicklung der Familie von höchsterBedeutung ist; ich bin nicht für ihre Wirksamkeit im Parlament, es gibt für die klare verständige Frau andere Gelegenheit genug, ihren Einfluß zu üben auf eine edle Gestaltung des öffentlichen Lebens. — Damit aber die Frau den weit größeren Anforderungen, welche dieNeuzeit im Ver­ gleich zur Vergangenheit an sie stellt, gerade auch im Familienleben ge­ wachsen ist, so muß sie vor allem gesund sein, und ich glaube, wir erreichen in dieser Beziehung viel durch Garten- und Feldbau. Ein Fräulein Dr. Kastner hat diese Idee ausgenommen, und sobald sie von ihrer Ferienreise zurück ist, und ich etwas mehr Kraft zu Gebote habe, werde ich sie besuchen und mich mit ihr unterreden. An diese Naturarbeit knüpft sich ein großer Teil des naturwissenschaftlichen Unterrichts. — In der Laushaltungsschule wird der letztere in anderer Richtung fortgesetzt, und es treten die Elemente der Volkswirtschaft dazu, dann kommt der Kindergarten, der wieder zu neuen Gebieten überleitet usw. Freilich müssen wir uns von vorn herein sagen, daß wir in einer Anstalt von erwachsenen Mädchen nichts Vollendetes leisten können, weil das Laus und die Schule nicht vorgearbeitet haben. Zuviel ist ver­ säumt, zuviel in falsche Bahnen geraten, was wir nicht gut machen kön­ nen; und wir selbst müssen erst probieren. Ja, lieber Arnold, eS gehören

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eine AnzahlMenschen dazu, die inVertrauen und Verständnis sich ver­ binden zu einem Lebenswerke, es gehört immer viel dazu, wenn man etwas Neues schaffen und durchführen will. Ich habe ja trotz mancher nicht kleinen Schwierigkeiten das große Glück gehabt in Berlin, eben weil ich es ertragen konnte, ohne mit Re­ sultaten zu prunken, sehr langsam vorzugehen und mir die Mehrzahl meiner Lehrerinnen zu bilden. Pekuniär vollständig unabhängig zu sein, ja die Mittel durch meinen Mann zu besitzen, materiell zu helfen; die günstige Lage verkenne ich nicht, gewiß nicht An Frau Direktor Jessen.

Rom, Lotel Quirinal. 10. Oktober 1896. ..... Ich kann denBriefmeinesMannes nicht abgehen lassen, ohne Ihnen innigen Dank zu sagen für Ihren lieben Brief, der mich so sehr erfreut; ja mir geht es ganz wie Ihnen in bezug auf das Vereins­ leben, und wie gerne möchte ich mit Ihnen eine I hrerFerienkolonien be­ suchen, um mich an ihr zu freuen. Die Erziehung zu wahrhaft mütter­ lichem Wirken unter verschiedenen Formen, die wir im Pestalozzi-Fröbel-Lause zu fördern suchen, muß von vielen Seiten in Angriff genom­ men werden, und eine gut organisierte Ferienkolonie bietet so viel Stoff zur Betätigung geistiger Mütterlichkeit ..... Leute war ein schöner, glücklicher Tag für mich, das Wetter war schön, kein TropfenRegen fiel, und ich war einmal frei von Schmerzen und Qual der Erschöpfung. Leider hatte ich Sonntag und Montag zu Bett liegen müssen, und das ist mir leider öfter begegnet. So ist denn öfter der quälende Gedanke in mir aufgestiegen, daß ich unrecht getan habe, meinen Mann zu bestimmen, mit mir hierher zu gehen — und doch — ich muß, ich will hoffen, daß ich mir die reichen inneren Erfah­ rungen, die ich hier gesammelt habe, nicht zu teuer erkaufte. Es liegt so viel Arbeit vor mir, die ich so gerne bewältigen möchte, und ich lebe ebenso schon jetzt in derselben, wie mich anderseits Rom mit tausend Fäden fesselt. Frau Wentzel hat mich einen Nachmittag in Zehlendorf besucht; sie wollte mir den innern Zusammenhang ihres Lebens mit ihrer jetzigen Stellung zum Pestalozzi-Fröbel-Lause darlegen, und so tat ich einen Blick in ihre Seele, der mich mit warmer Sympathie zu der lieben Frau zog. Wie freue ich mich, daß auch Sie angenehm von der Persön­ lichkeit berührt sind.

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Kapitel 4:

Aber jetzt muß ich schnell schließen, ich bin so ganz ins Plaudern gekommen; ich öffne Ihnen so gerne meinÄerz. Mit herzlichen Grüßen für Sie und Lerrn Direktor Ihre getreue S>. S.

An Dr. Arnold Breymann. Berlin

6.November 1896.

