Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie [1 ed.] 9783428476664, 9783428076666


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German Pages 242 Year 1993

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Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie [1 ed.]
 9783428476664, 9783428076666

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HANS REDEKER

Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie

Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, CarditT· Hans Bertram, München' Karl Martin Bolte, München' Lothar Bossle, Würzburg . Walter L. Bühl, München' Lars Clausen, Kiel' Roland Eckert, Trier . Friedrich Fürstenberg, Bonn . Dieter Giesen, Berlin . Alois Hahn, Trier' Robert Hettlage, Regensburg . Werner Kaltefleiter, Kiel' Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld . Henrik Kreutz, Nürnberg . Heinz Laufer, München' Wolfgang Lipp, Würzburg . Thomas Luckmann, Konstanz' Kurt Lüscher, Konstanz· Rainer Mackensen, Berlin . Georg Mantzaridis, Thessaloniki . Norbert Martin, Koblenz . Julius Morel, Innsbruck . Peter Paul Müller-Schmid, Freiburg i. Ü.. Elisabeth Noelle-Neumann, Mainz . Horst Reimann, Augsburg . Walter Rüegg, Bern . Johannes Schasching, Rom . Erwin K. Scheuch, Köln . Gerhard Schmidtchen, Zürich . Helmut Schoeck, Mainz . Dieter Schwab, Regensburg . Hans-Peter Schwarz, 'Bonn . Mario Signore, Lecce . Josef Solar, Brno . Franz Stimmer, Lüneburg . Friedrich H. Tenbruck, Tübingen' Paul Trappe, Basel' Laszlo Vaskovics, Bamberg' Jef Verhoeven, Leuven . Anton C. Zijderveld, Rotterdam . Valentin Zsifkovits, Graz Herausgegeben von Horst Jürgen Helle, München' Jan Siebert van Hessen, Utrecht Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br.· Nikolaus Lobkowicz, München Arnold Zingerle, Bayreuth

Band 20

Helmuth Plessner oder

Die verkörperte Philosophie Von Hans Redeker

DUßcker & Humblot . Berliß

Dieses Buch kam mit der unentbehrlichen Hilfe des Prins Bemhard Fonds zustande.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Redeker, Hans: Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie / von Hans Redeker. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1993 (Sozial wissenschaftliche Abhandlungen der GörresGesellschaft; Bd. 20) ISBN 3-428-07666-4 NE: Görres-Gesellschaft zu Pflege der Wissenschaft: Sozial wissenschaftliche Abhandlungen der ...

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-4999 ISBN 3-428-07666-4

Vorwort Am 4. September 1992 jährte sich der Geburtstag des Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner zum hundertsten Mal. Als er am 12. Juni 1985 starb, hinterließ er einen umfangreichen intellektuellen Nachlaß. Sein Oeuvre, dessen Edition unter dem Titel "Gesammelte Schriften~ 1985 abgeschlossen wurde, umfaßt 10 Bände - neben den großen Werken, wie "Die Stufen des Organischen und der Mensch~ (1928) und "Lachen und Weinen~ (1941) auch zahlreiche kleinere Schriften, Essays und Vorträge. Wer ihn gelesen und studiert hat, weiß, daß es nicht immer leicht ist, Plessner zu folgen. Sein Denken war nie einfach, und die Probleme und Themen, mit denen er sich beschäftigte und auseinandersetzte, waren vielfältig und unterschiedlich. Bis jetzt gab es keine Studie, die uns hilft, das Ganze zu übersehen und in seiner strukturellen Einheit zu verstehen. Das vorliegende Buch aus der Feder des niederländischen Autors Hans Redeker (1918-1992) trägt nun auf ausgezeichnete Weise dazu bei, diesen Mangel zu beseitigen. Es versucht die systematische Einheit des Plessnerschen Denkens darzustellen, indem es die methodologischen Grundlagen und die theoretische Verbundenheit mit Kant, Dilthey und Husserl analysiert und deutet. Das Buch ist mehr als eine verkürzte Zusammenfassung der Plessnerschen Schriften, da es einen Überblick und eine Deutung der von PIes sn er entworfenen Philosophischen Anthropologie bietet.

Die Persönlichkeit Hans Redekers vereinigt Eigenschaften, die sich als günstige Voraussetzung für die Lösung dieser schwierigen Aufgabe erwiesen haben. Erstens war Redeker nach dem Kriege Plessners Schüler und Assistent, als dieser Ordinarius an der Universität von Groningen war. Er fing mit dem Manuskript in den sechziger Jahren an und bearbeitete es weiter in den siebziger Jahren. Plessner hat es noch gelesen; sein Urteil fiel überaus positiv aus: er kenne keine zutreffendere Darstellung seines Denkens. Das Buch, so könnte man also sagen, wurde von Plessner autorisiert. Redeker hat es übrigens immer bedauert, daß sein Lehrer und Freund das Manuskript nicht mehr im Druck gesehen hat. Tragisch ist es, daß auch Redeker selbst dies nicht mehr erleben konnte: einen Tag, bevor entschieden wurde, daß sein Buch in Deutschland erscheinen würde, starb er in einem Amsterdamer Krankenhaus. Es gibt noch einen zweiten Grund für die besondere Eignung Redekers, dieses Buch zu schreiben: er war nicht nur Philosoph, sondern vor allem auch

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Vorwort

Kunstkritiker. Mehr als die meisten Fachphilosophen hatte er daher Verständnis für Plessners Philosophie der Sinne. Schließlich war Redeker während des größten Teils seines Lebens als Publizist tätig. Dies ermöglichte ihm komplexe und schwierige Gegenstände klar und verständlich darzustellen, ohne zu simplifizieren. Plessner hat sechzehn Jahre seines langen Lebens in den Niederlanden gelebt und gearbeitet. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er 1933 von der Kölner Universität entlassen. Er emigrierte und lebte vorübergehend in Istanbul. Nachdem ihm bereits 1934 eine Privatdozentur an der Groninger Universität angeboten worden war, wurde er 1939 dort Ordinarius für Soziologie. 1943 wurde er von den deutschen Besatzungsbehörden wieder entlassen. Nach dem Kriege nahm er jedoch wieder seine soziologische Lehrtätigkeit in Groningen auf, bis er 1961 von der Universität Göttingen auf einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie berufen wurde. Plessners Einfluß auf die niederländische Philosophie und Soziologie blieb auf kleinere Kreise beschränkt, war aber dort umso nachhaltiger. Er war geistig und oft auch persönlich mit intellektuellen Wortführern wie Van der Leeuw, Buytendijk, Pos und Beerling verbunden. Auch waren einige der heutigen Universitätsprofessoren in den Fächern Philosophie und Soziologie seine Schüler. Plessners Einfluß hätte bestimmt größer sein können, wenn die holländische Soziologie sich nicht nach dem Zweiten Weltkriege radikal von der deutschen (kantianischen und phänomenologischen) Tradition, zu der Plessner immer gehörte und sich auch bekannte, abgewandt hätte zugunsten der anglo-amerikanischen Tradition und verschiedenen, sich meistens schnell abwechselnden europäischen Modeströmungen in den Sozialwissenschaften und der Sozialphilosphie (z. B. Existentialismus, Strukturalismus, Hermeneutik, Kritische Theorie, Postmodernismus). In dem heutigen anti-humanistischen Klima kann die Philosophische Anthropologie schlecht gedeihen. Ich glaube aber, daß sie nach wie vor als Grundlage der Sozialwissenschaften mehr zu bieten hat als die genannten Modeströmungen, die oft mehr das Gemüt befriedigen als den Verstand erhellen. Persönlich fing ich an, Plessner zu lesen, als ich in Amerika Peter Bergers Assistent wurde. Mir war nämlich deutlich geworden, daß .. Plessner~ ein großer Name in der Soziologie und Philosophie an der New School for Social Research (New York City) war - diesem Zuhause vieler hervorragender europäischer Intellektueller, die in den dreißiger Jahren dem Naziterror entflohen waren. Plessner hatte in den siebziger Jahren als Inhaber der Theodor Heuss Gastprofessur an der New School gelesen. Anders als die holländischen Plessner-Schüler hielten Berger und ich es für wichtig, Plessners Werke neben die philosophische Anthropologie und Soziologie Arnold Gehlens zu stellen und beide miteinander kritisch zu vergleichen. Sie sind sich ähnlich (biologische Ansätze mit einer prinzipiellen Überschreitung der Biologie, naturwissen-

Vorwort

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schaftliche Fundierung der philosophischen Soziologie als Geisteswissenschaft), es gibt aber auch große Unterschiede (Plessners Phänomenologie gegenüber Gehlens Pragmatismus, Plessners Humanismus gegenüber Gehlens Konservatismus, Plessner als Opfer eines Regimes, mit dem Gehlen kollaborierte, u. a. m.). Übrigens muß ich gestehen, daß es - genau wie bei Georg Simmel - vor allem die kleineren Schriften und Vorträge waren, die mich gefesselt und beeinflußt haben. "Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus~ (1924), "Zur Anthropologie des Schauspielers~ (1948), "Das Lächeln~ (1950), "Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung" (1960) und viele andere Schriften sind wahre Perlen. Durch Redekers Buch bin ich jetzt imstande, diese Ideen und Gedanken in der Totalität der Plessnerschen Philosophie zu sehen und zu verstehen. Hat man Redeker gelesen, dann liest man auch Plessner wieder neu. Anton C. Zijderveld Erasmus Umversität Rotterdam Der Herausgeberkreis der "Sozialwissenschaftlichen Abhandlungen der hat den Vorschlag von Anton C. Zijderveld, Hans Redekers Schrift über Plessner zu drucken, gerne aufgenommen. Zijdervelds Vorwort weist auf die Gründe hin, die dafür maßgeblich waren. Sie liegen einmal in der Bedeutung des Gegenstandes, auf den sich Redekers Schrift bezieht, zum anderen in den Vorzügen der Schrift selbst. Ein weiterer Grund kommt jedoch hinzu. In Anbetracht der gegenwärtigen Lage der Wissenschaften vom Menschen erscheint es geboten, wieder an Plessner zu erinnern. Besonders willkommen ist dabei, daß die vorliegende Schrift die Einheit des Plessnerschen Werkes von seinen philosophischen Grundlagen her entfaltet und damit nicht nur - wie es die Inhaltsangabe des Autors zur Schlußbetrachtung zum Ausdruck bringt - "Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie und Soziologie als Einheit und System~ darstellt, sondern zugleich begründet, weshalb sie als "eine noch immer aktuelle Antwort auf die Problematik der westlichen Philosophie in der Krisis dieses Jahrhunderts~ anzusehen ist. Görres-Gesellschaft~

Die von Redeker überzeugend dargestellte systematische Verbindung von Philosophie und Soziologie im Werk Plessners rechtfertigt auch die Aufnahme der Schrift in eine sozialwissenschaftliche Reihe - nicht trotz, sondern gerade wegen ihres philosophischen Schwerpunkts. Damit wird angesichts von Tendenzen, die besonders an der Soziologie der Gegenwart zu beobachten sind, ein bewußter Akzent gesetzt. Neben dem dort schon seit längerer Zeit sich einstellenden Pluralismus der Richtungen und Paradigmen verbreiten sich neuerdings Unübersichtlichkeit und Unverbindlichkeit in den methodologisehen Grundlagen: in dieser Situation reicht eine rein formale Kommunikationspragmatik nicht mehr aus, um das zu stiften und aufrecht zu erhalten, was der Terminus "Scientific community" zum Ausdruck bringt. Gerade angesichts

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Vorwort

der notwendigen Pluralität von Richtungen, Methoden und Perspektiven wäre es angezeigt, das Gemeinsame in substantiellen Minima im Grenzbereich zwischen Philosophie und Soziologie aufzusuchen, zu denen eben das Werk Plessners - auch über seinen Beitrag zur "Philosophischen Anthropologie~ hinaus - ein unentbehrlicher Wegweiser ist. Um die Publikation der Arbeit von Redeker im Deutschen und - wie zu hoffen ist - auch im Niederländischen zu ermöglichen, ist in Den Haag unter dem Vorsitz von Prof. J.F. Glastra van Loon (Universität Leiden) ein "Comite Helmuth Plessner" gegründet worden. Von diesem erhalten wir folgende zusätzliche Angaben zur Biographie des Verfassers. Hans Redeker (1918-1992) studierte in den Jahren 1936 - 1949 zuerst Jura in Utrecht und Groningen (mit einer Unterbrechung von 1942 bis 1945), danach Soziologie, Philosophie und Kunstgeschichte in Groningen. Aus dieser Zeit stammen auch dichterische Arbeiten, die durch den Graphiker H.N. Werkman gedruckt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als er in Groningen Assistent bei Plessner war, veröffentlichte Redeker eine umfangreiche Studie über den Existentialismus sowie eine Plessner gewidmete kunsttheoretische Schrift, "De dagen der artistieke vertwijfeling" (beide Bücher erschienen in Amsterdam beim Verlag Oe Bezige Bij, das erste 1949, das zweite 1950). In diesen Jahren übersetzte er auch verschiedene Bücher von Erich Fromm und Bertrand Russell ins Niederländische. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde er vor allem als Kunstkritiker bekannt, ebenso als Verfasser zahlreicher Monographien auf dem Gebiet der bildenden Kunst, in denen er seine Auffassung philosophischer "Kunstbetrachtung~ ("kunstbeschouwing~) zur Geltung brachte. Wie Redeker auf dem Titelblatt seines Manuskripts vermerkt, entstand die erste Fassung der Arbeit im Sommer der Jahre 1965 und 1966 sowie im 2. Halbjahr 1967 in Les Arcs und Küssnacht dank einer Beihilfe des Prins Bernhard Fonds. Die Übersetzung wurde im Auftrag des "Comite Helmuth Plessner" erstellt von Sibylle Sänger; sie wurde finanziell durch die Universität Groningen sowie private Beiträge ermöglicht. Im Namen der Herausgeber der Reihe danke ich außerdem für die Vermittlungen und Hilfestellungen, die der Drucklegung des Manuskripts vorausgingen: Herrn Zijderveld, dem Comite Helmut Plessner (vor allem den Herren Glastra van Loon, Vorsitzender, und Laansma, Sekretär), ferner Herrn van Engeldorp Gastelaars. Besonderer Dank gilt schließlich dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Simon, für sein Engagement und sein Entgegenkommen. Arnold ZingerIe Universität Bayreuth

Inhaltsverzeichnis Einleitung:

Helmuth Plessners Philosophie als System. .................. .......

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Erstes Kapitel:

Husser~

Dilthey und Kant - die drei Hauptwurzeln von Plessners Denken. .......... ... .... .... ..... ... ........ .... ............ .... ..... ......

19

Die Theorie der Intentionalität und ihre Konsequenzen. ................ .... ........... ... 1. Bewußtsein ist intentionaL...... ................................... ............ .... ............ .......... 2. Bewußtsein ist ein Sichtranszendieren. ..... ........ .... .... .... .................................. 3. Intendierendes Bewußtsein ist angewiesen auf etwas, das sich gibt.. ........... 4. Intentionales Bewußtsein umfaßt das gesamte Gebiet von menschlichem Erleben und Erfahren. ........... .................. .... ........ .... .... ............ .... ... ........ .......... 5. Philosophie der Intentionalität erfüllt sich nur als Philosophie des Menschen: philosophische Anthropologie. ..... .... .... ........ .... .... ............ .... .... .... .... .... ........ ... B. Dilthey und das Problem der menschlichen Historizität. .................................. C. Kants Kritik als System......... ..... ................................... ...................................... A.

21 21 23 24 25 27 31 39

Zweites Kapitel: Plessners philosophische Anthropologie als radikale Skepsis und systematische Kritik des historischen Menschen auf der Grundlage einer Philosophie des Organischen und mit phänomenologischen Mitteln. ......................

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Fruchtbarkeit und Grenzen der phänomenologischen Methode. ...................... B. Husserl und Dilthey. ............................................................................................ c. Die hermeneutische Trias: Erleben, Ausdruck und Verstehen. ......................... D. Historismus, Nihilismus und die menschliche Natur.................. ....................... E. Von der Hermeneutik zur Ästhesiologie von Geist und Körper. ...................... F. Die "Bedeutung der Sinne in Kants Schematismus......................................... G. Ästhesiologie als Kritik des sinnlichen Geistes. ......... ............................ ........... H. Philosophische Anthropologie als Skepsis, Skepsis als System. ...................... I. Das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen. ..................... ...................... I. Die Notwendigkeit einer Philosophie des Organischen. ................................... K. Die Notwendigkeit, "das Leben unter einem Gesichtspunkt zu begreifen"..... L. Philosophie vom Menschen als dem "offenen Wesen

54 57 59 60 61 65 67 68 71 75 76 78

Drittes Kapitel: Doppelaspektivität als fundamentaler Gesichtspunkt von Plessners Philosophie des Organischen und des Menschen.

80

A.

M

M

• ....................................

A. Der Gesichtspunkt der Doppelaspektivität. ................................. ....................... B. Der fundamentale Platz der Doppelaspektivität als Erscheinungsweise im

System von Plessners Philosophie...... .... ............ ................................................

83 87

10

Inhaltsverzeichnis

Viertes Kapitel: Grundlagen einer Philosophie des Organischen im Hinblick auf den Menschen....................................... ............ ....... A. Die These: Leben als erscheinende Doppelaspektivität. ...................................

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D. Zwischenbilanz ....................................................................................................

91 99 106 110

Fünftes Kapitel: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise bei Pflanze und Tier.......................................... .... ......... ... .......... ...

113

A. Organismus, Positionsfeld und Lebenskreis. ..................................................... B. Die Organisationsform von Pflanze und Tier.....................................................

113 123

Sechstes Kapitel: Grundlagen der philosophischen Anthropologie. ...............

143

A. Von der frontalen zur exzentrischen Position. ................................................... B. Das Exzentrische bei Mensch und Tier. ............................................................. C. Genauere Bestimmung der Exzentrizität. ................. .......................................... D. Die Welten des Menschen.................................................................. ................. E. Die drei anthropologischen Grundgesetze. ........................................................

143 146 148 151 155

Siebtes Kapitel: Aspekte der Körperlichkeit....................................... .............

162

A. Verhalten, Ausdruck und Haltung....................................................................... B. Sprechen, Handeln und Gestalten.. .... .... .... .... .... ............ ............ .... .... .... .... ... ... ...

162 170

Achtes Kapitel: Der Mensch und seine Sinne..................................................

180

B. Ästhesiologie als System.....................................................................................

A. Ästhesiologie und philosophische Anthropologie..............................................

c. Exzentrische Position und sinnliche Körperlichkeit. ..... .... .... ..................... .......

180 186 193

Neuntes Kapitel: Philosophie des Menschen in Umgang und Gesellschaft...

213

A. Exzentrische Position als sozialphilosophischer Ausgangspunkt. ....................

B. Kategorien des gesellschaftlichen Umgangs. .....................................................

213 221

Zehntes Kapitel: Schlußbetrachtung...... .... .... .... .... ........ .... ............ .... ............ .....

229

Biographische Notizen ...........................................................................................

238

Bibliographische Notizen ......................................................................................

240

B. Von der Doppelaspektivität zur Positionalität... ... ............ .... .... .......... ..... ........ ...

c. Organisation - Potentialität - Aktualität. ...........................................................

Einleitung

Helmuth Plessners Philosophie als System Für den Autor ist dieses Buch in erster Linie die Erfüllung eines lange gehegten und bisher unerfüllbar gebliebenen Wunsches, ja, sogar die Einlösung eines sich selbst gegebenen Versprechens, das nach so vielen Jahren noch nichts von seinem Sinn verloren zu haben scheint: demjenigen eine Studie zu widmen, der ihm in entscheidenden Jugendjahren den Weg zum Philosophieren gewiesen hat und dessen Philosophie, in vielen kleineren und größeren, teils schwer zugänglichen Publikationen verstreut, bisher seiner Meinung nach in einem zu kleinen Kreise studiert und in ihrer wahren Bedeutung erkannt wurde. Dabei ist er sich dessen bewußt, in seiner Dankbarkeit für viele andere, vor allem in den Niederlanden zu sprechen. Denn unter den eminenten deutschen Geistern, die durch das Aufkommen des Nazismus und die Terrorherrschaft des Antisemitismus aus dem eigenen Land vertrieben wurden und in unserem Land eine definitive oder zeitweilige Bleibe gefunden haben, war der ehemalige Kölner Philosoph Helmuth Plessner, der durch seinen Geistesverwandten, Prof. Dr. F.J.J. Buytendijk schon 1924 unser Land kennengelernt hatte, zweifellos derjenige, der mit seiner brillanten, inspirierenden Persönlichkeit am aktivsten und fruchtbarsten an der Erneuerung des philosophischen Lebens in unserem Land teilgenommen hat und dessen stimulierender und weitreichender Einfluß auf Viele noch immer zu erkennen ist. Auch bis weit über die Universität von Groningen hinaus, wo er als Dozent tätig war, zunächst als Soziologe, zuletzt, von 1946 bis er 1951 nach Göuingen ging, als Ordinarius der Philosophie. Die Anerkennung für den Beitrag, den er siebzehn Jahre lang für das universitäre und geistige Leben in unserem Land geleistet hat, kam unter anderem in der Ehrendoktorwürde, die ihm 1964 von der Rijksacademie von Groningen verliehen wurde, zum Ausdruck. Was noch zu tun blieb, war das Schreiben einer zusammenfassenden Einleitung zu seiner Philosophie, die bisher fehlt. Nicht eine Einführung in Aspekte und Details, die in der heutigen Literatur schon zum Gemeingut gehören, sondern in das systematische Ganze, auf das der Überblick, vor allem auch durch die Zäsuren in seinem Leben, größtenteils verloren gegangen und sogar niemals genügend entwickelt war.

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Einleitung: Helmuth Plessners Philosophie als System

Helmuth Plessners Kommen in die Niederlande, als Mann von vierzig in der Blüte des Lebens, mag für unser Land äußerst fruchtbar gewesen sein. Für ihn jedoch als Philosophen reinsten Wassers, der von jetzt an vor allem auf soziologische Lehrstühle berufen werden sollte, bedeutete es den niemals mehr ganz gekitteten Bruch mit einer geradezu überwältigend begonnenen Aktivität und einem imposant begonnen Oeuvre als Philosoph. Und dies trotz seiner in den Niederlanden geschriebenen Publikationen "Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche" von 1935, 1959 als "Die verspätete Nation" neuaufgelegt und noch immer eine der besten Analysen des Problems "Deutschland" und dem brillanten Essay "Lachen und Weinen" von 1940, das sein am meisten gelesenes Buch werden sollte. Auch trotz der vielen kleineren Artikel und Beiträge nach dem Krieg wie "Conditio humana", das teils mit älteren, antiquarisch gewordenen Essays und Artikeln in "Zwischen Philosophie und Gesellschaft" (1953) und "Diesseits der Utopie" (1966) zusammengefaßt wurde; Sammelbänden, in denen, wie die Titel schon andeuten, das Sozial-philosophische dominiert. In Deutschland, wo er am 4. September 1892 in Wiesbaden geboren wurde, begann es schon 1913, als er, kaum zwanzigjährig, an der Universität Heidelberg als Student der Zoologie mit der übermütigen und - im Nachhinein betrachtet - vor allem kuriosen Jugendschrift "Die wissenschaftliche Idee", mit der er, der sich bisher nur nebenher mit Philosophie beschäftigt hatte, die Aufmerksamkeit des damals schon betagten Windelband erregte. Sein eigentliches philosophisches Debut kam nach einigen Jahren des Studiums bei Husserl (die philosophisch mit einem Bruch endeten), mit der Dissertation "Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang" von 1918. Diese Dissertation ist schon äußerst kennzeichnend eine vergleichende kritische Konfrontation der transzendentalen und phänomenologischen Methode von Kant und Husserl, die in einem "Unentschieden", einer beiderseitigen Relativierung der absoluten Ansprüche der beiden auf die fundamentale Methode endete. Aber auch das wird nur der Auftakt zu seinem eigentlichen Beitrag, der schnelle Fortschritte machte, vor allem seit er 1920 von Max Scheler an die neue Kölner Universität geholt worden war, .,das neue Alexandria des modernen Denkens". So erschien 1923 "Die Einheit der Sinne", ein erstes, - im Nachhinein betrachtet - bahnbrechendes Konzept einer Sinneslehre des Geistes. Im darauffolgenden Jahr erschien seine erste und noch immer fundamentalste sozialphilosophische Schrift "Grenzen der Gemeinschaft" und 1928 sein philosophisches Hauptwerk: "Die Stufen des Organischen und der Mensch".

Von einem vierten Buch, "Macht und Menschliche Natur", das beim Aufkommen von Hitler in Vorbereitung war, haben höchstens einige Exemplare den Verlag verlassen dürfen: der Abschied von Deutschland stand bevor. Dennoch hatte es auch auf "die Einheit" und "Grenzen" fast kein Echo gegeben. Auf des Erste, weil die Problematik außerhalb des augenblicklichen

Einleitung: Helmuth Plessners Philosophie als System

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Interesses lag, auf das Zweite, weil man es, übrigens zu Recht, aber ohne zum philosophischen Gehalt durchzudringen, für einen, auch in den Tagen schon äußerst wenig wohlgefälligen Anfall auf Formen der Gemeinschaftsverherrlichung sah, wie sie später im Hitlerdeutschland ihren diabolischen Triumph feiern sollten. Und sogar "die Stufen" litten in bezug auf breiteres Verständnis einerseits unter der großen Popularität Max Schelers, dessen philosophisches Testament "Die Stellung des Menschen im Kosmos" fast gleichzeitig erschien, andererseits unter dem imposanteren und stärker appellierenden Charakter der sich gleichzeitg manifestierenden "Existenz-Philosophie", vor allem verkörpert durch Heidegger und dessen "Sein und Zeit... Seither kennt man oder meint man jedenfalls, Helmuth Plessner vor allem als Autor von "die Stufen" und von "Lachen und Weinen" zu kennen, als Philosophen der "exzentrischen Position" und in internationalen Soziologenkreisen als Theoretiker des Rollenbegriffs und des Menschen als "Doppelgänger seiner selbst". Und damit bekam er seinen Platz als einer der Repräsentanten - allerdings einer der ersten - einer "philosophischen Anthropologie", die von u.a. Max Scheler bis Bollnow, Rothacker und Gehlen zusammen mit Ontologen und Existenzphilosophen wie Heidegger, Jaspers, Sartre, Merleau-Ponty und vielen anderen, auf Grund ihrer gemeinschafltichen Relation zu Husserls Phänomenologie, trotz aller Divergenzen, zu einer großen Strömung westeuropäischen Denkens gerechnet werden. Diese Richtung übernahm in den zwanziger Jahren innerhalb der deutschen Philosophie die Führung von den Neokantianiern, um darauf, zum Teil in der Diaspora, bis weit darüber hinaus ihren Einfluß auch in den meisten Humanwissenschaften geltend zu machen. Im Hinblick auf die zu geringe und zu fragmentarisch gebliebene Bekanntheit mit Plessners gesamtem Werk und seiner wahren Bedeutung als Philosoph, könnte man sagen, daß ein Buch wie dieses, das gerade diese Lücke füllen will, genügend Existenzberechtigung hat, und sei es nur aus historischem Gesichtspunkt. Vor allem da sich nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in Amerika so etwas wie eine Neuentdeckung Plessers abzuzeichnen beginnt. Aber augenscheinlich ist es in bezug auf die heutige philosophische Situation anders bestellt und gibt es dringlichere und "aktuellere" Dinge, vor allem in den Regionen, zu denen die Niederlande gehören, als wieder ein Buch über philosophische Anthropologie. Es ist schließlich schon seit Jahren deutlich, daß phänomenologische Ontologie, Existenzphilosophie und philosophische Anthropologie an Boden verlieren, um Platz zu machen für Strömungen wie den französischen Strukturalismus, für sprachwissenschaftliche und linguistische Tendenzen oder für eine Renaissance des Neo-Positivismus.

Soweit dies das verschobene Interesse, die Popularität und das "Echo" innerhalb anderer als philosophischer Kreise betrifft, kann dieser Prozeß des Sich angezogen- und "Verwandtfühlens", dieses Sicherkennen als explizite Form der Selbstbestätigung zur philosophischen Problematik ebensowenig

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Einleitung: Helmuth Plessners Philosophie als System

beitragen, wie die Rage des "Existentialismus" das zu ihrer eigenen Blütezeit getan hat. Philosophie ist schließlich genau das Gegenteil: das immer wieder kritisch Bezweifeln und Erforschen gerade der eigenen verborgenen Grundlagen und vermeintlichen Sicherheiten in einer systematischen und radikalen Skepsis. Aber wie jeder "Ismus" doch auch in gewisser Hinsicht eine philosophische Situation widerspiegelt, so ist auch die Richtung, zu der die "philosophische Anthropologie" gehört, deutlich als philosophisches, kreatives Ferment an den eigenen Grenzen gestrandet, als wenn sie ihre "historische Mission" erfüllt hätte, wie jedes historische System von Lebensorganisation und Denken nicht mehr im Stande, die eigenen Grenzen zu durchbrechen. Aber um welche Grenzen geht es hier? Darauf schon jetzt zu antworten, wäre nichts anderes als ein Vorgreifen auf dasjenige, was nur eine philosophische Analyse entdecken kann. Soviel kann jedoch schon im voraus gesagt werden. Wenn es sich zeigt, daß die Phänomenologie als fundamentale Methode (oder wie viele bevorzugen "Haltung") trotz des Fruchtbaren vor allem erkenntnis kritisch immer deutlicher ihre Mängel zeigt, wenn die "Existenzphilosophie" (hier eben in gefährlich generalisierender Allgemeinheit zusammengefaßt), sowohl in der deutsch-bürgerlichen, romantischen, "heroischen" Flanke a la Heidegger als auch in der französisch-linksintellektuellen von Sartre und in der ganzen Überbetonung von Tod, Angst, Nichts, Ekel oder Scheitern, eine zu einseitige Basis für eine wirklich ganzheitliche Theorie des menschlichen Lebens im gesamten Zusammenhang von Aspekten, Möglichkeiten und Problemen ist, dann kann das philosophisch nicht anders beantwortet werden als indem man zu den expliziten und impliziten Grundlagen, d.h. tiefer als die Grundlagen durchdringt. Jedes Fragen nach den Grenzen und Möglichkeiten, nach der "Tragkraft.. und Gültigkeit einer Philosophie, jeder Philosophie, verweist auf den Ursprung, sowohl in problemhistorischem als auch in fundamentalphilosophischem Sinn. Da geht es nicht mehr um Existenzphilosophie oder philosophische Anthropologie, sondern um Philosophie ganz allgemein, um dieses letzte Hinterfragen der Philosophie ihrer selbst, die Frage nach der Möglichkeit von Philosophie .,überhaupt". Und genau an diesem Punkt zeigt es sich, daß gerade Helmuth Plessner genau betrachtet an der heutigen philosophischen Situation gemessen, hochaktuell ist. Dies ist jedenfalls die These, die diese "Einleitung zur Philosophie von Plessner" aufstellen möchte. Oder mit einer freien Variante des Kampfrufes aus der Zeit vor einem Jahrhundert als auch die großen Systemkonstruktionen der Idealisten ihren Glanz verloren hatten: Es muß auf Plessner zurückgegriffen werden.

Es ist als historische Tatsache schwer anzufechten, daß Plessner und Scheler sich um die wahre., Vaterschaft" einer philosophischen Anthropologie, wie sie sich in den vergangenen vierzig, fünfzig Jahren entwickelt hat, streiten könnten. Durch die beschränkte Bekanntheit einiger Aspekte von "Stufen" und

Einleitung: Helmuth Plessners Philosophie als System

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"Lachen und Weinen" übersah man die fundamentalere Tatsache, daß das gesamte Philosophieren von Plessner von Anfang an ein kritisches Fragen nach den Möglichkeiten nicht nur einer philosophischen Anthropologie, sondern des Philosophierens in unserem Jahrhundert als Solchem und bereits von Anfang an aus einer kritischen Position in bezug auf die Phänomenologie als methodischem Fundament ist. So übersah man, mit einigen Ausnahmen, daß die Ursprünglichkeit seiner Philosophie und gleichzeitig die Grundlage seines kritischen Abweisens sowohl von Scheler als auch von Heidegger und der Existenzphilosophie in der ebenso ursprünglichen Weise wurzelte, in der er, ganz anders als die Neokantianer, die Herausforderung von Kants Kritizismus in seiner Philosophie verarbeitete. So müßte man gerade jetzt wiederentdecken, in welchem Maße Plessner, der noch vor der philosophischen Anthropologie von "die Stufen" in "die Einheit der Sinne" als einer Sinneslehre von der allesumfassenden Weise, in der der Mensch sich in Sprache und Kunst, Wissenschaft und Philosophie "ausdrückt", (d. h. das Leben als "Geist" unter Diltheys Kategorie "Ausdruck" eingeordnet) uns den Entwurf für eine Basistheorie gegeben hat, ohne die jede Strukturanalyse des Lebens als Sprache philosophisch in der Luft hängen bleibt. Und so hat man auch noch nicht in ausreichendem Maße erkannt, wie sehr er in derselben Entwicklungsperiode seiner Philosophie schon mit "Grenzen der Gemeinschaft" in Form einer ersten Skizze eine Philosophie des Sozialen entwickelte, zu der die spätere existentialistische Entwicklung nicht mehr im Stande sein sollte, die auf Grund ihres Ausgangspunktes sich auf die streng "interindividuellen Beziehungen" beschränken mußte. Hier wurde ausdrücklich von "Entwurf'" und "Skizze" gesprochen weil diese beiden wichtigen Gebiete von Plessners Betrachtung des Menschen, die vor den "Stufen" entstanden sind, von ihm selbst nur in kurzen oder beiläufigen Kommentaren oder Verweisen in seine schließliche fundamentale Philosophie vom Menschen integriert wurden, im Gegensatz zum späteren "Lachen und Weinen" das man als eine Ausarbeitung in Essayform eines Fragments von "die Stufen" lesen kann, zur Demonstration seiner Lehre vom menschlichen Verhalten an zwei spezifischen "Grenzphänomenen". Trotzdem gehören die Ästhesiologie der menschlichen Kultur und die Philosophie des Sozialen nicht zufällig zu seinem Werk und ebensowenig zufällig gerade zu den Gebieten, wo unter anderem die Existenzphilosophie als fundamentale Theorie vom menschlichen Leben am deutlichsten ihre Mängel zeigte. Es wird sich zeigen, daß die fundamentale Bedeutung von Plessners Philosophie für die heutige Situation, für die bestehende Sackgasse von phänomenologischem und existentialistischem Denken, aber auch für die Grundprobleme jeder strukturalistischen und sprachanalytischen Behandlung des Lebens nämlich darin wurzelt, daß er bereits direkt an der Basis selbst seiner Theorie des menschlichen Lebens einerseits höher in der Dimension von Kultur und Geschichte,

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Einleitung: Helmuth Plessners Philosophie als System

Gesellschaft und Sprache ansetzt als der .,objektive Geist" a la Hegel, die .,symbolischen Formen" a la Cassirer, andererseits und gleichzeitig tiefer in der vitalen, organischen und am stärksten .,animalischen" Dimension unserer körperlichen Existenz, einschließlich der Sinne. Um diesen entscheidenden Aspekten von Plessners philosophischem Denken theoretisch gerecht zu werden, wird eine Einleitung in seine Philosophie als Ganzes niemals mit dem üblichen Instrumentarium von Erklärung und Zusammenfassung, Referenz und Komprimierung, einer kurzen und erklärenden Übersicht, auskommen. Ich meine, die Bescheidenheit dieser Aufgabe hier im voraus konstatieren zu müssen: jeder persönliche Beitrag, jede Fortsetzung und jeder Ausbau dessen, was Plessner angefangen hat, bleibt für kommende Publikationen bewahrt, jede ausführliche Konfrontation mit anderen modernen Denkern und Systemen unterdrückt, so lange nicht erst der Blick auf den philosophischen Gehalt von Plessners Werk in fundamentalem Sinn und als Gesamtheit freigemacht wurde. Aber darin ist dann auch die Herausforderung enthalten, in Plessners Werk als Gesamtheit, das System, die große philosophische "Architektur" zu entdecken, die implizit darin versteckt ist, jedoch explizit niemals von ihm selbst als solche entwickelt wurde. Es bedeutet unter anderem, frühere Schriften wie .,die Einheit", "Grenzen" und "die Deutung des mimischen Ausdrucks" (aus einer Amsterdammer Zusammenarbeit mit Buytendijk entstanden) in ihrem doppelten Verhältnis zu "die Stufen" und späteren Schriften zu verarbeiten: einerseits problemhistorisch als Vorbereitung, andererseits systematisch als Gebiete einer allgemeinen Theorie des menschlichen Lebens auf der Grundlage von .,die Stufen", die im nachhinein interpoliert werden müssen und daraus sowohl zu interpretieren als auch zu revidieren. "Helmuth Plessners Philosophie als System" könnte daher in bezug auf die Planung ein angemessener Titel sein. Sicher als Verweis auf seinen eigenen .,Anhang" von "Die Einheit der Sinne": "Kants System unter dem Gesichtspunkt einer Erkenntnistheorie der Philosophie". Denn es ist dieser Anhang, das einzige, was von seiner Habilitationsschrift "Studien zu einer Kritik der Philosophischen Urteilskraft" im Druck erschienen ist, der mir auf überraschende Weise ziemlich spät den Schlüssel zum wahren und ursprünglichen Charakter der Problematik, vor die er sich als Philosoph gestellt sah, in die Hände gab: nach Dilthey, Husserl und Scheler, nach Nietzsche oder Bergson, nach Historismus, Phänomenologie, Vitalismus und den anderen Dominanten, die die Philosophie des menschlichen Lebens in unserem Jahrhundert beherrschen, auch diese Philosophie noch einmal einem letzten Urteil zu unterwerfen, wie Kant das getan hat, sie einer letzten Selbstkritik zu unterwerfen, einem letzten Fragen nach den Kriterien für eine Legitimation des Philosophierens in unserem Jahrhundert überhaupt. Daß ich schließlich im Titel.,die verkörperte Philosophie" bevorzugte, liegt an der Doppelsinnigkeit, die so gut zu diesem Philosophen des Doppelgänger-

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turns, der Doppel-Aspektivität und der Ambivalenz paßt. Denn wenn er mir einerseits als eine eigenartig authentische, lebendige Verkörperung des Philosophierens erschien, so verdankt er andererseits das Fundamentale und Persönlichste seiner Philosophie der Art und Weise, in der er philosophisch dem Menschen den Körper und mit dem Körper die Sinne wiedergegeben hat, die ihm theoretisch durch die "fundamentalisierte Dichotomie" von Geist und Körper von "res extensa" und "res cognitans" entfremdet worden waren. Es ist die oben skizzierte Aufgabe dieses Buches, die auch über Inhalt und Systematik entscheidet. Unter den Namen von Husserl, Dilthey und Kant werden die drei fundamentalsten Aspekte des Denkens im zwanzigsten Jahrhundert, innerhalb derer sich auch Plessner bewegt, behandelt: die Lehre von der Intentionalität, die über Husserls deskriptive "Wesensschau" zur philosophischen Anthropologie und Existenzphilosophie führte - der Aspekt der menschlichen Historizität, der in geisteswissenschaftlicher Perspektive zu Diltheys Hermeneutik führte - Philosophie als Kritik und Kritik als System, auf die Art wie Plessner aufs neue und unabhängig von den Neokantianern Kants Philosophie als Herausforderung an die Philosophie seines eigenen Jahrhunderts verstand.

