Unbehagen als Widerstand: Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze [1. Aufl.] 9783839418307

Unbehagen stellt sich ein, wenn Bezugsrahmen verschwinden, wenn ein unsicheres Terrain beschritten wird, das keine Anknü

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German Pages 322 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Theoretischer Ausgangspunkt
Vorgehensweise
1. Plessner und Deleuze: Eine Annäherung
1.1 Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität
1.2 Deleuzes Konzeption des Schizo – Subjekts
1.3 Zwischenfazit – Ausblick
2. Die Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellsc haft
2.1 Zum Begriff der Disziplinargesellschaft
2.2 Zum Begriff der Kontrollgesellschaft
2.3 Kybernetische Regelungen
2.4 Fazit und Konkretisierung durch das Konzept der exzentrischen Positionalität
3. Die Kraft des Unbehagens
3.1 Nicht-Wissen in der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft
3.2 Die Ebene eines produktiven Unbehagens
Schlussbetrachtung
Literatur
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Unbehagen als Widerstand: Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze [1. Aufl.]
 9783839418307

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Mareike Teigeler Unbehagen als Widerstand

Sozialtheorie

Mareike Teigeler (Dr. phil.) kommt unterschiedlichen Lehraufträgen nach und arbeitet zusammen mit der Künstlerin Kathrin Horsch an dem Projekt »Kann die Ziellosigkeit Ziel sein?«

Mareike Teigeler

Unbehagen als Widerstand Fluchtlinien der Kontrollgesellschaft bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Mareike Teigeler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1830-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Theoretischer Ausgangspunkt Vorgehensweise

7 9 11

1. Plessner und Deleuze: Eine Annäherung

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1.1 Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität 1.2 Deleuzes Konzeption des Schizo – Subjekts 1.3 Zwischenfazit – Ausblick

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 2. Die Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellschaft

2.1 Zum Begriff der Disziplinargesellschaft 2.2 Zum Begriff der Kontrollgesellschaft 2.3 Kybernetische Regelungen 2.4 Fazit und Konkretisierung durch das Konzept der exzentrischen Positionalität

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3. Die Kraft des Unbehagens

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3.1 Nicht-Wissen in der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft 3.2 Die Ebene eines produktiven Unbehagens

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Schlussbetrachtung

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Literatur

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Einleitung

Meine Arbeit mit dem Titel Die gesellschaftspolitische Relevanz des Unbehagens versucht anhand der Konzepte von Helmuth Plessner und Gilles Deleuze ein Modell zu entwickeln, das es ermöglicht, den Strategien kontrollgesellschaftlicher Steuerung zum Trotz, Momente gegenwärtiger Erfahrung zu erkennen, die dem, was sie ermöglichen, nicht vor- oder übergeordnet sind. Die Bedeutung und Notwendigkeit dafür, einen Begriff des Unbehagens zu entwickeln, erschließt sich aus der Erkenntnis, dass sich die von mir untersuchte Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft insbesondere durch die Etablierung eines dynamischen Gleichgewichts auszeichnet, das durch stete Abweichungen immer wieder neu hergestellt wird, anstatt diese Abweichungen durch eine direkte Form der Regulierung auszuschließen. In Bezug auf Möglichkeiten von Widerstand rückt demzufolge die Frage in den Mittelpunkt, wie widerständisches Verhalten sich dieser Dynamik entziehen kann, ohne auf die Figur eines autonomen Subjekts zu rekurrieren, oder selbst in den Determinierungsverhältnissen subtiler sozialer Steuerung aufzugehen. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, Widerstand ohne Halt denken zu können. Wenn „jede Abweichung […] aufgefangen und produktiv in ein dynamisches Gleichgewicht integriert [wird]“ (Pias 2004a: 311), gilt dies auch für einen Ort der kritischen Analyse. Der kritische Wissenschaftler, der sich als verdeckter Ermittler aus einem eigenen, kritischen Ort heraus und wieder in diesen zurück bewegt, ist der Gefahr ausgeliefert, unbemerkt zu einem Agenten der Macht zu werden. Sein Ziel ist es, über die Analyse gesammelter Informationen ein Unter-

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scheidungsvermögen herzustellen, Abweichungen entwickeln zu können. Da diese Abweichungen jedoch für die Entwicklung eines dynamischen Gleichgewichts des Systems, innerhalb dessen der Ermittler sich bewegt, benutzt werden, verliert er möglicherweise den Überblick: „Wie schwierig es für verdeckte Ermittler ist, den eigenen Ort zu halten, zeigen uns diverse Spionageplots. […] Oft verlieren diese, weil sie sich so nah an die Materie heranwagen, den Überblick und werden zu Mitläufern“ (Ziemer 2007: 79). Anstatt einen Ort der kritischen Analyse zu behaupten, aus dem heraus widerständisches Verhalten entwickelt werden soll, indem Wissen, das aus spezifischen Analysen gefiltert wird, als Kriterium dafür dient, Unterscheidungen und damit Abweichungen, vermeintliche Positionen des Widerstands, zu produzieren, geht es in dieser Arbeit darum, eine Metaebene zu entwickeln. Unbehagen soll als eine Variable des Nicht-Wissen entwickelt werden, anhand derer ein Richtungswechsel vonstatten geht: „nicht das Andere des Anderen wird angeschaut, sondern das Andere in mir“ (Ziemer 2008: 104). Diese Vorgehensweise basiert auf der Einsicht, dass es, um sich dem Netz moderner Machtverhältnisse zu entziehen und, was damit gleichbedeutend ist, der Gefahr des Verrats zu entkommen, notwendig ist, das Ziel, Unterscheidungskriterien zu produzieren, aufzulösen. Kritik muss als „Vorgang und Maßnahme nicht aus der Gewissheit der Distanz, sondern aus dem Involviertsein in eine Lage [verstanden werden]. Nicht als Vorgang der Erklärung, sondern der Eröffnung, der Unterbrechung, der Irritation“ (Huber et al. 2007: 8). In eben diesem Kontext steht der Begriff des Unbehagens. Im Gegensatz zu dem eigenen Ort des verdeckten Ermittlers beschreibt das Unbehagen einen Ort, der erst gefunden werden, sich einstellen muss. Einen Ort der Unsicherheit, einen Ort der Irritation. Als Einstich in die horizontalen Linien machtförmiger Strukturen soll er zum Ausgangspunkt dafür werden, emergente Entwicklungen in Gang zu setzen. Die übergeordnete Ebene, auf der sich der Begriff des Unbehagens ansiedelt, setzt sich von einer rein wissenschaftlichen Analyse insofern ab, als sie sicherzustellen sucht, dass Nicht-Wissen nicht gegen sich selbst ausgespielt und zur Grundlage einer Analyse gemacht wird (vgl. Ewald 1993: 182). Im Gegenteil. Mit Hilfe des Unbehagens wird

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versucht, Bewegung freizusetzen, die nicht an eine Hypothese und die sich durch diese konstituierenden Verhältnisse gebunden ist. Es soll in dieser Arbeit darum gehen, die Bewegung, „die bis ins Unendliche getrieben werden kann“ (Deleuze/Guattari 2000: 45), aus den Fängen einer Dynamik zu befreien, die hergestellt wird, sobald Bewegung an ein Referenzsystem gebunden wird. Unbehagen zeichnet sich dadurch aus, ziellos zu sein. Es füllt das Paradox, Widerstand ohne Halt denken zu können, indem dieser Halt keine vordefinierte Basis oder eine durch Analyse zu entwickelnde Position darstellt, sondern in der Ziellosigkeit sein Ziel, seine Konkretisierung erfährt.1

T HEORETISCHER A USGANGSPUNKT In Was ist Philosophie? schreibt Deleuze: „Der Affekt ist kein Übergang von einem Erlebniszustand in einen anderen, sondern das Nichtmenschlich-Werden des Menschen“ (Deleuze/Guattari 2000: 204) und spielt darauf an, was er an anderer Stelle seinen Traum nennt, nämlich, „wenn nicht unsichtbar, so doch nicht wahrnehmbar zu sein“ (Deleuze 1993: 14). Das Unsichtbar-Werden, das Deleuze hier anspricht, steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Was ist Unsichtbar-Werden? Kann man in kontrollgesellschaftlichen Realitäten unsichtbar

1

Anil K. Jain entwirft in seinem Aufsatz Ankerpunkte des Widerstands eine „Utopie des Unbehagens“ und fordert dazu auf, „auf unser Unbehagen [zu] hören, anstatt es zu besänftigen“. Er fragt, „warum […] die utopischen Imaginationen des Widerstands des imaginären Selbst nicht die gleiche Macht haben [sollten] wie die Projektionen der Wirklichkeit?“ (vgl. Jain 2006a: 8). Die Wahl, sich in dieser Arbeit mit dem Begriff eines produktiven Unbehagens zu beschäftigen ist durch Jains Aufsatz sicherlich inspiriert, doch entwickelt sich der Begriff des Unbehagens in meiner Arbeit in eine andere Richtung. In Bezug auf Plessner, Deleuze und das Konzept der Komplizenschaft meint Unbehagen hier eine Form von Ziellosigkeit, die anstatt einer utopischen Imagination von Widerstand zu entsprechen vielmehr meint in einen „Coup“ zu münden, der für sich steht und widersteht.

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werden? Oder wird jeder Versuch, jeder Vorgang, jede Form von Werden überhaupt, automatisch in das System reintegriert und dient somit seiner Stabilisierung? Diese Fragen versuche ich über eine Verbindung von Helmuth Plessner und Gilles Deleuze in ihrer Komplexität in den Blick zu bekommen, um zu erreichen, was Deleuze eine andere Sensibilität im Umgang mit Kritik nennt.2 Es wird sich zeigen, dass diese Fragen die Thematik des Unbehagens insofern in sich tragen, als dieses zwischen dem begrifflich Beschreibbaren, dem Sichtbaren und dem sich begrifflich nur über das Paradox des Festlegens zu nähernden Unsichtbaren, vermittelt. Unbehagen beschreibt somit eine ziellose Haltung innerhalb des Prozesses des Unsichtbar-Werdens, bzw. des Unsichtbar-Seins. Plessner und Deleuze befassen sich auf verschiedene Art und Weise mit der Unterscheidung von Sicht- und Unsichtbarkeit. Während Plessner dem Menschen im Kontext seines anthropologischen Ansatzes eine konstitutive Heimatlosigkeit konstatiert, die dieser, um das Leben führen zu können, aushalten, bzw. immer wieder kompensieren muss, sieht Deleuzes Konzeption vor, dass ein bestimmtes, sichtbares Leben erst zu einem, einem unwahrnehmbaren Leben wird, wenn sich das Leben von einer es ausführenden Subjektivität löst. Das Spannungsfeld, das sich aus der Verbindung dieser, sich auf den ersten Blick konträr zueinander verhaltenden Blickrichtungen ergibt, möchte ich dazu nutzen, die Vielschichtigkeit des Umgangs mit dem Phänomen der Unsichtbarkeit herauszustellen, um anhand dieser Einsicht Kurzschlüsse zu vermeiden, die entstehen können, sobald Unsichtbarkeit in den Kontext kontrollgesellschaftlicher Realitäten gestellt wird. Diese Kurzschlüsse kreisen um das Paradox des haltlosen Widerstands, das es aufzulösen gilt, ohne hierbei Zielvorstellungen zu entwickeln, bzw. sich unbemerkt einschleichende Ziele zu verfolgen. Plessners Arbeiten sind in diesem Zusammenhang geeignet, Deleuzes Konzeptionen immer wieder auf diese Gefahren hin, zu untersuchen. Um dieses Spannungsfeld theoretisch nutzbar zu machen, müssen die Positionen, aus denen sich dieses zusammensetzt, zuvor dargestellt

2

„In der Kritik handelt es sich nicht darum zu rechtfertigen, sondern anders zu fühlen: um eine andere Sensibilität“ (Deleuze 1991a: 103).

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und miteinander in Verbindung gebracht werden. Es muss unterschieden werden, inwieweit Unsichtbarkeit einmal, im Falle Plessners, als Unsichtbarkeit sich selbst gegenüber konstruiert wird, während Unsichtbarkeit im Falle Deleuzes als Auflösung jeglicher Bezugssysteme fungiert.

V ORGEHENSWEISE Die unterschiedliche Herangehensweise beider Theoretiker in Bezug auf die Frage und Herkunft dessen, was als Unsichtbarkeit dargestellt wird, verweist auf einen unterschiedlichen Begriff von Subjektivität. Während Deleuze Subjektivität als durch Machtverhältnisse konstituiert betrachtet, geht Plessner davon aus, dass Subjektivität sich innerhalb eines spezifischen Positionsfeldes, das er für den Menschen als exzentrisch beschreibt, im wahrsten Sinne des Wortes abspielt. Beide rekurrieren in letzter Instanz jedoch auf den Begriff des Lebens, den Deleuze, wenn er von einem Leben spricht von jeglicher Subjektivität löst, während Plessner ein Leben als Bedingung und Ausgangspunkt dafür ansieht, das, ein bestimmtes Leben zu führen. Das erste Kapitel dieser Arbeit Plessner und Deleuze – eine Annäherung zeigt diese unterschiedlichen Ansätze auf, bevor erste Verbindungslinien markiert werden. Plessners Ansatz einer „exzentrischen Positionalität“ des Menschen steht hierbei zunächst im Mittelpunkt, bevor auf Deleuzes Konzeption des „Schizo-Subjekts“ eingegangen wird, die in den besagten Entwurf des einen Lebens mündet. Es wird sich zeigen, dass sowohl Plessner als auch Deleuze sich von der Vorstellung eines autonomen Subjekts im Sinne Descartes verabschieden und die Konstituierung von Subjektivität, die sie mit der Sichtbarwerdung des Lebens gleichsetzen, problematisieren. Plessner plädiert dafür, den „Spielraum des Möglichen“ (Plessner 1983a: 347), der sich einem exzentrisch positionierten Lebewesen bietet, durch eine flexible Grenzziehung stetig zu erweitern. Er bindet diese Grenzziehung, die als Stabilisierung der dem Menschen konstitutiv gegebenen Heimatlosigkeit, als Stabilisierung seiner Hälftenhaftigkeit fungiert, an die Notwendigkeit ihrer Künstlichkeit und kann so Fixierungen im Sinne einer Fundamentali-

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sierung dieser Grenzen als bewusste Eingrenzung menschlicher Möglichkeitsoffenheit entlarven. Im Anschluss an die Darstellung der Plessnerschen Kategorien gehe ich auf Gesa Lindemanns reflexiven Anthropologieansatz ein, um das von ihr untersuchte Feld gesellschaftlicher Grenzregime in den Blick zu bekommen (Kapitel 1.1.4.5). Lindemann zufolge bietet eine reflexive Wendung des Plessnerschen Konzepts die Gelegenheit dazu, den Begriff des Lebens schärfer zu fassen, indem ermittelt werden kann, inwieweit durch gesellschaftliche Grenzregime ausgelotet wird, welchen Wesen überhaupt Zutritt zu Formen der Sozialität gestattet wird. Lindemann merkt an, dass mit Plessner nicht nur die Frage danach gestellt werden kann, was ein Mensch ist, sondern auch die Frage danach, wer ein Mensch, wer ein als lebendig anerkanntes Wesen ist. Durch diese Erweiterung wird deutlich, dass der Begriff des Lebens unter Umständen vorschnell das Leben der zum Leben ermächtigten Wesen bezeichnet. Widerständische, bzw. kritische Gesellschaftsanalysen sind, folgen sie dieser schnellschüssigen Annahme, der Gefahr ausgeliefert, Modelle zu entwickeln, die sich zwangsläufig inmitten dieser Engführung wieder finden, bzw. ihre Analysen von dieser ausgehend erst starten. Den Übergang zu der Darstellung des Deleuzschen Ansatzes, der Leben letztlich als ein Leben zu fassen sucht, bietet sodann der von Plessner erarbeitete und durch Lindemann konkretisierte Grenzbegriff, der im Gegensatz zu Vorstellungen von Grenze als Begrenzung, die es zu überwinden gilt, Grenze als notwendige Eigenschaft exzentrischer Positionalität darstellt. Um das Leben zu führen, um die eigene Hälftenhaftigkeit zu stabilisieren, müssen exzentrisch positionierte Wesen eine Grenze ziehen, die jedoch eine künstliche, eine verhandelbare ist. Gleiches gilt für die von Lindemann ermittelten Grenzregime, durch die die Möglichkeit von Sozialität erst geschaffen wird. Deleuze unterscheidet zwei Formen der Grenze. Während die eine durch ein Prinzip, eine Referenz oder Hypothese gebildet wird, anhand dessen sich das Sein aufteilt, lässt es die andere zu, eine bloße Präsenz im univoken Sein zu beanspruchen. Während der erste Begriff von Grenze Deleuze zufolge eine Verzögerung beschreibt, einen Grenzwert, der als Bedingung für weitere Entwicklungen fungiert, jedoch nicht überschritten werden kann, orientiert sich der zweite Be-

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griff von Grenze an der Vorstellung unendlicher Bewegung. Als Grenze bezeichnet Deleuze in diesem Kontext das nicht mehr weiter zu Konkretisierende, das Unmittelbare, das im Gegensatz zu einem Grenzwert, der eine verzögerte, an diesem Wert ausgerichtete Bewegung herstellt, als Ereignis, als bloße Präsenz, in direkter Beziehung zur Unendlichkeit als solcher steht. Die Trennung zwischen Repräsentation, d.h. Aufteilung des Seins und ungeteiltem, univoken Sein lässt zunächst vermuten, dass Deleuze von einem repressiven Machtverständnis ausgeht, demnach Hypothesen von Außen gesetzt werden, die sodann das Sein aufteilen, Realität herstellen. Im Zuge seiner Beschäftigung mit Foucault erkennt Deleuze jedoch eine produktive Form der Macht, die die Aufteilung des Seins selbst an eine Form von Unendlichkeit koppelt, weshalb Realität nicht weiter als starres, der Repräsentation entspringendes Konzept gedacht werden kann, sondern selbst eine spezifische Dynamik in sich trägt. Im Zuge dieser Einsicht und als weiteren Schritt innerhalb seiner Arbeiten konzipiert Deleuze zusammen mit Felix Guattari das Modell eines organlosen Körpers (Kapitel 1.2.2), im Kontext dessen das univoke Sein von einer Seinsauffassung in reiner Immanenz abgelöst wird, um eine Ebene entwickeln zu können, die sich unterhalb einer virtuellen Machtebene ansiedelt. Die Ebene der Immanenz stellt als Autoproduktion der Differenz den Moment der beziehungslosen Nicht-Differenz zwischen Ursache und Wirkung dar und unterläuft so die Ebene einer produktiven Macht, die als Motor einer jeden Autoproduktion fungieren muss und somit immer in einer Beziehung steht. Kapitel 1.2.3 schließt die Darstellung der Entwicklung innerhalb des Deleuzschen Werkes mit der konkreten Erarbeitung dessen, was Deleuze als ein Leben bezeichnet. Bezeichnete der organlose Körper die Ebene des Nicht-differentWerdens des Differenten, so wird im Kontext des einen Lebens das Nicht-different-Sein des Differenten in den Blick genommen. „Das Leben des Individuums ist einem unpersönlichen Leben gewichen, das ein reines Ereignis hervortreten lässt, frei von den Zufällen des inneren und äußeren Lebens, das heißt von der Subjektivität und Objektivität dessen, was geschieht“ (Deleuze 2005a: 368). Innerhalb der Beschreibung des Deleuzschen Vorhabens einer schrittweisen Auflösung der Ontologie in Differenzphilosophie fällt

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ins Auge, dass Deleuzes Konzept des Unsichtbar-Werdens, das im Kontext des einen Lebens in ein Unsichtbar-Sein gewandelt wird, zwei Problemfelder mit sich führt. Einmal, wenn Deleuze in Bezug auf die Herstellung eines organlosen Körpers davon spricht, einen Rest an Reflexion bewahren zu müssen, stellt sich die Frage, wie diese kleinen „Rationen von Subjektivität“ (Deleuze/Guattari 1992: 220) erhalten werden können, ohne das ganze Unterfangen der Herstellung eines organlosen Körpers zu gefährden, indem dieses dann möglicherweise einer inhärenten Zielvorstellung folgt. Das andere Mal, wenn Deleuze ein Leben als Matrix einer Desubjektivierung darstellt, ist die Frage, wie ein Leben diese Matrix sein kann, anstatt sie zu werden. Kapitel 1.3 widmet sich dieser Kluft zwischen einem geforderten Rest an Reflexion und keinerlei Reflexion im Umgang mit der Thematik der Immanenz bei Deleuze und stellt diese in Verbindung zu Helmuth Plessners Arbeiten. Im Zuge dieser ersten Annäherung wird neben, bzw. auf dem Boden der unterschiedlichen Konzeptionen von Subjektivität bzw. Leben, die beide Theoretiker beanspruchen, die Thematik der Immanenz aus beiderlei Blickrichtung dargestellt. Diese Gegenüberstellung gibt einen ersten Eindruck darüber, inwieweit Deleuzes Vorstellung von Immanenz als entweder dem subjektiven Leben vorgängig oder als mit einem Leben deckungsgleich, von kontrollgesellschaftlichen Steuerungsmodellen, die – wie zu zeigen ist – über kaschierte Transzendenzen fungieren, nur schwerlich zu unterscheiden ist. Kapitel 2 Die Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft beschäftigt sich damit, aufzuzeigen, welche Entwicklungen in machttypologischer Hinsicht zu der Entwicklung besagter ontologisierter Indikatoren geführt haben. Abschnitt 2.1 stellt zunächst dar, was unter dem Begriff der Disziplinargesellschaft zu verstehen ist, bevor in Kapitel 2.2 auf den Begriff der Kontrollgesellschaft eingegangen wird. Im Anschluss an die separate Darstellung der jeweiligen Mechanismen, der die Machtformen Disziplin und Kontrolle entspringen, wird der Transformationsprozess innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft aus einer Makroebene betrachtet. Es soll herausgearbeitet werden, warum es nicht zulässig ist, von einer gänzlichen Ablösung der Disziplin durch die Kontrolle zu sprechen,

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obwohl Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, wie Deleuze konstatiert, auf den ersten Blick eine zunehmend unwahrnehmbar werdende Kontur erlangen, die nicht mehr an disziplinargesellschaftliche Einschließungsmilieus gebunden zu sein scheint. Das Feld der Kybernetik dient als Ansatzpunkt dafür, erkennen zu können, inwieweit die Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft sich durch die Verwobenheit verschiedener Strategien auszeichnet (Kapitel 2.3). Kybernetische Steuerungen basieren auf dem Prinzip der indirekten Steuerung und können demzufolge in einen direkten Zusammenhang mit Kontrollmechanismen gestellt werden. Wie zu Beginn angedeutet, basiert eine solche Steuerungsform auf dem Prinzip der Homöostase, die „für gewöhnlich in selbst organisierenden Systemen auf[tritt]“ (Dany 2008: 3). Um ein solches Gleichgewicht herzustellen, ist ein System darauf angewiesen, Abweichungen aufzufangen und diese in vorgegebenen Systemgrenzen zu halten. Wie sich zeigen wird, sind diese Systemgrenzen innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft im Gegensatz zu sich selbst organisierenden Systemen jedoch hierarchisch gestaffelt, um das Prinzip von Unabhängigkeit und Selbstverantwortlichkeit an Effektivität binden zu können. Die Homöostase ist inszeniert: „Bei der inszenierten Homöostase wird die scheinwirkliche Atmosphäre eines selbst organisierenden Organismus hergestellt, um dessen Dynamik im Rahmen fremdbestimmter Arbeit und kontrollierter Gemeinschaft abzuschöpfen“ (Dany 2008: 3). Kapitel 2.3.1 wird diese Thematik anhand des Beispiels von Qualitätsmanagement an Hochschulen verdeutlichen. Abschnitt 2.4 setzt sich hieran anschließend damit auseinander, das von Dany angesprochene Phänomen einer kontrollierten Gemeinschaft, die sich innerhalb der Atmosphäre eines sich selbst organisierenden Systems zu befinden scheint, mit Bezug auf Plessner näher zu betrachten. Hintergrund dieser Diskussion ist es, zu verdeutlichen, warum absolute Formen von Gemeinschaft, wie sie sich in kybernetischen Kontexten zeigen, immer einer Steuerung, bzw. Ausrichtung unterworfen sein müssen. Dieser Absatz dient dazu, in das abschließende dritte Kapitel Die Kraft des Unbehaglichen überzuleiten, und die zuvor besprochene Thematik der unterschiedlichen Immanenzbegriffe, die Deleuze und

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Plessner innerhalb ihrer Arbeiten benutzen, zu konkretisieren, indem diese nun direkt auf das Phänomen der ontologisierten Indikatoren bezogen werden können. Es geht zunächst darum, aufzuzeigen, inwieweit diese ontologisierten Indikatoren durch Deleuzes Begriff der Immanenz möglicherweise nicht wahrgenommen werden können. Unsichtbar-Werden ist in diesem Kontext der Gefahr ausgeliefert, sich an einer kontrollgesellschaftlich konstruierten Form der Unabhängigkeit 3 zu orientieren, der eine vermeintlich eigenverantwortlich zu gestaltende Form des Sichtbar-Werdens folgt, die jedoch an ontologisierten Indikatoren ausgerichtet ist. Wenn Deleuze davon spricht, dass „das Unwahrnehmbare zwangsläufig wahrnehmbar [wird], während die Wahrnehmung selber zugleich zwangsläufig molekular wird“ (Deleuze/Guattari 1992: 384) und darauf hindeutet, dass ein Leben, je unsichtbarer es hinsichtlich der Subjektivität ist, durch die es sichtbar wird, mehr wahrnimmt, mehr wahrnehmen kann, da es anonym verfährt, so geht diese Einschätzung mit einer immer weiter abzubauenden Sichtbarkeit einher. Im Falle des Übergangs von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ist diese Sichtbarkeit durch das Subjekt selbst jedoch erst herzustellen. Ein nicht sichtbares Leben, das die unendlichen Möglichkeiten, die dem Prozess des Subjektwerdens zur Verfügung stehen, erschöpft, indem es sie nicht annimmt, fällt möglicherweise aus den Systemgrenzen heraus, da das Erschöpfen des Möglichen hier keinen Prozess, sondern eine Verweigerung meint. Es wird zu zeigen sein, dass Deleuzes Konzept der Immanenz darauf beruht, das Mögliche zu erschöpfen, anstatt es zu verwirklichen. Diese Ausschöpfung, das Erschöpfen des Möglichen, wird, bringt man es mit Plessner in Verbindung, jedoch dann zu einer Form der Fixierung, wenn es Leben an eine Heimat bindet. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob das Erschöpfen der Möglichkeiten innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, geht es nicht

3

Holert/Terkessidis sprechen in diesem Zusammenhang von einer aussichtslosen Unabhängigkeit: „Die aussichtslose Abhängigkeit der Individuen der Disziplinargesellschaft wendet sich zu ihrer aussichtslosen Unabhängigkeit“ (Holert/Terkessidis 1996: 14).

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mit einer Verweigerung einher, an eine solche Form der Fixierung gebunden ist. Entweder an eine der konstruierten Unabhängigkeit entspringende Form totaler Sichtbarkeit, oder aber im Umkehrschluss an eine dem Unsichtbar-Sein zukommende Form absoluter, der menschlichen Positionalität widersprechenden Unsichtbarkeit. In beiden Fällen erschöpft sich mit den Möglichkeiten auch die von Plessner ermittelte Form der offenen Immanenz, die durch das Leben selbst erwirkt wird. Mit Hilfe eines Beispiels soll dieser Zusammenhang verdeutlicht werden (Kapitel 3.1.1). Es soll gezeigt werden, dass das Erschöpfen der Möglichkeiten in der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft an die Problematik der Verweigerung, der eine Ausgrenzung folgt, oder aber an die mit Plessner konkretisierte Gefahr totaler Sicht-, bzw. Unsichtbarkeit gebunden ist. Die beiden letztgenannten Punkte treffen sich mit der bereits angesprochenen Kluft im Werk Deleuzes, die darum kreist, Immanenz entweder an einen Rest an Reflexion, oder aber an reine Diesheit zu binden. Offen bleibt also, wie „ein Ende mit dem Möglichen [gemacht werden kann], um abermals zu enden“ (Deleuze 1996a: 51), anstatt etwas unendlich zu konkretisieren, das sich jedoch einer bewussten oder unbewussten Zielvorgabe gemäß bereits in einem spezifischen Möglichkeitsfeld befindet. Ich möchte herausarbeiten, dass eine Form des produktiven Unbehagens die sich einer Zielvorgabe gemäß etablierenden Möglichkeitsfelder aufbrechen kann. Aufbrechen in einem Sinne, als dass „alle Variablen einer Situation [kombiniert werden], vorausgesetzt, dass man auf Vorlieben, Zielsetzungen oder Sinngebungen jedweder Art verzichtet“ (Deleuze 1996a: 53). Da die hier angesprochenen Zielsetzungen oder Sinngebungsversuche innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft nur schwerlich umgangen werden können, Unsichtbarkeit als solche letztlich nicht hergestellt werden kann, muss ein Startschuss fallen, bevor die Variablen einer Situation sich selbst kombinieren. Zwischen den Möglichkeiten muss sich des Nicht-Wissens bedient werden, muss Unbehagen zuallererst hergestellt werden, um neue, unwahrnehmbare Kombinationen wahrnehmen zu können. „Es gibt immer eine Wahrnehmung, die feiner als die

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eure ist, eine Wahrnehmung eures Unwahrnehmbaren, eine Wahrnehmung dessen, was in eurer Schachtel ist“ (Deleuze/Guattari 1992: 390). Einen solchen Startschuss bietet Gesa Ziemers Konzept der Komplizenschaft, das im abschließenden Teil dieser Arbeit dargestellt werden soll (Kapitel 3.2.1).

1 Plessner und Deleuze: Eine Annäherung

Um die angestrebte Verbindung der beiden Theoretiker Helmuth Plessner und Gilles Deleuze auf eine solide Basis zu stellen, ist es zunächst unausweichlich, sich mit den jeweiligen subjekttheoretischen Überlegungen beider Autoren auseinanderzusetzen und deutlich zu machen, wo, aller Unterschiedlichkeiten zum Trotz, gemeinsame, für mein Vorhaben fruchtbare Tendenzen ausfindig zu machen sind. Eine erste, übergeordnete Gemeinsamkeit der beiden Denkrichtungen besteht meiner Meinung nach in ihrer jeweilig geringen Verführungskraft, durch die sie sich der Gefahr, selbst verführt zu werden, erwehren. Sowohl Plessner als auch Deleuze widersetzen sich mit Hilfe einer grenz- bzw. differenztheoretischen Bestimmung jeder Form der Fixierung, jeder Form der Suche nach einer wie auch immer gearteten substanzontologischen Erklärung des lebenden Seins. Es wird zu zeigen sein, wie diese Modelle im Einzelnen aussehen, und weiter, inwieweit die Verknüpfung des philosophisch-anthropologischen mit einem poststrukturalistischen Ansatz das Potential dieser „Nichtverführbarkeit“ in Bezug auf das subtile Einwirken neoliberaler Machtverhältnisse zu Tage zu bringen vermag. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die theoretischen Ansätze der Philosophischen Anthropologie und des Poststrukturalismus bezogen auf ihre Methoden und Denkweisen grundlegend. Während eine anthropologische Sichtweise den Menschen als ein mit spezifischen Anlagen ausgestattetes Wesen begreift, dessen Besonderheit es im Unterschied zu anderen Lebewesen und zu unbelebten Dingen aufzuzeigen gilt, verabschiedet sich der Poststrukturalismus von der Vorstel-

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lung eines vorsozialen Begriffs von Subjektivität. Damit steht das Anliegen der Philosophischen Anthropologie dem eines poststrukturalistischen Ansatzes, der das Subjekt als dezentriert denkt, oberflächlich betrachtet, zwar diametral gegenüber, allerdings wird auf einen zweiten Blick deutlich, dass eine solche als anthropologisch gegeben verstandene, typisch menschliche Position nicht bedingt, das Subjekt als determiniert zu denken. Mein Ziel ist es, aufzuzeigen, inwieweit dieses spezifische Umweltverhältnis, als Sphäre des Innen und Außen die Basis einer Verbindung zwischen Plessner und Deleuze darzustellen vermag. Diese Verbindung ist nicht stellvertretend für den Versuch anzusehen, poststrukturalistisches Denken im Allgemeinen mit einer philosophischanthropologischen Sichtweise zu verknüpfen. Vielmehr ist es die konkrete Arbeit und Denkweise beider Theoretiker, die die Grundlage dieser Zusammenfügung bildet. So werde ich im Folgenden darauf verzichten, eine übergeordnete Ableitung der subjekttheoretischen Überlegungen beider philosophiegeschichtlicher Strömungen zu erarbeiten, und anstatt dessen zentrale Thesen derselben explizit anhand und bezogen auf die Auseinandersetzung mit Plessner und/oder Deleuze einfließen lassen. Als übergeordnete Gemeinsamkeit und Basis des Vorhabens dieser Verbindung ist festzuhalten, dass sich beide Autoren von einer Tradition verabschieden, die bei Descartes ihren Ausgangspunkt nimmt und die Frage nach der Möglichkeit einer Verbindung von Denken und Sein in eine Problematik des Subjekts überführt. […] Die Verknüpfung vollzieht sich hier dadurch, dass für das Sein ein Subjekt vorausgesetzt wird, ein Träger, und dass dieses Subjekt nach seinem Sein befragt wird. Das Sein des Denkens wird als Sein des Subjekts identifiziert, und die Frage nach der Identität von Denken und Sein wird zu einer Frage nach der Position des Subjekt-Seins im Sein (Badiou 2003: 112).

Der das cartesianische Alternativprinzip darstellenden Formel Descartes „Ich denke, also bin ich. Ich erkenne daraus, dass ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Denken weder eines Ortes bedürfe noch von einem

P LESSNER UND D ELEUZE : E INE A NNÄHERUNG | 21

materiellen Dinge abhänge“(Descartes 1960: 23) stellen Plessner und Deleuze die Vorstellung einer jeweiligen Kontaktstelle zwischen den getrennten Bereichen des Innen und des Außen entgegen. Beide Ansätze operieren aus der Einsicht in einen grenz- bzw. differenztheoretisch zwischen diesen Bereichen immer wieder zu ermittelnden Charakter des Einen, des lebendigen Seins. Im Folgenden werde ich die zentralen Momente beider Konzepte anhand ihrer Schlüsselkategorien herausarbeiten. In Bezug auf Plessners Arbeiten wird hierbei der Begriff der exzentrischen Positionalität im Vordergrund stehen. Um mich des Weiteren Deleuzes Vorstellung einer singulären, sich von der Ordnung lösenden Subjektivität zu nähern, werde ich seinen Ansatz der schrittweisen Auflösung der Ontologie in Differenzphilosophie insbesondere anhand der Konzepte des organlosen Körpers, sowie des einen Lebens darstellen.

1.1 P LESSNERS B EGRIFF P OSITIONALITÄT

DER EXZENTRISCHEN

Anstatt von einer konstitutiven Innerlichkeit auszugehen, „welche sich sowohl auf sich selbst bezieht […] als auch auf die Objekte, die als zur Innerlichkeit heterogene gegeben sind“ (Badiou 2003: 113), „stellt [Plessner] durch [einen] Grenz- statt [einen] Ganzheitsbegriff die Korrelation von Etwas zum Anderen seiner Selbst ins Zentrum der Philosophie des Organischen“ (Fischer 2000: 273). Er löst die Dichotomie von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt, indem er das Subjekt als nicht nur Nicht-Objekt und das Objekt als nicht nur Nicht-Subjekt denkt. Anstatt diesen Ansatz jedoch über eine dritte, vermittelnde Größe – absolute Ideen, Gott usw. – erfolgen zu lassen, zeigt Plessner einen Bereich auf, innerhalb dessen er durch den Begriff der Grenze eine Form der Binnen-Differenzierung zwischen Innen und Außen erarbeitet. Dem Begriff der Grenze kommt insofern eine zentrale Funktion zu, als durch diesen die eigentlich inkommensurabel nebeneinander stehenden Größen Subjekt und Objekt widerspruchsfrei zusammengedacht werden können.

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Wenn er Lebendiges durch eine Grenze bestimmt, die Inneres von Äußerem abschließt und zugleich Inneres und Äußeres gegeneinander aufschließt, dann entkräftet er auf der Ebene des Lebendigen […] das cartesianische Alternativprinzip – entweder Innen oder Außen –, und führt zugleich die metaphysische Lebensphilosophie aus ihrer spekulativen Verzauberung (Fischer 2000: 273).

Plessners Kennzeichnung einer Subjektivität „als ein in der Natur vorkommendes Wesen, das unter Prinzipien steht, die nicht in der Natur vorkommen (Geist), [und] dabei mit diesen Prinzipien im Verhältnis zur Natur (Körper, Seele) steht“ (Fischer 2003: 277), widerspricht somit der Vorstellung eines autonomen Subjekts, die davon ausgeht, dass jeder „sich für sich und durch sich als Geist erkennen kann“ (Schulz 1979: 239). Reflexivität besitzt das in der Grenze selbst stehende exzentrische Wesen nur, insofern es diese spezifische InnenAußenbeziehung realisiert bzw. immer wieder aktualisiert. Es ist nicht so, dass Reflexivität immer schon da wäre, und nun Stellung zu Positionsfeld und Innenleben beziehen würde. Exzentrische Positionalität meint nicht nur Distanznahme, sondern ist in vollem Sinne zu verstehen: in die Distanz gestellt, in den Abstand verrückt, der Widerfahrnis geöffnet, ohne von der Position eines Lebewesens befreit zu sein (Fischer 1995: 255).

Bei der Entwicklung des hier angedeuteten Konzepts der „exzentrischen Positionalität“ geht Plessner von dem Begriff des Doppelaspekts aus, welchen er im Gegensatz zu einer dualistisch, durch die Unterscheidung von „res cogitans“ und „res extensa“ über eine fundamentalisierte Grenzziehung konzipierten Vorstellung, als Eigenschaft des organischen Körpers begreift. Während anorganische Körper da aufhören, wo etwas anderes anfängt, ein Stein beispielsweise einen Rand hat, der ihn in eindeutiger Art und Weise von dem trennt, was ihm nicht mehr zugehörig ist, erkennt Plessner für organische Körper eine Grenze, die Inneres von Äußerem abzuschließen und zugleich auch Inneres und Äußeres gegeneinander aufzuschließen vermag. Im Vergleich zu dem Rand des anorganischen Körpers bedingt die Grenze des organischen Körpers den Doppelaspekt von Innen und Außen als Eigenschaft desselben: „Organische Körper haben eine

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Grenze wie eine Faltung des Seins. Seine Grenzen schließen ihn nicht nur ein, sie ermöglichen Modi des Über ihn hinaus und ihm entgegen“ (Eßbach 1994: 17). Als Konsequenz dessen führt Plessner mit „Positionalität“ einen weiteren Begriff ein, der dem lebendigen, organischen Körper durch die Sphäre, in der er über das einfache Innen und Außen hinaus ist, gegeben ist. Positionalität meint nicht eine konkret räumliche Position, sondern vielmehr den Vorgang der Grenzrealisierung als Moment der Bezogenheit von Innen und Außen: In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität. Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht. Wie geschildert, bestimmen die Momente des über ihm Hinaus und das ihm Entgegen, in ihn Hinein ein spezifisches Sein des belebten Körpers, das im Grenzdurchgang aufgehoben und dadurch setzbar wird (Plessner 1981: 184).

Durch die spezifische Bezogenheit von Innen und Außen unterscheiden sich die lebendigen von den unbelebten als raumbehauptende von den nur raumerfüllenden Körpern. Jedes raumerfüllende Gebilde ist an einer Stelle. Ein raumbehauptendes Gebilde dagegen ist dadurch, dass es über ihm hinaus (in ihm hinein) ist, zur Stelle seines Seins in Beziehung (Plessner 1981: 186f).

Plessners hier entwickeltes Konzept widersetzt sich in komplexer Art und Weise dem cartesianischen Prinzip. Das zentrale Element innerhalb dieser Abgrenzung ist das Phänomen der Lebendigkeit, das Phänomen „Leben“, auf dessen Entstehungsumfeld sich das Augenmerk im weiteren Verlauf richten soll. Die Bedeutung dieses Phänomens erschließt sich insbesondere im Zusammenhang einer Gegenüberstellung der Plessnerschen Anthropologie mit den phänomenologisch und fundamentalontologisch fundierten Konzepten seiner Zeit.

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1.1.1 Plessner – Husserl – Heidegger Plessner geht es nicht darum, das Prinzip des Doppelaspekts zu überwinden, sondern vielmehr die im cartesianischen Sinne erfolgte Fundamentalisierung desselben aufzubrechen. „Nicht auf die Überwindung des Doppelaspekts als eines (unwidersprechlichen) Phänomens, sondern auf die Beseitigung seiner Fundamentalisierung, seines Einflusses auf die Fragestellung ist es im folgenden abgesehen“ (Plessner 1981: 115). Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den phänomenologischen Arbeiten Husserls sowie des fundamentalontologischen Ansatzes Heideggers wird deutlich, inwieweit Plessners Vorhaben sich mit Hilfe eines Perspektivwechsels den Strömungen seiner Zeit widersetzt und es vermeidet, sich der Gefahr auszusetzen, den cartesianischen Dualismus letztlich zu bestärken, bzw. in letzter Instanz immer wieder von ihm eingeholt zu werden. Um die weitere Auseinandersetzung und Entwicklung der Kategorie „exzentrische Positionalität“ in die Zeit ihres Entstehens einbinden zu können, ist es unumgänglich, die Gemeinsamkeiten, aber vor allem auch Unterschiede darzustellen, die Plessner zwischen den von ihm markierten Bereichen und denjenigen philosophiegeschichtlichen Strömungen aufzuzeigen sucht, die auf die von Husserl und Heidegger entwickelten Konzepte zurückzuführen sind. Zur Phänomenologie Edmund Husserls Plessners Diskussion der Husserlschen Phänomenologie zieht sich durch viele seiner Schriften. Sein Aufsatz Phänomenologie. Das Werk Edmund Husserls aus dem Jahre 1938 wird bei der Darstellung dieser Auseinandersetzung im Vordergrund stehen, da dieser die grundlegenden Probleme, die Plessner innerhalb der Konzeption Husserls erkennt, prägnant zusammenfasst. Bevor es darum gehen wird, die Differenzen zwischen beiden Theoretikern zu benennen, ist zu bemerken, dass Husserls Konzept sich, zumindest was seinen Ausgangspunkt angeht, ebenfalls von einer dualistischen Vorstellung cartesianischer Prägung absetzt.

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In Differenz zu allen bisherigen Ansätzen wird hier [in der Phänomenologie Husserls] nicht damit angesetzt, dass das Bewusstsein sich über die Produktion des Anderen seiner Selbst vergewissert, sondern davon ausgegangen, dass das Andere seiner Selbst dem Bewusstsein in seinem Intentionalitätsstrahl als Phänomen von ihm selbst her gegeben ist (Fischer 2000: 285).

Das Bewusstsein im Sinne Husserls ist also immer Bewusstsein von etwas, die Welt wird als Korrelat des Bewusstseins verstanden. Das Sein der Wirklichkeit ist demnach nur insofern, als es auf ein erfahrendes Bewusstsein bezogen ist, welches sich jedoch in und durch seine Bezogenheit auf die Realität jeglicher dogmatischen Vorbestimmtheit entledigt hat. Husserl möchte mit seiner Phänomenologie einen direkten Weg zur Realität aufzeigen, indem er eine Methode der Wesensschau entwickelt, die das, was erscheint, von den Vorurteilen cartesianischer Prägungen befreit. Sein zentrales Anliegen ist es, die Konstitution von Bewußtseinsgegenständlichkeiten (Phänomenen) aufzuklären, um so mit der Vorherrschaft eines selbstbewussten Reflexionsbewußtseins zu brechen, das sich nur darum bekümmert zu fragen, ob seinen Vorstellungen reales Sein entspricht (Meyer–Drawe 1987: 88).

Das von allen Setzungen entlastete Bewusstsein wird bei Husserl zu einem Gerichtetsein auf das, was gegeben ist, auf eine Welt als Korrelat zu Bewusstseinszuständen, bei denen das Bewusstsein ein Bezugspunkt seiner Intentionalität ist. Husserl geht also im Gegensatz zu einer cartesianischen Vorstellung von dem Gegebenen als nicht Produziertem, von einer objektiv an sich seienden Realität aus und versucht, durch die Einsicht in die intentionale Verfasstheit des Bewusstseins die Doppelung von „res extensa“ und „res cogitans“ zu überwinden. Ein cartesianisches, auf die Konzeptionen der Vernunft, des Geistes sowie des Denkens aufgebautes Erkenntnismodell geht Husserls Ansicht nach insofern zu weit, als dass es „von einer Problematik ausgeht, welche die natürliche, ursprüngliche Sachgebundenheit der Ausdrucksbedeutungen verkennt, bzw. interpretiert, ohne sie selber in aller Ruhe angesehen zu haben“ (Plessner 1985: 137). Die phänomenologische Erkenntnistheorie widersetzt sich diesen Konzeptionen, indem sie die Intuition zur Grundlage aller Erkenntnisfunktionen macht.

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Diese Intuition ist nicht eine verborgene, nur wenigen Begnadeten vorbehaltene oder irgendwie steigerungsfähige Gabe, die neben sonstigen profanen Erkenntnisfähigkeiten wie Empfinden, Wahrnehmen, Begriffe, Urteile und Schlüsse bilden existiert und sie vervollkommnet. Sie ist umgekehrt die Führung aller Erkenntnisfunktionen bis zur untersten Grenze eines sinnlich gesättigten Empfindens, an dem die Wesensschau ihren Halt, ihre Fundierung hat (Plessner 1985: 138).

Die Intuition, das unmittelbare Erkennen der durch die Intentionalität des Bewusstseins als real wahrgenommenen Welt, klammert die zu jedem Zeitpunkt durch Interventionen, Ablenkungen oder vorgefasste Urteile zahlreich existierenden Erfahrungsmöglichkeiten innerhalb derselben insofern ein, als dass sie eine sich zeigende Sache als solche originär erfahrbar werden lässt. Husserl selbst stellt eine solche Abfolge in den Cartesianischen Meditationen folgendermaßen dar: „Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist“ (Husserl 1950: 40). Dem intuitiv zum Ausdruck gebrachten Wesen der Sache wird laut Husserl eine Sinnhaftigkeit beigelegt, die der Distanz cartesianischer Vorstellungen, die die Welt als Produkt der Vernunft auffassen, widerspricht, da diese in der gleichzeitigen, korrelativen Wahrnehmung eines Bewusstseinsakts in der Welt erfahren wird. Husserl selbst begreift das von ihm herausgearbeitete Scheitern der cartesianischen Tradition jedoch nicht als darin begründet, dass diese sich in eine falsche Richtung bewegt habe, sondern vielmehr darin, dass sie auf halbem Wege stehen blieb, weil es ihr nicht gelungen sei, ohne eine Vermittlung von Bewusstsein und Welt auszukommen (vgl. Meyer-Drawe 1987: 89). Er äußert sich hierzu folgendermaßen: Der tiefe Sinn der neuzeitlichen Philosophie ist der, dass ihr innerlich die Aufgabe zugewachsen ist, deren Triebkraft […] sie immerfort in Bewegung setzt: nämlich, den radikalen Subjektivismus der skeptischen Tradition in einem höheren Sinn wahrzumachen. M.a.W., ihre Entwicklung geht dahin, den paradoxen, spielerischen, frivolen Subjektivismus, der die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wissenschaft leugnet, durch einen neuartigen, ernsten Subjektivismus zu überwinden, kurz gesagt, durch den transzendentalen Subjektivismus (Husserl 1956: 61).

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An diesem Punkt setzt Plessners Kritik an Husserls Phänomenologie an. Den hier von Husserl angesprochenen höheren Sinn, die „Aufklärung einer letztkonstituierenden Subjektivität“ (Meyer-Drawe 1987: 89) erkennt Plessner als Ausweg aus einer Problematik, in die sich die Phänomenologie Husserls manövriert habe. Diese Problematik äußert sich Plessner zufolge in der Gefahr, mit und anhand der phänomenologischen Methode in eine Form der Beliebigkeit abzugleiten, der sich Husserl durch die zentrale Stellung des Subjekts als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis zu erwehren sucht. Anstatt der bloßen, unverbindlichen Beschreibung des ursprünglich Erfahrenen erkennt Plessner ein Rechtfertigungsprinzip, das darin besteht, einen Anspruch zu erheben: „Was so aussieht wie ein Michelangelo oder ein Germane, das hat nicht nur irgendwie etwas davon, das ist irgendwie von diesem Wesen“ (Plessner 1985: 142). Ähnlich zeigt sich dieser Anspruch in der Wertung der einer phänomenologischen Beschreibung unterzogenen Gegenstände. Plessner beschreibt diesen Punkt anhand des Beispiels über die jeweilige Bedeutung einer Phänomenologie des Todes sowie der eines Perserteppichs. Zwar gibt es eine Intuition, die besagt, dass die Phänomenologie des Todes einen höheren Wert, eine höhere Bedeutung besitzt als die des Perserteppichs, die Begründung einer intuitiven Höherbewertung des Einen kann, so Plessner, durch die phänomenologische Methode jedoch nicht geleistet werden; ihr zufolge stehen zunächst beide Beschreibungen prinzipiell gleichwertig nebeneinander. Der Anspruch, eine Rangordnung verschiedener, phänomenologisch betrachteter Gegenständlichkeiten herstellen zu können, um der Gefahr der Beliebigkeit bloßer Beschreibung zu entgehen, hat als Konsequenz jedoch, „die Wesensschau als ein Instrument zu bezeichnen, über dessen Handhabung nicht die Sache allein entscheidet“ (Plessner 1985: 146). Ohne ein Prinzip der Rangordnung – und woher kommt das, wenn nicht aus dem Glauben, der Metaphysik oder heutzutage aus der Politik – ist die Erfahrung amorph und ein Spielfeld der Beliebigkeiten. Gegen Husserls […] Vertrauen in eine natürliche Rangordnung ursprünglicher Bewusstseins- oder Daseinsorientierung bleibt es dabei, dass dieses Vertrauen zwar den Vorwand für die Abdankung der Philosophie zugunsten der Phänomenologie abgibt, aber nur um den Preis ihrer, der Phänomenologie, Bindung wieder an eine Philoso-

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phie der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, an einen Positivismus höherer Ordnung (Plessner 1985: 146).

Plessners Vorwurf an die Phänomenologie Husserls richtet sich, wie das letztgenannte Zitat deutlich belegt, gegen den im Umkehrschluss potenziert wiederhergestellten cartesianischen Ansatz letztbegründender Subjektivität. Trotz der Aufhebung der cartesianischen Doppelung der Welt in eine „res extensa“ und eine „res cogitans“ und der Annahme einer objektiv an sich seienden Realität erkennt Plessner den Sündenfall der Phänomenologie in einem Rechtfertigungsprinzip begründet, dass den Ansatz der bloßen Beschreibung vom Objekt weg in das Subjekt als Bedingung der Möglichkeit von Intentionalität überführt:4 Aus dem methodischen Prinzip der unbedingten Achtung vor dem Aktsinn, der ursprünglichen Meinung des Erlebens […] wird ein Rechtfertigungsprinzip. […] Indem der Phänomenologe zur exemplarischen Wesensbetrachtung übergeht, reduziert er also sein eigenes Bewusstsein auf die dafür notwendigen Bedingungen; er reinigt es von den Belastungen, Einengungen und Störungen des wirklichen Ablaufs, er wird zum Auge reiner Betrachtung. Er entschränkt seinen Horizont und gewinnt die Freiheit des Feldes, das nicht mehr personengebunden ist, nicht mehr von Individualität und Lebensgeschichte abhängt, sondern nur noch der Subjektivität als solcher zugehört (Plessner 1985: 141ff).

4

Ein diesen Sachverhalt sehr deutlich zu Tage treten lassendes Zitat findet sich in den Cartesianischen Meditationen: „Durch die phänomenologische  reduziere ich mein natürliches Ich und mein Seelenleben – das Reich meiner psychologischen Selbsterfahrung – auf mein transzendentalphänomenologisches Ich, das Reich der transzendental-phänomenologischen Selbsterfahrung. Die objektive Welt, die für mich ist, die für mich je war und sein wird, je sein kann mit all ihren Objekten, […] schöpft ihren ganzen Sinn und ihre Seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst, aus mir als dem transzendentalen Ich, dem erst mit der transzendental-phänomenologischen  hervortretenden“ (Husserl 1950: 65).

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Bevor auf den konkreten Gegenentwurf Plessners eingegangen werden soll, der sich, dies vorweg, der Korrelation von Welt und Bewusstsein im Sinne Husserls dahingehend widersetzt, als der Ort derselben hinterfragt werden wird, soll anhand von Martin Heideggers fundamentalontologischen Überlegungen weiterhin verdeutlicht werden, wie sich die Notwendigkeit des Konzepts der exzentrischen Positionalität aus seinem philosophiegeschichtlichen Umfeld heraus präzisieren lässt. Zur Fundamentalontologie Martin Heideggers Im Gegensatz zu Husserl, dessen Ziel es war, das phänomenologische Sehen im Blick auf die Bewusstseinsakte einzuüben und der gefordert hatte, dass alles, was sich dem Menschen in der Intuition orginär darbietet, hinzunehmen sei als was es sich gibt, spürt Heidegger auf, dass ursprünglicher als das konstituierende Bewusstsein und seine Gegenständlichkeit das Sein des Seienden ist. Für ihn erschließt erst die Seinsfrage die fundamentale Dimension, auch für das Wesen des Menschen. Im Gegensatz zu der das Seiende mit dem Sein über Subjekt-Objekt Verhältnisse in Verbindung setzenden Metaphysik, erkennt Heidegger, dass der Mensch außerstande ist, einfach zu sagen, was ist. Vielmehr setzt die Seinsfrage eine Interpretation des Daseins, des Wesens des Menschen voraus. „Seiendes ist unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Erfassen, wodurch es erschlossen, entdeckt und bestimmt wird. Sein aber ist nur im Verstehen des Seienden, zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis gehört“ (Heidegger 1957: 183). Der Existenz des Daseins, dem Sein des Menschen, kommt es alleine zu, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen. Ein so geartetes Vorverständnis im Sinne eines das Sein betreffenden vorgegebenen Verständnishorizontes, dem Seinsverständnis, bildet das ontische Fundament der Ontologie, weshalb Heidegger seine Untersuchungen über das Dasein als Fundamentalontologie bezeichnet. Die auf dem Bedenken des Seins basierende Fundamentalontologie findet ihren Grundgedanken darin, dass das Sein den Menschen braucht, umgekehrt jedoch der Mensch nur Mensch ist, insofern er in der Offenbarkeit des Seins steht. Das Dasein muss Heidegger zufolge zunächst interpretiert werden, damit sich das Sein auf die Art und Weise zeigt, in welcher es zum Dasein gehört. Die so gewonnene Perspektive bietet des Weiteren

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die Basis dafür, das Sein in seiner das Dasein bestimmenden Funktion deuten zu können. Um die Überwindung der Subjekt-Objekt Trennung antreten zu können, bezieht sich Heidegger auf den Begriff des In-der-Welt-seins. Im Gegensatz zu der bei Husserl vorgefundenen Entschränkung des Horizontes hin zu einem absoluten, nur noch der Subjektivität zugehörigen Wissen (vgl. Plessner 1985: 141ff) beschränkt das In-der-Weltsein das Erkennen des Sinns von Sein auf ein dem jeweiligen Dasein entsprechendes Niveau. Die Welt steht dem Dasein somit nicht gegenüber, sondern gehört zu ihm: Das Haben des Selbst, auf das es im Leben ankommt, ist nicht das Haben eines isolierten Subjekts und gewiss nicht das Haben des Ichs als eines Objekts, sondern der Prozeß des Gewinnens und Verlierens einer gewissen Vertrautheit des Lebens mit sich selbst, wobei das Leben ein Leben-in-der-Welt ist. Das Leben lebt in die Welt hinein; es ist nicht das Ich, von dem her erst noch die Brücke zu den Dingen geschlagen werden müsste, sondern immer schon Leben in der Welt (Pöggeler/Hogemann 1982: 53).

Während die Wissenschaften, letztendlich auch die Phänomenologie Husserls dazu beitragen, die Eigenständigkeit der Dinge zu überwinden, um sie der Verfügung des Subjekts auszuliefern, sie zu Gegenständen werden lassen, betont Heidegger, dass der dem Dasein gemäße Umgang mit den Dingen sich an ihnen auszurichten habe; die Dinge bilden in ihrem Ganzen einen bestimmten Spielraum des besorgenden, des praktischen Umgangs mit der Welt, der sich nicht, wie noch bei Husserl, auf das erkennende Anschauen beschränkt. Der im heideggerschen Sinne verstandene Begriff der Sorge bezieht sich auf den praktischen Umgang mit den Dingen, dem das Dasein im Unterschied zum bloßen Erkennen derselben ausgeliefert ist. Im Gegensatz zu dem sorglosen, distanzierten, theoretisch hinsehenden Blick metaphysischer Ausrichtungen, die den Dingen kein eigenes Sein zusprechen, sie zu Objekten machen, bilden die Dinge Heidegger zufolge ein funktionales Ganzes, das sich im besorgenden Umgang mit denselben zu erkennen gibt. Die Dinge zeigen sich demzufolge nicht nur als Gegebene, Vorhandene, sondern auch als Zuhandene, dem Dasein dienliche, eine Vertraulichkeit in ihm herstellende, als Zeug. Heidegger be-

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schreibt diesen Umstand anhand eines Gemäldes von Vincent van Gogh, welches in seinen Augen die Schuhe einer Bäuerin zeigt, folgendermaßen: Die Bäuerin auf dem Acker trägt die Schuhe. Hier erst sind sie, was sie sind. Sie sind dies um so echter, je weniger die Bäuerin bei der Arbeit an die Schuhe denkt oder sie gar anschaut oder auch nur spürt. Sie steht und geht in ihnen. So dienen die Schuhe wirklich. […] Durch dieses Zeug [die Schuhe] zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not […] und das Zittern in der Umdrohung des Todes. […] Die Bäuerin trägt einfach die Schuhe. Wenn dieses einfache Tragen so einfach wäre. So oft die Bäuerin am späten Abend in einer harten, aber gesunden Müdigkeit die Schuhe wegstellt und im noch dunklen Morgendämmern schon wieder nach ihnen greift, oder am Feiertag an ihnen vorbeikommt, dann weiß sie […] all jenes. Das Zeugsein des Zeuges besteht zwar in seiner Dienlichkeit. Aber diese selbst ruht in der Fülle eines wesentlichen Seins des Zeuges. Wir nennen es Verlässlichkeit. Kraft ihrer ist die Bäuerin durch dieses Zeug eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde, kraft der Verlässlichkeit des Zeuges ist sie ihrer Welt gewiß (Heidegger 2005: 26-28).

Das Gewahrwerden ihrer Welt, das sich hier als ein vereinzeltes zeigende Dasein der Bäuerin, lässt sich in einen die Zeitlichkeit des Daseins beschreibenden Kontext überführen. Im Gegensatz zu einem metaphysischen Bedenken des Seienden als Seienden schärft das Bedenken des Seins den Blick dafür, dass der Mensch über das Seiende hinausgehen und erst über ein Jenseits des Seienden her in die Lage kommt, das Seiende im Ganzen zu erfassen. Dieses Hinausgehen bedeutet einen Gang ins Nichts, den der Mensch von sich aus nicht herbeiführen kann, sondern der sich Heidegger zufolge in der Angst vollzieht. Als Stellvertreter dieses Nichts erfährt das Dasein, das Sein des Menschen seine Endlichkeit, die es vor die Aufgabe stellt, Natur und Geschichte stets neu zu erschließen. Was die Wissenschaft wägend und messend als seiend feststellt, ebenso wie das über alle Menschlichkeit hin auslegende Ewige muss sich von der zentralen Seinsgewissheit der menschlichen Zeitlichkeit her verstehen. […] Sein ist nicht nur reine Anwesenheit und gegenwärtige Vorhandenheit. Im eigentlichen

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Sinne ist das endlich-geschichtliche Dasein. In seinem Weltentwurf hat sodann das Zuhandene seine Stelle – und erst zuletzt das Nur-Vorhandene (Gadamer 2005: 96/97).

Erst im Bewusstsein seiner Endlichkeit, im Angesicht des Todes kann das Dasein zum Dasein einer Person, einer Existenz werden, die in einer ihr gewissen Welt aus verschiedenen, sowohl Zukunft als auch Vergangenheit berücksichtigenden Möglichkeiten zu wählen im Stande ist. Heidegger unterscheidet zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen Existenz. Während eine uneigentliche Existenz im Rahmen vorgegebener Möglichkeiten lebt, und somit nicht in der Lage ist, das Seiende in seiner Ganzheit zu erfassen, wird die eigentliche Existenz durch die Einsicht in die eigene Endlichkeit ins Leben gerufen, sie „ist“, indem sie den Handlungsspielraum, der ihr durch den eigenen Tod gegeben ist, abzustecken vermag. Heidegger geht wie bereits erwähnt von einem vorgegebenen Verständnishorizont aus, in den das Dasein geworfen wird. Diese Geworfenheit des Daseins ist seiner Meinung nach „nicht nur nicht eine fertige Tatsache, sondern auch nicht ein abgeschlossenes Faktum. Zu dessen Faktizität gehört, dass das Dasein, solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird“ (Heidegger 1957: 179). Die Uneigentlichkeit des „Man“,5 das vom Andrang des Selbstverständlichen entfremdete, gewohnt Gewöhnliche stellt sich einem Fragen nach dem was ist entgegen. In der ihm eigenen Unauffälligkeit „entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur“ (Heidegger 1957: 126), die darin besteht, das eigentliche Seinkönnen der Existenz, das sich über die Einsicht in die Endlichkeit des Lebens formende Selbst-seinkönnen nicht zustande kommen zu lassen, sondern vielmehr Rahmen

5

Heidegger verdeutlicht, was er unter der Uneigentlichkeit des „Man“ versteht, sehr anschaulich in folgendem Abschnitt aus Sein und Zeit: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom großen Haufen zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“ (Heidegger 1957: 126/127).

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selbstverständlicher Verhaltens- und Denkmuster, die die Angst vor dem Tod beruhigen, bereitzustellen. Das Man setzt sich aber zugleich mit dieser das Dasein von seinem Tod abdrängenden Beruhigung in Recht und Ansehen durch die stillschweigende Regelung der Art, wie man sich überhaupt zum Tode zu verhalten hat. Schon das Denken an den Tod gilt öffentlich als feige Furcht, Unsicherheit des Daseins und finstere Weltflucht. Das Man lässt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen. Die Herrschaft der öffentlichen Angelegenheit des Man hat auch schon über die Befindlichkeit entschieden, aus der sich die Stellung zum Tode bestimmen soll. In der Angst vor dem Tode wird das Dasein vor es selbst gebracht als überantwortet der unüberholbaren Möglichkeit. Das Man besorgt die Umkehrung dieser Angst in eine Furcht vor einem ankommenden Ereignis. Die als Furcht zweideutig gemachte Angst wird überdies als Schwäche ausgegeben, die ein selbstsicheres Dasein nicht kennen darf. Was sich gemäß dem lautlosen Dekret des Man gehört, ist die gleichgültige Ruhe gegenüber der Tatsache, dass man stirbt. Die Ausbildung einer solchen überlegenen Gleichgültigkeit entfremdet das Dasein seinem eigensten, unbezüglichen Seinkönnen (Heidegger 1957: 254).

Der Verzicht auf die Ablenkung durch das „Man“, die dafür sorgt, dass das faktisch existierende Dasein anstatt das, was ist, sein zu lassen, durch die Selbstverständlichkeiten und Rahmen lebt, die der Verständnishorizont, in welches es geworfen ist, bereithält, ermöglicht laut Heidegger also ein aus sich selbst heraus sich immer wieder formendes unbezügliches Seinkönnen. Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für […] die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet ist (Heidegger 1957: 188).