Nun bin ich inRom gewesen, meine fast krankhafte Sehnsucht dort­ hin zu kommen, ist gestillt, und innerlich beruhigt kehre ich heim; und sollte es sich herausstellen, daß ich in der ewigen Stadt meine Gesund­ heit dauernd gekräftigt hätte, so würde mein Dankgefühl für alles, was sie mir gegeben hat, unbegrenzt sein. Ich habe inRom unendlich viel innerlich erlebt; es war nicht immer heiter, was durch meine Seele zog, nein, im Gegenteil, nie ist mir die Tragik in der Entwicklung desMenschengeschlechts so ins Lerz gedrun­ gen wie dort; ich fühlte mich in der ersten Zeit ganz erschüttert, erst nach und nach stellte sich ein größeres Gleichgewicht im Innern wieder her, und ich konnte mich an etwas freuen, ich konnte vergessen, wasRom er­ rungen, gesündigt und — gelitten. Wenn man liest, welche Fülle von Reichtum und SchönheitRom besessen, und dagegen hält, was geblieben ist, so kommt das letztere einem jo klein, so elend vor, und doch ist es wieder so mächtig, so groß. Als ich zum ersten Male das Kolosseum er­ schaute, da wandelte mich ein Gefühl der Ohnmacht an, und wenn man die Trümmer der Thermen des Caraealla durchwandert, so fühlt man die Ohnmacht derPhantasie, sichzurückzuversehen in die Tage, in denen sie dastanden in ihrer Pracht und Lerrlichkeit, und nun die Ausdehnung, die Weite des Erdbodens, welche die Ruinen untergegangener Größe trägt, auch dies wirkt so mächtig. Was für mich das schmerzlich Ergreifende milderte, war die Färbung der Atmosphäre, besonders in den Nachmittagsstunden und vor Untergang der Sonne; worin ich es suchen soll, daß dies so mildernd wirkt, ich weiß es nicht; ich konnte mich nie trennen von den Punkten, die mir ein Landschaftsbild boten, stundenlang hätte ich verweilen und mich versenken können in die Beleuchtung besonders bei schönen Wolkenbildungen; da hörten die Gedanken auf, da siegte die Schönheit, nicht die strahlende, nein, eine stille, fast melancholische Schönheit, sie lag versöhnend über den Stätten, wo rohe Grausamkeit gewütet, die Gebilde vonMenschenhand zu zerstören — aber die

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erhabenen Gebirge, welche still und ernst auf das Bauen und Zerstören der Menschen schauten, sie stehen noch wie vor Tausenden von Jahren, und die Sonne, welche den so unbeschreiblich zauberhaften Farbenschleier webt, wird nicht umdunkelt von dem Staube, welches das Barbaren­ mm, das laute und das stille, aufwühlt, das Schöne zu zerbrechen, zu vernichten; so brachte die Natur, die oft so grausam vernichtend in das Menschenleben eingreift, hier etwas Tröstendes, Versöhnendes. Das soll noch in viel größerem Umfänge der Fall gewesen sein bei den einzelnen Trümmern einer großen Vergangenheit, als man die Natur nicht störte in ihrer stillen Lebensarbeit; überall sproßte einst frisches Leben, Epheu rankte sich um verfallenes Gemäuer, leichtes Laubwerk heftete sich mit seinenWurzeln in schwindelnderLöhe zwischen dem Gestein und bot den lieben kleinenVögeln ein sicheres Asyl, und selbst ein alter Baum überschattete hie und da einenTrümmerhaufen. G. hat Rom noch so gekannt. Jetzt aber befolgt man ein System, daß diesem poetischen Verschmelzen zwischen uralter Vergangenheit und Gegenwart wehrt — das alte Rom wird seiner Poesie entkleidet und zu einem Museum gemacht. — Ich stehe jetzt in voller Arbeit, diese Woche ist besonders dem Ver­ kehr der einzelnen Lehrerinnen gewidmet. Jede möchte mich allein sprechen und es ist auch wichtig und nötig; nächste Woche werde ich meine Stunden beginnen. Wie sich auf derReise meine Gedanken und Gefühle immer mischten mit dem, was ich an Ort und Stelle aufnahm, so ist es jetzt umgekehrt der Fall. Tief ernst und zauberisch jchöne Bilder tauchen beständig in meiner Seele auf im Verkehr mit denen, die mit mir arbeiten, es ist, als hätte ich mehr Augen, mehr Gehör gewonnen, und noch nie im Leben war mir der Zusammenhang aller Dinge, die Wechselwirkung derselben auf einander so klar, als in dieser Zeit ....

Karl Schrader an seine Frau.

Wien, Grand Lotel. 30.November 1896. Eben erhalte ich Deinen liebenBrief, eben, das heißt gegen 12 Ahr nachts. Als ich nachmittags zu Laus kam, war er noch nicht da, und dann bin ich in der Sitzung, Burgtheater und zum Abendessen gewesen und erst spät zu Laus gekommen. Mir geht es hier wie immer. Besonderes ist mir nicht passiert; Chancen, demnächst nach Konstantinopel zu reisen oder nach Sofia, sind nicht, vorerst mußt Du Dich darin finden, daß ich zu Laus bleibe.

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Kapitel 4:

Du hast ganz recht, wenn Du in Deinem Briefe schreibst, daß Dich das Mißverhältnis zwischen Deinem Wissensbedürfnisse und Deinem Wissensschatze quält,Du verlangstvon Deinen Stunden so vielWissen, und Du hast nicht Zeit und Ruhe, es Dir zu erwerben. Das ist gewiß traurig, aber Du teilst eben das Geschick aller derjenigen Leute, die im praktischen Leben stehen und doch darüber hinaus etwas wissenschaftlich leisten wollen. Sie können nicht beides zugleich, praktisch wirken und wissenschaftlich schaffen, zumal dann, wenn sie nicht in einer bestimmten, früh in geordneter Weise erworbenen Wissenschaft wirken, sondern sich ein eigenes Feld geschaffen haben, für dessen Bebauung sie alles erst mühsam zusammenbringen müssen. Es bleibt da schließlich nichts übrig, als sich darin zu finden, daß man das eine oder das andere wählen muß, wenn man nicht in beiden hinter seinen eigenen Anforderungen zurückbleiben will. And Du kannst nur das Praktische wählen, dafür bist Du nötiger und dafür brauchst Du nicht selbst Stunden zu geben, dazu mußt Du Dir allmählich andere ziehen, und was Du dadurch den Mädchen im Pestalozzi-Fröbel-Lause nicht geben kannst, das gib ihnen im persönlichenBerkehr. Lade sie zu Tisch ein, gib Deinem Laushaltsherzen einen Stoß und sieh auch einmal mehrere zusammen bei Dir. Du gibst ihnen vielleicht dadurch mehr als durch Stunden und Du wirst die Qual*) los, welche diese Dir doch stets verursachten. Morgen abend reise ich und binMittwoch gegen 12 Ahr zu Laus. Loffentlich finde ich Dich etwas getröstet und wohl und munter