Sie werden kurz getrennt als Grundlage für eine Untersuchung der Art und Weise, in der sie in Plessners eigener fundamentaler Problemstellung verantwortet und zur Einheit gebracht werden, behandelt. Danach folgt die theoretische Entfaltung von Plessners Philosophie als System, d. h. mit philosophischer Integration des Früheren, vor allem des ästhesiologischen und sozialen Aspekts innerhalb des Ganzen und auf Grund des systembestimmenden Prinzips. In einem ziemlich umfangreichen zentralen Teil (die Kapitel 4, 5 und 6) mußte dabei ziemlich genau und ausführlich Plessners eigener Explikation gefolgt werden, vor allem bei den beiden zuerstgenannten Kapiteln, da er einen ebenso fundamentalen wie schwierig geschriebenen Teil enthält, der unentbehrlich für ein richtiges Verständnis von Plessners Philosophie ist, aber im allgemeinen überschlagen wird. Weil es hier in erster Linie um Plessners philosophische Grundgedanken und ihre systematische Ausarbeitung ging, wurde, um die dem Umfang gesetzten Grenzen nicht zu überschreiten, die anfänglich geschriebene biographische Skizze für eine spätere, selbständige Publikation aufgehoben, ebenso wie eine erste Übersicht über Plessners Aktivitäten und seinen Einfluß in den Niederlanden. Das Gleiche gilt, wie bereits gesagt, für eine ausführliche kritische Konfrontation mit anderen aktuellen Strömungen und Persönlichkeiten, aber vor allem für einen weiteren persönlichen Ausbau und eine Revision dessen, was bei Plessner noch im Ansatz stehengeblieben ist, so wichtig und fruchtbar und noch niemals genügend in seinem Wert erkannt dieser Torso auch sein mag.

2 Redeker

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selbst" lür eine spätere Stufe, nämlich die menschliche aufbewahren). Wenn ein Gegenstand seine eigenen Grenzen als Aspektdivergenz, als Grenzüberschreitung am eigenen Rand hat, dann erscheint er in der doppelten Position von nach außen, sich selbst überschreitend und nach innen gerichtet. Erscheinende Doppelaspektivität läßt sich also genauer präzisieren als dieses doppelte Verhältnis, das sich als Erscheinungsweise nur intuitiv fassen, aber nicht mit anderen Mitteln demonstrieren läßt, sodaß sie außerhalb von Methode und Gesichtsfeld des wissenschaftlichen Forschers bleiben muß, der nur Randerscheinungen in den Händen hat. Aber mit diesen genaueren Bestimmungen von Über Sich Hinaus und Zu Sich Selbst, diesem in zwei Richtungen "Transzendierenden" (ein Ausdruck, den Plessner selbst nicht verwendet), wird aus der Erscheinungsweise des Lebendigen jetzt eine Seinsweise gewonnen: die erscheinende Doppelaspektivität placiert das Lebendige sowohl über sich hinaus als auch zu sich hin als die Art und Weise, in der es in bezug auf die Umgebung und zugleich innerhalb der eigenen Grenze existiert. Das "Transzendierende" im Besitzen der eigenen Grenze und damit des Grenzübergangs am Rand, der der Übergang zur Umgebung ist, gilt sowohl nach außen als auch nach innen. Plessner verwendet hierfür den Ausdruck "Setzen" (ponere, Positionalität), der deutlich seine Herkunft von Fichte und dem Idealismus verrät, aber jetzt eine allgemein biologische Bedeutung bekommt. Das Ringen um den "Ausgangspunkt" von kritisch-philosophischem Denken bekommt hier seine Antwort. Wenn in der fundamentalisierten Dichotomie das Denken oder das Bewußtsein die Instanz ist, die sich setzt (Fichtes "Das Ich setzt das Ich"), dann geht dem etwas viel Elementareres voraus: das Sein selbst ist schon ein "Gesetzt" -Sein, es ist direkt bei allem Anfang von Leben nach außen und nach innen gesetzt, placiert. Das Denken kann sich nicht setzen, wenn nicht schon eher das lebendige Sein selbst gesetzt ist, in Worten, die auch bei Plessner selbst tastende Andeutungen bleiben: "angehoben, In-Schwebe-Sein". Es ist die nicht ausdrücklich als solche vorgetragene Fundierung dessen, was schon eher als spezifisch lür Plessners Philosophie programmatisch entwickelt wurde: daß nämlich, wenn kritische Philosophie in philosophische Anthropologie mündet, diese wiederum zu einer Philosophie des Lebens, des Organischen durchdringen muß. So wird das doppelte Verhältnis zu sich selbst und über sich hinaus, das als eigentliche "Keimzelle" jeder Existenzphilosophie die Seinsweise des Menschen bestimmt, hier, wie elementar und unterschiedlich auch immer, bereits als fundamental in der Seinsweise alles Lebendigen entdeckt. In seiner Seinsweise unterscheidet das Lebewesen sich von dem Unbelebten durch seine Positionalität als ein ,.Gesetztsein" nach außen und nach innen, "außerhalb und innerhalb seiner". In radikalem Gegensatz zur Dichotomie, sowohl von "Körper" und "Geist" als auch von ,.Bewußtsein" und "Natur" wird diese Seinsweise unmittelbar und ungetrennt vom erscheinenden körperlichen Wesen aus entwickelt. Positionalität, erscheinende Doppelaspektivität sind kategoriale Seins bestimmungen

B. Von der Doppelaspektivität zur Positionalität

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verschiedener .,Körper", die sich gleichsam aus dem "Ding-Charakter" aber zugleich als grundlegender Unterschied zu anderen Dingen entwickelt haben. Dadurch lassen sie sich auch vorerst räumlich bestimmen. Alle Dinge sind räumlich, soweit sie sich irgendwo im Raum befinden, Raum einnehmen. Das Lebendige erscheint jedoch als seiner Umgebung gegenüber gestellt. Indem es mit der eigenen Grenze sich selbst überschreitet, wird das Lebendige "raumbehauptend" und nicht nur raumfüllend, wie alles andere. In diesem Bei-SichSein, dieser Abgegrenztheit gegenüber dem anderen, wodurch es sich jedoch gleichzeitig selbst überschreitet, "hat" das Lebendige "einen Platz". Damit erweckt Plessner bewußt einen aristotelischen Begriff, der später noch genauer ausgearbeitet werden soll, zu neuem Leben: Topos. Das Lebendige ist außerhalb seiner Räumlichkeit außerdem noch "raumhaft" außerhalb seiner selbst im Raum. Positionalität wird bei Plessner zu einer zentralen Kategorie in seiner Seinslehre des Lebendigen, als Wurzel dessen, was auch weiter das Lebendige bestimmen wird: Ponieren, Stellen, "Setzen", Poniertheit, Exponiertheit, räumliche Position, Topos, schließlich die exzentrische Position des Menschen. Obgleich die Positionalität als Grundbestimmung der Seinsweise des Lebendigen anfangs auf "statische Weise" aus ihren räumlichen Aspekten entwickelt wurde, enthüllt sie ihre wahre Bedeutung innerhalb von Plessners Philosophie doch vor allem in ihren spezifisch temporalen Kennzeichen, nochmals eine Verwandtschaft zwischen seiner Philosophie des Organischen und den sich nur auf den Menschen beziehenden Existenzphilosophien. Daß die Selbstbewegung für die nonnale vortheoretische Wahrnehmung das deutlichste Kennzeichen von Leben ist, kann möglicherweise nicht mehr als eine Indikation sein und alle möglichen Irrtümer oder "optischen Täuschungen" beinhalten, sie kann dennoch diese Rolle nur spielen weil Positionalität als Seinsweise Bewegung impliziert, jedenfalls dynamischen Charakter hat. Positionalität ist nicht nur nach außen, nach innen, sondern als doppelte Transzendenz Grenzüberschreitung, gleichzeitig und vor allem vor sich, zu sich zurück. Das Sein des Lebens enthüllt sich darin als ein Werden, hat einen "Prozeßcharakter" (IV S. 187). Außerdem impliziert dieselbe Distanz zu sich selbst - nach innen, nach außen, vor sich und zu sich zurück - die einzige Möglichkeit, die eigene Grenze zu "haben", das heißt, gleichzeitig als Identität zu bleiben und sich zu verändern. Wenn das Sein des Lebendigen sich als Werden bestimmen läßt, auf eine Weise, die stark an Hegels Dialektik des Seins erinnert, dann sind darin beide Komponenten unlöslich als die zwei Pole der Doppelaspektivität verbunden. Es ist jedoch auch hier, methodologisch gesehen, als notwendige Bedingungen einer Erscheinungsweise entwickelt worden, die dialektische Einheit von Bleiben und Verändern (von bleibender "quidditas" und verändernder "qualitas"), aber auch gleichzeitig von außerhalb seiner selbst treten

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und stehen, von Grenze und Offenheit, von Sein und Nicht-Sein. "Bleiben was es ist, und Übergehen sowohl in das was es nicht ist (über ihm hinaus) als auch in das, was es ist (in ihm hinein), müssen in Einem vollzogen werden, um die Art zu ergeben, wie das Organische ist" (IV S. 189). Werden kann nur, was bleibt und die Grenze als Geschlossenheit ist nötig für die Offenheit des Über-Sich-Hinaus-Tretens. Diese Einheit von Bleiben und Werden innerhalb einer Seinsweise, die spezifisch ist für das Lebendige, als dasjenige, was seine eigene Grenze realisiert, wird von Plessner anno 1928 terminologisch unter dem Begriff .. Prozeß" zusammengefaßt. Das bedeutet, daß das Lebendige bereits außerhalb seiner selbst und über sich hinaus ist, sich verändert und das doch nur tut als einzige Art und Weise, in der es Identität und Grenze wahren kann. Ebenso wie die Seinsweise des Menschen in der Existenzphilosophie läßt sich auch die alles Lebendigen nur als Einheit zweier gegensätzlicher Bestimmungen umschreiben. Das Lebewesen und sein .. Prozeß" (Veränderung, Werden) fallen zusammen, dürfen nicht getrennt, als eine "bestehende Substanz" betrachtet werden, an der Veränderungen stattfinden, wenn man nicht an der wahren Seinsweise des Lebens vorbeisehen will. Insoweit muß unsere bisherige vorläufige Beschreibung als bleibende Quidditas und verändernde Qualitas gerade als ein traditioneller Rest, der überwunden werden muß, durchgestrichen werden. Lebendig sein bedeutet verändern, werden und gleichzeitig darin existent bleiben. (IV S. 191) Obwohl der Vorwurf naheliegt, daß Plessner in einer solchen Dialektik sich weit vom Phänomenologischen entfernt hat und einer rein formalistischen Begriffsanalyse bedenklich nahegekommen ist, müssen wir ihm zum Zweck einer richtigen Beurteilung noch ein wenig folgen. Die spezifische Einheit von Bleiben und Werden, von Identität und Veränderung impliziert dann in bezug auf das Leben die Einführung eines neuen Begriffs: Typus oder Gestaltidee (IV S. 192). Einerseits ist der Prozeß nämlich die Art und Weise, in der das Lebewesen existiert und seine Begrenzungen als Grenzen realisiert, andererseits darf der Prozeß das "Konturieren" nicht zerstören, so sehr er als Prozeß spezifisch Veränderung ist. Und dieser Widerspruch läßt sich seinerseits nur durch eine ..sinngemäße Verteilung" (IV S. 191) aufheben: das Konturieren bleibt intakt, wenn keine Phase des Prozesses sich prinzipiell von der anderen unterscheidet, wenn auch diese Phasen eine bleibende Konstante aufweisen. Das ist nur möglich, wenn alle Prozeßphasen nur als variabler Ausdruck, als Varianten einer bleibenden Konstanten erscheinen. Damit wird dieses identische und Konstante zum Typ oder zur Gestaltidee. Die Konsequenz ist, daß organische Form wesensnotwendig Gestalt eines bestimmten Typs sein muß, Ausarbeitung einer nur konkret in individueller Gestalt erscheinenden allgemeinen Formidee, als dynamische Form, in der das Lebewesen die Grenze verwirklicht.

B. Von der Doppelaspektivilät zur Positionalilät

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Existenzbedingung für ein Lebewesen ist, daß es in der Lage ist, die grenzbestimmenden Seiten von Werden und Bleiben zu einem Prozeß zu vereinigen, ohne damit den Dingcharakter, die "substantielle" Körperlichkeit aufzugeben. Das Lebendige "Ding" bleibt gerade "Ding" im Prozeßcharakter seiner Seinsweise. Und das hat wieder zur Bedingung die dynamische Form, als Formidee oder Typ. Nur dank des Typs oder der Gestaltidee kann Leben bestehen. Leben realisiert sich nur im Individuum als zu Gestalt verwirklichter Gestaltidee (Typ), als "Gestalt im Spielraum der Gestaltidee". Individualität und Typ ("Sorte") gehören zusammen zu den spezifischen Kennzeichen der Seinsweise des Lebendigen. Individualität ist Kennzeichen als konkretisierte Realisierung eines Typs. Typizität und "Stufung" sind die wesensnotwendigen Modi der organischen Welt, innerhalb derer Leben sich als Verwirklichung seiner "Grenze" verwirklichen kann (IV S. 193). Die Bedingungen der Typizität, der Sorte, und die der Individualität werden damit zum Rahmen, innerhalb dessen das Leben sich verändert, dynamisch ist. Ein lebendes Individuum kann seine Identität bewahren, solange seine Veränderung sich innerhalb der Gestaltidee abspielt. Das kann man in Plessners Analyse dann genauer ergänzend umschreiben als eine "echte synthetische und gleichwertige Verbindung der beiden Richtungsdivergenzen, sowohl räumlich als auch temporal, das Außen-Vor-Sich und das Nach-Innen-Zu-Sich-Zurück. Der Übergang zu dem, was es nicht ist, muß identisch sein mit dem Bei-Sich-Selbst-Zurück-Sein, das Aus-SichHeraus-Treten identisch mit dem Bei-Sich-Selbst-Zurück-Sein, wenn die Bedingungen erfüllt werden sollen. Aber auch dafür gibt es wieder eigene Bedingungen. Denn wenn man sich den Prozeß des Werdens schematisch als gerade Linie vorstellen kann (von hier nach dort), dann läßt sich das Werden zu dem, was es schon ist genauso schematisch nur mit einem Kreis vergleichen. Beide sind mit der Existenz des Lebendigen als Prozeß-In-Identität im Widerspruch. Die einzige genauso schematische Antwort kann dann nur in einer Spirale gefunden werden, die temporal verstanden werden muß. Wenn dasjenige, was das Lebewesen gewesen ist, in der Veränderung immer im Modus der Vergangenheit zurückbleibt, dann ist der lebendige Gegenstand immer sein eigenes Überbleibsel, ein"Totenhaus, aus dem das Leben entflohen ist". Aber in Wirklichkeit hat das sich verändernde Wesen gerade "sich selbst" zum Resultat, wenn auch als Verbindung desselben und des anderen. Und diese Synthese kann nur als Evolution existieren. Nach Werden (Prozeß), nach dem Zusammengehörigen von Typ und Individuum wird jetzt Evolution zu einer neuen Kategorie des Lebendigen, zu einer apriorischen Bedingung der Möglichkeit des Lebendigseins. Alles, was schematisch mit der Spirale gemeint war, ist Evolution der einzigen Art und Weise, in er etwas zu dem wird, was es schon ist, bleibt, was es ist, indem es sich verändert, in einer Antizipation des "Ziels". Und dieses Ziel kann nichts anderes sein als die Formidee. Und diese "Selbststeuerung" durch eine Formidee deutet auf das Unvollendete,

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ohne das ein Prozeß kein echter Prozeß sein kann. Aber sie darf unter keinen Umständen als "vis a tergo" interpretiert werden, höchstens als "indirekte vis a fronte", auf keinen Fall als Lebenskraft oder Entelechie. Innerhalb von Plessners philosophischer Methodik halten wir hier jedoch noch streng an unserem Gesichtspunkt der Doppelaspektivität, der Grenze, der Positionalität fest. Und dann nimmt die "Formidee" als dasjenige, das in dem sich verändernden lebendigen Ding schon voraus ist, unausweichlich den Charakter dessen an, was in der Vergangenheit als "Zielursache" entwickelt wurde, aber aus dem modemen wissenschaftlichen Denken gestrichen werden mußte, ohne daß auch in Plessners eigenem Denken Platz für das ontologische Postulieren der Existenz von etwas wie einer "Zielursache" ist. Man kann nur sagen: wenn die dynamische Form den Charakter eines Typs annimmt, wodurch die Kontur des Lebendigen in konkrete, individuelle Gestalt und Gestaltidee getrennt wird, wenn schließlich diese Gestaltidee den Prozeß der Evolution instandhält und einen teleologischen, entelechischen Charakter annimmt, dann enthüllt das Ringen zwischen Präformationstheorie und Epigenesistheorie sich schließlich als unlösbar. Plessners Analyse impliziert ein völliges dialektisches Gleichgewicht zwischen Epigenesis und Präformation, causa efficiens und causa finalis. Das Finale ist in der Erscheinungsweise des lebendigen Faktums, ohne daß man das Recht hat, die Existenz von "Zielursachen" zu postulieren. Das Entelechische, das spezifsche Gerichtet-SeinAuf, daß dem "Lebensprozeß" den Charakter von Evolution, von Entfaltung verleiht, liegt in der internen Spannung der Seinsweise selbst, wie diese sich in der temporalen Charakteristik der Seinsweise selbst manifestiert, ohne daß diese Pole als "causa" oder sonstwie ontologisch verabsolutiert werden dürften. Der folgende Schritt zur Differenzierung benötigt dann wenig Worte. Nur durch die Differenzierung kann eine solche Evolution verwirklicht werden. Bemerkenswerter und im Grunde einer der ursprünglichsten Aspekte von Plessners Philosophie ist es, daß er bereits direkt in dieser frühen, elementaren Phase dem Tod seinen Platz in der Seinsweise des Lebens zu geben weiß, noch immer als Bedingung der selbsterscheinenden Doppelaspektivität und Positionalität. Entwicklung, Evolution, hatte sich aus der Kombination von Geradlinigkeit (über sich selbst hinaus) und Kreis (zu sich zurück) als eine Spirale gezeigt, die jedenfalls schematisch die Einheit bei der Aspekte garantiert. Aber in dieser Spirale ist auch von einem bestimmten Gesichtspunkt aus immer die Gegenbewegung gegeben, die notwendige Rückkehr als eine Parabel von Steigen und Fallen, von Aufstieg und Verfall, ohne daß dies als ein Spiel gegensätzlicher Kräfte aufgefaßt werden darf. So kommt Plessner zu dem Ausspruch: "Leben ist nicht Sterben, sein eigener Abbau, seine Selbstnegation, sondern es geht in der Entwicklung von Altersstufe zu Altersstufe dem Sterben, dem Tod entgegen". (IV S. 205)

B. Von der Doppelaspektivilät zur Posilionalilät

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In der Bestimmung der Seinsweise des Lebens als Entwicklung und Differenzierung hat der Tod keinen Platz als "Teil", als dem Leben selbst immanent, sodaß Leben eigentlich Sterben wäre, sondern wohl als das andere, Lebensfremde, dem das Leben entgegen geht. Über Lebensstadien, die nicht einfach Kompromisse zwischen zwei in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Lebenstendenzen sind, wächst das Leben seinem Tod als unwiderruflicher Vernichtung entgegen und fällt ihm schließlich zum Opfer. Der Tod bleibt damit vom. Leben aus gesehen direkt äußerlich und unwesentlich, wird jedoch durch die Form der Entwicklung als Seinsweise des Lebens indirekt zum bedingungslosen ,.,Schicksal" des Lebens. (IV S. 205) Indem man den Tod zu einem Wesensmoment des Lebens selbst macht, als ob im Tod noch das Leben über sich selbst triumphierte, gibt man dem Tod einen "Sinn". Dazu ist schließlich anscheinend nur der Mensch imstande. "Nur dies ist der echte Sinn des Todes, daß er das Jenseits des Lebens undfiir das Leben, die vom Leben selbst zwar getrennte, doch durch das Leben erzwungene Negierung des Lebens ist". (IV S. 206) Der Tod bleibt damit eine blinde Macht, unbegreiflich und unerträglich. Trotzdem gehört der Tod zum Evolutions-Aspekt des Lebens als Prozeß: in der Entwicklung sind Jugend, Reife und Alter apriori gegeben. "Von sich aus kann und muß das Lebendige sterben. Es hat die Möglichkeit des natürlichen Todes". (IV S. 206) Weil sich mit dem Tod ein qualitativer Übergang in einen anderen Seinsmodus vollzieht, ist es nicht das Leben selbst, das den Tod kreiert. Es schafft nur die "Eintrittsbedingungen", die sich im Alter geltend machen. So bleibt der Gegensatz zwischen "natürlichem" und "unnatürlichem" Tod in Plessners Konzeption bestehen. Dabei bringt gerade der "unnatürliche" die wesentlich vom Leben getrennte Gewalt des Todes als "Schicksal" zum Ausdruck, der "natürliche" dagegen spezifischer den Grenzcharakter, der die andere Seite des Lebens als "Entwicklung", Differenzierung bildet. Es gibt auch für Plessner eine Kluft, einen "Chorismos", einen hiatus irrationalis, nicht nur zwischen Individuum und Formidee oder Typ, sondern auch zwischen Leben und Tod und damit eine Bestimmung des Todes, die nicht aus dem "Wesen des Lebens", sondern ausschließlich aus der These des daran zugrunde liegenden Verhältnisses zwischen Körper und Grenze verstanden werden kann. Es ist der Charakter des .. Typ" und "Individuum", über sich hinaus und bei unvermeidliches Schicksal

Lebens als Spirale, es ist die Spannung zwischen zwischen Differenzierung und Grenze, zwischen sich zurück sein, die den Tod, das Andere als impliziert.

Wesentlich für den Evolutionscharakter sind "Schicksalsformen" des Lebens keine Formen des Bestehenden, sondernfiir das Bestehende. Typ und Tod sind die "notwendigen Möglichkeiten", auf die das Leben zielt, denen es zum Opfer fällt. Das Individuum stirbt an seiner Grenze und am Typ, die zu

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seiner Seinsweise gehören. Der Tod gehört also, allgemeiner ausgedrückt, zur Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit, die der Seinsweise des Lebens eigen sind und bleibt dennoch äußerlich und faktisch. Das gilt bei Plessner für alle Lebewesen, auch für den Menschen, ungeachtet seiner spezifischen Todesproblematik. Innerhalb der Finalität des Lebens sind Finalität und Endlichkeit Synomyme, ohne daß dies zu der Interpretation führen darf, daß der Tod das Ziel des Lebens sei, oder daß das Leben das gleiche sei wie Sterben. Eine andere Bestimmung läßt Plessners Analyse des Lebens als Seinsweise nicht zu. Als allgemeinste Negation des Lebens kann man den Tod auch nur innerhalb einer allgemeinen Bestimmung des Lebens betrachten. Als Lebewesen unter anderen, wenn auch als spezifische Form des Lebens, bildet der Mensch da keine Ausnahme. Es verändert sich nur sein Verhältnis zum Tod. (IV S. 215) C. Organisation - Potentialität - Aktualität Im Vorhergehenden war die Positionalität vor allem Ausgangspunkt für eine temporale Bestimmung des Lebens als Seinsweise mit den notwendigen Phasen der Lebenskurve, dem Zusammenhang von Finalität und Endlichkeit, von Entwicklung, Differenzierung und Tod, aber dieser Tod als das Unbegreifliche, von außen kommende andere, dem das Leben ausgeliefert ist. Dieselbe Positionalität läßt sich darauf auch räumlich weiter entwickeln als fundierende Kategorie für das spezifische Verhältnis, das zwischen dem Lebendigen als Organismus und Umgebung besteht. Das ist die philosophische Fundierung dessen, was in der Biologie als Korrelation von "Bauplan" oder Struktur eines Lebewesens und seiner "Umwelt" als "Wirk- und Merkwelt" (v. Uexkull) auftritt, aber innerhalb dieser Philosophie die genauere Ausarbeitung dessen, was bereits mit dem "Gesetzt"-Sein des Lebenden gemeint war: eine eigene Grenze zu besitzen, durch diese Grenze hindurch sich selbst zu überschreiten und dadurch in einem doppelten Verhältnis zu stehen, sowohl "innerhalb seiner selbst" als auch ..außerhalb seiner selbst", nicht nur Raum einzunehmen, sondern eine eigene Räumlichkeit zu konstituieren. Im Verhältnis zwischen Organismus und Umgebungsfeld, die beide in ..gegensinniger" Korrelation zueinander stehen, liegt das spezifische Kennzeichen der Positionalität, das das Lebendige vom Toten trennt. (IV S. 217) Auch hier geht es wieder um die Einheit des scheinbar Widersprüchlichen: das Lebendige muß seine Grenze realisieren, aber gleichzeitig "irrealisieren". Es ..steckt in seiner Haut", indem es sie gleichzeitig überschreitet. Die Antwort hierauf bietet die Bezogenheit des lebendigen Organismus auf eine "Mitte", die nur quasi-räumlich eine Mitte ist, nirgends lokalisierbar und die dennoch den Organismus zu einem System macht. Organisation wird so zu einer der Grundbestimmungen des Lebens: Relation zwischen dem Einheit-schaffenden räumlich-unräumlichen zentralen Punkt und der Einheit des Organismus und

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seiner Teile als Organe. Das führt zu der Dualität von "Selbst" und "Haben", die frei von jeder anthropomorphen Interpretation als phänomenologische Charakterisierung einer Erscheinungsweise aufzufassen ist, aber dann auch direkt als fundamentale Bestimmung des Lebens in seiner Gesamtheit. Nur auf Grund dieses nicht lokalisierbaren Zentrums und seiner wechselseitigen Relationen zum Ganzen und zu den Teilen ist das Leben die "gestalthafte" Totalität, die Driesch und andere Biologen im Auge hatten: eine Totalität im doppelten Sinn und deshalb mehr als nur "Gestalt". Durch dieses "In-Sich-Selbst-Gesetzt-Sein" bekommt das Lebendige seine spezifische "Selbständigkeit", die jedoch einen Oberschuß an empirischer Unverifizierbarkeit enthält, insoweit sie wohl anschau bar, aber nicht wahrnehmbar ist in dem bereits eher signalisierten Gegensatz, der jedoch später noch ästhesiologisch zu erläutern ist. Oder insoweit sie sich vorläufig als ein "Kern" andeuten läßt, der wohl "raumhaft" ist, aber nicht räumlich feststellbar. (IV S. 218) Durch diese genauere Bestimmung der Positionalität als Verhältnis von der Einheit zu den notwendig erweise spezialisierten Teilen (Organen) und ihrer Anwesenheit in den Teilen - wodurch gleichzeitig ein spezifisches, näher zu bestimmendes räumlich-zeitliches Verhältnis zur Umgebung entsteht, konnte Plessner auch seine eigene Position gegenüber den damals aktuellen, aber umstrittenen Auffassungen von Driesch, dessen "harmonisch äquipotentiellem System" und dessen "Entelechie" genauer bestimmen. Die bisher von ihm selbst entwickelten Kategorien haben nämlich einen rein phänomenalen Charakter, sie lassen sich auf keinerlei andere Art wiedergeben, höchstens in Verweisen andeuten, und verschwinden, sobald die exakte wissenschaftliche Wahrnehmung, die Messung, das Experiment beginnt. So wie das eventuelle Verschwinden von Selbstregulierung oder Organrestituierung als spezifische Lebenserscheinungen aus der Wissenschaft keinen Einfluß hat auf das philosophische Licht, in dem sie erscheinen, so ist es auch mit den Erscheinungen, die Driesch meinte. Die Einheit des lebenden Gegenstandes, die als eine nicht defmierbare Mitte einen unräumlichen Charakter hat und sich doch im Räumlichen "entfaltet", steht dadurch im Modus der Potentialität. "Indem in jedem Element des lebendigen Raumdinges und zugleich gegenüber jedem Element die Einheit als Vermögen vertreten ist, sind die Elemente äquipotentiell und bilden als Insgesamt ein harmonisch äquipotentielles System". (IV S. 221) Diese Erscheinung der "Autonomie", die alles Lebendige kennzeichnet, die Driesch zu der Annahme der Existenz einer "Entelechie" verführte, liegt also bei Plessner nur in der anschaulichen Erscheinungsweise. Exakte biologische Forschung kann nichts damit anfangen, darf sich auf keinerlei Weise dadurch beeinflussen lassen. Wissenschaftlich ist der Vitalismus, die Hinzufügung von so etwas wie einer ..Entelechie" auch für Plessner schon eine illegale Grenz-

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überschreitung. "Autonom ist das Leben nur in der besonderen Schicht der Phänomenalität, in welcher die irreduziblen Wasstrukturen, wie überall in der Natur, liegen". (IV S. 223) Philosophie im Sinne Plessners sucht - es sei hier noch einmal wiederholt - nicht hinter oder unter den gegebenen Erscheinungen nach verborgenen Kräften oder Faktoren, sondern vor der ästhesiologisch bereits spezifisch-reduzierenden Wahrnehmung, dem sinnlichen Modus der wissenschaftlichen Verifizierbarkeit, dem noch Ungeteilten der Erscheinungsweise. Durch das doppelte Verhältnis zwischen Ganzem und Teilen, das den lebendigen Organismus kennzeichnet, stehen die Organismen als "Teile" auch in einem doppelten Verhältnis zum Ganzen, das wieder einerseits in den Erscheinungen von Regulation und Restitution manifestiert wird, andererseits in der relativen Unentbehrlichkeit jedenfalls bestimmter Organe. Organ und Ganzes besitzen in Hinblick aufeinander eine relative Selbständigkeit und Abgerundetheit im Vergleich zum Verhältnis von Ganzem und Teilen beim Unbelebten. Organe sind mehr als "Bausteine" des Ganzen. Ein Lebewesen von positionellern Charakter ist als Einheit nicht nur funktionell in allen seinen Teilen und mit ihnen reell, sondern gleichzeitig als Mitte und Kern indirekt in jedem Teil vertreten. (IV S. 226) Wir sind noch immer bei dem für seine gesamte Philosophie fundamentalen Gesichtspunkt der erscheinenden Doppelaspektivität, dem miterscheinenden Kern des Wesens, das seine Aspektgrenze hat, aber jetzt über Differenzierung und Organisation notwendigerweise durch "Vermittlung" von Organen.