Nicolai Hartmann, der sich im Umkreis der philosophischen Tätigkeit Heideggers und Plessners befand, bemerkt in seinem Buch Das Problem des geistigen Seins, in dem er sich konkret mit den Konzepten beider Denker auseinandersetzt, dass Heideggers Idee einer sich gegen

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das öffentliche „Man“ privat vollziehenden Eigentlichkeit sich als solche dem Problem entzöge, „dass es kein adäquates Bewusstsein des objektiven Geistes gibt“ (Hartmann 1949: 372). Das gerade ist das Grundverhältnis zwischen Gemeingeist und Individuum, dass das Individuum aus dem lebendigen Gemeingeist auf keine Weise heraustreten kann. Es kann wohl in Einzelheiten gegen ihn angehen, kann also auch sich gegen seine Verfälschung richten. Aber das bedeutet nicht, dass es im Ganzen seinen privaten, einsamen Weg einschlagen könnte, der es auf eine ganz andere geistige Basis stellte. […] Wenn es auf die Angst ankommt, wie es vor Gott oder den echten Anforderungen der Moral bestehen könne, so ist das, was es sucht, zwar ihm nur als seine Privatsache bewusst; der Sache nach aber und dem Wesen nach ist es zugleich etwas, was jeden anderen für ihn selbst ebenso angeht. Es ist also ein Gemeinsames (Hartmann 1949: 373).

In diesem Zitat Hartmanns deutet sich an, worin auch Plessners Kritik an Heideggers Ansatz besteht. Zwar ist beiden der Versuch gemein, eine Charakterisierung des Menschen als Phänomen abseits idealistischer Vorstellungen vorzunehmen, doch sieht Plessner Heideggers Vorgehensweise dahingehend gescheitert, als diese erneut einen Weg nach innen antritt. Die eigentliche Annahme der Geworfenheit des Daseins wird, indem Heidegger das Erkennen der eigenen Endlichkeit von innen heraus, als privative Erfahrung wahrnimmt, insofern negiert, als die gerade durch das Geworfensein notwendigerweise zu klärenden Voraussetzungen für eine so geartete Innenperspektive ausgeklammert werden. Die kopernikanische Wendung Kants zum Bewusstsein als dem Horizont, unter welchem Gegenstände sich konstituieren, von Husserl für den Gesamtbereich möglicher Intentionalität erneuert, wurde mit der These vom methodischen Primat der Existenz erneut bekräftigt. Existenz bringt eine Möglichkeit des Menschen zum Ausdruck: die Möglichkeit sich ernst zu nehmen. […] Nach Heidegger entspricht diese Möglichkeit der Endlichkeit, seiner Endlichkeit. Dass er ihrer gewahr werden muss, ist schon merkwürdig genug, und die Frage stellt sich, auf welchem Wege. Heidegger beschreibt ihn als einen solchen, auf dem Stimmung, Sorge, Angst Stadien des Gewahrwerdens bezeichnen. Hat aber diese Einführung nur einen methodischen Sinn, oder soll sie die

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Verklammerung der Existenz mit etwas anderem zeigen, von dem sie sich abhebt, auf das sie aber angewiesen bleibt? Was ist impliziert um z.B. gestimmt sein oder Angst haben zu können? Doch wohl ein Lebendiges, von dem die Analyse der Existenz aber nur insoweit Notiz nimmt, als jene Modi seiner im Schatten bleibenden Lebendigkeit endlichkeitsaufschließende Bedeutung gewinnen (Plessner 1981: S. 21).

Die hier von Plessner angesprochene Lebendigkeit wird im Folgenden im Fokus der Betrachtung stehen. Sie fungiert als zentraler Ansatzpunkt in Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität, und bietet die Möglichkeit dazu, die Voraussetzungen für eine in der Leiblichkeit des Menschen anzusiedelnde privative Erfahrung, wie Heidegger sie als eine die eigene Existenz aufdeckende Kategorie herausgearbeitet hat, zu schaffen. Allerdings widersprechen sich beide Ansätze durch ihre unterschiedlichen Herangehensweisen grundsätzlich; Plessners Vorstellung einer von der Lebendigkeit her entwickelten Möglichkeit einer Existenz verschließt sich dem Gedanken der Eigentlichkeit, der sich zweifellos in das Innere des Menschen zurückzieht und sich des cartesianischen Alternativprinzips in letzter Konsequenz nicht erwehren kann. 1.1.2 Zum Begriff der Lebendigkeit Die zentrale Rolle, die der Begriff der Lebendigkeit in Plessners Arbeit annimmt, erschließt sich aus seinem Versuch, die Vorrangstellung des Subjekts zu überwinden; ein Versuch, der seiner Meinung nach in den Ansätzen Husserls und Heideggers gescheitert ist. Im Gegensatz zu den phänomenologischen Arbeiten beider Theoretiker schlägt Plessner den Weg der philosophischen Anthropologie ein, der sich der Frage nach dem Wesen des Menschen von einer Perspektive aus zu nähern sucht, in welcher sich der Mensch dadurch auszeichnet, sich weder der Nächste noch der Fernste zu sein (vgl. Plessner 1981: 12). Sowohl auf Husserl, als auch auf Heidegger bezogen grenzt Plessner eine in seinem Sinne verstandene Anthropologie von Formen des Subjektivismus ab, welche auf der Idee fußen, „wonach der philosophisch Fragende sich selbst existenziell der Nächste und darum der sich im

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Blick auf das Erfragte Liegende ist“ (Plessner 1981: 12). Folgende Aussage trifft den Kern dieser grundlegenden Abgrenzung: Aus dem Umstande, dass ein Ding, ein Gegenstand der Erfahrung, ein Vorkommen unter anderen Dingen, ein Vorhandensein schon angewiesen ist auf eine Subjektivität oder zum mindesten auf ein lebendiges Verhalten, dem allererst sich so etwas wie Dinglichkeit und Vorhandenheit konstituieren können, kann für den Problemansatz der Anthropologie nichts gefolgert werden (Plessner 1981a: 162).

Plessners anthropologisch verfasstes Ziel, einen Begriff des Menschen gewinnen zu können, der die spezifische Eigenheit und Rolle des Menschen im Bereich der realen Welt und seine Beziehung zur Realität zur Geltung bringt, basiert in der Einsicht, dass ein solcher Begriff als logische Folge von Annahmen, die über die Welt getroffen werden, zu verstehen ist. In diesem Sinne setzt Plessner an einem Phänomen an, das durch die cartesianische Alternative von Geist oder körperlichem Ding nicht verstanden werden kann, am Leben (vgl. Fischer 2000: 270). Diesen Ansatz stellt er sowohl Heideggers Ontologie als auch Husserls Konzept der Intentionalität entgegen, welchen er vorwirft, aus einer selbstbezüglichen Erfahrungsstellung heraus zu agieren: Existieren kann nur, wer lebt, auf welchem Niveau immer. Sich dagegen zu sperren und Leben auf einer seiner Möglichkeiten, nämlich existieren zu fundieren, heißt den Einsatz der Frage des Menschen nach sich selber um dieser Selbstbezüglichkeit willen als die einzige legitime Direktive für eine Anthropologie in philosophischer Absicht gelten zu lassen. Man kann aber auch bei den Wesenskriterien der Lebendigkeit einsetzen und nicht wie Heidegger die Frage vom Frager her, sondern im Gesichtskreis des Lebens, gewissermaßen von unten her aufrollen (Plessner 1983: 388/389).

Die Frage, die sich dann stellt, lautet: „Was macht es einem körperlichen Leib möglich, eine Existenz vorhanden sein zu lassen“ (Plessner 1983: 389). Oder, um die zu klärende Frage in den Bezug zur Husserlschen Intentionalität des Bewusstsein zu setzen, geht es nicht darum, zu fragen, „wie ein Bewusstsein beschaffen sein muss, damit ihm eine

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Welt erscheint, sondern danach, wie etwas erscheinen muss, damit es als mit Bewusstsein begabt erscheint“ (Lindemann 2006: 48). Die dargestellte Erweiterung der Fragestellung bezeichnet Plessners Versuch, den Menschen aus einer Erfahrungsstellung zu denken und zugleich die Doppelung seiner Beschreibung zu erklären (vgl. Fischer 2000: 270). Damit ist gemeint, der zuvor angesprochenen Binnen-Differenzierung zwischen Innen und Außen insofern gerecht zu werden, als dass die letztlich auch bei Husserl und Heidegger inkommensurabel nebeneinander stehenden Größen Subjekt und Objekt über die Annahme einer Gleichzeitigkeit der Perspektiven widerspruchsfrei zusammen gedacht werden können. Der Mensch befindet sich in der Rolle, gleichzeitig Teil der Welt, Teil seines Umfeldes, als auch Beobachter desselben zu sein. Zu zeigen sein wird, inwieweit die innere Dynamik, die dieser Gleichzeitigkeit entspringt, dafür sorgt, einen Begriff des Menschen zu erarbeiten, der sich eben dadurch, das Leben als permanenten Grenzübergang zu denken, den Konzepten von Entfremdung und uneigentlichem Dasein entzieht. Es wurde bereits bemerkt, dass Plessner, anstatt der Aufteilung von Lebewesen nach Körperlichkeit und Geistigkeit, von der allen Lebewesen gemeinsamen Positionalität ausgeht. Die Positionalität der lebendigen Körper, die diese von anorganischen Körpern, wie das Beispiel des Steins zeigte, unterscheidet, erschließt sich dadurch, dass organische Körper von ihrem Umfeld nicht nur durch eine äußere Grenze getrennt sind, sondern diese Grenze selber darstellen, selber sind. Innerhalb der Bestimmung von Lebendigkeit als Grenzrealisierung unterscheidet Plessner dem Titel seines Hauptwerkes entsprechend verschiedene „Stufen des Organischen“, um schließlich einen Begriff des Menschen erarbeiten zu können, der die Voraussetzungen dafür in sich trägt, „Leiblichkeit als privative Erfahrung des Menschen“ (Fischer 2000: 286) aufzufassen. Eine erste dieser systematisch aufgebauten Stufen nennt Plessner die „offene Organisationsform der Pflanze“, die in seinen Betrachtungen der „geschlossenen Organisationsform des Tieres“ vorausgeht.

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1.1.3 Die Positionalität von Pflanze und Tier Plessner bestimmt die offene Organisationsform lebendiger Körper als „diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht“ (Plessner 1981: 284). Im Gegensatz hierzu stellt sich die geschlossene Form des Tieres folgendermaßen dar: „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht“ (Plessner 1981: 291). Die Frage, die die verschiedene Anordnung organischer Körper hinsichtlich ihrer Organisationsform erklärt, ist diejenige nach der Art und Weise der jeweiligen Stabilisierung, mit Hilfe derer die Hälftenhaftigkeit der unterschiedlichen Daseinsformen ausgeglichen wird. Da sich lebendige Körper im Gegensatz zu anorganischen Körpern in einer positionalen Sphäre, in der Innen und Außen aufeinander bezogen sind, befinden, ergibt sich die Notwendigkeit, die in sich verwobenen Hälften auszugleichen, bzw. synchron werden zu lassen. Während der Rand als festgeschriebene Linie Innen und Außen gegeneinander abschließt, eine solche Stabilisierung für anorganische Körper also keinerlei Rolle spielt, bedingt die Grenze ein je spezifisches Umgehen mit den füreinander aufgeschlossenen Bereichen des Innen und Außen. Es stellt sich also die Frage, wie die Bewegungen von Innen nach Außen und umgekehrt, von Außen nach Innen reguliert werden, die Frage, wie ein Organismus lebt. Den Definitionen Plessners gemäß ist die Pflanze unmittelbar in ihrer Lebensumwelt verwurzelt und nicht gegen diese abgeschlossen, während das Tier eine relative Selbständigkeit seiner Umwelt gegenüber hat, in einer mittelbaren Beziehung zu dieser steht, allerdings an das Hier und Jetzt gebunden bleibt. „Insoweit das Tier selbst ist, geht es im Hier-Jetzt auf. Dies wird ihm nicht gegenständlich, hebt sich nicht von ihm ab, bleibt Zustand, vermittelndes Hindurch konkret lebendigen Vollzugs. Das Tier lebt aus seiner Mitte hinaus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte“ (Plessner 1981: 360). Plessner bezeichnet diese Stufe, die Sphäre des Tieres, als „zentrische Positionalität“, als Vorstufe der das Wesen des

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Menschen kennzeichnenden „exzentrischen Positionalität“. Joachim Fischer bemerkt, dass sich „in einem zentrisch organisierten Lebewesen im intentional ausgerichteten Bewusstsein Weltverhalte als Gegebenes dar[stellen], und aus einem solchen Lebewesen laufend agierend Stellungnahmen zur Welt [erfolgen]“ (Fischer 2000: 276). Das intentional ausgerichtete Bewusstsein, welches zuvor im Zusammenhang mit der Phänomenologie Husserls thematisiert und in seiner subjektivistischen Umkehrung dargestellt wurde, führt die Diskussion erneut in den Bannkreis der Frage danach, wo und wie Plessner seine Kategorie „exzentrische Positionalität“ ansiedeln wird, ohne eine Beschreibung von Innen und Außen vornehmen zu müssen, die sich zwangsläufig auf eine der beiden Seiten zu schlagen hat. 1.1.4 Die Positionalität des Menschen Um die von Plessner entwickelte Positionalität des Menschen darstellen zu können, ist zunächst festzuhalten, dass er, ähnlich der Logik, mit der er die tierische Position von der pflanzlichen abgrenzt, auch den Typus des Menschen als Steigerung gegenüber dem des Tieres begreift: Eine Steigerung ist denkbar, die das lebendige Körperding auf eine positional höhere Stufe hebt, über die Stufe des Tieres hinaus. Nach demselben Gesetz, das den Stufenunterschied zwischen Tier und Pflanze bestimmt. Wie die offene Form pflanzlicher Organisation die positionalen Charakter zeigt, ohne dass das Ding zu seiner Positionalität in Beziehung gesetzt ist, und diese Möglichkeit in der geschlossenen Form tierischer Organisation zur Verwirklichung kommt, so offenbart auch die Wesensform des Tieres eine Möglichkeit, die nur durch etwas Anderes realisiert werden kann. Die volle Reflexivität ist dem lebendigen Körper auf der tierischen Stufe verwehrt. Sein in ihm Gesetztsein, sein Leben aus der Mitte bildet zwar den Halt seiner Existenz, steht aber nicht in Beziehung zu ihm, ist ihm nicht gegeben. Hier ist also noch die Möglichkeit einer Realisierung offen. Die These lautet daher, dass sie dem Menschen vorbehalten bleibt (Plessner 1981: 360/361).

Die volle Reflexivität, die bei Husserl im Sinne einer letztbegründeten Subjektivität das Ziel der Überwindung des cartesianischen Alterna-

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tivprinzips dahingehend aufhob, als das als intentional konzipierte Bewusstsein einem Rechtfertigungsprinzip unterlag, wird bei Plessner zum Grund dafür, über die eigene Mitte hinaus zu sein. „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus“ (Plessner 1981: 364). Wie sich diese Distanz zum Zentrum erschließt und zu einer Neuordnung der Begriffe Freiheit und Natur führt, verdeutlicht Plessner in sehr anschaulicher Art und Weise anhand der Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists Abhandlung Über das Marionettentheater, die im Folgenden dargestellt wird. Natur und Freiheit Vor der sich seit Descartes entwickelnden Auseinandersetzung um den Begriff des Selbstbewusstseins, die eine im Zuge des Idealismus fortschreitende Durchführung des Versuchs beschreibt, die automatisch ablaufenden Geschehniszusammenhänge der Außenwelt im Denken so zu transformieren, dass sie im Endresultat mit dem Wesen des Menschen zusammenfallen, konzipiert Kant in seiner 1790 erschienenen Schrift Kritik der Urteilskraft die Idee einer Koinzidenz von Natur- und Freiheitsbegriff. Kant zufolge finden die apriorischen Ideen der Vernunft keine Entsprechung in der Welt der Erscheinungen, sie kommen dem Menschen vor aller Erfahrung zu und können gerade darum Allgemeingültigkeit beanspruchen. Zugleich aber besteht für den Menschen als vernünftiges Wesen ein Interesse, einen Hinweis für die objektive Realität dieser Ideen zu finden. Um eine zusammenhängende Erfahrung zu gewährleisten, muss eine Einheit der Natur angenommen werden, die im Bereich des Endlichen nicht zu beweisen ist. Es ist die reflektierende Urteilskraft, die das gegebene Besondere einem allgemeinen Prinzip unterwirft, welches jedoch nicht dem Gegenstand selbst, sondern dem betrachtenden Subjekt entstammt; dies ist als erkenntnisleitende Annahme die Idee der Zweckmäßigkeit der Natur, deren Erfahrung, zum Beispiel im zweckmäßigen Bau eines Organismus den Menschen erfreut, da sie ihn auf die Einheit von Natur- und Freiheitsbegriff verweist. Einen ähnlichen Hinweis gibt die Natur im Phänomen des Naturschönen, in dem die Natur sich für den Betrachter als Kunst darstellt, geformt nach „gesetzmäßiger Anordnung und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (Kant 2006: 185), wobei

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auch hier das Subjekt eine Zuschreibung aus sich heraus trifft.6 Die zweckfreie Harmonie der Erkenntnisvermögen ruft den ästhetischen Eindruck, ein Geschmacksurteil hervor, das nur in der Einbildung des Subjekts begründet und nicht ins Allgemeingültige ausweitbar ist. Der sich im Zuge dieser von Kant entwickelten Einsichten etablierende Begriff einer „zweiten Natur“ wird demzufolge zu einem Potenzierungsbegriff, der die Möglichkeit der Wiederkehr einer neuen, höheren, gesteigerten Natur inmitten der Kultur der frei handelnden, selbstbewussten Wesen thematisiert. Es geht um die Frage, ob die Menschen ihre Entfernung von naturnahen Verhältnissen ausbalancieren oder sogar zugunsten einer neuen Einheit auf höherer Stufe überwinden können. Kleist erkennt in diesem Zusammenhang einen Sündenfall, den er in seiner Erzählung Über das Marionettentheater (vgl. Kleist 2002: 79ff) aus dem Jahre 1810 unter anderem anhand der Grazie eines fechtenden Bären, dem Wahrheit und Wirklichkeit identisch sind, unterstreicht. Kleist beschreibt den Kampf des Bären als einen Tanz, der, auf Plessner zurückkommend, aus seiner zentrischen Positionalität erwachsen ist. Im Gegensatz zu der exzentrischen Positionalität des Menschen und unter Berücksichtigung der Kantschen Ausführungen ist der Bär nicht auf das subjektive Erkennen der Möglichkeiten von Wirklichem angewiesen, sondern erfährt den Augenblick, die Gegenwart in unreflektierter Art und Weise. Er lebt und erlebt, ohne das Erlebte zu erleben. Die nach dem Sündenfall eingetretene Differenz zwischen Wahrheit und Wirklichkeit lässt es dem Menschen in Kleists Augen im Gegensatz zum Tanz des Bären jedoch nicht zu, unbewusst und naturgemäß den Augenblick zu erleben, da es gilt, über diesen

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In seinen Kontext gestellt lautet das Zitat folgendermaßen: „Dazu kommt noch die Bewunderung der Natur, die sich an ihren schönen Produkten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck zeigt; welchen letzteren, da wir ihn äußerlich nirgends antreffen, wir natürlicherweise in uns selbst, und zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht, nämlich der moralischen Bestimmung, suchen“ (Kant 2006: 185).

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Augenblick hinaus, bzw. gleichzeitig unter Bezug von bereits Erfahrenem, das eigene Leben zu führen. Plessner kommt in seiner Abhandlung Ausdruck und menschliche Natur explizit auf Kleist und seinen Aufsatz zu sprechen. Die zentralen Begriffe, die Plessner in diesem Kontext bearbeitet, betreffen ähnlich der Auseinandersetzung Kleists mit Kant, die den Ansatzpunkt für seine Erzählung darstellte, die Begriffe Natur und Freiheit. Folgendes Zitat macht deutlich, inwiefern sich Plessner zwischen den Ansichten beider Autoren ansiedelt: Mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbst-hinaus-Sein, dieser fatalen présence à soi hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren. Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung (Plessner 1982: 416).

Kant hebt eine vermeintliche Opposition von Freiheit und Natur auf, indem er Freiheit als Merkmal konzipiert, das auf einem fest geknüpften Netz verbindlich wirkender Gesetze beruht, die innerhalb und außerhalb des Menschen wirken. Nur sofern der Mensch diesen Gesetzen restlos unterworfen ist, macht es Sinn, von Freiheit zu sprechen. Ist diese Freiheit gesichert, hat die Vernunft eine Chance sich zu entfalten und kann als Ursprung und Grund der Handlungen des Menschen gelten (vgl. Gerhardt 2004: 7). Kleist hingegen erkennt in der als Freiheit postulierten Möglichkeit des Vollzugs individuellen Lebens, innerhalb dessen die Vernunft sich zum Ursprung jeglicher Handlung entfaltet, eine Reduktion des Lebens auf Nützlichkeit und Rationalität. Schönheit und Grazie kommt, um im Rahmen des vorgestellten Beispiels zu bleiben, dem fechtenden Bären zu, dem Menschen nicht. Die Freiheit des Handelns sieht Kleist im Unterschied zu Kant darin gegeben, aus einer ungebrochenen Sicherheit heraus zu agieren. Ein ursprünglicher Ausdruck der Lebendigkeit steht in keinerlei Relation zu Gesetzen, sondern ist vielmehr ein Produkt der schöpferischen Vielfalt des Lebens selbst. Während Kleist Freiheit mit der dem Bären gegebenen Direktheit – er besitzt Grazie, ohne davon zu

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wissen, die Verbindung mit der Natur ist ungebrochen – gleichsetzt, bestimmt Kant Freiheit als eine Art Ergebnis der Suche nach den erforderlichen Techniken, die dazu führen, das Netz der Gesetze als ein solchermaßen undurchlässiges zu konzipieren, welches es ermöglicht, so etwas wie Direktheit erst erlangen zu können. Diese hier im Sinne von Würde zu verstehende Form von Freiheit ist Plessner zufolge weder in der schöpferischen, eigendynamischen Vielfalt des Lebens selbst, noch in der in letzter Instanz zu erlangenden Ebenbildlichkeit zu Gott zu finden, sondern findet sich vielmehr in einer gebrochenen Ursprünglichkeit, die eben nicht über sich selbst verfügt: „Der Menschheit Würde ist in seine Hand gegeben. Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in der Ebenbildlichkeit zu Gott, sondern ebenso sehr in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen Abstand zu ihm. Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform“ (Plessner 1982: 416). So gelangt Plessner schließlich zu dem Begriff der exzentrischen Positionalität des Menschen, die sich gegen eine Herabsenkung des Geistes auf das Niveau des Lebens wendet, und doch, wie insbesondere die Abgrenzung von Husserl und Heidegger zeigt, Leben als ihre Ausgangsquelle heranzieht.7 In diesem Sinne weisen Plessners Stufen des Organischen dem Menschen dahingehend eine Sonderstellung zu, als das durch Reflexion einsetzende Präsent-Werden des selbstständigen Selbst, das Erleben des Erlebens, einen Bruch markiert, der den Menschen einen Standpunkt über sein Zentrum, seine Mitte hinaus einnehmen lässt: Darin ist der Mensch dem Tier unterlegen, weil das Tier sich selbst in der Abgeschlossenheit gegen die physische Existenz, als Inneres und Ich nicht erlebt

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„Mit dem Idealismus teilt Plessner die Prämisse von der Unabhängigkeit des Geistes, dessen strukturelle Autonomie er mit der Kategorie der Exzentrizität der Positionalität einholt. […] Im Gegenzug [teilt Plessner] mit der Lebensphilosophie die Auffassung, dass der Ort des Geistes Brisanz gewinne durch seine Bezogenheit auf die von ihm unabhängige Dynamik des Lebens“ (Fischer 2000: 277).

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und infolgedessen keinen Bruch zwischen sich und sich, sich und ihr zu überwinden hat. Sein Körpersein trennt sich ihm nicht von seinem Haben des Körpers. Es lebt zwar in dieser Trennung – keine Bewegung, kein Sprung (dem die Schätzung der Distanz vorangeht) wäre möglich ohne sie. Auch das Tier muß seinen Leib einsetzen, situationsgemäß einsetzen, sonst erreicht es sein Ziel nicht. Aber der Umschlag vom Sein ins Haben, vom Haben ins Sein, den das Tier beständig vollzieht, stellt sich ihm nicht noch einmal dar und bietet ihm infolgedessen auch kein Problem (Plessner 1982: 242).

Das doppeldeutige Verhältnis des Menschen zu seinem Leib, das ihm seine Existenz im Sinne des Doppelsinns, zugleich leibhaftes Wesen, als auch Wesen im Körper zu sein, auferlegt (vgl. Plessner 1982: 235), bezeichnet besagten Bruch im Dasein des Menschen, der ihn in eine unergründliche Beziehung zu seinem Körper setzt. Das Prinzip der Unergründlichkeit im Verhältnis zwischen Körpersein und Körperhaben beschreibt die Grundlage des Konzepts Plessners dafür, anstatt eine der beiden Möglichkeiten der Selbstbeschreibung, die sich infolge des Cartesianischen Alternativprinzips bieten, zu wählen, beide Aspekte aus einer spezifischen Perspektive heraus in Beziehung zueinander zu setzen. Michael Makropoulos erklärt diese Beziehung anhand der Unschärferelation der Quantenphysik. Diese besagt, dass es prinzipiell unmöglich sei, gleichzeitig den Ort und den Impuls eines Elementarteilchens exakt zu bestimmen (vgl. Makropoulos 1997: 142). Es ergibt sich also das Paradox, dass Teilchen immer überall sein könnten, sie deshalb eine Geschwindigkeit besitzen, diese Geschwindigkeit jedoch in dem Moment, in welchem ein Ort dieses Teilchens bestimmt wird, in welchem es also irgendwo ist, nicht exakt gemessen werden kann. Folgende Fragen lassen sich demzufolge nicht gleichzeitig bemessen, bzw. beantworten: • •

Welchem Ort kann man eine bestimmte Geschwindigkeit zuordnen? Welche Geschwindigkeit existiert an einem bestimmten Ort?

In der Übertragung auf Plessner ließen sich diese Fragen in Bezug auf die Themen Freiheit und Natur, welche Plessner hinsichtlich der Exzentrizität der menschlichen Lebensform notwendigerweise in doppel-

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deutiger Art, sich auf die aufgebrochene Differenz zwischen Vollzug und Reflexion, zwischen Körpersein und Körperhaben berufend,8 formuliert, folgendermaßen darstellen: •

Die Freiheit von sich = Welche (wie viel) Freiheit existiert an dem spezifischen Ort meiner Selbstbestimmung?



Die Freiheit zu sich = Welchen spezifischen Ort kann ich meiner Freiheit zuordnen?

Anders als bei Pflanze und Tier ist die Positionalität des Menschen insofern exzentrisch, als ihm die ruhende Mitte fehlt. Er agiert nicht innerhalb eines geschlossenen Systems aus Trieb, Wahrnehmung und Triebhandlung, sondern in einer Vollzugswelt und einer Reflexionswelt zugleich, deren Beziehung eine der sich gegenseitig bedingenden Unschärfe ist. Unmittelbare Verhältnisse, die Beantwortung der Frage danach, ob eine Handlung physisch oder psychisch ist, ist genauso wenig zu beantworten, wie es möglich ist, den Versuch, sich selbst innerhalb der eigenen Hälftenhaftigkeit zu stabilisieren, abzuschließen. „In dieser Relation der Unbestimmtheit zu sich“, so Plessner „fasst sich der Mensch als Macht und entdeckt sich für sein Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage. Was er sich in diesem Verzicht versagt, wächst ihm als Kraft des Könnens wieder zu“ (Plessner 1981a: 188). Das entspricht dem einen Pol, der Möglichkeitsseite der Unbestimmtheitsrelation. Allerdings, so Plessner weiter, gibt ihm die Fülle der Möglichkeiten „zugleich die entschiedene Begrenzung gegen unendlich andere Möglichkeiten des Selbstverständnisses und des Weltbegreifens, die er damit schon nicht mehr hat“ (Plessner 1981a: 188). Der andere Pol, die andere Seite der Unbestimmtheitsrelation beschreibt die Wirklichkeitsseite, die das Stehen in spezifischer Geschichte, spezifischer Kultur, spezifischer Gesellschaft, in einer künstlichen Welt, die nicht die einzig mögliche, die aber auch nicht beliebig

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Heike Kämpf spricht in diesem Zusammenhang von einer „Logik reflexiver Vollzugsformen, die ihre Zentralität gerade dadurch verlieren, dass sie im Wissen um diese Verortbarkeit über diese hinausweisen“ (Kämpf 2001: 66).

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verfügbar ist, meint (vgl. Makropoulos 1997: 142). Wie sich die Hälftenhaftigkeit der menschlichen Lebensform kompensiert, wie der Mensch sich also zu dem macht, was er schon ist, das Leben führt, welches er lebt (vgl. Plessner 1981: 384), wird des Weiteren insbesondere im Zusammenhang mit der Philosophie Gilles Deleuzes zu thematisieren sein. Es bleibt zunächst festzuhalten, dass Plessners Prinzip der Unbestimmtheit darauf abzielt, sich jeglicher Form der Fixierung zu widersetzen. Er selbst äußert sich folgendermaßen hierzu: Die Entschränkung von aller dumpfen Verlorenheit an irgendeine ungeprüfte Tradition und einseitig fixierte Stellung zu Welt und Leben, von Blindheit gegen das eigene und fremde Wesen, von Unerwecktheit und Undurchsichtigkeit des eigenen Tuns: wie immer auch die Zentralität und Universalität seines eigenen point de vue sich ihm darstellen mag, sie gestattet ihm nie seine Verabsolutierung (Plessner 1981a: 188).

Indem Mögliches und Wirkliches gegeben sind, ohne an sich übereinzustimmen, ergibt sich eine Verhältnismäßigkeit, die im gegenseitigen Austausch besteht. Ähnlich der Tatsache, dass es möglich ist, in jeder Sprache über alle Sprachen zu sprechen, ohne eine dieser Sprachen als übergeordnet aufzufassen, existiert neben tausenden von Möglichkeiten des Soseins faktisches Handeln, in welches der Mensch in Form immer wieder stattfindender exzentrischer Brechungen genötigt wird. Wie Plessner diese Brechungen konzipiert, die das Spannungsfeld „jenseits der bindenden Wirklichkeit, aber diesseits der uferlosen Möglichkeiten […], dessen Modus weder der Indikativ, noch der Konjunktiv, sondern die Unbestimmtheitsrelation ist“ (Makropoulos 1997: 142) in ein jeweils situativ aufgefasstes Gleichgewicht zu bringen im Stande sind, wird des Weiteren dargestellt. Drei Formen exzentrischer Brechung Plessner konzipiert die Positionalität des Menschen als eine dreifache. Demnach ist der Mensch sowohl Körper, ist im Körper, als auch außerhalb desselben. Als Körper umgibt die Außenwelt die Person, im Körper wird sie durch die Innenwelt erfüllt, außerhalb des Körpers wird die Person von der Mitwelt getragen. Den der jeweiligen Positio-

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nalität entsprechenden Modi von Welt korrespondieren wiederum drei verschiedene Verhaltensdimensionen, anhand derer der Mensch einen Kontakt zur Welt herstellt, Weltoffenheit verwirklicht. Um diese Weltoffenheit, die nie grenzenlos ist, überhaupt herstellen zu können, geht Plessner also davon aus, dass der Mensch bereits Teil einer Welt sein muss, deren jeweilige soziokulturelle Stabilisierungen den Möglichkeiten zur Verwirklichung dieser Weltoffenheit gleichzeitig eine Grenze setzen. Zwar ist der Mensch aufgrund seiner Phantasiebegabung dazu in der Lage, Mögliches spekulativ zu erschließen, als Teil der Welt ist er jedoch gleichzeitig abhängig von gesellschaftlichen Arrangements, die nicht beliebig verfügbar sind. Die Suche nach einem Gleichgewicht mit sich und der Welt bedingt Verhaltensambivalenzen, die das „direkte“ Existieren anderer Lebewesen, die nicht von sich und den Dingen wissen (vgl. Plessner 1981: 384) auf indirekte, gebrochene Art und Weise herstellen.9 „Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muss er etwas werden – und sich das Gleichgewicht schaffen“ (Plessner 1981: 385).

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vgl. hierzu Krüger: „Die exzentrische Positionalität markiert einen Bruch. Diese Hiatusgesetzlichkeit betrifft die Zentrierungsrichtungen der Verhaltungsbildung. Es geht um den Hiatus zwischen der Exzentrierung der Verhaltungsform in Welt hinaus und deren Rezentrierung auf die zentrische Organisationsform des lebenden Körpers zurück. Die zentrische Organisationsform solcher Lebewesen braucht korrelativ eine Umwelt wie in der zentrischen Positionalität. In der exzentrischen Positionalität aber muss diese Umwelt künstlich als Produkt von Welterschließung hergestellt werden. Aus diesem Hiatus rührt in der ganzen Verhaltungsbildung die Fraglichkeit solcher Lebewesen vor sich selbst her. Gleichwohl müssen sie sich in ihrer exzentrischen Positionierung, ihrer zentrischen Organisationsform gemäß, auch noch zentrisch verhalten können (sein können). Daraus ergeben sich die wesenskonstitutiven Verhaltensambivalenzen exzentrischer Lebewesen, ihre vermittelte Unmittelbarkeit, ihre natürliche Künstlichkeit und ihr utopischer Standort gegen Nichtigkeit“ (Krüger 2006: 26).

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Exzentrische Lebensform und Ergänzungsbedürftigkeit bilden ein und denselben Tatbestand. Bedürftigkeit darf hier nicht in einem subjektiven Sinne oder psychologisch aufgefasst werden. Sie ist allen Bedürfnissen, jedem Drang, jedem Trieb, jeder Tendenz, jedem Willen des Menschen vorgegeben. In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige dem es dient: die Kultur (Plessner 1981: 385).

Plessner bezeichnet die exzentrischen Brechungen, die dafür sorgen, mit sich und der Welt in ein Gleichgewicht zu kommen, als anthropologische Grundgesetze. Das Verhältnis zu der die Person umgebenden Außenwelt wird durch die exzentrische Brechung der natürlichen Künstlichkeit in dem Sinne ausgeglichen, als dass das Verhältnis Organismus/Umwelt über den Umweg von Artefakten, Ästhetisierung oder die Möglichkeit zur Triebmodellierung in ein künstliches Gleichgewicht gebracht wird. Es entsteht, was als „Kultur“ bezeichnet werden kann. Der Mensch ist, wie Heike Kämpf es in diesem Zusammenhang ausdrückt, „von Natur aus künstlich, insofern er strukturell auf kulturelle Vermittlung verwiesen ist, und seine Künstlichkeit ist wiederum natürlich, insofern sie seiner Ergänzungsbedürftigkeit entspricht“ (Kämpf 2001: 68). Eine Form des künstlichen Gleichgewichts mit der die Person erfüllenden Innenwelt entsteht über die exzentrische Brechung der vermittelten Unmittelbarkeit. Das Verhältnis Innenleben/Expression, das dadurch gekennzeichnet ist, dass das eigene Wesen der Welt und sich selbst immer nur vermittelt begegnet, wird durch Formen der Mitteilung, Gestaltung, Neuanfang, Verwirklichung etc. zum Ausdruck gebracht, Geschichte wird ermöglicht. „Durch seine Expressivität ist er [der Mensch] […] ein Wesen, das selbst bei kontinuierlicher Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurücklässt“ (Plessner 1981: 416). Es wurde bereits thematisiert, dass der Wunsch, sich selbst innerhalb der eigenen Hälftenhaftigkeit zu stabilisieren, Plessner zufolge nicht abzuschließen ist. Die zuvor von Makropoulos angesprochenen Pole der Unbestimmtheitsrelation, Möglichkeits- und Wirklichkeits-

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seite, erfahren in Bezug auf das dritte anthropologische Grundgesetz, den utopischen Standort, ihre spezifische Korrelation: Kultur qua natürlicher Künstlichkeit; Geschichte qua vermittelter Unmittelbarkeit; aus der exzentrischen Positionsform rührt hinzukommend eine dritte Grundgesetzlichkeit. Sie betrifft den in seiner Natur liegenden unlösbaren Widerspruch, einerseits sich in der Außenwelt eingegliedert zu sehen, von seiner Innenwelt erfüllt zu sein und von seiner Mitwelt getragen und andererseits die Exzentrizität nicht aufgeben zu können. Der Mittelpunkt bleibt trotz aller Durchführungen der Exzentrizität außerhalb und zwingt endlos zu weiteren Durchführungen (Eßbach 1994: 31).

Das Verhältnis der Person zu der sie tragenden Mitwelt eröffnet über die Brechung Nichtigkeit und Transzendenz das Feld spezifischer Gesellschaft. Rolle, Individuum, Öffentlichkeit, Macht etc. bezeichnen die Wechselwirkung von Einmaligkeit und Vertretbarkeit, der der Einzelne ausgesetzt ist. Als vorgestellter Blickpunkt auf die zuvor genannten Körper-Welt-Verhältnisse kommt dem dritten Grundgesetz, das die aus einem utopischen Standort entspringende Spannung von Nichtigkeit und Transzendenz bezeichnet, eine entscheidende Bedeutung zu: Wie sich die Individualität nur abhebt vom Horizont der Möglichkeit des auch anders sein Könnens, so hebt sich dem Menschen sein eigenes Dasein als individuelles nur gegen die Möglichkeit ab, dass er auch ein anderer hätte werden können. Diese Möglichkeit ist dem Menschen durch seine Lebensform gegeben. Er ist sich selber Hintergrund des Menschlichen überhaupt, von dem er als dieser und kein anderer hervortritt. Als reines Ich oder Wir steht das einzelne Individuum in der Mitwelt. Sie umgibt den Einzelnen nicht nur wie die Umwelt, sie erfüllt ihn nicht nur wie die Innenwelt, sondern sie geht durch ihn hindurch, er ist sie. Er ist die Menschheit, d.h. er als Einzelner ist absolut vertretbar und ersetzbar (Plessner 1981: 421).

Als utopischer Standort bezeichnet das dritte anthropologische Grundgesetz im Gegensatz zu einem natürlichen Ort, in dem subhumane Organismen kraft ihrer Positionalität in Raum und Zeit als Raum und Zeit zu Hause sind (vgl. Fischer 2000: 279) einen Ort, der

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die Kontingenz der Existenz zum Vorschein bringt. Als exzentrische Brechung beschreibt er einen Ort gegen die Nichtigkeit, die das Verhältnis Mitwelt-Körper mit sich bringt. Als vorgestellter Blickpunkt bezeichnet der Utopische Standort, das außer dem Körper sein, einen der exzentrischen Positionalität entspringenden Primat der Fraglichkeit, der die Durchführungen der von Hans-Peter Krüger angesprochenen Ex- bzw. Rezentrierungen zwischen Körper und Welt einordnet und diese gleichzeitig einer Unabschließbarkeit unterwirft. Das Verhältnis der Person zu sich lässt sich durch das Verhältnis zu der sie tragenden Mitwelt als ein Verhältnis zwischen mehreren Personen verstehen: „Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position“ (Plessner 1981: 375). 10 Die zuvor von Plessner angesprochene paradoxe Stellung der Person in Form der gleichzeitigen unbezweifelbaren Vertretbarkeit des Einzelnen, sowie der ebenso unbezweifelbaren Einmaligkeit derselben, die sich im Mitweltverhältnis herstellt, verweist auf die Notwendigkeit stetig andauernder Grenzrealisierungen. „Der Bruch in der exzentrischen Positionalität ist geschichtsbedürftig, d.h. seine Fraglichkeit braucht hier und jetzt eine Antwort, in welcher der Bruch als etwas verstanden (genommen) wird, um Verhaltungsbildung zu ermöglichen. Aber die Fraglichkeit dieses Hiatus erlischt in keiner Antwort, sondern reproduziert sich in diesen von Generation zu Generation“ (Krüger 2006: 26). Plessner überträgt sein Programm der Grenzrealisierung, die in seinen Augen den fundamentalen Unterschied zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem markiert, auf eine gesellschaftliche Ebene, indem er die der exzentrischen Form entsprechende Position des Menschen als in der Grenze selbst stehend auf die Grenze zwischen unbezweifelbarer Einmaligkeit und genauso unbezweifelbarer Vertretbar-

10 vgl. hierzu Köllner: „Das Verhältnis von Person und Mitwelt ist in dem Sinne paradox, dass die Person ein Element der Mitwelt ist, d.h. dass die Mitwelt von Personen gebildet wird und dass umgekehrt die Mitwelt die Bedingung der Existenz von Personen ist. Die Existenz der Mitwelt und die Existenz der Person setzen einander wechselseitig voraus“ (Köllner 2006: 287).

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keit des Einzelnen einführt. Auf der Einsicht beruhend, dass der Mensch „ohne willkürliche Festlegung einer Ordnung, ohne Vergewaltigung des Lebens“ (Plessner 1981: 422) kein Leben führt, werden Plessner zufolge in der notwendigen sozialen Organisation Grenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit etabliert. So schreibt Wolfgang Eßbach: „Sozialität kann als eine Topologie begriffen werden, in die Verdeckung und Offenbarung, Stolz und Scham, Einmaligkeit und Vertretung verteilt werden können“ (Eßbach 1994: 33). Anhand dieser Grenze zwischen sichtbaren, vermeintlich transparenten Merkmalen des Sozialen, sowie dessen unsichtbaren Komponenten entwickelt Plessner Grenzen der Gemeinschaft, da eben die wissenschaftlich und politisch als gemeinschaftskonstitutiv eingesetzten durchsichtigen Merkmale immer wieder am Grenzverlauf des Sichtbaren/Unsichtbaren zerschellen (vgl. Eßbach 1994: 33). In Bezug auf die Frage danach, wie die ständige Reproduktion der Fraglichkeit, die durch das Stehen des Menschen in der Grenze, innerhalb des Bruchs zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit stattfindet, ist zu untersuchen, welche Gewichtung den Bereichen Sozial- bzw. Naturphilosophie im Bereich der philosophischen Anthropologie Plessners zukommen. Dieser Aspekt wird in Punkt 1.1.4.5 Das Verfahren einer reflexiven Anthropologie einer näheren Betrachtung unterzogen, indem auf Gesa Lindemanns Vorschlag einer auf Plessners Arbeiten bezogenen reflexiven Anthropologie eingegangen werden soll. Zunächst ist festzuhalten, dass dem Menschen durch seine Mitwelt ein Spektrum möglicher Rollen gegeben ist, die er übernehmen und nachvollziehen, wogegen er aber auch rebellieren kann. Die Fraglichkeit dessen, welcher Weg einzuschlagen ist, welche Entscheidungen in einem stetig zu aktualisierenden Spannungsfeld zwischen Vertretbarkeit und Einmaligkeit wie getroffen werden, bezeichnet Krüger zufolge die Grundlage dafür, eine Grenzziehung vornehmen zu müssen, Verhaltungsbildung zu ermöglichen. Plessners Konzeption der Mitwelt erfährt somit eine Stellung „von der her in der exzentrischen Positionalität erst Außen- und Innenwelt unterschieden werden können“ (Krüger 2006: 26). Inwiefern die nötigen Antworten auf die Fraglichkeit nach der eigenen Einmaligkeit sich in neue Fragen auflösen, erklärt sich aus der Ambivalenz der haltgebenden, künstlichen Form exzentrischer Verhaltensmöglichkeiten. Mehr wollen als nur sein als An-

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trieb dafür, Kultur zu schaffen, sich irren können als Motor zur Durchführung von Geschichte sind in sich nicht abzuschließende Phänomene innerhalb eines durch die Mitwelt vom je Einzelnen mitgeprägten Sozialgefüges. In Form eines Austauschverhältnisses stellt sich das, was als Gesellschaft, als Sozialität bezeichnet werden kann auf dem Boden des Doppelaspektes von Körper und Leib, von Vertretbarkeit und Einmaligkeit dar, indem es im Rückkehrschluss erst ermöglicht, beide Phänomene voneinander zu unterscheiden. Während der Begriff Körper den Körper als Objekt, als Gegenstand bezeichnet, meint Leiblichkeit etwas anderes, nämlich die unersetzliche individuelle Abweichung von den Körperstandarts. Die Leiblichkeit ist immer der Vollzug im Hier und Jetzt, die Spontaneität, die gerade nicht vertretbar, nicht austauschbar und auch nicht ersetzbar ist. Das Verhältnis zwischen Körper und Leib verändert sich geschichtlich. Was für die Eltern leiblich war, kann die nächste Generation womöglich verkörpern. Die jüngere Generation muss eine neue Form des leiblichen Ausdrucks finden, eine, die die Elterngeneration nicht besaß, sie muss ihre Einmaligkeit behaupten (Krüger 2003: 28).

Der Kategorische Konjunktiv – Die Grenze menschlichen Verhaltens Mit dem Begriff des kategorischen Konjunktivs bezeichnet Plessner das Prinzip der Durchführung der angesprochenen Antinomie menschlicher Wesen, „Individuum nur in dem Maß des Eingeständnisses seiner generellen Ersetzbarkeit durch einen anderen“ (Plessner 1983a: 342) zu sein. Im Rahmen dieser Durchführung erkennt Plessner neben den sich einstellenden Verfahren von Wirklichkeit und Möglichkeit das Phänomen der Leidenschaft als Modus des Irrealen. „Unsere Sprache stuft ihre Aussage nach dem Verhältnis zur Wirklichkeit ab und unterscheidet zwei Formen von Möglichkeit, das Kann und das Könnte. Während der Indikativ zur Feststellung des Wirklichen und des Möglichen dient, schafft der Konjunktiv einen Spielraum innerhalb des Möglichen“ (Plessner 1983a: 346/347). Innerhalb dieses Spielraums siedelt Plessner die Leidenschaft an, derer er sich über den imaginären Gehalt konjunktivischer Formen zu nähern sucht: „Die konjunktivische Form […] appelliert an die Einbildungskraft. Sie schwächt nicht nur ab, sondern schafft dem Spiel der Phantasie

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Raum“ (Plessner 1983a: 348). In Verbindung mit der unauflöslichen Widersprüchlichkeit zwischen Ich und Intersubjektivität, zwischen Einmaligkeit und Vertretbarkeit, die die unabschließbare Durchführung der Exzentrizität mit sich führt, wird deutlich, inwiefern Leidenschaft und Phantasie eine zum Verständnis des Menschen wichtige Rolle zukommt. Bezeichnet der kategorische Konjunktiv das Prinzip, unter welchem die Durchführung der exzentrischen Position steht, wird deutlich, dass sich zwischen den Kategorien Wirklichkeit und Möglichkeit ein irreales Daneben auffinden lässt, „ein hors de concours für beide Kategorien, welche die Welt in ihrem unabänderlich indikativen Ernst fassen, die Welt, die sich nach den drei Modi der Zeit gliedert: dem, was für immer war, dem, was nur einmal ist und dem, was kommen wird. Mit dem Konjunktiv wird diese Starrheit durchbrochen“ (Plessner 1983a: 347). Befindet sich der Mensch also per se innerhalb eines unlösbaren Widerspruchs, der ihm verwehrt, eine gesellschaftliche Existenz jenseits von Rolle und Rollenverhalten anzunehmen, so ermöglicht es die Kontingenz im Konjunktiv, Rollen zu verändern, das Verhältnis von Körper und Leib hinsichtlich ihrer Erfahrungsformen zu erweitern. Wie dies zu verstehen ist, soll mit Hilfe eines Beispiels erläutert werden. Hans-Peter Krüger thematisiert die Antinomie zwischen Ich und Intersubjektivität anhand der Konsultation eines Arztes: Ich bin mir sicher, dass mir irgendwie schlecht ist, so unmittelbar meine leibliche Befindlichkeit. Ich habe zwar auch eine Hypothese darüber, woran das liegt (Grippe) und wie man es beheben könnte (Therapie mit Antibiotikum). Aber ich bin mir doch noch unsicher darüber, was ich warum habe und wie es zu heilen wäre. Es könnte auch der Anfang oder das Ende von etwas anderem sein. Daher konsultiere ich lieber den Arzt zu dem Problem, welche der vielen möglichen Verkörperungen (Diagnose- und Therapiearten in der Ärztekunst) mein leibliches Unwohlsein kurieren könnten, am wahrscheinlichsten wirken würde mit den relativ geringsten negativen Nebenwirkungen usf (Krüger 1999: 49).

Um auf das letztgenannte Zitat Plessners zurückzukommen, ließen sich die Kategorien Tatsache und Möglichkeit zunächst folgendermaßen darstellen: Zwischen Erfahrungswerten aus der Vergangenheit,

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dem unmittelbaren leiblichen Befinden im Moment und möglichen Antworten in der Zukunft entsteht, was als körperleibliches Austauschverhältnis bezeichnet werden kann. „Gemessen an den eingespielten Verkörperungen ist es die Unbedingtheit des Leiblichen, die uns in die Frageposition stellt. Darin besteht das kategorische an diesem Konjunktiv. Um aus der unbestimmten Frageposition in eine bestimmte Frageposition zu gelangen, auf die bestimmt geantwortet werden kann, ruft man die soziokulturellen Antwortmöglichkeiten auf, die in der sprachlichen Kommunikation konjunktivisch gebraucht werden“ (Krüger 1999: 50). Aus dem Zentrum leiblicher Erfahrung herausgesetzt erfährt das verkörperte Ich eine in dem Sinne unbedingte Form des Unwohlseins, als die historisch geformte Position, aus der heraus Erfahrung stattfindet, nicht ausreicht, eine für die Zukunft angemessene Antwort bereit zu halten. Man kann also nicht einordnen, ob die Beschwerden noch den Anzeichen einer Bronchitis entsprechen, oder bereits auf eine Lungenentzündung hindeuten. Die von Krüger angesprochene Unbedingtheit, bzw. Einmaligkeit der leiblichen Fragestellung, des leiblichen Unwohlseins wird durch die Diagnose des Arztes vertretbar; der Arzt behandelt den Leib als einen Körper unter anderen Körpern. Stellt dieser nun fest, dass aus seinem soziokulturell verfügbaren Ensemble an Antworten keine Anzeichen dafür bestehen, von einer Lungenentzündung auszugehen, wird sich für die Zukunft eine veränderte leibliche Erfahrung bei dem Patienten einstellen. Obwohl in der Zeit seit der Diagnose keine Verbesserung des objektiv zu beobachtenden Zustandes eingetreten ist, wird das leibliche Wohl, bzw. Unwohl möglicherweise anders wahrgenommen. Auch in Zukunft wird der Patient sein leibliches Befinden dahingehend differenziert wahrnehmen, als er die gleiche Form des Unwohlseins nun erfahrungsgemäß als eher harmlose Bronchitis einschätzen wird. Die Frage jedoch, wie es diesem Menschen „wirklich“ geht, die Fixierung eigentlichen Seins ist diesem Schema zufolge nicht möglich. Weder die Antwortmöglichkeiten, die der vertretbaren, intersubjektiven Form des Ich entsprechen, noch das hier und jetzt nicht austauschbare Gefühl von Unwohlsein geben Auskunft darüber, wie ein eigentlicher, nicht entfremdeter Zustand auszusehen habe. Im Gegenteil impliziert die Verschränkung von Ichsubjekt und Intersubjektivität die Behandlung des Menschen als wesenhaft offene Frage. Die

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Frage, ob es in diesem Zusammenhang soziokulturelle Bedingungen sind, die eine leiblich unbedingte Wahrnehmung fundieren bzw. sogar konstruieren, oder, ob erst über die für sich genommene Möglichkeit leiblicher Erfahrung schlechthin angedeutet werden kann, inwieweit soziokulturelle Rahmen diese bedingen, wird im nächsten Punkt dieser Arbeit diskutiert werden. Zunächst wird das von Plessner angesprochene freie Spiel der Phantasie im Vordergrund stehen, das dem bisher entwickelten Schema die weitere Dimension der Leidenschaft hinzufügt. Die grundsätzliche Problematik, inwieweit eine Theorie des natürlich-kulturellen Körpers daraufhin zu behandeln ist, einer schnellschüssigen Annahme leiblicher Autonomie zu entkommen, wird auch, oder gerade innerhalb dieser Auseinandersetzung im Hinterkopf zu halten sein. Um auf das bereits genannte Beispiel zurück kommen zu können, ist festzustellen, dass der Möglichkeit, die Verkörperung, bzw. Versachlichung des eigenen Körperleibes zu gestalten, eine irreale Dimension innewohnt, aus der heraus Plessner das Phänomen der Leidenschaft entwickelt: Der Fähigkeit der Vergegenständlichung [des eigenen Körpers] entspricht […] eine Fähigkeit zum Entgegengesetzten, der Verunsachlichung und der Ergriffenheit. […] Wie die erstgenannte Kapazität des Menschen seiner exzentrischen Positionalität vorbehalten ist, so auch die zweite der Ergriffenheit, der Fähigkeit des Erleidens, der Passion, der Leidenschaft bis zum Selbstverlust (Plessner 1983a: 345).

Um diesen Vorgang zu verstehen, ist daran zu erinnern, dass Plessner das irreale Daneben, welches er als freies Spiel der Phantasie konzipiert, sowohl auf der Seite der Tatsache, als auch auf der der Möglichkeit ansiedelt. „Man muß es [das Phänomen der Leidenschaft] an der Struktur menschlicher Position im Ganzen messen, die sich eben nicht nur in den Modi des Wirklichen und Möglichen versteht, sondern charakteristischerweise auch im Modus des Irrealis“ (Plessner 1983a: 346). Plessner thematisiert diesen Tatbestand in Abgrenzung zu Kant, dessen Auseinandersetzung mit Leidenschaft Plessner zufolge innerhalb der Problematik der strukturellen Antinomie, „Individuum nur in dem Maß des Eingeständnisses seiner generelle Ersetzbarkeit durch

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einen anderen zu sein“ (Plessner 1983a: 342), stehen bleibt. Kant argumentiert zwar, dass dem Menschen Leidenschaften a priori gegeben sind, diese sich jedoch nur zu erkennen geben, weil er gezwungen ist, mit anderen Menschen zusammenzuleben. Durch Emotionen getriebene Handlungen zeigen sich demgemäß im Zusammensein mit Anderen, alleine nicht. Plessner zitiert in diesem Kontext folgende Passage Kants aus dem Jahre 1784: Das Mittel dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d.i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher die Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. […] Getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitmenschen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann (Kant 1979: 20, zitiert in: Plessner 1983a: 342).

Der Widerspruch, bzw. Antagonismus, den Kant hier beschreibt, lässt sich folgendermaßen darstellen: Der Mensch ist Zelle/Ursprung dafür, dass es überhaupt Gesetzgebungen gibt. Gleichzeitig kommen die Gesetzgebungen jedoch nur durch die Gesellschaft, der man unterworfen ist, zustande. Ähnlich des Beispiels, dass eine Ameise nur deshalb als Ameise zu erkennen ist, weil sie dem Organismus eines Ameisenhaufens angehört, der wiederum ohne die einzelne Ameise nicht existieren würde,11 konzipiert Kant auch das Phänomen der Leidenschaft.

11 In der Süddeutschen Zeitung vom 28.10.2008 wird vor dem Hintergrund der Frage, wie hochkomplexe Ameisenstaaten entstehen, festgestellt, dass in bestimmten Kollektiven wie etwa den Blattschneideameisen in Mittelund Südamerika „alle Individuen auf Gedeih und Verderb mit der Gemeinschaft verbunden sind – sie sind wie Zellen eines neuen Körpers, des Superorganismus“ (Breuer 2008: 20). Hinsichtlich der Tatsache, dass die Mehrzahl der Tiere zum Wohle einer solchen Gemeinschaft auf eigene Nachkommen verzichten, ließe sich in Bezug auf Kant und unter Nichtbe-

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Wäre der Mensch alleine, wäre es absurd von Habsucht, Ehrsucht oder Herrschsucht zu sprechen, erst im Zusammenspiel mit anderen gewinnen diese Begriffe an Bedeutung. Gleichzeitig gibt sich eine gesellschaftliche Form erst durch seine Mitglieder als solche zu erkennen, obwohl sie von deren zu Tage tretenden Leidenschaften beständig bedroht wird. Hier setzt letztlich jedoch die regulative Idee der Sittlichkeit ein, die der Geschichte einen Sinn verleiht. Erst wenn die Leidenschaften durch den gesellschaftlichen Widerspruch heraus erkannt werden können, können sie in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit einem Prinzip von Moral angepasst werden. Jeder einzelne fungiert hier als Subjekt und Objekt zugleich. Die innere Form von Moral, die jeder Mensch in sich trägt, die jedoch wie gesehen als Gesetzmäßigkeit nur im Zusammenspiel mit anderen zu Tage treten kann, wird in dem Sinne erweitert, als sie durch die immanenten, jedoch nur in und durch Gesellschaft erkannten Leidenschaften „auf den Weg gezwungen“ wird, Gesetzmäßigkeiten zu aktualisieren, oder wie Kant des Weiteren in seiner Kritik der Urteilskraft darlegt, zu beurteilen. Im Zuge Kantscher Bestimmungssetzungen könnte man formulieren, dass Plessners Konzeption von Leidenschaft der Frage nach einer regulativen Idee im Menschen eine anthropologische Grundlage verschafft, indem er nach einer Begründung für die antagonistischen Triebkräfte, Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht fragt. Anstatt den Menschen durch seine Möglichkeit, den Leidenschaften zu widerstehen als intelligibles, selbstbestimmtes Wesen zu bestimmen, sieht Plessner gerade die Möglichkeit der Leidenschaft als ein Merkmal exzentrischer Positionalität an: „Exzentrische Positionalität impliziert ein Verkehrungspotential: Perversität, Süchte und Leidenschaften sind nur einem exzentrisch positionierten Lebewesen möglich“ (Fischer 2008: 374). Kant argumentiert aus doppelter Perspektive heraus, wenn er beschreibt, dass der gesellschaftliche Antagonismus, obwohl er Ursprung von Leidenschaften ist, zugleich ermöglicht, Auswüchse unregulierter, triebhafter Handlungen zu bändigen, indem der Mensch aus sich her-

rücksichtigung des Umstandes, dass es sich um Ameisen handelt, die Frage stellen, ob dies im Rahmen eines sittlichen Gesetzes wie des kategorischen Imperativs, also als für jeden Teilnehmer der Gemeinschaft erstrebenswert gewertet werden kann.

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aus die Einsicht in die Notwendigkeit, bzw. Gesetzmäßigkeit moralisch ethischer Grenzen entwickelt. Plessner geht hingegen davon aus, dass sich menschliche Handlung per se erst über das irreale Daneben, das die Grundlage jeder Leidenschaft bezeichnet, herstellt. Während Kant über seine aus der menschlichen Ambivalenz heraus entworfenen Formel des kategorischen Imperativs eine Handlungsaufforderung entwirft, um sich an moralischen Prinzipien jenseits erkannter Naturgesetzmäßigkeiten zu orientieren, und davon ausgeht, dass ein Mensch aus eben diesen Gesetzmäßigkeiten heraus der Gefahr ausgeliefert ist, aus Leidenschaft oder Sucht zu handeln, geht Plessner davon aus, dass es sich gerade dann, wenn ein Wesen aus Leidenschaft oder Sucht heraus agiert, um ein exzentrisch positioniertes Wesen handelt.12 Diese Einsicht erschließt sich Plessner aus der Einbildungskraft, die der konjunktivischen Form entspringt: Der Kategorische Konjunktiv ersetzt den Kantschen kategorischen Imperativ. […] Der Zwang so (und nur so) zu handeln, wird gelöst. Hier tritt die Kontingenz ein […]. Sie ist im Konjunktiv selbst enthalten. Die Kontingenz im Konjunktiv hat aber eben kategorische Grenzen. Das ist hier der je eigene Körperleib. So kommt man zu der Grenze menschlichen Verhaltens: Wann hören wir auf, Lachen und Weinen noch spielen zu können? Dass wir Lachen und Weinen spielen können, ist die Erprobung menschlichen Verhaltens. Gleitet man ins ungespielte Lachen und Weinen, werden wir uns der Grenze gewahr. Damit wären wir bei der Durchführung des Performativitätstestes, der die Grenze der Beliebigkeit der Kontingenz markiert (Krüger 2003: 27).

12 Im Zusammenhang des bereits genannten Beispiels des Ameisenstaates wird deutlich, dass, konträr zu Kant, ein exzentrisch positioniertes Wesen den gesellschaftlichen Antagonismus nicht dahingehend auflösen kann, als dass die Anpassung des Einzelnen an eine Gesetzmäßigkeit gleichgesetzt würde mit einer Form individueller Freiheit, die sich im Falle der Ameisen anhand der größeren Überlebenschance gegenüber anderen Gruppen auszeichnet. Einer Form individueller Freiheit also, die sich gerade dadurch auszeichnet, auszuwählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als gut erkennt. Für Plessner ist gerade die Starrheit in der Auswahl möglicher Anpassungen, bzw. möglicher Rollen ein Moment, das leidenschaftliche Handeln hervorzubringen vermag.

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Krüger spielt hier auf die Phänomene Sucht und Leidenschaft an, anhand derer mögliche Antwortmöglichkeiten intersubjektiver Art unterlaufen werden können. Leidenschaft hebelt demzufolge den gesellschaftlichen Antagonismus innerhalb der kategorialen Grenzen des Körperleibes zunächst aus, anstatt, wie etwa bei Kant, erst durch ihn gebildet zu werden. Schließlich lebt die Menschheit von den Allzuvielen, den Bescheidenen und Zufriedenen, von denen man nicht sieht, und die nur ihre Pflicht tun. Und die Unzufriedenen, die Unruhstifter, die Neuerer, Umstürzler, die Genies? Von ihnen lebt die Menschheit nicht weniger, vielmehr findet sie durch sie zu ihrer Bestimmungskraft der Leidenschaft, die sie zu Taten treibt. Sie gefährden die etablierte Ordnung, keineswegs immer aus persönlichem Ehrgeiz, eher aus Liebe zur Sache, gefesselt von einem Einfall, im Bann einer Vision, aus Empörung über Unrecht (Plessner 1983a: 344).

Allerdings bildet die kategoriale Grenze des Körperleibes, die Notwendigkeit ein Verhältnis zu diesem einzugehen, gleichzeitig die von Krüger angesprochene Grenze der Beliebigkeit, der Kontingenz, bzw. der Unbedingtheit leidenschaftlichen Daseins. Bliebe eine solche Unbedingtheit bestehen, hätte diese möglicherweise selbstmörderischen Züge, oder bezeichnete die gegenläufige Bewegung hin zu der Suche nach einer Heimat, die Plessner vor allem Formen religiösen Glaubens zuschreibt. Um auf das Beispiel des Arztbesuchs zurückzukommen, können zwei Formen beschrieben werden, die das Austauschverhältnis zwischen Körpersein und Körperhaben, zwischen Leib und Körper blockieren, bzw. außer Kraft setzen. Zum einen ist vorstellbar, dass das Unwohlsein sich steigert, obwohl die besagte Antwort des Arztes eine harmlose Diagnose bereithielt. Die Antwort würde in diesem Fall nicht anerkannt, ein leiblicher Zustand überdeckt, bzw. integriert somit den Prozess der Verkörperung. Zum anderen ist eine Form der Blockade zu bezeichnen, in der die Verkörperung den leiblichen Zustand integriert. Kann im ersten Fall davon ausgegangen werden, dass es zu einer Unterschreitung des Rollenmusters kommt, welches durch den Spielraum im Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit beschreibbar wird, so setzt im zweiten Fall eine Überschreitung desselben ein.

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Unwohlsein würde hier nicht wahrgenommen werden, weil zum Beispiel die leidenschaftliche Ausrichtung daraufhin, seinen Körper sportlich zu stählen, Symptome einer Erkrankung nicht zur Geltung kommen lässt. In Süchten oder Leidenschaften wird der Versuch unternommen, die Verhaltensgrenzen am Ungespielten in den Spielkreis des menschlichen Verhaltens einzuholen, und zwar so, als ob das – dem jeweiligen Individuum – Unbedingte nur ein Außeralltägliches wäre, dessen Unterscheidung vom Alltäglichen man selber bedingen kann. […] Auf beiden Wegen, dem der Süchte oder dem der Leidenschaften, wird in dem Sinne das ungespielte Weinen, respektive das ungespielte Lachen fortgesetzt, dass man sich dem Körperleib überlässt, diesen stellvertretend für die Person antworten lässt, als ob dadurch in ihm die Individualität zum Vorschein käme. Indessen ist diese Übergabe der Verhaltensantwort an den eigenen Körperleib nicht mehr ungespielt, denn er wird im Fall der Süchte zuvor sensomotorisch manipuliert oder im Falle der Leidenschaft affektiv fixiert. Es tritt so nicht einfach ungekünstelt das wahre Naturell des Individuums hervor, sondern dasjenige Naturell, das künstlich erspielt aus dem Konflikt des Doppelgängertums heraus als solches gelten soll (Krüger 1999: 167/168).