An Dr. Arnold Breymann. Berlin

13. Dezember 1896.

............. Mich verlangt so sehr, mich mit Dir über vieles auszu­ sprechen und von unsermRom zu reden. Neulich hatte ich einen Brief vonFrauGuerrieri, und als ich den Poststempel Roma sah, ging eine Bewegung durch meine Seele. Es ist ein unglückliches Geschick, daß Florenz nicht Lauptstadt von Italien werden oder vielmehr bleiben konnte, dort konnte sich neues Leben ausbreiten und entwickeln, ohne das alt« in seiner stillen Größe zu stören. *) Lenriette Schrader war schon sehr leidend.

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Meine Phantasie beschäftigt sich oft mit. dem alten grünen Rom, wie es dalag in erhabenem Schweigen, ein Zufluchtsort für tiefe stille Geister, die in solchem Schweigen taufend Stimmen hören; wie begreife ich Gregorovius, Mommsen usw. in ihrem bittern Schmerz, als sie daneueRom zum erstenMale erblickten, des magischen Schleiers entkleidet, der die Tragik der Vergangenheit mit so vielPoesie umhüllt, als sie »er­ folgt wurden von dem schrillen Lärm der Gegenwart, der die heilige Stille der Vergangenheit aufhob, so daß man erst lernen mußte, nicht zu hören, was die äußern Sinne betäubte.

An Anna Breymann. Berlin W. 13. Januar 1897. Unser Leben leidet einmal wieder genz besonders an Vielarbeiten meineSMannes, eigentlich schläft er nur hier, und wenn er mit uns ißt, so ist es eine Ausnahme; ich bin ganz empört über zwei Setren, Be­ kannte meineSMannes, die sich zanken und ihm das Laus einrennen, um seinen Schiedsspruch zu hören, und Sonnabend muß Karl wieder nach Wien; diese schrecklichen Bulgaren sind eigentlich ein Räubervolk, und doch sollte ich noch ganz zuftieden fein, wenn Karl mitReisen nachWien abkommt und nicht nach Sofia gerufen wird. Zum Glück habe ich auch recht viel zu tun und zu denken und bin wohl genug, etwas zu leisten. Gestern-fteilich mußte ich den ganzen Tag zu Bette liegen; ich hatte mich Sonntag bei der Kaiserin Friedrich in einem sehr kalten Prunkzimmer tüchtig erkältet. Es war nämlich feierlicher Empfang von Frau Baurat Wentzel (unser Bauengel, wie ich sie nenne) zur Vorlegung der Pläne. Die Palastdame, Gräfin Brühl, empfing uns auf den oberen Stufen der Treppe, die erste Hofdame, GräfinPerponcher, im kalten Saale, und dann nach einer Weile erschien die Kaiserin Friedrich. Leute habe ich Kaffeegesellschaft, 18—20 junge Mädchen, Schülerinnen meiner spe­ ziellen Klasse; diese Gesellschaft war auf heute vor acht Tagen angesetzt, als Dienstag eine Einladung von der Kaiserin auf Mittwoch kam ftir meinen Mann und mich, so daß ich meine geladenen Gäste abbestellen mußte; nun wäre es mir schrecklich gewesen, wenn ich heute wieder nicht fähig war zum Empfange; aber ich bin herzlich ftoh, daß ich mich wieder ganz wohl fühle. Daß der Anfang bei Euch nicht schön war, kann ich mir lebhaft denken aus der Erinnerung an ftühere Zeiten. Wir haben auch einen schweren Winter. Lyschtnska, Hcnrirttc Schrader II.

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Kapitel 4: Lenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 28. Mai 1897. Es ist 3/48 Ahr morgens, ob Du Dich wohl schon zur Abreise rüstest? Laben Dir gestern nicht die Ohren geklungen? Nathan stellt Dich ja auf ein hohes Piedestal und meint, ein so reiner und edler Charakter und solch begabter Geist wie Du, müßte wieder ins Parlament, ich da­ gegen behaupte, ein gewissenloser Bösewicht, der aber die jetzige Regie­ rung haßt, wäre viel besser amPlatze. Ich finde es so traurig, daß in der Geschichte Epochen kommen, in denen nur Schlechtes durch Schlechtes

au- der Welt geschafft werden kann. Ich erzählte von Deiner früheren Wirksamkeit, von dem Eisenbahnverbande, wie Du da so ganz an Deinem Platze wärest, wie denn überhaupt Dein Genie auf dem Boden derVerwaltung liege. Nun meinte der kindlicheNathan, deshalb müßtest Du inS Parlament, weil eine Zeit kommen würde, in der der Kaiser zu einem liberalen Ministerium greifen müsse, und Du dann ans Ruder kommst, was ein so großes Glück für Deutschland sein würde. Nun, ich will nichts mehr gegen Deinen Eintritt ins Parlament sagen;Nathan meinte, es sei DeinWunsch, zu kandidieren. Wenn eins mir die Trennung von Dir erleichtern kann, so ist es das Bewußtsein, daß Deine Art Tätigkeit in Konstantinopel Dir eine Er­ frischung ist; überhaupt, Karl, wenn ich wüßte, daß Deine Natur einer so vielseitigen Tätigkeit bedarf, daß es nicht, wie es scheint, der kalte Kantische Imperativ ist, der Dich treibt, ich würde mich so viel leichter in manches gefunden haben, waS mir oft so bitter schwer geworden ist. Diese Zeilen werdenMontag in Konstantinopel sein und dann Hoffentlich in Deine Lände kommen. Leute habe ich bis jetzt keinen Brief von Dir erhalten. Lebe wohl, reise glücklich und sei viele Male gegrüßt von Deiner treuen L. An Fräulein Minna Julius (Vollsschullehrerin in Berlin).