In den Organen mit ihrer relativen Selbständigkeit ist die Einheit als Totalität sowohl indirekt als auch direkt vorhanden. Faktisch fällt das Ganze mit den Teilen zusammen, potentiell hat es ein Verhältnis dazu. Es ist die bereits erwähnte Dualität von Haben und Selbst, von Haben und Sein, aber jetzt innerhalb der Einheit des Lebendigen. Als selbständige Totalität "hat" der Kern den Körper und seine Organe, aber gleichzeitig gehört der Körper selbst zum habenden Subjekt. Und das ist nur möglich durch die "Gliederung" der Gesamtheit in Organe, die einerseits in bezug auf die Totalität einfache "Teile" sind, aber anderseits in bezug auf diese Totalität als "Selbst" "Glieder" sind, denen gegenüber dieses Selbst eine relative Selbständigkeit bewahrt, die aber die "Mittel" sind, durch die das Ganze in den Teilen als Ganzes "vermittelt.. wird. Denn was sowohl in der Funktion des Habens als auch in der Eigenschaft des Gehalten-Werdens auftritt, kann dies (und das ist wiederum dialektisch gedacht) ausschließlich als "Mittel des Habens". (IV S. 227) Damit ist die Totalität des Lebewesens selbst direkt in seinen Teilen potentiell vorhanden (genau das, was Driesch mit harmonisch äquipotentiellern System meinte) aber außerdem noch in der Divergenz von spezialisierten Organismen. Organische Differenzierung erscheint so als eine echte Möglichkeits-Bedingung alles Lebens. Das erklärt die Anwesenheit des Begriffs im

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Titel der "Stufen~. Erscheinungen wie der Verlust an Regulations- und Regenerationsfahigkeit beim Älterwerden, aber auch bei fortgeschrittenerer Differenzierung (höhere Organismen), bekommen hier ihre philosophische Fundierung. Entfaltung bedeutet Verlust von Möglichkeiten, aber gleichzeitig Gewinn, einen Gewinn, der Verlust und eventuell eigenen Untergang in sich birgt. Das Lebewesen lebt dank seiner Grenzen, seiner Spezialisierung und Differenzierung, aber geht gleichzeitig daran zugrunde. Der Organismus tritt auf als das spezifische "Mittel~ alles Lebens, einerseits in der Differenzierung und Spezialisierung von "Organen~, andererseits als das Ganze, der Körper, in dem sich das Ganze zu einer wirklich indirekten Direktheit konstituiert (vermittelte Unmittelbarkeit) (IV S. 229). Das läßt sich zusammenfassen in der Definition: "Organisation ist die Daseinsweise des lebendigen Körpers, der sich differenzieren muß und in und mit der Differenzierung jene innere Teleologie herausbringt, nach der er zugleich geformt und funktionierend erscheint. ~ (IV S. 229) Für ein übernatürliches Wunder ist in dieser Philosophie des Lebendigen kein Platz. Organisation läßt sich ebensosehr für das Leben als aus dem Leben selbst als eine Conditio sine qua non verstehen. Die Autonomie des Lebens ist darin gleichzeitig eine Einheit von "Ziel~ und "Mittel~. Darin verliert das Lebendige seine ungeteilte Zentralität, existiert es nur in der vermittelnden Quasi-Selbständigkeit von Organen, ohne die es nicht mehr existieren kann. (IV S. 231) Die Einführung der Kategorie Potentialität bekommt jetzt ihre letzte Ausarbeitung in einer genaueren Bestimmung der spezifischen Temporalität des Lebendigen. Was innerhalb der Existenzphilosophien nur in bezug auf den Menschen entwickelt wurde, kann man hier mutatis mutandis auch in den ersten Ansätzen von Leben feststellen: im Gegensatz zum Unbelebten ist das Lebendige schon, was es noch nicht ist, gleichzeitig noch nicht, was es jetzt schon ist, genauso ,jetzt~ wie "noch nicht~.Das Lebendige steht in einem spezifischen Verhältnis zu seiner Zukunft, ist in seinen Potenzen sich selbst voraus. "Reale Potenz ist ein vermitteltes Sein, welches nicht mehr seine Fundierung in sich als dem Gegenwärtigen, sondern als dem Zukünftigen hat.~ (IV S. 237) Potentielles Sein steht im Modus der Zukunftfundierung. Aber auch hier wird wieder ausschließlich vom lebendigen Gegenstand (eventuell Körper) in seiner räumlichen Erscheinungsform ausgegangen. Schon die frühere Bestimmung der Positionalität als Seinsweise des Gegenstandes, der seinem Charakter des "raumhaft~ Seins, der eigenen Räumlichkeit als "Ding~, das nur Raum einnimmt, voraus und darüber hinaus ist, impliziert die spezifische Temporalität des Lebendigen als Relation zur Zukunft. Ebensowenig wie es nur "Raum einnimmt~, "im Raum ist~, ist es ausschließlich "in der Zeit~. Das irreduzibel Planmäßige, Harmonische und Teleologische, das alles Leben kennzeichnet, läßt sich zu einer Seinsweise ableiten, in der "das

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Ganze des Körpers, in seinen Potenzen ihm unmittelbar, in seinen Gliedern ihm vermittelt gegenwärtig, ihm selbst vorweg ist. So ist in der Tat auch im ruhend, zeitfrei gefaßten Organismus das Ganze der Zweck seiner selbst in allen seinen Teilen und die Vorgegebenheit dieses Planes wesentlich für Bau und Funktion der vermittelnden Organe." (IV S. 237 f.) Natürlich darf die Seinsweise des Lebens streng genommen gerade nicht "zeitfrei" gesehen werden. Der temporale Aspekt der Seinsweise des Lebens ermöglicht es auch, die Bedeutung des "Jetzt" genauer zu bestimmen. Nur das Leben kennt echte Aktualität. "Reale Potenz" ist nur die Art der "Vermittlung des letztseins" zur Gegenwart. Alle Dinge stehen in der Zeit, dauern, verändern sich, verschwinden. Aber während die unbelebten Dinge streng genommen kein letzt kennen, weil sie nur in den Modi von "noch nicht" und "nicht mehr" stehen (beides negative Existenzbestimmungen) und keine wesentliche Relation zu ihrer Temporalität haben (was sich auch für Plessner in der möglichen Relativierung des Zeit-Räumlichen manifestiert), hat das Lebendige eine spezifische Relation zur Zeit und damit zu den temporalen Modi von Zukunft, Vergangenheit und Augenblick. Nicht nur der Mensch, sondern das ganze Leben ist sich selbst voraus, als Art und Weise, in der es zugleich nur einen "Augenblick" hat ("konkrete Gegenwart") (IV S. 241), Einheit von Zukunft und Vergangenheit. Durch diese Relation zur Zukunft im eigenen realen Sein besitzt das Leben gleichzeitig Vergangenheit, die als "Gedächtnis" bewahrt wurde, das alles Leben zu kennzeichnen scheint. "Lebendiges Sein steht im Modus der Gegenwart, weil es ein ihm selber Vorweg(Nach)-Sein ist". (IV S. 241) Gegenwart, Augenblick ist Aktualität, Aktualität erfüllte Potentialität. In der Philosophie Plessners sind damit das Zeitliche und das Räumliche innerhalb der Seinsweise des Lebens vereint als wahre "Seinscharaktere" anwesend. So konnte dieser Teil abgeschlossen werden mit der Definition, daß lebendige Organismen sich nicht einfach wie jedes physische Objekt vierdimensional bestimmen lassen, sondern in ihrer Positionalität eine absolute maßfremde Vereinigung von Raum und Zeit bilden. Darum kann Plessner auf die Topos-Theorie von Aristoteles als Lehre vom natürlichen, wesentlichen Ort der Dinge zurückverweisen, auch wenn das jetzt nur für das Lebendige gilt. (IV S. 245) D. Zwischen bilanz Soweit eine möglichst genaue Wiedergabe des entscheidenden Fundaments, auf dem Plessners Philosophie des Organischen und des Menschen aufgebaut ist. Die Undeutlichkeiten und problematischen Wendungen in der detaillierten Ausarbeitung und der Form werden dabei als viel bedeutungsloser erachtet als die große philosophische Erfassung des Themas, die sich durch alles hindurch

D. Zwischenbilanz

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abzeichnet. Aber auch in diesem Stadium darf noch kein abschließendes Urteil gefällt werden. So wie Kants System der drei Kritiken unter dem "Gesichtspunkt" des Urteils durchgeführt wurde, das sich nur im Nachhinein aus dem Ganzen legitimieren läßt, so wird auch Plessners "Kritik des Menschen" als eine Philosophie des Lebens im Hinblick auf den Menschen durchgeführt, aber bewußt unter dem gewählten Gesichtspunkt der Aspektivität (genauer zu bestimmen als Doppelaspektivität, erscheinende Doppelaspektivität, Positionalität), einem Gesichtspunkt, der sich ebenso nur im Nachhinein aus dem Ganzen, einschließlich des Menschen rechtfertigen läßt. Bisher trat es jedoch nur als Ausgangspunkt für die Bestimmung der konstitutiven Kennzeichen des Lebens als Seinsweise in der allgmeinsten Bedeutung auf. So wurden die ersten konstitutiven Grundmerkmale des Lebens als notwendige Bedingungen dessen, was als Gesichtspunkt vorangestellt wurde, entwickelt. Es ist eine Methode mit phänomenologischen Mitteln, die dennoch unter diesem Gesichtspunkt einen außer-phänomenologischen Aspekt hat und auch von Plessner selbst mit dem Dialektischen verglichen wurde. Was in den ersten beiden Kapiteln programmatisch entwickelt wurde - die Notwendigkeit einer Philosophie des Lebens als Basis einer Philosophie des Menschen wurde hier zum erstenmal ausgeführt. Positionalität, Werden und Prozeß, Individuum und Typ, Lebensphasen und Tod, Organisation und Differenzierung, "Sein" und "Haben", Potentialität, indirekte Direktheit, Aktualität und "Topos" bildeten in ihrer räumlich-temporalen Charakterisierung die notwendigen Bedingungen des Lebens als Seinsweise, die sich aus dem Ausgangspunkt entwickeln ließen, die aber bereits zugleich als allgemeine Lebenskategorien eine enge Verwandschaft mit demjenigen aufweisen, was von den Existenzphilosophien nur im Hinblick auf den Menschen entwickelt wurde. Dabei erschienen durch die Methode des ..Gesichtspunkts" sicher nicht zufällig auch die spezifischen Lebenskennzeichen im Bild, wie sie innerhalb der Biologie durch von Uexkull, Driesch, Köhler und andere entwickelt worden waren (Ganzheit, Gestalt, Finalität, Regulation, Regeneration, harmonisches äquipotentielles System, Entelechie, Organismus und Umwelt, Merkund Wirkwelt). Philosophisch betrachtet spielten sie jedoch nur die Rolle von Indikationen, teils faktischer Art, die empirisch zu verifizieren oder zu widerlegen waren, teils theoretischer, hypothetischer, kategorialer oder spekulativer Herkunft. Bei allem engen Kontakt, der wünschenswert ist, müssen Philosophie und Wissenschaft ihre Kompetenz und Methode so genau wie möglich trennen. Ein Aspekt kann hier jedoch in dieser vorläufigen Phase betont werden: die Überwindung des "Chosismus", der .. Verdinglichung", Versachlichung, der Reduktion des Menschen zum Objekt zwischen Objekten, mit einer ..Existenz", die sich zur rein isolierten Anwesenheit eines angetroffenen Dings zwischen Dingen reduziert sieht, bezieht sich innerhalb der Existenzphilo-

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4. Kap.: Gnmdlagen einer Philosophie des Organischen

sophien nur auf den Menschen, aber geht bei Plessner "tiefer" und bekommt dadurch eine breitere Bedeutung, bezieht sich nämlich auf alles Lebendige. Sowohl hier als auch dort geht es um einen möglichst ursprünglichen, unreduzierten Zugang zur eigentlichen Seinsweise vor dem Eingriff und den Folgen bestimmter theoretischer Methoden, geht es um das, was aus geisteshistorischen Gründen überschlagen wurde (Cartesianismus, Idealismus, Rationalismus gegen Sensualismus usw.). Was bei der Existenzphilosophie jedoch unlöslich mit einer bestimmten Form philosophischer Reflektion und damit mit der Person des Philosophierenden und seiner "Welt" verbunden zu sein scheint (auch wenn die "gefundene" Seinsweise allgemein menschliche Bedeutung bekommt und "du", "wir", "sie" und "das Für-Den-Anderen-Sein" innerhalb dieser Seinsweise ihren Platz bekommen), wird es bei Plessner aus der Erscheinungsweise spezifisch anderer Lebewesen entwickelt, wenn auch nach dem "Gesichtspunkt" einer Doppelaspektivität, die nach dem Grundproblem aus der spezifischen Relation des Menschen zu sich selbst entwickelt wurde. Die wahre Bedeutung dieses Kreises bleibt einer späteren Betrachtung vorbehalten. Bildet jedoch die Positionalität eine allgemeine fundamentale Bestimmung der Seinsweise des Lebendigen, zu dem auch der Mensch gehört, läßt auch der Mensch sich in seiner Erscheinungsweise als eine bestimmte Modifizierung dieser Positionalität betrachten, dann tritt auch der Mensch in ein anderes umfassenderes Licht. Es geht dann um die Seinsweise des "gesetzten" Seins, das durch das doppelte interne Verhältnis auch ein spezifisches Verhältnis zur Umgebung hat, eine bestimmte "Position" einnimmt, realisiert, poniert und exponiert, und das schließlich im Menschen auch das bestimmte und bestimmende Wesen werden soll, das nirgendwo "steht", aber deshalb urnso wesentlicher sich selbst und die Welt "setzen" muß durch die und in den geistigen Möglichkeiten, kulturellen Strukturen, allgemeinen Bedeutungen und Normen, die zu den Lebensbedingungen des menschlichen Lebens gehören, die aber innerhalb der Existenzphilosophie gerade zum Ungreifbaren geworden zu sein scheinen zugunsten einer Radikalisierung einer streng individuell behaupteten "Eigentlichkeit", "Freiheit", Unwiederholbarkeit oder Fundierung des persönlichen Handeins. Es wird sich genauer zeigen müssen, inwieweit Plessners Philosophie gerade durch diesen "biologischen" Ausgangspunkt die Defekte zu überwinden weiß, die die Existenzphilosophie zum Beispiel als Grundlage des sozialen, kulturellen oder ethischen Aspekts des menschlichen Lebens aufweist.

Fünftes Kapitel

Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise bei Pflanze und Tier A. Organismus, PositionsCcld und Lebenskreis Als notwendige Bedingung dessen, was eingangs in bezug auf Doppelaspektivität und Positionalität festgestellt wurde, bleibt Organisation, das Organische als grundlegendste Bestimmung des Lebens uneingeschränkter Ausgangspunkt und Kernphänomen dort wo es um eine weitere Entwicklung der spezifischen Seinsweisen lebendiger "Körper" (Körper, Gegenstände) und die genauere Differenzierung in "Organisationsweisen des lebendigen Seins" in Pflanze und Tier geht. Nur durch die differenzierte Mannigfaltigkeit spezialisierter Teile, Organe, in ihrer relativen Selbständigkeit in bezug auf das Ganze und gleichzeitig als Anwesenheit der Einheit in diesen Teilen - das heißt als "Selbstvermittlung" und "vermittelte Unmittelbarkeit" - ließ sich die Existenzmöglichkeit von "Dingen" verstehen, die nicht nur durch, sondern auch in Doppelaspektivität erscheinen, das heißt, ihre eigene Aspektgrenze am Rand haben, ihren eigenen Einheitskern als erscheinende Eigenschaft besitzen, "raumhaft", aber räumlich nicht zu lokalisieren. Positionalität als Seinsweise ist das gleichzeitig in sich hinein und zu sich und außerhalb seiner selbst gestellt sein davon. Das bleibt noch immer das Schwierigste, aber auch das Entscheidendste in Plessners Philosophie: auf eine Weise, die er selbst als deduktiv gekennzeichnet hat, die spezifische Art und Weise weiter zu entwickeln, in der das Organ als sem i-selbständiges Teil der organischen Einheit des Ganzen (Körper, Individuum, Organismus) zu sich selbst und zu wahrer Totalität "vermittelt", worauf Organisation die "Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile" sein kann, das Organ das Ganze repräsentieren kann, indem es gleichzeitig ein Teil davon ist. Innerhalb einer Einheitsstruktur kann man nämlich drei Aspekte der Einheit unterscheiden: zuerst Einheit "für sich", Kern, Subjekt vom Haben von Organen, zweitens der "Organismus", Einheit in der Verschiedenheit der Organe als Objekt des Habens, und drittens die Einheit in jedem Teil, durch die Organe als Periferie "vermittelt" und erscheinend. Wie kann man die Einheit dieser Einheitsaspekte verstehen? Es muß als philosophisch illegitim zurückgewiesen werden, die drei Aspekte durch einen künstlich konstruierten

8 Redeker

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

vierten zu verbinden. Auch darf keiner der drei verabsolutiert von den anderen gelöst werden. Außerdem handelt es sich bei alledem nur um die Seinsbedingungen des lebenden Wesens als "Körper": ..er ist das Ganze, welches ihn hat und welches von ihm gehabt wird. Denn der Körper ist selbst das lebendige Ding, das Ding mit der Eigenschaft der Positionalität, das Ding in ihm selber, zu dessen Struktur die Gegenwart der Einheit in jedem seiner Teile gehört". (IV S. 248) Nicht nur hier, sondern auch beim Menschen wird dies der kritische Ausgangspunkt bleiben: kein Postulieren einer Lebensmacht oder Seele, keine apriorische Verdoppelung wie in Bewußtsein und Körperlichkeit, sondern eine "deduktive" Ableitung der spezifischen Seinsmerkmale als notwendige Bedingungen einer spezifischen Erscheinungsweise als Einheit. Wenn die drei Einheitsaspekte zu einer letzten Einheit gebracht werden müssen, ohne daß von außen etwas anderes hinzugefügt werden darf, dann kann das nur durch einen der drei geschehen, nämlich den dritten. Und damit bekommen die Organe die entscheidende fundamentale Rolle in der Seinsweise des Lebendigen, eine doppelte und doppelsinnige Rolle als Mittel, das gleichzeitig das Lebendige als Einheit zu sich selbst als Organismus und als Kern vermittelt. Empirisch treten sie vor allem als "Mittel", Hilfsmittel, Werkzeuge im Dienste des Lebens auf, das als ihr "Ziel" erscheint. Als solche lassen sie sich relativ abgrenzen und biologisch als "funktionell und morphologisch spezialisierte Teileinheit des Körpers überhaupt" definieren (IV S. 247). Aber in dieser Rolle befindet sich auch der Organismus als Ganzes, der so sowohl Mittel seiner selbst als auch Ziel seiner selbst wäre. Das muß als widersprüchlich in derselben Bedeutung ausgeschlossen werden. Wenn die Organe in ihrer Verschiedenheit nicht nur "Mittel" für das Ganze sind, sondern auch diese Einheit gerade durch ihre Differenzierung und Semi-Selbständigkeit zu wahrer Einheit und Ganzheit bringen, dann kann der Organismus nur ..vermitteln", d.h. wenn diese Einheit gerade durch ihre Verleugnung, Brechung und Abgrenzung in den Organen zustande käme, wenn so die Einheit als Kern und die Einheit als Organismus und "Gestalt.. ihre schließliche Einheit in der Art und Weise finden würden, in der die Einheit in jedem Teil vorhanden ist. Damit erweist das Organ sich in seiner Doppelrolle als unentbehrlich für die Seinsweise des Lebens, für die Vermittlung der beiden anderen Einheitsaspekte zu einer letzten Einheit. .. Mittelbare Gegenwart der Einheit in jedem Teil ist die Vermittlung der Einheit für sich und der Einheit in der Mannigfaltigkeit zur Einheit des Ganzen." (IV S. 249) Nur durch Brechung in Organen mit dem Organismus als Mittel zum Leben aber gleichzeitig in ihrer Selbständigkeit und Differenzierung den Kern, das Seiende zu sichselbst, auch als "Organismus" vermittelnd, kann das Lebewesen auf seine eigene spezifische Art und Weise existieren: eine vermittelte Einheit, eine indirekte Direktheit. Aber damit muß doch das Vorhandensein des Ganzen in den Teilen, Organen, eine

A. Organismus, Positionsfeld und Lebenskreis

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spezifische, genauere Bestimmung bekommen. Die schließliche Einheit, die dem Leben als Seinsweise zuerkannt werden muß, muß anders sein, von anderer Art als das einfach Zusammenfallen des Lebendigen, wodurch der Organismus nur "Mittel" ist, mit diesem "Mittel" als dessen "Ziel" es auftritt. Die Antwort liegt in der spezifischen Art der Anwesenheit in den Organen als vermittelnd: und durch ihre Vermittlerfunktion bringen sie das Lebendige nur in letzte wahre Einheit mit sich selbst als Ganzheit, indem sie es öffnen. "In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen." (IV S. 253)

Es ist das Wiederaufnehmen der Positionalität, aber jetzt spezifisch mit Hilfe und Vermittlung der Organe in ihrer Doppelfunktion, einerseits in ihrer Semi-Selbständigkeit dem Kern gegenüberzustehen, das Lebendige zu bestimmen, festzulegen (den Organismus als Gestalt), andererseits dieses Lebendige erst zu seiner wahren Seinsweise und Ganzheit zu bringen, nämlich als dasjenige, in dem das Lebendige zugleich anwesend ist, aber auf die vermittelnde Art und Weise von Außerhalbseinerselbsttreten und so zu letzter Einheit und Leben zu werden. Die Rolle der Organe innerhalb der Positionalität bedeutet, daß sie das Lebewesen zu seinem "Positions/eid" hin öffnen. In seiner wahren Seinsweise, das heißt, Leben, bildet das Leben einen Kreis des Lebens, (IV S. 253) der aus den zwei Hälften Organismus und Positionsfeld besteht. Das Lebendige als Kern, Zentrum und Organismus bekommt seine wahre philosophische Bestimmung indirekt durch die differenzierten Organe in ihrer geschlossen-erschließenden Rolle, nicht nur "Mittel" zu sein, sondern dasjenige, worin und wodurch das Lebewesen schon außerhalb seiner selbst als das Ganze eines Lebenskreises besteht, von dem es auf näher zu bestimmende Weise dennoch der "exzentrische Mittelpunkt" bleibt. In den Organen, im Ganzen des Organismus findet das Lebewesen seine Grenze, seine Begrenzung, seine Bestimmtheiten, die semi-selbständigen funktionalen Gestaltmerkmale, denen es ausgeliefert ist, die Geschlossenheit und Differenzierung als physischer Körper, ohne die Leben nicht möglich ist. Aber ebensosehr beruht gerade auch die spezifische Offenheit, Erschlossenheit als Wesensmerkmal alles Lebendigen auf derselben Indirektheit über die Organisation. Über den Umweg der Organe in ihrer Doppelrolle ist das Lebewesen in seiner Seinsweise auf spezifische Art und Weise außerhalb seiner selbst und impliziert ein Positionsfeld als "Umwelt", als "Merk- und Wirkwelt.. . Es kommt aber auf die richtige philosophische Bestimmung davon an. Vorgreifend auf die weiter zu entwickelnden biologischen Aspekte kann auch hier die Analogie zu der existenzphilosophischen Bestimmung der menschlichen Seinsweise, aber gleichzeitig damit, im Licht von Plessners eigener Philosophie die tiefere Fundierung davon als Korrektur betont werden. 8'

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

Existenzphilosophisch betrachtet wird die menschliche Seinsweise als ein ..in-der-Welt-sein" charakterisiert, als ein sich transzendierendes, relationales Sein, worin der Mensch als Existenz nur auf Grund eines ursprünglichen Bereitsaußerhalbseinerselbstseins und "Geworfenseins" existiert. Mensch und Welt bilden in dieser Seinsweise einen unlöslichen Zusammenhang, wenn er auch beim Menschen im Zeichen der Historizität steht. Der Mensch ist primär außerhalb seiner selbst, bevor sich im Inneren etwas wie ein Verhältnis zu sich selbst konstituieren kann. Bei Plessner liegt die biologische Grundlage dessen jedoch schon tiefer, in der Struktur des Lebens als solchem und als organischem Sein. Bereits die Seinsweise des Lebendigen läßt sich nur konstatieren als ein Außerhalbseinerselbstsein, durch die doppelsinnige "gegensinnige" Position "der Organe als eine Seinsweise von Organismen", von "Körpern", wobei aber die Seinsweise dieser Körper das Positionsfeld als andere Hälfte eines Lebenskreises impliziert. Soweit der Mensch zum Organischen gehört, als näher zu definierende "Stufe" ist auch er "vormenschlich" bereits außerhalb seiner selbst auf Grund einer Seinsweise, die aus nichts anderem entwickelt wurde als aus den Implikationen einer bestimmten Anwesenheit als lebendiger Körper. Dieser organische, "biologische" Aspekt der menschlichen Seinsweise wird also niemals überschlagen werden dürfen, sobald in einer folgenden Phase der Mensch selbst an die Reihe kommt. Die Aspekte der lebendigen Körperlichkeit treten beim Menschen nicht additiv zu den Bestimmungen seiner menschlichen Existentialität als "en-soi-pour-soi", als ein temporales und räumliches Sich-Transzendieren, als "Freiheit", "Sinngebung", ..Objektivierung" oder "Symbolisierung" auf, sondern bilden in der Betrachtungsweise von Plessner das tiefere Fundament, die vitale, organische Basis. Vorläufig stehen jedoch die biologischen Aspekte im Vordergrund, die zunächst zur Differenzierung des Pflanzlichen und Tierischen als zwei "Organisationsweisen" des Außermenschlichen führen werden. Und dann geht es vor allem um eine philosophisch reine Fundierung spezifischer Lebenskennzeichen, die innerhalb des wissenschaftlichen Denkens entwickelt wurden, für die Philosophie jedoch weiterhin nur indikatorische Bedeutung haben. Zum Beispiel die funktionale Differenzierung der Organe und ihre Relation zum Ganzen, die Polarität von Organismus und Umwelt, von Angepaßtsein und Anpassung, von ..stationärem System" und "fließendem Gleichgewicht", von Assimilation und Dissimilation oder der thermodynamischen Umkehrung des Wahrscheinlichen und des Unwahrscheinlichen, von Entropie und Ektropie. Dabei bedeutet gerade ein Begriff von Plessners Analyse zunächst, daß auf Grund der Seinsweise lebender Organismen und der wahren doppelsinnigen Funktion des Organs die Wechselseitigkeit von Organismus und Umwelt (Positionsfeld) nicht durch die Organe als "Mittel" bestimmt wird, soweit auch diese Organe als "vermittelnde Anwesenheit des Lebendigen" selbst zu einer Seinsweise gehören, die das andere bereits apriori impliziert. Erst ein lebendes

A. Organismus, Positionsfeld und Lebenskreis

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Wesen anzunehmen, das dann schließlich über Organe eine Umwelt besitzt, muß als unlogisch abgewiesen werden. Das hat auch Konsequenzen in bezug auf die wahre Bestimmung des Begriffs Positionsfeld oder "Umwelt", wo dieselbe Doppelsinnigkeit des Organs Rückkehr zum Beispiel in bezug auf die richtige Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Dynamischen der Anpassung und dem Statischen des Angepaßtseins betrifft. Wäre das Positionsfeld nur das reibungslose Spiegelbild, die Projektion einer bestimmten Organisationsform, die durch die Organe als .. Mittel" bestimmt werden, dann handelte es sich nicht um Anpassung. Man hätte auf biologischer Ebene nur das Pendant des Idealismus oder einer Phänomenologie erreicht, worin das Bewußtsein ohne weiteres seine eine Welt entwerfen würde. Aber auch das Gegenteil muß zurückgewiesen werden, soweit jede Möglichkeit der "Anpassung" sich bereits im voraus innerhalb einer bestimmten Struktur abspielt, ein Angepaßtsein als Spielraum der Anpassungsmöglichkeit. Was sich als "Anpassung" manifestiert, ist immer schon in seinem Wesen "formbedingt", "artbedingt". Entscheidend bleibt in a11 diesen Aspekten, daß die Organe niemals nur Hilfsmittel, Werkzeuge eines Lebens sind, das sich ihrer bedient, das man sich getrennt von ihnen vorstellen kann, sondern in ihrer doppelten Position gerade dieses Lebewesen in seiner Seinsweise bestimmen. In ihnen existiert gleichzeitig dieses Lebewesen selbst in seiner vermittelnden Unmittelbarkeit, als der Art, in der es zur Umwelt hin offen, zu sich selbst zurück eine Einheit bildet. Das organische Sein unterscheidet sich vom anorganischen durch diesen Bruch, diese Zwischensphäre, dieses Sichausliefern als Medium, durch dieses Indirekte, in dem es seine Grenze und seine Möglichkeiten, seine spezifische Geschlossenheit als System und seine ebenso spezifische Offenheit findet, Organen ausgeliefert, die es nicht nur als Mittel "hat", sondern auf eine bestimmte Weise auch "ist". Der Organismus ist nur eine Einheit in Verbindung mit dem anderen und durch das andere, indirekt durch die Organe zu sich selbst gebracht, Teil einer Ganzheit, die sich außerhalb seiner erstreckt. Insoweit kann man von Autarkie nur sprechen in bezug auf den gesamten "Lebenskreis" . Es bleibt für den Organismus als unselbständige exzentrische Mitte nur die Autonomie übrig. Von den verschiedenen Begriffen, die von den Wissenschaften im Hinblick auf die verschiedenen biologischen, thermodynamischen, biochemischen und andere Aspekte der Relation, Interdependenz oder Interaktion des Organismus und des ihn Umgebenden übernimmt Plessner nur Assimilation, Dissimilation als allgemeinste für seine Philosophie. Abbruch und Aufbau sind Wesens merkmale eines Lebens, das sich nur über das indirekt-direkte, geschlossen-offene Verhältnis zum anderen realisiert. "Selbsterhaltung ist notwendig mit Selbstpreisgabe und -zerstörung gekoppelt, weil nur unter der Voraussetzung einer inneren Entgegensetzung und durchgehenden Zerspaltung die Zone des lebendigen Körpers mit der Fremdzone der umgebenden Natur in kontinuierlichen

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

Kontakt kommt". (IV, S. 260 f.) Die Instandhaltung seiner selbst durch das lebendige Individuum beruht auf dem übrigens labilen Gleichgewicht innerhalb eines Antagonismus von assimilatorischen und dissimilatorischen Prozessen, sowohl in Stoffwechsel, Energieaustausch als auch in Formwechsel bis hin zur Koppelung von "Reiz" und "Reaktion". (IV, S. 261) Das doppelte Verhältnis des Lebendigen durch die Organe zu sich selbst und zum anderen mag sich je nach der bestimmten Lebensform von chemischen zu Bewußtseinsrelationen spezifizieren, geht ihnen jedoch als Seinsweise voraus. Die Grenze bildet der Übergang, die das Positionsfeld umspannende Seinsweise, aber gleichzeitig damit die für das Leben spezifische Abgrenzung, durch die das lebendige Wesen der Umwelt gegenübertritt und seine relative Selbständigkeit besitzt, wie gering, wie unkontrollierbar diese in empirischer Hinsicht bei den niedrigsten Lebewesen auch sein mag. Durch diese Abgegrenztheit, diese Vermittlung von sem i-selbständigen und ontologisch "doppelsinnigen" Organen besitzt das Lebendige seine spezifische Autonomie als abgegrenzt-geöffnete Selbständigkeit, durch die es eine Umwelt besitzt und sich in seinen Verhaltensweisen vom Leblosen unterscheidet, vor allem durch einen "Spielraum", der übrigens durch das Maß an Organisiertheit bestimmt wird. Und nochmals: Die philosophische Reinigung des Prinzips der "Organisation" in seiner wirklichen Bedeutung muß an den Einseitigkeiten und unlöslichen Gegensätzen innerhalb der Wissenschaften vorbei den richtigen Blick auf das spezifische Verhältnis des Lebendigen zu seiner Umgebung freimachen, offen in Geschlossenheit (dezentriert-differenziert), autonom gerade dadurch, daß es in ein Positionsfeld gestellt ist. Von der dreifachen Einheit, die die wahre Seinsweise des lebendigen Wesens als Ganzheit und Lebenskreis bestimmt, bekommt die Empirie nur den einen Einheitsaspekt des Organismus vor Augen mit der Notwendigkeit, andere Relationen zur Außenwelt zu schaffen, wie die Polarität von Organismus und Umwelt. In Wirklichkeit hat das Lebewesen als Organismus schon zwei andere Verhältnisse, überschreitet es sich selbst nach innen, zu einem "raumhaften", jedoch nicht lokalisierbaren Kern, und zugleich über sich hinaus, durch die Art und Weise, in der dieses Zentrum sich durch die Organe und in den Organen nach außen vermittelt, als exzentrische Mitte eines .. Kreises", zu dem sowohl Organismus als auch ..Positionsfeld" gehören. In dieser internen Dualität, die gleichzeitig das doppelte Verhältnis zu dem anderen bestimmt, liegt daher auch innerhalb von Plessners System das wahre Fundament für die physiologischen, chemischen, thermodynamischen und anderen Aspekte, die sich alle in derselben Polarität, demselben labilen und gleichzeitig stationären Gleichgewicht zwischen entgegengesetzten Faktoren, sowohl intern als auch im Verhältnis zum anderen, Umgebenden, zusammenfassen lassen . .. Als Träger der Grenze zugleich Zwischen und Überbrückung des Zwischen trennt er die Fremdzone von der Eigenzone, um darin beide Zonen miteinander

A. Organismus, Positionsfeld und Lebenskreis

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zu verbinden." (IV, S. 258) Das Lebendige "zerfällt", fällt auseinander, um gleichzeitig innerhalb seiner selbst und außerhalb seiner selbst, aufgenommen in das andere, existieren zu können. Ist es einerseits in den allgemeinen Kreislauf von Stoffen und Energien eingeschaltet, dann muß es andererseits in sich selbst polar "auseinanderfallen", um dies in einem selbständigen Prozeß von Abbau und Aufbau durch sich hindurch zu leiten. (ibidem). "Erhaltung und Zerstörung des Selbst konstituieren das lebendige Ding als gegenwärtig wirkendes und zurückwirkendes Ding im Kreislauf der gesamtenergetischen Prozesse der Natur" (IV, S.261) Nur durch diesen internen und externen Antagonismus besitzt das lebendige Wesen seine relative Selbständigkeit und Autonomie, die Polarität von Organismus und Umwelt, wodurch es nicht ohne weiteres in einem allgemeinen Feld von Prozessen, Kräften, Einflüssen, Einwirkungen, aufgeht. Dank dieses Antagonismus, der über die spezifische Rolle der Organisation zustande kommt, besitzt das lebendige Wesen, so gering es auch sein mag, einen abgegrenzten und selektierten Spielraum, durch den, wie zwischen Reiz und Reaktion eine Trennung, eine Distanz entsteht. Auf die Bedeutung, die diese Bestimmung der Seinsweise des Lebendigen für die in den Jahren aktuelle Kontroverse über die Anpassungstheorien haben konnte, wurde bereits hingewiesen. Als exzentrischer Mittelpunkt des eigenen Lebenskreises, sowohl räumlich als auch zeitlich außerhalb seiner selbst in ein "gegensinniges" Positionsfeld gesetzt, ist es innerhalb eines Spielraums von Anpassungsmöglichkeiten immer schon "angepaßt", form- und sortenbestimmt. Der Antagonismus innerhalb des Verhältnisses zur Umgebung läßt sich also auch als das nicht Zusammenfallen von Topos (natürlicher Ort) und Positionsfeld umschreiben. Wenn beide zusammenfallen würden, dann wäre man in eine Art biologischer Immanenzlehre verfallen. Es könnte dann keine Rede sein von Widerstand und Gegensätzlichkeit, von der Notwendigkeit und Möglichkeit der Anpassung. Aber auch beim Gegenteil- dem anderen als dem völlig Transzendenten, Fremden - geht der doppelsinnige Charakter des Positionsfeldes verloren. Dadurch tritt das lebendige Wesen gleichzeitig auch immer als exzentrischer Mittelpunkt seines Lebenskreises auf, sowohl Kern als auch Peripherie, sowohl Teil des Feldes als dagegen abgegrenzt. Die Einheit von Assimilation und Dissimilation und von Adaption und Adaptiertsein werden damit zu Aspekten innerhalb desselben, das Leben kennzeichnenden Antagonismus, das eine eher intern ..nach innen" verlegt, das andere in einem eher externen Verhältnis zur Umgebung. Entgegen allen Einseitigkeiten muß ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen beiden antagonistischen Aspekten bewahrt bleiben, wenn Leben möglich sein soll. Vollkommen jedenfalls in theoretischer Hinsicht. Denn in diesem Antagonismus liegt in bezug auf die Wirklichkeit des Lebens ebensosehr das Element eines Hiatus, ein Spielraum, in der "Gegensätzlichkeit" auch das Element von Kampf, von Gewinnen und Verlieren, von Risiko. So gehört

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

es zur Seinsweise des Lebendigen "zwischen Frieden und Kampf, auf Leben und Tod" zu existieren. Gesetzt in eine Umwelt, die "Kampfplatz" ist und gleichzeitig, als Topos in der Angepaßtheit, das Tragende und Beschützende, bedeutet Leben in Gefahr sein, ist Existieren ein Wagnis. Wurden Plessners Auseinandersetzungen mit spezifisch biologischen Kernproblemen und Kernbegriffen nur beiläufig beachtet - wie eng seine Philosophie mit dieser Problematik in Wirklichkeit auch verbunden ist - dann geschah das, wie auch im Weiteren, um den spezifisch philosophischen Aspekten und Verdiensten desto mehr Aufmerksamkeit widmen zu können. In der Problematik in bezug auf Adaption-Adaptiertsein oder innerhalb der Adaptionstheorien der Auseinandersetzung zwischen Darwinisten und Lamarckisten steht dabei wieder die Bestimmung der Positionalität im Vordergrund. Das ist der Grund, weshalb Plessner mit Goethe sagen kann: "das Auge habe sich am Licht fürs Licht gebildet." Es ist die Antwort auf die Frage, wie ein Organismus als Anpassung einen bestimmten Sinn, zum Beispiel das Auge als Lichtsinn entwickeln kann, wenn es keinerlei Licht und also auch kein .. Bedürfnis nach Licht" kennen kann. Positionalität ist immer schon ein AußerhalbseinerselbstÜbersichhinaussein. Die Gegenwart impliziert immer schon das Noch nicht, das wagende über sich hinaus sein, die Konfrontation mit dem anderen, das so in sich selbst die Spannung zwischen dem Bereits (Angepaßtsein) und dem Noch nicht (Anpassung) trägt. Um von dem bereits Eroberten zum noch "Unbekannten" durchzudringen, ist im Hinblick auf dieses Kennzeichen der Positionalität keine spezielle antizipierende Eigenschaft nötig. Alte Ideen über Wesensverwandtschaft von Licht und Auge, über das Gottesverwandte in dem Gotteswissen des Menschen (Plotinos) über das Angeborensein von Ideen bekommen hier ihren Platz. Aber auch in allgemeinerem Sinn kommt hier innerhalb der Seinsweise des Lebendigen und damit fundamentaler angesetzt die Problematik zurück, die innerhalb des menschlichen Denkens in den Gegensätzen von ImmanenzTranszendenz, Idealismus-Realismus zum Ausdruck kommt. So wie dort die Antwort nur im doppelten Charakter einer erscheinenden Wirklichkeit gefunden werden kann, die gleichzeitig schon "hinter" oder "über" sich hinausweist, einer Immanenz, die gleichzeitig bereits überschritten wird, einer Erscheinungsform, die auf Grund der Beschaffenheit des menschlichen Bewußtseins selbst schon überschritten, den Keim der eigenen Überschreitung in sich trägt, so kommt derselbe Charakter jetzt als Bestimmung des organischen Lebens und seiner Positionalität zum Vorschein, jetzt nicht, um das Historische des menschlichen Lebens zu fundieren, sondern als Grund der "Adaptions" - oder "Evolutions" -möglichkeiten des Lebendigen. Nur angepaßt ist das Leben mit allen Risiken und wie sehr es darin bedroht ist, zur .. Anpassung" in der Lage, insoweit es sich selbst immer schon voraus ist. Auch das Leben ist im Grunde unvollendet, sich selbst voraus und