Bevor auf die hier angesprochenen Phänomene des ungespielten Weinens sowie des ungespielten Lachens eingegangen wird, bleibt festzuhalten, dass es neben der Problematik, die aus den die Freiheit im Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit negierenden Süchten und Leidenschaften entspringt, auch die Problematik des durch Machtverhältnisse konstruierten Spielraums menschlichen Verhaltens zu diskutieren gilt. Innerhalb dieser Blickrichtung kommt den Antwortmöglichkeiten im Rahmen des genannten gesellschaftlichen Antagonismus eine zentrale Rolle zu. Als paradigmatische Figur dieser Auseinandersetzung kann, um im Rahmen des obigen Beispiels zu bleiben, die Rolle des Arztes, bzw. der seiner Diagnose zugrundeliegenden Wissensvorräte thematisiert werden. Gesa Lindemann nimmt in ihrer Konzeption einer reflexiven Anthropologie eine solche Sichtweise ein. Zunächst jedoch soll die Auseinandersetzung darum kreisen, das Potential, welches dem ungespielten Lachen und Weinen zukommen kann, aufzuzeigen. Es soll in diesem Kontext dargestellt werden, dass Plessner Sucht und

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Leidenschaft nicht als etwas per se Irrationales entwirft, das den Menschen zerstört. Im Umkehrschluss schreibt er beiden Phänomenen jedoch gleichzeitig zu, genau die Form von Freiheit, die aus dem spezifisch menschlichen Bruch zwischen Körper und Leib erwächst, möglicherweise in eine Form der Ohnmacht zu überführen. Ungespieltes Lachen und Weinen als spezifisch menschliche Grenzen des Verhaltens im Verhältnis zu Leidenschaft und Sucht Hans-Peter Krüger beschreibt das Verhältnis zwischen ungespieltem Lachen und Weinen und Leidenschaft sowie Sucht als innerhalb der Fragestellung danach verortet, wie und wo die Grenzen menschlichen Verhaltens anzusiedeln, bzw. beschreibbar werden. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen bedingten und unbedingten Süchten und Leidenschaften: Solange Süchte oder Leidenschaften bedingt werden können, sowohl vom betroffenen Individuum her als auch im soziokulturellen Milieu, werden sie Anlass geben, an der Schwelle ihrer Unbedingtheit in die Souveränitätsfrage zurückzuführen, die uns als Lächeln begegnet war.13 Sie treten damit nicht an die Stelle der Ungespieltheit des Lachens und des Weinens, die damit vernehmbare Verhaltensgrenzen bleiben, also nicht überspielt werden (Krüger 1999: 169).

Krüger erklärt Leidenschaft und Sucht als künstlich erspielte Verhaltensantwort des eigenen Körperleibes, die wie Plessner feststellt, das exzentrische Lebewesen immer wieder zu Taten antreibt. Ob Süchte oder Leidenschaften, in beiden Phänomenen wird, solange sie bedingt werden können, der Versuch unternommen, die zunächst erfahrenen Ver-

13 Im Rahmen dieser Arbeit wurde das von Krüger angesprochene souveräne Lächeln noch nicht thematisiert. Trotzdem wird dieser, von Plessner im Zuge seiner Abhandlung über Lachen und Weinen konzipierte Begriff hier erst einmal unkommentiert stehengelassen. Die Einordnung folgt auf Seite 67.

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haltensgrenzen doch noch durch Individualisierung gegenüber der Person ins Verhaltensspiel einholen zu können, ohne die Ungespieltheit des Weinens und Lachens abschaffen zu wollen (Krüger 1999: 170).

Ungespieltes Lachen und Weinen bezeichnen Plessner zufolge ebenfalls eine Verhaltensantwort des Körperleibes, die sich jedoch im Gegensatz zu Leidenschaft und Sucht ungespielt, als Antwort auf eine Grenzlage einstellen, anstatt diese erst hervorzurufen. Plessner beschreibt Lachen und Weinen als Reaktionen auf eine Krise menschlichen Verhaltens überhaupt. […] Gemeinsam ist Lachen und Weinen, dass sie Antworten auf eine Grenzlage sind. Ihr Gegensatz beruht auf den einander entgegengesetzten Richtungen, in denen der Mensch in diese Grenzlage gerät. Da sie sich nur als zweifache Weise als Grenzlage zu erkennen gibt, in der dem Menschen jedes mögliche Verhalten unterbunden ist, treten auch nur zwei Krisenreaktionen von Antwortcharakter auf. Lachen beantwortet die Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte, Weinen die Unterbindung des Verhaltens durch Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins (Plessner 1982: 378).

Die hier angesprochene unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte geht ebenso wie die Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins auf den Spielraum des Verhaltens zurück, den Plessner im Kontext des kategorischen Konjunktivs einführte. Während ungespieltes Lachen und Weinen ein exzentrisch positioniertes Lebewesen in die Lage dazu setzen, diesen Spielraum durch Eingrenzung stetig zu erweitern, besteht im Falle unbedingter Leidenschaft und Sucht die Gefahr, mögliche Grenzlagen im wahrsten Sinne des Wortes zu überspielen, anstatt diese Grenzen des Verhaltens, den sich vorübergehend schließenden Spielraum zum Ausgangspunkt dafür zu nehmen, die Grenzen des Verhaltens zu erweitern, indem in Form einer Auseinandersetzung wahrgenommen wird, dass diese existieren. In diesem Fall treten unbedingte Leidenschaft oder Sucht an die Stelle des ungespielten Lachens oder Weinens. „Dem Sucht- oder Passionsautomaten unterworfen, kann auch aus dem Lachen oder Weinen keine Souveränität im Umgang mit der eigenen Unbestimmtheit mehr entstehen. Herrscht

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erst einmal der Automat, und mag er als Sucht oder Leidenschaft noch so allzumenschlich begonnen haben, wird das Lachen nicht minder als das Weinen zwanghaft und verzweifelt“ (Krüger 1999: 175). Statt einer Erweiterung des Verhaltensspielraums ist nicht mehr zu erkennen, wann und ob sich dieser schließt, bzw. grenzenlos wird.14 Die Hintergründe dieser Betrachtung erklärt Plessner in folgender Weise: Sein [des Menschen] Verhalten vollzieht sich nicht (nicht nur) gemäß den jeweils herrschenden Verhältnissen, sondern ihnen gegenüber, in Auseinandersetzung mit ihnen. Das Tier verhält sich situationsgemäß, folgt den Verhältnissen (mehr oder weniger), passt sich an oder geht an ihnen kaputt, der Mensch sieht sie und bewegt sich im Bewusstsein ihrer Gliederung, artikuliert sie: durch Sprache, schematische Projekte für sein Handeln und Gestalten. Er bewältigt sie nicht allein, er versteht sie auch als Verhältnisse und kann die Beziehung als solche von der konkreten Situation isolieren. Er muss sie in irgendeinem Sinne nehmen: konkret oder exemplarisch, praktisch oder kontemplativ. Darum kann sich ihm auch der Spielraum des Verhaltens schließen, wenn die Bedingungen für die Bildung von Verhältnissen überhaupt gestört sind. Vital bleibt alles in Ordnung, aber mit der Bewandtnis in dem oder jenem Sinne ist es aus. Ein Phänomen das er sieht, sein Zustand, in dem er sich befindet, ein Ausspruch, den er versteht, bieten plötzlich keine Anknüpfungsmöglichkeit mehr. Sie sind außer allem Verständnis geraten, und darum findet er kein Verhältnis zu ihnen, kann sich nicht mehr zu ihnen und zu sich verhalten (Plessner 1982: 379).

14 vgl. hierzu Krüger: „Sehnsüchte oder Leidenschafen sind allzumenschlich, aber ihrer Unbedingtheit zum Opfer zu fallen, eröffnet die Möglichkeit, noch nicht die Notwendigkeit, unmenschlich zu werden. Nicht darin, dass man im Falle der Unbedingtheit einer eigenen Sucht oder eigenen Leidenschaft unmenschlich wird, liegt ihr Automatismus, sondern darin, dass dann diese Sucht oder diese Leidenschaft automatisch wird. Sie wird ein Selbstläufer. […] Darin mag anfangs eine besondere Lebendigkeit im Eindruck von solchen Phänomenen liegen, aber am Ende handelt es sich um keine spielerische Lebendigkeit. Wächst sich die körperleibliche Automatisierung aus, schränkt sich die Spielfreiheit des Menschen entsprechend ein“ (Krüger 1999: 175).

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Hans-Peter Krüger erklärt die hier angesprochene Unmöglichkeit des sich Verhaltens damit, unter-, bzw. überfordert zu sein und stellt die Rolle, die dem ungespielten Lachen oder Weinen in diesem Zusammenhang zukommen kann, folgendermaßen heraus: Das ungespielte Lachen und Weinen können zur Aussöhnung mit einem selbst führen. Man ist etwa einer Rolle, in die man sein Wesen gelegt hat, nicht gewachsen und längst mit einer anderen verwachsen. Der lebensgeschichtliche Horizont verengt sich. Aus der Unzahl von Möglichkeiten hat sich unwiderruflich eine in die Falten des Gesichtes geschrieben. […] Jede Lebensführung zwischen der persona und ihrer Individualisierung spielt mit den Möglichkeiten, deren erste Zuordnung in ihrer Realisierung zufällig gewesen sein mag, aber dann einen selbst unter- oder überfordert (Krüger 1999: 161).

Krüger spricht an, was er als die „im Selbstverlust erlösende und für eine erneute Selbstgewinnung durch nichts zu ersetzende Wirkung des ungespielten Lachens sowie des ungespielten Weinens“ (Krüger 1999: 162) bezeichnet. Diese Wirkung wird seiner Meinung nach durch ein mögliches Unbedingt-werden von Leidenschaft und Sucht außer Kraft gesetzt, bzw. an ihrem in Kraft treten überhaupt gehindert. „Die vormalige Bedingung der Individualisierung, eine bestimmte Sucht oder Leidenschaft, wird […] zum unbedingten der Persönlichkeit. Das zuvor nur allzumenschliche, weil wechselseitige Bedingungsverhältnis, die Rolle individualisieren und das Individuelle verkörpern zu müssen, wird jetzt zugunsten des süchtig oder leidenschaftlich Unbedingten aufgelöst“ (Krüger 1999: 171). Krüger setzt die in sich verwobene Konstruktion von Leidenschaft, Sucht, Lachen und Weinen in den Kontext des Zusammenspiels von Rolle und Individualisierung. Plessner erarbeitet eine aus der exzentrischen Position entspringende Vorstellung von Freiheit, die er dem Begriff der Würde gleichsetzt: „Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform“ (Plessner 1982: 416). Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, wie die von Krüger angesprochenen Komponenten ineinander greifen und einen Pool dafür bilden, eine der eigenen Unbestimmtheit entspringende Form von Freiheit immer wieder herstellen zu können. Als exzentrisch positioniertes Lebewesen steht der Mensch in der Grenze zwischen

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Leib und Körper, zwischen Einmaligkeit und gleichzeitiger Vertretbarkeit. Um den Spielraum, der sich zwischen den Positionen herstellt, entwickeln und verändern zu können, ist notwendigerweise davon auszugehen, dass der Mensch diesen Spielraum zuallererst herstellen, bzw. begrenzen muss, er muss sein Leben führen. Plessner spricht in diesem Zusammenhang von einer Vergewaltigung des Lebens, ohne die der Mensch kein Leben führt. Die Ordnungen, die notwendigerweise aus dieser Vergewaltigung erwachsen, entsprechen einem Spektrum möglicher Rollen, das den Menschen aufgrund der ihn umgebenden Mitwelt erst zu dem macht, was er ist. Das Spektrum möglicher Rollen wird demnach nicht als etwas bezeichnet, was dem Menschen rein äußerlich zur Verfügung steht, sondern als eine durch ihn immer wieder aktualisierte Weise eigener Identifikation. Dieser Unterschied ist für Plessner grundlegend. Er betrifft, wie folgendes Zitat verdeutlicht, den für ihn zentralen Begriff der Freiheit: „Die Freiheit muss eine Rolle spielen können, und das kann sie nur in dem Maße, als die Individuen ihre sozialen Funktionsleistungen nicht als eine bloße Maskerade auffassen, in der jeder dem anderen in Verkleidung gegenübertritt“ (Plessner 1985b: 239/240). Freiheit ist demzufolge auf die Verschränkung von sozialer Rolle und menschlicher Natur angewiesen, und ist eben nicht mit einer eigentlichen, außersozialen Form nicht entfremdeten Seins gleichgesetzt. „Als seine Möglichkeit gibt er [der Mensch] sich erst sein Wesen kraft der Verdopplung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, das keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverhältnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur“ (Plessner 1985b: 240). Die Verschränkung von sozialer Rolle und menschlicher Natur findet ihren Ausdruck auf doppelte Art und Weise. Zum einen individualisiert sich die soziale Rolle, indem Sucht und Leidenschaft die soziokulturell gerade üblichen Rollen entweder unter- oder überschreiten. Zum anderen wird das Individuelle verkörpert, indem ungespieltes Lachen und ungespieltes Weinen als Grenzreaktionen stattfinden, der Körper springt ein, und lässt Süchte und Leidenschaften als bedingt lebbar werden. Neben der angesprochenen Gefahr der unbedingten Süchte und Leidenschaften erschließt sich aus diesem Schema der Unbestimmtheit durch Verdopplung das gegenteilige Risiko der Überidentifikation mit

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einer der verfügbaren soziokulturellen Rollen. Als Hintergrund hierfür kann zum einen die Möglichkeit des Menschen betrachtet werden, Lachen und Weinen als Reaktion seines eigenen Körpers reflexiv einzuholen. Aus den Reaktionen, die eigentlich ein Auflösen des Artifiziellen meinen, noch mal Artifizielles zu schaffen. Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit der in die exzentrische Positionalität verlagerten Erfahrung hier durch die verfügbaren soziokulturellen Rollen eine Form geboten wird. Krüger fasst die beiden Risiken einer möglichen Fremd- oder Selbstautonomisierung folgendermaßen zusammen: Ob nun durch Flucht in die unbedingte Fremd- oder in die unbedingte Selbstautonomisierung, beide Versuchsrichtungen einer Individualisierung misslingen dadurch, dass sie das Unbestimmte der Persönlichkeit so besetzen, als ob es sich um eine positive Selbstbestimmung handeln könnte. Als ob alles an ihr selber bestimmbar wäre, wird es entweder dem (von der Rolle) geborgten oder dem (durch Sucht oder Leidenschaft) zugefallenen Selbst unterworfen. Muster, die nur unter bestimmten Bedingungen Bedeutung haben und Sinn machen, erlangen so den Status des Unbedingten der Persönlichkeit. Die Okkupation des der Persönlichkeit Absoluten, ihres Unbestimmten und Unbedingten, durch das von ihr zu Bestimmende und zu Bedingende macht sie selbst grenzenlos. Sie findet nicht die ihrer Individualität angemessene Selbstbegrenzung, sondern steigert die übernommene Fremdautorisierung respektive die dagegen gerichtete Selbstermächtigung ins Unbedingte hinein (Krüger 1999: 171).

Souverän in einem Sinne, der von Plessner als würdevoll akzentuiert wird, ist demnach derjenige, der die eigene Unergründlichkeit im Durchlaufen der Grenzen eigener Selbstbestimmung erfährt und dadurch die Freiheit besitzt, ein Verhältnis zu eben dieser Unbestimmtheit einzugehen. Ausdruck einer solchen Form der Souveränität ist Plessner zufolge das Lächeln: Wie von selbst gleitet das Lächeln aus dem Bereich der unwillkürlichen mimischen Gebärde in den der abgewogenen Geste über, die unergründlich wirken kann, weil sie alles und nichts sagt. So bewahrt der Mensch seine Distanz zu sich und zur Welt und vermag sie, mit ihr spielend, zu zeigen. Lachend und

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Weinend ist er das Opfer seiner exzentrischen Höhe, lächelnd gibt er ihr Ausdruck (Plessner 1983b: 209).15

Plessner bezeichnet die hier ausgedrückte Erfahrung der Grenzen eigener Selbstbestimmung als eine „sehr positive Haltung im Leben zum Leben, die um seiner selbst willen die Unbestimmtheitsrelation zu sich einnimmt“ (Plessner 1981a: 188). Er fasst den Menschen dieser Unbestimmtheitsrelation zufolge als offene Frage. Dieser ist in seiner Freiheit nicht festzulegen, Identität insofern nicht zu sichern. „Theoretisch definitiv ist die Wesensbestimmung des Menschen als Macht oder als offene Frage nur insoweit, als sie die Regel gibt, eine inhaltliche oder formale theoretische Fixierung fernzuhalten, welche seine Geschichte in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein einem außergeschichtlichen Schema der Geschichtlichkeit unterwerfen möchte“ (Plessner 1981a: 190/191). Insbesondere in machttheoretischer Hinsicht ist Plessners Ansatz, der sich konsequent am Problem der Grenze orientiert, breiter Kritik ausgesetzt, deren Thematik bei der Untersuchung und versuchsweisen Annäherung eines sogenannten poststrukturalistischen Subjektbegriffs mit der exzentrischen Subjektivität Plessners eine zentrale Rolle spielt. Marc Rölli bringt mit folgender Aussage den Kern dieser Kritik auf den Punkt: Es ist bezeichnend, dass anthropologische Machttheorien stets mit einem negativen Machtverständnis operieren, so dass sie sich im Kern auf eine unentfremdete menschliche Natur beziehen, die jenseits der Grenzen der (quasi bloß instrumentellen) positiven Bestimmbarkeit die Unbestimmtheit der exzentrischen Subjektivität und Wesensart Mensch geltend macht. Foucault hingegen hat überzeugend herausgearbeitet, dass die modernen Machtverhältnisse das Leben selbst in Beschlag nehmen, in dem sie gerade keines außerhalb ihrer selbst dulden. Sie bringen lediglich ein mit den Farben der Souveränität durchsetztes Ideal hervor […], dessen Verfolgung die Maschinerie in Gang hält (Rölli 2008: 215).

15 An anderer Stelle spricht Plessner vom Lächeln als „Mimik der menschlichen Position“ (Plessner 1982a: 431).

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Im Anschluss an Michel Foucaults Machtkonzept, demzufolge sich Macht in produktiven, diffusen, mikrophysikalischen Verhältnissen darstellt, argumentiert eine poststrukturalistische Kritik aus dem Standpunkt heraus, dass ein Außen der Macht, als welches Plessners Ansatz der menschlichen Natur verstanden wird, nicht möglich sei. Foucault zufolge muss Macht als dezentral angesehen werden. Sie kommt von unten und zeigt sich in Form produktiver Machtverhältnisse, welche die gesamte lebensweltliche und institutionelle Praxis der Gesellschaft durchdringen. Folglich gibt es kein Außen, keine vorgesellschaftliche, innere Natur bleibt als Reserve oder Widerstandspotential im Hintergrund. Vielmehr ist die Idee einer ursprünglichen, authentischen Natur selbst eine Machtverhältnisse stützende Fiktion. Inwieweit Plessners Konzeption der exzentrischen Positionalität die Idee einer als ursprünglich zu verstehenden Natur vertritt, die wie von Rölli angesprochen, als ein Rückzugsort innerhalb einer negativ, repressiv ausgelegten Machtstruktur fungiert, wird im Rahmen der folgenden Auseinandersetzungen um die Theorie Deleuzes eine zu hinterfragende Position darstellen. Einen ersten Ansatz dafür, diesen Kritikpunkt zu überprüfen, bildet Gesa Lindemanns Plessner Interpretation, die den Gedanken des sich im Vollzug immer wieder aktualisierenden Spielraums auf die Thematik personaler Vergesellschaftung überträgt und aufzuzeigen versucht, „welche Funktion anthropologische Annahmen im Rahmen des Vollzugs der Grenzziehung zwischen Personen und anderem haben“ (Lindemann 2004: 55). Grundlegend hierfür ist die Feststellung, dass es sich bei der Theorie der exzentrischen Positionalität „um eine Theorie des natürlichkulturellen Körpers handelt“ (Lindemann 2005: 70). Lindemann zufolge beinhaltet diese Feststellung im Gegensatz zu Röllis Kritik nicht einen impliziten Rückzug auf eine als ursprünglich erachtete menschliche Natur, sondern vielmehr eine Erweiterung bisheriger Ansätze. Während sogenannte poststrukturalistische Konzepte sich darauf beschränken, aufzuzeigen, wie Körper gesellschaftlich geformt werden, ermöglicht es der Doppelaspekt aus dem heraus Plessners Theorie agiert, das Blickfeld dahingehend zu erweitern, als Vorstellungen über den Eigensinn und die Widerständigkeit der Natur gegenüber sozialen Aneignungs- und Beherrschungsformen auch im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes untersucht werden können, der die

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unhintergehbare Konstruiertheit sozialer Realität hervorhebt (vgl. Lemke 2007: 251). Allerdings wäre es trugschlüssig, einen möglichen Eigensinn menschlicher Natur als positive Erklärung oder Setzung im Rahmen der Frage danach zu verstehen, was ein Mensch sei. Vielmehr geht es gerade darum, gemäß der radikalen Entsicherung, die der Theorie der exzentrischen Positionalität in Bezug auf diese Frage entspringt, die Funktionen anthropologischer Setzungen analysieren zu können. Gesa Lindemann erkennt in diesem Zusammenhang „dass Plessner es nicht nur als eine offene Frage [behandelt], was der Mensch ist, sondern auch, wer eine (menschliche) Position ist“ (Lindemann 2005: 70). Hierauf rekurrierend widmet sie sich dem Feld gesellschaftlicher Grenzregime16 und fragt danach, wer empirisch zum Kreis sozialer Personen gerechnet wird und wer nicht. Ausgangspunkt zur Klärung beider Problemkomplexe ist der grenztheoretische Entwurf des menschlichen Verhaltensspielraums, den Plessner wie gesehen über die Phänomene des ungespielten Lachens und Weinens auf der einen, und über die grundsätzliche Vertretbarkeit innerhalb sozialer Rollen auf der anderen Seite, konzipiert. Die Freiheit, die diesem Spielraum durch die Möglichkeit erwächst, sich von sich zu distanzieren und immer wieder neue Formen der Erfahrung zu erfinden, ist demgemäß nicht festzulegen, Identität nicht zu sichern. Zu überprüfen ist, inwieweit Plessners Konzept eines Freiheitsspielraums durchaus mit poststrukturalistischen Machtkonzeptionen zu verbinden ist, ohne in eine leibliche Position des Spürens, die Idee einer ursprünglichen, ganzheitlichen Vorstellung menschlicher Natur zu verfallen. Mit Hilfe Lindemanns soll des Weiteren die Möglichkeit einer Kritik der Macht dahingehend fundiert werden, als die Grenzen des Kreises der Personen, die das soziale Anwendungsfeld machttheoretischer Überlegungen bilden, als hinterfragbar analysiert werden. Vor der konkreten Auseinandersetzung um mögliche Widerstandspotentiale innerhalb einer Kultur der Effizienz sollen auf diesem Wege Eckpfeiler dafür benannt werden, wie sich die Verhältnisse und Pra-

16 „Das Grenzregime einer Gesellschaft bezeichnet das Insgesamt der Praktiken, durch die die Grenze zwischen sozialen Personen und anderem gezogen wird“ (Lindemann 2004: 33).

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xiszusammenhänge konstituieren, in die eine Form der Subjektivierung eingelassen ist, die sich am Problem der Grenze zu orientieren hat. Wie stellt sich ein Bereich des Sozialen, ein Möglichkeitsfeld her, in welches sich Macht im Sinne Foucaults einschreibt? Foucault thematisiert in diesem Zusammenhang das Spiel von Macht und Freiheit, welches er als äußerst vielschichtig beschreibt: In diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht (sowohl als ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, denn wenn sie sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch diese verschwinden und dem schlichten und einfachen Zwang der Gewalt weichen); aber sie erscheint auch als das, was sich nur einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann, die letztendlich darauf ausgeht, sie vollkommen zu bestimmen. Das Machtverhältnis und das Aufbegehren der Macht sind also nicht zu trennen. […] Statt von einem Antagonismus sollte man besser von einem Agonismus sprechen, von einem Verhältnis, das zugleich gegenseitige Anstachelung und Kampf ist (Foucault 1994: 256).

Der Ansicht Röllis zufolge wird anhand dieses Zusammenspiels die das Leben in Beschlag nehmende Kraft der Foucaultschen Machttheorie deutlich, der das Konzept der exzentrischen Subjektivität nurmehr den Rückzug in eine unentfremdete menschliche Natur entgegenstellen kann. Inwieweit ein solcher Machtbegriff möglicherweise jedoch verkennt, dass ein Begriff von Freiheit innerhalb eines solchen Zusammenspiels nur zur Geltung kommen kann, wenn zuvor festgelegt ist, welche Körper diesem entsprechen, versucht Gesa Lindemann zu klären. Ihre Analyse gesellschaftlicher Grenzregime zeigt anhand Plessners exzentrischer Positionalität auf, welche Regulierungen die Gewissheiten zustande bringen, die Foucault in seiner Kritik der Macht möglicherweise implizit übernimmt. Ein solch tief liegender Blick ist Lindemann zufolge möglich, wenn Anthropologie reflexiv betrieben wird, was heißt, dass die von Plessner konzipierten offenen Fragen darüber, was und wer Menschen sind, in dem Sinne ernst genommen werden, als ihre Konsequenz und nicht ihre Beantwortung im Mittelpunkt steht, um so die Funktion möglicher Setzungen untersu-

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chen zu können. Wird ein solcher Weg beherzigt, erübrigt sich Lindemann zufolge der von Rölli angesprochene Kritikpunkt des unumgänglichen anthropologischen Bezugs auf eine ursprüngliche menschliche Natur. „Plessner ist kein Heimatdichter der menschlichen Natur, vielmehr erschließt die Positionalitätstheorie die selige Fremde jenseits jeglicher anthropologischer Gewissheiten“ (Lindemann 2004: 55). Das Verfahren einer reflexiven Anthropologie Im Zuge der Frage, wie und zwischen wem eine Form personaler Vergesellschaftung im Konkreten, Sozialität im Allgemeinen überhaupt stattfinden kann, gibt es verschiedene Interpretationsansätze der Plessnerschen Konzeption. Einer weit verbreiteten Ansicht nach setzt Plessner der Entstehung sozialer Gefüge die Beobachtung der Dinghaftigkeit der Natur voraus. Der Weg über das Fremde, das Andere seiner Selbst, die Natur als Form der Selbstvergewisserung in der Grenze zwischen dinglicher Außenwelt und unergründlicher Innenwelt, fußt auf dem Potential einer universellen Wir-Sphäre, die erst nachträglich eine Limitierung auf eine menschliche Sozialwelt erfährt. Zunächst werden nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände als Alter Ego aufgefasst: „Die Gegebenheit des Anderen […] beruht nicht etwa auf einer Analogieerfahrung des eigenen Ich, sondern umgekehrt werden laut […] Plessner ursprünglich und universell nicht nur andere Menschen, sondern andere Gegenstände als Du-Sphäre aufgefasst, die in einer Art sensomotorischer Unterhaltung ausgewertet werden“ (Fischer 2008: 550/ 551). Die sensomotorische Unterhaltung bezeichnet das Verhältnis zum je eigenen Körperleib. Intersubjektivität, menschliche Sozialität hat dieser Auslegung gemäß ein solches Verhältnis zur Bedingung. Erst die Erfahrung einer dinglichen Außenwelt sowie einer unergründlichen Innenwelt, die Erfahrung der eigenen Hälftenhaftigkeit und der Versuch ihrer Stabilisierung realisieren eine Deutung, anhand derer der Kreis dinghafter Begegnung daraufhin zu beschränken ist, menschliche Sozialität verwirklichen zu können. Gleichzeitig spiegelt diese Deutung die Selbstvergewisserung der eigenen Lebendigkeit wider.

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Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um eine Übertragung der eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft gegenwärtige Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern um eine Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seinskreises auf die Menschen. Das Verfahren der Beschränkung, wie es sich in der Deutung leibhaft erscheinender fremder Lebenszentren abspielt, muß streng getrennt werden von der Voraussetzung, dass fremde Personen möglich sind, dass es eine personale Welt überhaupt gibt. […] Dass der einzelne Mensch sozusagen auf die Idee verfällt […], nicht allein zu sein und nicht Dinge, sondern fühlende Wesen wie er als Genossen zu haben, beruht nicht auf einem besonderen Akt, die eigene Lebensform nach außen zu projizieren, sondern gehört zu den Vorbedingungen der Sphäre der menschlichen Existenz (Plessner 1981: 374).

Sozialität beschränkt ein exzentrisches Wesen also in dem Sinne, als dass der Kontakt mit fremden Wesen aus der als ursprünglich aufgefassten „Wir-Sphäre“ heraus notwendigerweise Grenzziehungen der eigenen Selbstbestimmung hervorbringt. Gesa Lindemann thematisiert in diesem Kontext die Problematik „wer in den Kreis personalen Seins einzubeziehen ist und was aus diesem Kreis herausfällt“ (Lindemann 2006: 55) und erkennt die Gefahr innerhalb naturphilosophisch ausgerichteter Interpretationen Plessners, das Potential seines Konzepts zu beschränken, bzw. die eigentliche Offenheit seines Ansatzes in ein anthropozentrisches Denken zu überführen. Lindemann stellt im Kontext der von ihr entwickelten Grenzregimeanalyse fest, dass aus einer Beobachterperspektive gilt, dass das von Plessner angesprochene Verfahren der Deutung „den Charakter einer Beschränkung [in reflexiver Art und Weise] an[nimmt]. Es geht nicht darum, wer ein alter Ego ist, sondern darum, wer nicht als alter Ego gelten kann“ (Lindemann 2004: 32). Im Gegensatz zu einer Interpretation, die postuliert, dass im philosophisch-anthropologischen Denkansatz die Naturphilosophie der Sozialphilosophie vorausginge, „um diese als vorgesetzte einzuholen“ (Fischer 2008: 552), denkt Lindemann eine reflexive Umkehrung anthropologischer Ansätze. Es geht darum, zu verstehen, wie der Prozess der Selbstbegrenzung innerhalb personaler Vergesellschaftung ver-

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standen werden kann, ohne die Kontingenz der hierbei notwendigen Deutungsprozesse durch positive Setzungen oder Gewissheiten zu überlagern. Anstatt von einer anthropologisch fundierten Position auszugehen, die zwischen lebendigen und nicht lebendigen Wesen unterscheidet und Deutungsprozesse daraufhin anlegt, dieser Unterscheidung gemäß zu entscheiden, hinterfragt Lindemann die Konstitution der Grenzen, anhand derer sich der Bereich des Sozialen erst fundiert. In diesem Sinne legen gesellschaftliche Strukturen in Form von Grenzregulierungen erst fest, woran sich eine Deutung zu orientieren hat. „In einer solchen Perspektive lassen sich Gesellschaften danach unterscheiden, wie sie die Grenzen des Sozialen konstituieren. Wenn man sich darauf einlässt, gelangt man zu einer interessanten Charakteristik moderner Gesellschaften: Diese zeichnen sich dadurch aus, dass nur noch lebende Menschen soziale Personen sein können“ (Lindemann 2005: 71). Hintergrund dieser Umkehrung ist die Frage, wie und warum soziale Grenzregime gezogen werden, die festlegen, wie der Kreis legitimer sozialer Personen praktisch begrenzt wird. Der so ermittelte Bereich personaler Vergesellschaftung fundiert sogleich auch erst die Vorstellung einer Natur-Kultur-Differenz, ganz gleich, ob diese beim Individuum selbst oder aber bei den wie auch immer sich darstellenden Verhältnissen ansetzt. Ihre Methode, das Konzept der exzentrischen Positionalität als reflexive Anthropologie zu verstehen, ermöglicht zum einen, die Auslegung der Vormachtsstellung eines naturphilosophischen Ansatzes innerhalb der philosophischen Anthropologie dahingehend umzudrehen, als dass sie feststellt, dass Plessner an die Stelle eines sicheren Wissens […] ein kontingentes Deutungsverfahren [setzt]. Es wird in Prozessen gesellschaftlicher Deutung entschieden, wie die Fragen wer und was Menschen sind, beantwortet werden. Insofern kann die Theorie der exzentrischen Positionalität eher als Fundierung von Sozialität gelten, d.h. einer Umweltbeziehung vergesellschafteter Individuen, die durch Kultur und gesellschaftliche Institutionen reguliert wird (Lindemann 2004:26).

Daneben, bzw. darunter liegend lässt sich aus der Perspektive einer reflexiven Anthropologie konstatieren, dass

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es nicht mehr fest[steht], wer in den Kreis der Wesen gehören kann, deren Umweltverhältnis diese komplexe Art der Regulierung erfordert. Damit wird das Verhältnis von Anthropologie und Vergesellschaftung umgekehrt. Es gilt nicht mehr: Anthropologische Annahmen fundieren explizit oder implizit Vergesellschaftungsprozesse. Sondern es gilt umgekehrt: Jede Vergesellschaftung enthält eine Grenzregulierung, durch die entschieden wird, wer in den Kreis der personalen Akteure gehört, die den Prozeß der Vergesellschaftung tragen, und was aus diesem Kreis ausgeschlossen wird (Lindemann 2004: 26/27).

Lindemann zufolge ist eine Revision der Auslegung der Plessnerschen Anthropologie als positiver Anthropologie notwendig, um die Soziologie aus ihrer anthropozentrischen Denkweise zu befreien, die nur lebende Menschen als soziale Akteure begreift. Anstatt von einem anthropologischen Fundament auszugehen, durch welches Gesellschaftstheorie untermauert wird, kann es ihrer Ansicht nur darum gehen, „welche Funktion anthropologische Annahmen im Rahmen des Vollzugs der Grenzziehung zwischen Personen und anderem haben“ (Lindemann 2006: 55). Ihrer Meinung nach muss sowohl die potentielle Offenheit der personalen Vergesellschaftung begriffen werden können, als auch der Zwang zur Grenzziehung. Denn eine Grenzziehung ist in jedem Fall notwendig, um Wesen exzentrischer Positionalität in eine haltgebende künstliche Form zu bringen. Damit wird der Sachverhalt der Grenzrealisierung zum grundlegenden Problem der Sozial- und Gesellschaftstheorie. Grenzrealisierung muss jetzt […] auf eine neue gegenstandsangemessene Weise verstanden werden. Bei der Analyse des Lebendigen stand die Abgrenzung des lebendigen Körpers von seiner Umgebung im Mittelpunkt. Bei der Analyse personaler Vergesellschaftung wird die Selbstabgrenzung des Bereichs des Gesellschaftlichen zum theoretischen Ausgangsproblem (Lindemann 2006: 56).

Lindemann nimmt die von Plessner konzipierten offenen Fragen darüber, was und wer Menschen sind, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, und legt dar, dass diese ihre Geltung nur dann beanspruchen, wenn ihre jeweilige Konsequenz in den Vordergrund gerückt wird, und nicht vorschnelle Annahmen, die den Blick auf den Gegenstand

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der Frage überdecken.17 Die offene Frage, was der Mensch ist, führt als ihre Konsequenz mit sich, dass der Mensch, um einer zu sein, sein Leben führen, sich von seiner Umwelt abgrenzen muss. Die offene Frage, wer ein Mensch ist, führt als ihre Konsequenz mit sich, dass, um Sozialität herstellen zu können, eine notwendige Unterscheidung zwischen solchen Wesen, mit denen eine personale Beziehung möglich ist und solchen, mit denen das nicht der Fall ist, getroffen werden muss. Der Blick auf die Konsequenz der jeweiligen Frage öffnet dementsprechend die Einsicht dafür, welche Funktion einer möglichen Setzung im Sinne einer positiv verstandenen Anthropologie zukommt. Bildet für die Frage danach, was der Mensch sei, Plessners Forderung danach, das Bewusstsein vom Leben her zu begreifen, den Hintergrund, so überträgt Lindemann diesen Ansatz darauf, „die moderne Form der Sozialität als eine zu verstehen, die [ebenfalls] vom Leben her [als offene Frage] aufgebaut ist“ (Lindemann 2002: 228). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Auswirkungen einer solchen Auslegung an eine veränderte Sichtweise gebunden sind, die sich folgendermaßen darstellt: An die Stelle der unreflektierten Gewissheit der menschlichen Gesellschaft bzw. des menschlichen Du oder alter Ego, das anthropozentrische Ansätze pragmatistischer, marxistischer, kritisch-marxistischer oder diskursanalytischer Provenienz auszeichnet, tritt für ein exzentrisches Selbst im Sinne Plessners die Notwendigkeit, durch Deutungen die in der Welt begegnenden Entitä-

17 „Der Rekurs auf den Menschen ist zweifach. Er lässt sich als Antwort auf zwei Fragen begreifen: Was ist der Mensch? Wer ist ein Mensch? Die erste Frage zielt auf das Wesen des Menschen, das ihm kulturübergreifend zukommt. In dieser Hinsicht hat die Soziologie maßgeblich daran mitgearbeitet, fixierte Wesensvorstellungen durch die Annahme zu ersetzen, dass Menschen sich in spezifischen historischen Situationen Ordnungen erschaffen, durch die sie das, was sie sind und wie sie sich verstehen, allererst hervorbringen. Daraus folgt: Es gibt keine überhistorischen universalen anthropologischen Wesensbestimmungen. […] Die Antwort auf die zweite Frage ist gegenwärtig identisch mit der Antwort auf die Frage, wer ein sozialer Akteur ist. In dieser Hinsicht hält die Soziologie an unexplizierten anthropologischen Annahmen fest“ (Lindemann 2002: 425).

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ten zu differenzieren. Erst durch diese Deutungen wird geklärt, mit welchen Entitäten eine soziale Beziehung möglich ist und mit welchen nicht (Lindemann 2004: 31/32).

Lindemann konstituiert die Begrenzung eines Bereichs personaler Vergesellschaftung als fundierendes Element für eine Unterscheidung von Natur und Kultur. Sie stellt in diesem Zusammenhang jedoch fest, dass die Rede von Natur und Kultur nur dann Sinn macht, „wenn im Sinne moderner Vergesellschaftungsprozesse unterstellt wird, dass der Bereich personaler Vergesellschaftung auf die Menschen beschränkt wird“ (Lindemann 2005: 75). Demgemäß beinhaltet eine reflexiv anthropologisch ausgerichtete Sichtweise eine entscheidende Erweiterung dahingehend, Positionen, die einer unverfügbaren Leiblichkeit Raum geben, zu hinterfragen. Im Zuge der Frage nach möglichen Widerstandsformen ist diese Erweiterung von Bedeutung, da der Leib innerhalb dieser Positionen „als per se kritisch und widerständig gegenüber […] technischen Machbarkeitsphanatasien“ (Lindemann 2005: 75) postuliert wird. Er fungiert somit als zentraler Ort dafür, sich gesellschaftlicher Zuschreibungen widersetzen zu können. Lindemann zufolge ist leibliche Erfahrung insofern besetzbar, als sie der sie fundierenden Grenzregulierung unterliegt, die Erfahrungsformen gemäß der angesprochenen Deutungen erst herzustellen in der Lage ist. Deshalb ist es nicht möglich, von einer Auslegung auszugehen, die über die Konstruktion des Leibes einen ursprünglich authentischen Ort bereitstellt, der deutet, was lebendig ist und was nicht. Vielmehr attestiert Lindemann ein biomedizinisches Grenzregime (vgl. Lindemann 2006: 59), das als Deutung begriffen erst den Ort des Leibes als spezifische Erfahrungsform ermittelt. Der Bezug auf den Leib eröffnet den Bezug auf eine elementare Geschichtlichkeit, die auf der Ebene des existentiell physischen angesiedelt ist. Eine Möglichkeit, den Leib in eine geschichtliche Form zu bringen, besteht darin, ihn entsprechend einem objektivierbaren Körper bzw. einem diskursiven Körperwissen zu leben. Die bislang elaborierteste Wissensform dieser Art ist das naturwissenschaftliche Körperwissen. Mit der Verbreitung dieses Wissens wird der leiblichen Erfahrung eine neue Form geboten. Diese Erfahrungsform wird dadurch verbindlich gemacht, dass sie mit dem Versprechen einhergeht, den

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Leib von seinen Leiden zu befreien. Das ist ein starkes Motiv, sich in diese Erfahrungsform zu bringen (Lindemann: 2005: 76).

Aus Sicht eines reflexiv verstandenen Anthropologieansatzes lässt sich aufzeigen, inwiefern die bloße Übertragung des Plessnerschen Doppelaspektes von Körper und Leib auf die Unterscheidung zwischen dem Leib als Inbegriff eines subjektiven Gefühlszentrums und dem Körper als Ausdruck eines gesellschaftlichen Objektes zu kurz greift, um widerständige Tendenzen herstellen, bzw. ermitteln zu können. Beispielhaft sei hier auf den Forschungsbereich Soziologie des Körpers verwiesen. Die Hauptvertreter der aktuellen Diskussionen um eine Soziologie des Körpers in Deutschland (vgl. Alkemeyer/Boschert/Schmidt/Gebauer 2003, Hahn/Meuser 2002, oder Gugutzer 2004) betonen die Individualisierung und Pluralisierung moderner Lebensstile, in dessen Kontext der Körper als entscheidendes Medium der Individuierung dargestellt wird. Vor dem Hintergrund der technischen und medizinischen Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten wird dargelegt, dass der Mensch nicht mehr länger als Gefangener eines biologischen Körpers betrachtet werden kann, der als in sich geschlossenes System aufgefasst wird. Einer solchen Perspektive wird die Unterscheidung zwischen Leib und Körper entgegengestellt, um gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Körper analysieren und problematisieren zu können. Allerdings fungiert diese Unterscheidung als direkte Gegenüberstellung von Leib und Körper und spiegelt somit eine Differenz von Natur und Kultur wider. Wie gesehen betrachtet Lindemann diese Differenz als durch das Grenzregime einer Gesellschaft untermauert. Aus diesem Grund gestaltet es sich als eine zu hinterfragende Position, wenn diese Unterscheidung für die Analyse gesellschaftlicher Tendenzen fruchtbar gemacht wird, bzw. in einem weiteren Schritt mögliche Widerstandspotentiale erarbeitet werden. Der Ansatz eines sich aus den Fängen eines geschlossenen Systems befreienden Körpers ist, auch in einer kritischen Ausrichtung, der Logik eines neoliberalen, auf Effizienz und die Sicherung einer Kontinuität der Leistungsfähigkeit ausgelegten Programms nur schwerlich entgegenzusetzen. Vielmehr lässt sich eine solche Argumentation sehr gut mit den Denk- und Handlungsstrukturen so genannter Lifestylediskurse in Einklang bringen, die die natür-

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liche Vorstellungen von Körpern aus genannten Gründen der Effizienz verabschieden und über das Sprengen so genannter natürlicher Grenzen neue Anerkennungsverhältnisse schaffen. Politische und gesellschaftliche Aspekte der Verkörperung von Subjekten werden in einer Soziologie des Körpers also weitestgehend ausgeblendet, bzw. aufgrund theoretischer Engpässe lassen sich diese erst gar nicht wahrnehmen. Eine kritische Analyse versucht, den als grenzenlos behaupteten Möglichkeiten dafür, den Körper des Menschen zu formen und zu verändern, etwas entgegenzusetzen. Allerdings verharrt dieser Versuch in der als unverfügbar konstruierten Instanz des Leibes, oder zieht sich aufgrund unklarer Positionsbestimmungen auf die Ebene eines gänzlich natürlichen Körpers zurück. Als ein Beispiel unter vielen sei die Diskussion um Phänomene wie Anti-Aging genannt. Neben der Frage und Analyse dessen, welchen gesellschaftspolitischen Entwicklungen Programme wie etwa Anti-Aging entspringen, bleibt, sofern aufgezeigte Prozesse als kritikwürdig verstanden werden, einzig der Leib als widerständige Instanz. Diese ist jedoch schwerlich von der Position des Rückzugs in eine Sphäre, die Altern als natürlichen Prozess beschreibt, zu trennen und führt demnach möglicherweise eher zur Kapitulation als zu widerständigem Handeln. Gesellschaftspolitische Dynamiken, die sich gerade anhand kaschierter Trennungen wie zwischen Körper und Leib darin zeigen, dass diese Trennungen durch eine unternehmerische Form der Selbstführung auszugleichen sind, werden nicht nur nicht berücksichtigt, sondern bilden vielmehr den Antrieb für eine vermeintlich widerständige Haltung:18

18 Das Thema kaschierter Trennungen ist hier nur angerissen, wird im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit jedoch genauer betrachtet werden, wenn es darum geht, kontrollgesellschaftliche Realitäten zu untersuchen. Im Mittelpunkt wird hierbei stehen, die Aufforderung dazu, sich auf dem Markt durch permanente Veränderung zu behaupten als einen Ansatz der Selbstoptimierung aufzuzeigen und dies anhand diverser Beispiele zu belegen. Man muss „exzellent“ sein, sich von anderen unterscheiden. Das führt zur Forderung nach Bewegung und der Sehnsucht nach Unterstützung (vgl. Die Zeit, 35/2008). Diese Sehnsucht nach Unterstützung wird durch die Einrichtung spezieller Programme aufgenommen und in betriebswirtschaftliche Ziele überführt. Die innerhalb dieser Programme eta-

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In Anbetracht der historischen Formbarkeit des Leibes leuchtet es mir nicht ein, wie er zu einem Ort des Unverfügbaren werden soll. Eher würde ich zurückfragen: Gibt es etwas Verfügbareres als den Leib, der ich bin? Statt auf den Leib würde ich politisch auf die Freiheit setzen. Damit ist die Möglichkeit gemeint, sich von sich als Leib zu distanzieren und für sich und für andere neue Formen der Erfahrung, auch der leiblichen Erfahrung, zu erfinden. Als Leiber sind wir die friedlichen Haustiere einer gesellschaftlichen Ordnung, die wir selbst geschaffen haben. Dass wir aus dem Zentrum unserer leiblichen Erfahrung herausgesetzt sind, exzentrisch sind, eröffnet dagegen Freiheitsspielräume und gibt […] eher Anlass, auf Veränderung zu hoffen und an ihnen zu arbeiten (Lindemann 2005: 76).

Eine weitere mögliche Konsequenz der von Lindemann dargestellten radikalen Entsicherung, der ebenso weit reichende Grenzsetzungen folgen, die in einer die Gesellschaft betreffenden Analyse von ihrer Meinung nach tragendem Gewicht sind, erschließt sich aus der Betrachtung der Foucaultschen Analyse moderner Machtverhältnisse. Lindemann kommentiert Foucaults Untersuchung wie folgt: Foucaults Kritik der Machtausübung arbeitet heraus, dass es prinzipiell kritikwürdig ist, normative Vorstellungen davon durchzusetzen, wie Menschen zu sein haben. Dies beinhaltet eine elegante Abkehr von humanistischen Vorstellungen über den Menschen und konstituiert zugleich die menschlichen Körper als diejenigen Körper, für die gilt, dass es kritikwürdig sei, sie mit normativen Vorstellungen zu belegen und damit notwendigerweise einer Macht zu unterwerfen. Darin steckt ein subtiles und radikales Freiheitsehtos, dessen anthropologischer Bezug verschwiegen wird. Allerdings führt die unausgesprochene Verbindung von Kritik und Analyse in schwere methodologische Probleme: Foucault blendet systematisch aus, wie der Kreis derjenigen Körper begrenzt ist, bei denen es überhaupt kritikwürdig sein soll, sie einer Machtausübung zu unterwerfen. Nur wenn es eine implizite Gewissheit hinsichtlich der Grenzen

blierten Lösungsvorschläge basieren darauf, Strategien der Vereinigung diverser als gegensätzlich konstruierter Bereiche herzustellen. Auf diese Art und Weise entstehen Dynamiken zwischen Gebieten wie Arbeit und Leben oder Forschung und Effizienz, die über eine unternehmerische Selbstführung auszugleichen und in Balance zu halten sind.

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dieses Kreises gibt, kann eine foucaultsche Machtkritik funktionieren. Die implizite Grenzziehung ließe sich nur um den Preis einer allgemeinen Ausweitung der Kritik vermeiden: Es müssten alle Körper in gleicher Weise als einer Kritik der Macht für wert befunden werden. Dann wäre es für die Kritik das gleiche Problem, wenn Läusekörper, Steine, Menschenkörper oder Mikroben zum Objekt einer Machtpraxis gemacht würden. […] Foucault kann nur deshalb Antihumanist sein, weil er zugleich naiv anthropozentrisch bleibt. Eine solche Theoriekonzeption ist für viele Probleme der Machtkritik sinnvoll, aber sie ist insgesamt nicht mehr auf der Höhe der Zeit (Lindemann 2006: 60).

Mit der Dimension der Biomacht führt Foucault eine Machttechnologie ein, die sich in zwei Polen, der Bevölkerung als politischem Gesamtkörper und der politischen Ökonomie des Individualkörpers, um den Wert des Lebens und um die materialen Voraussetzungen des Lebens zentriert. Die Biomacht tritt als eine Macht auf, die das Leben schützen und regulieren will und es somit zu ihrem zentralen Element werden lässt. „Im Gegensatz zur Souveränitätsmacht, die sterben macht oder leben lässt, lässt die neue Macht sterben und macht leben. Aus der Macht über den Tod wird eine Macht über das Leben, eine Bio-Macht, die es weniger mit Rechtssubjekten als mit Lebewesen zu tun hat“ (Lemke 1997: 135). Die Mittel, deren Entwicklung im Dienste dieses regulierenden Charakters der Macht lagen, waren auf Seiten des politischen Gesamtkörpers insbesondere demographischer Natur. Geburts- oder Sterberaten machten es möglich, ein Wissen hervorzubringen, welches unmittelbar zu greifen, spezifisch und messbar war. Neben einer Disziplinierung des individuellen Körpers hat die Biomacht also die Regulierung der Gesamtmasse zum Ziel. Es erfolgte ein Zugriff auf den gesamten Gesellschaftskörper, der vor allem dazu dient, „Regulierungsmechanismen zu errichten, die in dieser Gesamtbevölkerung mit ihrem zufallsbedingten Bereich ein Gleichgewicht fixieren, einen Mittelwert erhalten, eine Art Homöostase errichten, Ausgleiche sichern zu können. Kurz: Mechanismen um dieses Zufallsbedingte herum errichten, das einer Bevölkerung von Lebewesen innewohnt. Oder anders gesagt: das Leben optimieren“ (Foucault 1993: S. 63). Als Bindeglied zwischen individueller Disziplinierung und gesellschaftlicher Regulierung fungiert Foucault zufolge die Norm, die er als „das Element [bezeichnet], das vom Disziplinären zum Regulatori-

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schen zirkuliert, das sich in gleicher Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht, das es gestattet, zugleich die disziplinäre Ordnung des Körpers und die Zufallsereignisse einer biologischen Vielheit zu kontrollieren“ (Foucault 1993: 64). Lindemanns Kritik an Foucaults Konzept orientiert sich an der Feststellung, dass nicht geklärt sei, für welche Körper gilt, dass es kritikwürdig sei, eine Anerkennung normierender Strukturen zum Ausgangspunkt einer Subjektivierung zu erklären. Ihrer Meinung nach muss Foucault die Antwort auf diese Frage seiner Analyse voraussetzen. Demnach gilt nur für lebendige Körper, dass sie im Falle einer Machteinwirkung und deren Anerkennung gleichzeitig als soziale Person anerkannt sind. Lindemann zufolge geht durch die implizit vorausgesetzte Annahme, es handele sich bei den von der Macht adressierten Körpern um lebende Körper „der kritische Bezugspunkt verloren, wenn die machtvollen Akteure des Forschungsetablishments es zur Disposition stellen, wann das schützenswerte menschliche Leben beginnt und wann es endet“ (Lindemann 2005: 72). Daraus ergibt sich, dass sich das Konzept der Biomacht als einer „Macht über das Leben“ genau an dem Punkt einengt, an welchem es seinen Ausgang nimmt, am Leben selbst. Es ist sicherlich genauer zu untersuchen, inwiefern die produktiven Aspekte der Foucaultschen Machtkonzeption in Lindemanns Kritik ausreichende Beachtung finden, bzw. inwiefern sie diesen einen negativen Machtbegriff entgegenstellt. Foucaults Konzeption umfassender Machtkonstellationen würde auf diese Art und Weise möglicherweise selbst beschränkt, indem davon ausgegangen wird, dass es repressive Kräfte sind, die die Unterscheidung von lebenden und nicht lebenden Körpern festlegen. In diesem Sinne ist zu hinterfragen, ob ein Grenzregime wie Lindemann es beschreibt als hierarchisch geordnete Machtkonzentration ohne ein Außen zu beschreiben wäre, oder aber, ob sie davon ausgehen muss, dass ein solches, außerhalb der Macht stehend, reglementierende Aussagen darüber trifft, wie sich soziale Räume zu ordnen haben. Für den Moment möchte ich mich jedoch darauf konzentrieren, darauf hinzuweisen, inwiefern Lindemanns Konzept der aufgeworfenen Fragen zum Trotz einen entscheidenden Punkt aufwirft, der im Kontext der Auseinandersetzung um mögliche Widerstandsformen plausibel macht, welches Potential dem Begriff des Lebens zukommen kann, begreift man dieses als Feld, dessen Krä-

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fte eine Machtebene voraussetzen muss. Es geht, anstatt von einer „Macht über das Leben“ auszugehen, wie Foucault dies tut, darum, eine „Macht des Lebens“ zu erarbeiten. Inwieweit sich an dieser Stelle Parallelen zu der Theorie Deleuzes auftun, die dieses Potential schärfen können, wird im Folgenden zu klären sein.

1.2 D ELEUZES K ONZEPTION DES S CHIZO –S UBJEKTS Die Auseinandersetzung um Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität hat sich dahingehend zugespitzt, als Gesa Lindemann Plessners Theorie reflexiv interpretiert als Anti-Anthropologie darstellt (vgl. Lindemann 2004: 27). Inwieweit die Beschäftigung mit Plessner auch vor diesem Hintergrund das Feld dafür öffnet, unter der Prämisse des Menschen als offener Frage Verbindungslinien zwischen Deleuzes Theorie und Plessners Ansatz herzustellen, die sich im weiteren Verlauf der Arbeit darauf fokussieren lassen, Handlungsspielräume herauszuarbeiten, wird Thema der weiteren Betrachtungen sein. Bevor die Bereiche der Deleuzschen Theorie, die für diese Arbeit von Bedeutung sind, vorgestellt werden, wird einleitend verdeutlicht, in welcher Art und Weise das bisher Erarbeitete seinen Niederschlag im Sinne einer fortschreitenden Konkretisierung des zu behandelnden Areals finden wird. Ich möchte zunächst darauf eingehen, inwiefern sich eine an Plessner orientierte Diskussion über den Begriff der Grenze als notwendige Eigenschaft exzentrischer Positionalität in produktiver Art und Weise von Modellen absetzt, deren theoretischer Fokus darauf liegt, Begrenzungen zu überwinden, ohne dabei die Notwendigkeit einer solchen zu berücksichtigen. Grenze im Sinne Plessners rekurriert aus der grundsätzlichen Offenheit der exzentrischen Positionalität und ist als Ausgangspunkt dafür zu verstehen, als Antwort auf eine offene Frage verhandelbare Eingrenzungen in Form von Grenzregimen gesellschaftlicher wie individueller Art zu schaffen, die die Kontingenz innerhalb von Aussagen darüber, was und wer Menschen sind, herausstellen. Grundlegend hierfür ist die Feststellung, dass es sich bei der Theorie

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der exzentrischen Positionalität „um eine Theorie des natürlich-kulturellen Körpers handelt“ (Lindemann 2005: 70). Lindemann zufolge beinhaltet diese Feststellung nicht einen impliziten Rückzug auf eine als ursprünglich erachtete menschliche Natur, sondern vielmehr eine Erweiterung bisheriger Ansätze, die um eben den Begriff der Grenze kreist. Im Zuge einer Philosophie der Differenz stellt Deleuze fest, dass es eine Hierarchie gibt, „die die Wesen nach ihren Grenzen und nach dem Grad ihrer jeweiligen Nähe oder Ferne im Verhältnis zu einem Prinzip bemisst“ (Deleuze 2007: 60). Einem solchen Konzept stellt er eine Form der Hierarchie entgegen, die „die Dinge und Wesen unter dem Gesichtspunkt der Macht berücksichtigt“ (Deleuze 2007: 60). In Bezug auf die Frage danach, wie sich Deleuze Subjektivierungsweisen nähert, ist Macht unter anderem als eine Form der Macht des Sichselbst-Erschaffens zu denken. Dem Begriff der Grenze kommt in einer solchen Auslegung eine bestimmte Funktion zu. Anstatt von einer Definition auszugehen, die besagt, dass Grenzen begrenzen, bzw. Wesen dahingehend bestimmen, wie groß oder klein die Fähigkeiten derselben in Bezug auf die Bedingungen ihres Daseins sind, meint Grenze hier den für sich genommenen, notwendigen Moment jeder Ausbreitung: Aber die Grenze […] bezeichnet hier nicht mehr das, wodurch das Ding unter einem Gesetz festgehalten und begrenzt oder abgetrennt wird, sie bezeichnet vielmehr dasjenige, von dem aus es sich ausbreitet und seine ganze Macht entfaltet (Deleuze 2007: 61).

Diese Vorstellung von Macht trifft sich mit Plessner darin, Grenzen als notwendige Ansätze einer wie auch immer gearteten Ausbreitung in den Vordergrund zu stellen. Deleuze benennt Macht als „Macht des Ereignisses“, die sich insbesondere durch die Ebene, auf der sie sich ansiedelt, auszeichnet. Deleuze bezeichnet diese Ebene als Ebene der Virtualität, die er von der Ebene der Repräsentation unterscheidet. Deleuze differenziert seine Konzeption der Virtualität, als er im Zuge der Auseinandersetzung mit Foucaults Arbeiten feststellt, dass sich eine Machtform entwickelt, die es nicht zulässt, an einer Unterscheidung von Macht, die dem Ereignis entspringt und einer Form von

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Macht, die sich auf einer Ebene der Repräsentation abspielt zu unterscheiden, da sich die letztgenannte in ihrem Charakter der differenziellen Eigenart der erstgenannten nähert, ohne diese, und das ist entscheidend, vollends zu überlagern. Sowohl Plessner als auch Deleuze gehen von Verschränkungen aus, denen jeweils ein Drittes zugrunde liegt. Während bei Deleuze einer virtuellen Machtebene, die Kalkül und Vermögen, bzw. Fähigkeit zu verbinden weiß, eine spezifische Form des Werdens vorausgesetzt ist, liegt Plessners Verknüpfung eines natürlich-kulturellen Körpers die offene Frage darüber zugrunde, welche Grenzen notwendigerweise gesetzt werden, um zu klären, wer und was ein Mensch ist. Folgende Punkte erschließen sich aus der genannten Parallele: •





Beide Formen der Verschränkung lassen es nicht zu, ihre Elemente getrennt voneinander zu betrachten. Ein Modell, das, wie etwa das genannte Beispiel einer „Soziologie der Körper“, einer Seite, hier der Natur, bzw. dem Leib einen Eigensinn zuschreibt, verkennt die der Verschränkung zugrunde liegende Ebene, die ihre Existenz erst ermöglicht. Auf diesem Weg gerät ein solches Modell in theoretische Engpässe, die einem kontrollgesellschaftlichen Steuerungsmechanismus möglicherweise in die Hände spielt. Foucaults Konzept einer „Macht über das Leben“ argumentiert von einem Standort, der es aufgrund einer Omnipräsenz der Macht nur schwerlich zulässt, Möglichkeit von Widerstand plausibel darzustellen. Indem er im Zuge dieser Omnipräsenz allerdings übersieht, welches Potential einem Begriff des Lebens garantiert ist, der dieses als offene Frage konzipiert, gerät er dahingehend in Engpässe, als er sich in seinen Analysen unhinterfragt modernen Grenzregimen unterordnet. Plessner Ansatz, vor allem in der Interpretation Lindemanns und Deleuzes Konzeption einer virtuellen Machtebene eint, dass beide, aufgrund des der dargestellten Verschränkungen zugrunde liegenden Verweises auf ein jeweils vorausgesetztes Element, eine „Macht des Lebens“ postulieren. Im Gegensatz zu Foucaults „Macht über das Leben“ besteht in beiden Ansätzen die Möglichkeit, auf Machtverhältnisse aufmerksam zu machen und diese aus einem jeweils speziellen Blickwinkel heraus einer Kritik zu unter-

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ziehen. Eine auf Plessner rekurrierende Grenzregimeanalyse geht von einer „Macht des Lebens“ aus, die eine Zäsur zwar als ihre Eigenschaft hat, diese jedoch als verhandelbar aufzeigt. Deleuzes Begriff der Fliehkräfte, bzw. des Werdens weist darauf hin, dass unterschiedliche Beziehungen zwischen Machtverhältnissen und Immanenzverhältnissen bestehen, die zwar ineinander verstrickt, jedoch nicht kongruent sind. Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die Theorie Deleuzes aus dem Blickwinkel dieser „Macht des Lebens“ darzustellen und zur Klärung der hier angerissenen Begrifflichkeiten zu führen. Es soll aufgezeigt werden, welcher Perspektive zentrale Bezeichnungen wie etwa Virtualität, Fliehkraft, Werden oder Immanenz entspringen und des Weiteren, dem Titel Schizo-Subjekt gemäß untersucht werden, wo und auf welche Art die philosophische Grundhaltung Deleuzes in den Bannkreis des Lebens, das es zu leben gilt, überführt wird. 1.2.1 Die Philosophie der Differenz Das Vorhaben Deleuzes lässt sich als ein schrittweiser Versuch der Auflösung der Ontologie in Differenzphilosophie beschreiben. Schrittweise deshalb, weil die Begrifflichkeiten, die Deleuze im Laufe seines Werks gebraucht und austauscht, es nahe legen, von einer Prozesshaftigkeit auszugehen, anhand derer Deleuze sich nach und nach besagter Auflösung der Ontologie nähert (vgl. Rölli 2003: 272). Die Theorie Deleuzes unterscheidet sich grundsätzlich von Konzepten, die über die Beschreibung von Prinzipien darüber, wie sich die Wirklichkeit gestaltet, beanspruchen, Erkenntnisse außerhalb der Grenzen der sinnlichen Erfahrung zu erlangen. In Abgrenzung zu einer metaphysisch-ontologischen Ausrichtung stellt Deleuze die Frage nach den Bedingungen eines „Seins des Sinnlichen“ und umreißt damit die Ausgangsbedingungen für den Versuch, den empiristischen Ansatz des sinnlichen Erfahrens mit einer transzendentalen Ebene in Einklang zu bringen. „Welches ist das Sein des Sinnlichen? Den Bedingungen dieser Frage zufolge muss die Antwort die paradoxale Existenz eines „Etwas“ bezeichnen, das zugleich nicht empfunden (vom Standpunkt des empirischen Gebrauchs) und nur empfunden (vom

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Standpunkt des transzendenten Gebrauchs) werden kann“ (Deleuze 2007: 299). Wie ist es möglich, diese paradoxale Existenz eines „Etwas“ in den Blick zu bekommen, ohne eine der Seiten in ihrer Substanz zu beschneiden? Um diese Frage zu beantworten, geht Deleuze von der Erfahrung des Sinnlichen aus, um im Rückkehrschluss die transzendentale Form der Virtualität zu entwerfen. Die Idee des Virtuellen entspringt der Vorstellung, dass das Virtuelle als ein quasi-transzendentales gedacht ist, das Erfahrungsbedingungen definiert, die jedoch nicht als abstrakte Möglichkeiten vor aller Erfahrung liegen, sondern als wirkliche Bedingungen innerhalb derselben fungieren. Es geht Deleuze darum, den Vorwurf zu entkräften, die Existenz des „Etwas“ im Hier und Jetzt sei identisch mit dem Nichts, da es außerhalb eines Begriffs, außerhalb einer Idee liege, durch die es repräsentiert wird. Die Bedingung dafür, dieses „Etwas“ aus einem Bild des Denkens zu befreien, das durch eine vorausgesetzte Einordnung im Sinne einer Realisierung Differenzen ausschließt, orientiert sich Deleuze zufolge daran, „die Dinge als „res singulares“, also in ihrer immanenten Notwendigkeit zu denken […], statt sie als mit bestimmten Merkmalen ausgestattete Objekte zu konzipieren, die von den durch die Funktion des Subjekts zur Zusammenarbeit angehaltenen Erkenntnisvermögen konstituiert werden“ (Balke 1998: 39). Die Bedingung hierfür ist die Vorstellung, dass, der virtuellen Idee entsprechend, unendlich vielen, unendlich kleinen Prozessen der Differenzierung ein endliches, einstimmiges Prinzips des Seins zugrunde liegt. Anhand dieses einstimmigen Prinzips des Seins, das Deleuze als univokes Sein bezeichnet, lässt sich verdeutlichen, dass das Virtuelle, auch wenn es sich aktualisiert, virtuell bleibt, da es die Sphäre des univoken Seins dem Prozess der Aktualisierung zum Trotz, nicht verlässt. Im Gegenteil kann das Virtuelle also durch keine Aktualisierung ausgeschöpft werden. Die Idee des Virtuellen beschreibt die Bedingung des unendlichen Prozesses von Aktualisierungen, die das Virtuelle nie überschreiten, als quasi-transzendentales Prinzip, um die Kritik zu entkräften, Aktualisierungen des Gegebenen erschöpften sich in sich selbst. Gleichzeitig bezeichnet der Prozess der Aktualisierung erst das Außen, das das Virtuelle differenziert, um zu verhindern, dass dieses in sich selbst die

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Möglichkeit der Erfahrung in einem ursprünglichen Sinne auffinden kann. Wenn Deleuze seine Philosophie der Differenz auf den irritierenden Namen des transzendentalen Empirismus tauft, dann nicht, um den bestehenden philosophischen Schulen eine neue hinzuzufügen, die mit dem Paradox kokettiert, sondern um die Differenz dem Begriff zu entreißen und sie als jene Kraft erscheinen zu lassen, die dafür verantwortlich ist, dass sich das empirisch Gegebene nicht darin erschöpft, lediglich als es selbst gegeben zu sein und auf seine Schematisierung durch den Begriff zu warten. Der Empirismus ist transzendental, wenn er das Sinnliche aus seiner komplementären Beziehung zum Intelligiblen herauslöst und aus ihm kein neues erstes Prinzip macht. Er muss die Konstitutionsleistung des Sinnlichen selbst beschreiben, ohne zu einem konstituierenden Subjekt welcher Art auch immer Zuflucht zu nehmen (Balke 1998: 31).