Schweiz, Lote! Axenstein bei-Brunnen. 2. September 1897.

Verehrtes, liebes Fräulein Julius! Sie haben gewiß Notiz genommen von der Stellung des LehrerVereins zu der Einführung der FröbelschenBeschäftigungen in der unter-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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4en Klasse der Volksschulen. Ich muß nun sagen, daß ich in gewisser Weise mit der Ansicht derselben übereinstimme, besonders in Rücksicht tuf das viele Sitzen der Kinder in geschlossenenRäumen; aber da viele Kinder keine geeignete Häuslichkeit und keine genügende Aufsicht haben,

f» würde ich doch dafür sein, dieKleinen, wie bisher, die früher festgesetzte

Zeit der Schule zu übergeben, aber die freigegebenen Stunden zu Bevegungsspielen und Ordnungsübungen zu benutzen; oder bei gutem

Wetter zu Spaziergängen.

And zwar sollte man an die Bewegungsspiele ein Stückchen vom „Monatsgegenstande" anknüpfen, freilich würde es sich vorerst nur um lebendigen Anschauungsunterricht handeln können. Ich meine so z.B.,

trenn di« „Fischlein" gespielt werden sollen, bringt die Lehreritt ein Glas Fische mit und etwas Nahrung für dieselben, welche abwechselnd einige

Kinder selbst in das Glas werfen, daneben erzählt die Lehrerin etwas besonderes von naheliegenden Gewässern mit Fischen, z. B. von dem

Goldfischteiche im Tiergarten. Beim Spiele: „Ei, ei, Herr Reiter" würde das Pferd in Betracht gezogen; beim „Taubenhaus" die Taube usw. Wenn dieFröbelschenBeschästigungen mit dem Schulunterricht inVer-

bindung gebracht werden, könnte man immer Freiübungen «inführen, z.B. beim Falten einen Vogel darstellen, beim „Fischlein" einen Kahn

usw. Natürlich müßte die leitende Lehrerin sehr gut unterrichtet sein, und man hätte für freiwillige Gehilfinnen zu sorgen, besonders bei Spaziergängen. Solche Beschäftigungen würden daS Gehirn der Kin­

der nicht belasten, sondern beleben. Die körperlichenBewegungen müssen

im Vordergründe stehen, und sie können schon etwas mehr schulmäßig geübt werden als im Kindergarten. Bei den Ordnungsübungen kommen hauptsächlich solche in Betracht, die im Spiele besonders hervortreten. Dasselbe bildet überhaupt in der Elementarklasse den Anfang schul-

mäßiger Gymnastik; aber eben unter einer die Phantasie noch beschäf­ tigenden, leichten Form.

Die Bewegungsspiele können auch in der Form von Fingerspielen geübt werden z.B. beim „Fischlein" die Übung derLand recht exakt ausgeführt werden. Bitte sagen Sie mir Ihre offene Ansicht über diese Idee.

Die Lehrer nehmen wenigerRücksicht als wir Frauen auf die häuslichen

Verhältnisse und deren Einflüsse auf dieselben. Ja, könnte jede Mutter

ihren KindernMutter sein, so lägen die Dinge anders; aber die armen Frauen, die sauer das materiellfBrot für ihre Kleinen verdienen müssen, können sie ihren Kindern die geistige Speise reichen, nach der die junge

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Kapitel 4:

Seele unbewußt hungert? Will man dem Volke wirklich helfen, so niuß man an dieVerhältnisse anknüpfen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten; aber selten so in die Erscheinung treten. Unsere Stimme wird bei der neuen Organisation der Elementarklassen gehört werden, wenn sie auch vielleicht nicht durchdringt; aber wir müssen uns über das Für und Wider der Dinge sehr klar sein, und Sie, liebes Fräulein Julius, können uns viel helfen. Sie haben lebendige Fühlung mit der Volksschule und auch mit unsern Ideen. Sollte es nicht an der Zeit sein, daß wir etwas veröffentlichen über unsere Erfahrungen in der Elementarklasse in bezug auf die Verwendung der Frvbelschen Beschäftigungen?

3. September. Ich darf nicht weiter schreiben und werde noch einige Worte meinem Manne diktieren. Wir haben den großenVorzug, die Fröbelschen Ideen schon längere Zeit in unserer Elementarklasse in die Praxis überseht zu haben; freilich nur teilweise, weil wir durchVorschriften der Schuldeputation gebunden waren; aber selbst da-Wenige, was wir leisten konnten, mußte dem Lehrpersonal von großem Nutzen sein, weil es durch die Praxis er­ probt ist.

Wollen Sie mit Frau Richter und Fräulein Dröscher diese Dinge gelegentlich durchsprechen; auch wäre es mir lieb, wenn Miß Lyschinska -«gezogen würde, sie hat in ihrer Stellung in London so viele Ersahrungen gemacht in bezug aufVerwendung der FröbelschenMethode in den Elementarklassen; natürlich kann man diese Erfahrungen nicht direkt benutzen, weil die lokalen Verhältnisse in London und Berlin sehr ver­ schieden sind; aber trotzdem kann man vieles davon zunuhen machen. Ä öffentlich geht es Ihnen gut, liebes Fräulein Julius, und ich höre einmal von Ihnen. Mit herzlichen Grüßen Ihre Äenriette Schrader.