A. Organismus, Positionsfeld und Lebenskreis

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außerhalb seiner selbst innerhalb des Antagonismus der Positionalität und des Positionsfeldes. Es wird außerhalb seiner selbst und über sich hinaus getrieben, als philosophischer Grund für irgendwelche empirisch zu studierenden Anpassungsphänomene. ..Gerade daß die Existenz des Positionsfeldes eine Vorbemächtigung der Welt durch den Organismus ist, welcher in sich selbst ein ibm Vorwegsein bedeutet, macht die Annahme besonderer lenkender Instinkte, Urteilsvermögen und ähnlicher anpassungsschaffender seelischer oder physischer Faktoren unnötig. Das Vorgriffelement ruht auf der Vorwegstruktur des lebendigen Seins." (IV, S. 274 f.) Die allgemeine Bestimmung der Seinsweise des Lebendigen schließt dann auf methodisch die gleiche Weise mit dem Zusammenhang von Fortpflanzung, Vererbung von Eigenschaften und Selektion wie dasjenige, was schon eher aus der Positionalität als Verhältnis von Leben und Sterblichkeit, von Individuum und Sorte (Typ) entwickelt wurde. Denn es ist im Grunde dieselbe "Gegensinnigkeit.. im sich selbst voraus sein und bei sich zurück sein, in einer Entwicklung, die sich am Individuum vollzieht, wodurch das Älterwerden als Notwendigkeit und der Tod als "Schicksal" auftreten. Es ist ohneso viele Worte die Spezifizierung der Lebensparabel als genauere Ausarbeitung der Spirale des Lebens in temporalem Sinn. Auch die verschiedenen "Kreisläufe" (Stoffwechsel usw.) die das Lebendige innerhalb der Antagonismen des Lebenskreises instandhalten, sind selbst wieder einer Evolution unterworfen, einem Werden des Individuums, das darin unausweichlich seinem eigenen Tod entgegenwächst. Das individuelle Leben ist fundamental auf Grund seiner temporalen Struktur sterblich, so sehr der Tod das andere bleibt und so sehr man das Leben auch verlängern könnte. Und weil die Entwicklung sich innerhalb des Individuums mit innerlicher Notwendigkeit erschöpft, ist die Kette von der Selbstteilung der Einzeller bis zu den Fortpflanzungsarten höherer Organismen notwendig. Trotz allem, was schon eher über die Sorte als Form oder Gestaltidee gesagt wurde, bleibt das Sein jedoch demIndividuum vorbehalten, dem .. Primären" gegenüber den Allgemeinheiten von Sorten und Klassen. Das was auch in seiner Betrachtung des Menschen von Bedeutung sein wird, bekommt hier bereits in seiner philosophischen Biologie eine tiefere Fundierung: es kann keine Rede sein von einer Finalität, einem Sinn oder einem Ziel getrennt von den Individuen: nur Individuen existieren mit der "teleologischen" Relation zu einer allgemeinen Formidee inihrer Seinsweise (über die komplexeren TIer-"soziologischen" Einheiten von "Volk", "Stamm", "Herde" oder "Schwarm" schweigt Plessner in den "Stufen"). Was bleibt ist der Hiatus zwischen geformtem Individuum und Formidee, zwischen Individuum und Typ, als Reichtum an nicht genutzten Möglichkeiten, als Spielraum und gleichzeitig als Spannung. Leben ist Realisieren von Möglichkeiten und als solches eine Selektion, die durch die Umstände mitbestimmt wird, eine Antwort innerhalb

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

des Spielraums der Möglichkeiten, die Sorte oder Typ bieten. Gerade auch die Entwicklung innerhalb eines Lebens bedeutet Selektion, eine Wahl, die gleichzeitig mit einem Verzicht, einer Verminderung anderer Möglichkeiten gepaart ist. Dadurch entsteht die Spannung zwischen dem Gerichtetsein des Individuums einerseits auf seine ,.Gestaltidee" als Typ, andererseits auf das Älterwerden und den Tod. In der Evolution des Individuums als Aspekt der Seinsweise des Lebens gehen Entwicklung und Einengung Hand in Hand. In dieser Spannung zwischen Potentialität und Wirklichkeit als verwirklichte Potentialität, zwischen dem nie zu füllenden Raum der allgemeinen Form und den Grenzen der Individualität vollzieht sich in concreto das jeweils individuelle Leben, nicht nur und in spezifischerer Form beim Menschen, sondern auch allgemeiner innerhalb des gesamten organischen Lebens. Leben ist notwendigerweise das Versäumen von Möglichkeiten, Selektion, nicht auf Grund fremder Faktoren von außen, so sehr diese dabei auch bestimmend mit im Spiel sind, sondern auf Grund der Seins weise des Lebens selbst, das durch die Spannung und den Hiatus zwischen Individuum und Typ bestimmt wird, wobei der allgemeine vollständige Raum an Möglichketien jeweils wieder durch die Fortpflanzung als Anfang bewahrt bleibt. Aber es bleibt eine Spannung, eine Diskrepanz, die als Selektion streng innerhalb der Seinsweise des Lebens als Individuum beschlossen bleibt, ebenso wie die unverbrüchliche Einheit von individueller .. Evolution" als Sackgasse und von Fortpflanzung. ,.Es mag erstaunlich scheinen, daß in diesem Zusammenhang nichts von dem Unterschiede der Geschlechter gesagt wurde" (IV, S. 281) so beginnen die zwei bescheidenen Absätze, mit denen die Sexualität als Abschluß des allgemeinen Teils abgehandelt wird als nicht mehr als die "Gebundenheit der Verwirklichung von Leben an bestimmte physische Bedingungen, als etwas, das deshalb nur von aposteriorischer Art außer halb der Philosophie fallt und das deshalb einfachheitshalber der ,.physiologischen Chemie" über- und aufgetragen wird." Es ist vielleicht weniger verwunderlich als typisch, jedenfalls für den Philosophen Plessner, in dessen gesamter Philosophie bei aller subtilen Differenzierung und Detaillierung das Sexuelle nicht oder kaum zur Sprache kommt, auch nicht in der Weise, in der es sich innerhalb der menschlichen Seinsweise in Erotik und Liebe genauer konkretisiert und erfüllt. Unabhängig von einem späteren Urteil kann man das vorläufig aus Plessners eigener Philosophie so verstehen, daß die in concreto wichtige Rolle, die das Sexuelle und das Erotische innerhalb von Leben und Liebesleben des Menschen spielen, philosophisch in anderen Aspekten fundiert ist als im biologischen Unterschied der Geschlechter.

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B. Die Organisationsform von Pflanze und Tier

Wenn erst die allgemeinen Kategorien der organischen Seinsweise entwickelt sind, dann lassen sich darin die Unterschiede zwischen dem Pflanzlichen und dem Tierischen als eine Art Richtungs-Divergenz auf eine Weise entwickeln, die in der Literatur auf diesem Gebiet mehr Aufmerksamkeit bekommen hat als die ihr zugrundeliegende philosophische Problematik und ihre Bedeutung für den Menschen. Es ist nämlich die für das Leben kennzeichnende, in Organisation und Positionalität enthaltene Einheit von Offenheit und Geschlossenheit, die in Pflanze und TIer zwei spezifische Möglichkeiten entfaltet in terminologischem Anschluß an Driesch als "Organisationsweisen des Lebendigen~ die offene und geschlossene Organisation genannt. Es wird noch genauer zur Sprache kommen, daß sie einen notwendigen Zusammenhang haben, soweit tierisches Leben auch schon empirisch konstatierbar zum Beispiel von der pflanzlichen Fähigkeit zur chemischen Umsetzung anorganischer in organische Stoffe "zehrt~. Für die Philosophie von Plessner ist es zunächst wichtig, daß offene und geschlossene Organisation darin als "Ideen~ auftreten. Und Ideen sind keine Begriffe, wie die Erfahrung sie zur Bestimmung von mehr oder weniger abstrakten Übereinstimmungen und Verwandtschaften verwendet. Aus Ideen läßt sich keine einzige konkrete Lebenserscheinung erklären oder konstruieren, aber sie läßt sich wohl unter einer Idee, "im Hinblick aur Ideen verstehen. (IV, S. 282, S. 302) In der Verwandtschaft zu Kants Ideen in ihrer für die Erkenntnis nicht konstitutiven, sondern regulativen, leitenden, belichtenden, wegweisenden Funktion, aber jetzt innerhalb einer Philosophie, spielen sie die Rolle als notwendige in der Erscheinungsweise implizierte Bedingung, die Bedeutung, den Sinn zu erhellen. Daß die offene und die geschlossene Organisationsform sich innerhalb der einen Seinsweise des Organismus als ein "ideeller~ Gegensatz entwickeln lassen, bestimmt also in wenigstens doppelter Hinsicht ihr Verhältnis zur Empirie. Als Arten von Organisation, als Richtungen zeigen sie ihre Merkmale desto deutlicher in dem Maß in dem sie in höherer, differenzierterer, organisierter Form auftreten. Als Ideen werden sie außerdem nicht von der empirisch-wissenschaftlichen Schwierigkeit oder Unmöglichkeit betroffen, vor allem bei den niedrigsten Lebensformen (wo z. B. bei der Zellteilung von Einzellern auch der Unterschied zwischen Fortpflanzung und Tod aufgehoben ist), ein spezifisch pflanzliches oder tierisches Kennzeichen festzustellen. Wir meinen Plessner hier so interpretieren zu dürfen, daß .. Ideen~ ebenso wie Kategorien und/oder Modale wohl eine "nicht kontinuierliche Mannigfaltigkeit~ von nicht zueinander ableitbaren Prinzipien und "intensiven~ Größen bilden, aber daß das Leben dennoch, vor allem auch empirisch, einen Übergang vom Allgemeinsten in der Seinsweise des Lebendigen zu den spezifischeren Kennzeichen der zwei verschiedenen Organisationsformen aufweist, die schließlich als zwei Richtungen, zwei gleichsam durch die Natur

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

getroffene .. Auswahlen" innerhalb der einen Seinsweise des Lebens entwickelt wurden. In Plessners System läßt sich der Gegensatz zwischen offener und geschlossener Organisation verstehen aus dem .. Konflikt" zwischen Abgeschlossenheit, vennittelter Anwesenheit in den Organen und der Offenheit als Eingefügtsein in die Umgebung, innerhalb der Einheit des Lebenskreises, wovon das Lebendige als Organismus nur ein Teil ist und wovon es als das Seiende nur als exzentrischer Mittelpunkt auftritt. Offen und geschlossen sind dann die zwei prinzipiell gegensätzlichen Antworten auf einen Antagonismus auf Grund dessen das Lebendige nur bestehen kann. Per definitionem ist offen dann die Lebensfonn, ..welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht." (IV, S. 284) Die .. indirekte Direktheit" wird hier in viel stärkerem Maße als beim Tier zugunsten eines sich Direkteinfügensin die Umgebung preisgegeben (nicht nur räumlich, sondern mit allen innerhalb der Wissenschaften studierten physischen, chemischen und anderen "Kräften", "Prozessen", "Feldern", "Wirkungen") und so wird der exzentrische Mittelpunkt viel stärker preisgegeben. Es kostet wenig Mühe, bei den morphologischen und anderen Aspekten der einigennaßen höher organisierten Pflanzen im Vergleich mit einigermaßen höher entwickelten Tierformen die (inuner nur relative) Unselbständigkeit, Preisgabe von "Autonomie" innerhalb der .. Autarkie" des Lebenskreises zu demonstrieren. Es ist unter anderem die .. lineare" oder flache Ausdehnung in der Umgebung, die Unmöglichkeit, so etwas wie ein Zentrum zu entdecken, die Möglichkeit der Spaltung in selbständige neue Entitäten (Stecklinge machen), das Fehlen spezifisch lokalisierter semi-selbständiger Organe oder die Tatsache, daß Pflanzen, auch wenn sie absterben, morphologisch, als ..Gestalt" niemals zu einer abgerundeten, vollendeten Form gelangen, im Gegensatz zum Tier und seiner spezifischen Entwicklung zu einer vollendeten, "erwachsenen" Fonn. Auch in ihren eigenen spezifischen Arten der Fortpflanzung (Bestäubung usw.) zeigt die Pflanze ihre offene Fonn, ihre Unvollendetheit und gleichzeitig ihre größere Abhängigkeit vom Positionsfeld. Und obwohl das Kennzeichen der "Bewegung" als spezifisch für das Tier eine empirisch schwierige Frage bleibt - soweit es viele Tiere ohne selbständige Fortbewegung gibt und viele Pflanzen, die sich obwohl die Fortbewegung fehlt, wohl zu "bewegen" scheinen: sie bewegen sich zum Licht hin, Blumen öffnen und schließen sich, sie fangen Insekten - dennoch gehört doch die "Bewegung" der Pflanze zu einer anderen Organisationsweise. Das wird auch in der Empirie unterstützt. So sieht auch Plessner sich hier an der Seite von Hedwig Conrad-Martius und ihrer phänomenologischen Bestimmung, daß innerhalb des Pflanzlichen Bewegungen sich an der Pflanze vollziehen und nicht von der Pflanze aus. Es ist nicht anders möglich, da das spezifisch

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tierische, noch genauer zu erläuternde sensomotorische Prinzip fehlt, im allgemeineren Sinne von spezialisierten lokalisierten Organen und polar damit verbunden ein "Zentrum". Wahrnehmung und Gefühl, Sinn, Reiz, Reflex und Handlung gehören daher zu den nicht rein verwendeten Begriffen, wenn sie auf die offene Seinsweise, die dynamischen Erscheinungen, die Pseudo-Verhaltensweisen von Pflanzen angewandt werden. Dagegen hat die offene Organisationsform ihre eigenen spezifischen Möglichkeiten, gerade durch die Art und Weise, in der sie unter möglichst radikaler Aufgabe der eigenen Selbständigkeit und Zentriertheit sich in die Umgebung einfügt. Es sind diese Möglichkeiten, die auch empirisch am deutlichsten in der spezifischen Fähigkeit zum Ausdruck kommen, aus dem Anorganischen unter Einfluß des Sonnenlichts höhere, kompliziertere organische Stoffe aufzubauen. War die Einheit von Assimilation und Dissimilation als ein Wesensmerkmal des Lebendigen als solches zu verstehen, dann herrscht in der offenen Organisationsform die Assimilation vor. "Denn hier zeigt sich auch an dem chemisch definierbaren Material, was sonst nur im Typus seiner Verarbeitung erkennbar wird." (IV, S. 288) Es ist kein Zufall oder Mangel, daß innerhalb von Plessners Philosophie, die als Philosophie auf das Organische gerichtet ist, auf den Menschen hin entworfen wurde, dem Pflanzlichen im Vergleich zum Tierischen nur ein bescheidener Platz eingeräumt wird, jener Lebensstufe, die durch eine neue Komplikation innerhalb der Seinsweise des Organischen zum Menschen führt. Die offene Organisationsform dient zum Teil dazu, als Unterschied die Kennzeichen der geschlossenen Form umso deutlicher zu zeigen, wie auch umgekehrt bestimmte Bedeutungen des Pflanzlichen nur im Nachhinein aus dem Tierischen näher beleuchtet werden. Es ist höchstens auch in dieser Phase für die kritische Tendenz von Plessners Methodik und Systematik enthüllend, daß auch in bezug auf den Begriff des Pflanzlichen außer der "Einfachheit" der "Wesensphänomenalität" der offenen Form und ihrer Implikationen nichts postuliert werden darf, keine "Kraft", keine Seele oder andere Wirklichkeit, keine rein literarische Romantik wie Bergsons "animal endormi".

Als wahre Größe der Natur, ihre Einfachheit liegen "die Geheimnisse der Natur .. , nicht hinter ihr oder in ihr wie geheimer Text in Chiffren versteckt, sie liegen öffentlich zutage ... ohne daß man zu irgendwelchen psychischen oder psychoiden Triebkräften seine Zuflucht zu nehmen braucht." Es ist im tiefsten Ringen auch auf diesem Gebiet eine kritische Philosophie des Organischen, die Phänomenologie (Erscheinungsweise) mit einer kantianischsystematischen Auffassung von der Philosophie verbindet, als einzige Art und Weise, in der Philosophie erkenntnistheoretisch die Herausforderung der Wissenschaften beantworten kann, in engem Kontakt mit den Wissenschaften und ihren Grundproblemen, aber ohne sie irgendwie in ihrer Arbeit stören zu

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

wollen, ohne auch selbst die eigene philosophische Fundierungsproblematik dafür zu verleugnen. So kommt der Hauptakzent auf die geschlossene Organisationsform des TIerischen im Hinblick auf den Menschen, unvermindert unter dem Leitprinzip von Organisation und Positionalität als fundamentalste Seinsweise des Lebendigen. Geschlossen ist dann per definitionem die Form "welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht" (IV, S. 291) so sehr sich das in niedrigsten Formen des Lebens als eine empirische Unerkennbarkeit verliert. Bei der Entwicklung zu "höheren" Organismen kann man hier jedoch etwas konstatieren, von dem gerade bei der Entwicklung zu höheren pflanzlichen Organismen keine Rede ist. "Abkammerung" heißt dann hier diese zugespitztere Form der vermittelnden und ..gegensinnigen" Weise, in der der Körper, die differenzierte Einheit quasiselbständiger Organe sich zwischen das Lebewesen als "Träger" ("Kern", ..Subjekt..) und das Positionsfeld als Umwelt stellt. Gegenüber dem "direkten Kontakt", den Dinge mit ihrer Umgebung haben und wodurch sie mit dem Feld eine durchgehende Einheit von Kräften, Prozessen usw. bilden, tritt hier auf spezifischere Weise als bei der offenen Form das Indirekte als bestimmendes Lebensprinzip, als eine spezifische Form und Möglichkeit von Leben in der Organisationsform des Organismus selbst. Der eher behandelte allgemeine Antagonismus innerhalb der Seinsweise des Lebendigen muß also innerhalb des Organismus eine explizitere Form bekommen und zwar einen Antagonismus von morphologisch und physiologisch ..gegensinnigen" Organen (IV, S. 293) die dennoch nur auf Grund einer Einheit in der differenzierten Vielfalt funktionieren können, das heißt mit Hilfe eines Einheitszentrums, das auch selbst durch diesen Antagonismus hindurch zu wahrer Einheit kommt, wohlverstanden noch immer innerhalb der Positionalität, als exzentrischer Mittelpunkt eines Lebenskreises, wovon der Organismus nur als Teil fungiert, in dem das Lebendige immer sich selbst voraus und außerhalb seiner selbst ist. Es ist sicher kein Mißverständnis, wenn wir zu erkennen glauben, daß alles, was bisher das "Antagonistische", das innerlich Gegensätzliche in der allgemeinen ontologischen Bestimmung des Lebendigen bei Plessner gewesen ist - vor allem das Vermittelt-Unmittelbare, Indirekt-Direkte, außerhalb seiner selbst, zu sich zurück, offen-geschlossen - in der differenzierenden Entfaltung der geschlossenen Organisationsform des Tieres seinen eigentlichen Inhalt, seine schließliche Bedeutung zu bekommen scheint, der Mensch jedoch vorläufig außer Betracht gelassen wird. Die geschlossene Organisationsform fällt nämlich innerhalb der eigenen Einheit in zwei Sphären auseinander, wobei das Antagonistische spezifisch in einer der beiden sogar im wörtlichen Sinne ..verkörpert" wird. Was beim Stoffwechsel (nicht zufällig zum Vegeta-

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tiven gezählt) noch auf Grund eines organischen Gleichgewichts von Assimilation und Dissimilation entstehen konnte, ohne daß dies direkt auf ein Zentrum bezogen sein muß, in einer unzentralisierten Direktheit, die an die offene Organisationsform erinnert, bekommt in der geschlossenen Form ein anderes Gebiet neben sich, in dem der Antagonismus sich in zwei "gegensinnigen~ organischen Formen realisieren muß, die in ihrem Antagonismus durch und über das Zentrum verbunden werden. Das Zentrum bekommt erst seine wichtige Rolle, wenn es die notwendige Instanz ist, um die Konkretisierung des Antagonismus in zwei entgegengesetzt gerichtete organische Sphären zu ermöglichen als dasjenige, was die geschlossene Form kennzeichnet: die Selbständigkeit des Lebendigen durch eine organisch indirekte Placierung des Lebendigen in seine Umgebung. Wenn man den Antagonismus, der das Leben kennzeichnet als den Gegensatz -in-Einem des passiven Bestimmtwerdens durch die Umgebung und des aktiven Einwirkens auf, Reagierens auf diese Umgebung sieht, dann bedeutet das in bezug auf die geschlossene Form den Antagonismus einer sensorischen und einer motorischen Organisation, die über das Zentrum zu einer Einheit verbunden ist. Das Verhältnis des Zentrums (noch immer exzentrischer Mittelpunkt des Lebenskreises) zur Umgebung (außerhalb seiner selbst), vermittelt durch antagonistisch zueinandergeordnete Organe innerhalb der Einheit des Körpers, wird dadurch zur Existenzbedingung, dem wesentlichsten Charakter der geschlossenen Organisationsform. Als Bedingung der Möglichkeit tierischen Lebens bestätigt dies also das "senso-motorische" Schema von von Uexkülls Auffassungen über den "Funktionskreis", macht es die morphologischen, ontogenetischen, physiologischen und andere spezifisch tierische Kennzeichen bei den differenzierten Organismen begreiflich. In der Abkapselung der geschlossenen Form steht das Zentrum in einem wahrhaft indirekten Verhältnis zur Umgebung, aber es bekommt gleichzeitig seine wahre Funktion in dem Zwiespalt zwischen dem Passiven und dem Aktiven, dem Sensorischen und dem Motorischen. Aber soweit dabei der Körper zum Medium wird, das zwischen das lebendige Wesen und seine Umgebung gestellt ist, bekommt auch die Körperlichkeit selbst eine interne Komplikation. Einerseits grenzt das lebendige Wesen als Körper an die Umgebung, andererseits hat es eine eigene Wirklichkeit "innerhalb" des Körpers oder "hinter" dem Körper ("raumhafte", nicht räumlich aufzufassende Umschreibungen), hat es ein Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit gerade in dem Maße, in dem diese sich zwischen das lebende Wesen und seine Umwelt stellt. Dies ist der Augenblick, in dem der Körper sich in die zwei Aspekte von "Körper~ und "Leib~ teilt, die sich gleichzeitig in dem Antagonismus von Sein und Haben feststellen lassen: das Lebendige "ist" sein Körper und "hat" seinen Leib. "Leib" ist der Körper, soweit er als "Mittel" auftritt, zu dem das lebendige Wesen ein Verhältnis hat und das

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

gleichzeitig "sein Körper" ist. Nur so weit, nicht weiter. Denn außerhalb dieses Gebietes des organisch konkretisierten Antagonismus des Passiven und des Aktiven, des Sensorischen und des Motorischen, von "Merken" und" Wirken" bleibt am Lebendigen als "Körper" noch immer ein Rest, wo die Polarität Körper-Leib keine oder eine geringe Bedeutung hat, wo auch das "Zentrum" kaum mehr Bedeutung hat als in einer "offenen" Organisationsfonn, ohne daß damit die Einheit zerstört wird. Die Einheit liegt nämlich unvennindert in der Gesamtheit von vennitteltunmittelbar zu sich und außerhalb seiner selbst, autonom innerhalb der Autarkie des Lebenskreises und darf als "exzentrischer Mittelpunkt" auch nicht mit der Bildung eines "zentralen Organs" innerhalb der geschlossenen Lebensweise (zentrales Nervensystem, Gehirn) als Einheit gesehen werden, auch wenn diese mit der geschlossenen Fonn unverbrüchlich zusammenhängt. Im zentralen Organ ist der Körper nochmals in sich selbst "vennittelt", vertreten. Wenn es um die Bestimmung des Existierenden selbst geht, um diese "raumhafte" , aber nirgends zu lokalisierende "Mitte", um diesen exzentrischen Mittelpunkt von einer Seinsweise, die die Positionalität mit umfaßt, um das, was wir mit aller Gefahr der Anthropomorphisierung das "Subjekt" nennen könnten, dann "hat" dieses den Körper als "Leib", durch das zentrale Organ vennittelt, ohne daß es aufhört, gleichzeitig dieser Leib selbst zu sein. Es gelangt, um mit Plessner selbst zu sprechen, "außerhalb des Körpers", in einer Distanz und bleibt trotzdem vollkommen damit verbunden, damit vereint, dadurch verkörpert. Nur in dem Maß, in dem ein Lebewesen in seiner Organisation die Kennzeichen der geschlossenen Fonn realisiert hat, hat es auch als Körper die Leib-Dimension bekommen, bekommt das Zentrum seine letztendliche Bedeutung als ein Zentrum, das nur indirekt durch Organe in Kontakt zur Umgebung tritt, aber gerade dadurch in der Erscheinungsweise dieses lebendigen Wesens an den "Rändern", nach außen hin erscheint, in seiner außerhalb seiner selbst seienden Seinsweise vennittelt durch Organe, die gleichzeitig nur als "Mittel" auftreten. Es ist aber ebenfalls nur in demselben Maße geschlossener Organisiertheit, daß für dieses Lebewesen das Positionsfeld im wahren Sinne den Charakter einer "Umwelt", einer "Merk"- und "Wirk-Welt" annimmt, einer Umgebung, die von dem Lebewesen als Zentrum bemerkt wird und auf die es mit antagonistisch gerichteten Organen einwirkt. (IV, S. 298) Im Gegensatz zu der offenen Fonn, in der das Leben eine möglichst große, direkte Einfügung in das Positionsfeld bewahrt, tritt hier eine Einkapselung auf, die jedenfalls in der Leib-Sphäre die Außenwelt bündelt, selektiert und im Antagonismus von Passiv und Aktiv (Merken und Wirken, das Sensorische und das Motorische) indirekt über Bahnen über das Zentrum verbindet. Durch diesen notwendigen "Hiatus" hat sich das Verhältnis zur Umgebung prinzipiell geändert. In dem

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Maße, in dem der Körper .,Leib" geworden ist, besitzt er als Lebewesen eine Umwelt. Die Kennzeichen der geschlossenen Organisationsform bestimmen also auch die spezifischen Kennzeichen des Positionsfeldes und der Positionalität als der eigentlichen Seinsweise. So ist die geschlossene Organisationsform mit einem offenen Positionsfeld verbunden, wird die Positionalität der geschlossenen Form, die Seinsweise des tierischen Lebens spezifisch durch Zentralität und Frontalität gekennzeichnet. In bezug auf das offene Lebensfeld als Umwelt (IV, S. 299): hier ist es zunächst die Selbständigkeit des .,auf sich selbst gestellten" Tieres gegenüber dem als Umwelt auftretenden anderen eines Lebenskreises, zu dem es als Organismus dennoch ganz gehört. .,Unerfülltheit" gehört also zu den Wesensmerkmalen des Tieres als geschlossene Form: es besitzt die Möglichkeiten einer Erfüllung, die es jedoch selbst ,.über eine Kluft hinweg" erreichen muß. Was die Biologie als "Triebe" eingeführt hat, muß keineswegs als geheimnisvolle Lebensrnächte und Dynamismen interpoliert oder konstruiert werden, weil sie hier philosophisch betrachtet nichts anderes sind als "unmittelbare Manifestationen der primären Unerfülltheit", Kennzeichen der direkten Einfügung in den Lebenskreis. (IV, S. 299) Gleichgültig ob man von "unbewußt" wirkenden Instinkten ausgeht, oder dem Tier als Zentrum selbst eine mitbestimmende Rolle zuerkennt, bedeutet tierisches Leben essentiell Unruhe, Drang und Trieb, Suchen, Unerfülltheit und Kampf, einen Unfrieden, ein Kämpfenmüssen, einen Kampf ums Dasein. Ein Maximum an Geschlossenheit bedeutet auch ein Maximum an Dynamik, aber auch eine "Erhöhung", eine "Intensivierung" des Lebens, die anscheinend auf Kosten des Lebens gehen muß. Daß das tierische Leben im Gegensatz zum pflanzlichen (mit Ausnahmen) organische Nahrung benötigt, kann nur in diesem Zusammenhang gesehen werden, ebenso wie die Tatsache, daß die "Ektropie" innerhalb des tierischen Organismus nur auf Kosten einer "Energieverschwendung" erreicht wird. Im Gegensatz zum pflanzlichen ist das tierische Leben fundamental "parasitär", im allgemeinen und nicht nur manchmal ein "Schmarotzertum" (IV, S. 300). In den vorsichtigen Formulierungen der "Stufen" ist vorläufig nur etwas von einem Lebensgesetz zu raten, nach dem das Leben sich in der geschlossenen Organisationsform zu höheren Formen "steigert", sich auf "kostbare Weise" zu einer höheren Existenz erhebt. Dabei bleibt auch die geschlossene Lebensform dem Gesetz einer Positionalität unterworfen, in der sie jeweils schon sich selbst voraus und außerhalb ihrer selbst ist, auch außerhalb der eigenen "Umwelt", wenn diese im engeren Sinn als die empirische, statische Sphäre von Angepaßtheit verstanden wird, als Ergän-

9 Redeker

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s. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

zung und Widerspiegelung des Organismus, einschließlich eines "zentralen

Organs".

Wenn die individuelle tierische Existenz als Unerfülltheit, Kampf, Drang und ruhelose Dynamik gekennzeichnet wird, dann ist sie auch in einer fundamentaleren und allgemeinen Schicht nochmals "sich selbst voraus". Aber einmal auf dem Weg der geschlossenen Form kann dieser "kostbare" Weg nur weiter gehen: der Weg zu einer weiteren Geschlossenheit, die gleichzeitig positionell, im Hinblick auf das andere eine weitere Offenheit impliziert. Offene und geschlossene Organisationsform bleiben dabei unvermindert Ideen, denen keineswegs widerspricht, daß die entwickelten "Eigenschaften" empirisch und einzeln betrachtet, selten oder nie ausschließlich innerhalb einer der beiden Lebenssphären angetroffen werden. Inzwischen kann man gerade bei der genaueren Bestimmung der für die geschlossene Form spezifischen Zentralität und frontalen Positionalität innerhalb der Linie, die Plessners Denken zieht, aufs neue einen Wendepunkt konstatieren. Später muß er als intrinsisch für Plessners Philosophie erhellt werden, hier wird er jedoch vorläufig als Merkmal konstatiert. Bei der Entwicklung der Eigenschaften der offenen pflanzlichen Form war es der Fall, daß diese Eigenschaften schon bald in negativem Kontrast gegenüber der geschlossenen Form als ein (relatives) Fehlen von, als ein primitives .. Minus" entwickelt werden mußten, so sehr dieses Pflanzliche gleichzeitig als spezifische eigene Möglichkeit innerhalb der allgemeinen Kennzeichen des Lebendigen als solchem gestellt wurde, sodaß das Tierische sich keineswegs als eine Komplikation oder Bereicherung der "offenen" Seinsweise erweist. Hier liegt ein analoger Fall vor, nämlich, daß die geschlossene Form sich anfangs noch gegen die offene Form abzeichnet, aber sich nur in Antizipation und vor dem Horizont einer anderen, menschlichen Seinsweise als ein ..noch nicht" umschreiben läßt. Vorläufig kann man behaupten, daß es ist, als ob die allgemeinen Kategorien des Lebendigen, in einer Neutralität in bezug auf welche spezifische Lebensform auch immer entwickelt, erst in der geschlossenen Form ihren eigentlichen Inhalt, ihre .. Bestimmung" finden. Diese Bestimmung wiederum ist ein Vorspiel des Menschlichen, als Abschluß des philosophischen Systems. Das zeigt sich schon direkt, wenn es um die genauere Bestimung der Zentralität der geschlossenen Form und ihrer Positionalität als Seinsweise geht. (IV, S. 303 ft) Die spezifische Doppelaspektivität der geschlossenen Form, nämlich ein Körper zu sein und gleichzeitig seinen Körper als "Leib" zu haben, "in seinem Leib" zu sein, macht nämlich zum ersten Mal das Zentrum zu einem Selbst ohne daß dies als ein Ich aufgefaßt werden darf. So weit dieses Lebewesen einen Leib besitzt, besitzt es als Zentrum eine Distanz zum eigenen Körper, handelt es durch den Körper hindurch aus einem Zentrum als Konvergenzpunkt von Körper und Umgebung, ohne daß dieses Zentrum

B. Die Organisationsform von Pflanze und Tier

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als solches irgendwie an sich selbst manifest wird. Als "Subjekt~ (ein Begriff, den Plessner in der eigenen Terminologie zulassen will) ist es ein ebensowenig lokalisierbares wie relativierbares "Hier~, .,natürlicher Platz~, "Topos~, das "Hier~ gegenüber dem "Dort~, der Punkt, von dem aus das tierische Wesen lebt, soweit es einen .,Leib~ hat, obwohl es gleichzeitig in reiner Doppelaspektivität derselbe Körper bleibt. In dieser relativen und abhängigen Relation zur eigenen Existenz darf es in Plessners Terminologie als ein "Sich~ charakterisiert werden, aber noch nicht als ein "Ich~. Alles bleibt im Modus des Hier und Jetzt, ohne daß dies als solches am lebenden Wesen selbst manifest wird. Das würde eine Überschreitung der Hier-Jetzt-Situation bedeuten. (IV, S. 305) Mit anderen Worten: die Polarität von Körper und Leib innerhalb der tierischen Seinsweise schafft im Leib-Aspekt wohl ein bestimmtes Verhältnis durch den eigenen Körper hindurch zur Umgebung, ohne daß dies das "außerhalb seiner selbst sein~ durchbricht, ohne daß es als "Subjekt von Haben~ auch sich selbst "hat~. Auch als Selbst geht das TIer im Hier und Jetzt auf, dem Hier und Jetzt der eigenen Mitte, des eigenen Seins-Zentrums, von dem aus der Körper eine Umgebung hat, ohne ein Verhältnis zu diesem Woraus haben zu können. Umgebung und Leib sind auf eine solche Art und Weise "anwesend~, daß das TIer darin aufgeht. Die "Reflexivität~ (noch immer Worte, die auf den Menschen vorgreifen) betrifft nur den Körper als "Leib~, aber noch nicht den gesamten Körper in seiner Totalität (eine vorgreifende Bestimmung der menschlichen Reflexivität, die schon ihre Position gegenüber jeder spiritualistischen Reduktion des Ich ankündigt). (IV, S. 306) In diesem Leben, Existieren aus einer an sich selbst verborgenen Mitte, in einem strikten Hier und Jetzt, "außerhalb seiner selbst~, liegen gleichzeitig die Kennzeichen von Spontaneität und Frontalität und mit dieser Frontalität im Hier und Jetzt, diesem außerhalb seiner selbst sein, der bereits genannten offene Charakter des Positionsfeldes, dessen Grenzen als zeitlich-räumlicher Horizont verschwinden. Verglichen mit dem verborgenen Selbst des Menschen, trotzdem er einen "Leib~ besitzt, der antagonistisch in "sensorischen" und "motorischen~ Organen organisiert ist, die das geschlossene Wesen indirekt an seine Umgebung vermitteln und zur Umwelt konstituieren, bleibt auch dieser Umwelt, die offen ist, eine Verborgenheit in bezug auf "Hintergrund~ und "Horizont~. Durch ihre Seinsweise bleibt auch die Umwelt des TIeres jeweils strikt innerhalb des Hier und Jetzt, strikt bestimmt durch den praktischen, "biologischen~ Aspekt des Lebensbereiches: bestimmt durch die Bedürfnisse, Interessen, Kampf- und Selbsterhaltungsaspekte, "Triebe~ und .. Instinkte~, die alle die "Unerfülltheit" der geschlossenen Form charakterisieren und zum Ausdruck bringen. Frontalität heißt in Plessners Terminologie diese allgemeinste Bestimmung der tierischen Seinsweise alsfrontale Position im Hier und Jetzt, außerhalb seiner selbst, trotz des "Besitzes~ des Körpers als Leib und soweit er Leib ist.