Deleuzes Entwurf einer Differenzphilosophie kreist um den Begriff des Virtuellen und den ihm zugehörigen Prozess der Aktualisierung, durch welchen die Realität des Virtuellen aktualisiert wird, indem sie sich differenziert. „Die Natur des Virtuellen ist so beschaffen, dass Aktualisierung für es Differenzierung bedeutet“ (Deleuze 2007: 267). Im Unterschied hierzu bezeichnet er das Mögliche als Form, die sich im Prozess ihrer Realisierung selbst blockieren muss; Differenz bezeichnet in diesem Fall „nurmehr das durch den Begriff bestimmte Negative“ (Deleuze 2007: 268). Diese Gegenüberstellung von Virtuellem und Möglichem kennzeichnet einen entscheidenden Punkt innerhalb der Konzeption Deleuzes. Am Beispiel der Unterscheidung von Philosophie, Kunst und Wissenschaft möchte ich deutlich machen, was Deleuze meint, wenn er Virtuelles und Mögliches unterscheidet und darstellen, welche Rolle der Begriff der Unendlichkeit innerhalb dieser Unterscheidung spielt:19

19 In Bezug auf die Unterscheidung von Virtualität und Möglichkeit bezieht sich Deleuze auf Henri Bergson. Indem dieser den Vorgang der Analyse durch die Methode der Intuition zu ersetzen sucht, bzw. der Analyse vorwirft, Bewegung nur aus Punkten der Unbeweglichkeit ableiten zu können, wird Virtualität dahingehend zum Gegenstück der Möglichkeit, als

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Wenn Deleuze von einer Intensität spricht, die Kunst und Philosophie gemeinsam bestimmt, deutet er auf unterschiedliche Weisen hin, sich der Unendlichkeit zu nähern. Deleuze stellt heraus, dass sowohl die Kunst als auch die Philosophie im Gegensatz zur Wissenschaft eine Beziehung zum Unendlichen eingehen, der ihre gemeinsame Intensität entspringt. Während die Wissenschaft „auf das Unendliche [verzichtet]“ (Deleuze/Guattari 2000: 136) und durch Vorhersagen und die funktionale Beschreibung der Konsequenzen dieser Vorhersagen „eine

das Mögliche einer Unterteilung von Bewegung entspringt, die im Vorhinein getätigt wird, während das Virtuelle sich im Moment der Bewegung selbst aktualisiert: „Wir räsonieren über die Bewegung, als ob sie aus Unbeweglichkeiten zusammengesetzt wäre, und wenn wir sie betrachten, setzten wir sie aus Unbeweglichkeiten zusammen. Die Bewegung ist für uns eine Position, und dann wieder eine neue Position, usf. ad infinitum. Wir sagen uns allerdings wohl, dass da noch etwas anderes vorhanden ist, und dass zwischen den Positionen ein Übergang liegt, durch den das Intervall überbrückt wird. Aber sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf diesen Übergang richten, machen wir daraus wieder eine Reihe von Positionen, wobei wir wohl wieder anerkennen, dass zwischen zwei aufeinanderfolgenden Positionen ein Übergang angenommen werden muss. Wir verschieben aber immer wieder den Augenblick, diesen Übergang wirklich ins Auge zu fassen. Wir geben zu, dass er existiert, wir geben ihm einen Namen, und das genügt uns: nachdem das für uns in Ordnung ist, wenden wir uns den Positionen zu und ziehen es vor, uns nur um sie zu kümmern. […] Wenn die Bewegung nicht alles ist, dann ist sie nichts; und wenn unsere erste Setzung darin besteht, die Unbeweglichkeit als eine Wirklichkeit anzusehen, dann wird die Bewegung selbst zwischen unseren Fingern hindurchgleiten, wenn wir sie zu fassen glauben“ (Bergson 1993: 165). Bergson beschreibt Möglichkeit hier als das Andere, das der in Form einer durch Unbeweglichkeit gesetzten Vorstellung von Wirklichkeit entgegensteht. Dieses Andere ist demnach von der Setzung dessen, was Wirklichkeit, bzw. hier Bewegung bedeutet, abhängig. Sie wird durch weitere Setzungen unterteilt und in Wirklichkeitsmomente umgewandelt, bzw. fällt letztendlich mit dieser zusammen. Kurz, die Möglichkeit löst eine Pseudo Bewegung aus, „die falsche Bewegung der Realisierung als abstrakter Beschränkung“ (Deleuze 2007: 269).

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Wahrheit des Relativen“ (Deleuze/Guattari 2000: 151) entwirft, die zwischen zwei Augenblicken besteht, versuchen sich Kunst und Philosophie des Ereignisses, des Augenblicks als solchem zu bedienen. Fasst man Wissenschaft als Versuch, Bewegung zu definieren, so wird Deleuze zufolge deutlich, dass sich eine solche Definition durch den Vorgang des Verzögerns auszeichnet: „Verzögern heißt, eine Grenze im Chaos zu ziehen, die von allen Geschwindigkeiten unterschritten wird, so dass sie eine als Abszisse bestimmte Variable bilden, während die Grenze zugleich eine universale Konstante bildet, die man nicht überschreiten kann“ (Deleuze/Guattari 2000: 136/137). Physikalische Hypothesen, wie z.B. die von Einstein gesetzte Grenze der Lichtgeschwindigkeit, die besagt, dass nichts schneller als Licht sein kann, gelten dann als absolute Gewissheiten, wenn sie dazu ausreichen, alles, was wir sehen, zu beschreiben. Für diese Beschreibung sind Funktionen zuständig. Mit ihrer Hilfe wird Geschwindigkeit als vom Grenzwert der Lichtgeschwindigkeit abhängig errechen- und damit fassbar. Bewegung, d.h. in diesem Fall die Geschwindigkeit von Veränderung, drückt sich in der Annäherung, dem Abstand von dieser Grenze aus, die jedoch nie überschritten werden kann. Geschwindigkeit wird demnach zunächst durch einen Grenzwert verzögert, um dann unendlich beschleunigt werden zu können, unendlich nah an den Grenzwert, an die ursprüngliche Verzögerung heran. Die Möglichkeiten der Annäherung, die Möglichkeiten dazu, Geschwindigkeit zu verwirklichen, sind demnach unendlich, obwohl sie in Abhängigkeit eines Grenzwerts erst entstehen können. Gemessen wird hier die Zeit zwischen zwei Augenblicken in Abhängigkeit zu einem Grenzwert. Die Zeit zwischen zwei Augenblicken unter bestimmten Bedingungen, die deshalb absolut sind, da andere Bedingungen, andere Grenzwerte nicht erzeugt werden können. Im Rahmen dieser Bedingungen lassen sich die Zeitabschnitte zwischen zwei Augenblicken immer wieder, unendlich oft unterteilen. Unendlich und 0 sind demnach die wichtigsten Zahlen der Mathematik, die selbst als Funktion der physikalischen Hypothesen beschrieben werden kann. Sie zeigen die paradoxale Beschreibungsform an, mit der Bewegung zwar als unendlich teilbar, als unendliche Relation begreifbar wird, obwohl sie notwendigerweise zuvor unter ein absolutes Gesetz gestellt wird, an einem Nullpunkt ausgerichtet ist.

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Bergson kritisiert diese Bestimmung der Relation unter absoluten Bedingungen, da sie seiner Meinung zufolge nachzuahmen versucht, was an sich bereits absolut ist: Durch eine tief eingewurzelte Illusion unseres Geistes, und weil wir nicht umhin können, die Analyse als gleichwertig mit der Intuition anzusehen, beginnen wir damit, im Verlauf der Bewegung eine gewisse Anzahl von Ruhepunkten zu unterscheiden, aus denen wir wohl oder übel Teile der Bewegung machen. Angesichts unserer Unfähigkeit, die Bewegung aus solchen Punkten zusammenzusetzen, schieben wir neue Punkte dazwischen und glauben also, die Beweglichkeit in der Bewegung immer enger zusammenzudrängen. Da die Bewegung uns dann immer noch entgleitet, substituieren wir einer endlichen und bestimmten Anzahl von Punkten eine unendlich wachsende Zahl und versuchen so […] mit der Bewegung unseres Gedankens in einer endlosen Addition die wirkliche und unteilbare Bewegung des Dinges nachzuahmen (Bergson 1993: 204).

Bergson stellt der so von ihm beschriebenen wissenschaftlichen Analyse, dem Versuch einer Definition von Bewegung, die Intuition gegenüber und unterscheidet zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Einheit zwischen zwei Augenblicken.20 Während es innerhalb

20 Bergson veranschaulicht den Unterschied von gradueller Unterscheidung und Wesensunterscheidung anhand des Paradoxon von Achilles und der Schildkröte: „Achilles, so sagt man, wird niemals die Schildkröte erreichen, die er verfolgt, denn wenn er den Punkt erreicht hat, den die Schildkröte gerade verlassen hat, hat diese Zeit gehabt, weiterzulaufen, und so ad infinitum. […] Bitten wir nun Achilles, seinen Lauf zu kommentieren, denn wird er ohne Zweifel folgendes antworten: Zeno will, dass ich mich von dem Punkte, an dem ich bin, zu dem Punkte hinbegebe, den die Schildkröte verlassen hat, und von diesem wieder zu dem Punkte, den sie danach verlassen hat, usw. So stellt er sich meinen Lauf vor. Aber ich gehe bei meinem Lauf ganz anders zu Werke: ich mache einen ersten Schritt, dann einen zweiten und so fort, und schließlich, nach einer gewissen Anzahl von Schritten mache ich einen letzten, durch den ich die Schildkröte einhole. Ich vollziehe so eine Reihe von unteilbaren Akten. Mein Lauf ist die Reihe dieser Akte. Soviel Schritte er umfasst, soviel Teile kann ich da-

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eines mathematischen Gebildes darum geht, graduelle Unterschiede zwischen zwei Punkten zu bestimmen, die sich im Streben gegen 0 unendlich unterteilen lassen, bestimmt Bergson qualitative Unterschiede über das Erleben einer Dauer, die sich intuitiv unterteilen lässt, ohne jedoch jemals objektiv bestimmbar zu sein. Während Veränderung einmal durch stetes Unterteilen, durch stetes Hinzufügen unbeweglicher Punkte definiert werden soll, legt Bergson den Fokus auf die unmittelbare Wahrnehmung des Vollzugs einer Bewegung. Auf die Wahrnehmung dessen, was zwischen zwei unteilbaren Akten passiert. Obwohl Bergson die Zeit zwischen zwei Augenblicken mit Erleben füllt und diese somit als unteilbare Akte konstruiert, konstatiert Deleuze, dass er „den Bereich der Funktionen noch nicht hinter sich lässt“ (Deleuze/Guattari 2000: 184). Das intuitive Erleben Bergsons ist diesem Zitat zufolge ebenso eine Form der Verzögerung, „eine Zeitlupe“ (Deleuze/Guattari 2000: 136), die die Differenz zwischen zwei Punkten in Veränderung übersetzt, indem sie an einer Grenze, in diesem Fall an der Grenze subjektiver Wahrnehmung ausgerichtet wird. Differenz ist hier, genauso wie in der mathematischen Grenzwertanalyse ein Bruch innerhalb der Bewegung zwischen zwei Punkten; obwohl die Art und Weise der Übersetzung dieses Bruchs, entweder als intuitiver, nicht teilbarer oder aber als unendlich teilbarer Akt unterschiedlich verläuft, verschließen sich beide Modelle dem singulären Ereignis, das einer Differenz, einer Veränderung entspringt, sobald diese sich der „Kraft der Verknüpfungsweise“ (Ziemer 2008: 28) zwischen den es bedingenden Augenblicken öffnet.21 „Zwischen zwei

bei unterscheiden. Aber du hast nicht das Recht, ihn nach einem anderen Gesetz zu unterteilen, noch anzunehmen, dass er auf eine andere Art gegliedert ist“ (Bergson 1993: 164/ 165). 21 vgl. hierzu Deleuze: „Der Repräsentant sagt: Alle Welt anerkennt, dass…, aber es gibt stets eine nichtrepräsentierte Singularität, die nicht anerkennt, eben weil sie nicht alle Welt oder das Universale ist. Alle Welt anerkennt das Universale, da sie ja selbst das Universale ist, das Singuläre aber erkennt es nicht an, das tiefe sinnliche Bewusstsein nämlich, das jedoch des-

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Augenblicken befindet sich [dann] nicht mehr die Zeit, vielmehr ist das Ereignis selbst eine Zwischen-Zeit“ (Deleuze/Guattari 2000: 184). Differenz ist nicht mehr gebunden, nicht durch Grenzen definiert. „Stattdessen bringt der Zwischenraum, der sich auf dem Weg vom einen zum anderen eröffnet, das Ereignis in einer Bewegung hervor und verletzt dabei den Zustand subjektiver Identität“ (Ziemer 2008: 28). Das Ereignis unterscheidet sich von der Verzögerung, der Zeitlupe, der Funktion durch die Kraft der Verknüpfung, die im Unterschied zur Übersetzung verlangt, das auszuhalten, was passiert, anstatt zu beschreiben, inwieweit irgendetwas von irgendetwas anderem abhängt. Im Gegensatz zur Wissenschaft agieren Kunst und Philosophie, so wie Deleuze sie versteht, mit der Unendlichkeit. Ähnlich der Wissenschaft schneiden sie das Chaos. Allerdings nicht durch eine Grenze, die es ermöglicht, Referenz zu erzeugen, indem sich etwas dieser Grenze zwar annähern, sie aber nie überschreiten kann, sondern, indem sie Begriffe, Affekte und Perzepte entwickeln, mit Hilfe derer sie das Unendliche zu durchqueren suchen. Kunst und Philosophie nehmen sich das Recht, ohne Zielvorgaben zu arbeiten. Sie stellen dar, was jenseits aktueller Möglichkeiten liegt.

sen Unkosten tragen soll. Das Unglück beim Sprechen besteht nicht im Sprechen, sondern darin, für die anderen zu sprechen oder etwas zu repräsentieren. Das sinnliche Bewusstsein (d.h. das Etwas, die Differenz) bleibt verstockt. Man kann stets vermitteln, zur Antithese übergehen, die Synthese arrangieren, die These aber folgt nicht, verharrt in ihrer Unmittelbarkeit, in ihrer Differenz, die an sich die wahre Bewegung vollzieht. Die Differenz ist der wahre Inhalt der These, die Eigensinnigkeit der These. Das Negative, die Negativität fängt nicht einmal das Phänomen der Differenz ein, sondern erhält bloß deren Phantom oder Epiphänomen […]. Dies ist es, was die Philosophie der Differenz zurückweist: omnis determinatio negatio… Man weist die allgemeine Alternative der unendlichen Repräsentation zurück: entweder das Unbestimmte, das Indifferente, das Undifferenzierte, oder eine bereits als Negation bestimmte Differenz, die das Negative impliziert und umhüllt (damit weist man auch die besondere Alternative zurück: Negatives der Beschränkung oder Negatives des Gegensatzes). Die Differenz ist ihrem Wesen nach Gegenstand von Bejahung, Bejahung selbst“ (Deleuze 2007: 79).

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Ihre Fragen richten sich an das zugrunde Liegende; sie versuchen sich dem Abstrakten zu nähern, um das Konkrete als nicht weiter konkretisierbares in den Blick zu bekommen: Es geht um die Existenz selbst. Immer wenn wir das Problem in den Begriffen des Möglichen und des Realen stellen, werden wir genötigt, die Existenz als pures Auftauchen, reinen Akt und Sprung zu begreifen, der stets hinter unserem Rücken geschieht, dem Gesetz von allem oder nichts unterworfen. Welcher Unterschied kann dabei zwischen dem Existierenden und Nicht-Existierenden bestehen, wenn das Nicht-Existierende bereits möglich, im Begriff aufgesammelt ist, und zwar mit allen Merkmalen, die ihm der Begriff als Möglichkeit zuschreibt? (Deleuze 2007: 268)

Dem Möglichen stellt Deleuze das Virtuelle gegenüber, das dem Realen nicht gegenübersteht, sondern vielmehr volle Realität durch sich selbst besitzt (vgl. Deleuze 2007: 267). Im Gegensatz zur Existenz, die aus dem Möglichen erwächst, indem dieses sich notwendigerweise selbst blockiert, ist das Virtuelle „das Kennzeichen der Idee; ausgehend von seiner Realität wird die Existenz hervorgebracht, und zwar gemäß einer Zeit und einem Raum, die der Idee immanent sind“ (Deleuze 2007: 268). Das Virtuelle überschreitet das von außen herangetragene Maß, jedes bloß Gesollte, da es „reine Wirkung ist“ (Balke 1998: 36). Deleuze dreht den Prozess des Möglichen, also seine Realisierung dahingehend um, als das Virtuelle dem Aktuellen zugrunde liegt. Der Prozess ist die Differenzierung. Das Virtuelle bezieht sich demnach auf ein Außen, auf einen Moment der Aktualisierung, der für das Virtuelle eine Differenzierung bedeutet. „Jede Differenzierung ist eine lokale Integration, eine lokale Lösung, die sich mit anderen in der Gesamtheit der Lösung oder in der globalen Integration zusammenfügt“ (Deleuze 2007: 267).22

22 vgl. hierzu Badiou: „Ein bestimmter Organismus ist eine Differenzierung des anorganischen Lebens, ein schöpferischer Elan, der zugleich durch die eigene Virtualität vor ein zu lösendes Problem gestellt wird: ‚Der Organismus wäre nichts, wenn er nicht die Lösung eines Problems wäre, ebenso jeder seiner differenzierten Teile, wie etwa das Auge, das ein Licht-

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Deleuze hält in diesem Zusammenhang fest, dass es, um eine solche Sichtweise einnehmen zu können, darauf ankommt, sein durch und zu ersetzen. So weit gehen und sein (est) durch und (et) ersetzen: A und B. Und es ist dabei keine besondere Relation oder Konjunktion, es ist, was in allen Relationen mitschwingt, die Straße aller Relationen, es ist, was die Relationen außerhalb ihrer Glieder wie deren Gesamtheiten, außerhalb auch all dessen davonziehen lässt, was als Sein, Eines oder Ganzes bestimmt werden könnte. Das Und als extra-sein, intra-sein. Die Relationen können sich noch zwischen zwei Gliedern oder Mengen festsetzen, beide verbindend, doch das Und gibt den Relationen eine andere Richtung, lässt Glieder wie Mengen auf der von ihm geschaffenen Fluchtlinie entfliehen. Mit Et denken statt Est, für Est denken – dies war und ist das ganze Geheimnis des Empirismus (Deleuze 1980: 64).

Anstatt also, wie etwa Heidegger dies beschreibt, die Dinge nicht nur als Gegebene und Vorhandene, sondern auch als Zuhandene, dem Dasein dienliche anzusehen, d.h. davon auszugehen, dass es Prinzipien gibt, denen zufolge die Beziehung zwischen den Dingen deren Sein oder aber das Sein des Betrachters beeinträchtigt wird, orientiert sich Deleuze, den Empiristen folgend, am bloß Gegebenen. „Die Relationen sind ihren Gliedern äußerlich. Peter ist kleiner als Paul, Das Glas steht auf dem Tisch – die Relation ist weder einem der Glieder, das dann Subjekt wäre, inhärent, noch beiden gemeinsam. Mehr noch, eine Relation kann sich verändern, ohne dass sich deren Glieder verändern“ (Deleuze 1980: 62). Das bedeutet, so Deleuze weiter, dass das Glas sich auch dann nicht verändert, wenn man es vom Tisch stellt. „Die Idee des Glases wie die des Tisches, die beiden wirklichen Glieder der Relation bleiben davon unberührt“ (Deleuze 1980: 62). Der Prozess der Ziellosigkeit als Ziel, innerhalb dessen mit Et anstatt Est gedacht wird, spiegelt Deleuzes Entwurf des Transzendentalen Empirismus (vgl. Deleuze 2007: 186) wider. Das nicht mehr weiter Konkretisierbare ist hier reine Wirkung, Unendlichkeit im Gegebenen.

Problem löst (Deleuze 2007: 267). Jede Schöpfung ist also auch eine Lösung“ (Badiou 2003: 73).

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In Bezug auf die Grenzthematik wird nun deutlich, wie Deleuze sein Konzept der Ausbreitung von Vermögen und Fähigkeiten mit dem Begriff der Grenze verbindet. Es ist das Paradox des Transzendentalen Empirismus, das sich im Phänomen der Grenzziehung, die nicht der Abtrennung, sondern der Ausbreitung dient, zu erkennen gibt. Es geht darum, durch Grenzsetzungen, durch das Unmittelbare, Grenzen zu überschreiten und auf diesem Wege hierarchische, an einem Prinzip ausgerichtete Einordnungen von Vermögen zu sprengen: „die Hybris ist nicht länger bloß verdammenswert, und das Kleinste gleicht nun dem Größten, sobald es nicht mehr von dem, wozu es fähig ist, abgeschnitten ist“ (Deleuze 2007: 60/61). In der Art und Weise, in der das Unendliche entweder als Produkt eines Grenzwertes, der einer Hypothese entspringt, wahrgenommen wird und somit eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten beschreibt, oder aber sich selbst im nicht mehr zu Konkretisierenden darstellt, unterscheidet Deleuze die beiden Bedeutungen, in welchen das Sinnliche beschrieben werden kann. Zum einen, wenn von Affektion die Rede ist, begreift Deleuze das Sinnliche als etwas, das gegenständlich bezogen und subjektiv erlebt werden kann. Um auf das Beispiel der Lichtgeschwindigkeit zurückzukommen, ist eine zu messende, eine anhand eines Grenzwertes gemessene Geschwindigkeit das, was empfunden wird. Als Gesetz der Geschwindigkeit reicht der Grenzwert der Lichtgeschwindigkeit aus, um alles, was empfunden werden kann, zu beschreiben. In diesem Fall ist das Empfundene ein Objekt, das aufgrund seiner Identitätsform zwar auch anders erfahren werden könnte, das jedoch letztendlich an spezifische Bedingungen gebunden ist, die es als solches erst sichtbar, d.h. empfindbar werden lassen. Zum anderen, wenn von der transzendentalen Form die Rede ist, erhält das Sinnliche eine einzigartige Bedeutung, weil es nur und ausschließlich in Affekten erfahren werden kann (vgl. Rölli 2008a). In der Verbindung eines transzendentalen Empirismus versucht Deleuze ein „Sein des Sinnlichen“ zu bestimmen, das „die Wirklichkeit einer spezifischen Aktualität“ beschreibt, „die dem Begriff äußerlich bleibt, der die Vergleichbarkeit aller Aktualisierungen garantiert“ (Balke 1998: 44). Affekte affizieren, bevor sie vermittelt werden. Das bedeutet, dass Deleuze die transzendentale Form des Affektes auf ein Außen bezieht, das dieses als Vermögen erfahrbar werden lässt, ohne es

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gleichzeitig an einem Prinzip auszurichten, das eine bestimmte Erfahrungsform nach sich zöge. Affekte unterscheiden sich von Repräsentationen also dadurch, nicht auf Gegensätzlichkeiten, nicht auf die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgebaut zu sein. Affekte sind unabhängig vom Zustand derer, die sie empfinden, unabhängig von den Bedingungen, die diese Zustände produzieren. Sie tauchen auf, plötzlich und unvermittelt. Das Paradox, dass Affekte als das nicht mehr zu Konkretisierende verstanden werden, das sich aus sich selbst heraus darstellt, löst Deleuze durch den Begriff der Univozität des Seins. Der Hintergrund für die Notwendigkeit dieses Konzepts bezieht sich auf die Frage, wie es möglich ist, dass die Vermögen, die Affekte sich ausbreiten können, ohne durch ein Prinzip eingegrenzt zu werden, ohne in ihrer Gleichheit beschnitten zu werden. Wenn Ziellosigkeit an Unendlichkeit gebunden ist, anstatt von vorn herein als Ziel angegeben zu werden, muss eine spezifische Seinsvorstellung existieren, die ein Denken des Unendlichen jenseits der Konstruktion desselben zulässt. Gleichzeitig ist diese Unendlichkeit daran gebunden, bzw. Ausdruck dessen, was passiert, Ausdruck einer Empfindung, Ausdruck eines Affekts. Wie Deleuze diesem Paradox begegnet, wird des Weiteren auszuführen sein. Das univoke Sein In diesem Kapitel werde ich darauf eingehen, auf welchen Voraussetzungen das „Sein des Sinnlichen“ in kritisch ontologischer Hinsicht aufbaut und präzisieren, welches der Hintergrund, das „umhüllende Maß“ (Deleuze 2007: 61) ist, das der Theorie der Differenz zugrunde liegt. „Univozität des Seins heißt nicht, dass es ein einziges und selbes Sein gäbe: Alles Seiende ist im Gegenteil vielfach und different, immer von einer disjunktiven Synthese hergestellt, es ist selbst disjunkt und divergent, membra disjuncta“ (Deleuze 1993a: 223). Anstatt also das Subjekt ontologisch zu isolieren und auf diese Weise ein mehrdeutiges Verständnis des Seins zu beanspruchen, begreift Deleuze das Seiende als Modalität des Einen, das als solches keine Beziehung zu irgendetwas anderem unterhält (vgl. Badiou 2003: 113). „Das gleiche Sein ist in allen Dingen unmittelbar gegenwärtig, ohne Vermittler, oh-

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ne Vermittlung, obwohl sich die Dinge auf ungleiche Weise in diesem gleichen Sein aufhalten“ (Deleuze 2007: 61). Im letzen Abschnitt wurde die Thematik der Univozität des Seins kurz umrissen, als dargelegt wurde, dass den unendlich vielen, unendlich kleinen Augenblicken der Aktualisierung ein endliches Prinzip des Seins zugrunde liegt, das als paradoxes Element „die Gleichheit all dessen, was ungleich ist und nicht aufhört, immer ungleicher, immer diverser, immer singulärer zu werden garantiert“ (Balke 1998: 48). Zur Verdeutlichung dessen führt Deleuze das Beispiel eines Raumes an und zeigt auf diese Art und Weise inwiefern die unerschöpfliche Realität des Virtuellen, die sich immer wieder differenziert, gebunden ist an die bloße Präsenz des undifferenzierten, univoken Seins: Einen Raum ausfüllen, sich in ihm aufteilen, ist sehr verschieden von einer Aufteilung des Raums. Jenes ist eine umherschweifende und gar wahnsinnige Verteilung, in der sich die Dinge über die ganze Ausdehnung eines univoken und ungeteilten Seins hinweg ausbreiten. Es teilt sich nicht das Sein gemäß den Erfordernissen der Repräsentation auf, vielmehr verteilen sich in ihm alle Dinge in der Univozität der bloßen Präsenz (das All-Eine). Eine derartige Verteilung ist eher dämonisch als göttlich; denn die Besonderheit der Dämonen besteht darin, dass sie in den Zwischenräumen zwischen den Aktionsfeldern der Götter wirken, über die Barrieren oder Umzäunungen springen und die Besitztümer in Unordnung bringen (Deleuze 2007: 60).

Während im Beispiel der Lichtgeschwindigkeit das Sein, also das, was wir sehen, beschreibbar wird, indem sich alles, was ist, unterhalb des Grenzwertes aufhält, geht Deleuze mit seiner Konzeption der Univozität des Seins davon aus, dass sich durch die unendliche Anzahl sich aktualisierender Affekte, die dem All-Einen zufällig, d.h. ziellos entspringen, eine sich ebenso unendlich differenzierende Form des Seins, ein sich immer und immer wieder neu ergebendes Ausfüllen desselben ergibt: „Die Differenzen kreisen um sich selber und das Sein, das sich in gleicher Weise von allen aussagt, ist nicht mehr die Einheit, die sie führt und ordnet, sondern die Wiederholung der Differenzen als Differenzen“ (Foucault 1977: 45). Das Ziel Deleuzes ist es, aufzuzeigen, dass die unendlich vielen, unendlich kleinen Augenblicke der Aktualisierung des Virtuellen not-

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wendigerweise, um der Reglementierung von Außen zu entgehen, von der Vorstellung getragen werden müssen, dass sie das Sein, an dem sie partizipieren, gleichzeitig herstellen, indem sie es differenzieren. Es geht ihm darum zu zeigen, dass einer Unendlichkeit von Möglichkeiten im Gegensatz hierzu etwas Endliches zugrunde liegen muss, dass das, was nicht sein kann, ausschließt. Das Ausschließen des Unmöglichen begründet demnach im Fall der Repräsentation, die sich an zuvor getroffenen Vorhersagen ausrichtet, erst die Ausbreitung unendlicher Möglichkeiten.23 Deleuze zufolge kann Differenz, sobald sie in einem Verhältnis zum Möglichen steht, nur das durch einen Begriff bestimmte Negative der Realisierung bezeichnen. Einer unkritischen ontologischen Setzung entsprechend bezeichnet Differenz hier die Unterscheidung zwischen

23 vgl. hierzu Deleuze: „Die Repräsentation hat nur ein einziges Zentrum, eine einzige und fliehende Perspektive und eben damit eine falsche Tiefe; sie vermittelt alles, aber mobilisiert und bewegt nichts. Die Bewegung ihrerseits impliziert eine Pluralität von Zentren, eine Überlagerung von Perspektiven, ein Gewirr von Blickpunkten, eine Koexistenz von Momenten, die die Repräsentation wesentlich deformieren: Bereits ein Gemälde oder eine Skulptur sind derart deformierend und zwingen uns zur Bewegung, d.h. zur Kombination eines streifenden Blicks mit einem eindringenden Blick, zum Auf und Ab im Raum, während man voranschreitet. Genügt eine Multiplikation der Repräsentation, um einen derartigen Effekt zu erhalten? Die unendliche Repräsentation umfasst eben eine Unendlichkeit von Repräsentationen, sei es, dass sie die Konvergenz aller Blickpunkte in demselben Objekt oder derselben Welt garantiert, sei es, dass sie aus allen Momenten die Eigenschaften desselben Ichs macht. Aber sie bewahrt damit ein einziges Zentrum, das alle anderen sammelt und repräsentiert, und zwar als eine serielle Einheit, die ein für alle Mal die Terme und ihre Verhältnisse ordnet und organisiert. Das rührt daher, dass die unendliche Repräsentation nicht trennbar ist von einem Gesetz, durch das sie ermöglicht wird: durch die Form des Begriffs als Identitätsform, die bald das Ansich des Repräsentierten (A ist A), bald das Fürsich des Repräsentanten (Ich = Ich) bildet. Das Präfix RE im Wort Repräsentation meint diese begriffliche Form des Identischen, die sich die Differenzen unterwirft“ (Deleuze 2007: 83).

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Sein und Nicht-Sein, die zur Folge hat, dass zwischen Möglichem, Wirklichem aber auch Unmöglichem differenziert wird, bzw. eine Grenze gezogen werden kann. Das Mögliche, das in der Mitte dieser Anordnung steht, blockiert sich selbst, indem es sich realisiert. Da es in diesem Moment nicht mehr möglich, sondern real ist, aber nicht alles zunächst Mögliche real wird, bzw. sein kann, folgt eine weitere Differenzierung, die das Nicht-sein-Könnende, das Unmögliche hervorbringt. Die Hierarchie, die hier auftritt, bemisst sich nach dem Grad der Nähe oder Ferne im Verhältnis zu einem Prinzip (vgl. Deleuze 2007: 60). Entweder sind die Möglichkeiten dahingehend blockiert als sie nun realisiert dem untergeordnet werden können, was zuvor als Sein vorhergesagt wurde, oder aber sie verschwinden in der Unmöglichkeit des Nicht-sein-Könnens. Das univoke Sein hingegen zeigt drei Bestimmungen, anstatt der einen, die durch Differenz zu den anderen hervortritt, einen Vorrang zuzusprechen: „Kurz, die Univozität des Seins zeigt drei Bestimmungen: ein einziges Ereignis für alle; ein einziges und selbes aliquid für das, was geschieht, und das, was gesagt wird; ein einziges und selbes Sein für das Unmögliche, das Mögliche und das Wirkliche“ (Deleuze: 1993a: 224/ 225). In diesem Sinne ist es Oberfläche dafür, zuzulassen, bzw. erkennbar werden zu lassen, dass die Überschreitung von Grenzen nicht in die Unmöglichkeit, nicht in das Nicht-sein-Könnende führt, sondern in das Neue, das die Spielräume der Erwartungen zu erwietern im Stande ist und somit seine ganze Macht entfaltet: Dieses umhüllende Maß ist für alle Dinge dasselbe, dasselbe auch für die Substanz, die Qualität, die Quantität usw., denn es bildet das alleinige Maximum, an dem die entwickelte Verschiedenheit aller Grade an die Gleichheit rührt, die sie umhüllt. Dieses ontologische Maß steht der Maßlosigkeit der Dinge näher als dem ursprünglichen Maß; diese ontologische Hierarchie steht der Hybris und der Anarchie der Wesen näher als der ursprünglichen Hierarchie. […] Das gleiche Sein ist in allen Dingen unmittelbar gegenwärtig, ohne Vermittler, ohne Vermittlung, obwohl sich die Dinge auf ungleiche Weise in diesem gleichen Sein aufhalten. Alle stehen in absoluter Nähe zueinander, und zwar dort, wohin die Hybris sie treibt […] keines von ihnen partizipiert mehr oder weniger am Sein oder erhält es durch Analogie zugesprochen (Deleuze 2007: 61).

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Das univoke Sein als umhüllendes Maß ist Deleuze zufolge zwar Eines, doch ist es, da es als ursprüngliche Differenz gedacht ist zugleich (Nicht)-Sein. D.h., das Sein hat durch die Univozität den Charakter des Einen, und zugleich als disjunktive Synthese, als teilende Zusammensetzung, den Charakter des Mannigfaltigen. Dieses Paradox erklärt sich aus der Umhüllung der erwähnten Formen des Virtuellen und seiner jeweiligen Aktualisierung. Es wurde gezeigt, dass das Virtuelle eines Außen bedarf, das es temporalisiert, das es als unmittelbares Vermögen auslegt, bevor dieses in einem Subjekt oder Objekt vermittelt wird. Dieser Bezug auf ein Außen ist zunächst nicht zu verwechseln mit der Repräsentation des Vermögens durch die Vorherrschaft eines aktuellen Repräsentationsmodells. Ein solches würde dafür sorgen, dass die Virtualität als eine realisierte Möglichkeit begrenzt würde. Vielmehr kann dieser Bezug auf ein Außen aus einer Faltung des Seins heraus verstanden werden, durch welche eine Beziehung zwischen Beschreibung und Sein aufgelöst wird, indem die Repräsentation sich innerhalb des Paradoxes von Sein und (Nicht)-Sein auflöst.24 Das Sein faltet sich und ist gleichzeitig Wiederholung dieser Faltungen im Sinne einer fortgeführten Differenzierung. Noch tiefer gesehen ist es das Sein (Platon sagte: die Idee), das dem Wesen des Problems oder der Frage als solcher korrespondiert. Es gibt gleichsam eine Öffnung, ein Aufklaffen, eine ontologische Falte, die das Sein und die Frage aufeinander bezieht. In diesem Bezug ist das Sein die Differenz selber. Das Sein ist ebenso Nicht-Sein, aber das Nicht-Sein ist nicht das Sein des Negativen, vielmehr das Sein des Problematischen, das Sein des Problems und der Frage. Die Differenz ist nicht das Negative, vielmehr ist es das Nicht-Sein, das

24 vgl. Deleuze: „Man erhält also das definite Unmittelbare als Sub-Repräsentatives nicht dadurch, dass man die Repräsentationen und Blickpunkte multipliziert. Im Gegenteil schon jede Teilrepräsentation muss deformiert, umgelenkt, aus ihrem Zentrum gerissen werden. Jeder Blickpunkt muss selbst das Ding sein, das Ding zum Blickpunkt gehören. Das Ding darf also nichts Identisches sein, muss vielmehr in einer Differenz zerteilt werden, in der die Identität des gesehenen Objekts wie des sehenden Subjekts schwindet“ (Deleuze 2007: 83).

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die Differenz ist. […] Darum müsste das Nicht-Sein eher (Nicht)-Sein oder noch besser ?-Sein geschrieben werden (Deleuze 2007: 93).

Inwieweit das (Nicht)-Sein als virtueller Untergrund des Seins fungierend, (Nicht)-Sein bleibt, obwohl es gleichzeitig nur als Resultat einer Faltung des Seins wahrgenommen werden kann, die im Umkehrschluss erst durch das (Nicht)-Sein ermöglicht wird und auf welche Art und Weise sich Deleuze im Kontext des Begriffes der Falte dem Bereich der Subjektivierung nähert, soll im nun folgenden Kapitel erläutert werden. Inhaltlich orientiert sich Deleuze im Rahmen seiner Ausarbeitungen zum Thema der Subjektivierung zu Teilen an Michel Foucaults macht- und subjekttheoretischen Konzeptionen, die in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung für Deleuze darstellen. Zum einen stellt sich im Rahmen des bisher dargelegten die Frage, wie das Verhältnis zwischen virtuellen Prozessen und derer Aktualisierungen zu denken ist, wenn, wie Foucault es darlegt, von einer produktiven Macht auszugehen ist, die sich in diffusen, mikrophysikalischen Verhältnissen darstellt und somit selbst auf einer virtuellen Ebene zu verorten wäre. Zum anderen rückt in diesem Zusammenhang die Frage nach Möglichkeiten des Widerstands in den Blickpunkt der Deleuzschen Arbeit. Da die Theorie Foucaults hier nicht in der ihr gebührenden Ausführlichkeit dargestellt werden kann, soll versucht werden, einige grundlegende Fragestellungen Foucaults, die einen konkreten Einfluss auf die Arbeit Deleuzes haben, in die Darstellung einzubeziehen, um auch anhand der Unterschiedlichkeit der Antworten, die beide Theoretiker auf diese Fragestellungen entwerfen, die weitere Entwicklung des Deleuzschen Werkes nachzeichnen zu können. Zum Begriff der Falte Deleuze versteht das Modell der Univozität des Seins als ein einziges und selbes Sein für das Unmögliche, das Mögliche und das Wirkliche. Es wurde dargelegt, dass er über die Auslegung des Virtuellen als dem Aktuellen zugrunde liegenden aufzeigt, dass es für ein Seiendes gleich welcher Art ausgeschlossen ist, sich eine endgültige Form zu geben (vgl. Balke 1998: 31). Um dem Virtuellen seinen notwendigen Bezug

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zu einem Außen zu garantieren konzipiert Deleuze das Prinzip der Falte, das als Subkonzept seiner sich in Entwicklung begriffenen Differenztheorie zu verstehen ist. Durch die Faltung des Seins öffnet sich ein Innen und ein Außen innerhalb desselben, das das Sein in dem Sinne differenziert, als der Punkt, an dem die Innenseite mit der Außenseite korrespondiert, als Grenze einen spezifischen Moment gleichzeitigen Seins und (Nicht)Seins konzipiert. Badiou fasst diese Anordnung in Anlehnung an ein gefaltetes Blatt wie folgt zusammen: „Wenn Sie ein Blatt falten, so bestimmen Sie eine Knickstelle […], die die gemeinsame Grenze von zwei Abschnitten des Blattes bildet, trotzdem aber (schwarz auf weiß) keine Markierung auf dem Blatt ist. Denn die Knickstelle als Grenze erweist sich für das Blatt als reines Außen, als das, was in seinem Sein die Bewegung des Blattes selbst ist“ (Badiou 2003: 126). Im Kontext der Faltung des Seins betrachtet Deleuze zunächst, auf welche Art und Weise sich Subjektivierung im Kontext moderner Machtverhältnisse darstellt. Die Auseinandersetzung mit Foucault führt ihn dazu, die Frage zu untersuchen, wie eine produktive, an Foucault orientierte Form der Machtausübung, mit seinen bisherigen Ausführungen zusammengeführt werden kann. Der Hintergrund dieser Fragestellung ergibt sich aus dem entwickelten Modell des Virtuellen, das der Aktualität zugrunde liegt. Diesem Modell folgend ergibt sich unter dem Aspekt der machttheoretischen Konzeption Foucaults die Problematik, ob das Aktuelle in seinen Strukturen möglicherweise in einem Sinne festgelegt ist, als diese Macht ausüben, indem sie dasjenige, was sich der vorgegebenen Norm nicht fügt, ausschließen, bzw. nicht wahrnehmen können (vgl. Rölli 2008a). Die Frage ist demnach, wo Machtausübung zu verorten ist? Ist diese in die strukturellen Verhältnisse des Virtuellen eingeschrieben, oder verformt sie diese möglicherweise in einer Art Umkehrschluss? Foucault zufolge ist unter Macht folgendes zu verstehen: Die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten –

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oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern (Foucault 1983: 113).

Foucault geht von einer produktiven Form der Macht aus. Deleuze erkennt in Foucaults Ausführungen eine virtuelle Machtebene, die in produktiver Art und Weise ein Möglichkeitsfeld schafft, das sich stetig zu verändern weiß. Durch verschiedene, miteinander kommunizierende Hypothesen und deren Grenzwerte wird ein Netz gespannt, das sich Foucault zufolge aus Macht und Wissensformen selbst entwickelt. Die hier tätigen Formen des Seins bezeichnet Deleuze als Sciest, Wissen-Sein und Posset, Macht-Sein (vgl. Deleuze 1995: 160). Innerhalb eines solchen Kräfteverhältnisses wird Subjektivität Foucaults Frühwerk zufolge aus dem Geflecht der bestehenden Anordnungen von Macht und Wissen konstituiert. Deleuze bemerkt, dass es, seinem Konzept der singulären Vermögen entsprechend, neben der aus Macht/Wissen Konstellationen ermöglichten Weise der Subjektivierung noch etwas anderes geben muss, etwas, das sich als Einzigartiges, von diesen Konstellationen Gelöstes darstellen lässt. Deleuze erkennt neben den hier tätigen Formen des Seins, Wissen und Macht, eine dritte Gestalt, die er als ontologische Falte bezeichnet: Es ist die Falte des Seins, die als dritte Gestalt auftritt […]: dann bildet das Sein nicht mehr ein Sciest, noch ein Posset, sondern ein Se-est, insofern die Falte des Außen ein Selbst konstituiert und das Außen selbst ein koextensives Innen. Es musste die geschichtet-strategische Verflechtung durchqueren, um zur ontologischen Falte zu gelangen (Deleuze 1995: 160).

Das Außen als Ebene des (Nicht)-Seins, sorgt dafür, dass die Vermögen, die Affekte, über das sie konstituierende System hinausschießen können und dementsprechend von diesem nie vollends erfasst werden. Deleuze deutet an, dass das Sein, um zu besagter ontologischen Falte gelangen zu können, die geschichtet-strategische Verflechtung des Macht/Wissen Feldes durchqueren muss und lenkt die Diskussion da-

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mit auf die Frage zurück, wo Machtausübung lokalisiert ist und welchem Typ sie entspricht. Er äußert sich folgendermaßen: Auf welche Weise war diese neue Dimension [die ontologische Falte] gleichwohl von Anfang an präsent? Bis jetzt sind wir bereits drei Dimensionen begegnet: den formierten, formalisierten Beziehungen der Schichten (Wissen), den Kräfteverhältnissen des Diagramms (Macht) und der Beziehung zum Außen, dieser absoluten Beziehung […], die zugleich Nicht-Beziehung ist (Deleuze 1995: 134).

Die von Deleuze angesprochene absolute Beziehung, die zugleich Nicht-Beziehung ist, bezieht sich, dem Gebrauch des Wortes „absolut“ zufolge, auf die Sphäre des (Nicht)-Seins, die dem Sein zugrunde liegt. Demgemäß ist davon auszugehen, dass das Sein neben dem es konstituierenden Wissen/Macht-Geflechts gleichzeitig als das von Deleuze beschriebene ?-Sein erscheint. Auf die Frage der Machtausübung zurückkommend, kann somit festgehalten werden, dass die an diesem ?-Sein partizipierenden Seienden nicht durch die einer produktiven Macht entspringende Weise der Subjektivierung festgelegt werden können. Es muss innerhalb jeder Festlegung des Seienden als Subjekt oder Objekt etwas existieren, das, wie und wo Machtausübung sich auch ansiedelt, die Beziehung des quasi-festgelegten zu seinem (Nicht)-Sein thematisiert, bzw. zum Ausdruck bringt. Deleuze beschreibt einen solchen Vorgang als ein Sich-durch-sich- affizieren, das er durch und in der ontologischen Falte begründet sieht. Im Vorgang der Faltung wird das Außen, hier also das (Nicht)Sein als Grenze gewahr, „als äußerster Horizont von dem aus das Sein sich faltet“ (Deleuze 1995: 159). Eine Praxis innerhalb dieses Modells, d.h. die Konstitution von etwas Seiendem, die Konstitution der Vermögen, wird von Deleuze nur dann anerkannt, wenn sie paradox ist. Wenn etwas Seiendes als Seiendes festgestellt wird, unterhält es keine Beziehung zu der einem Seienden innewohnenden Grenze des Außen. Wenn etwas jedoch als (Nicht)-Seiendes verstanden wird, ist es Nicht-Seiend. Deleuze zufolge muss das Seiende gleichzeitig sein und (Nicht)-sein, um als solches anerkannt zu werden. Seiner Meinung nach lässt sich der Moment dieser Beziehung zwischen Sein und (Nicht)-Sein als ein Sich-durch-sich-Affizieren darstellen: „Die Gren-

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ze affiziert hier das Außen nicht mehr, sie ist eine Falte des Außen. Sie ist Selbst-Affektion des Außen (oder der Kraft, was dasselbe ist“ (Badiou 2003: 126). Wie bereits zu Beginn der Darstellung des differenzphilosophischen Ansatzes Deleuzes erwähnt, orientiert sich dieser seit Beginn seiner Analysen an der Frage der Bedingung der Ausbreitung von Macht im Sinne der Macht eines Sich-selbst-Erschaffens, eines Werdens. Deleuzes Konzeption des Werdens trifft sich mit Foucaults Konzept der Macht, als beide, in der Möglichkeit der ontologischen Faltung oder aber in der als Doppelbewegung von Unterwerfung und Freiheitspraktiken entworfenen Weise der Subjektivierung Potenziale dafür erkennen, „Widerstandsformen gegen Formen der Subjektivierung“ (Pieper 2007: 220) entwickeln zu können, ohne das Subjekt notwendigerweise als substanziell zu betrachten. Indem Foucault dafür plädiert, dass wir „das, was wir sein könnten ausdenken und aufbauen“ (Foucault 1994: 250) müssten, inauguriert er keineswegs die Fiktion des autonomen Subjekts und das Modell einer absoluten Freiheit. Die kreative Produktion neuer widersetzlicher Subjektivierungsweisen findet auf dem Terrain etablierter Kräfteverhältnisse und Wissensproduktionen statt. Zugleich markiert sie jedoch eine „Fluchtlinie“ (Deleuze 1991: 155), indem sie sich allen vorangegangenen Linien zu entziehen sucht und als eine Art „Mehrwert“ (Deleuze 1991: 156) gleichsam den äußersten Rand des Dispositivs beschreibt. In diesen Randgängen aktualisiert sich ein „Werden“ und ein „Anders-Werden“ (Deleuze 1991: 160) Die Subjektivierungslinie beinhaltet das Movens der Verschiebung und Transformation von Dispositiven sowie die Chance, „Bruchlinien“ (Deleuze 1991: 160) zu präparieren (Pieper 2007: 220).

Die Absicht Foucaults „eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (Foucault 1994: 243) erweitert sich erst in seinem Spätwerk dahingehend, Subjekte nicht ausschließlich als durch Machtverhältnisse konstituiert, sondern ebenfalls als „aktive, Macht ausübende und zur Selbstführung fähige Subjekte“ (Pieper 2007: 219) anzuerkennen. Innerhalb der Doppelbewegung von Unterwerfung und Selbstführung liegt Foucaults Schwerpunkt jedoch auf den Unterwerfungsprozessen. Lemke bemerkt in diesem Zusammenhang „dass die-

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ser Doppelcharakter von Subjektivierung als Unterwerfung und Selbstkonstitution […] an keiner Stelle wirklich konkretisiert wird, sondern im Gegenteil der Akzent einseitig auf den Unterwerfungsprozessen liegt“ (Lemke 1997: 114). Pieper bemerkt, dass bei Foucault „dem sozialen Leben bereits immer ein überschüssiges Moment innewohne, das […] als Stützpunkt eines widerständischen Potentials [dient]“ (Pieper 2007: 221), das sich Foucault zufolge allerdings auf der Basis eines durch Machtverhältnisse konzipierten Netzes ohne Außen bildet. Während Foucaults Ansatz von einer umfassenden Konstellation moderner Macht ausgeht, beginnt Deleuze seine theoretische Entwicklung im Kontext der differenziellen Theorie der Vermögen. Die diesem Kontext zugrunde liegende Sphäre des univoken Seins ermöglicht es, eben die Konkretisierung von Formen der Selbstkonstitution vorzunehmen, die Lemke innerhalb der Arbeit Foucaults vermisst. Im Fokus der in sich verschachtelten Strategie moderner Machtverhältnisse, insbesondere im Kontext der verflüssigten Formen kontrollgesellschaftlicher Prägung, werfen Foucaults späte Schriften über die Ästhetik der Existenz bzw. die Ethik der Selbstsorge einige Fragen, bzw. zentrale Kritikpunkte auf, die darum kreisen, inwiefern seine hier vorgestellten Konzepte über das Subjekt möglicherweise dem postfordistisch neoliberalen Dauerplädoyer für Eigenverantwortung im Sinne des Selbstmanagements in die Hände spielen und für eine Verschränkung seiner kritisch intendierten Ethik mit einer kapitalistischaffirmativen Doktrin sorgen. Die Konzeption von Bruchstellen, die sich aus den in Beziehung zueinander stehenden modernen Machtsystemen ergeben und eine Subjektivierungsweise implizieren, die Foucault als Herrschaft über sich selbst erarbeitet, ist dahingehend beschränkt, als sie keine ausdrückliche Möglichkeit beinhaltet, strategische Brüche von widerständischen Momenten zu unterscheiden. In anderen Worten ist es fraglich, wo sich in Foucaults Ausführungen ein Kriterium finden lässt, das eine solche Unterscheidung ermöglichen würde. Da sich seine späten Analysen über die Thematik der Subjektkonstitution im Kontext der Frage nach Widerstandmöglichkeiten befinden, beschreibt die übergeordnete Problematik das Paradox, wie sich Widerstand ohne Halt, d.h. ohne eine zu ortende Position, aus der heraus dieser stattfinden sollte, denken lassen kann, bzw. wie Foucault

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eine solche Form anvisieren kann, ohne der Gefahr ausgeliefert zu sein, durch eine solche zum Spielball machtstrategischer Überlegungen zu werden? Zwar befindet sich auch Deleuzes, im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Foucault um eine virtuelle Machtebene erweiterte Theorie der differenziellen Vermögen nicht außerhalb der Machtverhältnisse, von wo aus sich Widerstand ereignen und formen könnte, doch eröffnet sein Ansatz die Möglichkeit, den globalen Strukturen der Kontrolle eine immanente, selbst virtuelle Ebene vorauszusetzen. Deleuze äußert sich hierzu folgendermaßen: Für mich gibt es kein Problem eines Stellenwertes der Widerstandsphänomene: Da die Fluchtlinien die primären Determinationen sind, da das Begehren das gesellschaftliche Feld zusammenfügt, sind es eher die Dispositive der Macht, die von diesen Gefügen hervorgebracht werden und die Gefüge zugleich eindämmen oder erdrücken (Deleuze 1996: 29).

Inwieweit Deleuzes Konzept der immanenten Fluchtlinien in direktem Zusammenhang mit der ontologischen Faltung steht, die Deleuze zwar auf das Spätwerk Foucaults bezieht, die gleichzeitig jedoch eine von Foucault unterschiedene Sichtweise präsentiert, soll des Weiteren dargestellt werden. Das Konzept der ontologischen Faltung soll daraufhin überprüft werden, inwieweit es eben nicht einen Übergang von einem Zustand in den anderen meint, sondern als Kreuzungspunkt von Verknüpfungen zu verstehen ist. Im Gegensatz zu einer Vorstellung von Differenzierung, anhand derer Dinge daraufhin überprüft werden können, inwieweit etwas von etwas anderem abhängt, bezeichnet das Konzept des univoken Seins die Notwendigkeit des Prozesses einer unendlichen Differenzierung des Seins, dem das Paradox folgt, gerade aufgrund der Unendlichkeit des Prozesses einen Nachbarschaftsbereich zweier Punkte aushandeln zu können, der nicht weiter zu differenzieren ist. Dieses Verhältnis ist eine Mitte, ein Zwischenraum, indem man es nicht mehr mit dem einen oder dem anderen zu tun hat. Anstatt etwas durch etwas anderes zu beschreiben, beispielsweise anstatt Geschwindigkeit durch ihre Nähe oder Ferne zur Grenze der Lichtgeschwindigkeit wahrzunehmen, anstatt die Differenz von einem Punkt zu einem anderem zu

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messen, und diesen Vorgang unendlich zu wiederholen, agiert die sich aus der Unendlichkeit ableitende nicht mehr zu differenzierende Faltung als Mitte ohne übergeordnete Instanz: „Die Linie ist nicht die Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern der Punkt ist der Kreuzungspunkt mehrerer Linien. […] Genauso zählen nicht Anfang und Ende, sondern die Mitte. Dinge und Gedanken sprießen von der Mitte aus, und genau da muss man hingehen, da faltet es sich“ (Deleuze 1993: 233). Die Unendlichkeit der Differenzierbarkeit des Seins ermöglicht demnach erst die Faltung, bzw. lässt sie notwendig werden. In diesem Sinne ist die Faltung „subrepräsentativ, weil sie sich nicht über Gegensätze zeigt, sondern als produktiver Entwurf“ (Ziemer 2008: 30). Diese Ableitung, diese Abkopplung gilt es in dem Sinne zu verstehen, in dem der Bezug zu sich Unabhängigkeit gewinnt. Es ist, als ob die Beziehungen des Außen sich falteten, sich krümmten, um eine Doppelung zu bewirken und einen Bezug zu sich entstehen zu lassen, um ein Innen zu konstituieren, das sich in einer ihm eigentümlichen Dimension vertieft und entwickelt. […] Was […] von dort herstammt, ist ein Bezug der Kraft auf sich, eine Kraft, sich selbst zu affizieren, ein Sich-durch-sich-Affizieren (Deleuze 1995: 139/140).

Badiou beschreibt die Grenze, die als Falte gedacht ist, als den weitest reichenden Moment der Intuition. „Das heißt, dass wir nun endlich zu dem Punkt gelangen, an dem die Disjunktion als bloße Modalität des Einen intuitiv erfasst wird: Die gemeinsame Grenze der heterogenen Kräfte, welche die Objekte oder die Formen absolut veräußerlichen, ist die eigentliche Handlung des Einen als Auffassung des Selbst“ (Badiou 2003: 126). Es wurde gezeigt, dass Deleuze die Praxis der Konstitution eines Selbst an das Paradox knüpft, gleichzeitig zu sein und zu (Nicht)-sein. Intuition kann in diesem Zusammenhang demnach nicht so verstanden werden, als dass der Vorgang der Faltung ihr zufolge einen zielgerichteten Vorgang bezeichnen würde, sondern meint vielmehr genau den Moment der Faltung selbst, den Moment, in dem sich die Univozität des Seins als Oberfläche einer Neuschöpfung zeigt, die sich jedoch

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nicht in sich erschöpft, sondern zu immer wieder neuen Verknüpfungen führt.25

25 Badiou stellt den hier gewählten Begriff der Intuition in einen direkten Zusammenhang mit Bergson und konstatiert damit in Bezug auf die Faltung eine direkte Verbindung zwischen Deleuze und Bergson, die meiner Meinung nach jedoch auf einer anderen Ebene zu finden ist. Deleuze bezieht sich vor allem hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dem Möglichen und dem Virtuellen auf Bergson. In Bezug auf den Begriff der Intuition stellt sich für Deleuze jedoch eine Problematik dar, die er folgendermaßen erläutert: „Die Seele des Mechanismus sagt: Jede Differenz ist graduell. Die Seele der Qualität antwortet: Überall gibt es Wesensdifferenzen. Dies aber sind falsche Seelen, Komparsenseelen, Komplizenseelen. Nehmen wir die berühmte Frage ernst: Besteht eine Wesens- oder eine Graddifferenz zwischen den graduellen Differenzen und den Wesensdifferenzen? Weder das eine noch das andere. Die Differenz ist graduell nur in der Ausdehnung, in der sie sich expliziert; sie ist wesentlich nur unter der Qualität, durch die sie in dieser Ausdehnung verdeckt wird. Zwischen den beiden gibt es alle Grade der Differenz, unter allen beiden gibt es das ganze Wesen der Differenz: das Intensive. […] Wir müssen zwei Ordnungen von Implikationen oder Degradation unterscheiden: eine sekundäre Implikation, die den Zustand bezeichnet, in dem die Intensitäten von den Qualitäten und der Ausdehnung umhüllt sind, durch die sie expliziert werden; und eine primäre Implikation, die den Zustand bezeichnet, in dem die Intensität an sich selbst, als umhüllende und umhüllt zugleich impliziert wird. Eine sekundäre Degradation, in der sich die Intensitätsdifferenz tilgt, wobei das Oberste mit dem Untersten zusammentrifft; und ein primäres Degradationsvermögen, in dem das Oberste das Unterste bejaht. Die Illusion ist eben die Verschmelzung dieser beiden Instanzen, dieser beiden Zustände, des äußerlichen und des innerlichen. Und wie könnte sie unter dem Gesichtspunkt des empirischen Gebrauchs der Sinnlichkeit vermieden werden, wo dieser doch die Intensität nur in der Ordnung der Qualität und der Ausdehnung zu fassen vermag?“ (Deleuze 2007: 303/ 304) Die Intuition als empirischer Gebrauch des Sinnlichen, als dessen Funktion, ist dieser Aussage zufolge zwangsläufig an eine primäre Festlegung verschiedener Arten der Wahrnehmung gebunden und vollzieht demzufolge eine sekundäre Implikation. Intensität, Bewegung kann mit Hilfe des Begriffs

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Werden ist keine intentionale Tätigkeit, sondern eine nicht-intentionale Bewegung, die zwar im Subjekt geschieht, jedoch nicht vollumfänglich von diesem gesteuert werden kann. Vielmehr geschieht dieses Werden durch mannigfaltige äußere Einflüsse, die zu bestimmen nicht dem Subjekt obliegt. Im Modus des permanenten Werdens nimmt das Subjekt diese Einflüsse jedoch wahr und macht sie zur Dimension seiner sprachlichen Begriffsschöpfungen. […] Durch die spezifische Form des sinnlichen Werdens geht der Affekt über einen gefühlten Erlebniszustand hinaus […]. Affekte entstehen dann, wenn wir etwas wahrnehmen, das sich nicht in unsere subjektiv bekannte Gefühlspalette […] einordnen lässt und deshalb dazu auffordert, neue Ordnungen zu benennen (Ziemer 2008: 27).

Die Linie des Außen, die, wenn sie gefaltet wird ein Innen herbeiführt, das der von Ziemer angesprochenen neuen Ordnung entspricht, äußert

der Intuition demnach nur auf einer Oberfläche stattfinden, die durch eine vorherige Prämisse gebildet wurde. Intuition ist somit als eine Art Vermittlerin tätig. Als Vermittlerin, die zwischen den Ebenen der Qualität und der Ausdehnung agiert und diese Ebenen zu verknüpfen sucht. Intuition ist der Gebrauch, die Übersetzung und Vermittlung zwischen den zuvor differenzierten Ordnungen. Im übertragenden Sinne ist die Intuition die Vermittlerin zwischen den Sphären der Ermittlung und der Wahrnehmung des Seins. Deleuze bemerkt, dass Bergson seinen Begriff der Dauer dem Werden gegenüberstellt (vgl. Deleuze 2007: 302). Die Dauer als qualitative Form der Ausdehnung ist Deleuze zufolge jedoch daran gebunden, „der Qualität eine Tiefe [zuzuschreiben], die […] die der intensiven Quantität ist“ (Deleuze 2007: 302). Diese intensive Quantität lässt sich als Werden darstellen, das sich, anders als die Dauer, die auf einen Läufer angewiesen ist, der sie durchläuft, durch sich selbst differenziert. Nichts desto trotz ist der Begriff der Intuition an dieser Stelle angebracht, um den weiteren Weg Deleuzes, seine schrittweise Auflösung der Ontologie in Differenzphilosophie nachzeichnen zu können. Insbesondere der Begriff des Werdens ist durch die Behauptung einer Univozität des Seins nur schwerlich von einer intuitiven Vorgehensweise, wie Badiou sie behauptet zu trennen, so dass weitere Schritte im Deleuzschen Werk an dieser Problematik abgehandelt werden können.