An Margarete Breymann.

Berlin W. 24. Oktober 1897. Leute ist es Sonntag; aber Grete kommt nicht, ich kann es noch gar nicht realisieren, daß es für immer aus ist mit Deinen Besuchen; ich habe das Gefühl, als ob Ferien seien und Du nun bald wiederkommen würdest. Dein lieber, ausführlicher Brief aus Göttingen hat mich sehr inter.

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essiert, und ich hoffe, daß sich alle guten Aussichten für Dich realisieren werden*). Du wirst mir doch öfter schreiben? Später. Du siehst aus Vorstehendem, daß ich den guten Willen gehabt habe. Dir zu schreiben; aber es war wirklich unmöglich für mich, den Brief zu vollenden. Wir haben jetzt ausnahmsweise viel zu tun in bezug auf das neue Pestalozzi-Fröbel-Laus; es gibt so viel Schreibe­ reien, Konferenzen, Besprechungen usw., daß ich gar keine Zeit finde zu Privatbriefen. Ich hoffe. Du wirst nicht nach dem Kerbstocke gehen in unserer Korrespondenz und mich, soweit es Deine Zeit erlaubt, an Dei­ nen inneren und äußeren Erlebnissen teilnehmen lassen, wenn auch nur in kurzen Notizen. Am mich ein wenig in eine andere Welt zu versetzen als die von Gartenplänen, Zahlen und Grundrissen usw., lese ich jetzt das Leben von Nietzsche, von seiner Schwester verfaßt. MeinWiderwille gegen ihn ver­ wandelt sich bei dem Studium des Buches in tiefes Mitleid, und ich fange an, zu begreifen, wie dieser unglückliche Mensch zu seinen Absurdi­ täten gekommen ist; leider habe ich zuerst nur den zweiten Band aus der Bibliothek bekommen können; Frau Elisabeth Förster-Nietzsche selbst ist nicht sehr tief; aber sie gibt höchst interessantes Material, aus dem man sich selbst seine Schlüffe ziehen kann. Nachdem ich das genannte Werk durchgenommen habe, werdö ich das von Frau Salome lesen. N. ist ein Opfer der tiefeingreifenden Übergangsperiode, in der unser geistiges

Leben sich jetzt befindet, und die Schriften über ihn, besonders das reich­ haltige Material in bezug aufPersönlichkeiten und Verhältnisse, die auf N. wirkten, geben viel Stoff zur Psychologie unserer Zeit. Dir werden solche Dinge, gottlob, fern liegen. Du wirst Dich in das Wunderbare derNatur vertiefen und vielleicht einmal später und reiferen Geistes zu diesen Fragen, die wir hier zuweilen berührten, zurückkehren. Lat sich alles für Dich in Göttingen so weiter entwickelt, wie Du hofftest? Es wäre doch schön, wenn Du dort rechte Befriedigung fändest. Seit wir mit Bars in Baden-Baden einige schöne Stunden verlebten, haben wir kein Wort von ihnen gehört; vielleicht kannst Du uns von ihnen berichten. So viel ich jetzt erfahren habe, ist der Prof. Wallach in Göttingen eine Art Vetter von dem Wallach, welcher hier im Lause wohnt, Ostern aber schon wieder auszieht. ♦) Margarete Breymann begann ihre medizinischen Studien an der Aniversität in Göttingen.

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Kapitel 4:

Die Geschäftsunruhe, in die ich hineingezogen bin, verdoppelt sich natürlich oder verzehnfacht sich bei meinem Manne; letzte Woche ist er keinen Abend zu Laus gewesen; er tobte in liberalen Kirchenversammlungen herum, war Freitag in Braunschweig, Sonntag in Landsberg a. Warthe, wo er alsReichstagskandidat aufgestellt ist, und diese Woche ist eS nicht viel besser. Er hat wenigstens die Freude gehabt, daß in seiner Kirchengemeinde die Liberalen mit über einhundert Stimmen gesiegt haben; überhaupt sind die Kirchenwahlen im ganzen weit besser für die Liberalen ausgefallen, als letzteSmal. Nun lebe wohl, meine liebe Grete, wir grüßen Dich alle recht, recht herzlich. Sprich bald einen Wunsch für ein Geschenk von unS auS.

An die Schwester Albertine Amsinck. Berlins. 27.Dezember 1897. Meine geliebte Albertine! Labe innigen Dank für die liebe Weihnachtskifie, welche noch spät abends am 24. hier anlangte und eineNachfeier zu unserer Bescherung bildete. Wie schön und gut sind Eure lieben Gaben, die wir in liebevollem Gedenken an Euch verzehren. Seit langer Zeit habe ich kein so innerlich glückliches Fest verlebt, wie dieses Jahr, wohl hauptsächlich weil ich mich verhältnismäßig wohler fühle. Am ersten Feiertage waren wir still zu Lause; gestern fuhren wir in die Böcklinausstellung und aßen dann im Kaiserhof. Am drei Ahr waren wir wieder zu Lause, so daß beideMädchen ausgehen konnten, nachdem sie den Abendtisch gedeckt hatten. Über dieBöcklinausstellung möchte ich