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

Innerhalb dieser Frontalität kann Plessner in bezug auf die Organisationsfonn nochmals zu einem Gegensatz kommen, der in gewissem Sinne mit der Divergenz von offener und geschlossener Form zu vergleichen ist. Es ist der Gegensatz zwischen Dezentralisation und Zentralisation. In dem einen Fall bildet der Organismus mehrere Teilzentren mit der Notwendigkeit einer weitgehenden Ausschaltung und Funktionsverminderung des Hauptzentrums, des "Mittelpunktes" als "Subjekt". Im anderen Fall wird soviel wie möglich unter die Herrschaft dieses letzten Zentrums gebracht, bekommt das tierische Leben als Einheit seine geschlossenste Form. (IV, S. 308) Beide Möglichkeiten mögen nochmals einen "ideellen" Charakter haben, in der empirischen Wirklichkeit in einer unbestimmten Anzahl von Kombinationen und Übergängen auftreten und niemals völlig getrennt voneinander, sie haben dennoch biologisch betrachtet ihre spezifischen Kennzeichen, Möglichkeiten und "Nachteile". Gemeinsam haben sie, daß es in allen Fällen um den Hiatus, die zentrale Vermittlung zwischen "Reiz" und "Reaktion" geht, die die geschlossene Form auch in ihren am stärksten dezentralisierten Beispielen kennzeichnet. Diese Unterbrechung, die wenn auch in geringem Maße den "Antwort-Charakter" hat, eine Bremse zwischen "Merken" und "Wirken", ohne die das zentrale "Merken" keinerlei Sinn hätte. Merken und Wirken stehen also antagonistisch einander gegenüber als gehemmte und enthemmte Erregung. (IV, S. 312) Es kommt noch in einem anderen Zusammenhang zur Sprache, wie sehr auch die Lokalisierung der verschiedenen antagonistischen, sensorischen und motorischen Organe, die das Tier mit seiner Umwelt verbinden, innerhalb des Baus des tierischen Körpers in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielt. Auf jeden Fall kommt durch den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion innerhalb des tierischen Lebens ein Hiatus als "Spielraum" zustande, der sowohl die spezifischen Antwortmöglichkeiten als auch die Möglichkeiten von Scheitern und Irrtum in sich birgt. Andererseits muß es zwischen den antagonistischen Organen eine bestimmte ausgewogene Korrelation geben, wenn das Sensorische gerade die Tatsachen, Reize, Aspekte isolieren, zusammenfassen und durchgeben will, auf die der Organismus antworten kann und für seine Existenzbedingungen antworten muß. Es ist eine Tatsache, die vor allem seit von Uexküll von der Biologie bemerkt wurde, daß "Merkmalträger" und "Wirkungsträger" einander innerhalb des Antagonismus von sensorischer und motorischer Organisation in demselben "Objekt" decken und die Umgebung zu der Umwelt machen, innerhalb derer das Tier angepaßt ist, außerhalb derer für das TIer "nichts existiert", die wundersame Planmäßigkeit in der Natur, die in vollendeter Korrelation organischen "Bauplan" und Umweltplan innerhalb eines Lebensplans vereint. (IV, S. 314)

Sowohl in der Dezentralisierung als auch in der Zentralisierung ist diese Korrelation vorhanden, zusammen mit dem durch das Zentrum geschaffenen

B. Die Organisationsfonn von Pflanze und Tier

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Hiatus. Bei der Dezentralisierung ist jedoch der Hiatus, der Umweg auf ein Minimum reduziert, ist jedenfalls auf diese Weise auch der Spielraum des Risikos auf ein Minimum reduziert, aber mit der Dezentralisierung des Reizes wurde auch die motorische Antwort außerhalb des Zentrums verlegt. Immer innerhalb bestimmter Grenzen ,.handelt" das Teil getrennt und bekommt die Reaktion den Charakter eines Reflexes. Von einer "Merk"- und "Wirkwelt" ist im Grunde keine Rede. Festgelegtin sensomotorischen Korrelationen, die außerhalb des Zentrums verlaufen, (die nicht nur im .. Bau", sondern auch in einem dezentralisierten Nervensystem ihren Ausdruck finden), liegt die Einheit des Lebewesens hauptsächlich in seinem .. Bauplan", besteht seine frontale Position in einem offenen Positionsfeld nur soweit noch etwas von der Zentralität geblieben ist. Viel von dem hier Behandelten, bzw. Berührten hat sich seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts auch unter dem Einfluß von Plessner selbst (und in den Niederlanden unter dem Einfluß von Buytendijk) in einer umfangreichen Literatur niedergeschlagen, sodaß außer einem Verweis eine globale Zusammenfassung genügte. Die durfte jedoch nicht fehlen, da es auch hier nicht nur um Plessners historischen Beitrag zu einer biologischen Grundproblematik geht, sondern auch und ganz speziell um seine noch immer aktuelle philosophische Arbeitsweise im Hinblick auf den Menschen. Das gilt vor allem für die Zentralisation, als Art und Weise, in der tierisches Leben seine Lebensbedingungen organisiert und realisiert, gerade durch eine möglichst umfangreiche Einschaltung des Zentrums. Einerseits wird hierdurch der Hiatus, der Umweg, der Abstand zwischen dem Passiv-Rezeptiven und dem Aktiv-Einwirkenden, zwischen dem Sensorischen und dem Motorischen, zwischen dem Empfangenden und der Antwort und mit diesem Umweg der Spielraum und das .. Risiko" vergrößert. Andererseits fügen sich dabei die verschiedenen rezeptiven, sensorischen, organisch selektierten Sphären, durch das .. zentrale Organ" vermittelt, zu einer Umwelt zusammen, worauf auch das tierische Wesen als ein Ganzes organisiert antwortet. Und das grundlegend Entscheidende ist, daß für diesen vermittelten Durchgang vom .. Passiven" zum .. Aktiven" dieses spezifische Verhältnis zwischen Zentrum und Umwelt keine andere Bestimmung möglich ist als Erfahren, Erleben, als ein .. Bewußtsein", so sehr dies in der Frontalität auf privative Weise vom menschlichen Bewußtsein unterschieden ist. Hier kommt der tiefste Sinn von Plessners Philosophie zum Ausdruck: die Dichotomie, in die der Mensch im Hinblick auf sein eigenes Bewußtsein verstrickt ist, zu überwinden, indem man ausschließlich von der Doppelaspektivität von erscheinenden Gegenständen, Dingen, .. Körpern" ausgeht, bis der Punkt erreicht ist, an dem in der Erscheinungsweise bestimmter lebendiger .. Dinge", und zwar der tierischen geschlossenen Form, der Bewußtseinsaspekt, das Bewußtsein als .. Aspekt", als eine notwendige Bedingung ihrer .. Dinglich-

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

keit" auftritt, ohne daß dabei die "psychophysische" Neutralität verlassen oder verraten wurde. "Aspektivität" bekommt damit ihre doppelte und gleichzeitig neutrale Bedeutung. Das Zentrum als verborgener, "substantieller" Kern wird hier Bestandteil und Eigenschaft der "Erscheinungsweise" als erscheinende Doppelaspektivität, soweit sich auch dieses lebendige Wesen als solches zum .. Subjekt" konstituiert, daß es seine Umwelt (und uns) ansieht (ohne sinnliche Spezifikation zu verstehen), daß es seine Umwelt zentral erfahrt, erlebt und auf die Erfahrung auch als Zentrum und Selbst, als Einheit, durch die verschiedenen Aspekte hindurch, antwortet. Entflieht der Mensch in den Existenzphilosophien der reinen undoppelsinnigen Bestimmbarkeit eines Objektes zwischen (toten) Objekten auf Grund einer Seinsweise, die nicht nur sein Subjektsein bestimmt, sondern in Neutralität auch sein ..Objektsein", die Erscheinungsweise als der "andere", der, um an Sartre zu erinnern, "uns ansieht", als einen ontologisch fundamentaleren Aspekt, als daß er von uns gesehen wird (die Begegnung, die Ich-DuBeziehung, der Blick als wesentlichste "Erscheinungsweise"), dann gilt das auf einer anderen Ebene bei Plessner schon für das Tier, das uns auf eine andere Weise als die leblosen Dinge erscheint (auch wenn das auf Grund der Dichotomie innerhalb einer bestimmten wissenschaftlichen Empirie unfaßbar, ..unsichtbar" geworden sein mag), gerade weil es auch in seiner Seinsweise als Körper und durch seinen Körper auf eine andere Weise seiner Umwelt gegenübergestellt ist. Will der Mensch in der Philosophie wirklich Ernst machen mit der Überwindung der Scheingestalten und seiner Dichotomie, die ihm die Sicht auf den Menschen nehmen, dann wird er auf diese Schicht ..hinuntersteigen" müssen, um von hier aus die unreduzierte Seinsweise des Menschen zu gewinnen. In der zentralisierten Organisation, vor allem bei den Vertebraten auftretende spezifischste und vollständigste Verwirklichung der geschlossenen tierischen Seinsweise, befmdet sich das Lebewesen schließlich als "Subjekt" in und gegenüber dem eigenen Körper (und doch gleichzeitig als dieser Körper) ..bewußt" erfahrend und agierend, wenn auchjrontal im Hier und Jetzt (ohne Verhältnis zu sich als Selbst) gegenüber der Umgebung als dem offenen Ganzen einer augenblicklichen Situation. Das Zusammentreffen von den verschiedenen, vom zentralen Nervensystem vermittelten sensorisch-rezeptiven Gebieten innerhalb eines Zentrums als "Merkwelt" macht auch das Verhältnis zu den darauf antwortenden Verhaltensweisen anders als bei der dezentralisierten Form, bei der eine strenge und direkte Korrelation besteht zwischen einem bestimmten sensorischen Gebiet und einem bestimmten motorischen Reflex, wobei das Sensorische nur den Charakter von Signalen aufweist. hn Gedankengang von Plessner stellt die differenzierte sensorische Einheit der dezentralisierten Form dem zunächst ein .. Übermaß" an Tatsachen gegenüber, wobei die direkte Korrelation zwischen dem Rezeptiven und dem Verhalten

B. Die Organisationsfonn von Pflanze und TIer

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zerstört ist, das Gegebene den Platz eines "Feldes" bekommt, auf dem und innerhalb dessen das TIer notwendigerweise reagieren muß. Doch liegt in dieser rein sinnlichen Bestimmung des augenblicklichen "Gegenfeldes", der "Situation", in der tierische Verhaltensweisen stattfinden und wodurch sie charakterisiert werden, eine gefährliche dichotomistische Abstraktion, gegen die gerade auch Plessner sich sofort zu wehren hat. Auch die tierische Sinnlichkeit der zentralisierten Organisation muß innerhalb der Korrelation von Körper-Leib und Umgebung angesiedelt werden, in der Frontalität des Hier und Jetzt. Die Frage, wie es möglich ist, daß die Differenzierung und ein Übermaß an sensorischen Fakten (Plessner spricht von einem "Primat des Sensorischen bei der Zentralisierung) sich beim TIer so zusammenfügen, daß daraus ein vital-situationsgebundenes Feld entsteht, in dem das TIer sich schnüffelnd, spürend, nachjagend, orientierend, flüchtend, werbend, sich paarend verhält, ein Feld mit anderen TIeren, Pflanzen, Dingen, diese Frage läßt sich in heutiger Perspektive am adäquatesten beantworten, indem man die Frontalität als spezifischen Modus der Intentionalität entwickelt. Davon machte Plessner anno 1928 noch zu wenig Gebrauch. Frontalität ist dann die Intentionalität eines Lebewesens, das zu sich selbst nur ein Verhältnis als Leib hat und durch Vermittlung dieses Leibaspektes und zusammenhängend damit ein Verhältnis zum anderen hat, das spezifisch gekennzeichnet ist durch das Hier und Jetzt, das frontale Außerhalbseinerselbstsein. Innerhalb dieser Intentionalität bekommt auch das Sinnliche seinen Platz. Auch das zentralisierte TIer schaut, lauscht, schnüffelt, probiert, tastet innerhalb eines augenblicklich situations gebundenen Feldes, das durch zwei fundamentale Faktoren zu einem wahrhaft "situationellen" "Feld" wird: einerseits durch die Tatsache, daß die Sinne selbst zum "Leib" -Aspekt der Körperlichkeit gehören und sich innerhalb einer durch den "Leib" geöffneten Umgebung ausrichten, andererseits durch die spezifische Gerichtetheit der augenblicklichen Situation, die bestimmt ist durch Hunger, Gefahr, sexuellen Drang, fliehende Beute, Nestschutz und alles, was sich darin empirisch als "Trieb" und "Instinkt" zeigt und die vitale "Färbung" und "Spannung" des augenblicklichen Feldes von Erfahrung und Verhalten bestimmt. Die Korrelation mit der eigenen Körperlichkeit, einschließlich ihrer motorischen Möglichkeiten gibt auch den "Gegenständen" der tierischen Umgebung ihren festen, substantiellen, körperlichen Charakter. Sie konstituiert die rein "anschauliche" vorverstandesmäßige Dinghaftigkeit, die Einheit, an der die unterschiedlichen sinnlichen Gegebenheiten erscheinen, wie diese Divergenz auch an der "subjektiven" Seite innerhalb der Einheit der Körperlichkeit besteht. Der "Umweg", der "Hiatus", die "Leere" zwischen "Merken" und ..Wirken", die durch die Zentralisierung konstituiert wird, existiert nur als die

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

Art und Weise, in der das Tier sich gegenüber einer Umgebung befindet, die sich in ihrer Ordnung, Übersichtlichkeit und "Substantialität~ und damit in ihren Angreifungsmöglichkeiten gerade als Korrelat der Einheit des "Sensorischen" und "Motorischen" innerhalb des Körpers als "Leib~ erweist, durch den und mit dem das Tier in einem frontalen Verhältnis zur Umgebung steht. Es ist jedoch gleichzeitig dieser "Leib"-Aspekt als Beschränkung des Verhältnisses des Tiers zu sich selbst, das "sich verborgen bleiben" und damit die streng frontale Koppelung an das Hier und Jetzt, worin zugleich die fundamentale Grenze liegt, daß trotz des "substantiellen Charakters" der tierischen Umgebung und ihrer ,.Objekte" diese doch niemals anders als in einem streng vitalen Aspekt existieren, "als~ Beute, "als" Gefahr, "als" Nest, "als" Fluchtort und niemals in der "hinter" dieses vitale Interesse weisenden objektivierenden (doppel aspekt iv ischen) Identifikation von Etwas-als-Etwas, die nur auf Grund der spezifisch menschlichen Verhaltensmöglichkeit zu sich selbst existieren kann. Nur durch die Integrierthcit des SilUllichen und der Sinne innerhalb der Einheit des "Leibs" zusammen mit der darin auftretenden Selektion der jeweils augenblicklichen intentionalen Gerichtetheit (von Schnüffeln, Hören oder/und Sehen» innerhalb eines mit vitalen Bedeutungen beladenen Feldes, wird das scheinbare Übermaß des Sensorischen bei der zentralisierten Organisationsform zum dem was es in Wirklichkeit ist: die durchgehende Einheit von nur in vitalem Aspekt erscheinenden, aber dennoch "substantiellen" Selbständigkeiten innerhalb der spatio-temporalen offenen Totalität eines vital-situationellen Feldes der Anwesenheit. Ohne diesen, hier nur im ersten Ansatz gezeigten Weg prinzipiell und systematisch zu verfolgen (Vergl. IV, S. 316 ff) kommt jedoch auch Plessner zu übereinstimmenden Resultaten. In der spezifischen Form von "Subjektivität" und "Bewußtheit", die das zentralisierte Tier kennzeichnet, erscheint auch bei ihm mit dem Handlungsfeld zugleich der eigene Körper als "Leib" im Bewußtsein, ist durch das spezifische Verhältnis zu sich selbst als "Leib" implizit auch das spezifische Verhältnis zum anderen als Bedingung der Möglichkeit gegeben, daß das Zentrum "bewußt", die Breite einer Situation übersieht oder erkennt, "auf die" es anwortet, "in der" es handelt. "Statt sich in seinen Aktionen zu verlieren und in ihnen aufzugehen, ohne etwas von ihnen zu merken, empfindet jetzt das Tier sein Greifen und Loslassen, sein Angreifen und Fliehen, die gelingende und mißglückende Bewegung. Nun ist es in die Lage versetzt, seine Aktionen zu lenken, impulsiv in Gang zu bringen und zu bremsen, ihren Ablauf zu kontrollieren und zu modifizieren. Jetzt hat es sich in den Griff bekommen, wie es die Griffe am Umfeld, die Eingriffe des Umfeldes spürt. Das Umfeld präsentiert sich griffig, nicht mehr als reine Merksphäre, sondern als Merk- und Wirkungssphäre. (IV, S. 320) Das bestimmt daher auch den temporalen Charakter innerhalb der Anwesenheit und des Augenblicks: das sich voraus sein, aber auch dem "Umfeld"

B. Die Organisationsform von Pflanze und Tier

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voraus sein in dem Maße, in dem das Umfeld "Möglichkeiten" bietet, bleibende Konstante von "substantieller" Art. (IV, S. 321) Und auch hier findet dann die Verbindung des "Substantiellen" (Haltbarkeit, Dinglichkeit) innerhalb der tierischen Umgebung mit dem eigenen Körper statt, gerade auch in seinen motorischen Aspekten als "Leib". "Was als Struktur der Haltbarkeit am Dinggebilde auftritt, ist in Wahrheit sein Bezug zur Motorik des Lebewesens, welches das Ding wahrnimmt". (IV, S. 322 f.) ... Lenkbarkeit der Bewegungen mit dem eigenen Körper (auf Grund der Empfindbarkeit der Bewegungen) und dingliche Struktur des Umfeldes entsprechen einander." (ibidem) Und da diese "Lenkbarkeit" und ... Empfindbarkeit" der eigenen Bewegungen den LeibAspekt spezifisch charakterisieren, darf auch bei Plessner festgestellt werden, daß die "Substantialität" der Umwelt gleichzeitig mit der Selbsterfahrung des eigenen Körpers als "Leib" "geboren wird" und ebenso weit reicht wie die jeweils nur relative Realisierung der geschlossenen Form zu einem zentralen System. Was in den "Stufen" an vergleichender Interpretation biologischer, tierpsychologischer und physiologischer Theorien zu diesem Punkt folgt, ("IntelIigenz bei Tieren", das "Komplexqualitative", Situationsgebundene, Volkelt, Köhlers berühmt gewordene Experimente), mag historisch von Bedeutung sein, auch zum Prüfen der Tragfähigkeit von Plessners eigener Philosophie, in diesem Zusammenhang wird es überschlagen. (IV, S. 330 ff) Das Wichtigste, was daraus zum Vorschein kommt, ist das für das Tier spezifische Fehlen des "Sinns für das Negative" (IV, S. 340), gerade dasjenige, was als Konsequenz des begrenzten Verhältnisses zur eigenen Existenz als "Leib" an der Seite der Umgebung entwickelt wurde. Das Durchdringen hinter die vitale Bedeutung dessen, was in seiner vitalen Sphäre anzutreffen ist, als das "Fehlende", echte Objektivierung im menschlichen Sinn ist dem Tier versagt, auch, trotz Köhlers und Buytendijks Versuchen ein wirkliches einsichtiges Kombinieren mit isolierten Entitäten, soweit dies nicht innerhalb der Grenzen einer bestimmten Situation als Ganzes verschlossen ist. Das Negative des menschlichen Zweifels, das nicht frontale Aufgehen im augenblicklichen Hier und Jetzt (auch wenn das ebenfalls seine temporalen Relationen zu Zukunft und Vergangenheit hat), das spezifisch menschliche "Nichts", das trennt zwischen dem "verborgen" Erscheinenden und seiner Unerschöpflichkeit möglicher Erscheinungsweisen. Diese spezifische Relation zu etwas, das gleichzeitig nicht vorhanden ist, fehlt in der Erfahrungswelt des zentralisierten Tieres - auch in den Versuchen, die gemacht wurden - und bestimmt mit den anderen Aspekten dieses Fehlens das Statische des tierischen Lebens in bezug auf die Historizität des Menschen, das Eingeschlossenbleiben innerhalb einer Umgebung von jeweils vitalsituationsgebundenen Aspekten, organisch-typisch-instinktiv festgelegt, so sehr darin im Maße der Zentralisierung auch Platz ist für Er-fahren, Er-leben,

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

Be-schauen, Über-sehen, und das alles auch notwendig ist, Möglichkeiten des Bewußtseins im allgemeinsten Sinn, wie auch Wahr-nehmung, die hier nicht

auf unzulässige Weise aus menschlicher Introspektion gewonnen wurde, im tierischen Verhalteninterpretiert und konstruiert werden (durch Analogie). Denn - das ist auch hier das Grundlegende in Plessners Systematik - "die Betrachtung der Positionalität schließt das in der Selbstbeobachtung Zugängliche, sofern es den Bezug zum Außenfeld konstituiert, mit ein". (IV, S. 324)

Wie in stärkerem Maße bei der offenen Organisationsform des Pflanzlichen der Fall ist, bleibt auch Plessners theoretische Entwicklung der tierischen Seinsweise auf den fundamentalen Ansatz, dessen, was sich daneben aber vor allem seitdem, teils unter seinem eigenen Einfluß als Grundtheorie des Tierischen und vor allem als TIerpsychologie entwickelt hat. Der Hauptakzent liegt auf dem Menschen. Was in den "Stufen" noch hinzugefügt wird und später nur ab und zu und en Detail hinzugefügt und korrigiert wurde, betrifft hauptsächlich eine genauere Bestimmung der "Intelligenz" bei Tieren und der Aspekte Gedächtnis und Temporalität. Das gerade in den zwanziger Jahren stark erwachte Interesse an den Möglichkeiten, auch bei Tieren "Intelligenz" nachzuweisen (Köhlers Schimpansenversuche u. a.) findet nämlich bei Plessner seine entscheidende Antwort in der spezifischen Korrelation zwischen "Leib" und Umgebung, die die Frontalität, das Fehlen des Sinns für das Negative und damit für echte Objektivierung bestimmt. Einsicht darf dem Tier nicht abgesprochen werden, soweit es die Beherrschung seines vital bestimmten Handlungsfeldes betrifft, Zusammenhang der Übersicht, Antwort und Eingreifen innerhalb einer als Ganzes auftretenden Situation. Aber das alles wird niemals zu einer Einsicht in einen "Sachverhalt.. , es bleibt "beim Tier Gestalterfassung, Überblick über einen Komplex gegebener Elemente des Umfeldes." (IV, S. 343) Entscheidend ist das Fehlen der Abstraktionsmöglichkeit als Grundlage der Begriffsbildung, das Lösen des Allgemeinen aus dem jeweils Konkreten. Durch das Unvermögen, sich aus der Frontalität und der vollkommen vitalen Spannung und Bedeutung der augenblicklichen Situation zu befreien, in dem außerhalb seiner selbst sein der Frontalität, lebt das Tier seine Allgemeinheiten unverbrüchlich mit der Situation und den darin anwesenden konkreten Anwesendheiten. Was für den Menschen, jedenfalls in einer bestimmten Phase die philosophisch so störende Trennung zwischen dem Konkreten und dem Allgemeinen bewerkstelligt, bleibt beim Tier ungeteilt, wie sehr das Allgemeine als Erscheinungsform, als "Gestalt" je nach einer dazu förderlichen Situation auf andere Objekte transponierbar zu sein scheint (Dressurversuche usw.) um auch da nur in Einheit mit einem neuen "Objekt" zu erscheinen. Die Frage, auf Grund welcher geistigen Komplikationen es dem Menschen gelingt, vom Besonderen zum Allgemeinen durchzudringen, findet also ihre Antwort auf der tierischen Ebene, wo das Allgemeine und das Besondere bereits

B. Die Organisationsform von Pflanze und Tier

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ungeteilt und apriori vorhanden sind und dem Verhalten zugrunde liegen, wo das Allgemeine kein unsinnliches Bewußtseinsprodukt ist, sondern eine Erscheinungsweise. Sind bei der strengen Korrelation von Reiz und Reaktion in der dezentralisierten Organisationsform das Allgemeine und das "Besondere" so untrennbar geworden, daß dieser Gegensatz jeden Inhalt verliert, dann tritt die tierische Divergenz im Grunde erst bei der dezentralisierten Form auf, wo der Leib in seinem motorischen Aspekt (greifen können, erobern können, mit etwas umgehen können usw.) die Dinghaftigkeit aus der situationsgebundenen Feldstruktur absondert. (IV, S. 346) Die Dinghaftigkeit wird vollkommen durch und als die Art und Weise bestimmt, in der das "Ding" in einer rein vitalen Relation innerhalb der offenen Totalität des vitalen Feldes behandelt werden kann. "Weder wird das Einzelne auf dem Hintergrund der Feldstruktur als Einzelnes noch die Feldstruktur .als offene Einheit gegen das einzelne Feldelement erfaßt." (IV, S. 346) Der Gegensatz zwischen allgemein und konkret individuell existiert auf dieser Stufe, aber erscheint selbst nicht. Mit anderen Worten als denen Plessners kann hier gesagt werden, daß das Ding als ein bleibendes Ding, aber nur mit vitalen und durch den "Leib" konstituierten rein praktischen Behandlungsaspekten existiert, das Bleibende besitzt, auf das man zurückkommen kann, aber gleichzeitig seine "Identität" verändert und verliert je nach der wechselnden Bedeutung in den Veränderungen des vital geladenen Situationsfeldes, als Ding "verschwindet" in dem Maße in dem auch die vitale Bindung und Bedeutung (Hunger, Sexualität usw.) verschwindet. Beim Menschen ist die bleibende Identität jedoch durch die Identität als Objekt hinter allen möglichen Bedeutungen, Interessen, Aspekten und Brauchbarkeiten garantiert. Übrig bleibt, jedenfalls in den "Stufen" eine genauere Bestimmung der Temporalität der frontalen Position, die sich vor allem in bezug auf das Gedächtnis vollzieht. Allgemein war in der Positionalität alles Lebendigen bereits die spezifische Temporalität aufgedeckt worden, das sich voraus, zu sich selbst zurück sein, das Werden als Identität von Bleiben und Sichverändern, die Spirale, die sich zugleich im Spezifischen von Lebensphasen und vom Tod als "Schicksal" manifestiert, aber zugleich damit auch das spezifische Verhältnis zur Vergangenheit im Augenblick, die als verwirklichte Potentialität, als Aktualität die entscheidende Verbindung von Vergangenheit und Zukunft realisiert: sich selbst voraus und hinter sich selbst distanziert das Lebendige sich von der eigenen Vergangenheit als eigene Weise, diese Vergangenheit festzuhalten, sie zu bewahren. Das gilt für die dezentralisierten und offenen Lebensformen bei allen Modifikationen nicht anders als für die geschlossene, dezentralisierte und frontale Form tierischen Lebens. In der Frontalität als der Weise in der das TIer als Zentrum, als "Subjekt" durch die Vermittlung des "Leib"-Aspektes und mit diesem Leib wahr-

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

nehmend, erfahrend und handelnd in ein Situationsfeld gesetzt ist, bekommt jedoch auch diese Temporalität eine neue Bedeutung. Diese Struktur des sich selbst voraus und bei sich selbst zurück Seins beherrscht nämlich ebensosehr das Bewußtseinsleben, wie streng sie auch durch die Frontalität begrenzt ist. Auch hier, außerhalb, im Feld von Erfahren und Handeln ist das Tier auf spezifische Weise sich selbst voraus, in jeder Wahrnehmung, in jeder Handlung, die sich nur als eine temporale Gerichtetheit, als eine Aktivität, eine Gerichtetheit aus dem Zukünftigen noch nicht und auf das Zukünftige hin annehmen läßt. Was zunächst ganz allgemein in bezug auf das Organische noch als "Prozeß" oder "Werden" gekennzeichnet werden konnte, tritt jetzt in die Modi von "Bewußtsein" und "Handeln". Aber auch hier impliziert das gleichzeitig die spezifische Anwesenheit der Vergangenheit in der Aktualität, gerade durch die Art und Weise, in der dieses sich- selbst-voraus-und zu-sich-selbst-zurück-Ieben abgegrenzt von der Aktualität zu echter Vergangenheit geworden ist. Das heißt, daß das Lebewesen als (und soweit) Zentrum auch in diesem Aspekt die eigene Vergangenheit "bewahrt" und in die Aktualität zieht, gerade weil es davon distanziert und handelnd die spezifische Gerichtetheit auf die Zukunft hat. Es ist sich selbst auch in dieser Hinsicht "gegenwärtig" (IV, S. 352), ist als Zentrum auch in dieser Hinsicht ein Durchgangs- und Verbindungspunkt. Das bedeutet, daß es als zentralisierte, geschlossene Form im Modus von "Bewußtsein" oder "Erleben", "Erfahren" auch die eigene Vergangenheit mit erfährt, welmgleich strikt in der jeweils vorliegenden situationsgebundenen (intentionalen) Gerichtetheit (räumlichzeitlich, außerhalb seiner selbst und sich selbst voraus), aber auch innerhalb der Frontalität, der Geschlossenheit innerhalb des Hier und Jetzt, außerhalb seiner selbst. So zeigt die spezifische Anwesenheit der Vergangenheit in der Aktualität der zentralisierten Lebensform sich als Gedächtnis. Dabei stehen wir vor der Notwendigkeit, einen terminologischen Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis zu machen (bei Plessner nicht explizit vorhanden). Erinnerung ist dann die Fähigkeit, die Vergangenheit aL.. Vergangenheit im Jetzt mit dem Aspekt eines Erlebnisses, einer Erfahrung, eines Geschehnisses, einer konkreten Situation zu erfahren, wie verstümmelt, unvollkommen oder verfälscht dieser auch sein mag. Die Existenz der Erinnerung im Jetzt durchbricht das strikt vitale Aufgehen in der augenblicklichen Situation, ist ein Insichzurückkehren, ein Er-innem, welche konkreten situationsgebundenen Aspekte und Tatsachen die Erinnerung "wachgerufen" haben mögen (ein Geruch, ein Name, eine Ähnlichkeit, ein Lied). Das alles ist gerade der Frontalität vollkommen verwehrt. Die Vergangenheit ist aufbewahrt und präsent, aber nur in der konkreten Situation, außerhalb als "Erkennen" von Qualitäten, von "Fakten" und ..anschaulichen Allgemeinheiten" auf die Art und Weise, in der diese früher in ihrer spezifisch tierischen Form entwickelt wurden, aber niemals .. als" Vergangenheit.

B. Die Organisationsform von Pflanze und Tier

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Es gehört zu einer philosophischen Anthropologie, nachzuprüfen, inwieweit der Mensch gerade durch seine Erinnerung an Zielgerichtetheit seines Gedächtnisses eingebüßt hat, in dieser Hinsicht dem Tier weit unterlegen, das eine sprichwörtliche Unfehlbarkeit besitzt. Für die dezentralisierte Lebensform ist das Gedächtnis, als die Art, in der die Vergangenheit (und zwar die Vergangenheit als Zentrumsaspekt) als Vergangenheit aber gleichzeitig als solche dem Tier verborgen, im Feld der Aktualität präsent, ebensosehr eine spezifische Möglichkeit wie eine Notwendigkeit, Ergänzung des Raums, durch Typ, "Bauplan" und "instinktives" Lebensmuster gelassen, die Bedingung für den Aufbau einer für Korrekturen empfänglichen Umwelt, in concreto und nicht nur in abstracto gedacht. Dabei geht die wahre Aktualisierung der Vergangenheit als Gedächtnis nur auf in der Antizipierung der augenblicklichen Situation, der "intentionalen" Gerichtetheit in ihrer Beziehung zum Zukünftigen als ein selektives, abdeckendes und zusammenfassendes Prinzip. Soweit eine ziemlich freie Wiedergabe dessen, was auch Plessner in seiner Betrachtungsweise erreicht. (IV, S. 348 ff) Es ist das indirekte Verhältnis zur Vergangenheit eines Wesens, das erst in seinem Leben "aus der Zukunft her" positional wird. (IV, S. 350) Mit dem Durchgang durch die "Stufen" des Lebens hindurch zur zentralisierten geschlossenen Form bekommt mit dem Zentrum auch das Jetzt eine immer wichtigere Rolle in der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft, bekommt die "Aktualität" das Kennzeichen von Geschehen und schließlich von Handeln. Die Rolle der Vergangenheit als Gedächtnis und gleichzeitig die "Selektion" in der konkreten Situation gehören als notwendige Implikationen, als apriorische Bedingungen zu der Seinsweise einer möglichen geschlossenen, positionalen Existenz, noch bevor man mit physiologischen und anderen wissenschaftlichen Methoden nach den Mitteln forscht, mit denen das Leben diese Seinsweise organisch realisiert hat. (IV, S. 354) Dabei kann dann nochmals als Ergänzung zu Plessners eigenen Auseinandersetzungen der Unterschied zwischen der spezifisch menschlichen Erinnerung und dem (sowohl bei Tieren als auch bei Menschen vorhandenen) Gedächtnis durch die unverbrüchliche Relation von Gedächtnis und Frontalität so spezifiziert werden, daß Frontalität nicht nur unvereinbar ist mit dem "sich" "erinnern" auf Grund des Hier und Jetzt, sondern auch schon vom "Innern", der Verinnerlichung, dem sich bewußt werden als Geschehen, als Erfahrung, auf Grund des fehlenden Verhältnisses zu sich selbst. Was das Gedächtnis dem Tier bietet, ist gerade dasjenige, was der Außenwelt als das Vital-Relevante, durch Lebensplan und Instinkte Bestimmte erscheint. Es sind, verglichen mit dem dämmernd Vergleitenden, Interpretierbaren, Entfliehenden der Erinnerung und ihres Horizonts des Lebens selbst, "harte Tatsachen" und (körperlichanschaulich) deutlich definierte "Allgemeinheiten" - Figuren, Gestalten, Beziehungen.

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5. Kap.: Genauere Bestimmung der organischen Seinsweise

Als Philosophie des Außer-Menschlichen, von pflanzlichen und tierischen Organismen hat Plessners Theorie, jedenfalls in seinen Publikationen kaum Verbreitung gefunden. Kritik eventueller Mängel und Schwachstellen ist jedoch nur sinnvoll im Hinblick auf das, was sie sein sollte: die Basis für eine Philosophie des Menschen. Die wichtigste Ergänzung in bezug auf seine Bedeutung für die Theorie des Tierischen wurde sogar noch vor den "Stufen" und in Zusammenarbeit mit Buytendijk entwickelt: die Theorie vom Verhalten in .,die Deutung des mimischen Ausdrucks" als neutral in bezug auf die Gegensätze Mensch-Tier, Innen-Außen, Erscheinung-Bedeutung, SubjektObjekt. Aber auch das kann man auf fruchtbarere Weise innerhalb einer Behandlung der menschlichen Seinsweise betrachten, da in allgemeinerem Sinne die Behandlung der mit dem Menschen vergleichbaren tierischen Lebensformen als geschlossen und zentralisiert bereits das Menschliche antizipiert, das Menschliche entwickelt wird als eine "Zuspitzung" von Leben als Seinsweise, die durch erscheinende Doppelaspektivität, Positionalität, geschlossene Organisationsform und Zentralisierung gekennzeichnet ist. Gegenüber dem wahren Ziel von Plessners philosophischer Architektur ist seine Bedeutung f"ür bestimmte Theorien des Außermenschlichen, vor allem die Tierpsychologie als Implikation einer Bestimmung der menschlichen Seinsweise, die auch Konsequenzen in bezug auf die möglichen - auch theoretischen - Relationen des Menschen zu anderen Lebensformen hat, von sekundärer Bedeutung. Die auch von Buytendijk bestrittene These, daß der Mensch das Wesen ist, das sich selbst weder am nächsten noch am fernsten ist, ist nur der spezifischste Ausdruck davon. Es kündigt sich hier schon an in der Tatsache, daß in Verhalten, Wahrnehmung, Erfahrung, Gedächtnis, Hören oder Sehen Lebensaspekte entwickelt werden, die auch theoretisch den Gegensätzen wie des Menschlichen und Tierischen neutral gegenüberstehen, insoweit der entscheidende "Bruch" auf Grund der Tatsache, daß sie dem Menschen nur durch Introspektion zugänglich sind, für das Tier jedoch nur als äußerliche Vorgänge wahrnehmbar sind, nicht weiter reicht als eine Dichotomie innerhalb der Konzeption des menschlichen Bewußtseins selbst, die überwunden werden muß. "Tierpsychologie" , besser umschrieben als" Theorie des tierischen Verhaltens" bleibt dann möglich und legitim auf Grund der Tatsache, daß innerhalb des Lebens das "Subjektive" und das "Objektive", das "Äußerliche" und das "Innerliche" eine unverbrüchliche Einheit bilden, die im Hinblick auf ihre notwendigen, kategorialen, apriorischen Bedingungen untersucht werden muß. Innerhalb des Tierischen und mit Modifikationen auch innerhalb des Menschlichen führt hier die Relation Zentrum-"Leib"-Umwelt zu dem berühmt gewordenen Plessnerwort: "Nur das Verhalten erklärt den Körper."