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sich Deleuze zufolge darin, dass „sie uns in eine unerträgliche Atmosphäre fortreißt, in der man nicht atmen kann“ (Deleuze 1993: 160). Um auf ihr unterwegs sein zu können, muss man „eine lebbare Zone schaffen, in der man unterkommen, trotzen, Halt finden, atmen – kurz: denken kann“ (Deleuze 1993: 161). Diese lebbare Zone erklärt das Paradox des gleichzeitigen Seins und (Nicht)-Seins. Zu einer Realisierung derselben gehört es wie gesagt, eine Grenze zu setzen, die es überhaupt erst ermöglicht, dem sich Konstituierenden eine Form zu geben, eine Zone herzustellen. Wäre die Konstituierung des Selbst in einen unendlichen Prozess eingelassen, so würde diese ihren paradoxalen Charakter verlieren und im Gegenteil, entweder dadurch festgestellt werden, als dieser Prozess nicht intuitiv, d.h. in gesteuerter Art und Weise zu einem Ende gebracht würde, oder aber, in praktischer Hinsicht, d.h. auf die Praxis bezogen, nicht als Prozess der Konstitution eines Selbst anerkannt werden könnte. Die Entscheidung, den Prozess des Affizierens irgendwann durch sich selbst, durch das Sichdurch-sich-affizieren in dem Sinne zu begrenzen, als die Intuition, der Affekt, in eine nicht festzustellende paradoxale Form gebracht wird, beschreibt demnach eine Notwendigkeit. Es gilt eine Regel aufzustellen, die dafür sorgt, einen Handlungsspielraum sowohl begrenzen als auch fokussieren zu können und die gleichzeitig dafür sorgt, diese Regel ständig zu überschreiten. Die Intuition, durch die diese Grenze gleichzeitig gesetzt und wahrgenommen werden kann ist demnach als in sich einmalige Form, als das Innen des Außen präsent und ermöglicht, bzw. benötigt es, sich dieser Einmaligkeit zum Trotz zu wiederholen, neue Verknüpfungen einzugehen. 1.2.2 Der organlose Körper Wie zu Beginn des letzten Kapitels angedeutet, lässt sich Deleuzes Vorhaben als ein Versuch der schrittweisen Auflösung der Ontologie in Differenzphilosophie beschreiben. Im Zuge dieses Versuchs lässt er, wie Rölli bemerkt, den Begriff der Univozität des Seins im Laufe seines Werks zugunsten einer Seinsauffassung in reiner Immanenz fallen (vgl. Rölli 2003: 272). Deleuzes Bemühen im Rahmen der Auseinandersetzung mit Foucault einen Weg dafür aufzuzeigen, die Schichten der vielfältigen Ver-

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flechtungen von Macht und Wissen durchqueren zu können, um zu besagter dritter Gestalt, der ontologischen Falte zu gelangen, erfährt im Zuge der beginnenden Zusammenarbeit mit Felix Guattari eine Wendung, als nun die Thematik des Begehrens in den Blickpunkt seiner Auseinandersetzungen rückt. Im Kontext dieser Wendung löst zunächst das Konzept des organlosen Körpers, später der Begriff des einen Lebens die Vorstellung des univoken Seins ab. Den Hintergrund dieser Ablösung bildet die Entwicklung hin zu besagtem Modell einer immanenten Seinsauffassung, die im Folgenden in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden soll, bevor konkret auf das Konzept des organlosen Körpers eingegangen werden kann. Die Darstellung dieser Entwicklung im Werk Deleuzes und ihre Anwendung auf das Konzept der Falte hilft gleichzeitig, die zuvor aufgestellte These, dass Deleuze im Vergleich zu Foucault eine andere Vorstellung darüber hat, welchem Feld eine Faltung entspringt, zu präzisieren, um diese Unterschiede für die Frage nach Handlungsmöglichkeiten innerhalb moderner Machtverhältnisse fruchtbar zu machen. Deleuze arbeitete im Kontext der Falte die Möglichkeit einer Existenzweise heraus, die sich wie folgt darstellt: „Das ist Subjektivierung: der Linie eine Krümmung [zu]geben, sie dazu [zu] bringen, dass sie auf sich selbst zurückführt, oder die Kraft, dass sie sich selbst affiziert. Dann werden wir die Mittel haben, das zu leben, was sonst unlebbar wäre“ (Deleuze 1993: 164). Das von Deleuze hier angesprochene erst lebbar werdende, etwas, das zuvor unlebbar war, unterstreicht die Bedeutung des Modells der Univozität des Seins, das sich als „einziges und selbes Sein für das Unmögliche, das Mögliche und das Wirkliche“ (Deleuze 1993a: 225) aussagt. Die Form einer ontologischen Faltung beschreibt auf der Grundlage dieser Seinsvorstellung das durch strategische Zonen und Schichten des Macht/Wissens erst als solches möglich werdende Sein des Unmöglichen, des (Nicht)Sichtbaren aus seiner Unmöglichkeit, bzw. Unsichtbarkeit zu befreien. Epistemologie und Ontologie stehen sich hier in der Art und Weise gegenüber, als das Unmögliche aus ontologischer Sicht unmöglich, aus epistemologischer Sich jedoch möglich ist, da es keine absolute Gewissheit darüber geben kann, dass etwas unmöglich ist. Es ist unmöglich zu wissen, dass etwas unmöglich ist. Das univoke Sein fungiert in diesem Zusammenhang als Organisationsform, bzw. als Ober-

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fläche dafür, über ontologische Faltungen, festgestellte, als unmöglich erfahrbar gewordene Seinsformen lebbar, bzw. sichtbar werden zu lassen. Foucault äußert sich zu der Thematik des univoken Seins wie folgt: „Die Differenzen kreisen um sich selber und das Sein, das sich in gleicher Weise von allen aussagt, ist nicht mehr die Einheit, die sie führt und ordnet, sondern die Wiederholung der Differenzen als Differenzen“ (Deleuze/Foucault 1977: 45). Allerdings, und hier zeigt sich der ontologische Untergrund, den Deleuze zu umgehen versucht, ist es, um etwas wiederholen zu können, nötig, von einer Begrenzung auszugehen, einer Form, die es erst ermöglicht, wiederholt zu werden. Wenn das Sein die Wiederholung von Etwas ist, etwas aber nur wiederholt werden kann, wenn es begrenzt ist, einen Körper hat, muss das Sein die Differenz begrenzen und ihr eine Form geben. Diese Form bezeichnet besagte ontologische Falte. Deleuze und Guattari entwickeln ein Konzept der Deontologisierung derselben, das darin besteht, dass eine immanente Seinauffassung die Organisation eines solchen Körpers nun in die Praktiken einer sich immer wieder neu ordnenden immanenten Ebene überträgt, die aufgrund ihres tieferliegenden Niveaus keinerlei Referenzen nach außen im Sinne eines (Nicht)-Seins, bzw. eines sich faltenden Außens aufweisen muss.26 Marc Rölli stellt fest, dass die „Philosophie der Univozität für die immanente Beschreibung der Selbstorganisation der Erfahrung den Boden [bereitet], nachdem sie die ontologischen Illusionen des metaphysisch infiltrierten Gemeinsinns zunichte gemacht hat“ (Rölli 2003: 271). Deleuze selbst äußert sich zu dem hier angesprochenen Gemeinsinn wie folgt: Im Gemeinsinn wird Sinn nicht mehr für eine Richtung gebraucht, sondern für ein Organ. Man nennt ihn gemeinen, weil es sich um ein Organ, eine Funktion, ein Identifikationsvermögen handelt, das jedwede Mannigfaltigkeit auf die

26 Diese Entwicklung im Werk Deleuzes geht mit der zuvor angesprochenen Problematik eines intuitiven Vorgehens einher. Um die Abwendung von Bergsons Modell der Dauer hin zu einem Begriff des Werdens zu vollziehen, ist es notwendig, sich von Modellen des Seins, die die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Ermittlung und Wahrnehmung desselben implizieren, zu verabschieden.

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Form desselben bezieht. […] Subjektiv subsumiert der Gemeinsinn unterschiedliche Fähigkeiten der Seele oder differenzierte Organe des Körpers und bezieht sie auf eine Einheit, die Ich zu sagen vermag: Es ist ein einziges und selbes Ich, das wahrnimmt, sich vorstellt, sich erinnert, weiß usw.; und das atmet, das schläft, das geht, das isst…Außerhalb eines solchen Subjekts […] scheint die Sprache unmöglich. Objektiv subsumiert der Gemeinsinn die gegebene Verschiedenartigkeit und bezieht sich auf die Einheit einer besonderen Objektform oder einer individualisierten Weltform: Es ist dasselbe Objekt, das ich sehe, das ich rieche, das ich schmecke, das ich berühre, dasselbe, das ich wahrnehme, das ich mir vorstelle und an das ich mich erinnere…und ich atme, ich laufe, ich wache oder schlafe in derselben Welt, wenn ich entsprechend den Gesetzen eines bestimmten Systems von einem Objekt zum anderen übergehe. Auch da scheint die Sprache außerhalb solcher Identitäten, die sie bezeichnet, unmöglich (Deleuze: 1993a: 105).

Die von Rölli beschriebene metaphysische Aufladung des Gemeinsinns erklärt sich im Gegensatz zu der von Deleuze entwickelten ontologischen Falte aus einer epistemologischen Matrix, derzufolge jede Vorstellung, die als wirklich bzw. möglich erscheint, impliziert, dass ein erkennendes Subjekt anwesend ist. Das Ontologische erscheint dem Epistemologen demnach als das Wahrscheinliche, bzw., das Mögliche. Die Vorstellung, dass etwas ohne erkennendes Subjekt existiert, gerät auf diese Weise zum Trugbild, weil die Vorstellung von etwas gleichgesetzt ist mit der Vorstellung subjektiver Erkenntnis. In der Art, in der eine ontologisch-metaphysische Ebene dem Epistemologen notwendigerweise als Ebene des Möglichen dient, bzw. mit dieser gleichgesetzt wird, verliert etwas Unmögliches durch die Möglichkeit der Festlegung als eben solches die nötige, der subjektiven Erkenntnis entspringende Sinnhaftigkeit dafür, „etwas zu sein“. Eben diese Sinnhaftigkeit verfestigt sich Deleuze zufolge innerhalb des angesprochenen Gemeinsinns und zeigt sich als die von Rölli erwähnte ontologische Illusion. Diese Illusion, die in der Gleichsetzung der epistemologischen mit einer ontologischen Ebene besteht, aus der heraus von besagter epistemologischen Matrix zu sprechen ist, versucht Deleuze über das Konzept der Univozität des Seins zu brechen. Allerdings bleibt dieses Konzept einer ontologischen Ausrichtung verhaftet, die zwar nicht mehr der epistemologischen Matrix entspringt, aber

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dennoch eine Beziehung von etwas Werdendem auf das Eine voraussetzt. Indem die Schichten und Zonen des Macht/Wissens erst durchlaufen werden müssen, um die neue, nicht epistemologische, sondern ontologische Gestalt der Falte zu erreichen, orientiert sich der von Deleuze geschilderte Prozess des Werdens zunächst daran, etwas neues zu werden, etwas anderes, als es die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten erkenntnistheoretischer Justierung vorgeben. Sinn und Ereignis werden in einer Art und Weise miteinander verknüpft, die eine wechselseitige Beziehung herstellt, die Deleuze, wie gezeigt wurde, als disjunktive Synthese, als teilende Zusammensetzung beschreibt. Als selbes Sein für das Unmögliche, das Mögliche und das Wirkliche hebt die Vorstellung der Univozität des Seins die Notwendigkeit eines vorausgesetzten Subjektes auf, das einem Ereignis Sinnhaftigkeit zuschreibt, ohne jedoch die Notwendigkeit einer Beziehung von Werden und Sein, Ursache und Wirkung vollends überwinden zu können, da diese völlige Überwindung die Gefahr der Untätigkeit und Bewegungslosigkeit nach sich zöge (vgl. Agamben 1998: 94). Zwar beschreibt diese Beziehung eine jeweilige Wiederkehr des Nicht-Gleichen, in welcher sich die Elemente dieser Wiederkehr immer aufs Neue auflösen und neu zusammensetzen, doch erhält sich ein die Wiederkehr antreibendes Austauschverhältnis, das Deleuze in eine Ebene reiner Immanenz überführt. Auf Nietzsche rekurrierend äußert sich Deleuze bezüglich dieser Wiederkehr folgendermaßen: Das Viele ist nicht mehr dem Urteil des Einen unterworfen, und das Werden nicht mehr dem Sein. Aber Sein und Eines tuen gut daran, ihren Sinn zu verlieren; sie bekommen dabei einen neuen. Denn jetzt bezeichnet sich das Eine als Vieles, insofern es Viele (Splitter und Fragmente) sind; das Sein begreift sich als Werden, insofern es jetzt wird. […] Es ist nicht das Gleiche, was wiederkehrt, da ja die Rückkehr die ursprüngliche Form des Gleichen ist, das sich nur als Verschiedenes, Vieles und Werden bezeichnet (Deleuze 1965: 37/38).

Um sein Vorhaben einer Auflösung der Ontologie in reine Differenzphilosophie voranzutreiben, um der Gefahr zu entgehen, eine Beziehung zwischen dem Vielen und dem Sein voraussetzen zu müssen, um

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dem Wagnis einer sich aus der „Verabsolutierung der Univozität“ (Agamben 1998: 94) ableitenden Bewegungslosigkeit zu entgehen, arbeitet Deleuze in seinen späteren Werken zusammen mit Felix Guattari am Konzept einer „immanente Ursache“ (Agamben 1998: 94). Ziel ihrer Studien ist es, die Oberfläche dafür, Erfahrungen im Sinne von Ereignissen verstehen zu können, anstatt als eine ontologische als immanente, selbstreferentielle Ebene darstellen und entwickeln zu können. Im Kontext der Univozität des Seins wurde davon ausgegangen, dass die Univozität das Sein empor hebt, es extrahiert, „um es besser von dem zu unterscheiden, dem es zustößt, und dem, wovon es sich sagt. Sie entreißt es den Seienden, um es ihnen in einem Mal zurückzubringen, auf sie für alle Mal anzuwenden“ (Deleuze 1993a: 224). Im Anschluss hieran versuchen Deleuze/Guattari nun, jenseits einer das Viele, Singuläre umhüllenden Oberfläche, die Selbstaktualisierung, d.h. die Selbstorganisation von Erfahrung zu denken. Anstatt der epistemologisch fundierten Sphäre des Unmöglichen die Stimme der Univozität entgegenzustellen, die „die Gleichheit all dessen, was ungleich ist […] garantiert“ (Balke 1998: 48) orientieren sie sich daran, die „Idee der immanenten Ursache, derzufolge das Agens sein Patiens in sich selbst hat“ (Agamben 1998: 94) in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen. Es geht ihnen darum, das Singuläre als das „Wirkliche ansich“ (Deleuze 1977: 67) in den Blick bekommen zu können. War es zuvor der Univozität des Seins geschuldet, dass über den Prozess des Sich-durch-sich-Affizierens eine Existenzweise gedacht werden konnte, die es aufgrund ihrer paradoxalen Form gleichzeitig ermöglicht, einen Handlungsspielraum sowohl begrenzen als auch durch Wiederholung überschreiten zu können, geht es nun darum, zu untersuchen, inwiefern das Begehren als ein sich begehrendes Begehren selbst impliziert, ein Immanenzfeld, einen Körper ohne Organe zu schaffen. „Das Begehren […] trägt sich nicht in eine bestehende Ebene ein, sondern konstituiert diese im Maße seiner Autoproduktion. Das Feld und seine differentiellen Spuren entstehen in ein und demselben Vorgang und setzen sich wechselseitig voraus“ (Ott 1998: 39). Die paradoxale Form, in welche die sich differenzierende Differenz zuvor, durch einen Bezug zu einem Außen, dem (Nicht)-Sein gebracht werden musste, damit sie sich nicht entweder in Differenz, d.h. in

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Nicht-Sein auflöst oder aber als undifferenziertes, von jeder Wiederholung ausgeschlossenes Sein manifestiert, wendet sich damit in eine immanente Gestalt, die nur sich selbst immanent ist. „Die Immanenz ist nur sich selbst immanent und erfasst demnach alles, absorbiert das All-Eine und lässt nichts bestehen, dem sie immanent sein könnte“ (Deleuze/Guattari 2000: 54). Deleuze und Guattari versuchen jede Beziehung der Immanenz in dem Sinne, als diese „als dasjenige interpretiert wird, was einer Sache immanent ist“ (Deleuze/Guattari 2000: 54) zum Verschwinden zu bringen und das Werden als reine Differenzproduktion zu beschreiben, die sich als solche jedoch im Sinne ihrer Selbstreferentialität als Nicht-Differenziertheit selbst erschafft. „Die Nicht-Differenziertheit des Differenten und seine autogenetische Entfaltung ist der paradoxe Status der Immanenz“ (Ott 1998: 41). Im Gegensatz zu der die Gleichheit des Differenten oder Singulären garantierenden Sphäre der Univozität stellt sich die nicht differente Ebene der Immanenz erst im Moment des Nicht-Different-Werdens des Differenten her und drückt diesen Zustand gleichzeitig als das Wirkliche-an-sich aus. Die Ebene der Immanenz stellt als Autoproduktion der Differenz den Moment der beziehungslosen Nicht-Differenz zwischen Begehren und Sein, Ursache und Wirkung dar. Als Autoproduktion der Differenz ist die Ebene der Immanenz demnach nicht als Wiederholung der Differenzen als Differenzen anzusehen, sondern als „fortgesetzte Aufschiebung der Wiederholung“ (Ott 1998: 78), die sich aufgrund der fehlenden Notwendigkeit einer Eingrenzung jeder Form der Repräsentation verweigert. Deleuze/Guattari entwerfen ihr Konzept der reinen Immanenzebene zunächst in Zusammenhang mit ihrer Konzeption des organlosen Körpers. Wie bereits erwähnt löst die Konzeption des organlosen Körpers die Vorstellung eines univoken Seins ab, bzw. konkretisiert diese in Hinblick darauf, eine Seinsauffassung in reiner Immanenz, die in späteren Arbeiten von Deleuze mit dem Begriff des einen Lebens gleichgesetzt wird, entwickeln zu können. Als Ansatzpunkt ihrer Auseinandersetzung um den organlosen Körper dient beiden Theoretikern die Beschäftigung mit der Psychoanalyse, anhand derer sie sich zunächst der Thematik des Unbewussten nähern, um dieses aus der Engführung zu befreien, die ihm in der psychoanalytischen Deutung zu-

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kommt. Aus diesem Grund überführen Deleuze/Guattari die Kräfte des Unbewussten in das Feld einer Schizoanalyse, um durch sie die Möglichkeit der Produktion von Unbewusstem auszuloten. Bevor ich auf die von Deleuze und Guattari entwickelten Formen eines organlosen Körpers eingehen werde soll zunächst ihre Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse dargestellt werden, um beantworten zu können, aus welchen Überlegungen heraus sich die die sozialen Festlegungen deformierenden und den organlosen Körper im gleichen Moment formierenden Ströme des Unbewussten ableiten lassen. Folgendes Zitat Deleuzes soll in die konkrete Darstellung des bisher Angedeuteten überleiten: Das Unbewußte habt ihr nicht, werdet ihr nie haben – das ist kein es war, an dessen Ort das Ich sich ereignen soll. Die Freudsche Formel ist umzukehren: Das Unbewusste ist herzustellen. Dabei handelt es sich weder um verdrängte Erinnerungsstücke noch um Phantasien oder Phantasmen. Man reproduziert keine Kindheitserinnerungen, man produziert, mittels stets aktueller Kindheitsblöcke, die Blöcke des Kind-Werdens. Ein jeder fabriziert, stellt Verkettungen her – nicht mit dem Ei, aus dem er schlüpfte, und nicht mit den Erzeugern, die ihn daran binden, nicht mit den Imagines die er diesen entnimmt, nicht mit der Keimstruktur; er schafft Verkettungen vielmehr mit den Fetzen Plazenta, den er heimlich mit sich genommen hat und der ihn sein Lebtag als Versuchsstoff begleiten wird. Schafft Unbewusstes! (Deleuze 1980: 86)

Deleuzes und Guattaris Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Deleuzes Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker und Psychiater Felix Guattari äußert sich insbesondere in ihrer Schizo-Analyse, die sich meiner Meinung nach als konkrete Anwendung und Präzisierung des von Deleuze bisher entwickelten differenzphilosophischen Ansatzes verstehen lässt. Im Kontext ihres Vorhabens, den psychoanalytischen Ansatz „werdensfähig“ zu machen, erschließt sich gleichzeitig ein kapitalismuskritischer Ansatz, der das Werden nun als eine Form des Widerstehens zu erkennen gibt. Nicht das Verschieben und Erweitern von Realitäten steht ab sofort im Vordergrund ihrer Arbeit, sondern das Widerstehen dagegen, die Kräfte des Unbewussten zu entstellen, indem die „wirklichen Produktivkräfte des Unbewussten durch

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bloß repräsentative Bedeutungen ersetzt werden“ (Deleuze 1993: 29). Durch Neuverkettungen jenseits aufgebrochener Orientierungsmuster bieten die von ihnen als Wunschmaschinen betitelten Kräfte des Unbewussten vielmehr ein revolutionäres Potential, das darin besteht, „Elemente miteinander in Verbindung zu setzen, denen jedes natürliche, logische oder signifikante Band fehlt“ (Balke 1998: 130). Deleuze/Guattari gehen innerhalb ihrer Untersuchungen von einer Engführung des Unbewussten durch die Psychoanalyse aus und bemerken, dass gesellschaftliche Verhältnisse bei der Untersuchung der Triebstruktur außen vor bleiben, weil die Psychoanalyse den schizophrenen Untergrund der Triebe nicht wahrnehmen kann. „Die Psychoanalyse ist wie der Kapitalismus: sie findet ihre Grenze in der Schizophrenie, aber sie versucht unaufhörlich, sie weiter hinauszuschieben und zu bannen“ (Deleuze 1993: 36). Anstatt die Schizophrenie als Form der Erfindung einer Realität zu begreifen, die mit den eigenen Wünschen übereinstimmt, bindet die Psychoanalyse Psychosen an die Vorstellung, dass der Wahn als ein Versuch verstanden werden muss, das, was in der psychischen Verarbeitung misslang, durch Wiederholung erneut herzustellen. Der nachvollziehbare Sinn, den die Psychoanalyse der Psychose unterstellt, erschließt sich aus dem Ödipuskomplex, der in der Analyse Freuds den verdrängten, sich unbewusst äußernden Wunsch, bzw. das Begehren des Kindes danach beschreibt, Mutter, bzw. Vater zu besitzen. Mutter, Vater und Kind bilden dieser Theorie zufolge ein ödipales Dreieck, das Identität erzeugt, indem die Überwindung des Ödipuskomplexes durch die Drohung der Kastration gelingt. Gelingt diese Überwindung des verdrängten Inzestwunsches nicht, führt die Psychoanalyse den Grund für die durch das „Ich“ nicht zu schließende Kluft zwischen der durch das Verbot des Inzest geprägten Sphäre des „Über-Ich“ und der durch den Wunsch bezeichneten Ebene des „Es“ immer wieder in die Kindheit zurück, anstatt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die durch den Wunsch produzierte Realität als eine mit dem begehrenden Ich identische anzusehen. Deleuze und Guattari stellen einer so gearteten Vorstellung über das Begehren die Konzeption eines Wunsches entgegen, der nicht aus der Ontologisierung eines Verbots heraus erst als solcher erkennbar wird. „Das Begehren nach [Inzest] ist […] kein reales Begehren, sondern wird durch das Verbot als Begehren konstituiert. Wie Deleuze und

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Guattari […] betonen, handelt es sich um die Verschiebung eines wirklichen Wunsches, eines Wunsches, der weder Namen noch Person kennt“ (Buchanan 2008: 124). Durch die Verschiebung des wirklichen Wunsches entsteht Deleuze/Guattari zufolge ein Unbewußtes, das nicht produziert, sondern sich damit begnügt zu glauben…Das Unbewußte glaubt an Ödipus, an die Kastration, an das Gesetz…Zweifellos ist die Psychoanalyse die erste, die erklärt, dass streng genommen der Glaube kein Akt des Unbewußten ist; es ist immer das Vorbewußte, das glaubt. Muß nicht auch weitergehend formuliert werden, dass der Psychoanalytiker, der Psychoanalytiker in uns es ist, der glaubt? Sollte der Glaube eine Wirkung auf das bewusste Material sein, die die unbewußte Repräsentation aus der Entfernung ausübt? Aber was hat umgekehrt das Unbewußte auf diesen Zustand einer Repräsentation reduziert, wenn nicht allererst ein System von Glaubensüberzeugungen, das den Platz der Produktion eingenommen hat? (Deleuze/Guattari 1977: 382)

Als Beispiel für eine produzierende, der Repräsentation vorausliegende so genannte Wunschmaschine dient Deleuze/Guattari der umherschweifende Lenz aus der gleichnamigen Erzählung Büchners. In den Natureindrücken des Dichters Lenz, die Büchner als Reflex wechselnder Bewußtseinszustände konzipiert, sieht Deleuze die Bezüge zur Außenwelt als ungebrochene, in den jeweiligen Augenblicken wahrgenommene Intensitäten. Deleuze unterscheidet einen solchen Bezug zur Außenwelt, in welchem sich z.B. Lenz immer wieder mit eigenen Wünschen übereinstimmende Realitäten aufbaut, davon, sich in einer Prüfungssituation zu befinden, in der es im Gegenteil um die Anpassung an ein feststehendes Orientierungsmuster geht. Lenz lässt auf seinen Gebirgswanderungen die Ebene des Bruches von Mensch und Natur hinter sich. Er befindet sich in einem Prozess, der das eine im jeweils anderen erzeugt; eine zu hinterfragende Beziehung zwischen Ich und Realität existiert nicht mehr. Lenz hat die Ebene des Bruchs von Mensch und Natur hinter sich gelassen und befindet sich damit außerhalb der von dieser Trennung bedingten Orientierungsmuster. Er erlebt die Natur nicht als Natur, sondern als Produktionsprozess, Nicht Mensch noch Natur sind mehr vorhanden, sondern einzig Prozesse,

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die das eine im anderen erzeugen und die Maschinen aneinanderkoppeln. Überall Produktions- oder Wunschmaschinen, die schizophrenen Maschinen, das umfassende Gattungsleben: Ich und Nicht-Ich, Innen und Außen wollen nichts mehr besagen (Deleuze/Guattari: 1977: 8).

Deleuze kontrastiert den umherschweifenden Lenz exemplarisch mit dem „auf der Couch hingestreckten Neurotiker“ (Deleuze/Guattari 1977: 7), dessen Wunschproduktion durch die Fixierung auf eine familiäre Begehrensstruktur eingeengt wird. „Der Wunsch wird auf eine Familienszene zurechtgestutzt, und damit verkennt die Psychoanalyse die Psychose, sie erkennt sich nur noch in der Neurose wieder und interpretiert die Neurose selbst in einer Form, die die Kräfte des Unbewußten entstellt“ (Deleuze 1993b: 29). In der psychoanalytischen Engführung des Identität erzeugenden personalen Dreiecks gerät, Deleuze zufolge, die Idee der Neuerfindung nicht in den Blick. Im Gegenteil, indem alles auf den Ödipus Komplex reduziert wird, befindet sich das Ich in einer permanenten Realitätsprüfungssituation, genötigt, sich gesellschaftlich anzupassen, sich zu rechtfertigen, um eine Identität herstellen zu können. Deleuze/Guattari werfen der Psychoanalyse vor, das Potential des von ihr ermittelten Unbewußten nicht auszuschöpfen, sondern es im Gegenteil zu erdrücken. „Was wir sagen ist: Freud entdeckt den Wunsch als Libido, den Wunsch, der produziert. Aber gleichzeitig gibt er keine Ruhe, bis die Libido wieder in der familialen Repräsentation entfremdet ist“ (Deleuze 1993: 29). Somit gelingt es der Psychoanalyse nicht, an die Wunschmaschinen heranzukommen, weil sie sich an die ödipalen Figuren oder Strukturen hält; sie kommt nicht an die sozialen Besetzungen der Libido heran, weil sie sich an die Familienbesetzungen hält. […] Was uns interessiert, interessiert die Psychoanalyse nicht: was sind deine Wunschmaschinen? In welcher Form delirierst du das gesellschaftliche Feld? (Deleuze 1993: 35)

Im Vorgehen der Psychoanalyse erscheinen die Kräfte des Unbewußten Deleuze/Guattari zufolge ausschließlich als neurotisch, weil sie nur familiar und eben nicht sozial gedacht werden. Die Psychoanalyse fixiert sich demnach auf die Neurose; die Psychose, insbesondere die

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Schizophrenie kann von ihr nur wahrgenommen werden, indem sie auf den Ödipus-Komplex bezogen und als durch diesen reproduziert gedacht wird. Der Wahn kreist nicht um den Vater und nicht einmal um den Namen des Vaters, sondern um die Namen der Geschichte. Er ist so etwas wie die Immanenz der Wunschmaschinen in den großen Gesellschaftsmaschinen. Er ist die Besetzung des historischen gesellschaftlichen Feldes durch die Wunschmaschinen. Was die Psychoanalyse von der Psychose verstanden hat, ist die ParanoiaLinie, die zum Ödipus führt, zur Kastration etc., zu all diesen repressiven Apparaten, die ins Unbewußte eingeschleust werden. Aber der schizophrene Hintergrund des Wahns, die Schizophrenie-Linie, die eine nicht familiale Zeichnung entwirft, entgeht ihr vollkommen. […] In der Tat, sie neurotisiert alles. Und durch diese Neurotisierung trägt sie nicht nur dazu bei, den Neurotiker […] zu produzieren, sondern auch den Psychotiker zu reproduzieren als denjenigen, der sich der Ödipalisierung widersetzt. Aber ein direkter Zugang zur Schizophrenie bleibt ihr völlig versperrt (Deleuze 1993: 31).

Die Kräfte des Unbewußten produzieren demnach kein Abbild einer unter spezifischen gesellschaftlichen Umständen sich etablierenden Realität, sondern produzieren eigene Realitäten, Wirkliches, das unterhalb der von Deleuze und Guattari als Gesellschaftsmaschinen bezeichneten Dynamik kapitalistischer Realitätsproduktionen liegt. So der Wunsch produziert, produziert er Wirkliches. So er Produzent ist, kann er nur einer in und von Wirklichkeit sein. Der Wunsch ist jenes Ensembles passiver Synthesen, die die Partialobjekte, die Ströme und die Körper maschinisieren und wie Produktionseinheiten funktionieren. Aus ihnen ergibt sich das Wirkliche, das somit das Ergebnis der passiven Synthesen des Wunsches als Eigenproduktion des Unbewußten bildet. Dem Wunsch fehlt nichts, auch nicht der Gegenstand. Vielmehr ist es das Subjekt, das den Wunsch verfehlt, oder diesem fehlt ein feststehendes Subjekt; denn ein solches existiert nur kraft Repression. Der Wunsch und sein Gegenstand sind eins in der Maschine als Maschine der Maschine. Der Wunsch bildet eine Maschine, wie sein Gegenstand die ihm angekoppelte Maschine, so dass vom Produzieren das Produkt entnommen wird, vom Produzieren zum Produkt sich etwas abtrennt, das dem no-

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madenhaften Vagabundensubjekt einen Rest zuschlagen wird. Das objektive Sein des Wunsches ist das Reale an sich (Deleuze/Guattari 1977: 36).

Das in diesem Kontext entwickelte Schizo-Subjekt ist dieser Aussage entsprechend als Realität zu verstehen, die ihre Schöpfungskräfte ausübt und anwendet, anstatt sich von diesen abzukehren, sie zu unterdrücken und so die Idee der Neuerfindung aus dem Blick zu verlieren. Im Unterschied zu einem Ödipalen-Subjekt, das sich aus einer Realität heraus bildet, die ihre Potentiale erstickt, indem diese immer wieder in einen familialen Zusammenhang gebracht werden, aus dem heraus sich Identität bildet, bewegt und entwickelt sich die Realität als Schizo-Subjekt immerfort. Die Potentiale, die Wünsche und Begehren, sind in diesem Fall also nicht die Dinge, die einem Subjekt in universeller, allgemeiner Art und Weise gegeben sind, mittels derer dieses dann eine Beziehung zu der sich ihm bietenden Wirklichkeit eingeht. Vielmehr bezeichnen die Wünsche im Kontext des Schizo-Subjekts die Dinge, die nur im Zusammenhang, in Bewegung zu einer sich im Moment produzierenden Wirklichkeit, einem Ereignis, gedacht werden können.27 Wenn die Kräfte des Unbewussten in diesem Fall also nicht mehr dadurch gebunden sind, als Mittel zur „Symbolisierung einer ganz anderen Realität“ (Balke 1998: 129) benutzt zu werden, werden sie selbst sichtbar. Und genau darum geht es Deleuze/Guattari: um die Sichtbarmachung der unbewussten Kräfte, um den Produktionsprozess der Maschinen, „der sich immer schon auf der gleichen Ebene bewegt,

27 Balke weist daraufhin, dass „die Rede von den Bewegungen, Geschwindigkeiten und Strömungen […] deshalb unvermeidlich [ist], weil mit ihrer Hilfe die Logik eines Ereignistyps erfasst werden soll der subjektlos, azentrisch und linear-richtungslos organisiert ist: Das Ereignis, um das es Deleuze und Guattari geht, hat zwar ein Datum, aber es ist nicht auf den Punkt seines Auftauchens zu reduzieren (und es vergeht auch nicht mit ihm, es strebt im Gegenteil seine Ewigkeit an), es proloferiert, seine Konsistenz ist nicht die einer fixen Identität, sondern eines Werdens, einer Metamorphose, die solange dauert und an Macht gewinnt, wie sie nicht abgeschlossen, nicht beendet, in keinem Zustand verwirklicht ist“ (Balke 2009: 149).

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auf der sich die Sachen selbst befinden, die er wünscht“ (Balke 1998: 129). Folglich stellt der Wunsch im Rahmen einer Schizo-Analyse nicht die Frage nach einer Bedeutung, sondern vielmehr die Frage „wie es läuft“ (Deleuze/Guattari 1977: 141), wie und ob es funktioniert. Es gibt zwei Arten, ein Buch zu lesen: entweder man betrachtet es als eine Schachtel, die auf ein Innen verweist; […] das folgende Buch behandelt man dann wie eine Schachtel, die in der ersten enthalten war oder sie ihrerseits enthält. Und man kommentiert, interpretiert, fragt nach Erklärungen, man schreibt […] das Buch des Buches. Oder aber man liest auf andere Art: man betrachtet ein Buch wie eine kleine Maschine; das einzige Problem ist: Funktioniert es, und wie funktioniert es? Wie funktioniert es für Euch? Wenn es nicht funktioniert nehmt doch einfach ein anderes Buch. Diese andere Lektüre ist eine Lektüre der Intensität: etwas kommt rüber oder nicht, etwas passiert oder passiert nicht. Es gibt nichts zu erklären, nichts zu verstehen, nichts zu interpretieren (Deleuze 1993: 18).

Im übertragenden Sinne könnte man das Vorhaben Deleuze/Guattaris darüber erläutern, dass sie einer Trennung von Empirie und Theorie entgegenwirken, ohne sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Es geht ihnen weder darum, das Unbewußte als ein spezifisches Feld zu betrachten, es einzuklammern, da die Gefahr besteht, bestimmte Annahmen voraus zu setzen, um es überhaupt als „etwas“ sichtbar werden zu lassen. Noch geht es ihnen darum, im Rahmen einer theoretischen Betrachtung einen eben solchen vorgängigen Sinn zu entwickeln, ohne im jeweiligen Rückbezug die Spezifik immanenter Kräfte in den Blick zu bekommen. Diese Einschätzung führt mich zurück zu dem bereits besprochenen Ansatz eines transzendentalen Empirismus, den Deleuze in seinen frühen Arbeiten entwirft und gibt gleichzeitig die Möglichkeit die Weiterentwicklung hin zu einer immanenten Seinsauffassung zu konkretisieren. Deleuze/Guattari stellen im Kontext des Unbewußten immanente Kriterien dafür fest, sich den „transzendenten Übungen des Was bedeutet das?“ (Deleuze/Guattari 1977: 141) zu widersetzen. Die Widersetzung erfolgt, indem die Kräfte des Unbewußten die „Sperren und Codes“ (Deleuze/Guattari 1977: 169) durchbrechen, die dafür sor-

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gen, diese Kräfte zu blockieren und sie zur Symbolisierung einer anderen Realität zu benutzen. „Allein, dass der Sinn nichts anderes als der Gebrauch ist, wird nur dann zum festen Prinzip, wenn wir über immanente Kriterien verfügen, die es gestatten, die legitimen Anwendungen im Gegensatz zu den illegitimen […] zu bestimmen“ (Deleuze/Guattari 1977: 141). Die Annahme immanenter Kriterien legt es nahe, davon auszugehen, dass Deleuze/Guattari die unbewußten Kräfte als primär gegenüber den faktisch vorliegenden kulturellen Merkmalen, die diese identifizieren, konzipieren. Die Kräfte des Unbewußten befinden sich demnach unterhalb der Ebene der Repräsentationen. Der Wunsch ist nichts anderes als die Macht der Differenz, die bewirkt, dass nichts dauerhaft schließt und immer etwas fließt oder flüchtet. Er operiert unterhalb der konsolidierten Vorstellungen, die sich auf wohldefinierte Gegenstände beziehen, er manifestiert sich in den unscheinbarsten Produktionen, die etwas hervorbringen, das vorher nicht da war, eine Erfindung, für die noch kein Name bereit steht und deren soziale Verwendbarkeit noch zweifelhaft ist, die sich aber, noch bevor sie eingeordnet und in ihrem sozialen Wert abgeschätzt werden kann, mit rasender Geschwindigkeit über den gesamten Gesellschaftskörper ausbreitet (Balke 1998: 125/126).

Das Schizo-Subjekt als Realität eines solchen Wunsches hat „einfach aufgehört, Angst vor dem Verrücktwerden zu haben“ (Deleuze/Guattari 1977: 169). Anstatt entweder durch die Anerkennung einer durch die Gesellschaftsmaschinen als wahr produzierten Wirklichkeit oder aufgrund der Nicht-Anerkennung derselben als Subjekt konstituiert zu werden, erschafft sich das Schizo-Subjekt als eigene Realität, die die Spaltung zwischen Produktion und Repräsentation überschritten hat. Diese eigene Realität darf nicht mit der dem Schizophrenen in psychoanalytischen Kontexten zugesprochenen krankhaften Realität, die wiederum der Symbolisierung der als wahr produzierten Wirklichkeit dient, verwechselt werden. „Alles verändert sich danach, ob wir Psychose den Prozess selbst oder die Unterbrechung des Prozesses nennen (und welche Art von Unterbrechung)“ (Deleuze/Guattari 1977: 168). Anstatt, um an die vorangegangenen Bemerkungen im Kontext der Falte anzuschließen, durch die Krümmung der Linie des Außen zu er-

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reichen, etwas lebbar werden zu lassen, was sonst unlebbar wäre, indem Sein und (Nicht)-Sein eine neuerfundene Beziehung zueinander eingehen, die sich sodann in der Krümmung der die ihre Beziehung widerspiegelnden Linie zeigt, wird nun davon ausgegangen, dass das Feld des Seins für sich genommen differente Vermögen bereithält, die sich aus sich selbst heraus zusammenschließen, um Neuordnungen innerhalb desgleichen zu schaffen. Es geht Deleuze/Guattari darum, das durch die beschriebenen Schichten und Zonen des Macht/Wissens strukturierte Feld sozusagen von unten her aufzubrechen, „Ströme fließen [zu] lassen, unter den sozialen Codierungen, die sie kanalisieren oder blockieren wollen“ (Deleuze 1993: 34). Die Ströme sind demzufolge also schon da, sie sind durch gesellschaftliche Setzungen möglicherweise blockiert, d.h. in ihrem Aktualisierungsverlauf von Mächten erfasst, die ihnen den Status eines Subjekts zuschreiben, ihnen eine repräsentative Gestalt verleihen und somit die immanente Ebene, die dieser Identifizierung vorausliegt, versperren. Neuerfindung bezeichnet hier also die Möglichkeit, den Sinn, der durch die abstrakte Logik der Repräsentation hergestellt wurde, durch den konkreten Sinn des Gebrauchs zu demontieren, indem es gelingt, die Zusammenschlüsse und Verkettungen der Maschinen, die unterhalb der Repräsentationen liegen, aufzudecken. Deleuze/Guattari konzipieren das genannte Feld der Repräsentationen als sozialen Körper, als hierarchisch durch Organe strukturierten Organismus, dem sie ihren Entwurf eines organlosen Körpers entgegenstellen. Als besagte Ströme, die unter den sozialen Codierungen entfliehen, entwerfen sie eine Form des Unbewussten, die sich ähnlich des Umgangs mit der durch die epistemologisch festgelegte Figur des Unmöglichen als ein differentes Gefüge zeigt, das nun jedoch in keiner Beziehung zu einem (Nicht)-Sein steht, sondern in immanenter Art und Weise eine Gestalt des Seins produziert, die unterhalb der Hierarchien eine Immanenzebene bereithält, die an sich selbstreferentiell konsistent ist. Deleuze denkt den Körper entgegen einem transzendenten Organisationsplan, der einem Modell mit äußerem, nicht zu hinterfragendem Bezugspunkt entspräche, in dem die Organe zwangsweise in bestimmten Abhängigkeiten voneinander funktionieren würden, als ein immanentes Modell. Als etwas, das

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sich von innen heraus immer wieder neu gestalten kann, das als veränderbares Material funktioniert, als etwas, das sich einer starren, vordefinierten Form widersetzt. Ein Körper ist singulär, nicht individuell, was heißt, dass ihm keine festen, unverkennbaren Eigenschaften zugeschrieben werden können, sondern der sich nur als veränderbar, de-subjektiviert und einmalig verstehen lässt (Ziemer 2008: 54).

Wie ist diese paradoxe, die sozialen Codierungen unterlaufende, sie deformierende, an sich selbstrefenrentielle Gestalt eines organlosen Körpers zu verstehen, bzw., wie stellt sie sich her, ohne den faktischen Gegebenheiten eines hierarchisch geordneten Systems anheim zu fallen? Der organlose Körper – Das Immanenzfeld des Begehrens Einen Hintergrund für ihre Schizo-Analyse bildet für Deleuze und Guattari die Möglichkeit, dass mit ihr „die klassische Mikro-/MakroUnterscheidung der Soziologie neu – und v.a. fruchtbarer – gedacht werden kann“ (Borch/Stäheli 2009: 31). An die Stelle der „Annahme, dass der Mikro-Bereich den Raum für individuelles Handeln darstelle, während der Makro-Bereich von objektiven Strukturen beherrscht sei“ (Borch/Stäheli 2009: 31) stellen Deleuze/Guattari die Unterscheidung von Integrations- und Fluchtlinien, die sich jedoch auf nahezu untrennbare Art und Weise auf denselben Ebenen bewegen: Eine Wunschsequenz findet sich durch eine gesellschaftliche Serie verlängert, oder eine Gesellschaftsmaschine enthält in ihrem Getriebe Bestandteile von Wunschmaschinen. Die Mikro-Wunschvielheiten sind nicht weniger kollektiv als die großen gesellschaftlichen Einheiten, sind im eigentlichen Sinne untrennbar, erschaffen ein und dieselbe Produktion. […] Wir [haben das] Molare und das Molekulare gegenübergestellt, als strukturierte und signifikante, paranoische Integrationslinien, und als verstreute und maschinelle, schizophrene Fluchtlinien (Deleuze/Guattari 1977: 440).

Des Weiteren führen Deleuze und Guattari aus, dass es, da es sich um die gleichen Ebenen handelt, auf denen diese beiden von ihnen als „gesellschaftliche Besetzungstypen“ (Deleuze/Guattari 1977: 440) be-

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zeichneten Figuren tätig sind, überall das Molare und das Molekulare gibt. „Die Frage lautet stets: Gelingt es den großen Einheiten (Familie, Partei, Kirche, Nation, Staat, Weltordnung etc.) sich die molekularen Phänomene unterzuordnen, oder entfalten die Fluchtlinien eine Dynamik, die sich nicht bloß an der Peripherie der hochgradig formierten Systeme abspielt, sondern die Zentren selbst fliehen lässt“ (Balke 1998: 142). Auf das Beispiel der Psychoanalyse übertragen, wird also zunächst deutlich, dass diese, indem sie das Unbewusste auf die Familie fixiert und in Bezug auf den Wahn danach fragt, warum deliriert wird, anstatt zu erkunden, was deliriert wird, das Molekulare einer großen Einheit unterordnet, es zu integrieren versucht. Der entscheidende Punkt ist die Behauptung Deleuzes und Guattaris, dass das Molekulare eben nicht die „Dimension des Kleinen im Verhältnis zum Großen, des Individuellen im Verhältnis zum Kollektiven, des Privaten im Verhältnis zum Öffentlichen [bezeichnet], sondern die Wirkungsweise des Wunsches, die eben darin besteht, die gewohnten Grenzziehungen zwischen Psychischem und Sozialem außer Kraft zu setzen“ (Balke 1998: 124). Deleuze/Guattari unterscheiden zwischen dem Unbewussten als Verdachtsmoment und dem Unbewussten als Fabrik, die entwickelt, was noch keine Sprache hat, noch nicht theoriefähig ist. Die Psychoanalyse, so Deleuze und Guattari, inszeniert über den Begriff des Unbewussten zwar den Verdacht, dass es hinter oder unter der Oberfläche, hinter oder unter einer Vorstellung von Realität, etwas geben würde, sie entzieht dieses „Etwas“ jedoch im gleichen Moment, da sie es auf den Ödipuskomplex reduziert und auf diese Weise die zuvor deterretorialisierte Oberfläche reterritorialisiert. Deleuze und Guattaris Vorschlag eines organlosen Körpers kann demgegenüber als ein Versuch verstanden werden, einen Apparat herzustellen, mit dem sich jedes einzelne Leben selbst bearbeiten kann, anstatt dieses Leben einer reterritorialisierten Oberfläche, einer durch Begriffe und Geschichten konstruierten Realitätsform gemäß zu führen. Anstatt einen Zusammenhang herstellen zu müssen zwischen Ich und Realität, zwischen Sich und einem Begriff von Leben, entzieht sich dem Schizo-Subjekt nichts, was sich hinter oder unter der Oberfläche befinden könnte. Das Schizo-Subjekt baut sich vielmehr selbst eine Realität auf, die mit den eigenen Wünschen übereinstimmt.

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Deleuze und Guattari wählen Schizophrenie als Ausgangspunkt ihrer Betrachtung und konzipieren diese „als Bruch, Einbruch, Durchbruch, der die Kontinuität einer Persönlichkeit unterbricht und sie auf eine Art Reise schickt, durch ein intensives und erschreckendes Mehr an Realität hindurch, gemäß Fluchtlinien, in denen Natur und Geschichte, Organismus und Geist sich verfangen“ (Deleuze 2005: 28). Zwar unterscheiden sie Schizophrenie, bzw. Psychosen explizit von Neurosen, die in ihren Augen eine Produktion der Psychoanalyse darstellen, doch stellt sich auch ihr Entwurf eines Schizos als von der im psychoanalytischen, bzw. klinischen Kontext bezeichneten Form des Wahns grundsätzlich unterschieden dar. Ein Schizo im Sinne Deleuzes und Guattaris ist keine „empirische Größe“, sondern ein „lebender Begriff“ (Günzel 1998: 122) und als solcher von der Psychoanalyse nicht ermittelbar. Zwar entzieht sich der Wahn grundsätzlich jeder psychoanalytischer Betrachtung, „und sei es nur aufgrund des Auseinanderfallens der Assoziationen“ (Deleuze 2005: 24), doch unterscheidet sich Deleuzes und Guattaris Form des Schizos von einer der Psychoanalyse entfliehenden empirischen Größe dadurch, dass der Schizophrene in ihrem Verständnis sich selber in immanenter Art und Weise als Gestalt des Seins immer wieder neu realisiert. „Der Schizophrene identifiziert sich nicht mit Personen, sondern identifiziert auf dem organlosen Körper Bezirke, die durch Eigennamen gekennzeichnet sind“ (Deleuze 1995: 27). Deleuze/Guattari differenzieren ihren Entwurf des Schizophrenen demzufolge in doppelter Hinsicht. Auf einer ersten Ebene arbeiten sie heraus, dass die Psychoanalyse als Integrationslinie die molekularen Kräfte des Unterbewussten reterritorialisiert, indem sie das Ich einer Realitätsprüfungssituation aussetzt, die den schizophrenen Untergrund der Triebe nicht wahrnimmt. Der Schizophrene im Deleuze/Guattarischen Sinne erschöpft sich jedoch nicht in der Abwendung von dieser Festsetzung, in der „Befreiung“ und Vergrößerung des Selbst durch die bloße Missachtung dessen, was als Begriff von Realität verfügbar scheint. Deleuze/Guattari bezeichnen diese Form eines ödipalen Schizophrenen, d.h. eines im Rahmen des Ödipus-Komplex konstituierten Schizophrenen, als Paranoiker.28 Im

28 Deleuze bringt diese ödipalisierte Form des Schizophrenen folgendermaßen auf den Punkt: „Der Schizophrene erscheint nun als einer, der seinen

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übertragenden Sinne handelt es sich bei dem Paranoiker um eine reaktionelle Integration (vgl. Deleuze 1995: 28), d.h. dass der Paranoiker sich den angebotenen Formen von Realität, also zum Beispiel dem Identität erzeugenden familiären Dreieck, widersetzt, um unter Umständen eine ebensolche, von ihm entwickelte zu beanspruchen. Das grundsätzliche Problem einer Trennung von Wunsch und Wirklichkeit ist in diesem Moment jedoch nicht gelöst, da der Paranoiker eine „Flucht vor der Flucht“ (Deleuze/Guattari 1977: 440) betreibt, die sich jedoch im Referenzsystem molarer Strukturen befindet, bzw. sogar von diesen hervorgebracht wird. Der Paranoiker, so wie ihn Deleuze und Guattari verstehen, ist deshalb als Schizophrener, der „reif ist für das Asyl“ (Deleuze 2005: 29) zu verstehen, da er erst in dem Moment zum Schizophrenen wird, in dem er sich von der Gesellschaft abwendet, um daraufhin von ihr wieder aufgefangen und möglicherweise fester als zuvor in ein Koordinatensystem gepresst zu werden. Im Gegensatz hierzu lässt sich konstatieren, dass der Schizophrene im Deleuze/Guattarischen Sinne seine Wünsche aus der Struktur der molaren Einheiten löst, indem er diese sowohl aus der ihr zugefügten Organisation, aus dem Organismus, in welche sie gespannt werden, befreit, ohne dieser Befreiung eine Bedeutung in der Art einer Neuerfindung von Territorien zuzuschreiben. Im Gegenteil, das „Wunder“, das Deleuze/Guattari im folgenden Zitat ansprechen, liegt darin, nicht „etwas“ zu deterritorialisieren, sondern sich zu derritorialisieren: Freilich sollte man nicht glauben, die wahren Feinde des organlosen Körpers seien die Organe selbst. Der Feind ist der Organismus, das heißt die Organisation, die den Organen ein Regime der Totalisierung, der Kollaboration, der Synergie, der Integration, der Hemmung und der Trennung aufzwingt. In diesem Sinne sind die Organe durchaus die Feinde des organlosen Körpers, der eine abstoßende Wirkung auf sie ausübt und in ihnen auf Verfolgungsapparate hindeutet. Doch ebenso zieht der organlose Körper die Organe an, macht sie

eigenen Wunsch nicht mehr wieder erkennen oder lokalisieren kann. Die negative Sichtweise verstärkt sich in dem Maße, wie die Psychoanalyse die Frage stellt: Was fehlt dem Schizophrenen, damit der psychoanalytische Prozeß bei ihm greift? Könnte es sein, dass dem Schizophrenen etwas fehlt, was mit dem Ödipus zusammenhängt?“ (Deleuze 2005: 25)

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sich zu eigen und lässt sie in einem anderen Regime als dem des Organismus funktionieren, und zwar unter Bedingungen, wo jedes Organ der ganze Körper ist, und zwar um so mehr, als er für sich selbst arbeitet und die Funktionen der anderen einschließt. Dann geschieht an den Organen durch den organlosen Körper ein Wunder. Gemäß diesem maschinistischen System, das weder mit organischen Mechanismen noch mit der Organisation des Organismus zu verwechseln ist (Deleuze 2005: 20/21).

Die Organe, die Deleuze/Guattari hier ansprechen, lassen sich als Wunschmaschinen übersetzen, die statt der gesellschaftlichen Ordnung des als Sozius bezeichneten Gesellschaftskörpers anzugehören „in ein deterritorialisiertes Feld, das des organlosen Körpers befreit sind“ (Deleuze/Guattari 1977: 44). Allerdings ist dieses Feld nicht als Ergebnis eines schizophrenen Prozesses individueller Art und Weise zu verstehen, sondern ist vielmehr in die Tendenz des Kapitalismus eingebettet. Die Decodierung der Ströme sowie die Deterritorialisierung des Sozius bilden […] die wesentliche Tendenz des Kapitalismus. Unaufhörlich nähert er sich seiner im eigentlichen Sinne schizophrenen Grenze. Unter Aufbietung aller Kräfte versucht er, den Schizo als Subjekt der decodierten Ströme auf dem organlosen Körper zu erzeugen – kapitalistischer als jeder Kapitalist, proletarischer als jeder Proletarier. Fortschreiten bis zu jenem Punkt, wo der Kapitalismus sich selbst mit samt seinen Strömen zum Mond schießen würde: in Wirklichkeit hat man noch nichts davon gesehen (Deleuze/Guattari 1977: 44/45).

Man hat davon noch nichts gesehen, weil die Wünsche, wie gezeigt wurde, der Trennung von Marko- und Mikroebene gemäß in das Raster individueller, Identität erzeugender Strukturen verlegt werden, um die schizophrene Grenze kapitalistischer Formierungen immer wieder bannen zu können und trotzdem zu erreichen, dass eine Dynamik zwischen Kapital und scheinbar freien Elemente entstehen kann. Dieser individuellen, sich an der durch Makrostrukturen darstellenden Realität auszurichtenden Mikrostruktur entspringt demnach der von Deleuze und Guattari bezeichnete Paranoiker, dessen zugewiesene Schizophrenie in gewisser Weise als molare Schizophrenie verstanden werden kann. Sie ist die Möglichkeit, die deterritorialisierende Dynamik

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des Kapitalismus innerhalb der „verabscheuten“ (Deleuze 2005: 28) Grenzen zu halten, indem sich das Molare das Molekulare in einer Art Umkehrschluss aneignet. Deleuze/Guattari unterscheiden also zwischen zwei Polen des Wahns: „uns scheint der Wahn zwei Pole zu haben, einen faschistischen paranoischen Pol und einen schizo-revolutionären Pol. Er oszilliert ständig zwischen diesen beiden Polen. Das ist es, was uns interessiert: der revolutionäre Schizo im Gegensatz zum despotischen Signifikanten“ (Deleuze 1993: 40). Beide Pole bezeichnen die Tendenz zur Flucht, die durch die molekularen Fliehkräfte freigesetzt wird. Allerdings unterscheiden sich diese beiden Fluchtbewegungen in fundamentaler Hinsicht: An dem einen Pol verhindern die großen Einheiten, die großen Massenformen nicht die sie forttragende Flucht und stellen ihr die paranoische Besetzung nur als Flucht vor der Flucht entgegen. Am anderen Pol aber besteht die schizophrene Flucht nicht nur darin, sich vom Gesellschaftlichen abzuwenden, am Rande zu leben: durch die Vielzahl von Löchern, die das Gesellschaftliche zersetzen und durchbohren, lässt sie es fliehen, steht immerfort im Kontakt mit ihm, verfügt allenthalben über molekulare Ladungen, die in die Luft sprengen, was gesprengt werden muss, stoßen, was fallen muss, und sichert zudem an jedem Punkt die Umwandlung der Schizophrenie als Prozeß in wahrhaft revolutionäre Kraft (Deleuze 1977: 441).

Der entscheidende Punkt, der die unterschiedliche Fluchtbewegung erklärt, betrifft die Konzeption des organlosen Körpers. Zur besseren Einordnung des weiteren Vorgehens möchte ich diese hier angesprochene Differenz innerhalb der Fluchtbewegungen als Makro-Unterscheidung kennzeichnen, um im folgenden Kapitel eine weitere Unterscheidung, eine Mikro-Unterscheidung, vornehmen zu können. Damit ein organloser Körper geschaffen werden kann, müssen sich molare und molekulare Kräfte in ihm, als er selbst, treffen. Im Falle des von Deleuze/Guattari bezeichneten revolutionären Pols ist es entscheidend, dass die Organmaschinen, die Wunschmaschinen, als „Selbstzerstörungen“ (Deleuze/Guattari 1992: 219) fungieren, bzw. erfunden werden. Sie sind also nicht als bereits hierarchisch geordnete

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Kräfte anzusehen, die eine sich selber quasi befreiende Wirkung erzeugen, die wiederum dem unausgesprochenen Konsens eines Organismus entspricht. Eben diesen Organismus gilt es durch die Akte der Selbstzerstörung aufzulösen, um dafür zu sorgen, dass der organlose Körper „sich die Organe unter einem anorganischen Regime aneignet“ (Deleuze 2005: 21). Der organlose Körper als Ereignisfläche, als Apparat, mit dem sich jedes Leben selbst bearbeiten kann, jeder Wunsch als Wirklichkeit deutlich wird, beschreibt Deleuze und Guattari zufolge ein Milieu, das als präexistente Matrix zu verstehen ist. Wie auch immer, ihr habt einen (oder mehrere), und zwar in erster Linie nicht, weil er schon vorher oder schon fertig da wäre (auch wenn er in gewisser Hinsicht präexistent ist); auf jeden Fall schafft ihr euch einen, ihr könnt nicht begehren, ohne einen zu schaffen; und er erwartet euch, er ist eine Übung oder ein unvermeidliches Experiment, das bereits in dem Moment durchgeführt ist, wo ihr damit beginnt. Das ist nicht beruhigend, denn er kann euch ja auch misslingen. Er kann auch schrecklich sein, euch in den Tod treiben. Er ist sowohl Nicht-Begehren als auch Begehren. Vor allem ist er kein Begriff oder Konzept, er ist vielmehr eine Praktik, ein ganzer Komplex von Praktiken (Deleuze/Guattari 1992: 206).

Als Ebene unter der Organisation ist er ein Komplex von Praktiken, die sich im Aufeinandertreffen mit den angesprochenen Formen der Selbstzerstörung, der Selbstverachtung treffen, bzw. sich dieser Formen annehmen, indem sie gleichzeitig durch diese gebildet, bzw. sichtbar werden. Selbstverachtung „öffnet den Körper für Konnektionen […], die ein ganzes Gefüge voraussetzen, Kreisläufe, Konjunktionen, Abstufungen und Schwellen, Übergänge und Intensitätsverteilungen, Territorien und Deterritorialisierungen, die wie von einem Landvermesser vermessen werden“ (Deleuze/Guattari 1992: 219). Deleuze und Guattari vergleichen den organlosen Körper immer wieder mit einem Ei: Betrachtet man den organlosen Körper als ein volles Ei, dann muss man sagen, dass sich das Ei unter der Organisation, die es annehmen oder entwickeln wird, nicht als ein undifferenziertes Milieu darstellt: es wird von Achsen und Gradienten, von Polen und Potentialen, von Schwellen und Zonen durchquert,

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dazu bestimmt, später diesen oder jenen organischen Teil zu erzeugen, bei dem jedoch im Moment nur das Gefüge intensiv ist. So als werde das Ei von einem Strom mit wechselnder Intensität durchzogen. Und genau in diesem Sinne ignoriert und verstößt der organlose Körper den Organismus, das heißt die Organisation der sich ausdehnenden Organe, bildet jedoch eine intensive Matrix, die sich alle intensive Organe aneignet (Deleuze 2005: 22).

Als intensive, differentielle Matrix unterhalb der Organisation unterscheidet sich der organlose Körper von der zuvor behandelten Univozität des Seins. Während diese als nicht-differente Oberfläche das AllEine bildet, das die Differenz trägt, bildet der organlose Körper eine „mikrosoziologische Ebene immanenter gesellschaftlicher Kräfte und Strömungen“ (Rölli 2006: 39). Wie bereits angesprochen wurde stellt sich die nicht differente Ebene der Immanenz erst im Moment des Nicht-Different-Werdens des Differenten her und drückt diesen Zustand gleichzeitig als das Wirkliche-an-sich aus. Die Ebene der Immanenz stellt als Autoproduktion der Differenz den Moment der beziehungslosen Nicht-Differenz zwischen Begehren und Sein, Ursache und Wirkung dar. Die Autoproduktion der Differenz in Form erfundener Selbstzerstörungen, in Form eines Minoritär-Werdens, welches durch die intensive Materie des organlosen Körpers angenommen wird, lässt demnach die immanente Ebene, „die gesellschaftlichen Verkettungen unterhalb der Repräsentationen“ (Rölli 2006: 40) sichtbar werden, „in denen die etablierten Strukturen der Mehrheit als bedingt erscheinen“ (Rölli 2006: 40). Als Immanenzmilieu ist der organlose Körper demnach Ausgang dieses Minoritär-Werdens und wird gleichzeitig durch dieses erst sichtbar. Das Minoritär-Werden unterscheidet die beiden Pole des Wahns. Während der paranoische Pol mitsamt seinen Wunsch- oder Organmaschinen den organlosen Körper verfehlt, bzw. diesen gleichzeitig in eine katatonische Starre versetzt, erreicht die schizophrene Linie ihn, indem sie ihren Körper gleichsam von dem ihn überlagernden Organismus befreit. Insofern ist der organlose Körper einmal intensive Materie, die ein Werden ermöglicht, einmal stillstehender, katatonischer Motor:

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Die Organmaschinen sind […] die unmittelbaren Kräfte des organlosen Körpers. Der organlose Körper ist die reine intensive Materie, oder der stillstehende Motor, dessen Arbeitsteile und eigenen Kräfte die Organmaschinen bilden werden. Und genau dies zeigt der schizophrene Wahn: hinter den Halluzinationen der Sinne, hinter dem Wahn des Denkens selbst gibt es noch etwas Tieferes, ein Gefühl von Intensität, das heißt ein Werden oder ein Übergang. Ein Gradient wird überschritten, eine Schwelle überwunden oder zurückgestuft, eine Migration findet statt: ich fühle, dass ich Frau werde, ich fühle, dass ich Hellseher werde, dass ich reine Materie werde (Deleuze 2005: 22).

Dieses Zitat verdeutlicht, inwieweit Deleuze und Guattari Subjektivität nicht von einer Ordnung aus denken, sondern genau von dem Punkt aus, an dem sie sich von der Ordnung löst. Es geht nicht darum, „das, was die Minderheiten zu Minderheiten macht, zu kritisieren“, und somit innerhalb des Organismus zu bleiben, noch darum, einen neuen Organismus zu schaffen, sondern „es gilt vielmehr die Prozesse des Minoritär-Werdens zu intensivieren“ (Rölli 2006: 40), mit den Verhältnissen zu spielen. „Plakativ gesagt, muss die Hierarchie zwischen Identität und Differenz, oder zwischen Transzendenz und Immanenz, umgekehrt werden. Diese Umkehrung ist qualitativ, weil sie das Minoritäre von Rechts wegen zur differenziellen Regel und somit die faktisch vorliegenden kulturellen identifizierenden Merkmale zu Effekten einer vorausliegenden Sinnbildung macht (Rölli 2006: 39). Dieser von Rechts wegen gültigen differentiellen Regel des Minoritären gemäß wird deutlich, inwieweit der paranoische Pol des Wahns als „Flucht vor der Flucht“ eine Form der Selbstzerstörung beschreibt, die den von Deleuze und Guattari bezeichneten Formen der Selbstverachtung im Sinne eines Minoritär-Werdens entgegenlaufen. Der organlose Körper wird in diesem Fall nicht erreicht; vielmehr wird ein Organismus von einem anderen abgelöst. Wie bereits angedeutet besteht neben dieser Problematik eine weitere, von mir als Mikroproblematik bezeichnete Gefahr, die bei Deleuze und Guattari als Verwechselung von erfundenen Selbstzerstörungen mit dem Todestrieb bezeichnet wird (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 219). Dieser Problematik widmet sich das nun folgende Kapitel, auch, um über die Kennzeichnung der möglichst zu umgehenden Gefahren präzisieren zu

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können, wie sich Deleuze und Guattari einen „gelungenen“ organlosen Körper vorstellen. Der „kollabierte“ organlose Körper – selbstmörderische Neuordnungen Den Hintergrund für die Gefahren, den organlosen Körper zu verfehlen oder auch zu blockieren, sehen Deleuze und Guattari vor allem in der Tatsache begründet, dass der organlose Körper eine Grenze markiert und nicht als Substanz zu verstehen ist: „Den organlosen Körper erreicht man nie, man kann ihn nicht erreichen, man hat ihn immer angestrebt, er ist eine Grenze. Man sagt: was ist der oK – aber man ist bereits auf ihm, man kriecht wie Ungeziefer, tastet wie ein Blinder herum oder rennt durch die Gegend wie ein Verrückter, wie ein Reisender in der Wüste oder ein Nomade in der Steppe“ (Deleuze/Guattari 1992: 206). Diese Grenze ist jedoch nicht als eine Grenze zu einer Realität hin gedacht, d.h. als Grenze, die ein Innen von einem Außen trennt und somit dazu führt, dass ein Innen sich an einem Außen orientieren könnte, sondern vielmehr als eine immanente Grenze, eine vertikale Grenze. Eine dieser vertikalen Grenze gegenüberstehende horizontale Grenze wird gezogen, sobald von der bereits angesprochenen „Flucht vor der Flucht“ die Rede ist. In diesem Fall verfehlt man den organlosen Körper, bleibt im Organismus gefangen, da eine der paranoiden Angst vor Manipulation entspringende Flucht, entweder auf die Couch des Psychoanalytikers (vgl. Deleuze/Guattari 1977: 7), oder aber an den Rand der Gesellschaft führt. Der organlose Körper als singuläres Ereignisfeld, das durch den Organismus überlagert ist, wird nicht erreicht. Als vertikale Grenze, als Punkt, der den Organismus durchlöchert und so einen Zutritt in die Sphäre der Immanenzmilieus gestattet, indem er dieses im gleichen Moment darstellt, ist der organlose Körper darauf angewiesen, „eine Art Gleichung zwischen Mensch, Gesellschaft, Natur und Ding“ (Artaud 1998: 396) aufzustellen. Antonin Artaud, mit dem sich Deleuze und Guattari im Zuge ihrer Konzeption eines organlosen Körpers intensiv auseinandersetzen, beschreibt einen solchen Vorgang im Kontext seines Entwurfs des Theaters der Grausamkeit, innerhalb dessen das Theater als Aktionsraum konstituiert werden soll, „in dem die Subjekte auf die Erfahrung ihres elementaren Lebens zurückgeworfen wer-

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den“ (Brauneck 1998: 470). Dieser Aktionsraum als Äquivalent des organlosen Körpers führt Artaud zufolge dazu, die gewohnten Begrenztheiten des Menschen und seiner Fähigkeiten zu verwerfen und die Grenzen dessen, was man Realität nennt, bis ins Unendliche zu erweitern. Man muss an einen […] erneuerten Sinn des Lebens glauben, wo sich der Mensch unerschrocken dessen bemächtigt, was noch nicht ist, und es entstehen lässt (Artaud 1969: 15).