Dir noch ein Wort sagen. Ich habe mich nie sehr für seine Bilder, die mir zu Gesichte kamen, bisher erwärmen können, abgesehen von der Toteninsel. Aber diese Ausstellung hat mich tief beeindruckt, trotzdem ich dieBilder wenig inRuhe betrachten konnte, da man von einer Menschenmasse geschoben wurde; ich werde wieder hingehen. Nie ist mir bei einem Künstler der Neuzeit eine solch« Schaffenslust und Freudigkeit entgegengetreten, wie beiBöcklin. Mein Gott, was besitzt dieserMensch für ein Genie, für einen Reichtum überquellender Phantasie; er führt denPinsel heute im Gefühl derber Lebenslust, morgen in tiefer Träume­ rei eines idealen Naturlebens und dann im Schmerz von jeder Seelen­ faser, und nichts, nichts bleibt ihm verborgen, und für nichts versagt ihm die Kraft der Schöpfung. Anbekümmert um das Arteil derWelt, ja, un­ bekümmert, ob es ihm selbst gefällt, zaubert er Leben auf Leben.

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Lenriette Schrader an Minna Julius (diktiert).

'Berlin W. 28. März 1899. Ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank für den reizenden Brief, welchen mir die kleinenFreundinnen unter Ihrer Leitung geschrieben haben. Es ist auch so wahrhaft pädagogisch, da- Gefühl der Dankbarkeit in den Kindern zu pflegen in bezug auf Dinge und Menschen, die sie augenblicklich nicht vor Augen haben, aber deren Wirkung sie trotzdem wohltuend empfinden. Nun bin ich mir vollständig bewußt, daß ich mit all meinem Stre­ ben nichts hätte leisten können, wenn mir nicht das hohe Glück zuteil ge­ worden wäre, treue Mitarbeitende zu finden; unter bie|e zähle ich auch Sie, liebes Fräulein Julius, und ich bin Ihnen so von Kerzen dankbar für Ihre Liebe, die Sie demPestalozzi-Fröbel-Lause weihen. Ich würde mich so sehr freuen, Sie einmal wieder zu sehen und bitte um Ihren Besuch, wenn Ihre Zeit und Kräfte denselben gestatten. Wie geht eS Ihren lieben Schwestern? Hoffentlich brauchen Sie keine ernst­ liche Sorge mehr für die eine oder die andere zu hegen. Wenn Sie die kleinen Briefschreiberinnen sehen sollten, so danken Sie ihnen, bitte, in meinemNamen herzlich für die Freude, die sie mir bereitet haben. Mit den besten Grüßen und Wünschen

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Register.

187, 188, 190ff., 216, 223, 231, 232, 238, 304, 308, 369, 441, 454ff., 552,565ff. II. 182,203ff., 368, 510. — (Karl). I. 76, 111. — (Luise) geb. Lewin, Fr. Fröbels zweite Frau. I. 62.

G. Geistige Mütterlichkeit. I. 178, 194, 203, 214, 238,483. II. 136, 157, 260, 387ff., 503. Genf. I. 232ff. Geschichtsunterricht. 1.179,228ff. 418. II. 175. Gesundheitsverein. II. Kap. 1 u. auch S. 133. Goethe. I. 188,356ff.,365,393. II. 243ff., 254, 273, 276ff., 451,487, 490 ff. Gruppen (Familien-). II. 13, 21. Guerrteri. I. 358, 395, 397, 483. II. 91, 93.

Kochschulen in England. II. 249ff. — im P.-F.-S. II. 11 ff., 259. Kunst im KtndeSleben. II. 449, 493, 494ff., 497, 537.

L. Lange (91.), Geschichte des Mate­ rialismus. II. 435. — (Selene). II. 66,67, 68,226,385, 390, 391, 392, 393, 394. Lassalle. I. 338, 339, 343. Le Play. II. 520ff. London. I. 294. II. 233, 255. Luther. I. 343ff. II. 565.

M.

S-

Marenholtz-Bülow (Bertha von). I. 131, 136, 138, 141,142,168ff., 172, 173, 194, 206, 292,398, 406, 410ff., 417ff., 422, 423, 429, 432ff. II. 218,219,374,375,456. Mathy. 1.392,400,410. Mauriee (F. Denison). II. 332. Middendorf (Wilhelm). I. Kap. 1 und Kap. 6. Auch E. 207. Mill (I. Stuart). I. 383, 384, 395, 398ff., 401 ff. Mohl. I. 334ff. Monatsgegenstand. I. 364, 365, 458,468. II. 20ff., 316,494, 553. Mutterschule. I. 226, 227. II. 192, 217 ff., 227, 232ff., 238, 382.

Ibsens „Brand". II. 437. Idealität undRealität. I. 144,211, 212. II. 71,322ff., 392,438,476, 506ff. Italien (Briefe aus). II. 21. IX. 24. IX., 30.IX., 4. X. 1891.6. XI. 13. XII 1896. Italienische Kunst. I. 223.

Natur (Einführung des Kindes in die). II. 379, 381, 382,388,389. Naturwissenschaft (Wichtigkeit f. die Frau). II. 26,378ff., 453,572. Neu-Watzum (Einweihung d. Sauseö). I. 264ff.

H. Lerh(Frauvi.). I. 102ff.,110,112. StU (Octavia). II. 234, 235. Soffmeister (Senriette, Wilhel­ mine). I. 5. Söffding (Sarald) Psychologie. Ethik. II. 456,457, 549ff., 553.

N.

Ä.

P-

Kant (I.). 11.514. Kingsley(T.). I. 425ff. II. 330ff., 380, 439.

Pestalozzi. 11.5,96,294,311,338, 339,344, 368, 369,370, 439, 440, 461.

586

Register.