Sechstes Kapitel

Grundlagen der philosophischen Anthropologie A. Von der frontalen zur exzentrischen Position Was mit der erscheinenden Doppelaspektivität begonnen hatte und als Positionalität durchgeführt wurde, hatte in den höchstzentralisierten geschlossenen Organisationsformen einer frontalen Positionalität ein vorläufiges Ende gefunden. Doppelaspektivität war dabei eine anschauliche Erscheinungsweise von "Körper". Infolgedessen hatte auch die Positionalität als die so erscheinende Seinsweise von etwas Körperlichem zusammen mit den daraus entwickelten Lebenskategorien eine eigene philosophische Legitimation, die ebenso unabhängig von den Resultaten und sich verändernden Einsichten einer biologischen Empirie war, wie sie selbst sich auf keinerlei Weise in die wissenschaftliche Arbeit mischt. Aber auch mit der spekulativen und romantischen "Naturphilosophie" der Vergangenheit darf sie nicht verwechselt werden, da sie methodisch an eine gegebene Erscheinungsweise gebunden bleibt, auch wenn sich herausstellt, daß diese von einer anderen Ordnung ist als der, die für die "Wahrnehmung" des Biologen wissenschaftlich brauchbar ist. Trotzdem wurde diese Philosophie aus einem eigenen Gesichtspunkt aber dennoch im Hinblick auf das Leben und die biologischen Grundprobleme durchgeführt (zusammen mit dem Blick auf den Menschen) und beweisen Gesichtpunkt und These ihre Tragfähigkeit soweit sich daraus die Lebenskennzeichen bestätigen ließen, die auch in den Wissenschaften empirisch oder hypothetisch auftreten, egal in welchem Ausmaß sie durch spätere Entwicklungen, wie z. B. die Kybernetik ihren Charakter von spezifischem Lebenskennzeichen verlieren oder zu verlieren scheinen. So korrespondierte dasjenige, was die Natur in den höchstentwickelten Vertebraten zeigt mit den letzten Konsequenzen einer geschlossenen frontalen Position, auch wenn das was zunächst als "These" postuliert worden war jetzt durch die anderen Formen von offener und dezentralisierter Organisation hindurch an sein "Ziel" und zu seiner "Erfüllung" gelangt, als läge dieses Ziel, jedenfalls nach dem gewählten Gesichtspunkt schon als Präfiguration und Zielgerichtetheit im Leben als spezifische Seinsweise von Körpern beschlossen, ohne daß dabei von irgendeiner Teleologie oder dem Hineinschmuggeln der einen oder anderen spekulativen dunklen Macht im System von Plessner

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

die Rede ist. Es ist nichts anderes als ein immanenter dynamischer Aspekt, der mit dem Exzentrischen dieser erscheinenden Seinsweise selbst gegeben ist, der neutral den Gegensätzen gegenüber steht, die die Biologie seit Darwin und seiner Zeit Generationen lang beherrschten. Und doch ist auch innerhalb von Plessners eigenem System der Gedanke unausweichlich, daß das Leben als mögliche Seinsweise sich gerade hier zu einem vorläufig höchsten Grad gesteigert, intensiviert habe, zu dem, was Leben "eigentlich~ bedeutet, mit allen Risiken, mit allen "Verschwendungen~, in thermo-dynamischer, energetischer und anderer Hinsicht. Als Organsisationsform ist jedenfalls innerhalb dieses Prinzips kein weiterer Schritt denkbar als das zentralisierte Tier, das durch die Relation von Zentrum und Leib, doppelt vermittelt durch die Organe, innerhalb des antagonistischen Verhältnisses des Senso-Motorischen, rein frontal außerhalb seiner selbst und sich als "Selbst~ verborgen, aus dem Zentrum gegenüber und in ein jeweils vital-situationsgebundenes Feld gestellt ist. Ein Feld von Erleben und Aktion, mit den durch die eigene Körperlichkeit-Zentrum-Dualität "substantiell~ gewordenen Gegenständen, die jedoch auch völlig innerhalb von Lebensplan und Bauplan jeweils im Hier und Jetzt und in ihren vital relevanten Eigenschaften aufgehen, restlos. Was die Natur auf diesem Gebiet erreichen kann, erreicht sie durch Varianten von Bauplan und Organisation und korrespondiert in der Empirie mit dem allgemein bekannten Aspekt einer Spezialisierung, wobei das tierische Leben seine eigenen Möglichkeiten bis zu radikalen Spezialisierungen "zu Ende geht~ und gleichzeitig an .. Anpassungsmöglichkeiten~, an Elastizität verliert, was es an "Angepaßtheit~ gewinnt. Es wird mehr zum Endpunkt als zu einer Durchgangsphase und in dieser Hinsicht "schwächer~, verletzlicher, von spezifischeren Umweltbedingungen abhängig als weniger spezialisierte Formen. Hat Plessners Positionalität so in der frontalen, zentralisierten, geschlossenen Organisationsform einen Endpunkt in bezug auf die Organisation erreicht, dann läßt das Prinzip jedoch noch eine, aber jetzt innerhalb von Tragfähigkeit und Reichweite seines Systems definitiv letzte Zuspitzung zu, soweit der Charakter des Zentrums noch in einer Hinsicht radikalisiert und fundamental postuliert werden kann, nämlich das Verhältnis dieses Zentrums zu sich selbst als Zentrum. Es ist eine Positionalität, ein "Gesetztsein~, wobei das Lebewesen auch noch einmal sich selbst gegenüber gestellt wird, nicht nur aus einer Mitte heraus und als "Leib~ dieser Mitte zurucklebt, aber auch noch einmal .. als Mitte~. Hier tritt dann das Lebendige aus den Grenzen der Frontalität und der strikten Bindung an das Hier und Jetzt hinaus. Dabei kommt dieses Lebewesen durch sein Verhältnis zum Zentrum jetzt auch selbst auf bestimmte Art außerhalb des Zentrums, als eine interne Verdoppelung zu stehen. Und dies ist als exzentrische Lebensform und exentrische Positionalität Plessners fundamentale Bestimmung der menschlichen Seinsweise.

A. Von der frontalen zur exzentrischen Position

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In der Exzentrizität und der Weise in der sie weiter entwickelt wird, finden wir das Hauptmotiv, den Abschluß, die architektonische Krönung der Einheit von Prinzip und Ganzem seines Systems: die Entwicklung der menschlichen Seinsweise aus dem "Vormenschlichen.. und als eine Radikalisierung und letzte Zuspitzung dessen, was als allgemeiner Gesichtspunkt lebendiger Körper vorangestellt wurde. Es gibt Plessners Philosophie zugleich den spezifischen Charakter als Antwort auf "die" fundamentalen Probleme des heutigen Menschen. Wenn Plessner schließlich innerhalb der Philosophie unserer Zeit seinen verdienten Platz als Philosoph der Lebensweisheit bekommt, die die Gegensätze von Pseudo-Radikalismen, von Subjektivismus und Kollektivismus, von Biologismus und Spiritualismus, von Rationalismus und Irrationalismus von einem .. tieferen" Ansatz aus überwindet, als der Philosoph von Takt, Intuition und Geselligkeit, von Umgangsformen und Verhalten, von Lachen und Weinen, von Körper und Sinnlichkeit, dann liegt der Grund unter anderem hier. Es ist das fundamental angesetzte, systematisch durchgeführte Streben, den Menschen aus dem Leben und als spezifische Lebensform zu verstehen, um einerseit gegen jede biologische Reduktion des Menschlichen auf der Hut zu sein, aber andererseits gegen jede noch versteckt auftretende spiritualistische oder dichotonistische Verkümmerung, die dem Leben im Menschen nicht gerecht wird und damit als Philosophie des Menschen, als nicht abschließender, sondern erschließender Appel zu einem Glauben an den Menschen scheitert.

Bei allem Folgenden muß man daher unvermindert daran festhalten, daß es auch beim Menschen um die erscheinende Doppelaspektivität körperlicher "Dinge" geht, gerade dieses "Erscheinen", anders als im kartesianischen Bruch der Ausdruck einer Seinsweise ist und sich in einer Sphäre abspielt, die neutral ist im Hinblick auf den Gegensatz Subjekt-Objekt. Mensch und Tier sind daher auch philosophisch nicht weiter getrennt als bis wohin die weitere Zentralisation von Frontalität zu Exzentrizität reicht, faktisch jedoch so weit wie die historischen Konsequenzen und Implikationen. Zitiert man die bekannte Umschreibung, daß der Mensch ein Körper .. ist" und einen Körper "hat", dann muß man das eigentlich so revidieren, daß der Mensch ein Körper ist, dessen (nicht lokalisierbare, nur als Aspekt auftretende) Mitte noch einmal durch alle Vermittlungen von Organen und Körper außerhalb ihrer selbst tretend, nochmals zu sich selbst als Zentrum ein Verhältnis hat. Durch dieses Verhältnis, das genauer analysiert werden muß in eine Art interner Verdoppelung, eine Doppelgängerrolle geraten, erfährt der Mensch diese Verdoppelung sowohl in sich selbst als auch in seiner Wahrnelunung des anderen. Die Verdoppelung der verborgenen Substanz "hinter" den erscheinenden Eigenschaften ist nichts anderes als die Widerspiegelung des menschlichen Seins selbst, eine Betrachtungsweise, die mit dem Menschen verbunden ist, 10 Redeker

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

wie wenig die modeme Wissenschaft auch damit anfangen kann. Und die kartesianische Dichotomie mag mit der "Vorgelagertheit.. des Bewußtseins und den "immanenten" Bewußtseinsinhalten ein historisch bestimmter Rest sein, der überwunden werden kann, in der "Vorgegebenheit" einer "Innenwelt" und eines "Ich" sind jedoch fundamental-menschliche Aspekte im Spiel, wie sehr auch der Mensch in seiner Seinsweise primär und fundamental "außerhalb seiner selbst" ist in einer eigenen Fonn des "Lebenskreises" , organisch lebt wie das TIer und dennoch offen ist für neue Möglichkeiten. B. Das Exzentrische bei Mensch und Tier Das Exzentrische, das bestimmend ist für die menschliche Seinsweise, kam bei Plessner schon früher, als die exzentrische Mitte des Lebens im allgemeinen zur Sprache und verdient bei diesem Übergang von Frontalität zu Exzentrizität eine Behandlung, die bei Plessner selbst kaum berührt wurde. Beim TIer zeigte sich schließlich auch, daß die Mitte ein exzentrischer Mittelpunkt ist, nämlich eines Lebenskreises, der das körperliche Wesen zusammen mit seinem Positionsfeld als wahre Autarkie umfaßt. So trat eine Spannung auf zwischen dem Raum dieses Kreises und dem, was in engerem Sinn als "Umwelt" von Angepaßtsein und als Korrelat des "Lebensplans" erscheint. In der wahren Bedeutung, die Plessner dem zuerkennt, bedeuten Positionalität und Positionsfeld, daß auch das Tier schon auf eine bestimmte Weise seiner Umwelt und seinem Lebensplan voraus ist, nicht nur insoweit es als die Gesamtheit von Kräften, Verhältnissen, Einflüssen, innerhalb derer das TIer gestellt ist, mehr umfaßt als das Senso-Motorische, die "Leib"-Umwelt, innerhalb derer das TIer auf seine eigene Weise .,bewußt" lebt, sondern auch soweit das Tier als "Körper" als Ganzes schon die eigenen Grenzen überschreitet. Das bestimmte die Antwort auf die alte Kontroverse Angepaßtheit-Anpassung, in der das tierische Leben immer schon eine bestimmte "angepaßte" Form aufweist, aber gerade auf Grund dessen und zugleich damit in ein weiteres Feld gestellt, Adaptierbarkeit in sich trägt. Dabei bleibt die alte Kontroverse Evolution-Mutation usw. völlig außer Betracht. Liegt so gerade in der Exzentrizität des Mittelpunkts beim tierischen Leben ein "dynamisches" Prinzip, das das "Statische" der strengen Korrelation zwischen "Bauplan" und "Umwelt" durchbricht, dann bleibt dies zugleich dem Zentrum des TIeres verborgen, soweit es als Zentrum von Leben und Handeln durch den Leib hindurch strikt in der Frontalität des Hier und Jetzt gefangen bleibt. Besitzt das Leben in der Exzentrizität seiner Seinsweise den Ursprung von Veränderung und "Evolution", ungeachtet dessen, wie man ihn wissenschaftlich erklären will, dann vollzieht diese das Leben kennzeichnende "Unruhe" sich nur "am TIer".

B. Das Exzentrische bei Mensch und Tier

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Anders wird es, sobald die Zentralität sich von der Frontalität weiter zur Exzentrizität entwickelt, wobei der Körper auch noch einmal in sich selbst als Zentrum zurückkehrt, dieses Zentrum als Zentrum erfährt und infolgedessen, um Plessner zu folgen, auch noch exzentrisch zur eigenen exzentrischen Mitte zu stehen kommt. Soweit dieses Zentrum auch beim Menschen weiterhin als Zentrum einer .. Leiblichkeit~ auftritt, weil auch der Mensch in seiner Organisationsform und auch im Senso-Motorischen sich nicht wesentlich vom Tier unterscheidet, hat auch der Mensch eine statische, durch Sinne und Körperlichkeit geöffnete, hantierbare, orientierbare .. Umwelt~, die nicht weiter reicht, als durch das ... Haben~ eines Körpers als "Leib~ konstituiert werden kann. Aber wenn dieses Zentrum sich gleichzeitig selbst bewußt wird, zusammen mit dieser "Umwelt~, als Zentrum des ganzen Wesens selbst und damit als exzentrische Mitte einer Positionalität und eines "Lebenskreises~, die auch das umfassen, was nicht durch diese Körperlichkeit konstituiert ist, dann kommt damit das Leben so dem exzentrischen Mittelpunkt gegenüber zu stehen, daß damit auch das als "Umwelt~ oder "Situation~ nicht Mitgegebene, das nicht körperlich und vital Bestimmte, prinzipiell als "Hintergrund~, als "Möglichkeit~, als Verweis oder Ankündigung, als Rätsel und Aufgabe mitgegeben ist. Wenn man die Linie von Plessner so konsequent durchzieht, dann wird das Exzentrische des Lebewesens im Menschen zum erstenmal bestimmend für seine Seinsweise, lebt der Mensch in und aus einer Exzentrizität, die darin gleichzeitig zum erstenmal den ruhelosen, dynamischen und offenen Charakter als ein notwendiges Merkmal und eine echte Bedingung in die Seinsweise, die Existenz dieses Wesens selbst verlegt. Der abergang von Frontalität zu

Exzentrizität ist dann zugleich der abergang von organischer Evolution zu menschlicher Geschichte. Der Mensch wird dann in der Reihe der "Stufen~

das erste und einzige Wesen, das die Dynamik, die Unruhe, das immer sich selbst voraus und außerhalb seiner selbst sein, das Unvollendetsein des Lebens innerhalb des relativ Statischen und Beschränkten seiner tierischen Organisationsform leben und realisieren muß, als einzige Antwort auf diese Verdoppelung und Spannung in dem Mahlstrom, zwischen die Klippen und Abgründe seiner eigenen menschlichen Historizität geworfen. Das "Nichtzusammenfallen mit sich selbst~ in der menschlichen Relation zu sich selbst, diese menschliche Doppelsinnigkeit und Ambivalenz wird bei Plessner bereits direkt als dasjenige postuliert, bei dem keine der beiden Seiten vernachlässigt werden darf und das gleichzeitig die Seinsweise des Menschen zu einer historischen macht.

Es gibt keine "menschliche Natur~ außerhalb einer menschlichen Geschichte, aber der Mensch erfüllt, lebt seine "Natur~, indem er sie als "Geschichte~ ..macht~. Es wird später noch spezifiziert werden als "das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit~, die bestimmt, daß alles, was der Mensch an "Echtheit~ und ... Eigentlichkeit~ erreichen kann, nur durch Elemente von Kunst (im

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

weitesten Sinne), Kultur, Haltung und Rolle, Allgemeinheiten und Regeln erworben werden kann. Da liegt bereits der fundamentale Unterschied zu Heideggers Pathos der Eigentlichkeit. Und wo der Mensch bei Sartre trotz seiner sozialen Auffassungen individuell zur Freiheit "verurteilt ist'" da ist er bei Plessner vor allen genaueren Bestimmungen im voraus" verurteilt" zu einer Historizität und im Grunde Kreativität, die bereits direkt alle Gebiete von .,Geist", "Kultur", "Bedeutung", von Allgemeinheiten und allgemeinen Strukturen mit umfaßt.

C. Genauere Bestimmung der Exzentrizität Die "Positionalität der exzentrischen Form" ist von jetzt an die menschliche Seinsweise, aus der Kategorien des menschlichen Lebens auf dieselbe Weise entwickelt werden müssen wie das bei tierischen und pflanzlichen Lebensfonnen der Fall war: aus dem Gesichtspunkt der Positionalität aber sicher auch im Hinblick "auf" den Menschen und die Empirie, ohne daß Philosophie und Wissenschaften einander in der eigenen Methode und Kompetenz hindern dürfen. Eigenschaften wie die relative Unspezialisiertheit, wie aufrechter Gang und Haltung (Bachelards verticalite), die Entwicklung des Auge- und HandFeldes, mit der Differenzierung von Fuß und Hand, oder wie die fehlende oder besser gesagt pervertierte Behaarung und sogar die besondere Entwicklung des Großhirns, gelten höchstens als "Indikationen", dürften getrennt genommen zum größten Teil nicht einmal als spezifisch menschliches Monopol aufrechtzuerhalten sein und bekommen in ihrer Gesamtheit ihre "Bedeutung" nur auf Grund einer anderen, fundamentaleren Betrachtungsweise. Das gilt nicht weniger für so traditionelle Bestimmungen des Menschen als "vernunftbegabtem" Wesen wie für Klaatsch und dessen Theorien über den relativ "Zurückgebliebenen" menschlichen Körperbau im Licht der Evolution, für Bolks Retardierung und Fötalisierung, für Portmanns sekundäre "Nesthocker" und das "extrauterine Frühjahr", für die Funktion des Spiels bei Mensch und Tier (u.a. Buytendijk), die Aspekte von Instinktschwäche und Triebüberschuß, die Verzögerung der Geschlechtsreife oder die bereits von Herder entwickelte, von Gehlen übernommene Auffassung vom Menschen als einem "Mängelwesen" mit Kompensationsmöglichkeiten. Daß die Theorien, Untersuchungen und Hypothesen, mit denen Plessner sich in seinen "Stufen" von 1928 konfrontieren konnte, teilweise nach vierzig Jahren an Bedeutung eingebüßt haben, ist daher für Plessners Philosophie nicht von direkter Bedeutung. Sie werden daher in diesem Zusammenhang auch kaum besprochen. Übrig bleibt die Entwicklung von Plessners eigener Philosophie des menschlichen Lebens, obwohl die "Stufen" nur eine erste grobe Skizze davon enthalten, die durch spätere Publikationen nur in Details etwas retuschiert wurde. Das ist dasjenige, worauf die breitere Bekanntheit von Pies sn er als philosophischem Anthropologen sich hauptsächlich zu Unrecht beschränkt.

C. Genauere Bestimmung der Exzentrizität

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Und dann geht es zunächst darum, die Exzentrizität zu bestimmen als dasjenige, was der Frontalität noch fehlt: "daß das Zentrum der Positionalität, auf dessen Distanz zum eigenen Leib die Möglichkeit aller Gegebenheit ruht, zu sich selbst Distanz hat" (IV, S. 361) Beim Menschen ist das Lebewesen: a) Körper, b) im Körper und c) aus dem Körper. Bereits in der Positionalität, die die Seinsweise alles Lebendigen kennzeichnet, ist das Lebewesen schon in seinem Sein sich selbst voraus, außerhalb seiner selbst und bei sich selbst zurück. Schon die Positionalität läßt sich als diese interne, temporale Dialektik postulieren, die in der Zuspitzung der exzentrischen Positionalität gleichzeitig transformiert und bewahrt wird. Auch das "positionale Zentrum" besteht bereits ausschließlich im Vollzug. Das Sein eines Lebewesens ist auch bei Plessner, trotz des Fehlens einer typisch existenzphilosophischen Terminologie keine Existenz eines "Dings", an dem sich Veränderungen, Bewegungen, Aktionen vollziehen, sondern das Vollziehen, Geschehen dieser Bewegungen und Aktionen selbst in der Einheit des Lebewesens, seinem Positionsfeld und seiner Umwelt. Das Lebendige "ist", konstituiert seine Identität gerade in der Veränderung, dem Wachstum, der Aktion, der Dynamik, die nicht nur seine Seinsweise, sondern gleichzeitig in Einheit damit seine Erscheinungsweise charakterisiert. Diese Positionalität als dasjenige, wodurch ein "Ding" zur Einheit einer "Gestalt" vermittelt wird, das Hindurch dieser Vermittlung, wird dann zugespitzt im Tier, soweit da die Positionalität zum Konstitutionsprinzip eines Wesens wird, das in die Mitte, das "Hindurch" des eigenen zur Einheit vermittelten Seins gestellt ist, in die Mitte des Lebens, des Existierens als Vollzug. (IV, S. 362) So weit beim Tierischen und nicht weiter. Aber in einer Organisationsform die sich nicht mehr vom Tierischen unterscheiden kann, weiß das Leben das spezifisch Öffnende der "geschlossenen" Form doch noch einen Schritt weiter zu entwickeln, indem es in Selbstdistanz ein "Ich" konstituiert, das einerseits schon ebensosehr auf der Grundlage von Körper-Leib, von Körperhaben und Körpersein, frontal der Umgebung gegenüber gestellt ist, andererseits und trotzdem damit für sich selbst die Trennung zwischen einem "Außenfeld" und einem "Innenfeld" vollzieht. Es ist bei allen Konsequenzen weniger ein "Kontrast" zum Tier als eine Radikalisierung dessen, was schon mit Zentralisation und geschlossener Form angekündigt wurde. "Zeigt doch das lebendige Ding in seinen positionalen Momenten keinen Punkt, von dem aus eine Steigerung erzielt werden könnte, außer durch Verwirklichung der Möglichkeit, das reflexive Gesamtsystern des tierischen Körpers nach dem Prinzip der Reflexivität zu organisieren und das, was auf der Tierstufe das Leben nur ausmacht, noch in Beziehung zum Lebewesen zu setzen." (IV, S. 363). Eine weitere Radikalisierung ist nicht möglich und der Schein einer regressio ad infinitum der menschlichen Reflexion oder des Selbstbewußtseins, über den viele sich in der Vergangen-

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

heit den Kopf zerbrochen haben, beruht nur auf der Dichotomie, die das Bewußtsein der menschlichen körperlichen Existenz als Totalität gelöst hat. Nur durch diese letzte doppelte Distanz zu sich selbst hat der Mensch als einziger ein "Ich", heißt er, im Anschluß an Scheler eine "Person". Zum Teil stimmen die Kennzeichen von Plessners exzentrischem Menschen mit denen der neben ihm entwickelten existentialistischen überein. Durch dieses doppelte Verhältnis zu sich selbst erfahrt er sein Hier und Jetzt, gerade weil er außerhalb und darüber hinaus ist, erfahrt er seine Handlungen als die Seinen und gleichzeitig die Neigungen, Bedürfnisse, Begierden und anderen Impulse davon, steht sein Leben im Zeichen von Wahl und Entscheidung ebensosehr wie er das Dunkle, Unergründliche, Irrationale in sich und hinter all seinen Entscheidungen erfahrt, fühlt er sich frei und beschränkt, gebunden zugleich, begrenzt auch im Hier und Jetzt, das er gleichzeitig schon überschritten hat, in der senso-motorischen Bestimmtheit seiner erscheinenden Welt, die er bereits ebensosehr prinzipiell überschritten hat um doch damit, ein Organismus wie die Tiere, verbunden zu bleiben.

In seiner Exzentrizität die nur eine Seite seines Wesens ausmacht, .,steht" der Mensch in Übereinstimmung mit Plessners Theorie der Positionalität "im Nichts", ohne Ort, ohne Zeit, gleichsam schwebend über sich selbst, wie sehr er in seinem Zentrum doch zugleich das besitzt, was dem aristetotelischen Topos verwandt, bei Plessner als "natürlicher Ort" zurückkehrt. So muß auch bei Plessner anno 1928 der Mensch sich erst zu dem machen, was er bereits ist in einer nicht zu überbrückenden Kluft, die die Unruhe, Dynamik und Historizität und die wahre Lebensproblematik des Menschen ausmacht. Denn auch hier ist das Leben für den Menschen ein Problem auf Grund seiner eigenen Seinsweise. So läßt sich auch bei Plessner eine Lehre der Temporalität entwickeln, auch wenn es dafür in seinem Werk nur einen ersten Ansatz gibt. Es bedarf auch keiner weiteren Behandlung, wie auch bei ihm gegenüber der geschlossenen, unhistorischen "Umwelt" des Tieres beim Menschen der Begriff "Welt" eingeführt wird, als das sich jeweils persönlich und historisch verändernde Ganze, historisch durch die spezifisch menschliche Möglichkeit zur Distanz, zum Zweifel, zur Verwunderung, etwas als etwas objektivieren ohne Rücksicht auf das biologisch Bestimmte. Eine Welt, die auch als ein auf vergleitende Weise konstanter Horizont im Gegensatz zu dem, was beim Tier der Fall ist, in und hinter jedem situationsgebundenen Hier und Jetzt anwesend bleibt. Dennoch kann gerade auch die Weltkategorie von Plessners Exzentrizität dazu dienen, die fundamental eigenen Kennzeichen daran sichtbar zu machen.

D. Die Wellen des Menschen

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D. Die Welten des Menschen Das doppelte Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst als Zentrum "vennittelt" steht, kehrt in allen elementaren Sphären seines Daseins zurück. So bestimmt es den nicht aufzuhebenden "Doppelaspekt", wie es noch in "die Stufen" heißt, von Körper und Leib. Auf Grund seines exzentrischen Außerhalbseinerselbstseins "hat" der Mensch seinen Körper als Körper. Auf Grund dieses exzentrischen Blickpunktes tritt sein Körper als Ding unter Dingen an einem willkürlichen Ort in einem objektiven Raum-Zeit-Kontinuum auf. Aber ebenso unausweichlich bleibt der Mensch weiterhin sein Körper als "Leib", der ebenso wie bei den Tieren als ein "konzentrisch geschlossenes System" um eine absolute Mitte (Topos) und in einem Raum und einer Zeit mit absoluten Richtungen auftritt, korrespondierend mit dem, was man eine "organologische Weltbetrachtung" . nennen könnte. Auf Grund des KörperHabens kann der Mensch seinen Körper auf eine Weise instrumentalisieren, die dem Tier versagt ist. Das wird jedoch erkauft mit dem Risiko einer Bedrohung der medialen Beherrschung von innen, der Kraft der Leiblichkeit der Tiere. Später ist Plessner viel daran gelegen, die Doppelaspektivität von Leib und Körper nach den "Stufen" als zu simpel zu korrigieren. In Wirklichkeit geht es immer um eine" Verschränkung von beiden, um eine nicht aufzuhebende ambiguite (Merleau-Ponty), wie auch der biologischste, senso-motorische Leib-Aspekt unserer Welt, mit der tierischen Umwelt korrespondierend und auf unsere Mitte als "natürlichen Platz" bezogen, in unserer nonnalen Erfahrung mit den anderen "Welt"-Aspekten verschmolzen ist. Obwohl Körper und Leib zwei irreduzible Arten sind, auf die wir als Mensch uns selbst als Körper und durch unseren Körper und als Körper das andere erfahren, will er 1965 selbst Ausdrücke wie Aspekt, Deutung und Polarität zur Venneidung von Mißverständnissen nicht verwenden. Es ist eine Verfeinerung, die kennzeichnend ist für das Verhältnis des späteren Plessner zu seinen "Stufen", auch im allgemeinen. Dieselbe Verdoppelung, die in der Sphäre der Körperlichkeit auftritt, zeigt sich schließlich vor allem in der Art und Weise, in der am Menschen eine "Innenwelt" und eine "Außenwelt" erscheint. Dabei wählt Plessner in bezug auf die Doppelaspektivität der menschlichen Erfahrung einer "Innenwelt" das Begriffspaar Seele und Erleben, während auch die "Außenwelt" dieselbe irreduzible Brechung der Exzentrizität unter anderem in der Verdoppelung "nicht erscheinender" Substanz zeigt, als Kern und Mitte des Dings, in demjenigen, was als Eigenschaften erscheint. Das Entscheidende ist jedoch, daß gerade durch die exzentrische Position außerhalb seiner selbst und zu sich hin, die scharfe Trennung von Innen und Außen, von dem, was sich "innerhalb" des Lebewesens befindet und abspielt

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

und was es umringt, aufgehoben wird. Durch Exzentrizität entdecke und placiere ich mich als Körper zwischen das andere als Teil von jedenfalls diesem Weltaspekt. Durch Exzentrizität gehören auch meine Neigungen und Impulse, Gedanken und Erlebnisse im weitesten Sinn äußerster Ergriffenheit und Emotionalität bis zu kühlster Distanz und Überlegung zur Welt, die ich als Mensch zu beantworten habe. Nur die .. Seele~, Innenaspekt meiner Existenz als Person und Körper, deutet auf das Entgleitende dahinter, bleibt der Schlüssel zu dem Wissen, daß der Mensch hinter dem Begrenzten, was er als "Innenwelt~ erfährt, bei allem Bewußtsein und aller Überlegung unergründlich bleibt und mit durch dasjenige beherrscht wird, was seinem Bewußtsein verborgen bleibt. In Plessners Exzentrizität ist bereits zugleich philosophisch verarbeitet, daß der Mensch ebenso elementar durch einen genauso unautbebbaren Gegensatz des Bewußten und Unbewußten gekennzeichnet wird, daß er sich als ein "Ich~ als Täter seiner Taten sieht und gleichzeitig erfährt, wie stark andere, ihm entgehende Mächte in ihm am Werk sind. Ausschlaggebend ist jedoch, daß ich durch die exzentrische Position nicht nur mich selbst als Körper und als .. Innenwelt~ erfahre, sondern dies gleichzeitig exzentrisch als Teil einer Welt erfahre, in der ich mich selbst den anderen gleichstelle, in der ich mit den anderen im Modus des "Wir~ stehe, in einer Welt, die gleichzeitig durch dieselbe Exzentrizität auf eine noch näher zu erläuternde Weise eine "Mitwelt~ ist, eine Welt von Sachen, von Sinn, Bedeutung, Normen, Werten und Strukturen, in der wir einander verstehen können und auf der die Realisierung des menschlichen Lebens als historisches Lehen fundiert ist. Denn wichtig hierbei ist, daß Plessner hier im Gegensatz zum Existenzbegriff die Exzentrizität scheinbar paradoxal zum Fundament für eine philosophische Anthropologie hat entwickeln können, in der bereits von Anfang an Sinn und Möglichkeit, die Notwendigkeit des Allgemeinen, Nichtsubjektiven, Neutralen, kurzum die Sphäre von "Kultur~ und "Geist~ verankert liegt, indem er gerade von Leben und Körperlichkeit ausging. Die Exzentrizität seiner Position und als Position (das heißt, vor jeder Theorie oder Auffassung) bringt für den Menschen nicht nur den unautbebbaren Gegensatz einer "Innenwelt" und einer "Außenwelt" mit sich, sondern diese heiden sind zugleich wieder mit einer demselben Ursprung entstammenden "mitmenschlichen Welt~ verflochten. Auf Grund seiner eigenen Doppelaspektivität erfährt der Mensch einerseits sich selbst als "Ich", aber andererseits spiegelt er auch in der Außenwelt dieses Ich in anderen, das heißt in einem anderen Ich, das er als Du erfährt. Was sich beim Leblosen als Substanz auflöst, als reine Doppelaspektivität enthüllen läßt und demzufolge eine mit dem Menschen gegebene vortheoretische "Anthropomorphologisierung~ des Seins genannt werden könnte, stößt beim Tier schon auf ein wirklich von innen aus erscheinendes, sich äußerndes, mir selbständig vom Zentrum aus entge-

D. Die Welten des Menschen

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gentretendes Wesen, aber kommt beim Menschen völlig zu seinem Recht als ein Du, kein Objekt, sondern ein anderes Ich in der Begegnung, das seine menschliche Seinsweise schon direkt in seiner "äußeren", körperlichen Erscheinungsweise zum Ausdruck bringt. Auch bei Plessner ist die Ich-DuRelation so bereits fundamental in der menschlichen Struktur mitgegeben, noch bevor durch die Dichotomie so etwas wie ein Scheinproblem in bezug auf den "Beweis" des anderen entstehen könnte. Die Auswirkung davon in bezug auf menschlichen (oder tierischen) Ausdruck, Verständlichkeit, Mimik, Haltung usw. wird noch getrennt behandelt. Ausdruck, aber auch "Verhalten" (Verhalten, aber auch Haltung, Verhältnis) sind hier Schlüsselkategorien für eine richtige Bestimmung der zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Teil auch für die zwischen Mensch und Tier, wie sie z. B. Buytendijk in seiner Tierpsychologie weiterentwickelt. Wenn wir dem Menschen als anderem also als ein Du begegnen, in dem unsere eigene exzentrische Doppelaspektivität, unser eigenes Sichtranszendieren widerspiegelt und expressiv wird, ein "Innen", das sich gleichzeitig direkt als "Außen", im Äußeren, Äußerungen und Verhaltensweisen verkörpert und manifestiert, weil dieses Innen dieses Außen auf bestimmte Weise vor jeder Trennung zwischen "Körper" und "Seele" schon ist, dann begegnen "Ich" und "Du" einander bei Plessner auf Grund derselben Exzentrizität noch einmal als "Wir" in einer anderen gemeinschaftlichen, mitmenschlichen Welt. In seiner exzentrischen Position außerhalb des eigenen Zentrums und des eigenen Platzes im Hier und Jetzt, in einer Distanz zur eigenen Subjektivität aber gleichzeitig zur eigenen "leiblich" bestimmten Umgebung und Situation, in seinem Entdecken und Schaffen von "Dinglichkeiten", Werten, Einsichten, Verbindungen, Objektivierungen, steht der Mensch bereits mit den anderen im "Wir"-Modus, der im Grunde schon die obengenannte Ich-Du-Relation fundiert. Obwohl laut Plessner das gesamte Leben durch Mit-Relationen beherrscht wird (und auch das Sein im allgemeinen ein relationsgebundenes Sein ist), wird dieser Charakter des Mit-Seins entscheidend für den Menschen. Sein Sein ist vor allem ein Sein mit anderen, in einer durch die Exzentrizität als Geist konstituierten Welt, in der er seinen historischen Platz finden muß. "Jeder Realsetzung eines Ichs, einer Person in einem einzelnen Körper ist die Sphäre des Du, Er, Wir vorgegeben". (IV, S. 374 f.) Der geistige Charakter der Person beruht auf der Wir-Fonn des eigenen Ich. Ist "Seele" in der Terminologie von Pies sn er real als die innere Existenz der Person als körperliches und lebendiges Wesen, "Bewußtsein" der durch die Exzentrizität bestimmte Aspekt der Welt, dann ist "Geist" die durch die spezifisch menschliche Position bestimmte Sphäre einer mitmenschlichen Welt, die den Menschen nicht umgibt, nicht erfüllt, wie das "Innenleben", sondern trägt.