Die Grausamkeit, die er in direkten Bezug zu seiner Theaterkonzeption setzt, lässt sich hieran anknüpfend als Äquivalent zu der von Deleuze und Guattari ausgearbeiteten Form der Selbstzerstörung verstehen und hilft, diese zu konkretisieren, bzw. in einem nächsten Schritt von besagter Selbstzerstörung, die mit dem Todestrieb verwechselt wird, zu unterscheiden. Artaud äußert sich in seinem Manifest zum Theater der Grausamkeit hierzu folgendermaßen: Theater der Grausamkeit bedeutet zunächst einmal Theater, das für mich selbst schwierig und grausam ist. Und auf der Ebene der Vorführung handelt es sich nicht um jene Grausamkeit, die wir uns gegenseitig antun können, indem wir einander zerstückeln, indem wir unsre persönlichen Anatomien mit der Säge bearbeiten oder, wie die assyrischen Herrscher, indem wir uns mit der Post Säcke voll Menschenohren, voll säuberlich abgetrennter Nasen und Nasenflügel zuschicken, sondern um die sehr viel schrecklichere und notwendigere Grausamkeit, welche die Dinge uns gegenüber üben können. Wir sind nicht frei (Artaud 1998a: 409).

Die umherirrenden Kräfte des Unbewußten, die Artaud hier anspricht, die Dinge, vor denen wir uns besser in Acht nehmen sollten, werden zum Ausgangspunkt dafür, das grausame „Verhängnis“ (Artaud 1998a: 405) der eigenen Abhängigkeit von und zu diesen Kräften zu erfahren. Artaud fährt fort, indem er konstatiert, dass „unsre Anarchie und unsre geistige Unordnung von der Anarchie alles übrigen ab[hängt] – oder vielmehr, alles übrige von dieser Anarchie ab[hängt]“ (Artaud 1998a: 408). Die von ihm entwickelte Vorstellung eines Theaters, das mit dieser Einsicht spielt, muss, wie auch der organlose Körper, auf dem wir uns, wie Deleuze und Guattari erklären, bereits be-

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wegen, ohne ihn erreichen zu können, einer Begrenzung unterzogen werden, die ich als vertikale Begrenzung bezeichnet habe. Diese Begrenzung basiert, wie Artaud in folgendem Zitat ausführt, auf Verkettungen, die zwischen den Dingen und den Strömen des Begehrens ein in sich funktionierendes Gefüge entstehen lassen, das keinerlei Referenz in horizontaler Hinsicht mehr benötigt. „Es geht darum, dem Theater im eigentlichen Wortsinn eine Funktion zu erteilen, aus ihm etwas so Begrenztes, so Genaues zu machen wie den Blutkreislauf in den Adern […] und dies durch eine wirksame Verkettung, eine wirkliche Knechtung der Aufmerksamkeit“ (Artaud 1998: 397). Der Körper, das Theater wird begrenzt, singulär, indem er sich daran bemisst, in einer bestimmten Situation, mit dieser Situation zu funktionieren oder nicht.29 Die von Artaud beschriebene Grausamkeit eröffnet die Möglichkeit, sich der zweiten Gefahr, die besteht, sobald ein organloser Körper geschaffen werden soll, zu nähern. Deleuze/Guattari fassen die Problematiken innerhalb eines solchen Prozesses wie folgt zusammen: „Es gibt […] mehrere Möglichkeiten, den oK zu verpfuschen, entweder, weil man es nicht schafft, ihn zu produzieren, oder, weil man ihn zwar mehr oder weniger produziert, sich dann aber nichts auf ihm produzieren lässt, so dass die Intensitäten nicht in Bewegung kommen oder blockiert sind“ (Deleuze/Guattari 1992: 220). Während die Grausamkeit der verhängnisvollen Kräfte in einem Fall also nicht wahrgenommen werden kann, bzw. nur ein Abgleich eines Innen mit einem Außen stattfindet, besteht die zweite Gefahr darin, eine Begrenzung des Körpers zu einer selbstmörderischen Tat ausufern zu lassen, anstatt sich immer wieder neue Begrenzungen zu suchen. Deleuze/Guattari sprechen in diesem Fall von ausgehöhlten Körpern, von Körpern, die sich ihrer Organe entledigt haben: Man erreicht den oK und seine Konsistenzebene nicht, wenn man wild drauflos destratifiziert. Deshalb begegneten wir […] dem Paradox dieser finsteren,

29 Inwieweit es im Kontext der Ästhetik Limitierungen, und eben nicht die Perfektion sind, die das Schöne am Körper zum Ausdruck bringen, zeigt Gesa Ziemer in ihrem Projekt Verletzbare Orte – Entwurf einer praktischen Ästhetik auf sehr eindrucksvolle Art und Weise (vgl. Ziemer 2008).

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ausgehöhlten Körper: sie haben sich ihrer Organe entledigt, anstatt nach Punkten zu suchen, an denen sie geduldig und zeitweilig jene Organisation von Organen hätten demontieren können, die man Organismus nennt (Deleuze/Guattari 1992: 220).

In ihrem Aufsatz Wie schafft man sich einen organlosen Körper? versuchen Deleuze/Guattari die beiden nah beieinander liegenden Formen der Selbstzerstörung – einmal als grausame Erfahrung im Sinne Artauds, einmal als letztlich unproduktiven Selbstmord – einer möglichst genauen Unterscheidung zu unterziehen, um Handlungsanweisungen dafür ermitteln zu können, sich vor einer Selbstzerstörung, die den Tod nach sich zieht, schützen zu können. Auf einer übergeordneten Ebene erscheint es zwar als durchaus möglich, auch die zuvor dargestellte Problematik eines paranoiden Körpers, der sich an den Rand der Gesellschaft begibt, als selbstmörderisch zu bezeichnen, da ein solcher seine schöpferischen Potentiale nicht ausüben kann, sondern im Gegenteil, durch seine Position am Rande, im Asyl möglicherweise stärker und einfacher in eine hierarchisch geordnete Struktur einzubinden ist. Die Ebene, auf welcher die Gefahr angesiedelt ist, zwar einen organlosen Körper produziert zu haben, diesen jedoch nicht nutzen zu können, ist meiner Meinung nach jedoch in ihrer Komplexität, bzw. der Komplexität der Gefahr und ihrer Abwehr als engmaschiger anzusehen. Es ist festzuhalten, dass Deleuze und Guattari in ihrem Aufsatz von in gewisser Weise durcheinander gebrachten Organismen, wie etwa dem drogensüchtigen oder dem bereits besprochenen paranoiden Körper ausgehen. Sie beschreiben, wie ein solcher Körper den normalerweise gegebenen Abläufen des Organismus nicht mehr gehorcht, bzw. seine eigenen Abläufe, seine eigenen Bedürfnisse oder Empfindungen entwickelt, deren Befriedigung sich dem eigentlichen Funktionieren des Organismus entzieht und dennoch innerhalb desselben stattfindet. Während die Organe des paranoiden Körpers „unaufhörlich von äußeren Einflüssen angegriffen werden, die aber auch von äußeren Energien wiederhergestellt werden“ (Deleuze/Guattari 1992: 206), beschreiben Deleuze/Guattari den drogensüchtigen Körper mit Hilfe von William Burrough als ein experimentelles Feld, das eine eigene Organisation herstellt:

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Der menschliche Körper ist skandalös schlecht organisiert. Warum nicht anstelle von Mund und Anus, die so vielen Erkrankungsmöglichkeiten ausgesetzt sind, ein Allzweck-Loch, das zum Essen und zur Ausscheidung dient? Wir können Nase und Mund abschließen, den Magen auffüllen, ein Luftloch direkt in die Lungen machen, wo es eigentlich von vornherein hingehört hätte (Deleuze/Guattari 1992: 207). Dieses Zitat verdeutlicht, inwieweit der Körper eines drogensüchtigen Menschen darauf eingestellt ist, über den Konsum der Droge seine Bedürfnisse zu stillen; Tageszeiten, oder vom Organismus üblicherweise vorgetragene Wünsche nach regelmäßigen Mahlzeiten usw., verlieren ihre sonst Stabilität erhaltende Funktion, obwohl es immer noch die gleichen Organe sind, die nun jedoch auf andere Art und Weise Halt zu finden suchen. Das hier erwähnte Allzweck-Loch steht demgemäß für die Eindimensionalität des Begehrens, die ein drogensüchtiger Körper im Laufe der Zeit entwickelt. Im Gegensatz zu einem durch äußere Einflüsse angegriffenen paranoiden Körper, der die von Artaud angesprochene Grausamkeit der Aufmerksamkeit dafür, nicht frei zu sein, innerhalb und als Beziehung zu etwas ihm Äußeren erfährt und notwendigerweise dann auch nur durch äußere Energien angetrieben versucht, doch frei zu sein, bezieht der drogensüchtige Körper sich zunächst zwar auch auf äußere Einflüsse (die Droge), um jedoch des Weiteren diesen äußeren Einflüssen gemäße innere Neuordnungen zu schaffen, bzw. schaffen zu müssen. Das Erkennen der Artaudschen Grausamkeit geht hier einen direkten Weg. Die Droge zersprengt den hierarchisch geordneten Organismus, indem der Körper Neuordnungen entwickelt. Durch den Einfluss von außen, einer Stromentnahme, setzt sich eine eigene Stromproduktion in Gang, die jedoch, anstatt weitere Verkettungen einzugehen, eine selbstzerstörerische Neuordnung nach sich zieht. Das Allzweck-Loch macht im übertragenden Sinne die anderen Organe nutzlos. Deleuze/Guattari fragen in diesem Zusammenhang nach der Möglichkeit einer solchen Neuordnung, jedoch ohne die selbstzerstörerische Konsequenz des dargestellten Beispiels, denn: Das Schlimmste ist nicht, stratifiziert, organisiert, signifiziert oder unterworfen zu bleiben, sondern die Schichten zu einem selbstmörderischen oder unsinni-

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gen Zusammenbruch zu treiben, der dazu führt, dass sie, schwerer als je zuvor auf euch zurückfallen. Man sollte folgendes tun: sich auf einer Schicht einrichten, mit den Möglichkeiten experimentieren, die sie uns bietet, dort nach einem günstigen Ort suchen, nach eventuellen Bewegungen der Deterritorialisierung, nach möglichen Fluchtlinien, sie erproben, hier und da Zusammenschlüsse von Strömen sichern, Segment für Segment die Intensitätskontinuen ausprobieren und immer ein kleines Stück Neuland haben (Deleuze/Guattari 1992: 221).

Das Besondere an den Ausführungen Deleuzes und Guattaris besteht also in der Auseinandersetzung damit, die Möglichkeit einer Neuordnung nicht außerhalb eines bestehenden Systems, sondern innerhalb desselben zu denken, ohne deshalb einem Anarchismus zu verfallen, der diese Neuordnungen entweder als Ausgangsposition, oder als Endpunkt einengt, bzw. zerstört. Deleuzes und Guattaris Konzeption eines organlosen Körpers funktioniert über Einschnitte, die gerade durch Momente der Selbstverachtung, durch Momente der Grausamkeit erzeugt werden und die, anstatt das Eine durch ein Anderes zu ersetzen, einen Raum öffnen, der sich unter den eigenen Füßen auftut, weil er sich auftun muss, nicht, weil er sich auftun soll. Anstatt sich auf horizontaler Ebene zu bewegen, um einen Platz zu finden, um zu werden, oder aber, um bleiben zu können, was man vermutet zu sein, geht es bei Deleuze und Guattari um eine Reise in die Tiefe, eine Reise in die Welt unterhalb der Repräsentationen, unterhalb der Vorstellungen und Konstruktionen darüber, was Realität ist. „Wenn ich mich nicht bewege, nicht reise, so habe ich […] meine Reisen auf der Stelle. […] Das Problem ist nicht dies oder jenes im Menschen zu sein, sondern eher ein Unmenschlich-Werden, ein universelles Tier-Werden: nicht sich für ein Tier halten, sondern die menschliche Körperorganisation auflösen, diese oder jene Intensitätszone des Körpers durchqueren“ (Deleuze 1993: 23). Deleuze/Guattari zeigen mit den von ihnen gewählten Neuformungen, dass innerhalb des Systems Organismus etwas möglich ist, was so nicht vorgesehen ist. Die Neuformung ist somit nicht utopisch, endet jedoch unter Umständen in selbstzerstörerischer Konsequenz. In dem Moment, in dem die vorgesehenen Raster, in welche der Organismus die Organe spannt, ihnen Halt verleiht und ihnen bestimmte Ab-

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läufe vorgibt, gebrochen werden, nehmen neue, Sicherheit versprechende Ordnungen, wie etwa durch die Droge hergestellt, diese Rolle ein. Sie versuchen, dieser Gefahr zu entgehen, indem sie dazu animieren, einer bewussten Taktik zu folgen, deren Kern folgendes Zitat darstellt: Man muss genügend Organismus bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmerung neu gestalten kann; und man braucht kleine Vorräte an Signifikanz und Interpretation, man muss auf sie aufpassen, auch um sie ihrem eigenen System entgegenzusetzen, wenn die Umstände es verlangen, wenn Dinge, Personen oder sogar Situationen euch dazu zwingen; und man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muss so viel davon aufheben, dass man auf die herrschende Realität antworten kann (Deleuze/Guattari 1992: 220).

Die Problematik, die sich innerhalb dieser Aussage darstellt, betrifft nicht nur die Frage danach, an welchem Punkt sich ein gelungener organloser Körper im Sinne eines Begehrens, das sich den Repräsentationen und Gelüsten entzieht, von einem hierarchisch geordneten Organismen löst, sondern auch wie dieser Punkt als solcher wahrgenommen werden kann. Was zeichnet ihn aus? Wie kann die Grenze, die ein solcher Punkt darstellt, indem er den Organismus durchlöchert, von Grenzen, die durch ein anderes Begehren, ein Gelüst, oder eine Begierde in Gang gesetzt wurden, unterschieden werden? Deleuze und Guattari fassen diese Problematik in folgendem Zitat zusammen. Die hier äußerst vage bleibende Aufforderung dazu, sich selbst zu überwachen, bezeichnet meiner Meinung nach jedoch gerade die Schwierigkeit, sich den benannten Gefahren zu erwehren und bietet möglicherweise einigen Spielraum dafür, die Relevanz des organlosen Körpers in Frage zu stellen: Deshalb besteht das materielle Problem einer Schizoanalyse darin, ob wir über die Mittel verfügen, eine Selektion vorzunehmen und den oK von seinen Doubles zu trennen: ausgezehrte, gläserne Körper, krebsbefallene, totalitäre und faschistische Körper. Die Probe des Begehrens: nicht die falschen Begehren kritisieren, sondern im Begehren zwischen dem unterscheiden, was auf der Wucherung eines Stratums oder auf allzu gewaltsamer Destratifizierung beruht und was auf der Konstruktion der Konsistenzebene beruht (bis in uns selber

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hinein faschistische, selbstmörderische und wahnsinnige Elemente überwachen) (Deleuze/Guattari 1992: 226).

1.2.3 Die Immanenz: ein Leben In einem seiner letzten Texte erarbeitet Deleuze den Begriff des einen Lebens. Im Sinne einer vitalistischen Ausformung begreift er ein Leben als radikalen Exzess, als absoluten Widerstand, als ein Leben, das nicht eingenommen werden kann, und holt die zuvor unterhalb der Welt der Repräsentationen angesiedelte Ebene des immanenten Begehrens an die Oberfläche. Im Gegenteil zu Foucaults Konzeption der Biomacht als „Macht über das Leben“ akzentuiert Deleuze hier ein Verständnis davon, Vitalismus als „Macht des Lebens“, als selbstbezügliche Machtrelation zu begreifen. Es scheint also durchaus zulässig, diese Entwicklung als Antwort auf die zuvor aufgezeigte Problematik anzusehen, notwendigerweise einen Rest an Subjektivität bewahren zu müssen, um einen organlosen Körper herstellen zu können. Deleuze versucht die Frage, wie es möglich sein soll, innerhalb eines von ihm als Prozess der Selbstzerstörung bezeichneten Vorgangs einen reflexiven Standort einnehmen zu können, durch den Begriff des einen Lebens zu beantworten, indem er dieses eine Leben als reine Immanenz konzipiert. Im Kontext der zuvor diskutierten Gestalt des organlosen Körpers wurde deutlich, dass der Abbau von Subjektivität in einen sich immer wieder vollziehenden Prozess von Einschnitten eingebunden ist, die den Stromfluss kapitalistischer Realität unterbrechen, ihm Strom zur eigenen Produktion und als Anschluss für weitere Maschinen entnehmen. Im Gegensatz dazu geht Deleuze nun von einer Ebene aus, die gänzlich neutral, von vorn herein subjektlos ist. Die „Macht des Lebens“ zeigt sich als „Diesheit, die nicht mehr einer Individuation, sondern einer Singularisierung entspricht: Leben reiner Immanenz, neutral, jenseits von Gut und Böse, da es einzig durch das Subjekt, das es inmitten der Dinge verkörpert, gut oder böse wurde“ (Deleuze 2005a: 368). Zwar stellt sich die Ebene der Immanenzmilieus, „in denen die etablierten Strukturen der Mehrheit als bedingt erscheinen“, wie mit Hilfe Röllis gezeigt werden konnte, auch in den früheren Arbeiten Deleuzes „von Rechts wegen […] als differenzielle Regel“ dar, d.h., dass die Erschaffung eines organlosen Körpers in der

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Entdeckung dieser primären Ebene besteht, doch wandelt sich diese Annahme nun dahingehend, als das Minorität-Werden, das es erst ermöglicht hatte, diese primäre Ebene sichtbar zu machen, von einer vitalistischen „Macht des Lebens“ abgelöst wird, die kein Werden bezeichnet, sondern bereits absolute Diesheit ist. „Die Ereignisse oder Singularitäten verleihen der Immanenzebene all ihre Virtualität, so wie die Immanenzebene den virtuellen Ergebnissen volle Realität verleiht“ (Deleuze 1995a: 369/370). In diesem Sinne bezeichnet ein Leben die vollständige Auflösung einer Beziehung zwischen Sein und Differenz, deren bisherige Schritte anhand der Entwicklung von einem univoken Sein zu der Konzeption eines organlosen Körpers nachgezeichnet wurden. Nicht das Nicht-different-Werden des Differenten steht nun im Vordergrund, sondern das Nicht-different-Sein des Differenten wird durch die „Macht des Lebens“, durch das eine Leben in den Blick genommen. „Das Leben des Individuums ist einem unpersönlichen Leben gewichen, das ein reines Ereignis hervortreten lässt, frei von den Zufällen des inneren und äußeren Lebens, das heißt von der Subjektivität und Objektivität dessen, was geschieht“ (Deleuze 2005a: 368). Die Zufälle, die Deleuze hier anspricht, lassen sich in den Kontext der zuvor angesprochenen Gefahren überleiten, die bestehen, sobald ein organloser Körper geschaffen wird. In der Art, in der diese von mir als Makro-, bzw. Mikroproblematiken abgehandelt wurden, unterscheidet Deleuze hier die Subjektivität und Objektivität dessen, was sich auf der gesellschaftlichen Ebene der Repräsentation dem Erlangen eines solchen Körpers entgegenstellt und eröffnet eine Sphäre, in der es möglich ist, Aktualisierungsvorgänge von dem zu trennen, was aktualisiert wird. Anstatt davon auszugehen, dass zwar von Rechts wegen (vgl. Rölli 2006: 39), d.h. in begrifflicher Hinsicht, ein immanentes Begehren existiert, das primär vor jeder Repräsentation besteht, das sich jedoch aktualisieren muss, beschreibt Deleuze dieses immanente Begehren nun als ein Leben, das zwar als aktualisiertes erlebt werden kann, sich dieser Bestimmung jedoch entziehen kann, ohne diese zuvor notwendigerweise eingenommen zu haben.

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Dem als nicht-aktualisiert (indefinit) betrachteten Ereignis fehlt nichts. Es genügt, es mit seinen Begleitumständen in Beziehung zu setzen: einem transzendentalen Feld, einer Immanenzebene, einem Leben, Singularitäten. Eine Wunde verkörpert oder aktualisiert sich in einem Sachverhalt oder in einem Erleben; sie selbst aber ist reines Virtuelles auf der Immanenzebene, die uns in ein Leben hineinzieht. Meine Wunde existiert vor mir… (Deleuze 2005a: 370).

Deleuze nennt in seinem Aufsatz zwei Beispiele für ein Leben, die in ihrer Unterschiedlichkeit zu erkennen geben, worin er eine „Macht des Lebens“ zu finden glaubt, die sich, obwohl jede Form der Subjektivität, jede Form der Aktualisierung entweder bereits abwesend oder noch nicht anwesend ist, als immanentes Leben zeigt, das die Singularitäten durchzieht. Als erstes Beispiel nennt Deleuze eine Szene aus Charles Dickens` Erzählung Unser gemeinsamer Freund: Was ist Immanenz? Ein Leben… Wie kein anderer hat Dickens erzählt, was ein Leben ist, indem er dem unbestimmten Artikel als Indiz des Transzendentalen Rechnung trug. Ein Schurke, ein übles, von allen verachtetes Subjekt wird sterbend hereingebracht, und mit einem Mal bezeugen alle, die ihn pflegen, eine Art Eifer, Achtung, Liebe gegenüber dem geringsten Lebenszeichen des Sterbenden. Jeder bemüht sich, ihn zu retten, so dass inmitten seines Komas der Bösewicht selber sich von etwas Sanftem durchdrungen fühlt. Doch in dem Maße, wie er zum Leben zurückkehrt, werden seine Retter immer kälter und findet er zu seiner Grobheit, seiner Bosheit zurück. Zwischen seinem Leben und seinem Tod gibt es einen Moment, der nur mehr der eines Lebens ist, das mit dem Tod ringt (Deleuze 2005a: 367/368).

Giorgio Agamben erkennt innerhalb Dickens Werk vor allem die Unterscheidung zwischen „dem Individuum Riderhood [dem von Deleuze benannten Schurken] und dem ‚Funken Leben in ihm, der auf sonderbare Weise von dem Schurken, in dem er sich befindet, abtrennbar zu sein scheint“ (Agamben 1998: 100/101) als möglichen Ausgangspunkt für Deleuze, sich mit dieser Erzählung zu befassen.30

30 Agamben zitiert unter anderem die beiden folgenden Textstellen aus Dickens` Erzählung: „Keiner von ihnen hegt die leiseste Zuneigung für den

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Dieser Einschätzung folgend wird deutlich, dass es der „Funken Leben“ ist, der mit dem Tod ringt, während das Individuum, das Subjekt Riderhood, bereits tot zu sein scheint. An dieser Stelle drängt sich der Vergleich zu Deleuzes und Guattaris Konzeption eines organlosen Körpers auf, die auf einer Form der Selbstzerstörung basiert, auf der Grausamkeit der Erfahrung, nicht frei zu sein. Das hier angesprochene Ringen mit dem Tod, das ein Leben führt, unterscheidet sich jedoch von einer solchen Form der durch Selbstzerstörung erschaffenen Neuordnung dadurch, das es der Tod ist – und nicht die von Artaud zur Sprache gebrachten Dinge – der sozusagen als absolute Grausamkeit zum Vorschein bringt, was die Subjektivität verbarg. Allerdings wendet Deleuze hier sofort ein, dass „man […] ein Leben nicht auf den Moment begrenzen [sollte], in dem das individuelle Leben dem universalen Tod trotzt. Ein Leben ist überall, in allen Momenten, die von diesem oder jenem lebenden Subjekt durchlaufen und von diesen oder jenen erlebten Objekten gemessen werden: ein immanentes Leben, das die Ereignisse oder Singularitäten mit sich reißt, die sich in Subjekten und Objekten lediglich aktualisieren“ (Deleuze 2005a: 368). Um diese Aussage zu bekräftigen, erwähnt Deleuze in seinem zweiten Beispiel ein Leben, das er bei Kleinkindern zu entdecken glaubt: So ähneln zum Beispiel die Kleinkinder einander und besitzen kaum Individualität; aber sie haben Singularitäten, ein Lächeln, eine Handbewegung, eine Grimasse, Ereignisse, die keine subjektiven Merkmale sind. Die Kleinkinder werden von einem immanenten Leben durchzogen, das reines Vermögen ist

Mann, Allen ist er vielmehr ein Gegenstand des Misstrauens, der Abneigung gewesen und von ihnen gemieden worden; aber der Funke Leben in ihm ist jetzt seltsamer Weise trennbar von ihm selbst, und sie haben ein großes Interesse daran, vielleicht deshalb, weil es eben Leben ist und weil sie selbst leben und einst sterben müssen“ (Dickens 1866: 28, zitiert in: Agamben 1998: 101). Hieran anknüpfend: „Der Lebensfunke erweckte viel Teilnahme, so lange er dem Erlöschen nahe war, aber jetzt, nachdem er in Mr. Riderhood wieder aufgelebt ist, scheint der Wunsch allgemein empfunden zu werden, dass er lieber in einem anderen menschlichen Wesen wieder aufgewacht sein möchte“ (Dickens 1866: 30-32, zitiert in: Agamben 1998: 103).

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und sogar Glücksseligkeit, über alle Leiden und Hinfälligkeiten hinweg (Deleuze 2005a: 368/ 369).

Betrachtet man beide von Deleuze genannten Beispiele, so fällt auf, dass sie sich an den jeweils äußersten Rändern bewegen, innerhalb derer sich die der Subjektivität entspringende Möglichkeit zur Reflexion ansiedelt. Mit dieser fehlenden Möglichkeit korrespondiert zum einen die erwähnte absolute Grausamkeit des Todes, die hier nicht mit dem zuvor behandelten Todestrieb verwechselt werden darf, und zum anderen eine nicht existente Grausamkeit: die durch das direkte Erleben eines Kleinkindes nicht gegebene Erfahrungsmöglichkeit, nicht frei zu sein. Während im ersten Fall die Möglichkeit der Reflexion im Nachhinein ausgeschlossen wurde, besteht im ersten Fall von vornherein keine Reflexionsmöglichkeit. Da Deleuze, wie gezeigt wurde, ein Leben eben nicht auf den Moment des Todes begrenzen möchte und ebenso nicht als vor-reflexives Geschehen analysiert, sondern als ein Leben, das überall ist, in allen Momenten (vgl. Deleuze 2005a: 368), verweisen seine Beispiele, ähnlich des organlosen Körpers, auf eine präexistente Matrix, die sich jedoch nun nicht als ein sich begehrendes Begehren, als nicht-different-Werden des Differenten, zu erkennen gibt, sondern ein Leben als nicht-different-Sein des Differenten bezeichnet. Entscheidend ist, dass sich seine Funktion als das gerade Gegenteil von derjenigen erweist, die das nährende Leben im aristotelischen Dispositiv inne hat. Wirkte dieses als Prinzip, mittels dessen man das Leben einem Subjekt zuschreiben konnte (das Leben kommt den lebenden Wesen dank dieser Grundkraft zu), ist es unmöglich ein Leben…, als Figur der absoluten Immanenz, irgendeinem Subjekt zuzuschreiben, da es die Matrix einer unendlichen Desubjektivierung ist (Agamben 1998: 110).

Ein Leben als nicht-different-Sein des Differenten, als singuläres Leben, das reines Vermögen ist, ist somit die als Leben emporsteigende Ebene einer mikroanalytischen Betrachtung. Aufgrund dieser Stellung als Matrix, die keinerlei Rückbezug auf eine Makroebene herzustellen hat, bzw. sich erst aus einer solchen, aus der Konfrontation des Einzelnen mit einer solchen bilden würde, entgeht ein Leben der im letzten

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Kapitel angesprochenen Gefahr, zerstört zu werden. Ein Leben kann nicht durch äußere, soziale Einflüsse zerstört werden. Giorgio Agamben betont in seiner Auseinandersetzung mit Deleuzes Konzeption des einen Lebens, dass man „sich des Eindrucks nicht erwehren [kann], dass der heikle Versuch, den Taumel der Immanenz durch ein Leben zu klären, uns im Gegenteil auf ein noch unwägbareres Gebiet geführt hat, wo das Kind und der Sterbende die rätselhafte Signatur des nackten biologischen Lebens zur Schau stellen“ (Agamben 1998: 105). Agambens Begriff des nackten Lebens basiert auf seiner Einsicht, Biopolitik im Gegensatz zu Foucault auf die Unterscheidung und Spaltung des Lebens in ein soziales und nacktes Leben hin untersuchen zu müssen: „Unter Bezugnahme auf die im Griechischen existierende Unterscheidung zwischen bios (das politische Leben) und zoé (das nackte, bloße, biologische Leben) erklärt er [Agamben], die paradoxe Struktur abendländischer Souveränität führe zurück auf die Möglichkeit ‚zwischen unserem biologischen Körper und unserem politischen Körper […] zu unterscheiden“ (Agamben 2002: 197, zitiert in: Graefe 2007: 92/93). Inwieweit sich das nackte Leben als das unwägbare Gebiet präsentiert, als welches Agamben es im Kontext der Deleuzschen Konzeption eines Lebens bezeichnet, wird anhand der von ihm als paradox ermittelten Struktur abendländischer Souveränität deutlich: „Paradox ist diese Struktur, weil das nackte Leben einerseits als Außen des Politischen schlechthin erscheint, andererseits aber das eigentliche Fundament politischer Macht bildet, insofern Recht und Souveränität auf diesem gleichzeitig doppelten und gespalteten Begriff von Leben basieren“ (Graefe 2007: 93). In Frage zu stellen ist also, wie und ob ein Leben als „Funken des Lebens“ hergestellt werden kann? Im Kontext des organlosen Körpers wurde argumentiert, dass ein Minoritär-Werden den Zugang zu den „immanenten gesellschaftlichen Kräften und Strömen“ bieten kann, da „die Minoritäten [in] der Gesellschaft nicht angemessen repräsentiert [werden]: sie fallen durch ihre großflächigen Anerkennungsstrukturen hindurch“ (Rölli 2006: 39). Es wurde darauf hingewiesen, dass Deleuze, um den Gefahren einer paranoischen oder selbstmörderischen Tendenz zu entgehen, die die Herstellung eines organlosen Körpers durchkreuzen und dazu führen kann, dass die hierarchisch geordneten Schichten des Organismus „schwerer als je zuvor auf euch zurückfal-

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len“ (Deleuze/Guattari 1992: 221) dazu aufruft, einen Rest an Subjektivität, ein reflexives Fundament zu bewahren: „Man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muss soviel davon aufheben, dass man auf die herrschende Realität antworten kann“ (Deleuze/Guattari 1992: 220). Vor diesem Hintergrund und im Kontext der Diskussion um das eine Leben zeigt sich eine Kluft innerhalb des Deleuzschen Werkes, die sich zwischen den Polen Reflexion und Vitalismus auftut. Ist es zum einen fraglich, wie und woher die kleinen Rationen von Subjektivität im Moment entspringen sollen, ohne das ganze Unterfangen der Herstellung eines organlosen Körpers zu gefährden, so ist es zum anderen fraglich, wie ein Leben die Matrix einer Desubjektivierung sein kann, anstatt diese zu werden? Die Frage lautet in beiden Fällen, kann ein Leben und kann ein organloser Körper überhaupt hergestellt werden, oder kann ein Leben nur so sein, wie es ist, warum auch immer es so ist, wie es ist, und stößt der Versuch der Herstellung eines organlosen Körpers möglicherweise einen Prozess an, der, verstrickt er sich nicht in machtstabilisierenden Verkettungen, notwendigerweise in den Tod führt? In einem Brief an einen „strengen Kritiker“ bezeichnet Deleuze seine eigene Unsichtbarkeit als Ziel seiner Arbeit: „Man kann weiterhin sagen, und es stimmt auch, dass mein Traum ist, wenn nicht unsichtbar, so doch nicht wahrnehmbar zu sein“ (Deleuze 1993: 14). Deleuze zeigt durch die Entwürfe eines organlosen Körpers und eines Lebens Formen auf, die ein solches Nicht-wahrnehmbar-Sein, bzw. ein solches Nicht-wahrnehmbar-Werden sowohl veranschaulichen, als auch präzisieren. Wie diese Formen jedoch hergestellt werden können und ob diese Formen überhaupt hergestellt, bzw. sich herstellen können beantwortet Deleuze nicht. Auch wenn an dieser Stelle eingewendet werden kann, dass Deleuzes Konzeptionen einer immanenten Seinsauffassung sowohl im Falle des organlosen Körpers, als auch im Falle des einen Lebens von einer Ebene ausgehen, die als solche nicht hergestellt, sondern vielmehr entdeckt, bzw. erfunden werden kann, um dem, und eben nicht einem Leben ereignishafte, singuläre Neuordnungen zugänglich zu machen, so bleibt auch hier fraglich, wie diese Rückkoppelung geschehen soll, ohne in die Gefahr zu geraten, machtstabilisierende Prozesse in Gang zu setzen.

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Es wird zu fragen sein, inwieweit moderne Machtverhältnisse eine Form angenommen haben, die in ihrer Unwahrnehmbarkeit genau die beiden von Deleuze erarbeiteten Pole zu besetzen weiß. Diese Besetzung zeigt sich möglicherweise dadurch, dass sowohl der geforderte Rest an Reflexion im Kontext des organlosen Körpers, als auch das eine Leben, das jede Möglichkeit der Reflexion verwirft, sich, begreift man sie als Pole widerständischen Verhaltens, entweder als ununterscheidbar mit Macht verknüpft, oder aber als nicht-lebbar, als Selbstmord, darstellen.

1.3 Z WISCHENFAZIT – A USBLICK Der nun folgende Schlussteil des ersten Kapitels soll die Betrachtung der jeweiligen Konzeptionen Plessners und Deleuzes abrunden, indem versucht wird, trotz weit reichender Unterschiedlichkeiten innerhalb des subjekttheoretischen Zugangs beider Theoretiker, Möglichkeiten der gegenseitigen Konkretisierung vorzuschlagen, um Handlungsfelder jenseits einer horizontalen, auf Transparenz angelegten Ebene erarbeiten zu können. Zu diesem Zweck soll der Blick zunächst auf den theoretischen Rahmen gelegt werden, der den jeweiligen Subjektkonstitutionen zu Grunde liegt. Dieser Blick orientiert sich an den Gemeinsamkeiten der Konzepte des Schizo-Subjekts und der exzentrischen Positionalität. 1.3.1 Plessners und Deleuzes Konzeption von Subjektivität Als übergeordnete Gemeinsamkeit der beiden Konzepte, die ich unter den Überschriften Exzentrische Positionalität und Schizo-Subjekt dargestellt habe, kann meiner Meinung nach angesehen werden, dass es sowohl Plessner, als auch Deleuze darum geht, einen Prozess des Werdens darzustellen, bzw. diesen Prozess als Fundament ihrer Theorien zu beschreiben. Innerhalb Plessners philosophischer Anthropologie wurde deutlich, dass der Mensch „ohne willkürliche Festlegung einer Ordnung, ohne Vergewaltigung des Lebens“ (Plessner 1981: 422) kein Leben

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führt. Die Ordnungen, die aus dieser Vergewaltigung erwachsen, entsprechen einem Spektrum möglicher Rollen, die dem Menschen nicht rein äußerlich zur Verfügung stehen, sondern vielmehr eine durch ihn immer wieder aktualisierte Weise eigener Identifikation bezeichnen. Während es bei Plessner auf den ersten Blick darum geht, das, was man ist, erst werden zu müssen, bezeichnet Deleuzes Konzeption des Unwahrnehmbar-Werdens, des Schizo-Werdens eine Zerstörung dessen, was aktualisiert ist, um zu den Immanenzmilieus unterhalb der Ebene der Repräsentation vordringen zu können. Es kann demgemäß davon ausgegangen werden, dass Plessners Erkenntnis einer dem Menschen konstitutiven Heimatlosigkeit für ihn als Basis dafür dient, zwischen verschiedenen Kompensationsmöglichkeiten differenzieren zu können, während Deleuze sein Augenmerk darauf richtet, einer solchen Heimatlosigkeit die Ereignishaftigkeit singulären Erlebens entgegenzustellen. Während sich bei Plessner die als notwendig erarbeiteten Kompensationsmodelle dadurch unterscheiden, besagte Heimatlosigkeit entweder als Ausgangspunkt eines Werdens zu akzeptieren, oder aber als zu überwindenden Zustand zu betrachten, versucht Deleuze eine Form des Werdens zu entwerfen, welche eine wie auch immer geartete Kompensation hinfällig werden lässt. Beiden Theoretikern geht es darum, zu untersuchen, wie Erleben stattfindet, bzw. durch welche Setzungen dieses Erleben eingeschränkt wird. In diesem Kontext ist es beiden gemein, einen Grenzpunkt zu ermitteln, an welchem Kompensationen, wie etwa die von Deleuze/Guattari behandelte Psychoanalyse, oder auch die Religion, auf die Plessner konkret eingeht, umgangen werden können, um, entweder Ströme fließen zu lassen, oder aber die Heimatlosigkeit an sich zu aktualisieren, anstatt ihre Überwindung weiter zu spannen. In beiden Fällen richtet sich das Interesse darauf, einer sich innerhalb von horizontalen, flächig werdenden Schichten etablierenden Subjektwerdung einen Grenzpunkt entgegenzusetzen. Dieser Grenzpunkt dient dazu, Möglichkeiten in den Blick zu bekommen, Setzungen, die ein Erleben auf einer horizontalen Ebene ermöglichen, zu hinterfragen und in ihrer Eindimensionalität durchschauen zu können. Zu bemerken ist, dass sowohl Plessner als auch Deleuze davon ausgehen, dass diese Setzungen dazu führen, Möglichkeiten zu übersehen, die das Leben bereithält.

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Während Plessner, um im Rahmen der von ihm angesprochenen Religion zu bleiben, in gewisser Hinsicht ein 11. Gebot aufstellt, das besagt, dass, um das Leben innerhalb exzentrischer Positionalität auszuschöpfen, ein immer wieder aufs Neue herzustellender Umgang mit der dem Menschen konstitutiven Heimatlosigkeit von Nöten ist, der sodann er gelingt die Setzungen, die Realität der 10 Gebote obsolet werden lässt, sucht Deleuze eine „Heimat“ unterhalb der Repräsentation, unterhalb der Setzungen. Neben der Gemeinsamkeit aufzuzeigen, dass es darauf ankommt, den Horizont dafür zu öffnen, erkennen zu können, was unter diesen Realitätserzählungen liegt, anstatt von Neuem Wahrheiten zu entwickeln, unterscheiden sich beide Konzepte jedoch in der Konsequenz, die ihrer Ausgangsanalyse folgt. Plessner betont die Notwendigkeit, das Erleben als Realität erfahren zu müssen und zielt darauf, die Möglichkeit einer eigenen Erzählung von Realität erfahrbar werden zu lassen; er richtet seinen Fokus darauf, dieses Eigene als Grenzpunkt deutlich zu machen. Im Unterschied hierzu sucht Deleuze einen Weg, der es ermöglicht, die durch Setzungen gegebenen Vorstellungen von Realität in singuläres Erleben zu übersetzen. Was auf den ersten Blick konträr erscheint, das Leben führen zu müssen auf der einen, dieses Leben zerstören zu müssen auf der anderen Seite, lässt sich also auf einer übergeordneten Stufe, anhand eines gemeinsamen Ziels zusammenführen: Sowohl Plessner als auch Deleuze verfolgen die Absicht, Fixierungen im Sinne einer dem einen Leben, bzw. der der exzentrischen Positionalität geschuldeten natürlichen Künstlichkeit des Menschen vorausliegenden Sinnbildung zu umgehen. So ist es vor allem der Blick auf Verkürzungen und Reduktionen einer als innerhalb eines Ganzen angesiedelten Vorstellung lebendigen Seins, der beide Theoretiker in Beziehung zu bringen vermag. In Bezug auf die konkrete Frage nach dem Subjektbegriff, lässt sich konstatieren, dass diese Verbindungsmöglichkeit auf der beiden Denkrichtungen zugrunde liegenden Einsicht in die Engführung eines autonomen Subjektbegriffs basiert, demzufolge das Subjekt von der Welt in der es lebt unbeeinflusst ist, Handlungen also ausschließlich dem ausführenden Subjekt unterliegen (vgl. Lorey 1996: 72). Die

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letztlich auf Descartes zurückgehende Bestimmung souveräner Subjektivität, die sich an der dualistischen Ordnung von „res cogitans“ und „res extensa“ orientiert, basiert auf der Einsicht, dass etwas ohne erkennendes Subjekt nicht existiert, da jede Vorstellung impliziert, dass ich als erkennendes Subjekt anwesend bin. Das mit Vernunft und Bewusstsein ausgestattete Subjekt gilt demnach als unbeeinflusst von der Welt, in der es lebt, es ist autonom. Ist es bei Descartes noch die Kraft Gottes, die der Vernunft zur Wahrheit verhilft, so sind es in der Aufklärung die Menschen selbst, die kraft ihrer Vernunft die rationale und politische Ordnung der Welt bestimmen. Innerhalb dieser philosophischen Position, die als Rationalismus bezeichnet wird, leitet sich die Erkenntnis aus der Vernunft ab und wird als unbezweifelbares Instrument der Wahrheitsfindung konzeptionalisiert (Becker-Schmidt 2000: 125, zitiert in: Pfundt 2010: 29).

Diese Einordnung zeigt auf, inwieweit sich die Frage nach den Wirklichkeiten der objektiven und der subjektiven Welt von der Feststellung Descartes, dass es eine objektive Welt gibt, die jedoch nur als subjektive Welt existiert, dahingehend entwickelt, als mit dem Linguistic Turn davon ausgegangen wird, dass es außerhalb der beobachtenden subjektiven Welt keine beobachterunabhängige objektive Welt gibt. Es zeigt sich, dass sich sowohl Plessner als auch Deleuze innerhalb ihrer Konzeptionen von einem autonomen Subjekt der Erkenntnis verabschieden. Plessner versucht in diesem Zusammenhang über den Begriff des Lebendigen eine Schnittstelle zwischen den zuvor dualistisch behandelten Bereichen Subjekt und Objekt herzustellen. Er löst die Dichotomie von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt auf, indem er das Subjekt als nicht nur nicht Objekt und das Objekt als nicht nur nicht Subjekt denkt. Sein Ziel ist es, durch den Begriff der Grenze eine verschiebbare Form der Binnen-Differenzierung zwischen Innen und Außen zu erarbeiten, um somit die eigentlich inkommensurabel nebeneinander stehenden Größen Subjekt und Objekt widerspruchsfrei zusammen denken zu können (vgl. S. 21). Die Möglichkeit dieses Zusammendenkens, das immer wieder neu gewahr Werden der eigenen Grenzstellung zwischen Innen und Außen

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bezeichnet Plessner zufolge besagte konstitutive Heimatlosigkeit des Menschen, die dieser notwendigerweise kompensieren muss, ohne durch diese Kompensation jedoch fixiert, d.h. nach außen hin erkennbar zu werden. Insofern lässt sich Subjektivität innerhalb der Plessnerschen Auseinandersetzung als Grenzpunkt definieren, der jedoch innerhalb eines Ganzen anzusiedeln ist und sich stetig verschiebt. Deleuzes Ansatz entspringt auf den ersten Blick der poststrukturalistischen Tradition, die von einer Dezentrierung des Subjekts ausgeht: „Dezentrierung meint, dass das autonome Subjekt der Aufklärung aus seiner Position als Zentrum von Selbst und Welt gerückt wird, indem ihm das Vermögen einer stabilen Selbstwahrnehmung, die ihm vormals durch Vernunft und Bewusstsein zugesprochen wurde, aberkannt wird“ (Pfundt 2010: 33). Der poststrukturalistische Ansatz, der als solcher zwar nicht als kohärente Figur angesehen werden kann, hier zu einer vorläufigen Einordnung jedoch als spezifische Denkrichtung angesehen wird, versteht dieser Dezentrierung folgend „Subjektivierung als Prozess […], der qua Einschreibung sozialer Kategorien in das Leben der Menschen aus diesen Zugehörige einer veränderlichen sozialen Ordnung macht, in der sich die Einzelnen individuell wieder erkennen“ (Graefe 2007: 14). Insbesondere innerhalb der Arbeiten Foucaults setzen sich diese Einschreibungen aus den Komplexen Macht/Wissen zusammen, die in seinem Spätwerk durch das Gebiet der Selbstverhältnisse ergänzt werden. Foucault zufolge hat das Wort Subjekt im Kontext dieser drei Komplexe eine doppelte Bedeutung: Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht (Foucault 1994: 246/247).

Da eine poststrukturalistische Denkrichtung davon ausgeht, dass das Subjekt, dem Zitat Foucaults folgend keine Substanz, sondern vielmehr eine Form ist, die sich dem genannten doppelten Unterwerfungsprozess gemäß bildet, wird an anthropologischen Sichtweisen kritisiert, dass „die Kennzeichnung eines Menschen als Person […] oft an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird“ (Graefe 2007: 15).

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Diese Voraussetzungen, die üblicher Weise damit verbunden sind, anthropologischen Theorien vorzuhalten, sich „im Kern auf eine unentfremdete menschliche Natur“ (Rölli 2008: 215) zu beziehen und somit zu postulieren, dass etwas vorgegeben wird, das vor der Erfahrung existiert, lassen sich in Bezug auf Plessners exzentrische Positionalität nicht aufrechterhalten. Es wird im Gegenteil zu zeigen sein, inwieweit eine poststrukturalistische Subjektposition sich auf einer tieferen Ebene, d.h. auf einer Ebene, die zu klären sucht, wo sich der doppelten Unterwerfung des Subjekts zum Trotz widerständische, d.h. ereignishafte Momente abspielen können, in die Gefahr gerät, sich auf substanzielle Elemente zurückziehen zu müssen. Plessner entgeht dem Vorwurf der Vorgängigkeit einer unentfremdeten Natur, indem er zum einen davon ausgeht, dass zu sich selbst Stellung zu nehmen nicht heißt, einen Zusammenhang herstellen zu müssen, zwischen diesem Selbst als unentfremdeter menschlichen Natur und einem Begriff von Leben, der veränderlichen sozialen Ordnungen folgt. Zu sich selbst Stellung zu nehmen bedeutet vielmehr, die Frage nach dem Menschen daraufhin zu überprüfen, ob und inwiefern Verkürzungen bzw. Fixierungen seines Erlebens der eigentlichen Möglichkeitsoffenheit seiner exzentrischen Positionalität widersprechen. Die Frage nach dem Menschen bedeutet also, einen kritischen Standort einzunehmen und Reduktionen, seien es biologische, soziologische oder psychologische, sowohl zu entlarven, als auch die zur Verfügung stehenden Spielräume stetig zu erweitern. In diesem Sinne bedeutet ein Leben zu führen, das Leben zu benutzen, zu gebrauchen, indem sich der Mensch in Relation der Unbestimmtheit zu sich als Macht fasst (vgl. Plessner 1981a: 188). Richter hat dies auf den Punkt gebracht: Der Gedanke, der Mensch sei Macht (wenn er seine Unergründlichkeit verbindlich anerkenne und also die Unbestimmtheitsrelation zu sich einnehme), ist ein durchaus anderer als der, er habe welche von Natur aus und sei deshalb berufen, sich selbst, die Natur, andere Menschen oder was auch immer zu beherrschen. Plessners Machtbegriff ist abstrakt und wertmäßig neutral: er bezeichnet, wie das französische pouvoir, ein Können im Angesicht einer kontingenzgesättigten Situation (Richter 2005: 170).

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Da eine solche Sichtweise einen Grenzpunkt zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt, der der dem Menschen konstitutiven Heimatlosigkeit, seiner Unergründlichkeit entspricht, ist jede der beiden Seiten ebenso konstitutiv durch die jeweils andere „entfremdet“. Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass Plessner, dies wurde anhand der reflexiven Ausrichtung seiner Theorie seitens Gesa Lindemann deutlich, dem Vorwurf, eine unentfremdete Natur zum primären Ansatzpunkt seiner Ausrichtung zu machen, entgegenstellt, dass die Frage danach, wer ein Mensch ist, grundsätzlich eine offene ist. In diesem Sinne enthält eine reflexive Anthropologie innerhalb ihrer Analysemöglichkeiten eine Blickrichtung, die es erlaubt, die durch gesellschaftliche Grenzregime in diverse Abgrenzungs-, d.h. Festlegungsprozesse gespannte Frage zu untersuchen, wer eine soziale Person ist, ohne per se von einem lebendig-natürlichen Subjekt ausgehen zu müssen. Plessner arbeitet mit der Vorstellung eines sich immer wieder durch die Bedingung von Grenzen und Brüchen neu konstituierenden Lebens und trifft sich in diesem Punkt mit Deleuzes und Guattaris Konzept vom organlosen Körper. Während Deleuzes und Guattaris Entwurf als ein exemplarischer Aufruf zur Wachsamkeit verstanden werden kann, sich einer Festlegung der Funktion verschiedener Organe zu entziehen, und vielmehr dem Bild eines uncodierten, sich vom herrschenden Organismus durch permanentes Experimentieren befreienden Körpers Raum schafft (vgl. Seyfert 2005: 4), orientiert sich Plessner daran, über den Vorgang der Wachsamkeit zu erreichen, was Deleuze experimentell versucht, nämlich einen immer wieder neuen Eingriff in die Wirklichkeit vornehmen zu können. Während Deleuze und Guattari versuchen, „aus dem Körper ein Vermögen zu machen, das sich nicht auf den Organismus reduziert“ (Deleuze 1980: 69) und somit von Differenzen innerhalb eines vollen Seins ausgehen, verweist Plessners Konzept der Realisierung einer Grenze auf die Notwendigkeit eines Bruches mit dem jeweils anderen Sein (vgl. Seyfert 2005: 8). „Die Realisierung einer Grenze muss als hauthafte Umhüllung eines Innen verstanden werden, in dem Sinne, dass sich etwas aus dem vollen Leben (Sein) abteilt und zugleich in ihm, in einer eigenen Sphäre synthetisiert“ (Seyfert 2005: 9). Beide Konzeptionen vollziehen eine Stellungnahme, die sich dadurch auszeichnet, eine gewisse

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Form der Selbstreferenz herzustellen, die jedoch in keinem Fall einem Begriff von Subjektivität entspringt, der alles auf sich beziehen würde. Im Gegenteil entwickeln beide Theoretiker eine innerhalb eines Ganzen angesiedelte Öffnung nach innen, einen Grenzpunkt der eine vertikale Öffnung nach Innen bezeichnet. Plessner äußert sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Eher könnte man sagen, dass die Entdeckung der Ichhaftigkeit die Egozentrik um ihre Unschuld bringt. Die Kompaktheit des Alles-auf-sich-Beziehens wird im eigentlichen Sinn des Wortes durchlöchert. Ich ist eine Öffnung nach Innen“ (Plessner 1967: 319). Plessner bezeichnet diese Öffnung der besagten Stellungnahme zu sich selbst als Nullpunkt, als Hier-Erfüllung: „Zweifellos eine imaginäre Öffnung zu einem ortlosen Binnenaspekt, der uns jedoch das Wort hier in unübersehbarer Strenge verstehen lässt. Wo ich bin, kann nichts anderes sein, Ich bin im Punkt Null, von dem hier alles, auch mein Körper, näher oder ferner dort ist. Kraft dieser Hier-Erfüllung erlebe ich meinen Körper als Umkleidung oder mich in ihm als einem Futteral“ (Plessner 1967: 319). Es handelt sich bei dieser Öffnung also um einen ortlosen Binnenaspekt, nicht um einen äußeren oder inneren Ort, der aus sich heraus sein Gegenüber, also entweder Innen oder Außen, zu bestimmen vermag. Als ortloser Binnenaspekt fungiert diese Öffnung Plessner zufolge jedoch als „Hier“, als besagte Grenze, die als Nullpunkt den Eintritt in die vertikale Tiefe des Ganzen zulässt. Der ortlose Ort an dem man „Hier“ ist, ist immer gleichzeitig ein Körper-Haben und ein KörperSein und wird als Nullpunkt nicht im Sinne einer dem Tier vorbehaltenen zentrischen Positionalität wahrgenommen, sondern entspringt vielmehr der gerade dem Menschen vorbehaltenen konstitutiven Heimatlosigkeit. Dieser Ort ist also deshalb ortlos, weil er eine Kompensation dieser Heimatlosigkeit bezeichnet, ein Benutzen derselben, die keine Heimat im Sinne eines für die Erfahrung konstitutiven Innen, bzw. Außen bereithält, sondern als Binnenaspekt selbst Erfahrung konstituiert. Bei Deleuze gestaltet sich Erfahrung in einer ähnlichen Art und Weise, wenn er diese als singulär konzipiert. Allerdings entwirft Deleuze den Ort, der den Eintritt in die von ihm als Immanenzmilieus bezeichnete vertikale Sphäre nicht blockierter Ströme ermöglicht, über

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ein Minoritär-Werden, das er gleichzeitig als ein Nicht-menschlichWerden des Menschen bezeichnet: Der Affekt ist kein Übergang von einem Erlebniszustand in einen anderen, sondern das Nicht-menschlich-Werden des Menschen. Ahab ahmt nicht Moby Dick nach, und Penthesilea mimt keine Hündin: Das ist keine Nachahmung, keine erlebte Sympathie und auch keine imaginäre Identifikation. Das ist keine Ähnlichkeit, obwohl es Ähnlichkeit gibt. Aber es ist eben nur eine produzierte Ähnlichkeit. Es ist vielmehr eine extreme Kontiguität innerhalb einer Verklammerung zweier Empfindungen ohne Ähnlichkeit oder ganz im Gegenteil im Entferntsein eines Lichts, das beide in ein und demselben Reflex erfasst (Deleuze/Guattari 2000: 204).

Minoritär-Werden, bzw. Nicht-menschlich-Werden beschreibt für Deleuze die Möglichkeit, durch das Netz gesellschaftlicher Annerkennungsmodelle zu fallen. Dementsprechend bezeichnen diese Arten des Werdens ebenfalls eine Öffnung, die allerdings nicht der konstitutiven Heimatlosigkeit des Menschen entspringt, sondern diese vielmehr als ihr Ziel deutlich werden lässt. Durch diese Öffnung zu verschwinden, bedeutet Deleuze zufolge, sich den gesellschaftlichen Anerkennungsstrukturen zu widersetzen, indem sich der Mensch von seiner Subjektivität löst, unsichtbar wird. Subjektivität wird hier zum Garanten dafür, erkennbar zu sein: „Der Begriff Subjekt fungiert […] als Überschrift für die verschiedenen Namen, die Menschen im Laufe ihres Lebens erhalten und durch die sie sich anderen – und sich selbst – zu erkennen geben“ (Butler 1998: 47ff, zitiert in: Graefe 2007: 14). Deleuze geht davon aus, dass die Vermögen zu affizieren oder affiziert zu werden „an raum-zeitliche Subjektivierungs- oder Aktualisierungslinien gebunden [sind], d.h. an Entstehungsprozesse einer affektiven Erfahrung oder einer Handlung, die andere affiziert. Sie nehmen ihren Ausgang von reinen Differenzen […] und werden im Regelfall in ihrem Aktualisierungsverlauf von Mächten erfasst, die ihnen eine repräsentative Gestalt verleihen“ (Rölli 2008b). Plessner fasst einen solchen Aktualisierungsverlauf als ebenso notwendig auf, er beschreibt die Kompensation der konstitutiven Heimatlosigkeit. Allerdings fußt ein solcher Verlauf seiner Ansicht nach nicht

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auf reinen Differenzen, sondern setzt diese, auf ein spezifisches Feld bezogen erst frei. In beiden Fällen kann somit davon gesprochen werden, dass Aktualisierung eine Form der Subjektivierung, der Ermöglichung von Handlung beschreibt, doch gestaltet sich diese Ermöglichung einmal durch eine Sichtbar-Werdung nach Außen, einmal durch eine Sichtbar-Werdung nach Innen. Festzuhalten ist jedoch, dass Deleuze neben der hier aufgezeigten Form von Subjektivierung, die als Sichtbar-Werdung nach Außen fungiert, eine zweite Möglichkeit aufzuzeigen versucht, die insbesondere anhand seiner Konzeption des einen Lebens deutlich wird, ebenso aber auch anhand des organlosen Körpers aufzuzeigen ist. Wie dargelegt, verfährt dieser Entwurf über den Vorgang eines Nicht-menschlich-Werdens des Menschen, über den Prozess des Unsichtbar-Werdens, in dessen Zusammenhang Subjektivität im Sinne eines poststrukturalistischen Entwurfs aufgelöst wird. Innerhalb der Konzeption des einen Lebens ist diese Möglichkeit deshalb am deutlichsten entwickelt, als dieses eine Leben als Alternative zu besagter Form von Subjektivität entwickelt wird. Ein Leben existiert faktisch, ein Leben handelt, ohne erst durch Subjektivierung nach außen hin sichtbar werden zu müssen. Ein Leben aktualisiert sich selbst, obwohl es unsichtbar ist. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Deleuze wurde deutlich, dass eine zentrale Frage um die Möglichkeit der Herstellung dessen kreist, was Deleuze als ein Leben, bzw. als organlosen Körper konzipiert. Genauer gesagt wurde in Frage gestellt, wie die Ebene, auf der sich diese nicht zu repräsentierenden Formen singulären Lebens abspielen, erreicht werden kann, ohne allzu vitalistisch vorzugehen, bzw. einen Rest an Subjektivität bereit halten zu müssen, der als solcher immer wieder zum unbemerkten Ausgangspunkt einer SichtbarWerdung nach Außen fungieren kann. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Deleuze über den Begriff des singulären Lebens, das seiner Meinung nach besagte Form des Nicht-menschlich-Seins des Menschen aussagt, Subjektivität als repräsentationslogisches Konzept der Anerkennung abzulösen sucht. Im Kontext der Frage danach, wie die Ebene dieses singulären Lebens erreicht werden kann, drängt sich demnach notwendigerweise die Frage nach dem Begriff von Subjektivität auf, die auf eben dieser Ebene tätig ist. Wer handelt in diesem Leben der Unsichtbarkeit? Was ist Handlung in dieser Unsichtbarkeit?

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Wie kann diese Unsichtbarkeit erreicht werden, ohne eine Form der kompletten Auflösung zu beschreiben, in der Erleben, so ereignishaft Deleuze es auch konzipiert im Strudel der Beliebigkeit untergeht? Deleuze orientiert sich an einer Vorstellung von Leben, die dieses als Untergrund dafür begreift, Unbestimmtheitszonen jenseits gesetzter, d.h. aktualisierter Grenzen bereitzuhalten. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Deleuze Leben, hier als ein Leben verstanden, nicht wie Plessner dies vorgibt, einer spezifischen Positionalität zuordnet, bzw. von einer solchen ausgeht: André Dhôtel hat seine Personen in seltsame Pflanzen-Werden versetzen können: Baum- oder Aster-Werden. Dabei verwandelt sich nicht […] das eine in das andere, sondern etwas passiert von einem zum anderen. Dieses Etwas kann nur als Empfindung präzisiert werden. Das ist eine Unbestimmtheits-, eine Ununterscheidbarkeitszone, als ob Dinge, Tiere und Personen (Ahab und Moby Dick, Penthelisea und die Hündin) in jedem einzelnen Fall jenen doch im Unendlichen liegenden Punkt erreicht hätten, der unmittelbar ihrer natürlichen Differenzierung vorausgeht. […] Einzig das Leben schafft derartige Zonen, in denen die lebendigen Wesen herumwirbeln, und einzig die Kunst vermag in ihrem Geschäft des Mit-Erschaffens dahin vorzustoßen und darin einzudringen (Deleuze/Guattari 2000: 204/205).

In einer solchen Auslegung ist die Positionalität menschlicher Lebendigkeit jedoch in einem Sinne als vorgängig zu bezeichnen, als es einem Leben, einem spezifisch menschlichen Leben ohne die Annahme einer ebenso spezifisch menschlichen Positionalität nicht möglich wäre, zu sich selbst Stellung zu beziehen. Es ist allerdings zu fragen, ob eine solche Stellungnahme nicht möglicherweise als Voraussetzung dafür anzusehen ist, unsichtbar im Sinne Deleuzes werden zu können. Andersherum ausgedrückt muss Unsichtbar-Werden, mit dem Ziel in flächiger, d.h. die Anerkennungsstrukturen betreffender Hinsicht nicht greifbar zu sein, nicht unbedingt bedeuten, auch sich selbst gegenüber, für sich selbst nicht greifbar zu sein; vielmehr hat es in der Stellungnahme zu sich möglicherweise seine Voraussetzung. Diese Annahme orientiert sich an der Frage, ob und inwieweit ein poststrukturalistischer Subjektbegriff neben seinem Potential, Strategien der Macht in den Blick bekommen zu können, dafür zu nutzen

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ist, Widerstandsmomente ausfindig zu machen. Die Frage ist also, inwieweit ein solcher Subjektbegriff dafür geeignet ist, seiner zweifachen Bedeutung gemäß auch auf zwei verschiedenen Ebenen angewandt zu werden? In diesem Zusammenhang ist zu hinterfragen, ob die immanenten Begehrensstrukturen Deleuzes nicht auch eine Vorgängigkeit beanspruchen, die, um überhaupt denkbar werden zu können, eingegrenzt, im wahrsten Sinne des Wortes positionalisiert werden müssen. Deleuze unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen verschiedenen Typen von Individuierung: Die Subjektivierung als Prozess ist eine Individuierung – persönlich oder kollektiv, allein oder zu mehreren. Nun gibt es jedoch viele Typen von Individuierung. Es gibt Individuierungen vom Typus Subjekt (das bist du…, das bin ich…), aber auch Individuierungen vom Typus Ereignis, ohne Subjekt: ein Wind, eine Atmosphäre, eine Stunde des Tages, eine Schlacht… (Deleuze 1993: 166).

Neben den zwei Bedeutungen, die einem poststrukturalistischen Subjektbegriff, der Subjektivierung als Prozess zukommen, soll diese Deleuze zufolge auch auf zwei Ebenen anwendbar sein, bzw. gleichzeitig die Möglichkeit dazu geben, die eine zu analysieren, während die andere immer wieder neu hergestellt wird. Die beiden hier angesprochenen Ebenen wurden im bisherigen Verlauf dieser Arbeit als horizontale und vertikale Ausrichtungsmöglichkeiten von Individuierung gekennzeichnet. Deleuze selbst äußert sich hierzu folgendermaßen: So oder so befindet man sich auf der Ebene der Immanenz. Aber um hier Vertikalitäten aufzurichten, sich selbst aufzurichten? Oder im Gegenteil um sich auszustrecken, die Horizontlinie entlangzulaufen, die Ebene immer weiter hinauszutreiben? Und die Vertikalitäten – sollen wir durch sie etwas betrachten können, oder ist es eine Vertikalität, die uns zum Nachdenken oder Kommunizieren bringt? Es sei denn, jede Vertikalität wäre als Transzendenz zu bekämpfen, und wir müssten uns auf die Erde legen, sie umschlingen, ohne zu schauen, ohne Reflexion, ohne Kommunikation? Und ist der Freund bei uns, oder sind wir ganz alleine, Ich=Ich, oder sind wir Liebende, oder noch etwas ande-

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res, und wie groß ist das Risiko, uns selbst zu verraten, verraten zu werden oder selbst zu verraten? (Deleuze 1993: 215/216)

Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, betreffen die genannte Problematik, inwieweit ein poststrukturalistischer Subjektbegriff neben der Analyse dessen, wie Individualität sich durch ein Geflecht von Macht und Wissen als Subjektivität auf einer horizontalen Ebene ausbreitet, greifbar wird und dazu genutzt werden kann, Vertikalität als „Ereignis der Freiheit“ zu entwickeln. Hintergrund dieser Frage ist, dass eine vermeintliche Vertikalität, wie hier von Deleuze angesprochen, auch eine Transzendenz sein kann. Man glaubt in diesem Fall nur eine Haltung zu entwickeln, bzw. eine Haltung als „Ereignis der Freiheit“ eingenommen zu haben, ist dabei jedoch z.B. durch eine Sucht unfrei und im Sinne Deleuzes nur fähig dazu, sich voll und ganz dieser hinzugeben, sie zu umschlingen. Auch horizontal glaubt man nur, Handlungsträger zu sein, ist dabei jedoch durch Machtverhältnisse erst als Subjekt konstituiert. Um der Gefahr zu entgehen, sich im Gewirr der übereinander gelagerten Ebenen zu verirren, muss eine Antwort darauf gefunden werden, wie es möglich ist, eine Form von Handlungsfähigkeit zu entwickeln, der zufolge Vertikalität als „Ereignis der Freiheit“ verstanden und als solche erkennbar werden kann. 1.3.2 Ausblick – Die Verbindung beider Theoretiker Deleuze äußert sich über die Ereignishaftigkeit einer Person, über das Unsichtbar-Werden eines Menschen, in konkreter Art und Weise, wenn er wie im folgenden Zitat über Michel Foucault spricht: Foucault selbst ließ sich gerade als Person nicht genau fassen. Sogar bei unbedeutenden Gelegenheiten, wenn er einen Raum betrat, war es eher eine Veränderung der Atmosphäre, eine Art Ereignis, ein elektrisches oder magnetisches Feld, wie Sie wollen. Das schloß Freundlichkeit oder Wohlbefinden überhaupt nicht aus, aber das gehört nicht in den Bereich der Person. Es war ein Ensemble von Intensitäten. Ihn ärgerte es manchmal, so zu sein oder diese Wirkung zu haben. Aber schließlich nährte sich sein ganzes Werk davon. Das

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Sichtbare sind bei ihm Spiegelungen, Funkeln, Blitze, Lichteffekte (Deleuze 1993: 166/167).