R. Richter (Frau Clara). II. 15ff., 28, 443, 456, 580. Robertson (ofBrighton). II. 312.

S. SchePel (Annette Lamminck). 1.358, 365,372,381,464, 500. II. 9,135, 155, 182, 193, 194, 198 ff., 221, 278, 292, 294,326, 345, 367, 381, 385, 443. Schiller. I. 173, 186, 187,188,222, 237, 363,364. II. 161, 281, 494, 514. Schleiermacher. I. 54, 90ff., 328, 349, 350, 352 ff. II. 213, 538. Schopenhauer. I. 261. II 302ff., 304ff. Schreib-Lesen. I. 320. II. 23,24, 149, 216, 283. Schriftstellerische Tätigkeit. (Schwierigkeiten f.Ä. ©.). II. 203, 286, 299, 304, 308, 320ff. Schucht (Volksschullehrer in Oker a. 55.). I. 170, 451, 456.

Schulen (in Berlin). II. 105, 106, 377. — (inGroß-Britannien). I. 284,285. II. 236, 315, 387, 388, 389. Shakespeare. I. 187, 191, 351. Sinnlichkeit (als „Lebensstoff"). I. 466, 467, 469. II. 343,440,445, 453, 511, 512.

r. Toilette (Einfluß auf Stimmung bei £>.©.). II. 117ff„ 169,171 ff., 267, 426, 427.

«. „Vermittlung der Gegensätze". I. 202,224,364,369,386. II. 533, 537. Viktoria-Lyzeum (Berlin). II. 226, 228.

W. Wesen der Erziehung. II. 274ff, Wohltätigkeit. I. 355. II. 213,214. 239ff., 246ff.

Anhang




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l.S e n r ie t t e , 2 . W ilhelm ine, 3. A nna, 4 . K arl, 5. M a rie , 6. Albertine, 7. A dolf, 8. W ilhelm , 9. Erich, 10.Ledw ig.

B. Zusammenstellung der wichtigsten Ereignisse im Leben Lenriette Schraders in zeitlicher Folge 1827. Am 14. September wird Johanne Juliane Lenriette Breymann im Pfarrhause zu Mahlum, Kreis Gandersheim, als Älteste von 10 Geschwistern geboren. Vgl. Bd. I, S. 8 ff. 1838 — Lenriette in Wolfenbüttel zum Besuch der dortigen Töchterschule. Ende 1841. Bd. I, S. 25 f. 1842. 3. April. Konfirmation durch ihren Vater. Bd. I, S. 29—32. 1844—45. Aufenthalt bei des Vaters Bruder Fritz in Reichenbach (Sachsen) zur Erlernung der ländlichen Lauswirtschaft. Bd. I, S. 35—39. 1848. Lenriette reist nach Keilhaü b. Rudolstadt, um ihre Schwester Marie zur Aufnahme in die von Fröbel gegründete Erziehungs­ anstalt zu geleiten. Anfang Juni erfolgt die erste Begegnung mit ihrem Oheim Fr. Fröbel. Seitdem erwacht ihr Lebensplan, sich der Erziehung zu widmen. Bd.I, S. 47—83. 1848 Ott. — Teilnahme an dem von Fröbel in Dresden abgehaltenen Kursus 1849 März, für Erzieherinnen. Bd.I, S.84—122. 1849April— Lenriette leitet Fröbels Laushalt in Liebenstein. Bekanntschaft September, mit Frau von Marenholh-Bülow. Bd.I, S. 122—145. 1851—53. Tätigkeit an den neugegründeten Anstalten der Freien Gemeinde zu Schweinfurt (Kindergarten und Mädchenschule) und nach deren Schließung an der Schule des Reformers Dr. Georgens in Baden-Baden bis nach dessen Flucht. Bd.I, S. 155—161. 1854. Begründung der eigenen Erziehungsanstalt im Pfarrhause zu Watzum, Kreis Wolfenbüttel, wohin der Vater 1852 versetzt war. Bd.I, S. 162f. 1856. Marie Breymann kehrt nach abgeschlossener Ausbildungszeit ins Elternhaus zurück und verbindet sich mit Lenriette zur Leitung der aufblühenden Anstalt, wodurch Lenriette Zeit und Kraft ge­ winnt, sich in ausgedehntem Maße der Fröbelpropaganda zu widmen. Bd.I, S. 168—172, 189—240. 1858. Aufforderung der belgischen Regierung an Lenriette, an den Frauenbildungsanstalten Brüssels Kindergärten und Abendkurse für die Lehrttäfte einzurichten. Lenriette in Brüssel von April bis November 1858. Bd.I, (5.172f., 184f. 1860. Fröbelpropaganda-Reise mit Frau von Marenholtz-Bülow nach Bern, Lausanne und Genf. Bd. I, S. 173, 176. 1864. Das Breymannsche Institut wird nach Wolfenbüttel verlegt (NeuWatzum). Karl Breymann, Lenriettes ältester Bruder, gliedert sich dem Neu-Watzumer Erziehungstteise an. Bd.I, S. 175, 176.

Anhang.

1866.

1867.

1868.

1870.

1871.

1872.

1873.

1874.

1876. 1877.

1878.