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

Aus den Sicherheiten, dem Fehlen von Zweifel, Nichts und Historizität des tierischen Lebens geworfen, in das .,Nichts" gestellt, findet der Mensch bei Plessner nur in der mitmenschlichen Welt des Geistes, in ihrer ganzen Historizität festen Boden. Und so beruht auch der "geistige Charakter der Person" auf der Wir-Form des eigenen Ichs, wie diese teilhat und getragen wird durch die Welt der Mitmenschen und als Mitmensch. Hier wird nicht ausführlich auf die feineren Nuancierungen der verschiedenen Übergänge und Verbindungen zwischen den in der Exzentrizität verwurzelten Positionen und Welten in ihrer Einheit eingegangen, vor allem weil .Plessner sie, meist anläßlich einer in den zwanziger Jahren aktuellen Problematik nur teilweise ausgeführt hat. So mag es deutlich sein, daß das Getragenwerden des Menschen durch das Mitsein gleichzeitig fundierend ist für die Art und Weise, in der er in das Nichts greift, wenn er gelöst davon in sich selbst nach einer letzten Basis oder einem Boden sucht. So kann man die dominierende Rolle des "Nichts" bei vielen zeitgenössischen und teils verwandten Philosophen sehr wohl aus einem Subjektivismus begreifen, der nicht schon direkt diese Dimension in der Grundstruktur des Menschen verantwortet hat, sondern zugleich aus einem letzten Rest von Dichotomie, mit dem trotz des Strebens nach dem Gegenteil doch der Körperlichkeit unseres Daseins kein vollwertiger Platz zugewiesen wurde und auch nichts geblieben ist von dem, was von Plessner so radikal wie möglich überwunden sein will: dem Subjekt von Bewußtsein, Erleben und Handeln doch noch insgeheim den Charakter von etwas wie einem substantialisierten, abgesonderten Bewußtsein zu geben. Hier wird ebenfalls nur in Kürze vermeldet, wie sehr auch im Verhältnis des Menschen zu seinem "Innenleben" als Seele und Erlebnis in fließenden Übergängen und Verschmelzungen die Dualität von "Haben" und "Sein" existiert, von kühler Reflektion auf Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, "die man hat", bis zum möglichst vollständigen Aufgehen-in, Gegriffenwerdendurch, Überwältigtwerden. Gerade in der Innenwelt schafft die doppelte Positionalität eine ganze "Skala des Seins", wie sie in der Doppelaspektivität des anderen fehlt, von reinen Aufgehen-in und Sichvergessen und -verlieren bis zum versteckt Vorhandensein verdrängter Erlebnisse, psychischer Traumata und Komplexe oder auf andere Weise bis zur kühlsten Distanz. In bezug auf die Welt im allgemeinen hat Plessner vor allem in seinen Veröffentlichungen nach dem zweiten Weltkrieg stark die Tendenz, den Gegensatz tierische Umwelt, menschliche Welt, so wie er eingebürgert ist, mit einem noch deutlicheren Akzent auf dem unlöslich Paradoxalen und Doppelsinnigen im Menschen und seiner Welt, dem verbleibencn "Tierischen" in der menschlichen Struktur, als zu simpel zu verwerfen. Tatsächlich besteht die strikte Korrelation zwischen tierischem "Bauplan" und dem, was für das Tier

E. Die drei anthropologischen Grundgesetze

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unhistorisch als Umwelt existiert, während der Mensch prinzipiell "weltoffen" und historisch ist. Aber während die Umwelt des Tieres in anderer Hinsicht offen ist, soweit das, was für den wissenschaftlichen Beobachter seine Umwelt ist, für das Tier jeweils nur im Hier und Jetzt einer vitalbestimmten Situation besteht, ist der Mensch gerade das Wesen, das sich in einer Welt verschließt, sich zur Kompensierung mit jeweils anderen Möglichkeiten und auf historisch jeweils andere Art mit einer eigenen, geborgenen, vertrauten und scheinbar selbstverständlichen "Umwelt" umgibt. Die menschliche Welt ist daher auch selbst als eine jeweils heikle, bedrohte und gebrochene "Kollision" von Umwelt-Gebundenheit und Welt-Offenheit zu verstehen und zeigt sich auch jeweils in der Geschichte, in einer Sprache, einer Kultur, Religion oder Weltanschauung als offen nach innen und geschlossen nach außen. Man kann auch sagen: offen von innen aus, aber aus einem Abstand von außen gesehen als ein geschlossenes Ganzes. (IV, S. 369) Dabei liegen gerade auch die Regionen dessen, was beim Menschen UmweltCharakter hat in der geistigen Sphäre der mitmenschlichen Welt, wie die vertraute Landschaft, Muttersprache, Überlieferung, Gesellschaftsordnung, Straße, Zimmer, die Gebrauchsgegenstände oder die heiligen Symbole. "Nur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt, die den Menschen in unvorhergesehene Lagen bringt und mit der er stets neue und brüchige Kompromisse schließen muß, hält er sich in jenem labilen Gleichgewicht einer stets gefahrdeten, selbst wieder schutzbedürftigen Kultur. Ihr sogenannter Umweltcharakter ruht in der relativen Geschlossenheit, die mit jeder Stellungnahme zu Werken, mit jeder Haltung und Formgebung erreicht wird." (VIII, S. 186) Im unauflöslichen Gegensatzin-der-Einheit von Welt und Umwelt zeigt und lebt der Mensch die riskante Doppelseitigkeit seines Wesens, ist er nirgends und überall zu Hause, geborgen und ungeborgen zugleich. Lebt das Tier in einer Umwelt,die über Beute und Feind, Geborgenheit und Gefahr entscheidet, ohne sie als Umwelt zu erleben, dann muß der Mensch, dem das als offenes Wesen fehlt, seine Welt, mit dem, was dieselbe Exzentrizität ihm geschenkt hat, zu einer Umwelt machen: der Sphäre des "Geistes" und des Mitmenschlichen. E. Die drei anthropologischen Grundgesetze Obwohl die "anthropologischen Grundgesetze" aus "die Stufen" zu den bekanntesten und meistzitierten Bestandteilen von Plessners Philosophie gehören, sind sie eigentlich nur nähere Erklärung dessen, was mit der exzentrischen Position schon im Kern postuliert wurde, von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Als "natürliche Künstlichkeit", "indirekte Direktheit und" utopischer Standort" dienen sie vor allem zu kritischen oder erhellenden Auseinandersetzungen mit anderen, philosophischen, biologischen, sozioloU

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

gischen oder psychologischen Theorien in bezug auf hier berührte Grundmerkmale menschlichen Lebens. So betrifft das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit den Aspekt der Exzentrizität, daß der Mensch sich erst zu dem machen muß, was er bereits ist, daß die Frage, wie der Mensch mit seinem Leben und seiner Lebenssituation auskommt, bereits mit dem Menschen als problematischem Wesen selbst gegeben ist. In seinem Sein gebrochen, unfertig, ohne Boden, lebt der Mensch nicht, sondern "führt~ ein Leben. Er kann und muß der Natur, der Vollständigkeit, der "Unschuld~, die er für immer verloren weiß, aber als einen paradiesischen Traum bewahrt, auf seine eigene Weise in einer niemals endenden Unruhe nachstreben: als Künstlichkeit. In dieser Künstlichkeit liegt dasjenige, was der Mensch als Kultur verwirklicht und verwirklichen muß. Kultur ist gleichsam die zweite Natur des Menschen, seine eigentliche, aber in einer permanenten Spannung und Unruhe, trotz der Existenz von "statischen Kulturen". Im Gegensatz zur Einseitigkeit oder Unzureichendheit von Theorien von Nietzsche bis Freud und vom Spiritualismus bis zum Naturalismus ist es Plessner darum zu tun, die Kultur sowohl in dem, was er aus sich selbst macht, als auch was er außerhalb seiner selbst stellt, direkt in der Seinsweise des Menschen als einzige Art, in der er als Mensch leben kann und sich einen eigenen Boden, eine eigene immer wieder bedrohte, begrenzte und künstliche "Natürlichkeit" schaffen muß, zu verankern. Die Unausgewogenheit, das Unharmonische der exzentrischen Position verurteilt ihn dazu. Er muß Normen, Werte, Werkzeuge, Kunstwerke, Gesetze, Gesellschaftsstrukturen, äußere Formen und Codes, ein ganzes kulturelles Netzwerk zur Vervollständigung seiner eigenen Unvollkommenheit schaffen.

Dabei legt Plessner besonderen Nachdruck auf die Art, in der dieses von ihm Geschaffene ein eigenes selbständiges Gewicht, ein Gegengewicht bekommen haben muß, wenn das menschliche Leben wieder im Gleichgewicht sein soll. Das ist nur möglich, soweit es eine eigene zweite Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit bekommen hat, als sei es nicht so sehr durch den Menschen selbst geschaffen als vielmehr höchstens "bei Gelegenheit~ seines Tuns verwirklicht. (IV, S. 385) Geist ist beim Menschen nicht der Feind von Leben und Seele, sondern die Bedingung, wie riskant das menschliche Leben damit auch sein mag. Und auch das "Gleichgewicht" als Bild einer "gelungenen Kultur" in der sich die Natur des Menschen verwirklicht, ist auch selbst immer wieder ein labiles und vergängliches Gleichgewicht. Im Gegensatz zu allen Aspekten und Konstruktionen einer Hypertrophie des Trieblebens, einer Sublimierung auf Grund von Verdrängung, einem "Willen zur Macht", steht bei Plessner das Fundamentale der exzentrischen Position und ihre konstitutive Unausgewogenheit und Unvollendetheit, auf die und

E. Die drei anthropologischen Grundgesetze

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wodurch der Mensch nur als Kultur antworten kann, seiner eigenen Natur und seinem "zweiten Vaterland". "Künstlichkeit im Handeln, Denken und Träumen ist das innere Mittel, wodurch der Mensch als lebendiges Naturwesen mit sich im Einklang steht." (IV, S. 391) Aber mit der Künstlichkeit der Kultur, dem Gegensatz von Natur und Kultur, den der Mensch bei allem behält, ist auch der Gegensatz von Sein und Müssen, von Pflicht und Neigung, von allen anderen Konflikten fundamental, die zum Konfliktcharakter des menschlichen Lebens gehören und wobei das, was als Norm oder Pflicht aus ihm heraus kam, ihm als ein Gebot oder Appell von außen gegenübertritt. Was der Mensch sich an Aufgaben und Pflichten, Idealen und Zielen setzt, gehört zur Sphäre von Geist und Kultur und steht in der Exzentrizität, kommt ihm als Lebewesen als etwas Objektives, als eine Stimme, als von außen entgegen und fügt sich beim Menschen zum Gewissen zusammen. So dienten diese Betrachtungen auch als fundamentale Antwort auf die vielen geist- und kulturfeindlichen Theorien im schon vom Nazismus durchsetzten Deutschland jener Jahre. Wenn das wirklich Lebendige des Menschen oder seine Seele am Geist leiden kann, wenn sogar das Leben durch die Schöpfungen des Geistes tödlich bedroht werden kann, wie es heute der Fall ist, dann kann man das nicht "dem Geist" verweisen, es kann auch nicht durch so etwas wie eine Rückkehr zu einer "Natur" geheilt werden. Der Ursprung liegt einzig und allein im Riskanten, Unausgewogenen, dem Konflikt und der Spannung innerhalb der Exzentrizität selbst, die nur auf dem Weg des Geistes selbst eine Antwort findet. Mit dem "Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit" wird im Grunde dieselbe Polarität innerhalb des Menschen auf andere Aspekte erweitert. Allgemein betrachtet bedeutet die indirekte Direktheit des menschlichen Lebens, daß der Mensch nur durch die Möglichkeit einer spezifischen Distanz, (zu sich selbst, zum anderen) wieder eine eigene Direktheit gewinnen kann, die zu vergleichen ist mit der Rolle des Nichts, dem "Nichtigen" in der Existenzphilosophie oder begrenzter der Rolle der Negation im Dialektischen. Indirekte Direktheit charakterisiert allein schon auf Grund der Exzentrizität alle echten, "reinen" oder "erfüllten" Verhältnisse des Menschen zum anderen, den anderen und sich selbst. So kann analog das Künstliche in der Natürlichkeit auch auf alles angewandt werden, worin der Mensch auf für ihn spezifische Weise in Verhaltensweisen, Haltungen und Äußerungen eine "Echtheit" und "Natürlichkeit" zu erreichen weiß. Nur auf dieser Basis selbst können sich empirisch die Gegensätze zwischen "Natürlichkeit" und "Unnatürlichkeit" oder "Manieriertheit" in Auftreten und Verhaltensweise zeigen. Auch gibt es in der Wirklichkeit eine breite Skala von Kontrasten und fließenden Übergängen in der Art der Verschmelzung beider Komponenten, vom Koitus bis zu einer Thromede. Für Plessner dient das Lehrstück von der indirekten Direktheit vor allem dazu, nochmals in einer möglichst reinen Erläuterung dessen, was menschliche

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

Exzentrizität bedeutet, den doppelten Aspekt von Expressivität und Immanenz zu entwickeln. Das Sichausdrücken des Menschen im Künstlichen, durch ihn selbst Geschaffenen, aber zugleich ihm als ein vervollständigendes Gegengewicht Gegenübertretenden von Geist, Kultur und Geschichte, haben wir bereits gesehen. Auch die Distanz, durch die diese Sphäre auch die Sphäre des Sachlichen ist, dessen, was sich auch in Werten, Normen oder Interessen aus dem streng vital Bedingten gelöst hat. Hier geht es darum, nochmals deutlich zu sehen, warum der spezifisch menschliche Kontakt mit dem anderen durch sein spezifisches Verhältnis zu sich selbst sehr wohl in erster Linie direkt ist, außerhalb, ..bei den Dingen", wie auch das Tier in seiner Frontalität dagegen diese Direktheit nur durch eine Indirektheit realisieren kann. Um es noch einmal so kurz wie möglich auszudrücken: jeder Organismus hat als Organismus durch die organische "Vermittlung" ein indirektes Verhältnis zur Umgebung, sowohl das Tier als auch der Mensch. Aber wenn das Tier seine Umgebung nur frontal und direkt erlebt, in der spezifischen Offenheit der zentralisierten, geschlossenen Form, dann erlebt der Mensch noch einmal mit dem eigenen Zentrum auch die Indirektheit seines Verhältnisses zur Umgebung. In dieser Distanz zu sich selbst wird das "Bewußtsein", das ihm das andere, außerhalb seiner selbst, mitteilt, obwohl er es gleichzeitig als Immanenz erfährt, während er zugleich mit dieser erscheinenden Bewußtseinsimmanenz auch das andere als Bewußtseinsinhalt erfährt. Und doch ist das zugleich die spezifische Art und Weise, in der gerade der Mensch Realität erfährt. Normalerweise, im täglichen Leben, lebt auch der Mensch wie das Tier außerhalb seiner selbst in einer vertrauten selbstverständlichen Welt, die er als eine echte Wirklichkeit erlebt und der er so gegenübertritt. Die Verwirrung, in die er gerät und die Unsicherheit in bezug auf die Realität, sobald er sich damit theoretisch, aus seiner Exzentrizität heraus beschäftigt, ist jedoch der Preis, den er für seine eigene menschliche Möglichkeit von Erfahrung und Wissen bezahlen muß. Das "Entweichende" der Realität hinter ihrer Erscheinungsweise ist gerade die Bedingung für das Historische, niemals Abgeschlossensein unseres Wissens, für die Offenheit unserer Welt. Es bringt gleichzeitig das Vermittelnde unserer Wirklichkeitserfahrung in Welt und Expression zum Ausdruck, das Exzentrische in unserem Verhältnis zu uns selbst und dem anderen. Dabei bleibt auch diese Exzentrizität im Zentrum mit dem ursprünglich außerhalb seiner selbst sein verwurzelt, bleibt also bei allen erkenntnistheoretischen und anderen Zweifeln das Obergewicht des Realitätsaspektes als ein ..Hintersichzurückweisen" garantiert. Das Objekt ist als Erscheinung einer Realität, als kernhafte Gebundenheit einer direkt erlebbaren Mannigfaltigkeit selbst indirekte Direktheit, in Übereinstimmung mit der Struktur des Bewußtseins selbst. (IV, S. 413) Anders als das frontal und sich selbst verborgen im vitalen Erleben seines umweltbestimmten Hier und Jetzt aufgehende Tier kann und muß der Mensch

E. Die drei anthropologischen Grundgesetze

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in echten Objektivierungen, Wahrnehmungen, Erfahrungen, in Forschung und Wissen eine ..Welt" aufbauen, die auch selbst die Verdoppelung und die indirekte Direktheit zum Ausdruck bringt. Sie vertritt die Wirklichkeit, aber als Ausdruck, als Bild, als Manifestierung oder Erscheinung. Lebt das Tier in einer "Selbstverständlichkeit" und fehlt ihm infolgedessen das Sprechen, das für den Menschen spezifisch ist, dann ist das menschliche Objektivieren, Erfahren von "Etwas als Etwas" gleichzeitig schon ein "zum Sprechen bringen", essentiell Ausdruck, in einer Art neutraler Mitte, dem Mitsein, sowohl "abgehoben" vom Individuum als Subjekt als auch von der Realität, in einer Vereinigung von Zeichen (Form) und Bedeutung (Inhalt). So enthält das Objekt, als einzige Art, in der der Mensch sich etwas als etwas nähern kann, bereits in sich selbst das Entweichende, hinter sich Weisende, auf Grund dessen der Mensch nicht dabei stehenbleiben kann. Es teilt die Zerbrechlichkeit, das Historische des menschlichen Lebens als Ausdruck. Aber dasselbe gilt auch für die anderen Verrichtungen des Menschen: indirektdirekter Ausdruck, Formgebung in der Wirklichkeit von Intentionen, die bei der gelungenen Verwirklichung und Formgebung schon wieder weiter weisen. So ist der Mensch durch seine Expressivität das Wesen, das nach immer neuen Verwirklichungen strebt, ist Expressivität der wahre Grund für die historische Unruhe, Variabilität und sogar Zerrissenheit des Menschen. Die enge Verbindung von Expressivität und Historizität, Sprache im weitesten Sinne und menschlichem in-der-Welt-sein, alles auf Grund der mit der Exzentrizität gegebenen indirekten Direktheit, ist gerade auch im Licht der heutigen Problematik wohl das Wichtigste dieses Teils, gibt jedoch ihre wirkliche Fruchtbarkeit erst in einer genaueren Betrachtung der Rolle der Körperlichkeit bei Plessner preis. Vorläufig bleibt der Grundgedanke des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt als ein ,,Ausdrucks- Verhältnis", legitimiert die Sprache sich auch bei Plessner als das spezifischste Kennzeichen, der "wahre Existenzbeweis" der menschlichen Seinsweise. Es gibt jedoch noch ein Grundgesetz: das Gesetz des utopischen Standorts. Und auch hier kostet es wenig Mühe, im Exzentrischen die Wurzel der Einsicht der Nichtigkeit, Relativität, Beschränktheit und Zufälligkeit, sowohl der eigenen individuellen Existenz als auch der Welt, in der man lebt, zu entdecken. Bei Plessner findet der bodenlose und unvollständige, in Doppelsinnigkeiten lebende Mensch seinen einzigen "Boden" nur in der mitmenschlichen Weit und Geschichte, seine zerbrechliche Vollständigkeit nur in Weit und Geist, und dennoch wird er gleichzeitig noch einmal mit dem Kontingenten, Begrenzten und Unvollständigen all dessen konfrontiert, woraus für ihn die Idee eines letzten WeItgrundes, eines in sich selbst ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gott geboren wird. (IV, S. 419) Religiosität mag historisch gesehen viele Gesichter haben, sie enthält jedoch einen Kern, der "apriorisch" in der menschlichen Seinweise wurzelt. Das ist der unüberbrück-

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6. Kap.: Grundlagen der philosophischen Anthropologie

bare Gegensatz in der Position des Menschen: in sich selbst und außerhalb seiner selbst, sich selbst gegenüber. Exzentrische Position und Gott als das Absolute, Notwendige und weltfundierende Sein, stehen in .. Wesenskorrelation". Und der Mensch kann eine letzte Bindung, einen Ort, Geborgenheit und .. Heimat" nur in der Religion finden. Dennoch bleibt auch hier mit dem unüberwindlichen Gegensatz innerhalb des Menschen der Konflikt bestehen . ..Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück." (IV, S. 420) Sein Element ist die Zukunft. Wahrscheinlich durch die geringen religiösen Eindrücke seiner Jugend bleibt es in Plessners Philosophie bei einer globalen Fundierung des apriorischen Charakters des Religiösen im allgemeinen. Höchstens der Soziologe wird sich mit Max Weber für eine Soziologie der Religionen interessieren. Dennoch ist seine Philosophie als Fundament für eine Projektionstheorie der religiösen Phänomene gewählt worden, ohne daß der psychologisch belastete Projektionsbegriff durch Plessners eigene Theorie völlig gerechtfertigt wird. Das andere erscheint dem Menschen als eine "Spiegelung" der eigenen Seinsweise, noch bevor er auf Grund irgendeines Bedürfnisses etwas hineinprojiziert. Der Mensch ist von Grund auf ein Du-Sager und die Auffassung von Welt und Natur mit all ihren Kräften und Mächten, sichtbaren und unsichtbaren, lebendigen und leblosen als "beseelt", als erfüllt von einem drohenden oder günstigen, mysteriösen oder vertrauten .. Leben" ist für den Menschen auf Grund seiner Exzentrizität eine "natürliche" frühe Phase. Jedoch dieselbe Exzentrizität kann das in einer späteren Phase der Selbstbewußtwerdung erkennen und sogar zur anderen Seite durchschlagen im Kartesianismus und den Immanenztheorien. Aber auch dann noch bleibt die "Aspektivität" erhalten, steht auch der heutige Mensch den Dingen seiner Welt in einem Du-Verhältnis gegenüber, ohne ihnen noch eine Beseeltheit oder ein Leben zuzuerkennen. Dennoch bleibt auch in diesem bei höheren Kulturen auftretenden Übergewicht von Objektivierung, von Mitwelt und "Geist" als Allerletztes noch immer die Verdoppelung dieser uns erscheinenden Welt gegenüber einem selbst nicht erscheinenden Absolutum bestehen. Es ist selbst da noch vorhanden, wo das Religiöse sich als wahre Endzeit und Erlösung in einem selbst nicht mehr historischen Ende der historischen Dialektik wie bei Marx entwickelt und verweltlicht hat. Nach und in der Philosophie von Plessner selbst kann der Mensch dann auch dieses Letzte noch als eine menschliche "Spiegelung" durchschauen, ohne daß die Aspektivität aufgehoben wird. Das letzte Wort bleibt dann auch bei ihm eine Wahl: das Abenteuer des Geistes oder die Geborgenheit der Religion. Und wo der Mensch auch hier ein

E. Die drei anthropologischen Grundgesetze

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Bürger zweier Welten ist, in einem labilen Gleichgewicht zwischen beiden, zeigt sogar die Entwicklung der revolutionären Strömungen unserer Zeit die Spannung zwischen beiden, einen unlöslichen und daher permanenten Konflikt zwischen Abenteuer und Geborgenheit, dem sich selbst voraus sein und dem konservierenden hinter sich sein. Darin liegt auch der Gegensatz zwischen Plessners Grundidee der Unergründlichkeit des Menschen und der Vorläufigkeit jeder Theorie, die nicht ab-, sondern erschließend sein muß und andererseits der jedenfalls offiziellen Dogmatik des Kommunismus.

11 Redeker

Siebtes Kapitel

Aspekte der Körperlichkeit A. Verhalten, Ausdruck und Haltung Im Widerstand gegen sowohl kirchliche Verachtung als auch theoretische Vernachlässigung ist einer der wesentlichsten Aspekte im Denken unseres Jahrhunderts eine Ehrenrettung der menschlichen Körperlichkeit und damit auch ein Versuch zu einer theoretischen Überwindung des historisch entstandenen Bruchs zwischen dem Menschen und seinem Körper. Trotzdem gibt es keinen Philosophen, bei dem die Körperlichkeit so zentral steht, so fundamental die Frage nach der Philosophie und ihrer Methode und ihren Möglichkeiten beherrscht und zusammen mit der zum Körper gehörenden Sinnlichkeit so sehr Charakter und Bedeutung seiner Philosophie bestimmt, wie Helmuth Plessner. Es ist sogar so, daß die Frage nach der richtigen fundamentalen Verantwortung der Körperlichkeit entscheidend ist, sowohl in kritischer Hinsicht, als auch in bezug auf Fruchtbarkeit und Tragfabigkeit.

Obwohl sie vor den "Stufen" in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre entwickelt wurde, kann die Kategorie "Verhaltung" zusammen mit der Kategorie Ausdruck hier einen Ausgangspunkt bilden. Das Verhalten teilt schließlich mit dem Begriff Ausdruck, wie er anfanglich aus Diltheys geisteswissenschaftlicher Betrachtung entwickelt wurde, die rettende Neutralität gegenüber der Spaltung der Dichotomie. Unabhängig vom Behaviourism und als ein deutliches Vorgreifen auf Merleau-Pontys Comportementhatte das Verhalten auch für die biologische Problematik jener Jahre die rettende Eigenschaft, eine .. Schicht" des Lebens zu sein, in der die körperliche, ..sinnliche" Erscheinung zusammen mit der .. innerlichen" Bedeutung als eine unteilbare Einheit erscheint. Diese Erscheinungsweise ist der physiologischen Funktionsanalyse versagt, da sie "davor" liegt, sie kommt auch nicht aus einer Relation zwischen einem "Subjekt" und einem "Objekt", ebenfalls weil sie selbst wieder die Basis für diese und andere Relationen bildet. Es ist deutlich, wie die spätere Philosophie vom Leben und vom Menschen als Seinsweise auf der Grundlage ihrer Erscheinungsweise schon in dieser Betrachtungsweise des Lebens im Verhalten, sich Verhalten und Ausdruck beschlossen liegt. In den Begriffen Verhalten und Ausdruck ist nicht so sehr der Bruch zwischen ..Innerem" und .. Äußerem" geheilt und sogar verhindert, sondern es wurde

A. Vemalten. Ausdruck und Haltung

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auch zugleich eine Schicht gewählt, in der menschliches und tierisches Leben sich neutral, unbelastet durch ein theoretisches Erbe, in ihrer Verwandtschaft und ihrer Unterschiedlichkeit studieren lassen. Verhalten als die körperlich-geistig indifferente Weise, in der ein Lebewesen nach außen tritt, sich in der ganzen Vielfalt von Möglichkeiten äußert, ist immer schon ein Sichverhalten zwischen dem Lebewesen, seiner Umgebung, anderen. Es erscheint, ist anschaulich, aber gibt gleichzeitig darin auf eine nicht davon zu lösende Weise, einen Sinn zu erkennen. Anschaulichkeit und Verständlichkeit sind hier identisch. Was hier in einem Vorstadium in Angriff genommen wurde, war daher auch nichts anderes, als was später als spezifisch für die Positionalität des Lebens postuliert werden konnte: als Zentrum direkt an den Rändern sichtbar (das Äußere) zu erscheinen, als Rand (erscheinender Körper) transparent zu sein, zu diesem Zentrum hin, ein erscheinender Körper zu sein, der nicht nur Mittel und Hülle ist, sondern zugleich auch das sich verhaltende Lebewesen selbst. Verhaltensweisen, Verhältnisse, Haltungen bilden auf eine bei Mensch und Tier unterschiedliche Weise das gesamte Gebiet der menschlichen oder tierischen Seinsweise, als ein Gebiet, auf dem der Gegensatz innen-außen, innerlich-äußerlich, "psychisch" oder "geistig" -körperlich nicht existiert, wo die Zone der Bedeutung direkt transparent an der körperlichen Außenseite mitgegeben ist, wo das Lebewesen als Ausdruck, als ein Verhältnis zu anderen sein Körper "ist". So wird auch im allgemeineren Sinne der Leib-Aspekt der Körperlichkeit nicht nur am eigenen Körper erfahren, sondern steht auch in derselben Indifferenz von "Subjekt" und "Objekt", und wird zugleich direktanschaulich im anderen erfahren. Daß die Aspekte von Ich-Du-Er-Wir schon in der menschlichen Seinsweise fundiert sind, bevor sich so etwas wie ein Bewußtseins- und Immanenzproblem stellen kann, gilt ebenso für unsere Leiblichkeit als Leib. Im Leib und als Leib ist das Lebendige expressiv, das Leben Ausdruck, tritt es über sich selbst hinaus und ist außerhalb seiner selbst, wird es als erscheinendes Zentrum zu sich selbst hin transparent, handelt und existiert und verhält es sich, ist es Körper in seiner Erscheinungsweise, direkt, Bedeutungsträger. Soweit das Tier in seiner Frontalität im Gegensatz zum Menschen ganz im Zusammenhang von Leib und Umwelt aufgeht, gilt dies innerhalb der Systematik von Plessner deshalb am uneingeschränktesten für das TIer, das in dieser Hinsicht nicht hinter dem, was sich in seinem Verhalten und seinen Äußerungen zu erkennen gibt, verbirgt. Hier, jedenfalls in der Konfrontation von menschlicher Exzentrizität und tierischer Frontalität liegt der wahre Ursprung von Plessners These, daß der Mensch im Hinblick auf das andere sich selbst weder am nächsten noch am fernsten ist. Das ist auch der Ursprung einer Kontroverse in diesem Punkt (u.a. 11'

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7. Kap.: Aspekte der Körperlichkeit

mit Buytendijk), die übrigens gerade enthüllend ist für den wahren Charakter von Plessners Philosophie. Soweit der Mensch (auch) in der exzentrischen Position steht, sowohl gegenüber sich selbst als gegenüber dem anderen, ist von einem unterschiedlichen Abstand (im Hinblick auf den Aspekt) keine Rede. Andererseits ist es ebenso in seiner Struktur verwurzelt, daß das Tier völlig in der aspektgebundenen Expressivität seiner körperlichen Handlungssphäre aufgeht, ohne daß sich dahinter eine Innenwelt verbirgt. Bedeutet das, daß das TIer für den Menschen ein offenes Buch ist? Keineswegs. Der Abstand zwischen Tier und Mensch, die Unverständlichkeit des tierischen Lebens für den Menschen, auf Grund derer er nach anderen wissenschaftlichen Analysen und Erklärungsmethoden suchen muß, liegt in der Philosophie Plessners jedoch nicht in dem traditions gemäß dafür angeführten Unterschied zwischen menschlichem "Geist~ und tierischer "Psyche~ (soweit man noch bereit war, diesen Begriff auf das TIer anzuwenden) Dieser Abstand wurzelt dagegen völlig in der Verschiedenheit der Organisation, der Leiblichkeit. In Plessners Theorie ist kein Platz für eine tierische "Sprache~, insofern echte Sprache nur beim Menschen als eine symbolische indirekte Direktheit "Sachverhalte~ aus den vital-bestimmten Verhältnissen zur Wirklichkeit löst. Ziehen wir hier jedoch selbst die Konsequenzen aus Plessners Positionalität, dann haben die TIere auch keine Sprache nötig da sie innerhalb der eigenen Organisationsform, innerhalb der eigenen Sorte, schon in ihrer körperlichen Anwesendheit direkt und vollständig "expressiv~, verständlich sind. Ihre Seinsweise ist ihr Verhalten, ihr Verhalten Expressivität. Wäre also der Mensch imstande, in die Leiblichkeit, "in die Haut~ einer Katze oder eines Ameisenbären zu kriechen, dann hätte auch er keine Schwierigkeiten, ihr Verhalten zu verstehen. Aber gerade das ist uns versagt. Bei größer werdenden Unterschieden in der körperlichen Organisation nimmt die Verständlichkeit des Verhaltens als direkt anschauliche Körperlichkeit ab. Körperlichkeit bestimmt den Abstand zwischen Mensch und Tier, wie auch körperliche Verwandtschaft noch so etwas wie einen Kontakt bildet (einschließlich des "instinktbestimmten~ Platzes des Menschen im Leben von z.B. Haustieren). Dabei bleibt natürlich vom Tier aus alles was durch die exzentrische Position des Menschen entsteht, ein Buch mit sieben Siegeln. Die Kontroverse um die Anwendbarkeit von Plessners Philosophie für eine Theorie des tierischen Verhaltens wird hier übrigens nur global berührt, um die fundamentale Rolle der Körperlichkeit in seinem System deutlich zu zeigen. Hier geht es jetzt im Weiteren um den Zusammenhang KörperAusdruck-Verhalten (Verhältnis)-Erscheinung in seinem spezifisch menschlichen Modus. Und dann bleibt zunächst auch beim Menschen mit seiner gebliebenen Leib-Körperlichkeit und der "Umwelt-Intentionalität~ dieser

A. Verltalten. Ausdruck Wld HaltWlg

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Körperlichkeit ein Feld direkter Verständlichkeit, wie z. B. im Gesichtsausdruck, erhalten. Auch der Mensch bewahrt in seiner Leibhaftigkeit, in seiner Mimik und seinem Verhalten direkte Expressivität und Verständlichkeit. Dagegen steht der Mensch zugleich in der Gebrochenheit, dem unüberbrückbaren Gegensatz seiner exzentrischen Position und damit vor der Möglichkeit und Notwendigkeit des Indirekt-Direkten, des Natürlich-Künstlichen und der tragenden, neutralen und gemeinschaftlichen Sphäre des Mitseins, wie es unter anderem schon im menschlichen Sprechen, in seiner Sprache als spezifisch menschlichem Ausdruck zum Vorschein kam. Soweit der Mensch in seinen Verhaltensweisen und Verhältnissen nicht auskommt, ohne sich selbst "künstlich" zu etwas zu machen, weil er sonst nicht zur Identität, zu reinen Verhältnissen zu anderen und sich selbst kommen kann, tritt beim Menschen innerhalb seiner Verhältnisse der Aspekt Haltung auf. Nur der Mensch lebt in Haltungen, "gibt sich eine Haltung", nimmt in seinem Verhältnis Haltungen an als einzige Art und Weise, als Mensch zu leben. Dennoch bleibt auch hierin die Leibhaftigkeit bestehen, jetzt jedoch in einer spezifisch menschlichen Körper-Leib-Dualität. Dadurch bekommen auch Verhalten und Ausdruck einen natürlich-künstlichen Charakter, eine indirekte Direktheit. Als philosophische Grundbestimmung fundiert das übrigens die Unsicherheit, das Risiko von Gelingen oder Versagen. Es ist indifferent gegenüber dem faktischen Gegensatz einer "echten", "wahrhaftigen" Haltung und dem Unechten, das darin liegt, "sich eine Haltung zu geben oder anzunehmen zu versuchen". Die Direktheit und Unwillkürlichkeit des mimischen Ausdrucks manifestiert sich in der Unersetzlichkeit und dem nicht voneinander zu trennenden Verhältnis zwischen expressiver Bewegung und expressivem Gehalt. Hier befinden wir uns auf einem der Gebiete, auf denen auch der Mensch noch so vollständig wie möglich in seiner Leibhafligkeit aufgeht, die körperliche Erscheinungsform eins ist mit dem, was sich darin ausdruckt, als ein möglichst vollständiges beiderseitiges Durchdringen dessen, was man traditionsgemäß als seelischen Inhalt und körperlichen Ausdruck und körperliche Erscheinung unterscheiden könnte. Beim Menschen ist dies ein Grenzgebiet. Auch wenn durch alles hindurch die Leibhaftigkeit bewahrt bleibt, gibt es in fließenden Übergängen ein ganzes Feld, in dem das Element Haltung in jeweils anderen Formen an Bedeutung gewinnt. Haltung wird damit eine Grundbestimmung des Menschen in seiner Weise des Verhaltens und Betragens, in seinen Verhältnissen zu sich selbst und anderen, wie sehr er auch hier den erlösenden und paradiesischen Traum eines Lebens ohne Haltungen bewahrt, ganz natürlich und spontan, ohne Reserve, ekstatisch aufgehend in seinem Verhalten, völlig offen ohne Distanz die Welt und die anderen umarmend. Denn Haltung schafft Abstand, schafft auch selbst als ein Element des "Wir" eine Sphäre von Neutralität, von etwas, das sich unpersönlich vom "Ich" löst und worin dieses Ich sich doch nur auf haltbare

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7. Kap.: Aspekte der Körperlichkeit

Weise in diese Welt stellen kann, sich zu dieser Welt verhalten kann. Wo Haltung auftritt, wird das Leben in seiner Natürlichkeit auf bestimmte Weise stilisiert, schematisiert und formalisiert, nimmt es allgemeinen Charakter an, mit einer Funktion, einer Gruppe, einer "Rolle" verbunden, wodurch man einerseits nur eine "Person" werden kann, aber andererseits als der austauschbare Träger dieser Rolle auch an "unersetzlicher und unwiederholbarer Individualität" einbüßt. Das ist ein Thema, das noch genauer untersucht werden soll. "Nur das Verhalten erklärt den Körper". Das gilt auch für den Menschen, aber in seinem eigenen spezifischen Modus natürlicher Künstlichkeit und indirekter Direktheit, von Leib-sein und Körper-haben. Mit dem Eindringen des Aspektes Haltung in die Totalität menschlicher Verhaltensweisen, Äußerungen und Verhältnisse dringt auch die Doppelsinnigkeit in die menschlichen Äußerungen ein. Was in der ungebrochen Sphäre der Leibhaftigkeit völlig transparent ist, bekommt jetzt das Zwiespältige von etwas, das zu erkennen gibt und gleichzeitig verbirgt. Als Haltung, als Stilisierung und Formgebung der Expressivität, als Instrumentalisierung des Körpers als Körper läßt der Ausdruck sich sogar weitgehend vom Leben "dahinter" lösen. Wie der Tänzer die spezifisch menschliche Einheit von Körper-Leib in einer stilisierten Expressivität erfüllt, so existiert der Schauspieler nur als die stilisierte, spezialisierte Erfüllung dessen, was der Mensch seit jeher ist: Darsteller von Rollen, die er selbst nicht einmal völlig durchschaut, in einer "Echtheit", die immer schon vor einem entfliehenden Hintergrund das Element der Künstlichkeit in sich trägt. Der Mensch kann nicht anders, er ist zur Künstlichkeit, zum Schauspiel "verurteilt". Das ist die einzige Art, in der er, auf seine spezifische Weise Authentizität erwerben kann, getragen durch die Mitwelt in der historischen Mitmenschlichkeit seinen Platz finden und erfüllen kann. Der Mensch kann in seinem Ausdruck lügen, heucheln, sich verbergen. Aber auch da, wo er sich so vollständig wie möglich, so "nackt" wie möglich zeigen will, schafft das Element Haltung auch als Erscheinungsweise das Doppelsinnige eines Sichmanifestierens und Sichverbergens, soweit die beiden Aspekte von "Seele" und "Körper" sich nicht völlig decken. In der Haltung, mit allen Aspekten, die sich darin noch genauer spezifizieren lassen, ist der Mensch ..gekleidet", verbirgt er eine unergründliche "Innenwelt'" schafft er eine Sphäre der Neutralität und Indifferenz, mit der er sich innerhalb der Mitmenschlichkeit zugleich eine letzte Intimität sichert. Denn dieses Allerletzte, das ohne Hinzufügung von Mitmenschlichkeit und Mitwelt nicht existieren kann, wäre ohne diesen Rollencharakter, ohne diese Distanz und Verkleidung nur der Enthüllung der eigenen Insuffizienz und Bodenlosigkeit preisgegeben. Der Mensch verträgt die völlige Preisgabe "seiner selbst" ohne Rest und Restriktion, die völlige "Nacktheit" nicht oder nur im Grenzbereich der Liebe.