Der Vorstellung von Subjektivierung als Prozess gemäß begreift Deleuze das hier genannte Ensemble von Intensitäten als eine besondere Form der Individuierung, als eine Individuierung ohne Subjekt, die er mit dem Phänomen der Leidenschaft in Verbindung bringt: Es ist daher die Unterscheidung der beiden Typen von Individuierung: die eine, die Liebe, durch die Personen, die andere durch die Intensität, als würde die Leidenschaft die Personen einschmelzen, nicht im Undifferenzierten, sondern in einem Feld variabler und kontinuierlicher Intensitäten, die sich wechselseitig implizieren. (Das war ein immer in Bewegung befindlicher Zustand, der jedoch nicht auf einen bestimmten Punkt zuläuft, es gibt starke und schwache Momente, Momente, wo es bis zur Glut geht, es treibt, es ist eine Art instabiler Zustand, der sich aus dunklen Gründen fortsetzt, vielleicht aus Trägheit, im Extrem versucht es sich aufrechtzuerhalten und zu verschwinden…es hat keinen Sinn mehr, man selbst zu sein) Liebe ist ein Zustand und ein Verhältnis von Personen, von Subjekten. Leidenschaft ist dagegen ein subpersonales Ereignis, das ein ganzes Leben lang dauern kann (ich lebe seit achtzehn Jahren in einem Zustand der Leidenschaft gegenüber jemand, für jemand), ein Feld von Intensitäten, das ohne Subjekt individuiert (Deleuze 1993: 167).

Während Liebe, so wie Deleuze sich dazu äußert, einen Endpunkt bezeichnet, der Personen zueinander in Beziehung setzt, sorgt Leidenschaft vielmehr dafür, sich als Person zu verlieren, nichts zu sein, außer der Leidenschaft im Moment. Auch Plessner spricht den Leidenschaften eine zunächst ähnliche Bedeutung zu. Wie bereits gezeigt werden konnte, fasst er Leidenschaft in einer ersten Bezeichnung als notwendige Komponente dafür, die soziale Rolle, die ein exzentrisches Wesen gezwungenermaßen einnehmen muss, zu individualisieren, indem das soziokulturell gerade Übliche entweder unter- oder überschritten werden kann. Plessner spricht in diesem Zusammenhang – Deleuze durchaus ähnlich – von „Leidenschaft bis zum Selbstverlust“ (Plessner 1983a: 345).

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Des Weiteren erkennt Plessner jedoch, dass dieser Typ der Individuation verkörpert wird, verkörpert werden muss, indem ungespieltes Lachen und ungespieltes Weinen als Grenzreaktionen des Körpers stattfinden. Der Körper springt ein und lässt Süchte und Leidenschaften als bedingt lebbar erscheinen. In Bezug auf unbedingt bleibende Süchte und Leidenschaften, die im Deleuzschen Sinne in eine als Vertikalität erscheinende Transzendenz übersetzt werden können, erkennt Plessner einen Umgang mit der eigenen Unbestimmtheit, der seine Souveränität verloren hat (vgl. Krüger 1999: 175): „Ein Phänomen, das er [der Mensch] sieht, sein Zustand, in dem er sich befindet, ein Ausspruch, den er versteht, bieten plötzlich keine Anknüpfungspunkte mehr. Sie sind außer allem Verständnis geraten, und darum findet er kein Verhältnis zu ihnen, kann sich nicht mehr zu ihnen und zu sich verhalten“ (Plessner 1982: 379). Plessner beschreibt eine durch den Körper immer wieder eingeholte Form des Selbstverlustes, die stete Aktualisierung eines Verhältnisses zu sich selbst. Wie bereits dargestellt, bemerkt Krüger, dass Sehnsüchte und Leidenschaften zwar allzumenschlich sind, aber „ihrer Unbedingtheit zum Opfer zu fallen, eröffnet die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit, unmenschlich zu werden. Nicht darin, dass man im Falle der Unbedingtheit einer eigenen Sucht oder eigenen Leidenschaft unmenschlich wird, liegt ihr Automatismus, sondern darin, dass dann diese Sucht oder diese Leidenschaft automatisch wird. Sie wird ein Selbstläufer“ (Krüger 1999: 175). Das, was Krüger hier als Unmenschlich-Werden anspricht, lässt sich auf Deleuze beziehen, der geradezu dafür plädiert, unmenschlich, d.h. in seinen Augen unsichtbar zu werden. Dieser scheinbare Gegensatz, der sich darin zeigt, Unmenschlich-Werden einmal, im Sinne Plessners, als Einschränkung der Spielfreiheit des Menschen (vgl. Krüger 1999: 175) zu verstehen, einmal, im Sinne Deleuzes, als Eröffnung derselben, soll den Ausgangspunkt dafür darstellen, in die konkrete Zusammenführung beider Theorien einzusteigen. Der zentrale Gedanke dieser Zusammenführung besteht darin, sich einer Analyse dessen zu widmen, ob und wenn ja, wie die Ebenen des Horizontalen und Vertikalen voneinander unterschieden werden können, ohne Machtverhältnisse außer Acht lassen zu müssen, und was es in diesem Zusammenhang heißt, eine Öffnung des Horizontalen hin zu

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einer vertikalen Ausrichtung vorzunehmen. Um dieses Anliegen theoretisch fassen und fundieren zu können, ist es zunächst notwendig, herauszuarbeiten, auf welcher Ebene Deleuze und Plessner ihre Vorstellung davon, unmenschlich, bzw. unsichtbar zu werden, ansiedeln. Wo findet Vertikalität statt? In der Deleuzschen Konzeption impliziert ein Eingriff in die Wirklichkeit die Emergenz, nicht die Teleologie. In diesem Sinne wird von einem fließenden Strom sich stets neu ordnender Zustände ausgegangen, die nicht der vermeintlich richtigen, sondern einer Vielzahl kurzlebiger Ideen entspringen. Die Möglichkeit einer Neuordnung als Entwicklung hin zu einer neuen Qualität, in einer Art und Weise, die etwas nicht besser, schlechter, größer oder kleiner werden lässt, sondern eine Neuordnung im Sinne einer Neudefinition herbeiführt, fußt bei Deleuze auf der Annahme für sich genommener Unbestimmtheitsformeln, die unterhalb der Repräsentation befindliche Immanenzmilieus bereithalten. Diese Relation der Unbestimmtheit zu sich lässt sich bei Plessner aus der Analyse des Lebendigen heraus als bereits spezifisch menschliches Phänomen darstellen. Nimmt man diese beiden Ebenen, die Ebene der reinen Immanenz bei Deleuze, die Ebene der exzentrischen Positionalität bei Plessner, als Ausgangspunkt dafür, Vertikalität, d.h. eine ereignishafte, nicht festzulegende Form der Unbestimmtheit zu ermitteln, ergeben sich folgende Fragen: In Bezug auf Plessners Konzeption ist der Mensch auf Kompensationen angewiesen, mit deren Hilfe er sein Leben dieser Unbestimmtheit zum Trotz zu führen vermag. Die Frage, die sich aufdrängt ist, inwieweit das Modell Plessners anhand von Grenzreaktionen wie etwa Lachen und Weinen, die dafür sorgen können, unbedingte Süchte und Leidenschaften bedingt, d.h. lebbar werden zu lassen, in der Lage ist, notwendige Einbettungen von konstruierten Verkürzungen zu unterscheiden? Inwieweit kann ein exzentrisches Lebewesen sich mit sich versöhnen, d.h. seiner konstitutiven Heimatlosigkeit zum Trotz in Beziehung zu sich treten ohne seine Möglichkeitsoffenheit durch eine Fixierung dieser Beziehung zu verlieren?

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Anders ausgedrückt ist zu hinterfragen, wie ungespieltes Lachen oder ungespieltes Weinen als Ausdruck von Leidenschaft erkannt werden und somit zur eigenen Einordnung der Lage, zur Öffnung in vertikaler Hinsicht führen können. Das Potential, das besagten Grenzreaktionen entspringt, muss als solches immer wieder aufs Neue wahrgenommen, aktualisiert werden, da es sich hierbei eben nicht um einen unentfremdeten Untergrund handelt, der im rechten Moment einzuspringen vermag, sondern um die Verschränkung von Sichtbarem und Unsichtbarem, die jeweils aktualisiert Sinn ergibt. Auf der anderen Seite ist zu hinterfragen, wie der sich ergebende Sinn, das Aussöhnen mit sich selbst, der Gefahr entkommen kann, ein Sichtbar-Werden in flächiger, greifbarer Hinsicht einer rein horizontalen Ausrichtung zu meinen, bzw. zu einer solchen zu werden. In Bezug auf die Deleuzsche Form des Nicht-menschlich-Werdens des Menschen stellt sich die Frage, inwieweit die hier bezeichnete Unbestimmtheit diese Unterscheidungen vornehmen kann, oder aber aufgrund der Notwendigkeit, entweder einen Rest an Reflexion zu bewahren, oder aber keinerlei Reflexion zu besitzen, sich als solche schon im Versuch ihrer Herstellung auflöst; entweder durch Selbstmord, oder aber dadurch, sich tiefer als zuvor den bestehenden Ordnungen unterzuordnen. Anzumerken ist, dass Plessner seine Unbestimmtheitsformel des Menschen von vornherein sowohl horizontal, als auch vertikal anzusiedeln scheint, während Deleuze diese als Versuch beschreibt, einer horizontalen Ebene zu entweichen. Während Plessner in der je aktualisierten Aussöhnung mit sich selbst eine Möglichkeit dafür sieht, Freiheit im Sinne sich erweiternder Grenzen zu erlangen, kommt Deleuze aufgrund der Radikalität seines Ansatzes nicht umhin, eine Form des Unwahrnehmbar-Werdens zu entwickeln, die das Verhältnis sich selbst gegenüber mit einschließt. Indem Deleuze eine Form des Unwahrnehmbar-Werdens entwirft, die das Verhältnis sich selbst gegenüber mit einschließt, stellt sich die Frage, wo und wie Unterscheidungsmöglichkeiten darüber hergestellt werden können, immanente von transzendenten Momenten zu trennen. Das Problem einer möglichen Ununterscheidbarkeit führt als seine Konsequenz die Gefahr mit sich, entweder einer Beliebigkeit Raum zu verschaffen, die Fragen nach widerständischen, bzw. freiheitlichen

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Handlungsmöglichkeiten ad absurdum führt, oder aber Kriterien aufzustellen, die dem theoretischen Rahmen, dem die Arbeiten Deleuzes entspringen, zuwiderlaufen. Wie lässt sich diese Unterscheidungsmöglichkeit also herstellen, diese Beliebigkeit umgehen, ohne im Zuge einer solchen Herstellung von einem reflexiven Subjektbegriff ausgehen zu müssen? Die Problematik der Ununterscheidbarkeit von Vertikalität und Horizontalität Der Ansatzpunkt dafür, die Problematik einer Ununterscheidbarkeit zu umgehen, ohne der Gefahr zu erliegen, sich einer reflexiven Vorstellung autonomer Subjektivität nähern zu müssen, scheint im Kontext der Leidenschaft, im Kontext des Affekts zu liegen. Während Plessner die Gefahr aufzeigt, durch unbedingte Süchte und Leidenschaften bis zum Selbstverlust zu gelangen, strebt Deleuze diesen Selbstverlust im Gegenteil an. Die Vorstellungen des Selbst, das verloren werden kann, sind auf einer übergeordneten Ebene, hinsichtlich der Denkrichtungen, die beiden Theoretikern zu Grunde liegen, jedoch verschieden. Plessner zufolge ist Leidenschaft nur exzentrischen Wesen möglich. Im Umkehrschluss, weil dies so ist, kann Leidenschaft bedingt werden. Seine anthropologische Arbeit impliziert „die Emergenz einer gewissen Stufung der Korrelativität zwischen lebendigem Ding und Umwelt, die mindestens die Stufe tierischer Korrelativität von der Stufe menschlicher Korrelativität unterscheidet“ und vollzieht so „systematisch eine Abkehr vom cartesianischen Dualismus, der alternativ nur die Sphären der mechanistisch verstandenen Materie oder des Geistes postuliert“ (Fischer 2008: 523). Dieser Korrelativität entspringt die Notwendigkeit der Verkörperung subjektivierender Elemente wie etwa der Leidenschaft und somit die Möglichkeit, Verwicklungen zum Vorschein zu bringen, die die Entwicklung im Sinne einer Neuordnung fundieren, ohne diese zwangsläufig in einen transzendentalen Bedeutungs- oder Begründungsrahmen zu rücken. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, ob die hier angesprochene, über die exzentrische Korrelativität von Ding und Umwelt, oder Leib und Körper fundierte Verwicklung, als mögliche Grenze der eigenen Selbstbestimmung dazu genutzt werden kann, reflexive Tendenzen in der Arbeit Deleuzes zu umgehen?

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Auf dem Weg dahin, zu klären, in welchem Kontext sich eine solche Konkretisierung der Deleuzschen Konzeption aufzeigen lässt, ist es unumgänglich, sich dem Begriff des Lebens zu widmen, um die auf den ersten Blick als konträr gegenüberstehenden Modelle auf einer grundlegenden Ebene betrachten zu können. Friedrich Balke fasst Deleuze Kritik an in seinen Augen etablierten Lösungen dafür, sich dem Phänomen des Lebens zu nähern folgendermaßen zusammen: Diese Kritik erfolgt nicht im Namen eines fundamentalen Prinzips oder Rechts, nicht einmal im Namen des Lebens selbst oder eines besseren, gerechteren Lebens, sondern auf dem Wege einer differentiellen Betrachtungsweise der Lebensformen nach einem immanenten Kriterium: Trennt uns eine Existenzweise von dem, was wir können, vermindert sie also unser Tätigkeitsvermögen oder steigert sie es? Verschafft sie uns freudige oder traurige Leidenschaften? Regt sie uns zum Handeln an oder verdammt sie uns zur Passivität, zur Entsagung, zum schlechten Gewissen, zum Ressentiment? (Balke 1998: 110)

Erinnert man an die Herangehensweise Plessners in Bezug auf die um den Verzicht der Selbstbezüglichkeit bemühten Definition dessen, was Existenz meint, nämlich ein im Gesichtskreis des Lebens von unten her aufgerolltes Phänomen, das auf spezifische Korrelationen zwischen Ding und Umwelt aufgebaut ist, lassen sich einige Bemerkungen Deleuzes problematisieren. Auf einer übergeordneten Ebene wäre zu hinterfragen, inwiefern das, was Deleuze als Vitalismus kommentiert, zu nennen sind hier die von ihm gewählten Beispiele eines sogenannten singulären Lebens, sich der von Plessner entwickelten Korrelation entzieht, bzw. diese außer Acht lässt. Die exzentrische Form menschlicher Existenz, die, wie in Punkt 1.1.4.4 dargelegt, Grenzreaktionen wie etwa Lachen und Weinen bereithält, unterscheidet sich von den von Deleuze angesprochenen Singularitäten, den Gesten und dem Lächeln eines Kleinkindes dahingehend, als dass diese einer exzentrischen Vitalposition geschuldet sind. Es wäre in diesem Kontext zu diskutieren, ob Reaktionen wie etwa Lachen und Weinen zwangsläufig als individualisierende Merkmale, die einer horizontalen Ebene entspringen, zu begreifen sind, oder aber, ob es möglich ist, sie als das Einschreiten des Körpers in einer Art und Weise zu verstehen, die es

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ermöglichen kann, auf individualisierende Elemente zu reagieren, indem diese gleichzeitig auf einer dann jedoch vertikalen Ebene erst einmal hervorgebracht werden. Erinnert man an Agambens im Zusammenhang mit Deleuzes Konzept eines Lebens getätigte Aussage, über den Versuch „in eben dem Prinzip, das die Zuschreibung von Subjektivität erlaubt, die Matrix der Desubjektivierung zu sehen“ (Agamben 1998: 126), so ist es in gewisser Weise der Punkt der Umkehr, der mich interessiert und die Frage, ob Grenzreaktionen im Plessnerschen Sinne dabei helfen können, diesen zu konkretisieren. Während Plessner anhand der Phänomene Lachen und Weinen verdeutlicht, inwieweit das Leben eines exzentrischen Wesens sich sowohl in horizontalen, eine Rolle in einem soziokulturellen Umfeld betreffenden Sphären, als auch in vertikalen, die Individualisierung dieser Rolle betreffenden Bereichen abspielt, aus deren Vermittlung entspringt, was gerade Sinn macht, verortet Deleuze Leben von Rechts wegen in immanente, vertikale Gebiete, deren Aktualisierung möglicherweise jedoch eine Existenzweise horizontaler Art und Weise nach sich zieht. Insofern wird ersichtlich, warum Deleuze Selbstverlust durch Leidenschaft postulieren kann. Durch die Trennung besagter Sphären lässt sich dieser auf eine horizontale beziehen, ohne deshalb zwangsläufig ein Leben als solches in Frage stellen zu müssen. Auf der anderen Seite birgt eine solche Trennung die Gefahr einer nachträglichen Ununterscheidbarkeit, der Plessner durch sein Konzept einer Verschränkung von vornherein entgeht. Innerhalb dieser Verschränkung entwickelt Plessner eine konstitutive Kluft, die quasi systeminhärent immer wieder geschlossen werden kann. Deleuze gerät durch die von ihm vorgenommene Trennung dahingehend in theoretische Engpässe, als sich die Kluft innerhalb seines Werkes nicht als eine konstitutive, sondern als eine sich nur unter Umständen darstellende zeigt. Von Rechts wegen existiert sie nicht, faktisch jedoch in den meisten Fällen. Aufgrund dieser Unklarheit bildet sich innerhalb seines Werkes eine weitere Kluft, die aus ineinander verwobenen Lösungsansätzen für beide Fälle resultiert. Diese zweite Kluft besteht meiner Meinung nach zwischen den angesprochenen Polen „Rest-Reflexion“ und „keinerlei Reflexion“, die

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die Problematik der Ununterscheidbarkeit ebenso wie die Problematik der reflexiven Tendenzen, die notwendigerweise auf das Problem der Ununterscheidbarkeit folgen, benennen. Während der Pol „Rest-Reflexion“ im Zusammenhang damit entwickelt wird, von einer horizontalen Ebene in die Vertikale durchzustoßen, einen organlosen Körper zu entwickeln, steht der zweite Pol „keinerlei Reflexion“ im Kontext des einen Lebens, das sich bereits im Bannkreis immanenter Milieus aufhält. Inwieweit diese Kluft zu schließen ist, die neben oder aufgrund ihrer an beiden Rändern vorhandenen theoretischen Unschärfen die Frage der Umsetzbarkeit, bzw. die Frage nach Relevanz aufwirft, soll mit Hilfe Plessners geklärt werden. Wann befindet man sich wo? Wie kann man unterscheiden, ob man ein Leben führt, oder durch die Unbedingtheit von Sucht und Leidenschaft nicht in der Lage dazu ist, ein Leben zu führen? Wie lässt sich eine Verbindung zwischen den beiden Ebenen herstellen, ohne die Gefahr einzugehen, Selbstverlust an der falschen Stelle herbeizuführen? Produktives Unbehagen als Animation für neue Formen der Wahrnehmung Die quasi-vertikale Ausrichtung moderner Machtverhältnisse, die scheinbare Ereignishaftigkeit, die durch kontrollförmige Anordnungen hergestellt wird und ebenso wie die vermeintliche Vertikalität, die z.B. einer Sucht geschuldet ist als kaschierte Transzendenz auftritt (vgl. Günzel 1998: 28), macht es schwierig, Widerstand zu denken. Widerstand ohne Halt, ohne gesicherte Position, aus der heraus gegen etwas anderes agiert werden kann, scheint keinen Sinn zu geben, bzw. ist zu sehr mit dem Problem konfrontiert, möglicherweise genau das Gegenteil dessen zu erreichen, was eigentlich geplant war. Beide Bereiche der quasi-Vertikalität agieren darüber, Leidenschaften und Affekte einem Ziel unterzuordnen. So operiert neoliberale Macht selbst auf der Ebene der Möglichkeiten, sie „höhlt ununterbrochen die Berechenbarkeit der Lebensumstände aus“ (Terkessidis 2007: 217), indem, anstatt die Individuen ihrer Stimme, ihrer Möglichkeiten zu berauben, „Kreativität, Sprache, Affekte und die Fähigkeit zur Herstellung von Beziehungen und kollaborativen Fähigkeiten“ (Pieper et al. 2007: 304) zu zentralen Elementen ihrer Anwen-

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dung werden. Moderne Machtverhältnisse neoliberaler Prägung operieren auf der Ebene, die dafür zuständig sein sollte, eine individuelle Position, aus der heraus Widerstand erhoben werden kann, auszubilden. Sie nutzt diese Position möglicherweise sogar dazu, Abweichungen produktiv in ein dynamisches Gleichgewicht zu integrieren. Auch das von Plessner als unbedingte Sucht bezeichnete Phänomen operiert über eine sich scheinbar vollziehende positive Selbstbestimmung, die letztlich jedoch in ihr Gegenteil, in die Grenzenlosigkeit führt: Ob nun durch Flucht in die unbedingte Fremd- oder in die unbedingte Selbstautonomisierung, beide Versuchsrichtungen einer Individualisierung misslingen dadurch, dass sie das Unbestimmte der Persönlichkeit so besetzten, als ob es sich um eine positive Selbstbestimmung handeln könnte. […] Sie [die Persönlichkeit] findet nicht die ihrer Individualität angemessene Selbstbegrenzung, sondern steigert die übernommene Fremdautorisierung respektive die dagegen gerichtete Selbstermächtigung ins Unbedingte hinein (Krüger 1999: 171).

Deutlich wird, dass Widerstand nicht darin bestehen kann, sich einer Fremdautonomisierung durch eine unbedingte Selbstautonomisierung entgegenzustellen, da die Gefahr der Selbstautonomisierung eine ähnliche Problematik nach sich zieht. Unwahrnehmbar gegenüber einer möglichen Kontrolle zu werden, hieße demnach unter Umständen auch sich selbst gegenüber unsichtbar zu werden, da die Position aus der heraus diese Unwahrnehmbarkeit hergestellt wird, einer nur vermeintlich positiven Selbstbestimmung entspringt. Gleichzeitig erschwert die vermeintliche Unwahrnehmbarkeit, mit der moderne Machtverhältnisse auftreten, eine Fremdautonomisierung überhaupt erkennen zu können, und fordert demnach eine Art maximaler Unsichtbarkeit, um sicher gehen zu können, ihren Fängen entkommen zu können. Der Unwahrnehmbarkeit moderner Machtverhältnisse muss eine Unbestimmtheit, ein Unbehagen entgegengesetzt werden, das den Untergrund für Neuerfindungen bietet, ohne den Rahmen dessen, was hier und jetzt möglich ist, durch das Abdriften in ein verkürztes Denken zu verlieren. Insofern die Grenzpunkte bejaht, d.h. immer wieder aktualisiert werden, bieten sie im Gegenzug die Möglichkeit dazu, die

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Grenzen des Verhaltens zu erweitern und zu erproben, wo das situativ Mögliche durch ein Prinzip außer Kraft gesetzt wurde. Auf diese Weise lässt sich ein Weg beschreiben, der im Versuch besteht, sensibel dafür zu sein, Verwicklungen und Abhängigkeiten wahrzunehmen, sie auszuhalten, anstatt durch ein wie auch immer fundiertes Funktionieren von Handlungsabläufen absorbiert zu sein. Durch Verstrickung und Verwicklung, durch das Unbehagen, das dieses Aushalten impliziert, entsteht sodann ein Raum für Entwicklungen. Es geht nicht darum, vorher definierte Werte zu ordnen und aus einer Position heraus zu handeln, sondern vielmehr darum, den Fokus auf Prozesse und Wirkungen zu legen. Es geht um eine Taktik, die dazu animiert, mit den Ereignissen zu spielen (vgl. de Certeau 1988: 89) und günstige Gelegenheiten dafür zu ergreifen, neue Verknüpfungen innerhalb des hier und jetzt Möglichen herzustellen. Verwicklung wurde bereits anhand der von Plessner entwickelten Korrelativität zwischen lebendigem Ding und Umwelt angesprochen und in diesem Zusammenhang als dem Menschen konstitutiv herausgearbeitet. Der Mensch ist dieser Korrelativität gemäß in sich selbst aufgebrochen: „Im Faktum des menschlichen lebendigen Körpers und seiner Lebenssphäre reißt die Lücke auf, der Hiatus, die Dualität, die das Eine von sich selbst trennt und in dem das, was als Geist ansprechbar ist (von ihm selbst her, im Selbstausweis) überbrückend seinen Ort nimmt“ (Fischer 2008: 523). Die Dualität, die sich als Doppelaspekt äußert, gleichzeitig Körper zu sein und einen Körper zu haben, lässt es dem Zitat Fischers folgend zu, von zwei Orten auszugehen, die ineinander, miteinander verstrickt sind. Man ist faktisch immer an einem Ort, obwohl man möglicherweise gleichzeitig einen anderen Ort spekulativ erschließt. Es existieren wie bereits gesagt also tausende Möglichkeiten des Soseins, die der Mensch als solche spekulativ erschließen kann, aber auch faktisches Handeln; der Mensch wird in die Handlung genötigt, indem er sich seiner Grenzen gewahr wird. Mögliches und Wirkliches stimmen demnach nicht unbedingt überein, obwohl beides, und zwar gleichzeitig, gegeben ist. Im Gegensatz zu Deleuze, der davon ausgeht, dass der faktische Ort, der Ort an dem man ist, durch Machtverhältnisse hergestellt wird, indem gesellschaftliche Anerkennungsstrukturen dafür sorgen, einem moralischen Bild des Denkens gemäß, Identitäten auszubilden, er-

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kennt Plessner den durch gesellschaftliche Arrangements gesetzten Rahmen dessen, was möglich ist, in ein Wechselspiel zwischen Identität und Freiheit eingebunden, der sich jedoch auf das, was hier und jetzt möglich ist, beschränkt, bzw. diesem erst einmal entspringt, ohne deshalb dauerhaft an einen immergleichen Rahmen gebunden zu sein. Nicht weil der Mensch die wahre Bestimmung seiner selbst verwirklichen muss, nicht weil er die seiner Natur gemäßen Lebensverhältnisse gegen äußere Widerstände herstellen muss, steht er in politischen Kämpfen, sondern weil er selbst und seine Lebensverhältnisse an sich selber unbestimmt sind und die Verwirklichung jeder konkreten Möglichkeit also gegen eine Vielzahl anderer Möglichkeiten durchgesetzt werden muss. Das Mögliche, das verwirklicht wird, bleibt dabei als Wirkliches kontingent – wie auch die Situation, in der es verwirklicht wird, als gewordene Lage der Dinge eine kontingente Durchgangswirklichkeit ist. Politik ist vor diesem Hintergrund der Inbegriff der Formen, welche die Unbestimmtheit des Menschen annimmt, wenn sie öffentlich wird: oder, anders gesagt, die Praxisform der Unbestimmtheitsrelation. […] Politisch bestimmt zwar der Mensch, was er tatsächlich ist und in welchen Verhältnissen er lebt: aber er bestimmt es nur im geschichtlich-horizontalen Vollzug, ohne in diesem Vollzug eine vorgängige vertikale Bestimmung bloß einzulösen oder ein Absolutes in die Welt zu setzen (Richter 2005: 170/171).

Deleuze stellt den gesellschaftlichen, sich innerhalb von spezifischen Machtverhältnissen konstituierenden Anerkennungsstrukturen eine mikrosoziologische Ebene immanenter Kräfte entgegen, bzw. legt diese den Repräsentationen zugrunde. Eine Verwicklung zwischen diesen beiden zuvor als horizontal und vertikal bezeichneten Ebenen stellt sich demnach nur ein, wenn der eine von dem anderen Ort getrennt werden kann. Deleuze spricht im Zusammenhang des Ortes, der eben nicht faktisch gegeben ist, von einem Ort für den man kämpfen muss, kämpfen, um an ihm bleiben zu können, und entwirft die Figur des Nomaden, der sich nicht bewegt: „Aber der Nomade ist nicht notwendig jemand, der sich bewegt: es gibt Reisen auf der Stelle, Reisen an Intensität, und selbst geschichtlich sind die Nomaden nicht jene, die sich nach der Art von Wanderern bewegen, sondern im Gegenteil diejenigen, die sich nicht bewegen und sich nur nomadisieren, um am

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gleichen Platz zu bleiben, indem sie den Codes entgehen“ (Deleuze 1965: 120/121). Da sich die hier angesprochenen Kodes in kontrollgesellschaftlichen Realitäten als solche schwer zu erkennen geben, da die Realität, d.h. die faktischen Orte in Form von Ereignissen dargestellt werden, scheint fraglich, wie eine Verwicklung zwischen faktischem und zu erhaltendem Ort stattfinden soll. Faktisch festgestellte Realität bliebe demnach nur durch die sie ermittelnden Machtverhältnisse verschiebbar. Geht man jedoch von einer Verwicklung als dem Menschen konstitutiv aus und fasst Realität folglich als dieser entspringend auf, so lässt sich der Blick dafür öffnen, die hier und jetzt möglichen, d.h. die gesellschaftlich arrangierten Kräfteverhältnisse einer Grenzerweiterung zu unterziehen. Der Nomade muss demzufolge die Verwicklung zwischen dem faktischen Ort, an dem er ist, und dem Ort, für den er kämpft, zunächst aushalten, um aus den Entwicklungen, die dieser Verwicklung entspringen, neue Verknüpfungen herzustellen. Unbehagen entsteht in diesem Moment auch, da sich möglicherweise nicht nur der faktische, sondern auch der mögliche Ort zu ändern beginnt. Der Nomade kämpft dann immer wieder neu, an einem neuen Platz für einen neuen Ort. Dieser zentrale Punkt, anhand dessen es meiner Meinung nach möglich ist, Deleuzes Ausführungen durch Plessner präzisieren zu können, lässt sich anhand der Auseinandersetzung, die beide Theoretiker um den Begriff der Immanenz führen, konkretisieren: Plessner bezeichnet die Ausgangslage des Menschen, die dadurch gekennzeichnet ist, zu sich selber in einer Relation der Unbestimmtheit zu stehen, als Daseinslage in offener Immanenz (vgl. Plessner 1981a: 192). Richter hat dies folgendermaßen veranschaulicht: Unergründlich ist der Mensch, weil es hinter seiner Aktualität keinen ursprünglichen Grund gibt, aus dem diese Aktualität als ein ontologisch Zweites hervorgehen könnte. Das geschichtliche Leben schreitet nur (gleichsam horizontal) von Individuation zu Individuation fort, wobei eins aus dem anderen hervorgeht, nicht jedes aus einer gemeinsamen Quelle. „Die Individuation selber ist erwirkt durch wiederum selbst erwirkte Faktoren“ (Plessner 1981a: 187). Das Verhältnis des Menschen zu seiner Vergangenheit und seiner Ge-

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genwart kann deshalb als Daseinslage in offener Immanenz bestimmt werden (Richter 2005: 169).

Folgende Abbildungen sollen verdeutlichen, inwieweit sich diese Ausgangslage dadurch auszeichnet, dass „die Immanenz […] als Horizontalität der Indivierungsfolge gegeben [ist], als Fehlen einer Zurechenbarkeit dieser Folge auf etwas, was außerhalb ihrer selbst läge“ (Richter 2005: 169). Richter führt weiter aus, dass „Offenheit der Immanenz [hier] […] jene Gegenseitigkeitsbeziehung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen [bezeichnet], die es möglich macht, dass der geschichtliche Lebensprozeß weder zum Stillstand kommt noch zur Wiederkehr des Gleichen noch zu einer aleatorischen Figur unverbundener Situationsbilder gerät“ (Richter 2005: 170). Während Plessner, dies wird in der zweiten Abbildung herausgestellt, Immanenz also als von einer Individuationsfolge erwirkt versteht, konzipiert Deleuze, dies zeigt die erste Abbildung, reine Immanenz entweder als einer Individuationsfolge vorgängig, oder aber als mit dieser deckungsgleich. Zwar entsteht in beiden Fällen ein Möglichkeitsfeld, das durch die jeweils rot markierten Stellen dargestellt ist, doch unterscheidet sich dieses hinsichtlich des Verhältnisses, das es zu den schwarz gekennzeichneten Bereichen einer spezifischen Individuationsfolge einnimmt: Abbildung 1

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Abbildung 2

Die unterschiedlichen Positionen, die sich darin äußern, entweder, wie Plessner dies tut, davon auszugehen, dass eine Individuationsfolge Immanenz erwirkt, oder wie Deleuze, Immanenz entweder als prozesshafte Individuierung an sich oder aber als eine der Individuation als Subjekt vorgängige Instanz zu betrachten, führen Konsequenzen mit sich. Plessners Modell lässt es zu, ein Möglichkeitsfeld im Moment, für den Moment anzunehmen, obwohl Immanenz anhand der, bzw. auf den horizontalen Linien konzipiert wird. Er fasst Immanenz als offen und schafft auf diese Weise stetig neue Felder, die trotz ihrer horizontalen Erscheinung, in ihrer Gänze nicht an prinzipiellen Bedingungen ausgerichtet werden können. Dieser lebendige Vollzug ist allein je einer Gegenwart möglich, die sich damit eben als Gegenwart vor dem sich verlierenden Hinter- und Untergrund der Vergangenheit abhebt und aus dem bloßen Gewordensein als das Werdende heraushebt. Was von der Vergangenheit her gesehen die letzte Auswirkung scheint, die gelebte Gegenwart, die aber eigentlich schon Vergangenheit, nur in ihrer Nähe noch gegenwärtige Vergangenheit ist, gibt sich in ihrer Unmittelbarkeit erst aus dem unergründlichen Woraufhin unserer Entscheidungen, also nur durch einen Umbruch der Blickstellung zu sehen und zu verstehen. In die-

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sem Umbrechen des Blickes wendet sich das Leben sich selbst zu, um sich als vergangenes und verborgenes zu entdecken. In diesem Umbrechen aber hebt es sich aus dem Kontinuum des Gewordenen heraus und manifestiert als Gegenwart seine Macht über die Vergangenheit (Plessner 1981a: 183).

Das Leben wendet sich selbst zu sich, es erwirkt durch sich selbst erwirkte Faktoren einer spezifischen Individuationsfolge, Möglichkeitsfelder der Unmittelbarkeit, aus denen im Umkehrschluss Macht über die Vergangenheit ausgewirkt werden kann. Deleuzes Konzept liefert sich der Problematik aus, ein Leben, in der Abbildung rot gezeichnet, als reine Immanenz unter Umständen einer völligen Beliebigkeit auszuliefern. Da die schwarz betonten Individuationsvorgänge, die sich in seiner Theorie, sodann sie nicht in der reinen Immanenz aufgehen, als Subjektivierungsvorgänge, die sich innerhalb moderner Machtverhältnisse konstituieren, zeigen, keinerlei Einfluss auf den von Rechts wegen vorgängigen Bereich der Immanenz haben, bleibt eine durch sich selbst etablierte Macht im luftleeren Raum. Wenn aber von einer faktischen, aktualisierten Form der Immanenz ausgegangen wird, die den Weg zurück finden muss, stellt sich in kontrollgesellschaftlichen Realitäten die Frage einer möglichen Ununterscheidbarkeit zwischen den beiden Ebenen. In dem nun folgenden Kapitel werde ich aufzeigen, dass die innerhalb der darzustellenden Passage sich ereignenden Möglichkeitsfelder der Gefahr unterstehen, anstatt freigelegten Immanenzmilieus zu entsprechen, besagte kaschierte Transzendenzen zu beschreiben. Man tritt auf der Stelle. Kontrolle, so wird sich zeigen, schafft in diesem Fall eine Art pseudo-Immanenz, die dafür sorgt, dass der rote Bereich nicht erreicht wird. Dieses Treten auf der Stelle ist nicht mit dem von Deleuze vorgeschlagenen Bild des Nomaden, der seinen Ort nicht verlässt, zu verwechseln, sondern zeigt vielmehr die Notwendigkeit auf, dieses Bild durch die von Plessner beschriebene Macht des sich selbst zuwendenden Lebens zu präzisieren.

2 Die Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft

Maurizio Lazzarato äußert sich in seinem Artikel Leben und Lebendiges in der Kontrollgesellschaft folgendermaßen zu der theoretischen Herangehensweise, bzw. dem theoretischen Hintergrund, den Deleuze entwickelt, um Entwicklungen innerhalb eines kapitalistischen Systems in nicht-dialektischer Art und Weise in den Blick zu bekommen: Eine der wichtigen theoretischen Neuerungen, die Michel Foucault und Gilles Deleuze einführten, um den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft zu erklären, ist der Begriff der multiplicité, der Multiplizität oder Vielfalt. Der Begriff ermöglicht eine neue Auseinandersetzung mit den Dynamiken der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus, denn er macht deutlich, dass Individuen und Klassen sowie deren Konflikte Fixierungen, Schließungen und Differenzierungen der Vielfalt sind (Lazzarato 2007: 253).

Die Schließungen und Differenzierungen der Vielfalt bieten den direkten Anknüpfungspunkt zu der im vorherigen Kapitel aufgezeigten Thematik sich spezifisch entwickelnder Möglichkeitsfelder. Während das letzte Kapitel als Vorblick dafür diente, eine erste Ahnung darüber zu entwickeln, wie diese Möglichkeitsfelder durch das zu sich selbst gewendete Leben der Gefahr einer Schließung von Außen entgehen können, steht nun im Vordergrund, die Strategien, die diese Schließung durch unterschiedliche Vorgehensweisen herbeiführen, zu durchleuchten. Der Fokus innerhalb dieser Analyse richtet sich dabei auf kontrollgesellschaftliche Dynamiken, da diese sich, wie Deleuze in

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seinen späteren Arbeiten herausarbeitet, dadurch auszeichnen, ökonomisches Kalkül mit affektiven Momenten zu verbinden. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Virtuelle, welches ihm in früheren Arbeiten als widerständige Ebene der Immanenz und der Fluchtlinien galt, jetzt von Kontrollmechanismen durchdrungen ist, ohne jedoch in diesen aufgehoben zu sein (vgl. Rölli 2008a). Seiner Ansicht nach existiert neben einer virtuellen Machtebene eine ebenfalls virtuelle Immanenzebene, die ihrerseits Fliehkräfte widerständischer Art voraussetzt. Wie bereits erörtert, ist es problematisch, die beiden von Deleuze als virtuell bezeichneten Ebenen in letzter Konsequenz, ihrer eigentlichen Verwobenheit zum Trotz, gegenüberzustellen. Folgendes Kapitel soll dazu dienen, diese Problematik, die bisher vor allem daraufhin betrachtet wurde, die Gefahren, die der Deleuzschen Theorie hinsichtlich der von ihm entworfenen immanenten Ebene sozusagen von „Innen“ entspringen, nun aus einer Perspektive zu betrachten, die ihr Hauptaugenmerk auf die Gefahren von „Außen“ legt. In diesem Zusammenhang wird zunächst auf die jeweiligen Strategien, die der Disziplinar-, sowie der Kontrollgesellschaft zugrunde liegen, eingegangen. Das Thema Qualitätsmanagement an Hochschulen dient als aktuelles Beispiel, anhand dessen verdeutlicht werden soll, inwieweit die Entwicklungen innerhalb der zu behandelnden Passage zunehmend dahin steuern, besagte Möglichkeitsfelder nicht nur zu begrenzen, sondern diese herzustellen, bzw. im Sinne der herrschenden, neoliberalen Rationalität herstellen zu lassen. Ausgehend von Bröcklings These, dass „Qualitätsspezialisten nicht mehr die Produkte kontrollieren, sondern die Selbstkontrolle der Produzenten“ (Bröckling 2000: 136), soll die Verschränkung von Akkreditierung und Evaluation zu einem sog. „umfassenden Qualitätsmanagement“ (Bülow-Schramm 2005: 293) innerhalb der Hochschule daraufhin überprüft werden, inwieweit das zugrunde liegende unternehmerische Verfahren der steten Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit mit „Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“ (Deleuze 1993: 255) in Verbindung steht. Auf der Grundlage dieser Auseinandersetzung soll im letzten Kapitel herausgearbeitet werden, inwieweit Gesa Ziemers Konzept der

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Komplizenschaft als „produktive Taktik der Kritik“ (Ziemer 2007: 76) eine Möglichkeit des Handelns bereit hält, anhand derer vorhandene Kräfte schnell und situativ angeordnet werden können, um eine Art von Übersicht herzustellen, aus der heraus die Notwendigkeit der Einordnung zugunsten einer situativen Wahrnehmung weicht. Im Folgenden will ich jedoch zunächst die Machtformen der Disziplinierung und der Kontrolle auf ihre Unterschiede hin untersuchen, um darzustellen, wie sich die Qualität der Kontrolle verändert. Es wird sich zeigen, dass der Übergang, bzw. die Passage von der einen in die andere Form, wie Stäheli herausstellt, insbesondere dadurch geprägt ist, dass „Kontrolle […] sich von Erziehung [löst]. Kontrolle meint nun nur noch die Regulierung der affektiven Kräfte, welche die Masse zusammenhalten. Eine Überwindung der Kräfte ist nicht vorgesehen“ (Stäheli 2008: 314). Lazzarato zufolge liegen dem hier angesprochenen Übergang folgende Differenzierungsmerkmale zugrunde. Disziplinar- und Kontrollgesellschaft unterscheiden sich demnach •

• •

durch die Art und Weise, wie der Zusammenhang von Differenz und Wiederholung fixiert und genutzt wird, das heißt, wie Möglichkeiten eröffnet und realisiert werden die Art und Weise, Ausdruck und Körper zu kodifixieren, und schließlich die Modi der Subjektivierung der Multiplizität (Lazzarato 2007: 253).

Die von Lazzarato herausgearbeiteten Merkmale der Unterscheidung von Disziplinar- und Kontrollgesellschaft dienen im Verlauf dieses Kapitels dazu, einen Orientierungspunkt dafür zu geben, Entwicklungen nachzeichnen zu können. Nachdem zunächst die Machtformen Disziplin und Kontrolle als solche im Mittelpunkt stehen, sollen diese Entwicklungen im weiteren Verlauf anhand einer Unterscheidung zwischen kybernetischen und nicht kybernetischen Steuerungstechniken präzisiert, bzw. von einer Metaebene aus betrachtet werden. Während es also zunächst darum gehen wird, die Möglichkeitsfelder, die innerhalb disziplinar- und kontrollgesellschaftlicher Realitäten existieren, darzustellen, soll in einem weiteren Schritt darauf eingegangen werden, welcher Steuerungsweise die Etablierung dieser Felder folgt.

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2.1 Z UM B EGRIFF DER D ISZIPLINARGESELLSCHAFT Wie werden Möglichkeitsfelder innerhalb einer Disziplinargesellschaft hergestellt? Den Vorgang einer solchen Produktion fasst Lazzarato mit Hilfe Deleuzes folgendermaßen: Deleuze entwickelt ein […] wichtiges Konzept, um die Disziplinargesellschaften zu begreifen. Bekanntlich sind die Schule, die Fabrik, die Klinik, die Kaserne etc. die Dispositive, durch die sich die Internierung der Vielfalt vollzieht. Doch wichtiger noch als die Internate und die Einschließungen ist Deleuze zufolge das Außen. Denn eingefangen wird tatsächlich das Virtuelle, die kokreative und ko-operative Potentialität, das Werden der Vielfalt. Die Disziplinargesellschaften üben Macht aus, indem sie die Kreativität und Produktivität von Differenz und Wiederholung neutralisieren und der Reproduktion unterordnen (Lazzarato 2007: 257).

Die hier angesprochenen sogenannten Einschließungsmilieus wie etwa Schule, Fabrik oder Klinik, gehen zurück auf Foucaults Analyse der Disziplin, die er in seinem 1975 erschienenen Werk Überwachen und Strafen insbesondere anhand des Gefängnisses entwickelt. Foucault geht der Frage nach, wie sich die Institution des Gefängnisses als Strafform durchsetzen konnte und konstatiert einen Übergang von Marter und Exekution hin zur Gefängnisstrafe, welcher sich an der Schwelle vom klassischen zum modernen Zeitalter erkennen lässt. Dieser Übergang stellt Foucault zufolge allerdings keinen Sieg der Humanität dar, sondern beschreibt vielmehr eine Optimierung der Strafleistung als solcher, die Foucault im weiteren Verlauf anhand des von Jeremy Benthem entwickelten Panopticons deutlich macht. Das Panopticon ist durch seine architektonische Grundkonzeption, die aus einem ringförmigen Gebäude, in dem sich Zellen befinden, und durch einen Wachturm in der Mitte dieses Gebäudes, von dem aus die Gefangenen im Ringgebäude beobachtbar sind, gekennzeichnet. Die Transparenz der Zellen, welche durch Fenster, sowohl zur Innenseite des Gebäudes, als auch nach außen hin, sichergestellt ist, bewirkt, dass sich die Bewegungen der Gefangenen dem Beobachter jederzeit sil-

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houettenartig präsentieren. Foucault stellt anhand dieser Anlage eine grundlegende Wandlung der Prinzipien innerhalb des Strafsystems fest: „Das Prinzip des Kerkers wird umgekehrt, genauer gesagt: von seinen drei Funktionen – einsperren, verdunkeln und verbergen – wird nur die erste aufrechterhalten, die beiden anderen fallen weg“ (Foucault 1991: 257). Im Gegensatz zum Grundschema der Einsperrung im Kerker hat das panoptische Prinzip zum Ziel, einen „bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustand beim Gefangenen“ zu schaffen, „der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“ (Foucault 1991: 258). Durch die Tatsache der permanenten Sichtbarkeit scheinen sich die Gefangenen von sich aus so zu verhalten, als würden sie beobachtet, die Frage, ob sich tatsächlich ein Beobachter im Turm befindet, spielt keine Rolle mehr. Der jeweilige Insasse steht im wahrsten Sinne des Wortes im Licht der Macht, was zur direkten Folge hat, dass er die Zwangsmittel der Macht übernimmt und diese gegen sich selbst ausspielt: „Er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 1991: 260). Die Disziplinarmacht bedient sich der Instrumente des hierarchischen Blicks, der normierenden Sanktion und ihrer Kombination, die im Verfahren der Prüfung besteht. Durch die Anwendung dieser Disziplinarinstrumente zielt die Macht auf die politisch-ökonomischen Körper und „fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen)“ (Foucault 1991: 177). Foucault zufolge gibt es kein Subjekt der Macht, sondern Machtverhältnisse, die sich netzartig zusammenschließen und in der Lage sind, sich zu verschieben und immer wieder neu zu ordnen. „Dieses Netz hält das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher. In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert“ (Foucault 1991: 228). Innerhalb dieses Funktionierens ist die Macht ihrem Wesen nach nicht repressiv, sondern im Gegenteil, sie ist eine anregende Macht, die Wirkliches pro-

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duziert. In diesem Zusammenhang lässt sie sich als individualisierende Macht charakterisieren, die gelehrige Körper produziert und gleichzeitig einen produktiven Gesamtkörper zum Ziel hat. „Es gilt also nicht, das Individuum als eine Art elementaren Kern, primitives Atom, als vielfältige und träge Materie aufzufassen, auf die die Macht angewandt oder treffen würde, eine Macht, die die Individuen unterwerfen oder zerbrechen würde. Tatsächlich ist das, was bewirkt, dass ein Körper, dass Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert und konstituiert werden, bereits eine erste Wirkung der Macht“ (Foucault 1978: 82/83). Ewald konstatiert in diesem Zusammenhang, dass „Disziplinen individualisieren, sie hören nicht auf zu individualisieren; doch diese Individualisierung erfolgt nicht durch Kategorien, sondern im Innern von Kategorien. Immer aktuell und immer neu begonnen ruft sie nach keinem Wissen, das dem, was sie sichtbar macht, äußerlich ist. Mit den Hinterwelten, den Innerlichkeiten und den Geheimnissen hat es ein Ende: ein Zeitalter der rein positiven Wissensarten“ (Ewald 1991: 168). In diesem Sinne lässt sich jedes Individuum als Fall beschreiben, als vergleichbares, messbares, klassifizierbares und ausschließbares Individuum. „Die Zurichtung der Körper hat die Funktion, jegliche Abweichung zu verhindern, dem Handeln, den Handlungen und Haltungen die Möglichkeiten der Variation zu nehmen“ (Lazzarato 2007: 257). Auf die Frage nach den Möglichkeitsfeldern, die innerhalb einer Disziplinargesellschaft produziert werden, zeigt sich in diesem Kontext, dass über Strategien der direkten Regulation erreicht wird, „im Zeit-Raum eine Produktivkraft zusammenzusetzen, deren Wirkung größer sein muss als die Summe der Einzelkräfte“ (Deleuze 2003: 254). Diese Produktivkraft, dieser Produktionskörper bildet sich durch die Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Unterwerfung, die Lazzarato zufolge durch die Disziplinartechniken erzwungen wird: Die Disziplinartechniken erzwingen gewisse Verhaltensweisen und Haltungen, um gewünschte Ergebnisse hervorzubringen, und zwar unter Bedingungen, in denen die Vielfalt zahlenmäßig beschränkt, der Raum klar definiert und begrenzt ist. Diese Techniken werden wirksam, indem sie die Vielfalt zerteilen sowie räumlich artikulieren (sie einschließen, sie seriell gliedern, ihr einen Ort und Tätigkeiten zuweisen), indem sie ihr eine zeitliche Ordnung auferlegen

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(die Bewegungen zergliedern, die Zeit zerteilen, die Handlungen vorschreiben), sie – ebenfalls räumlich und zeitlich – neu zusammensetzen und dadurch die Dynamik der sie konstituierenden Momente verstärken (Lazzarato 2007: 255).

Die Bildung von Möglichkeitsfeldern, die sich aus erzwungenen Verhaltensweisen heraus bilden und sich dem Prinzip der Einschließung gemäß auf einen spezifischen Zeit-Raum beziehen, basiert auf der gleichzeitigen Ausschließung des von Deleuze so bezeichneten Virtuellen. Die Ausschließung des dem Aktuellen zugrunde liegenden Virtuellen äußert sich paradoxer Weise ebenfalls als Einschließung desselben. Es ist demnach nicht so, dass die Einschließungsmilieus bewirken, dass Virtuelles und Aktuelles, Potentialität und Aktualität voneinander getrennt werden, indem das Virtuelle außerhalb des jeweiligen Einschließungsmilieus steht. Vielmehr bewirken, erzwingen und produzieren die Disziplinartechniken durch die von ihnen geschaffenen Möglichkeitsfelder das außer Kraft setzen dessen, was Deleuze als Potentialität von Differenz und Wiederholung bezeichnet. Streng genommen ist es also das Virtuelle, das eingesperrt wird und sich deshalb nur als spezifische Aktualität zeigen kann. Lazzarato bringt dies auf den Punkt: Das Außen, das Virtuelle einzusperren heißt, die Erfindungskraft zu neutralisieren und die Wiederholung zur Regel zu machen, also jede mögliche Kreativität zugunsten einer einfachen, immergleichen Reproduktion zu binden. In den Disziplinargesellschaften kennen die Institutionen (auch die der Arbeiterbewegung) kein Werden: Die Institutionen haben eine Vergangenheit (durch ihre Tradition), eine Gegenwart (durch ihre Beziehungen zur Macht) und eine Zukunft (gesehen als Fortschritt), aber was ihnen fehlt, ist Werden (Lazzarato 2007: 258).

Die Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft sind daraufhin angelegt, Abweichungen zu vermeiden, indem sie, wie Deleuze bemerkt, als Gussformen (vgl. Deleuze 1993: 256) auftreten. In dieser Funktion produzieren und formen sie das Individuum als diszipliniertes Subjekt, das von seinen virtuellen Kräften getrennt ist. Die Vermeidung von Abweichung bezieht sich im Anschluss an das letztge-

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nannte Zitat Lazzaratos auf Abweichungen, die eine Form von Werden implizieren; Abweichungen, die der Produktion von Subjektivität aufgrund der Potentialität von Differenz und Wiederholung entspringen, werden ausgeschlossen, indem die Produktion von Subjektivität selbst über eine binäre Ordnung ausgeübt wird, die als Herrschaftsstruktur fungiert. Die Wiederholung wird zur Regel und konstruiert die Differenz als eine ihr inhärente Komponente mit. 31 Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Foucault fasst Deleuze Machtverhältnisse als virtuell auf.32 Im Kontext von Disziplinargesellschaften bedeutet dies, dass neben den Fliehkräften, die Deleuze zufolge den Singularitäten, der Vielfalt zukommen, bevor diese subjektiviert, d.h. aktualisiert werden, auch die Machtverhältnisse selbst in ihrer virtuellen Kraft eingeschlossen sind, bzw. Einschließungen hervorrufen, die ihr virtuelles Potential verwalten, dekodieren. Lazzarato beschreibt die Aufgabe, die den Institutionen, den Einschließungsmilieus in diesem Zusammenhang zukommt, folgendermaßen: Die Macht wäre demnach ein virtuelles Kräfteverhältnis, während Institutionen Akteure oder Agenturen einer Integration, einer Stratifixierung und Kristallation von Kräfteverhältnissen sind. Institutionen fixieren Kräfte und ihre virtuellen Verhältnisse durch Dispositive, dabei kommt ihnen eine eher repro-

31 Marianne Pieper erläutert die Konstruktion der strategisch verwobenen Sphären von Wiederholung und Differenz im Kontext fordistischer Produktionsregime und deren widerständischer Außenbereiche: „Im fordistischen Produktionsregime wurde das (Alltags-)Leben noch als das Außen der Arbeit konzipiert und gedacht. Es war das Fundament für die Artikulation subversiver und widerständischer Politiken gegen das fordistische Lohnarbeitsregime und die dazugehörigen Disziplinarinstitutionen“ (Pieper 2007: 234). 32 „Lokal, instabil und diffus zugleich, gehen die Machtverhältnisse nicht aus einem Mittelpunkt oder aus einem einzigen Brennpunkt der Souveränität hervor, sondern verlaufen innerhalb eines Kräftefeldes in jedem Augenblick von einem Punkt zum anderen und zeigen Brechungen, Kehrtwendungen, Drehungen, Richtungswechsel und Widerstände, Aus diesem Grund sind sie nicht in dieser oder jener Instanz lokalisierbar“ (Deleuze 1995: 103).

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duktive denn produktive Funktion zu. Staat, Kapital und die verschiedenen Institutionen im Kapitalismus sind nicht die Quelle der Machtbeziehungen, sondern erwachsen aus ihnen (Lazzarato 2007: 255).

Die Institutionen der Disziplinargesellschaft, besagte Einschließungsmilieus, aktualisieren demnach das virtuelle Kräfteverhältnis; sie dekodieren die virtuellen Kodes, die die virtuellen Machtverhältnisse bereithalten, d.h. sie subjektivieren die Vielfalt, die von Lazzarato zuvor angesprochene Multiplicité, indem diese eingeschlossen wird und sich in eindeutiger Art und Weise als Straftäter, Schüler, Arbeiter, Irrer usw. zeigt. Als Dispositive sind in diesem Zusammenhang jeweilige Matrizen der Machtverhältnisse zu verstehen, sich innerhalb des virtuellen Kräfteverhältnisses aktualisierende Knotenpunkte. Die Einschließungsmilieus als Knotenpunkte, als Dispositive der Macht, sind somit als Entsprechungen spezifischer Machtkonstellationen zu begreifen. Allerdings wird, und auch darauf spielt Deleuze an, wenn er das Virtuelle als eingesperrt betrachtet, eine solche Konstellation durch das Errichten eines Einschließungsmilieus festgestellt, reproduziert und in ihrer Produktivität im Sinne sich entwickelnder Neukonstellationen gehemmt. So definiert Überwachen und Strafen das Panoptikum durch die reine Funktion, einer beliebigen Mannigfaltigkeit von Menschen eine beliebige Aufgabe oder ein beliebiges Verhalten aufzuzwingen, unter der einzigen Bedingung, dass die Anzahl gering und der Raum begrenzt, von geringer Ausdehnung sei. Man betrachtet weder die Formen, die der Funktion (erziehen, pflegen, strafen, arbeiten lassen) ihre Ziele und ihre Mittel verleihen, noch die geformten Substanzen, auf die sich diese Funktion erstreckt (Gefangene, Kranke, Schüler, Irre, Arbeiter, Soldaten…). Und in der Tat durchzieht das Panoptikum Ende des 18. Jahrhunderts alle diese Formen und bezieht sich auf alle diese Substanzen: In diesem Sinne ist es eine Kategorie der Macht, eine reine Disziplinarfunktion (Deleuze 1995: 101/102).

Als Ordnungen der Macht existieren Einschließungsmilieus, die die virtuellen Machtverhältnisse aktualisieren, indem Entsprechungen derselben hergestellt werden, die diese reproduzieren, Vielfalt subjektivieren. Ein Knotenpunkt der Macht ist als Baustein einer Ordnung zu

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verstehen, der sich aus der Verbindung dieser virtuellen Machtverhältnisse mit Wissenskomplexen bildet. Die reine Funktion der Sichtbarmachung, die den Machtverhältnissen entspringt, paart sich in gewisser Weise mit Wissenskomplexen, die dieses Sichtbare mit dem Sagbaren verbinden. „Wenn Wissen darin besteht, das Sichtbare und das Sagbare zu verknüpfen, so ist die Macht die hierbei vorausgesetzte Ursache. Umgekehrt jedoch impliziert die Macht das Wissen als die Verzweigung, die Differenzierung, ohne die sie nicht zur Tat würde“ (Deleuze 1995: 58/59). Die Verknüpfung von Sicht- und Sagbarem, die sich im Falle des Gefängnisses anhand der Verbindung der Sichtbarkeiten, die durch die Funktion der Einschließung entstehen, und der Aussage des Strafgesetzbuches (vgl. Deleuze 1995: 59) zeigt, ergibt sich über Kodes, die anhand der dem jeweiligen Einschließungsmilieu entspringenden Subjektivierung dekodiert, d.h. erfahrbar gemacht werden. Die Vermittlung von Sicht- und Sagbarem stellt eine messbare Differenz her, die von Nöten ist, um das Verhalten der Singularitäten, der Vielfalt, die sich als virtuelles Kräfteverhältnis äußert, in den Blick bekommen, es innerhalb eines differentielle Knotenpunktes anhand von Kodes messen und sodann durch Einschließungsmilieus dekodieren zu können. Machtbeziehungen sind virtuell, instabil, nicht lokalisierbar, nicht stratifiziert, molekular, potentiell; sie definieren Handlungsmöglichkeiten. Machtbeziehungen sind Differenzialbeziehungen, die über die Singularitäten entscheiden. Äußerung und Aktualisierung dieser Differenzialbeziehungen werden durch Institutionen organisiert, die sie stabilisieren, stratifizieren und irreversibel machen: gleichzeitig ein Prozess der Integration und der Differenzierung. Integration bedeutet dabei, die Singularitäten zusammenzufassen […] um […] ein gemeinsames Ziel anzusteuern. […] In Disziplinargesellschaften führt die Differenzierung zur Herausbildung von Dualismen, deren wichtigste die Klasse […] und das Geschlecht […] sind. Die Gesamtheit der binären Anordnungen umfasst, kodifiziert und reguliert die Virtualitäten, die Variationen der molekularen Verknüpfungen, die Möglichkeiten der Interaktion und der Kooperation zwischen Subjektivitäten (Lazzarato 2007: 256).

Der Vorgang der Dekodierung in disziplinargesellschaftlichen Verhältnissen ist also an die konkreten Einschließungsmilieus gebunden.

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Ihnen entspringt, wie Lazzarato hier bemerkt, die Herausbildung von Dualismen, von Oppositionen wie etwa zwischen Mann und Frau. Diese Differenzierungen sind an die Einschließungsmilieus gebunden, da diese erst einen Raum schaffen, der es ermöglicht, das Sichtbare mit dem Sagbaren zu verknüpfen. Während die Vielfalt, die Virtualität der molekularen Verknüpfungsmöglichkeiten also durch Kodierung, zum Beispiel durch das Strafgesetzbuch, in eine zu messende Differenz unterteilt wird, ergeben die festgestellten Bereiche einen Ausschnitt, demgemäß sich das Subjekt orientiert, sein Leben erfährt, integriert wird.33 Für jeden ermittelten Bereich der Differenzierung, die über Kodierung verläuft, existiert eine Dekodierungs- eine Integrationseinheit. Die Psychiatrie dekodiert demnach die Differenz zwischen Wahnsinn und Vernunft, das Krankenhaus die Differenz zwischen Krankheit und Gesundheit, die Fabrik die Differenz zwischen Arbeit und Freizeit usw. Aufgrund von Entwicklungen wie Telefon, Fernsehen, Internet, kurz, aufgrund von Entwicklungen, die die Herausbildung einer Öffentlichkeit, einer öffentlichen Meinung erwirken, vermehren sich seit dem zweiten Weltkrieg die Dekodierungsmöglichkeiten auf der einen Seite, auf der anderen Seite entsteht, was Stäheli eine Emergenz des Sozialen (vgl. Stäheli 2008: 304ff) nennt. Während die Bildung von Öffentlichkeiten, bedingt durch das Entstehen von Vernetzungen auf

33 Foucault äußert sich in seinem Buch Der Mensch ist ein Erfahrungstier an einer Stelle sehr prägnant zu dieser Thematik: „Im Grunde habe ich mich bis heute immer nur damit beschäftigt, wie die Menschen in den abendländischen Gesellschaften diese zweifellos grundlegenden Erfahrungen wahrgenommen haben: in den Prozeß der Erkenntnis eines Objektbereichs einzutreten und dabei gleichzeitig sich selbst als Subjekt mit einem festen und determinierten Status zu konstituieren. Zum Beispiel: mit der Erkenntnis des Wahnsinns sich als vernünftiges Subjekt zu konstituieren; mit der Erkenntnis der Krankheit sich als lebendiges Subjekt zu konstituieren; mit der Erkenntnis der Ökonomie sich als arbeitendes Subjekt zu konstituieren; in einer bestimmten Beziehung zum Gesetz sich als Individuum zu erkennen...Überall dieses Phänomen, daß der Mensch ins Innere seines eigenen Wissens eingeht. […] Immer geht es um Grenzerfahrungen und um eine Geschichte der Wahrheit“ (Foucault 1997: 52).

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Distanz, dafür sorgt, dass es nun möglich ist, für die gleichen Kodes unterschiedliche Dekodierungen bereitzustellen, unterlaufen die diesen Öffentlichkeiten entspringenden Massen34 möglicherweise bereitgestellte Dekodierungsmöglichkeiten, da diese zu langsam sind, um den Emergenzen, d.h. den Herausbildungen neuer Kodes, die innerhalb dieser Massen entstehen, entsprechen zu können. In Anschluss an Gabriel Tarde nennt Lazzarato die sich im Kontext neuer Öffentlichkeiten abzeichnenden Entwicklungen: Denn während ein Individuum nicht gleichzeitig verschiedenen Klassen angehören kann, so kann es, und zwar simultan, Teil verschiedener Öffentlichkeiten sein. […] Bei Tarde befindet sich das Individuum auf dem Sprung und kann, als Monade, Teil verschiedener möglicher Welten sein. Die Öffentlichkeiten sind Ausdruck neuer Subjektivitäten und neuer Formen der Sozialisation, wie sie in Disziplinargesellschaften unbekannt waren (Lazzarato 2007: 263).