586

Henriette reist auf mehrere Monate nach Genf, um dort einen Verein für Erziehung ins Leben zu rufen. Bd. I, S. 241—297. Januar. Gründung des Wolfenbüttler Vereins für Erziehung. Durch 55. Dreymann angeregt beginnt Anna Vorwerk die Arbeit im „Schloß, wo nach Henriettens Plan eine Frauenschule im Fröbelschen Geiste entstehen sollte. Vd. I, S. 281—298 ff. September bis November Reise nach Schottland. Bd. I, S. 282ff. 13. November Tod des Vaters. Vd.I, S. 248, 295, 303. 3. September Henriette verliert durch den Tod ihrer Schwester Marie die verständnisvollste Mitarbeiterin, die ihr Wesen aufs glücklichste ergänzte. Dd. I, S. 305. EntfremdungzwischenH.Breymannund A.Vorwerk.Bd.I, S.307 ff. Durch die Arbeiten und Kämpfe im Vorstand des Wolfenbüttler Erziehungsvereins lernt Henriette das Direktionsmitglied der braunschw. Staatsbahnen Karl Schrader kennen. Bd. 1, S. 325, 327-492. 24. April. Entscheidende Sitzung im Wolfenbüttler Erziehungs­ verein. Henriette wird mit ihren Anhängern niedergestimmt und das „Schloß" der Gegenpartei ausgeliefert. Bd. l, S. 320. 29. u. 30. Mai. Begründung des Allgemeinen Erziehungsvereins in Frankfurt a. M. mit Frau von Marenholtz. Bd.l S.327. 30. April. AZermählung mit Karl Schrader, Direttor der BerlinAnhalter Bahn. Bd. l, 6.327 s., 496. Abschied von Neu-Watzum, das von den Geschwistern weiterge­ führt wurde. Übersiedlung nach Berlin. Bd. I, S. 497 f. Henriette Schrader tritt auf Bitten früherer Schülerinnen (Hedwig Heyl, Agathe Toberenh) in den Vorstand eines von Frau von Marenholh gegründeten Volkskindergartens: erster Anfang des Pestalozzi-Fröbel-Hauses. Bd.II, 6.6 ff. 16. Mai. Gründung des Berliner Vereins für Volkserziehung durch Karl und Henriette Schrader. Anfänge des Seminars für Kindergärtnerinnen. Henriettens Schülerin Annette LamminckSchepel übernimmt die Leitung der Anstalten. Bd. II, S. 7 ff. 2.Oktober Tod der Mutter. Bd.II, 8.111. Dezember. Henriette Schrader wird aufgefordert, sich der damaligen Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich, vorzustellen. Beginn der gemeinsamen Arbeit für Volkserziehung und soziale Fürsorge (Förderung derGesundheitspflege, Bildung zu Krankenpflegerinnen: „Viktoria-Schwestern", Ferienkolonien). Bd. II, S. 30—63, 227—229,234ff. 1. September Tod des Bruders Adolf Breymann (Bildhauer in Dresden). Bd.II, S. 143. Ottober. Einführung der Handfertigkeitskurse für Schulkinder. Bd.II, S.8f.

590

Anhang.

1879. Einrichtung der Elementarklassen. Bd. II, S. 11. 1880. Verlegung der Vereinsanstalten unter Leitung von Annette Hamminck-Schepel in das Laus Steinmehstraße 16: PestalozziFröbel-Haus. Vd. II, 6.11, 193. 1881. Karl Schrader wird in den Reichstag gewählt, dem er mit kurzen Unterbrechungen bis 1911 angehörte. Der Schradersche Kreis wird dadurch noch mehr in das politische Getriebe gezogen, ohne daß das Interesse an Dildungs- und Erziehungsfragen zurücktritt (pädagogische Abende, parlamentarische Gesellschaften). Bd.II, 6.66 ff., 195,261, 271, 293ff., 360. 1882. Feier des 100jährigen Geburtstages Fr.Fröbels in Anwesenheit des kronprinzl.Paares. Bd.II, 6.203ff. 1883. Juli—Oktober Aufenthalt des Ehepaares Schrader in England. Bd. II, 6.233—258. 1884. Eröffnung der Kochschule in der Steinmehstraße unter Mitwirkung von Hedwig Hehl. Bd.II, 6.11—15. 1888. 10.Juni. Kaiser Friedrich stirbt. Bd.II, 6.405-433. 1888—89. Karl Schrader tritt in die Direktion der Deutschen Bank. Die Erwerbung und Verwaltung der orientalischen Bahnen und der Bau der anatolischen Bahn nötigen ihn zu häufigen Auslandsreisen. Bd.II, 6.441f., 462. 1890. Annette Lamminck-Schepel bereitet ihren Rücktritt von der Leitung des Pestalozzi-Fröbel-Hauses vor. Ihre Nachfolgerin wird Frau Clara Richter, Frau Schraders Schülerin. Bd.II, 6.15, 37. September u. Oktober. Henriette begleitet ihren Mann nach Konstantinopel. Bd, II, 6.465—471. 1891. Henriette Schrader wird vom Regierungskommissar beauftragt, die deutsche Abteilung „Kleinkinderfürsorge und Frauenbildung" für die Weltausstellung in Chikago zu organisieren. Bd. II, S. 16. September u. Oktober. Reise des Ehepaars Schrader nach Venedig und Florenz. Bd.II, S.483—502. 1894. Karl und Henriette Schrader reisen auf sieben Monate nach Kon­ stantinopel. Bd. II, 6.533—563. 1896. Frau Hedwig Hehl vermittelt die Bekanntschaft Henriettens mit Frau Wenhel-Leckmann, die einen Neubau der Pestalozzi-FröbelHäuser I und II auf ihren Grundstücken in Schöneberg finanziert. Bd.II, 6. 26ff., 568ff. Im Herbst Reise nach Nom. Bd. II, S. 573. 1898. Juli. Ausbruch der letzten Krankheit. Durcharbeitung der Baupläne für das neue Pestalozzi-Fröbel-Haus auf dem Krankenbett. Bd. II, 6.70. 1899. 25. August. Tod in Schlachtensee bei Berlin. Bd. II, S. 72.

Rodardruck von C- G. Röder G. m. b. §>., Leipzig.