A. Verhalten, Ausdruck und Haltung

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Die körperliche Nacktheit ist nur ein Aspekt davon. Denn selbst diese Nacktheit transzendiert er, überall wo es außerhalb des rein Privaten um die Mitmenschlichkeit geht, in eine "Haltung", eine "Stilisierung", wie z. B. bei der Stilisierung des Striptease, der Haltung des nackten Schwimmers. So erscheint hier im ersten Ansatz dasjenige, was in einem eigenen Kapitel über die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft in Plessners Philosophie noch genauer behandelt werden soll. Neben dem direkten körperlichen Ausdruck, in dem der Mensch als Zentrum so vollständig wie möglich in seinen äußerlichen Verhaltensweisen aufgeht und neben dem Künstlich-Natürlichen der Haltung, in dem der Körper den Menschen zugleich zu erkennen gibt und verbirgt, kennt Plessners Philosophie jedoch noch zwei Phänomene, die als echte "Grenzphänomene" des menschlichen Verhaltens diesem Grenzcharakter auch eine spezifisch enthüllende Funktion entnehmen: Lachen und Weinen. Als getrennte Studie erschienen und zweifellos das am brillantesten konzipierte Buch seines Werkes hat "Lachen und Weinen" am meisten zu seiner Bekanntheit beigetragen, aber damit auch als Teilaspekt am meisten den Blick auf seine gesamte Philosophie verbaut. Im Grunde geht es um ein Detail seiner Theorie, das hier dann auch innerhalb des Systems gestellt und fundiert, auf bescheidenere Proportionen reduziert wird. Daher kann hier auch von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit anderen maßgeblichen Autoren und Veröffentlichungen auf diesem Gebiet, wie Bergsons .. Le Rire" abgesehen werden. Innerhalb der Skala menschlicher Äußerungen nehmen Lachen und Weinen auch bereits rein phänomenal eine besondere Position ein. Der stark körperlich gebundene Charakter ist deutlich und erklärt, warum die Literatur über Teilaspekte wie "das Komische" ziemlich reichhaltig ist im Verhältnis zu diesen Erscheinungen selbst, die selten zusammen behandelt werden. Dennoch muß es um spezifisch menschliche und daher für den Menschen enthüllende Äußerungen gehen, da Lachen und Weinen bei Tieren fehlen, trotz einiger damit entfernt verwandter Erscheinungen. Mit dem direkten Ausdruck von Mimik und Gebärde haben sie gemeinsam, daß es auch hier um unmittelbare und unwillkürliche Äußerungen geht, bei denen das körperliche "Bild", die Form und der expressive "innerliche" Inhalt eine unzertrennliche Einheit bilden. Dennoch fehlt die Einsichtigkeit, der Sinn gerade dieser Verbindung zwischen dem Körperlichen und dem, was sich darin äußert, die "Transparenz" des Körpers. Im Gegensatz zum Mimischen erreicht die Transparenz KörperSeele hier einen Tiefpunkt. Und gerade da liegt für Plessner der Schlüssel. Ausgangspunkt ist schließlich die Haltung als spezifisch menschliches Betragen und Verhalten. In der Haltung manifestiert sich der Mensch in der unlöslichen Doppelsinnigkeit seiner menschlichen Seinsweise. In der Haltung hat er sich in der Hand, ist er Herr der Situation, hat er sich und andere im Griff, hat die Situation zumindest einen deutlichen Sinn, sogar wenn die

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7. Kap.: Aspekte der Körperlichkeit

Gefahr von Übennacht besteht. Haltung ist das Äquivalent einer beantwortbaren Situation. Das alles kommt zum Ausdruck in der Sprache und wird durch sie realisiert. Dort sind artikulierte Laute Zeichen für Bedeutungen, die außerhalb des Affektiven und der Situation sachliche Inhalte ausdrücken, in und durch Gebärden, in denen der Mensch sein mimisches Material stilisiert, seinen Körper instrumentalisiert und auch noch im direkten mimischen Ausdruck, "in dem" und nicht "mit dem" er sich ausdrückt. Es gibt jedoch Situationen, denen dieses Beantwortbare fehlt, in denen demzufolge auch die Haltung versagt, und mit der Haltung der gesamte nonnale menschliche Ausdruck in der Einheit des Menschen in und gegenüber seinem Körper. Und diese Situationen bringen nicht nur zum Lachen und Weinen, sondern ihre Unbeantwortbarkeit kommt auch im Charakter von Lachen und Weinen zum Ausdruck, tatsächlich "Grenzen menschlichen Verhaltens" und menschlichen Ausdrucks. In Lachen und Weinen ist der Mensch das Opfer seiner exzentrischen Position (VII, S. 276), kommt die Bodenlosigkeit und Unlösbarkeit auch seines Körper-Leib-Verhältnisses zum Ausdruck. Dennoch bleiben Lachen und Weinen, im Gegensatz zu Husten, Erbleichen und Transpirieren noch Antworten der Person, die selbst die Antwort schuldig bleibt, sie gleichsam dem Körper überläßt: eine letzte Fonn "des Zusammenwirkens zwischen der Person und ihrem Körper, die für gewöhnlich geheim bleibt, weil sie nicht beansprucht wird." (VII, S. 237) Hier ist der Körper kein Instrument, auch keine transparente Einheit von "Seele" und "Körper", hier bringt der Körper gerade unartikuliert, untransparent, in Konvulsionen, das "Nichtexpressive~, das Unbeantwortbare und damit die Unmöglichkeit einer Haltung zum Ausdruck. So überläßt der Mensch lachend in gewissen Grenzsituationen, die ohne Drohung nicht zu beantworten sind (die vielen Varianten werden hier nicht genauer analysiert), den Körper sich selbst, er läßt die Einheit mit dem Körper fahren und damit die eigene Beherrschung. Und obwohl der Körper die Rolle übernimmt, behauptet sich damit die Person: "im Verlust der Beherrschung ... in der Desorganisation beweist der Mensch noch seine Souveränität in einer unmöglichen Situation. ~Lachen folgt auf unlösliche Absurdität, Gegensatz, Verflechtung und Durchkreuzung von nur wechselnd transparenten Sinnzusammenhängen. Innerhalb ihrer Gemeinsamkeit als Grenzen menschlichen Verhaltens sind Lachen und Weinen zugleich Kontraste. Denn gegenüber dem Direkten, Eruptiven des Lachens, in dem die beherrschte Haltung des Körpers durch die Situation vernichtet wird, gibt sich der Mensch im Weinen selbst auf, ergibt sich dem Weinen. Beim Lachen wird der Mensch gleichsam im Unlöslichen, Absurden seiner Menschlichen Situation und Art "gekitzelt~, wie auch das Kitzeln durch eine Ambivalenz gekennzeichnet wird. Im Weinen kapituliert der Mensch selbst, überwältigt gibt er seine Haltung und seinen Widerstand

A. Verhalten, Ausdruck und Haltung

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auf. Lust und Schmerz sind nicht entscheidend, so wie man vor Freude weinen und aus Verzweiflung und Schmerz lachen kann, oder lachen und weinen gleichzeitig. Im Weinen läßt man sich jedoch von der Spannung in die Entspannung fallen, verfällt das Distanzierungsvermögen, wird man nicht in der Exzentrizität gekitzelt, sondern zu einer letzten Konfrontation überwältigt. Babys weinen vor Schmerz, Kinder aus Traurigkeit, aber es ist kennzeichnend für den Erwachsenen, vor allem aus einer nicht mehr zu beantwortenden Ergriffenheit, um das Erhabene, das Schöne zu weinen. Natürlich auch mit allen Möglichkeiten zu Sentimentalität, Oberflächlichkeit und Unechtheit, allen "defizienten Modi~, die zu derselben menschlichen Struktur gehören. Weinend beantwortet der Mensch das Unausweichliche, Unwiederholbare, Unwiderrufliche, die unerfüllbare Sehnsucht, die Endlichkeit. Und obwohl Plessner niemals zu einer ausführlich entwickelten Lehre des Emotionalen gekommen ist - die in seinem Werk sehr wohl fundiert ist - kommt er gerade in dieser Beziehung mit Konstatierungen, die für seine gesamte Philosophie ausschlaggebend und kennzeichnend sind. Gefühl ist essentiell "sachgebunden~, eine zentrale, die ganze Person angreifende Bindung an etwas, das Angesprochensein als Mensch. Diese "Sachgebundenheit~ unterscheidet echte Gefühle von Sentimentalität und bedeutet zugleich: "Nur wo ein Verstand ist, kann auch ein Herz sein.~ (Vrr , S. 349) So ist auch das Weinen, die Äußerung einer extremsten Form von Emotionalität, obwohl auch ein Weinen um sich selbst (Erdmann) oder aus Mitleid mit sich selbst (Schopenhauer) vorkommt, fundamental niemals dazu zu begrenzen, in seinen reifen Lebensformen auch selbst auf das andere und den anderen, auf Werte, auf "Sachen~ bezogen. Worin sich Lachen und Weinen essentiell unterscheiden, das ist der Unterschied zwischen dem Direkten, Eruptiven und Geöffneten im Lachen und dem Geschlossenen, Indirekten und über uns Kommenden im Weinen. Der Lachende öffnet sich der Welt auch in einer Offenheit des Gesichtsausdrucks, die dem Lachen zumindest einen expressiven Charakter gibt. Der Lacher lebt in einer potentiellen Welt von Mitlachern, während sich der Weinende auch im Verhalten von der Welt abwendet. Stärker im Hypothetischen liegt dann der Versuch, diesen Gegensatz weiter auszuspinnen und die Reaktion des Lachens körperlich mit dem animalischen, die des Weinens mit dem vegetativen Nervensystem zu verbinden, schließlich das Lachen vor allem mit dem Bewußtsein zu verbinden, das Weinen mit dem Gefühl. Lachen reagiert dann auf eine "geistige~ Unbeantwortbarkeit, im Weinen kapituliert der ganze Mensch, als "Seele~. Wo bleibt schließlich das Lächeln? Die Frage ist in Fachkreisen nicht ausgeblieben und hat 1950 zu einem kleinen Essay in der Festschrift für G. van der Leeuw geführt. Und damit zu einer Antwort, in der das tiefste Wesen von

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7. Kap.: Aspekte der Körperlichkeit

Plessners Philosophie sich widerspiegelt. Gegenüber dem Direkten, Unwiderstehlichen und Heftigen von Lachen und Weinen als Kapitulationen, Grenzen unseres Verhaltens, steht das Lächeln in einer vollkommenen Freiheit und einem Reichtum von Nuancen, in einer Mannigfaltigkeit von Anlässen und als Gegenteil einer Kapitulation. Im Lächeln erreicht der Mensch schließlich eine letzte Anerkennung der unlöslichen Doppelsinnigkeit seiner eigenen menschlichen Existenz, ironisch, ohne Bitterkeit. Das Lächeln ist so etwas wie eine letzte Hannonie und Versöhnung, kein Konflikt, sondern eine Mitte als Vereinigung von natürlicher Äußerung (Einheit Leib-Seele) und dem distanziert Gespielten der Künstlichkeit. Mag der Mensch im Lachen und Weinen Opfer seiner Seinsweise sein, dann verleiht er dem im Lächeln Ausdruck. Das Lächeln ist dann "Abstand im Ausdruck zum Ausdruck~, Ausdruck des Menschlichen im Menschen, ein "Darüberstehen~ in aktiver Ruhestellung und beherrschtem Abstand. Im Lächeln, so könnte man Plessner ergänzen, fehlt auch selten oder nie die Wehmut des Erkennens und wird die Weisheit im Gesicht zur Grazie. Oder Plessner selbst: überall, wo das Lächeln aufleuchtet, wird es durch seine milden Strahlen schöner, als trüge der Mensch den Kuss einer Göttin auf der Stirn. Das wird in anderer, ausführlicherer und weniger idyllischer Form als Quintessenz von Plessners Philosophie am Schluß zurückkehren. B. Sprechen, Handeln und Gestalten Gegenüber den vielen und unterschiedlichen Erfahrungen, die Menschen zum Lachen oder Weinen bringen, steht das relativ Beschränkte, Starre, zwanghafte und Undurchsichtige von Lachen und Weinen als körperlich erscheinende Äußerungen. Es gehört zu ihrer spezifischen Art als "Grenzen~ menschlichen Verhaltens.Ein Kind lacht und weint über andere Dinge als ein Erwachsener. Und was den einen unwiderstehlich und unbändig zum Lachen bringt, darüber könnte ein anderer weinen. Es bleibt die Unübersetzbarkeit eines Erlebnisinhaltes in Lachen und Weinen als "Form~ mimischen Ausdrucks, als einzige Art und Weise in der der Mensch als Mensch das Unbeantwortbare noch als Person im befreienden Lachen, dem reinigenden Weinen ..beantwortet~. So stehen Lachen und Weinen an der Grenze eines menschlichen Betragens, sich Verhaltens und Äußerns, das innerhalb der ganzen Skala von direkter emotionaler Ergriffenheit zu kühlem und distanziertem Objektivieren im Zeichen eines unüberbrückbaren Gegensatzes und einer Verflechtung von indirekter Direktheit und natürlicher Künstlichkeit steht. Plessner unterteilt das wiederholt systematisch in Sprache, planmäßiges Handeln und variables Gestalten. Das ist eine Unterscheidung, die als äußerliche Rubrizierung der Gesamtheit von menschlichen Leistungen, Verhaltensweisen und Äußerungen wohl befriedigt, aber in bezug auf das Verhältnis untereinander viele Fragen

B. Sprechen, Handeln und Gestalten

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aufwirft, die ihrerseits erhellend in bezug auf die wahre Bedeutung von Plessners fundamentaler Theorie, vor allem im Hinblick auf Sprache und Sprechen sein können. Es ist außerdem eine Problematik die unvermeidlich in einer "Ästhesiologie~ als weiterem Ausbau der Lehre der menschlichen Körperlichkeit fortgesetzt und genauer fundiert werden muß. Obwohl wie wir schon eher sahen, das Leben als Seinsweise damit implizit zugleich im Zeichen des "Ausdrucks~ steht, tritt der Gegensatz von Handeln und Ausdruck schon ganz früh in "Die Deutung des Mimischen Ausdrucks~ auf, scheinbar im Gegensatz dazu. Die Handlung geht zuende und hat einen "Funktionswert~, heißt es dort, während der Ausdruck "dauert~ und "Seinswert~ hat. Das muß dann so verstanden werden, daß Handlungen, auch wenn sie wiederholbar sind, etwas "Einmaliges~ haben soweit sie schon in einem Entwurf, auf die Zukunft gerichtet, auf eine Erfüllung und Realisierung als Ziel gerichtet sind und funktionell in dieser Realisierung enden, wo in echten Äußerungen, auch dem flüchtigsten Gesichtsausdruck etwas erscheint, das als "Sinn~, als Bedeutung mehr ist als die flüchtige Erscheinungsweise selbst und in bezug auf das Lebewesen seinsenthüllend ist. Dennoch kann man gerade anband von Plessners Philosophie zeigen, daß dieser Gegensatz beim Tier nicht existiert und beim Menschen auf etwas anderes deutet. In bezug auf das Tier ist auch Plessner viel daran gelegen, die Kategorie Sprache oder Sprechen für den Menschen zu reservieren, soweit Spechen nur auf Grund der Indirektheit die Trennung von Wort und Bedeutung, von "Zeichen~ und dem "Bezeichneten~ impliziert, auf "Sachverhalte~ bezogen ist, die sich aus der Direktheit eines vitalen, frontalen Aufgehens in der Situation von Hier und Jetzt und der Umwelt gelöst haben. Mag auch das tierische Leben Systeme von Signalen aufweisen, mögen auch bestimmte Tiere einander durch Geräusche etwas "mitteilen", dann bedeutet Plessners eigene Theorie, daß diese Formen der "Mitteilung" und der "Expressivität" keinerlei prinzipiellen Gegensatz zu den anderen Verhaltensweisen enthalten. Wie schon eher postuliert folgt aus Plessners Positionalität, daß das Tier nicht nur nicht spricht, weil es ..nichts zu sagen hat", sondern weil es in all seinen Verhaltensweisen innerhalb der eigenen Art, der eigenen Organisationsform schon vollkommen expressiv ist. Die Signalsysteme, die Geräusche und anderen sinnlich bestimmten Kommunikationsmittel gehören daher auch zum selben Gebiet wie Vogelflug, werbendes Verhalten oder die Haltungen von Abwehr und Aggression. "Mitteilung" und "Mittun" werden daher auch bei Plessner immer wieder erwähnt, wo es darum geht, die menschliche Exzentrizität und damit die Möglichkeiten von Sprechen und Sprache von der tierischen Frontalität zu unterscheiden. So kommt das, was der Mensch mit Imitieren, Nachmachen bezeichnet, was im menschlichen Leben vor allem in der Jugend eine unentbehrliche und spezifische Rolle spielt, beim Tier nur uneigentlich vor.

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Nach-äffen ist keine Eigenschaft des Affen, sondern eine typisch menschliche, die wir auf den Affen projizieren. Der Affe äfft nicht nach, sondern tut mit. Das liegt auf einer Linie mit dem Mitbellen von Hunden, dem Mitzwitschern von Staren, der Einheit eines Schwarms von Staren. Für ein echtes Nachmachen, eine Imitation ist die Spiegelung des Menschen unentbehrlich, seine Distanz zu sich selbst und dem anderen, wodurch sich zugleich dasjenige was sich nachmachen läßt, als "Sachgehalt" aus der vitalen Direktheit löst. Das kehrt bei Plessner nochmals zurück im Nachdruck auf der Tatsache, daß nur der Mensch ein echtes Spiegelbild hat, das TIer sich selbst im Spiegel nicht erkennt, da es schließlich auch kein "Ich" hat. Das Spiegelbild ist schließlich in gewisser Hinsicht etwas "Irreales", das für das Tier nicht existiert oder nach einer kurzen Überraschung jeden Sinn verliert. Es ist irreal, insofern es keine echte Begegnung ist, der Mensch in einer Vertauschung von links und rechts in einem irrealen Raum erscheint, einem Scheinraum, in dem für das Tier eine Wand bleibt, die jedoch mit der Doppelsinnigkeit der menschlichen Seinsweise selbst korrespondiert. Aus denselben Gründen sagt übrigens auch ein Photo oder eine ähnliche Reproduktion einem Tier nicht, da ein Photo auch tatsächlich nichts sagt. Denn es stimmt nicht, daß ein Photoapparat eine Landschaft, ein Haus oder einen Menschen photographiert. Es ist nur ein Resultat, in dem der Mensch eine Landschaft, ein Haus oder einen Menschen auf Grund des indirekten Bildcharakters seiner eigenen Wirklichkeitserfahrung erkennt. Streng genommen bedeutet daher Plessners Überzeugung, daß ein Tier keine Sprache, keine Imitation und kein Spiegelbild kennt, daß auch der Unterschied zwischen "Handlung" und "Ausdruck" nonexistent ist, nicht einmal von Handlung gesprochen werden darf, da hier etwas eingeführt wird, was trotz des temporal vorausweisenden Charakters tierischen Verhaltens nur dem Menschlichen als Indirektheit eigen ist, die Konstituierung von Verhalten zur Tat. Beim Tier geht alles ineinander über, hat alles sogar zwei unzertrennliche Aspekte von Aktivität und "Mitteilung", Ausdruck, wie man deutlich vor Augen hat, ungeachtet der speziellen Aspekte der Domestikation im Spiel von Hunden und Katzen und abgesehen von den deutlichen faktischen Unterschieden zwischen einem Maulwurf, der seinen Gang gräbt und der "Sprache" der Delphine, zwischen dem Klopfen eines Spechts und dem "Gesang" des Vogels, der sein Gebiet abgrenzt, zwischen Verhaltensweisen, die biologischfunktionell eine Mitteilungsfunktion haben oder nicht. So wird es Zeit, die Bedeutung von Plessners Unterschied zwischen dem Seinswert des Ausdrucks und dem Funktionswert der Handlung jetzt beim Menschen zu suchen, um zu verstehen, warum Sprechen beim Menschen zu einer eigenen Form von Verbindung von "Ausdruck" und "Handlung" wird und warum die Sprache auf spezifische Weise die indirekt-direkte, natürlichkünstliche, exzentrische Seinsweise des Menschen zum Ausdruck bringt und zugleich als ihre Bedingung auftritt. Der Unterschied zwischen Ausdruck und

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Handlung, der beim TIer nicht existiert, besteht nämlich beim Menschen nur als Gegensatz von Direktheit und Indirektheit. Direktheit, wobei die Seinsweise zugleich Ausdruck ist, "Seele und Körper eins sind~ und das Verhalten, die äußerlich vollkommene Transparenz in einer unverbrüchlichen Einheit von "Form~ und "Inhalt~ ist beim Menschen in reiner Form nur als Grenze vorhanden, bleibt durch alles hindurch als Leibhaftigkeit bestehen, aber erfährt zugleich in fließenden Übergängen die Verflechtung und Doppelaspektivität des Indirekt-Direkten, worin diese vollkommene Transparenz und diese unverwechselbare Einheit von Form und Inhalt verloren gehen. Sprache ist die spezifischste Erscheinungsweise davon insofern der Mensch das Lebewesen ist, das durch den Bruch und die Verdoppelung in sich und außerhalb seiner selbst die Notwendigkeit und Möglichkeit hat, seine Welt "zum Sprechen zu bringen~, die Wirklichkeit "zu übersetzen~. Sprache beruht auf dem Lösen von "Sachverhalten~ aus dem vitalen Umgang mit der Wirklichkeit, auf der "Weltoffenheit~, der Verdoppelung, die die Wirklichkeit als Aspekt für den Menschen erfährt und ist zugleich diese Offenheit und Verdoppelung. Obwohl die enge Verbindung zwischen menschlicher Sprache, Sprechen und Stimme noch genauer zur Sprache kommt, bedeutet der doppelte Charakter der Sprache, daß Ausdrucksform und die ausgedrückte Bedeutung nicht mehr in unverbrüchlicher Einheit stehen, sondern in einer austauschbareren äußerlichen Relation. Sprache ist darum beim Menschen ein umfassenderer Begriff als die gesprochene und geschriebene Sprache, die Wortsprache allein und umfaßt das gesamte Gebiet von Möglichkeiten, in denen der Mensch Zeichen und Bedeutung verbindet, eine Bedeutung in einer indirekt-direkten Ausdrucksform "verstofflicht~. So kann die Wortsprache, die zunächst an die Stimme gebunden war, sich auch in Schriftzeichen symbolisieren, gewissermaßen indirekten Zeichen zweiter Ordnung, man kann aber auch von Gebärdensprache oder von einer mathematischen Zeichensprache reden. So finden wir in "Lachen und Weinen~ den Unterschied zwischen dem Sprechen, das sich artikulierter Laute als Zeichen für Bedeutungen bedient, die ohne Bindung an Affekt und Situation "Sachverhalte~ ausdrücken können, Gebärden als Stilisierung eines ursprünglich mimischen Materials und daher keine "Mimik'., sondern "Sprache" und schließlich als letzte Grenze das wirklich direkt Mimische von Äußerungen, worin der Mensch sich unbewußt, ohne Distanz körperlich ausdrückt. Durch die Indirektheit der menschlichen Sprache hat auch sie schon in der Trennung von Wort (Zeichen) und Bedeutung einen gebrochenen, doppelsinnigen, instrumentalen Charakter. Worte bekommen eine Pseudo-Selbständigkeit, werden substantialisiert, können "gebraucht~ und "mißbraucht" werden, stellen sich zwischen den Menschen und die Wirklichkeit, die er doch zugleich durch Worte zum Sprechen bringt, die er mit Worten "meint" und zerbröckeln sie. Die Sprache, Spiegelbild des Doppelten im Menschen selbst, ent-deckt

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und be-deckt, ist das Medium für Wahrheit und Schein, Lüge und Ehrlichkeit. Sprache wird gekennzeichnet durch dieselbe Gebrochenheit und Gegensätzlichkeit, dasselbe unausweichlich Riskante und Heikle und Unvollkommene, enthält sowohl Instrumentalität als auch Expressivität - eine Expressivität, die gerade ohne das Instrumentale nicht auskommt, so sehr, daß "Ausdruck" zum meist verwendeten Grundbegriff in der Sprache als "Kunst", für die Kunst als "Ausdruck" im allgemeinen werden konnte, obwohl man kunstphilosophisch auf Grund derselben Exzentrizität nicht bei diesem Begriff stehen bleiben kann. Sprache ist der spezifische Ausdruck und die Verwirklichung unserer indirekten Direktheit, das repräsentierende Medium in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen dem Menschen und sich selbst. Der Mensch steht nur in einem "übersetzenden" Verhältnis zur Wirklichkeit,ist das Zoon Logon echon, in der ursprünglichen aristotelischen Bedeutung, die Plessner sehr treffend in der doppelten Bedeutung von "rede" (Rede, Vernunft) in der niederländischen Sprache wiederzufinden meint, ist das sprachebesitzende Lebewesen. Das ist sein Privileg und sein Leiden, sein Risiko. Mit Worten und ihrer Syntax schafft er sich eine zweite Welt, unabhängig von seiner jeweils direkten und augenblicklichen Situation. Sprechend steht er im "Wir" der Mitmenschlichkeit, "bin ich als ein anderer" auswechselbar in der Reziprozität der Perspektiven, dem Für-einander der Sprechenden. Sowohl die Nachahmung als auch die Objektivierung, auf denen das Erwerben und der Gebrauch der Sprache beruhen, haben dieselbe menschliche Wurzel in diesem Sinn für die Wechselseitigkeit und Austauschbarkeit der Perspektiven zwischen meiner körperlichen Existenz und der der anderen. Aber zugleich mit dem Sprechen wird der Mensch auch mit dem Unaussprechlichen konfrontiert. Denn Sprechen bleibt ein Netz, ein Gitterwerk, in dem er sich gefangen weiß. Sprache besteht nur in der Gebrochenheit von Sprachen, jede als ein eigenes System mit eigenen Gesetzen, als Ausdruck und zugleich als "Instrument". Worte lügen und reichen nicht aus, wie jede Übersetzung, meinen und verdecken zugleich. Worte hemmen, bringen in ihrer Quasi-Selbständigkeit als Mittel, die gegeben und zu benutzen sind, die Gebrochenheit der menschlichen Existenz zum Ausdruck und zeigen ihre Indirektheit gerade da, wo der Mensch in einem Bedürfnis nach direktem Ausdruck seines Gefühlslebens um so mühsamer nach Worten sucht und ihre Unzureichendheit erfährt. "Sprache bedeckt die Dinge wie ein Tuch und ist dennoch ihr Skelett das ihnen sowohl Aussprechbarkeit als auch Gestalt verleiht." Die Sprache zerbröckelt, indem sie artikuliert, tut dem, was gemeint ist Gewalt an und läßt es doch zugleich erscheinen und sich entblößen, besitzt eine eigene Flexibilität im Sichfügen. Und wenn der Mensch das Wort (neben anderen Sprachmöglichkeiten) zum Träger seines "tiefsten Seelenlebens" zu machen versucht,

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tut er das in der Künstlichkeit, der Spezialisierung des Dichters, der gerade indem er "instrumental~ das Wort aus seiner alltäglichen, direkten "Selbstverständlichkeit~ holt, die Fähigkeit gewinnt, außerhalb des spröden, dürren und oberflächlichen Sprechens der Sprache ein höheres Maß an Ausdrucksfähigkeit zu geben. So kehrt vor allem in der Sprache das menschliche Gesetz zurück, daß der Mensch nur unter Aufgeben der Direktheit, auf dem Umweg der Distanz, über Instrumentalisierung und Verallgemeinerung so etwas wie eine neue und für ihn spezifische "Echtheit~ erreichen kann. Die Semi-Selbständigkeit, mit der die Wortsprache sich als ein Instrument, als ein System mit eigenen festen Regeln zwischen den Menschen und die Wirklichkeit stellt, enthüllend und bedeckend zugleich, und als eine Umwelt, in der der Mensch geboren wird, kommt daher auch im zwiespältigen Charakter des Sprechens zurück, das der Mensch als Kind mühsam lernen muß, als "Instrument~ sich zu eigen machen muß, um sich in einer neuen, zweiten "Natürlichkeit~ und "wie voriselbstsprechend~ im täglichen Leben damit in der Wir-Sphäre des Mitmenschlichen zu äußern. Und damit zeigt die Wurzel der menschlichen Sprache in der exzentrischen Position ihren anderen Aspekt gerade da, wo auch der Ursprung der Schriftsprache liegt und womit sie auch noch immer verbunden bleibt: dem eigentlichen mündlichen Sprechen und damit dem Anteil der Körperlichkeit als der Gebrochenheit und Verflechtung von Körper-Leib. Das Nichtzusammenfallen von Wortsprache und "Bedeutung~ an der Seite des mit Worten Gemeinten ist schließlich nur die andere Seite der indirekten Direktheit von Wortsprache als ein "Ausdruck~, wobei die Ausdrucks/orm nicht unverbrüchlich mit dem Inhalt verbunden ist, nicht völlig transparent ist in bezug auf den Inhalt, in bezug auf den, der sich darin ausdrückt. Und diese letzte Gebrochenheit kehrt im mündlichen Sprechen nochmals in dem spezifischen Verhältnis zu seiner Körperlichkeit zurück, wodurch der Mensch das Wesen sein kann, das eine Sprache hat, so sehr sich diese Wortsprache nochmals in Schriftzeichen "übersetzen~ läßt. So ist der Mensch nur auf Grund eines spezifischen Verhältnisses von indirekter Direktheit und natürlicher Künstlichkeit in bezug auf die eigene Stimme und mündliche Artikulation zum Sprechen in der Lage. Sprechen beruht auf einer Instrumentalisierung der Stimme, wie sie den Tieren versagt ist, aber diese Objektivierung und variable Beherrschung ist "gleichursprünglich~ mit dem doppelten Verhältnis zur Wirklichkeit, das in der Distanz zwischen Zeichen und Bedeutung zum Ausdruck kommt. Die menschliche Stimme ist eine "reale, nach akustischen Qualitäten der Tonhöhe und -stärke, des Timbre, bestimmbare Wirklichkeit~ (VIII, S. 181), die dem Menschen in derselben indifferenten Wir-Sphäre von Ich und anderen gegeben ist, in der Reziprozität, in der wir miteinander sprechen. In der menschlichen Stimme begegnen und erkennen Menschen einander, kommt echt menschlicher

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Kontakt zustande gerade durch die Künstlichkeit, die Instrumentalisierbarkeit, die Artikulation. Die Instrumentalisierung, die der Mensch zu beherrschen lernen muß, um sich ihrer auch als direktem "natürlichem~ Ausdruck zu bedienen, umfaßt übrigens nicht nur Stärke, Höhe und Timbre, sondern auch die mündliche Artikulation von Vokalen und Konsonanten. Im indirekt-direkten "Gebrauch~ der Stimme als Sprechen verschmilzt eine systematische Artikulation des Gebrauchs von Mund und Stimme mit einem systematischen Netz von Bedeutungen zur Wortsprache. Tragend ist auch hier die "Wir-Sphäre~ des Mitmenschlichen und damit zugleich die Imitationsfähigkeit. Im Sprechen ist der Mensch in sich, körperlich als Leib, und zugleich sich selbst gegenüber, gegenüber der eigenen Stimme und gegenüber demjenigen, was er akustisch und symbolisch zusammen als Bedeutung versteht. Was im allgemeinen für die menschliche Sprache gilt, gilt auch für das mündliche Sprechen: die Gebrochenheit und Verflochtenheit von expressiver Form und dem Gemeinten, der Bedeutung. So gelten auch hier ebensosehr die Grenzen als auch die Möglichkeiten. Auch hier erreicht der Mensch nur sein Maß transparenter Äußerung über den Umweg einer Künstlichkeit in Beherrschung und Abstand, in einem historisch und mitmenschlich bestimmten Netzwerk von Allgemeinheiten, mit allem Unaussprechlichen und Nichtausgesprochenen als Hintergrund. Der Mensch fühlt Worte "aufwallen~ und "bedient sich ihrer~. Dennoch behält das menschliche Sprechen gegenüber den anderen Sprachmöglichkeiten, auch der Schrift, eine eigene VorrangssteJIung im Reichtum und der Subtilität des Ausdrucks außerhalb von Worten und ihrer Bedeutung, der Sprache als semi-selbständigem, sozialem und historischem System mit seinen syntaktischen und anderen festen Normen. Im Verhältnis zu seiner Stimme, in der Nuancierung von Timbre, Ton und Volumen, im vielsagenden Schweigen, in all dem, was "zwischen den Worten~ gesagt wird, besitzt der Mensch ein Medium von Verständlichkeit und Ausdruck, das sich mit den Worten und ihren Bedeutungen verbindet, aber diese zugleich weit an eigenen Möglichkeiten übertrifft. Scheinbar eher mit dem direkten Klangausdruck der Tiere verwandt, beruht gerade auch dieser Aspekt in seiner Subtilität und Variierbarkeit auf der spezifisch menschlichen indirekten Direktheit, jetzt im Verhältnis zwischen gegebener und erworbener Wortsprache und der menschlichen Stimme. Eine ganze Skala von der Liebe bis zum Haß, von der Verachtung bis zur Verehrung, von der Angst bis zum Übermut, von der Traurigkeit bis zur Freude, vom Zweifel bis zur Sicherheit, eine nahezu unerschöpfliche Vielfalt von Nuancen kann der Mensch damit ausdrücken, so sehr, daß er seine eigene kühle Verachtung undoppelsinnig mit Worten ausdrücken kann, die scheinbar ebenso undoppelsinnig die ehrfürchtigste Bewunderung "zum Ausdruck~ bringen.

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Und was er auf diese Weise doppelsinnig-undoppelsinnig zu erkennen gibt, kann er auch noch auf dieselbe Weise hinter denselben Worten verbergen. Eine Möglichkeit, derer er sich im täglichen Leben übrigens in viel stärkerem Maße bedient. Das Leugnen ist die zweite Natur des Menschen. Er verbirgt mehr hinter seinen Worten, als er damit zu erkennen gibt. Eine solche spezifische Auffassung des Körperlichen im menschlichen Sprechen, die hier nur im ersten Ansatz wiedergegeben wird, kommt in Plessners philosophisch anthropologischen Werken außerhalb des allgemeinen wie der Instrumentalisierbarkeit der Stimme nicht explizit zur Sprache. Er nutzt auch nicht die Möglichkeit, den doppelten Charakter des Sprechens, die zwei elementaren Möglichkeiten der Schrift zu entwickeln, die sich auch historisch nicht völlig auseinander ableiten lassen weil sie auf der Grundlage von Plessners eigener Theorie im Grunde .. gleich-ursprünglich~ sind: die symbolische Objektivierung von den Sprachklängen in Schriftzeichen, die in unserer Kultur siegte und die der Bedeutungen, oder der Gegensatz zwischen Schrift und gesprochener Sprache. Es hat sich herausgestellt, daß das Schriftsystem nach Sprachartikulation effizienter ist. Darin triumphiert noch einmal die körperliche Komponente unserer Sprache, während diese Effizienz in ihrer Elastizität, in der Entwicklung einer Sprache in den Notierungsmöglichkeiten einer unbegrenzten Anzahl von neuen Worten bei einer relativ kleinen und konstanten Anzahl von Schriftzeichen die relative Indifferenz bildet, die zwischen diesem körperlichen Substrat und der offenen VieIniltigkeit an Bedeutungen, die zusammen die offene Welt einer Sprache bilden,besteht. Dagegen hat die menschliche Stimme ihre eigene Überlegenheit in den fast unbegrenzten Nuancierungsmöglichkeiten des Sprechens selbst, im Ausdruck des Wie, dessen, was ..hinter~ und .. zwischen~ den Worten gesagt werden kann, in dieser Skala, die auch noch alle Nuancen zwischen .. Echtheit~ und "Affektiertheit~, Intimität und Abstand umfaßt, in der das Sprechen zur Poesie werden und das Wort sich im Lied mit der Musik verbinden kann. Da Plessner auf das deutsche Wort "Sprache~ angewiesen ist, das sowohl mündliches Sprechen als auch Sprache bedeutet, kommt Plessner in seinem Text nicht immer zu einer klaren Unterscheidung. Vor allem nicht weil Sprache auch nach seiner eigenen Theorie jede Form menschlichen indirekt-direkten Ausdrucks umfaß, auch den der Gebärde, den des Tänzers und der Musik, auch die visuelle Zeichensprache, ob sie aus dem Sprechen entwickelt wurde oder nicht. Was für die Sprache im allgemeinen gilt, gilt auch für das Sprechen. Die spezifische "Vorzugsposition~, die gerade das Sprechen als menschliche Form der Äußerung in mancher Hinsicht hat, stellt uns jedoch vor eine Problematik, die uns direkt und unausweichlich auf das Gebiet der menschlichen Körper12 Re