34 Stäheli erläutert den Zusammenhang von Öffentlichkeit, hier in Anlehnung an Gabriel Tarde als Publikum bezeichnet, und Masse wie folgt: „Obgleich Masse und Publikum sich deutlich voneinander unterscheiden und ihre Beziehung zunächst schon fast als gegenseitige Negation erscheint, besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen beiden. Denn die Masse wird durch und im Publikum nie vollständig aufgehoben. Vielmehr findet sich im Publikum immer eine ‚foule virtuelle (Tarde 1901: 39), genauso wie das Individuum auch schon eine virtuelle Masse enthält. Die Masse wird also nur virtualisiert, bleibt dadurch aber auch für das Publikum als ständige Gefahr des Absturzes in die Masse gegenwärtig .Am Beispiel der Französischen Revolution beschreibt Tarde die revolutionären Straßenmassen als ein Beispiel für solche Auswüchse von Publika. Die Eruption der latenten Masse ist aber kein bloßer Unfall eines ansonsten gut funktionierenden Publikums, kein Auftauchen lange überwundener und schon fast vergessener sozialer Formen. Die virtuelle Masse befindet sich in einer besonderen Beziehung zum Publikum: ‚Man könnte sogar sagen, dass sich jedes Publikum nach der Masse zeichnet, die in ihm geboren wird (Tarde 1901: 48)“ (Stäheli 2009: 406/407).

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Während die Disziplinartechnik der Einschließung sich auf das einzelne Individuum konzentriert, indem diesem eine binäre Ordnung zur Verfügung gestellt wird, anhand derer sich dieses in und durch entsprechende Milieus subjektiviert, entsteht durch die Bildung neuer Öffentlichkeiten die Möglichkeit, in mehrfacher Hinsicht dekodiert zu werden. Über die Verbreitung von Zeitungen, der Etablierung von Fernsehen, Telefon und Internet entsteht die Möglichkeit, Zusammenschlüsse außerhalb der auf binäre Kodes angelegten Einschließungen wahrzunehmen. Durch neue Formen der Dekodierung werden auf diese Weise bisher nicht wahrgenommene Fragmente der Kodes sichtbar. Diese Zusammenschlüsse und Vernetzungen sorgen zum einen dafür, dass Einschließungen aufbrechen, da Alternativen zu diesen entdeckt werden, zum anderen entwickeln sich innerhalb dieser Zusammenschlüsse neue Differenzierungen der Kodes, die in ihrer Struktur von den Einschließungsmilieus nicht wahrgenommen, nicht dekodiert werden können. Ein Beispiel dieser neuen Öffentlichkeiten zeigt sich im Rahmen der politischen Strömungen, die 1968 weltweite Protestbewegungen in Gang setzten. Ein zentrales Thema dieser Proteste war der Widerstand gegen den militärischen Einsatz der USA in Vietnam. Obwohl z.B. Deutschland als Nation, als Staat und Einschließungsmilieu, nicht in direkter Art und Weise an den kriegerischen Vorgängen beteiligt war, entstand eine Öffentlichkeit, die in sich ein Widerstandssubjekt bildet. Der Ausgangspunkt für die Bildung dieser Öffentlichkeit liegt Tarde zufolge in der Möglichkeit der Vernetzung, in diesem Fall in einer übernationalen Vernetzung begründet. Durch die Weiterentwicklung von Massenmedien wie Zeitungen oder Fernsehen entsteht die Möglichkeit, natürliche Distanzen, in diesem Fall also nationalstaatliche Distanzen zu überbrücken und eine öffentliche Meinung herzustellen, die im Falle des Vietnamkrieges dazu führt, dass der Teilung in Nationalstaaten zum Trotz eine Bewegung entsteht, die innerhalb ihres Einschließungsmilieus neue Dynamiken zustande bringt. Die Aufteilung der Gesellschaft in Öffentlichkeiten tritt nicht an die Stelle der religiösen, ökonomischen, ästhetischen oder politischen Teilungen, sondern überlagert sie. Im glatten Raum der Kooperation zwischen Gehirnen, am organlosen Körper der interzelebralen Beziehungen zeigen die Öffentlichkeiten

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Schwankungen und Spaltungen auf, die auf die rigiden und eindeutigen Einteilungen, die Klassen und soziale Gruppen repräsentieren, auflösend wirken, Und zwar dergestalt, dass die sozialen Segmentierungsprozesse sich deterritorialisieren und neue, bewegliche und flexible Dynamiken auftauchen (Lazzarato 2007: 263).

Diese flexiblen Dynamiken ergeben sich Stäheli zufolge aus der emergenten Ordnungsstruktur, die den Massen, die sich innerhalb, bzw. als Ausdruck der sich etablierenden Öffentlichkeiten bilden, eigen ist. Sobald sich eine die Einschließungsmechanismen überlagernde Öffentlichkeit gebildet hat, stellen Massen aufgrund ihrer emergenten Struktur möglicherweise den Ausgangspunkt dafür dar, die Einschließungen disziplinargesellschaftlicher Prägung zu unterlaufen: Wären Massen bloße Unordnungsphänomene und Regelverletzungen, dann ließen sie sich mit etablierten Disziplinierungstechniken normalisieren. Massen beunruhigen vielmehr durch ihre emergente Ordnungsstruktur. In der Masse entsteht etwas Neues, für das die aufs einzelne Individuum ausgerichteten Disziplinartechniken nicht vorbereitet sind (Stäheli 2008: 313).

Stäheli erkennt die Notwendigkeit eines Übergangs von den Techniken der Disziplinierung hin zu Kontrollmechanismen durch eben die angesprochene endindividuierende Wirkung gegeben, die der sozialen Einheit „Masse“ entspringt: „Das Individuum dient nicht mehr als Ausgangs- und Zielpunkt von Kontrolltechniken, sondern die entindividuierten Kommunikations- und Affektströme der neuen sozialen Einheit Masse sind nun Gegenstand dieser Techniken“ (Stäheli 2008: 307). Inwieweit und durch welchen Techniken es Kontrollmechanismen möglich ist, „ohne den Pfeiler des Individuums überhaupt funktionieren zu können“ (Stäheli 2008: 324), wird im folgenden Kapitel dargelegt.

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2.2 Z UM B EGRIFF

DER

K ONTROLLGESELLSCHAFT

In seinem Aufsatz Postskriptum über die Kontrollgesellschaften bezeichnet Deleuze die Einschließungsmilieus disziplinargesellschaftlicher Prägung als unabhängige Variablen, während er Kontrollmechanismen als so genannte untrennbare Variationen, die einer kontinuierlichen Modulation unterworfen sind, darstellt: Die verschiedenen Internate oder Einschließungsmilieus, die das Individuum durchläuft, sind unabhängige Variablen: dabei wird davon ausgegangen, dass man jedes Mal wieder bei Null anfangen muss; zwar gibt es eine gemeinsame Sprache dieser verschiedenen Milieus, aber sie ist analogisch. Dagegen sind die verschiedenen Kontrollmechanismen untrennbare Variationen, die das System einer variablen Geometrie mit numerischer […] Sprache bilden. Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gussformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gussform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren (Deleuze 1993: 256).

Wie im Kontext der Disziplinargesellschaft gezeigt wurde, erklärt sich der analogische Aufbau der verschiedenen Einschließungsmilieus dadurch, dass für eine Kodierung ein spezifisches Dekodierungsmilieu zuständig ist. Sicht- und Sagbares werden in einer Art und Weise vermittelt, die Differenzierung und Integration als nicht zu trennende Vorgänge darstellt. Eine Kodierung, eine Differenzierung hängt konkret mit ihrer Dekodierung, d.h. mit der Integration des Kodierten zusammen. Die Dekodierung entspricht demnach dem zuvor Kodierten, das wiederum ohne die Möglichkeit der Dekodierung so nicht hätte kodiert werden können. Diese analoge Ausrichtung der Entsprechung verändert sich in kontrollgesellschaftliche Verhältnissen dahingehend, als nun für die gleichen Kodierungen, die gleichen Differenzierungen unterschiedliche Dekodierungen, unterschiedliche Integrationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Diese unterschiedlichen Formen der Integration sind, wie Deleuze festhält, untrennbare Variationen einer kontinuierlichen Modulation, die jede starre Form verflüssigt. „In einer Kontrollgesellschaft tritt an die Stelle der Fabrik das Unterneh-

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men, und dies ist kein Körper, sondern ein Gas“ (Deleuze 1993: 256). Deleuze präzisiert diese Unterscheidung, indem er bemerkt, dass die Fabrik als Einschließungsmilieu des sog. Fordismus durch das Unternehmen abgelöst wird, das die Individuen nicht anhand eines binären Kodes, der Innen von Außen trennt, subjektiviert, sondern vielmehr darauf abzielt, diese Spaltung in das Individuum selbst zu verlegen:35 Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen, zum zweifachen Vorteil des Patronats, das jedes Element der Masse überwachte, und der Gewerkschaften, die eine Widerstandsmasse mobilisierten; das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet (Deleuze 1993: 257).

Indem die Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft aufgeweicht werden, weil sie nunmehr eine unter vielen sich stetig wandelnden Dekodierungsmöglichkeiten sind, fällt die Einordnungsmöglichkeit, die sich eindeutig vollziehende Integration, die der Einschließung folgt, weg, bzw. verflüssigt sich. Innerhalb des sich vollziehenden Übergangs, im Zuge sich vermehrender Dekodierungsmöglichkeiten, entstehen demnach neue Integrationsmuster für die vorgenommenen Differenzierungen. Da sich die disziplinargesellschaftliche Form der Kodierung ohne die dazugehörige Dekodierung innerhalb eines geschlossenen Raums jedoch ebenfalls aufweicht, indem die sich neu entwickelten Integrationsmöglichkeiten auf Distanz diese stetig weiter differenzieren, befindet sich das Individuum, wie Deleuze bemerkt, in

35 Die Begriffe Fordismus/Postfordismus markieren einen sich innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft etablierenden Übergang in sozioökonomischer Hinsicht, der sich auf das Auftreten der in diesem Kontext wirksam werdenden Machttechnologie der Kontrolle zurückführen lässt. Die Krise des Akkumulationsregimes in den 70er Jahren und der mit diesem einhergehenden fordistischen Regulationsweise beschreibt in diesem Zusammenhang den Übergang von einem fordistisch geprägten Nationalstaat hin zu dem von Joachim Hirsch postulierten „nationalen Wettbewerbsstaat“ (vgl. u.a. Deleuze 1993: 254 – 262; Hirsch: 1995).

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einem zwangsläufig gespaltenen Zustand. Lazzarato erläutert dies, indem er darstellt, dass die Aufgabe der Macht in kontrollgesellschaftlichen Zuständen nicht länger darin besteht, „die Subjektivität einzuschließen und sie zu disziplinieren, nachdem sie vom Virtuellen getrennt wurde. Stattdessen muss das Außen, also die Fähigkeit zur Differenz, kontrolliert und moduliert werden. […] Die Zeit des Ereignisses, der Erfindung, der Kreation des Möglichen ist nicht länger Ausnahme, sondern eine Modalität des Handelns; für die Macht gilt es, sie alltäglich zu regeln“ (Lazzarato 2007: 259). Während das Individuum in disziplinargesellschaftlichen Realitäten durch die spezifische Vermittlung von Sicht- und Sagbarem und der gleichzeitigen Dekodierung dessen durch Einschließung subjektiviert, d.h. in gewissem Sinne gepolt wurde, steht es für das Individuum nun im Vordergrund, diese Dekodierungen selbst vorzunehmen, bzw. eine bestimmte Form der Dekodierung aus einer Reihe sich immer wieder neu entwickelnder Möglichkeiten auszuwählen. Das Individuum hat durch diese Wahl die Möglichkeit, selbst dafür zu sorgen, auf welche Art und Weise die über die Vermittlung von Sicht- und Sagbarem vorgenommenen Differenzierungen integriert, d.h. erfahrbar werden. Innerhalb eines solchen Prozesses werden aufgrund sich vermehrender Dekodierungsmöglichkeiten gleichzeitig neue, bisher nicht beachtete Fragmente der Kodierung sichtbar, die wiederum einer neuen Dekodierung bedürfen. Anstatt damit konfrontiert zu sein, sich über eine erzwungene Trennung von Innen und Außen als Subjekt zu konstituieren, konstituiert sich das Subjekt nun, indem es sich stetig neu erfindet.36 „Familie,

36 Dieser Übergang lässt sich mit Link auch als Übergang von der Macht der Norm zur Macht der Normalität fassen: „Genau das ist m.E. die wesentliche Differenz zwischen Protonormalismus und Flexibilitäts-Normalismus. Der Protonormalismus behauptet durch Wesensschau zu wissen, dass etwa Homosexualität oder auch dominante Gemütsarmut abnorm sind. Der flexible Normalimus verdatet zunächst ein Feld und stellt dabei etwa fest, dass sich zwischen 5 und 10% der Bevölkerung homosexuell verhalten, und dass dieser Anteil folglich normal ist. Es ließe sich also auch sagen: Der Protonormalismus legt seine Normen ex ante fest und ist bereit, sie den Individuen repressiv aufzuzwingen […], der flexible Normalismus er-

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Schule, Armee, Fabrik sind keine unterschiedlichen analogen Milieus mehr, die auf einen Eigentümer konvergieren, Staat oder private Macht, sondern sind chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt“ (Deleuze 1993: 269). Als sinnbildlicher Geschäftsführer der Realität, hier des Unternehmens, ist das Individuum selbst dafür verantwortlich, diese Realität immer wieder zu optimieren, sie an einer sich stets verändernden Norm auszurichten, die durch ihn selbst mitgestaltet wird. Mit Hilfe der Metapher eines Magnetfeldes werde ich versuchen, die komplexen Logiken der beiden verschiedenen Individualisierungsweisen darzustellen. Die Disziplinargesellschaft als Ort der Formierung geordneter Menschenmengen kann als ein gepolter Bereich gleichgerichteter Elektronen beschrieben werden, der durch den Kontakt eines mit freischwebenden Elektronen besetzten Feldes mit einem Magneten, also durch einen Impuls von außen, zustande kommt. Die Kontrollgesellschaft als Bereich aufgebrochener Einschließungsmilieus, lässt sich dementsprechend als Feld darstellen, in dem die gepolten Elektronen in gewisser Hinsicht wieder freigelassen sind und in einem nun selbst magnetischen Zustand eine quasi freischwebende Existenz beanspruchen. Die so dargestellte „Logik der Individualisierung“ beschreibt im Falle der Disziplinargesellschaft den Vorgang der Organisation, indem ein externes Magnetfeld freie Elektronen in eine gemeinsame Ausrichtung zwingt, während in der Kontrollgesellschaft Selbstorganisation dadurch erreicht wird, dass die freischwebenden Elektronen selbst ein Magnetfeld erzwingen, das auf alle anderen Elektronen ausrichtend einwirkt.

rechnet die Normen ex post aus statistischen Erhebungen und überlässt es den Individuen, ihr Verhalten aufgrund ihres Wissens über die Statistik selbst zu adjustieren“ (Link 1997: 92).

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Abbildung 3: Magnetfeld Disziplinargesellschaft   

Kontrollgesellschaft   

Im Modell der Disziplinargesellschaft entdeckt das einzelne Elektron durch einen Blick nach rechts und links seine Wirklichkeit. Das Individuum durchläuft den Vorgang seiner Subjektivierung, indem es auf der Basis eines solchen Blickes sagen kann: „Ich bin ...“ (vernünftig, lebendig, arbeitend usw.). Innerhalb kontrollgesellschaftlicher Realitäten wird die Logik der Individualisierung anhand der Asymmetrie deutlich, dass die Elektronen scheinbar ohne Impuls von außen, selber magnetisch, durch den Blick nach links und rechts zu der Einschätzung gelangen: „Ich bin nicht....“. Der Unterschied zu disziplinargesellschaftlichen Zuständen äußert sich hier darin, dass der zuvor beschriebene Wirklichkeitspol: „Ich bin...“ sich zu einem scheinbaren Möglichkeitspol: „Ich bin nicht...“ verändert, der als Handlungsraum nicht über die Reglementierung von Handlungsmöglichkeiten, durch einen bestimmten Impuls von außen also, als tendenziell präskriptiv wahrgenommen wird, sondern über den Weg der Selbstregulierung konstitutiv performativ verfährt (vgl. Makropoulos 2003: 164). Die hieraus entstehende Situation zeigt ein doppeltes Feld möglichen Handelns, welches es durch das Individuum zu strukturieren gilt. Zum einen existiert der nur scheinbar ohne Impuls von außen auskommende Handlungsraum disziplinargesellschaftlicher Formung weiter, nun jedoch auf dem Boden eines künstlich freiheitlich aussehenden Daseins der „freigelassenen“ Elektronen, zum anderen muss jedes dieser Elektronen nun einen je eigenen „privaten“ Handlungsraum in selbstregulativer Art und Weise bestimmen, um sein „Ich“ zu finden, bzw. bestimmen zu können. Die Kodes, die eingesetzt werden, um eine Vermittlung von Sicht- und Sagbarem und

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damit von Wissen überhaupt zu ermöglichen, bleiben demnach bestehen, es ändert sich zunächst nur die Form ihrer Dekodierung. Im Zuge dieser Entwicklung zeigen sich jedoch Fragmente der Kodierung, die die binäre Ausrichtung derselben sprengen. Wurden die Kodes in disziplinargesellschaftlichen Zuständen im Zusammenhang mit einer spezifischen, erzwungenen Dekodierung zu binären Kodes, die die Realität, die Wirklichkeit von einer Möglichkeit unterscheidbar werden ließ, so müssen sie nun vom Individuum selbst in selbstverantwortlicher Art und Weise dekodiert werden. Im Vorgang einer solchen selbstverantwortlichen Dekodierung kann sich das Individuum, wie das Schaubild der Elektronen zeigt, nur über Abweichung konstituieren, die jedoch nicht, wie noch der stabile Innenbereich disziplinargesellschaftlicher Prägung, der sich über die Abweichung gegenüber einem Außenbereich konstituiert, einer erzwungenen binären Ausrichtung folgt, sondern vielmehr das Mögliche mit dem Wirklichen in eine dynamische Überlagerung versetzt. Im übertragenden Sinne bezeichnet das Magnetfeld eine Norm, die das, was möglich ist, ermittelt. Während diese Norm im Falle der Disziplinarregime von außen festgelegt wird, wird sie in kontrollgesellschaftlichen Zuständen von den Individuen selbst erzwungen, sie richtet sich an den empirischen Gegebenheiten aus. Im Gegensatz zu einer disziplinargesellschaftlichen Formation, die eine strikte Trennung der Bereiche Innen und Außen einführt und auf diese Weise dafür sorgt, dass die Wirklichkeit als stabiler Innenbereich sich gegen die Unsicherheit des äußeren Möglichkeitsfeldes abzusetzen vermag, birgt Kontrolle durch die Aufhebung dieser Trennung nun den Aspekt einer sich ständig erneuernden Wirklichkeit zwangsläufig in sich. Im Kontext der Aussage Deleuzes darüber, dass das Projekt der Einschließungsmilieus darin besteht, „im Zeit-Raum eine Produktivkraft zusammenzusetzen, deren Wirkung größer sein muss als die Summe der Einzelkräfte“ (Deleuze 1993: 254), verändert sich die Herangehensweise dahingehend, als die Bereitstellung einer Norm und die daraus folgende Berechenbarkeit der Lebensumstände als unproduktiv erscheint. Die Installation hierarchisierender Trennungen, „die zwischen Ungeeignetem und Geeignetem, Normalem und Anormalem unterscheiden“ (Lemke et. al 2000: 13), erweist sich als Risiko. Die optimale Installation solcher Trennungen gleicht der sprich-

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wörtlichen Suche nach der Nadel in einem Heuhaufen. Es kann demnach nicht sichergestellt werden, dass die Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft eine Produktivkraft erreichen, deren Wirkung größer ist als andere Formen der Individualisierung. Die Frage danach, wie und wodurch eine optimale Norm erreicht werden kann, lässt sich nicht darüber lösen, diese Norm von außen zu installieren. Installationen von außen können nur Versuche sein, eine optimale Lösung zu erreichen, die Chance ist jedoch gering. In Anbetracht dessen und unter Berücksichtigung der erwähnten Entwicklungen hin zu der Entstehung neuer Öffentlichkeiten, die die Krise der Einschließungen, d.h. ihre beengte Einsatzmöglichkeit offenbart, ändern sich die Strategien der Kontrolle, die Strategien der Macht. Kontrolle „höhlt [nun] ununterbrochen die Berechenbarkeit der Lebensumstände aus“ (Terkessidis 2007: 217), indem, anstatt die Individuen ihrer Stimme, ihrer Möglichkeiten zu berauben, „Kreativität, Sprache, Affekte und die Fähigkeit zur Herstellung von Beziehungen und kollaborativen Fähigkeiten“ (Pieper 2007a: 304) zu zentralen Elementen ihrer Anwendung werden. Da der gegenwärtige Kapitalismus, wie Marianne Pieper bemerkt, als ein historisches System gelesen werden kann, „das versucht, die Bewegungen des Begehrens, der Bedürfnisse und der Dissidenz zu reintegrieren und sie zur eigenen Expansion zu entwenden“ (Pieper 2007: 233), lassen sich zwangsläufig besagte Überlagerungen der beiden Pole Wirklichkeit und Möglichkeit feststellen, die Widerstandskonzepte, die sich einem der Pole anzunähern versuchen, bzw. einen derselben als ihren Ausgangspunkt verstehen, ihrer kritischen Ausrichtung berauben, und somit eine Stagnation innerhalb der vermeintlichen Grunddynamik, die widerständischem Denken zugrunde liegt, herbeiführt. Deleuze äußert sich zu der angesprochenen Überlagerung von Wirklichkeit und Möglichkeit und der dieser entspringenden Entwicklung des Individuums hin zu einem Dividuum wie folgt: Entscheidend ist, dass wir am Beginn von etwas Neuem stehen. Im GefängnisRegime: die Suche nach Ersatz-Strafen, zumindest für die kleinen Delikte, und der Einsatz elektronischer Halsbänder, die dem Verurteilten auferlegen, zu bestimmten Zeiten zu Hause zu bleiben. Im Schul-Regime: die Formen kontinuierlicher Kontrolle und die Einwirkung der permanenten Weiterbildung auf die

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Schule, dementsprechend die Preisgabe jeglicher Forschung an der Universität, die Einführung des Unternehmens auf allen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungswesens. Im Krankenhaus-Regime: die neue Medizin ohne Arzt und Kranken, die potentielle Kranke und Risiko-Gruppen erfasst, was keineswegs von einem Fortschritt hin zur Individuierung zeugt, wie man sagt, sondern den individuellen oder numerischen Körper durch die Chiffre eines dividuellen Kontroll-Materials ersetzt. Im Unternehmen-Regime: neuer Umgang mit Geld, Produkten und Menschen, die nicht mehr die alte Fabrikform durchlaufen (Deleuze 1993: 261/262).

Kontrolle erscheint also in einem veränderten Konzept. Unter anderem zeigt sich dies, so Deleuze weiter, daran, dass man in den Disziplinargesellschaften nie aufhörte, anzufangen, „von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik, während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendetwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht“ (Deleuze 1993: 257). Wissen der Arbeiter in der Fabrik und der Kriminelle im Gefängnis also noch in welche Strukturen sie eingespannt sind und welche gesellschaftlichen Grundsätze sie zu befolgen haben, so betonen Kontrollmechanismen nun die Freiheit, Selbstbestimmung und vor allem Selbstverantwortung des Subjekts als dessen soziale Realität, die es immer wieder neu herzustellen gilt, obwohl sie als solche innerhalb kontrollgesellschaftlicher Zustände bereits als existierend vorausgesetzt wird (vgl. Lemke et al. 2000: 9). Die vermeintlich frei und selbstverantwortlich zu gestaltende Realität erschließt sich aus der zuvor angesprochenen Wahl der Dekodierungseinheit, die dem Individuum zufällt. Da diese Wahl jedoch eine Weiterdifferenzierung der gesellschaftlichen Kodierung zur Folge hat, die wiederum neue Dekodierungsmöglichkeiten beansprucht, gerät die Herstellung der bereits existierenden Realität zu einem nicht abzuschließenden Prozess. „Die aussichtslose Abhängigkeit der Individuen der Disziplinargesellschaft wendet sich zu ihrer aussichtslosen Unabhängigkeit“ (Holert/Terkessidis 1996: 14). Das Subjekt der Kontrollgesellschaft ist somit ein aktives, eigenverantwortliches Selbst, das in der Lage ist, sich selbst zu regieren, von sich aus aktiv zu werden, scheinbar ohne dafür einer Anleitung

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von außen zu bedürfen (vgl. Krasmann 1999: 112). Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen (vgl. Deleuze 1993: 255) bedingen in diesem Zusammenhang besagte aussichtslose Unabhängigkeit, indem sich das Rad der kontinuierlich, ununterbrochen wieder neu herzustellenden Realität immer weiter dreht, auch oder gerade wenn es um die Gestaltung, Verwirklichung oder Aufmerksamkeit das eigene Leben betreffend geht. Im Gegensatz zur Abhängigkeit von der sinnbildlich für die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit erklingenden Fabriksirene, lässt gerade die scheinbare Unabhängigkeit von solch starren Ordnungsformen ein Denken jenseits einer Ordnung nur schwerlich zu. Die Unabhängigkeit gegenüber der von außen festgelegten Norm erlaubt aufgrund der vermeintlich freien Dekodierungswahl weitere Differenzierungen dessen, was der Norm entspricht, fordert jedoch gleichzeitig, diese Differenzierungen zu integrieren. Unscharfe Trennungen und Überlagerungen zwischen den Bereichen Wirklichkeit und Möglichkeit, eine vermeintliche Unabhängigkeit gegenüber einer festgelegten Norm, die in disziplinargesellschaftlichen Realitäten diese Trennung installiert, fordern also, das eigene differentielle Potential möglichst optimal zu nutzen, bzw. erst einmal zu erkennen. Man muss exzellent sein, sich von anderen unterscheiden. Das führt zur Forderung nach Bewegung und der Sehnsucht nach Unterstützung (vgl. Die Zeit, 35/2008). Diese Sehnsucht nach Unterstützung wird von Programmen wie Work-Life-Balance, Wellness oder Coaching-Angeboten aufgenommen und in betriebswirtschaftliche Ziele überführt. Die innerhalb dieser Programme etablierten Lösungsvorschläge basieren darauf, Strategien der Vereinigung diverser zuvor als gegensätzlich konstruierter Bereiche herzustellen. Im Gegensatz zur einer disziplinartechnisch-hierarchisierten, d.h. erzwungenen Trennung dieser Bereiche, die zum Ziel hat, „Individuen an dieser Vorgabe auszurichten und sie daran anzupassen“ (Lemke et. al. 2000: 13), findet die Trennung hier vordergründig statt. Die Individuen sollen sich nicht über Einschließungen und das jeweils andere der Einschließungen konstituieren, sondern es sollen Dynamiken zwischen den vordergründig getrennten Bereichen hergestellt werden, die in selbstregulativer Art und Weise von den Individuen ausgeglichen werden. Indem durch Programme wie Work-Life Balance oder Coaching vordergründig getrennte Bereiche wie etwa Arbeit und Freizeit in ein Gleichgewicht

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gebracht werden sollen, entstehen Verwicklungen zwischen diesen beiden Bereichen, die sowohl das schlechte Gewissen als auch die Motivation erhöhen. Die Balance als Vorgabe koppelt die scheinbar getrennten Bereiche und macht selbstregulative Strategien notwendig, um sich innerhalb des entstehenden Spannungsfeldes der ineinander verwobenen Bereiche zu verhalten. Auf diese Weise wird es ein Vergnügen, gesundheitsbewusst zu leben, oder aber der Besuch eines Seminars über erfolgreiche Selbstfindung und Motivationshilfe wird zur Freizeitbeschäftigung. Individuelle Vorlieben sind notwendigerweise den zu erreichenden Zielen untergeordnet, bzw. werden durch diese Ziele erst hergestellt, anstatt als für sich genommen erfahrbar zu sein. Die Frage danach, ob, und wenn ja, wie etwas als für sich genommen erfahrbar sein kann, rückt die Analyse des Transformationsprozesses innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft in den Kontext der Ausgangsproblematik, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Um diese Frage aus einer Makroebene betrachten zu können, die es zulässt, den Blick auf die verschiedenen Formen der Steuerung zu richten, der die Mechanismen der Disziplin und der Kontrolle entspringen, soll im Folgenden auf kybernetische Regelungen eingegangen werden. Ziel dieser Betrachtungen ist es, Machtverhältnisse in ihrem netzartigen Aufbau besser verstehen zu können und den Begriff der Kontrollform mit freiheitlichem Aussehen in seiner zunehmend unwahrnehmbar werdenden Kontur fassbar zu machen.

2.3 K YBERNETISCHE R EGELUNGEN Die Bewegung des Denkens hat der Kybernetik zufolge keine Grenze. Der Vorstellung eines globalen Maschinensystems entsprechend gibt es auf metaphysische Fragen nur richtige Aussagen, Erfindungen, die sich von anderen Aussagen ableiten lassen. Dieser Prozess der Ableitung ist nicht zu stoppen, seiner Logik sind keine Grenzen – etwa durch die Realität – gesetzt. Wahrheit existiert demnach nur hinter den Grenzen der Fragen, die man nicht beantworten, sondern nur lösen kann.

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Hörl äußert sich zu einer Überlagerung des wissenschaftlichen Ansatzes der Kybernetik mit modernen Formen der Macht, indem er diese Überlagerung als Nachleben der Kybernetik bezeichnet: Zumindest […] bevor […] die Kybernetik selbst als Traum von einer neuen undogmatischen Wissenschaft abdanken sollte, um statt dessen in der Hauptsache ein gewaltiges Nachleben als Steuerungs- und Programmierungsideologie zu führen und ihre […] so scharf attackierte kontrollgesellschaftliche Tiefenwirkung zu entfalten, war die Kybernetik als Ausdruck einer fundamentalen logisch-mathematischen Sinnverschiebung aus dem Herzen der Wissenschaft zu entziffern, die die Philosophie zur Neufassung der nach- oder nichtmetaphysischen Aufgabe des Denkens zwang (Hörl 2008: 181/182).

Inwieweit bezeichnet dieses nachmetaphysische Ausrichtung der Kybernetik möglicherweise genau den Ausgangspunkt dafür, durch Machtverhältnisse, die, wie gezeigt wurde einer netzförmigen Ausrichtung folgen, okkupiert zu werden? Oder muss davon ausgegangen werden, dass das von Hörl angesprochene Nachleben der Kybernetik eine zwangläufige Entwicklung in dem Sinne darstellt, als ein sich selbst in Bewegung haltendes Bild des Denkens notwendigerweise ein löchriges ist, das von außen, also durch die Komplexe Macht und Wissen gestopft werden muss und dadurch eben doch einer spezifischen Ausrichtung folgt? Im Kontext der Metapher des Magnetfeldes, das die Elektronen der Kontrollgesellschaft als quasi-freigelassene zeigt, lässt sich diese Frage in Hinblick auf die nun selbst ein Magnetfeld erzwingenden Elektronen beantworten. Da diese, wie gezeigt wurde, gepolt, d.h. selbst magnetisch sind, folgen sie zwangsläufig einer spezifischen Ausrichtung, die jedoch nicht in direkter Weise von außen organisiert wird, sondern vielmehr einer indirekten Steuerung entspringt. Tiqqun definiert diese indirekte Steuerung, die sie als kybernetische Hypothese bezeichnen, wie folgt: Die kybernetische Hypothese ist […] eine politische Hypothese, eine neue Fabel, welche die liberale Hypothese seit dem zweiten Weltkrieg endgültig verdrängt hat. Im Gegensatz zu jener schlägt sie vor, die biologischen, physischen und sozialen Verhaltensweisen als voll und ganz programmiert und neu pro-

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grammierbar zu betrachten. Genauer gesagt, sie stellt sich jedes Verhalten so vor, als ob es in letzter Instanz gesteuert würde durch die Notwendigkeit des Überlebens eines Systems, das sie möglich macht und zu dem sie beitragen muss (Tiqqun 2007: 13).

Die kybernetische Hypothese als politische Hypothese löst die metaphysischen, nicht zu beantwortende Fragen, indem sie ein System erstellt, bzw. von einem System ausgeht, das spezifische Gleichgewichte herzustellen versucht, spezifische Lösungen und Erfindungen anstrebt. Da eine politische Hypothese somit zwangläufig ein spezifisches Bild des Denkens, das sich ohne Grenzen der Logik mehr oder weniger aus sich selbst heraus ableitet, etabliert, bzw. die Löcher, die dieses Bild aufweisen wird, strategisch zu stopfen weiß, ist die kybernetische Hypothese insofern als Weiterentwicklung disziplinartechnologischer Hypothesen zu verstehen, als die bloße Organisation eines Systems, als starre Repräsentation desselben, dessen Kontrolle, d.h. dessen Selbstorganisation weicht. Die Ableitung von Aussagen aus anderen Aussagen, der keine Grenzen gesetzt ist, da sie einem gemeinsamen System entspringt, fördert eine Dynamik, die die Differenzen und Abweichungen, die im Disziplinarregime eingeschlossen wurden, als Energiezufuhr nutzt. Anstatt das Ungewisse über Einschließungen zu beherrschen, wird es nun kontrolliert, indem möglichst viele Daten gespeichert werden, die eben gerade aufgrund ihrer Abweichungen immer wieder neue Gleichgewichte zustande bringen. Repräsentation erfolgt sodann nicht mehr über die analoge Darstellung eines spezifischen Systems, eines spezifischen Kodes, sondern über sich stets neu zusammensetzende Gleichgewichte innerhalb des sich verflüssigenden Systems, die dieses optimieren, indem neue Fragmente seiner Kodierung sichtbar werden. [Die Kybernetik] behauptet, dass die Kontrolle über ein System durch einen optimalen Grad an der Kommunikation zwischen seinen Teilen erreicht wird. Dieses Ziel erfordert zunächst die kontinuierliche Erfassung von Informationen, von Prozessen der Trennung der Wesen von ihren Eigenschaften, der Produktion von Differenzen. Anders gesagt, die Beherrschung der Ungewissheit verläuft über die Repräsentation und Speicherung vorheriger Abläufe. […] So in Form gebracht, muss die Information dann in die Welt der Lebewesen zurückkehren und beide müssen derart wieder miteinander verbunden werden,

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dass die Warenzirkulation die Herstellung ihrer Äquivalenz garantiert. Das Feedback, der Schlüssel zur Regulierung des Systems, erfordert nun eine Kommunikation im engeren Sinne. Die Kybernetik ist das Projekt einer NeuSchöpfung der Welt durch die unendliche Rückwirkung dieser beiden Momente – trennende Repräsentation, wieder verbindende Kommunikation – aufeinander. Die erstere tötet das Leben ab, die zweite imitiert es (Tiqqun 2007: 23).37

Als Beispiel für eine solche Verbindung von Information und Kommunikation soll Staffort Beers kybernetisches Projekt Cybersyn dienen. Cybersyn bezeichnet den Versuch des kybernetischen Umbaus der chilenischen Volkswirtschaft, den Stafford Beer auf der Basis seiner Konzeption einer real-time-control während der Regierung Allendes (1970-1973) zumindest ansatzweise umgesetzt hat. Im Gegensatz zu vorkybernetischen Erhebungs-, Verwaltungs- und Präsentationsformen des Regierungswissens, wie Zählung und Statistik, die einen zu langen Zeitraum zwischen Erhebung und Verfügbarkeit beanspruch-

37 An anderer Stelle sprechen Tiqqun das Zusammenwirken von trennender Repräsentation und verbindender Kommunikation betreffend von einem gesellschaftlichen Experiment. „Sie [die Kybernetik] will konstruieren, was Giorgio Cesarano eine stabilisierte animalische Gesellschaft nennt, deren natürliche Voraussetzung ihres automatischen Funktionierens die Negation des Individuums ist (bei Termiten, Ameisen, Bienen); so zeigt sich die tierische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit (Termitenhügel, Ameisenhaufen oder Bienenstock) als ein plurales Individuum, dessen determinierte Einheit durch die Aufteilung der Rollen und Funktionen bestimmt wird – und zwar im Rahmen einer organischen Zusammensetzung, bei der man nicht umhin kann, in ihr das biologische Vorbild der Teleologie des Kapitals zu sehen“ (Tiqqun 2007: 29). Der Vergleich mit der Ameise ist deshalb interessant, da in Fußnote 11 bereits auf dieses Beispiel eingegangen wird. Im Zusammenhang mit Kant und dessen Entwurf der Leidenschaft wird darauf hingewiesen, dass die Freiheit, die einer solchen Pluralität möglicherweise in individuellem Sinne entspringt, Plessner zufolge einem exzentrischen Wesen nicht möglich ist. Auf den Menschen bezogen kann in einem solchen Fall nicht von Freiheit gesprochen werden.

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ten, müsse eine kybernetische Regierung Beer zufolge die Lektüre der Daten und Intervention in „ein zeitkritisches Verhältnis zueinander“ bringen, das „nur durch elektronische Medien hergestellt werden kann“ (Pias 2004: 139). Die Mediensysteme der real-time-control suchen demnach selbständig „ausgeglichene Zustände, wobei, wechselseitige Teile des Systems die Fähigkeit anderer Teile auffangen, das Ganze aus der Fassung zu bringen. Eine permanente Unruhe oder Destabilisierung im System bildet den produktiven Kern dessen, was durch effektive Selbststeuerung oder Intervention zugleich immer wieder aufgefangen und ausbalanciert wird“ (Pias 2004: 140). Konkret sollte ein Computer die stets aktuell erhobenen Daten über die Wirtschaft des Landes sammeln, vergleichen und auswerten, in Echtzeit Optimierungen vornehmen, Entscheidungen treffen, und zuletzt die erforderlichen Anweisungen an die Betriebe, die jeweils mit diesem Computer vernetzt waren, zurücksenden. Neben der Ermittlung aktueller Ist-Werte der Betriebe wurden in der Dynamik der Interaktion dieser Datenmenge ebenfalls die jeweiligen Soll-Werte, also die Potentiale der einzelnen Betriebe sichtbar und aufeinander abgestimmt. Auf diese Weise bildete sich ein gemeinsamer Soll-Wert, der sich daran bemisst, die meisten der ermittelten Möglichkeiten auszuschöpfen und in Aktualität zu überführen. Die Hintergründe dieser Konzeption lassen sich anhand der Entwicklung hin zu einer indirekten Form des Regierens finden, die im Kontext der Kybernetik konkret mit der Entwicklung von linearen Steuerketten zu Regelkreisen einhergeht. Ein solches Wissen von Regelkreis und Rückkopplung, das von einem Prinzip der indirekten Wirkung ausgeht, nimmt, wie Joseph Vogl feststellt, bereits um 1800 seinen Ausgang. Vogl zitiert in diesem Zusammenhang Novalis: „Während […] das bloße Instrument und die direkte Wirkung ein lokales Zweck/Mittel-Verhältnis und eine lineare Kausalität definieren, wird das indirecte Werckzeug, zum wunderthätigen und wunderbaren gerade dadurch, dass es am Beginn einer Kette von fortlaufenden Effekten steht, von denen es am Ende selbst wiederum hervorgebracht wird“ (Vogl 2004: 76). Johann Wilhelm Ritter, auf den Novalis hier verweist, beschreibt die galvanische Kette in diesem Kontext als „geschlossenen Kreis elektrischer Wirkungen, in dem jedes Element die Verbindung mit allen anderen Elementen herstellt oder unterbricht,

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von diesen also affiziert wird, indem es selbst affiziert und damit zur fortdauernden Thätigkeit in der fortdauernd geschlossenen Kette führt.“ (Vogl 2004: 76). Überträgt man die hier angesprochene Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Wirkung auf die Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellschaft, so wird unter Berücksichtigung des Projekts von Stafford Beer deutlich, inwieweit das dynamische Gleichgewicht eines Systems gerade durch stete Abweichungen immer wieder neu hergestellt wird, anstatt diese Abweichungen durch eine direkte Regulierung, beispielsweise durch das Instrument staatlicher Einschließungsmilieus, auszuschließen. „Das indirecte Werckzeug [wird] selbst zum konstitutiven Teil dessen, worauf es wirkt; es wird aus einer Teleologie fester Ziele und Zwecke herausgelöst und in einen Zyklus von Kausalitäten integriert; es modifiziert, indem es selbst modifiziert wird“ (Vogl 2004: 77). Kontrolle als indirektes Werkzeug politischer Steuerung verzichtet demzufolge auf die Einschließung als zwischengeschaltetes Instrument der Regulierung. Durch diesen Verzicht wird ein Regelkreis begreifbar, der in seiner Systematik darauf ausgerichtet ist, Unterschiede und Tendenzen als Effekte einer Rückkoppelung zu erfassen, die das System immer wieder neu produzieren bzw. optimieren. „Jede Abweichung wird aufgefangen und produktiv in ein dynamisches Gleichgewicht integriert“ (Pias 2004a: 10). Eine solche Struktur balanciert Stafford Beer zufolge eine Homöostase zwischen Effektivität und persönlicher Freiheit. Individuelle Abweichungen, die zuvor eine störende Funktion hatten, sind nun gleichzeitig Motor und Bedingung eines Systems, das seine virtuellen Elemente durch Augenblicke der Aktualisierung in besagtes dynamisches, produktives Gleichgewicht übersetzt, anstatt „die Potenzialität von Differenz und Wiederholung [zu] neutralisieren und der Reproduktion unter[zu]ordnen“ (Lazzarato 2007: 257). Bröckling bezeichnet die Dynamik, die einer solchen Homöostase zugrunde liegt, als eine „Dynamik der Entgrenzung“ (Bröckling 2008: 345). Durch die Trennung von Soll- und Ist-Wert, durch die Differenz zwischen Aktualität und Potentialität und vor allem durch die Tatsache, dass der Soll-Wert in einen unabschließbaren Prozess der Optimierung eingelassen ist, entrückt „die Realität der einzig möglichen Welt“ (Lazzarato 2007: 258), die dem fixierten Soll-Wert der Diszipli-

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nargesellschaften entsprach und wird gerade deshalb zugleich greifbar nahe (vgl. Pias 2004: 145). „Kontrolle bedeutet“, so Bröckling weiter „nicht länger, die Kontrollierten auf einen fixen Sollwert zu eichen, sondern [eben jenen] unabschließbaren Prozess der Selbstoptimierung in Gang zu setzen, bei dem der Vergleich mit den anderen als Motor und Monitor fungiert“ (Bröckling 2008: 345). Sinnbildlich lässt sich Beers Konzept des Cybersyn mit Deleuzes Analyse in Einklang bringen, als ihm zufolge „Familie, Schule, Armee, Fabrik keine unterschiedlichen analogen Milieus mehr [sind], die auf einen Eigentümer konvergieren, Staat oder private Macht, sondern […] chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt“ (Deleuze 1993: 260). Die Institutionen der Disziplinargesellschaft, die als Zustandsgrößen die einzelnen Teile der Gesellschaft zusammenfassen, bzw. ihr differenzielles Potential fixieren, werden abgelöst durch die globale Strategie eines Regelkreises, der dafür sorgt, dass die einzelnen Teile ihr differenzielles Potential nun in selbstregulativer Weise den vorgegebenen Systemgrenzen entsprechend einsetzen. Sie sind effektiv, gemäß der stets aktualisierten „Suggestionen desjenigen, der [sie] führt“ (Tarde 2003: 14). Allerdings, und dies gilt es zu beachten, ist ein solcher, indirekter Steuerungsmechanismus ein Mechanismus, der auf Abweichungen basiert, solange an die vorgegebenen Grenzen, bzw. die Geschlossenheit des Systems gebunden, das ihn ermöglicht, bis dieses System allumfassend, sozusagen grenzenlos ist. Das System entwickelt sich weiter, indem es die Kapazitäten bündelt, die aus der Dynamik von Effektivität und Freiheit entspringen. Abweichungen müssen demnach in vorgegebenen Systemgrenzen gehalten werden, Freiheit an Effektivität gebunden bleiben. Um dies zu gewährleisten, muss neben der indirekten Steuerung etwas existieren, dass die Abweichungen kontrolliert, und gegebenenfalls dafür sorgt, dass diese gezwungen werden, sich effektiv am System zu beteiligen, anstatt möglicherweise zu sehr abzuweichen und entweder gänzlich aus dem System herauszufallen, oder aber dafür zu sorgen, dass sich nicht effektive Gleichgewichte bilden. An dieser Stelle entwickeln Disziplinarmechanismen erneut ihr Potential und sorgen dafür, dass der Übergang von der Disziplinar-

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zur Kontrollgesellschaft als Passage wahrgenommen werden muss, der (noch) keiner gänzlichen Ablösung entspricht. Durch die unbedingte Notwendigkeit, Abweichungen zu messen und die gleichzeitige Gefahr von Formen der Abweichungen, die über das Ziel hinausschießen, entsteht eine Grauzone, die immer wieder an das sich entwickelte System angepasst, stabilisiert werden muss, indem zunächst Unterscheidungsmerkmale etabliert werden, die die einen von den anderen Abweichungen trennen, um uneffektive Abweichungen sodann in das System zurückführen zu können. Tiqqun bemerken in diesem Zusammenhang, dass „der offensichtliche Widerspruch zwischen einer Verstärkung der repressiven Funktion des Staates und einem neoliberalen wirtschaftlichen Diskurs, der ein weniger an Staat preist […] sich [also] nur im Zusammenhang mit der kybernetischen Hypothese verstehen [lässt]“ (Tiqqun 2007: 48). Der zentrale Punkt dieses Widerspruchs besteht demnach in der gleichzeitigen Notwendigkeit und Gefahr von Abweichungen. Wie ist ein Kontrollsystem aufgebaut, dass mit diesem Widerspruch zu kämpfen hat? Tiqqun zufolge etabliert sich eine Pyramide an deren Spitze Einschließungsmilieus disziplinartechnologischer Art zu finden sind: Einer der Fortschritte der Kybernetik bestand darin, die Systeme der Überwachung und Verfolgung einzuschließen, indem man sicherstellte, dass die Überwacher und Verfolger ihrerseits überwacht und/oder verfolgt wurden, und das entsprechend einer Sozialisierung der Kontrolle, die das Kennzeichen der angeblichen Informationsgesellschaft ist. Der Kontrollsektor verselbständigt sich, weil sich die Notwendigkeit, die Kontrolle zu kontrollieren, durchsetzt, so dass die Warenströme durch Informationsströme verdoppelt werden, deren Zirkulation und Sicherheit ihrerseits optimiert werden müssen. An der Spitze dieser Aufeinanderschichtung von Kontrollen stehen die staatlichen Kontrollen, die Polizei und das Recht, die legitime Gewalt und die Macht der Justiz und spielen die Rolle von Kontrolleuren in letzter Instanz (Tiqqun 2007: 47/48).

Die kontrollierenden Disziplinarmechanismen müssen eingreifen, wenn etwas aus der Kontrolle des ihnen zugrunde liegenden, auf Selbstkontrolle angelegten Systems gerät. Sie sind jedoch auch dabei

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behilflich, diesen Prozess immer wieder in einer Dynamik zu halten. Sie wirken im Vergleich zu ihrer Funktion in einer grundsätzlich disziplinartechnologisch aufgebauten Gesellschaft zum Teil verstärkt repressiv. Als Grund hierfür lässt sich bemerken, dass die Grauzone zwischen den Differenzen, den Abweichungen, die das ihnen zugrunde liegende System benötigt, und jenen, die es gefährden, durch die Disziplinartechnologien immer wieder stabilisiert, d.h. ontologisiert werden muss. Es müssen Unterscheidungsmerkmale etabliert werden, die dazu führen, dass alle Handlungen, alle Tätigkeiten sich an diesen Merkmalen auszurichten haben. Innerhalb des Netzes des sich selbst kontrollierenden Systems entstehen somit Knoten eines Herrschaftswissens, die sich immer wieder verschieben und dazu führen, Abweichungen differenzieren zu können. Die komplexe Anordnung dieser umfassenden Kontrolle, soll in einem nächsten Schritt anhand der Thematik Qualitätsmanagement an Hochschulen nachgezeichnet, bzw. konkretisiert werden. 2.3.1 Qualitätsmanagement an Hochschulen Die innerhalb des Bologna-Prozesses stattfindende Umstrukturierung des europäischen Hochschulraumes, mit Hilfe derer die Vergleichbarkeit und damit die Mobilität von Wissenschaftlern und Studenten erhöht werden soll, führt zu einer Wandlung dessen, was unter dem Stichwort Qualitätssicherung an der Hochschule verstanden wird. Qualitätssicherung, wie sie heute in Form von Qualitätsmanagement an Hochschulen durchgeführt wird, lässt sich meiner Meinung nach in die Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft einordnen und soll als konkretes Beispiel dabei behilflich sein, diese Passage in ihrem komplexen Aufbau darstellen zu können. In der Literatur zum Thema Qualitätsmanagement in der Hochschule wird eine Praxis beschrieben, deren Hauptelemente Evaluation und Akkreditierung sind. Es wird hierbei davon ausgegangen, dass sich Evaluation an einem relativen Qualitätsbegriff orientiert, während Akkreditierung an einem absoluten, einem nach definierten Standards urteilenden Begriff von Qualität ausgerichtet ist. Während man im Kontext des als ursprünglich betrachteten Verfahrens der Evaluation also von einem prozesshaften Charakter der

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Qualität auszugehen scheint, etablierten sich unter der Prämisse standardisierter Vorgaben quantifizierende Methoden der Leistungsüberprüfung, der die Akkreditierung zugerechnet wird (vgl. Löffler 2005: 6). Den Hintergrund dieser Verschränkung „zu einem umfassenden Qualitätsmanagement“ (Bülow-Schramm 2005: 283) bildet der sogenannte Bologna Prozess. Zwar kann in dieser Arbeit nicht explizit auf die verschiedenen Punkte und Abläufe eingegangen werden, die diesem Prozess zugrunde liegen, doch soll durch folgendes Zitat, das eine Erklärung der europäischen Bildungsminister wiedergibt, zumindest angedeutet werden, wie die Zielsetzung einer gemeinsamen Gestaltung des europäischen Hochschulraumes erreicht werden soll: Die Hochschulen garantieren durch ihre Unabhängigkeit und Selbstverantwortlichkeit, dass Bildung und Forschung ständig orientiert sind an den sich wandelnden Bedürfnissen, den Anforderungen der Gesellschaft und den Fortschritten in den Wissenschaften. Durch ein gemeinsames Vorgehen soll insbesondere die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems verbessert werden (Bülow-Schramm 2005: 293).

Die hier angesprochene Unabhängigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Hochschule bezeichnet eine zunächst kontrollgesellschaftliche Individualisierungsstrategie, die nicht nur auf empirisch Einzelne gerichtet ist, sondern auch kollektive Subjekte, wie eben die Hochschule, einschließt. Dieser Strategie folgend entsteht, was als Subjekt des Neoliberalismus bezeichnet werden kann: Das aktive, eigenverantwortliche Selbst, der Unternehmer seiner selbst, der in der Lage ist, sich selbst zu regieren, von sich aus aktiv zu werden, scheinbar ohne dafür einer Anleitung von außen zu bedürfen. Die scheinbare Freiheit, die der neoliberalen Strategie entspringt, entlarvt sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Handlungsaufforderung dazu, dem neoliberalen Leitbild einer „schlanken“, „fitten“, „flexiblen“ und „autonomen“ Subjektivität zu entsprechen: Die Förderung von Handlungsoptionen ist nicht zu trennen von der Forderung, einen spezifischen Gebrauch von diesen Freiheiten zu machen, so dass die

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Freiheit zum Handeln sich oftmals in einen faktischen Zwang zum Handeln oder eine Entscheidungszumutung verwandelt. Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens erscheint, haben sich die Einzelnen die Folgen ihres Handelns selbst zuzurechnen (Lemke et al 2000: 30).

Qualitätsmanagement gewinnt vor diesem Hintergrund eine zentrale Rolle dabei, die Selbstkontrolle der Hochschule als kollektives Subjekt zu steuern, so dass diese sich zu einem wettbewerbsfähigen Unternehmen auf dem freien Markt entwickelt. Die Verknüpfung von Evaluation und Akkreditierung, oder allgemeiner von internen und externen Methoden der Qualitätssicherung stellt über die ihr zugrunde liegende Einteilung in freiwillige Möglichkeiten und an Mindeststandards ausgerichteten Vorgaben dar, inwiefern die scheinbar freiheitlichen Handlungsoptionen der Evaluation an Gewicht gewinnen: Evaluation breitete sich aus, weil sich die Hochschule freiwillig an weitgehend selbstgesteuerten Verfahren beteiligen und damit auch die Konsequenzen und die Veröffentlichungspraxis in der Hand haben. Die Studienrealität als Übereinstimmung von gesetzten Zielen mit der Durchführungspraxis ist im Focus der Evaluation und ist insofern eine ex-post Bewertung. Akkreditierung dient der Qualitätsprüfung neuer Studienprogramme und hat eine stärkere Betonung der externen Komponente des Peer-Review-Verfahrens und der ex-ante Steuerung, sofern die Einhaltung von Mindeststandards und die Zertifizierung eines Programms Voraussetzung für seine Durchführung sind (Bülow-Schramm 2005: 14).

Die Frage ist nun, inwieweit die Balance, die zwischen den Elementen effizienten Handelns hinsichtlich einer Akkreditierung (ex-ante Bewertung) und Evaluation im Sinne attraktiver Lehre (ex-post Bewertung) in selbstverantwortlicher Art und Weise herzustellen ist, der vordergründig konstruierten Trennung der zu balancierenden Gebiete zum Trotz in weit reichende Verbindungen, Verwicklungen und Abhängigkeiten eingebunden ist, die betriebswirtschaftlichen Zielen folgen. Ulrich Bröckling beschreibt die Entwicklung des Begriffes der Evaluation folgendermaßen:

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Konzentrierte Evaluation sich früher darauf, die erzielten Wirkungen an den gesteckten Zielen zu messen, Defizite zu identifizieren und Schritte zu ihrer Behebung aufzuzeigen, so dienen die fortwährenden Aus- und Bewertungsrituale jetzt vor allem dazu, Leistungen zu vergleichen, den internen wie externen Wettbewerb zu stimulieren und so einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess, kurz: KVP, in Gang zu setzen (Bröckling 2004: 78).

Auch durch Qualitätsmanagement wird ein Regelkreis eingebaut, dessen selbstregulative Kräfte sich innerhalb der virtuellen Machtebene kontrollgesellschaftlicher Prägung befinden, bzw. durch diese erst konstituiert werden. Die Daten, die innerhalb der universitären Qualitätserhebungen gemessen werden, um, in Algorithmen umgewandelt, dazu zu dienen, Interventionen innerhalb der universitären Realität vorzunehmen, sind demnach möglicherweise selbst als Algorithmen einer tieferen Hierarchiestufe zu begreifen. Der Regelkreis regelt sich demnach dieser tiefer liegenden Ebene gemäß, d.h. dass die Daten, die in den Regelkreis einfließen, durch spezielle Kodes gefiltert werden, die es dann ermöglichen, diese überhaupt miteinander abgleichen zu können. Diese Kodes errichten identifizierbare Merkmale dafür, individuelle Abweichungen festzustellen, die dann dafür sorgen, das System funktionsfähig zu halten. „Die autonome Universität [ist] also eine indikatorengesteuerte Universität. Ihre Autonomie [ist], wie bei einem kybernetischen Regelkreis […] eine Autonomie des Controllings von Meßgrößen, die sich aus dem laufenden Betrieb ständig selbst erzeugen, ableiten, überprüfen und ausweisen lassen“ (Gugerli 2008:437). Als ein Beispiel hierfür kann die Bibliometrie genannt werden, die über spezifische Indikatoren die Leistung eines Forschers zu erfassen sucht.38 Diese Indikatoren als Machtkonzentrationen innerhalb der

38 Hierzu Alex Rühle in der Süddeutschen Zeitung vom 29. Januar 2009: „Die bibliometrische Erfassung geht davon aus, dass man die Leistungen eines Forschers bemessen kann, indem man die Anzahl seiner Publikationen zählt; das wäre erst mal die reine Quantität. Die Qualität der Publikationen soll dann analysiert werden, indem man zählt, wie oft die Artikel eines Wissenschaftlers in den zwei Jahren nach der Veröffentlichung zitiert werden. Außerdem schaut man auf den Impact Factor der Zeitschrift, der sich daraus errechnet, wie oft insgesamt aus dem Journal zitiert wird.

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virtuellen Struktur der Qualitätsverbesserung, als Herrschaftswissen, das sich der von Bröckling angemerkten Dynamik der Entgrenzung gemäß als ontologischer Boden dafür präsentiert, einen nicht abzuschließenden Prozess in Gang zu setzen, führen dazu, ein permanentes Gefühl der Unzulänglichkeit zu erzeugen, das zu weiterer Arbeit an sich anstacheln soll. Im Umkehrschluss orientiert sich diese Arbeit automatisch an den ontologisierten Indikatoren; ein Regelkreis ist geschaffen. Leistung ist eine Definitions- und damit eine Machtfrage. Wer die Indikatoren festlegt, entscheidet, wenn auch indirekt, über die Ergebnisse. Die Evaluationsmacht legitimiert sich über ihre Objektivität: Sie weißt nicht willkürlich Ränge zu, sondern gibt einheitliche Maßstäbe vor, nach denen alle beurteilt werden. Das zeitigt paradoxe Effekte: Weil die Position im Ranking weit reichende Folgen hat – Beförderung oder Entlassung, Aufstockung oder Kürzung des Budgets –, richten die Evaluierten ihr Verhalten prospektiv auf die zu Grunde gelegten Kriterien hin aus. Man tut, was gemessen, und unterlässt, was vom Bewertungsraster nicht erfasst wird. Evaluation schafft so erst die Wirklichkeit, die sie zu bewerten vorgibt, und erzeugt statt der allseits beschworenen Innovationsfähigkeit einen Aggregatzustand betriebsamer Konformität (Bröckling 2004: 78).

Wie die hierarchische Ordnung, der dieser Regelkreis unterliegt, funktioniert, lässt sich mit Hilfe der pyramidenartig aufgebauten Kontrollinstanzen darlegen, die in die Vorgänge des Qualitätsmanagement an Hochschulen eingebunden sind. Der Regelkreis, der durch das Qualitätsmanagement eingebaut wird, sollte sich per definitionem alleine regeln; eine immer wieder von neuem herzustellende Homöostase, ein dynamisches Gleichgewicht innerhalb der Qualitätssicherung, zielt dieser Definition zufolge darauf ab, ein sich selbst organisierendes System aus sich selbst heraus gleichzeitig stabil und dynamisch zu halten. Das System misst Unterschiede und Tendenzen, um diese daraufhin in besagtes dynamisches Gleichgewicht zu bringen.

Den höchsten Impact Factor haben weltweit Nature und Science“ (Rühle 2009: 11).

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Bei der Frage danach, inwieweit und durch welche Mechanismen der Regelkreis im Bereich des Qualitätsmanagements an Hochschulen einer hierarchischen Ordnung unterliegt, ist es angebracht, die Homöostase, die hier erreicht werden soll, daraufhin zu überprüfen, ob und wodurch gerade diese zum Ausgangs- und Einsatzpunkt ontologisierter Indikatoren wird: „Diese [die Homöostase] tritt für gewöhnlich in selbst organisierenden Systemen auf. Sie balanciert Bedrohungen eines Gleichgewichts aus, um die Stabilität des Gefüges zu wahren. Bei der inszenierten Homöostase wird die scheinwirkliche Atmosphäre eines selbst organisierenden Organismus hergestellt, um dessen Dynamik im Rahmen fremdbestimmter Arbeit und kontrollierter Gemeinschaft abzuschöpfen“ (Dany 2008: 3). Inwieweit eine Inszenierung der Homöostase damit zusammenhängt, was zuvor als Kontrolle der Kontrolle aufgezeigt wurde, deren Aufschichtung in letzter Instanz durch Institutionen disziplinartechnologischer Art kontrolliert wird, zeigt sich im Kontext des Qualitätsmanagement unter anderem anhand der Rolle des Staates. Ulrike Hass erläutert dies folgendermaßen: Zum einen behauptet der Staat, nicht mehr als ein Geldgeber zu sein, der sich in dieser Funktion zum Rückzug genötigt sieht. Zum anderen jedoch zwingt der Staat […] die ehemals geförderten Universitäten dazu, selbst Gelder (Studiengebühren) zu akquirieren und sich immer tiefer in die Abhängigkeit von Drittmittelzuwendungen zu begeben. Er zwingt die Hochschulen zu einer Logik, nach der bisher weder Staat noch Universitäten, sondern Dritte urteilten: Attraktivität von Produkten (Studiengänge, Abschlüsse, Forschungsprojekte) und deren Durchsetzung auf dem Markt (der konkurrierenden Hochschulen), der Anerkennung in finanzieller Ausstattung (Exzellenz) zum Ausdruck bringt […]. Er zwingt die Universitäten, sich als Wirtschaftsfaktor aufzufassen bzw. als ein Unternehmen, das nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten verfährt (Hass 2009: 114).

Die Inszenierung der Homöostase innerhalb des Qualitätsmanagement an Hochschulen findet demnach so statt, wie es von staatlicher Hochschulpolitik erwünscht wäre; durch die Etablierung von Indikatoren, wie am Beispiel der Bibliometrie beschrieben, wird eine explizit als selbst organisiert konstruierte Gemeinschaft wie die Hochschule, oder

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ein spezifischer Fachbereich zu einer kontrollierten Einheit, die sich dynamisch im Sinne ihrer Regisseure weiterentwickelt. Der entscheidende Punkt innerhalb eines solchen umfassenden Kontrollsystems besteht darin, durch die Inszenierung einer Homöostase zu erreichen, dass die als eigenverantwortlich produzierten Organisationen, die sich selbst in ein Gleichgewicht bringen sollen, einer Steigerung der Effektivität ausgesetzt sind, die eine dynamische Beziehung mit einer vermeintlichen Selbstorganisation eingeht. Eine solche Form der Kontrolle funktioniert nicht durch das direkte Einsperren von Abweichungen, sondern bedarf der Nutzung spezifischer, systemdienlicher Abweichung. Damit sich in Bezug auf Unterschiede die Spreu vom Weizen trennen kann, ohne die Dynamik des Systems zu gefährden, müssen die Kontrollen durch mehrere Instanzen gehen. Die Dynamik des Systems ist dann gefährdet, wenn der Staat im Kontext des Qualitätsmanagement in direkter Art und Weise Standards aufstellt, die von den Hochschulen zu erfüllen sind. Da diese Standards innerhalb einer solchen Anordnung entweder zu erfüllen oder aber nicht zu erfüllen sind, ergeben sich die beiden Möglichkeiten Normalität und Abweichung als ausschließliche Varianten. Im Falle einer Anordnung, innerhalb derer Kontrolle durch mehrere Instanzen führt, einer indirekten Anordnung also, in der die Einhaltung staatlich, bzw. hochschulpolitisch gesetzter Standards durch mehrere sich quasi selbst organisierende Organismen kontrolliert werden, ergibt sich ein weniger starres, ein dynamisches Modell. Die gesetzten Standards können streuen. In disziplinargesellschaftlichen Realitäten ist eine solche Streuung, eine nicht geplante Entwicklung, ein emergenter Prozess mit der einzuschließenden Abweichung gleichzusetzen. In kontrollgesellschaftlichen Zuständen jedoch ist das Potential, das diesen Streuungen möglicherweise entspringt, das zu nutzende Fundament für eine dynamische Weiterentwicklung. Allerdings müssen die Abweichungen in den vorgesehenen Systemgrenzen gehalten werden, um diese Weiterentwicklung an einem Ziel ausrichten zu können. Die in sich verflochtene Struktur einer indirekten Steuerung lässt sich durch die Anordnung der an der Akkreditierung beteiligten Instanzen bemessen:

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Die Akkreditierung wird durchgeführt durch mehrere in Wettbewerb zueinander stehende Agenturen. Diese Agenturen […] führen die inhaltliche Begutachtung des jeweiligen Studienprogramms durch sachverständige, hochschulexterne Gutachter (Peers) durch, und sie entscheiden über die Akkreditierung. […] Den Zusammenhalt des Akkreditierungssystems soll nach dem Statut der KMK [Kultusministerkonferenz] eine zentrale Akkreditierungseinrichtung gewährleisten. Dies ist der Akkreditierungsrat. […] Seine Hauptaufgabe ist die Akkreditierung der Akkreditierungsagenturen. Er hat zu diesem Zweck, aber auch für die Akkreditierung von Studiengängen […] Mindeststandards und Kriterien beschlossen. Der Akkreditierungsrat besteht aus 18 Mitgliedern, die überwiegend von HRK [Hochschulrektorenkonferenz] und KMK benannt werden. […] Die Arbeit des Akkreditierungsratsrats wird von Vertretern der Länder und der HRK überwacht (Lege 2009: 71).

Die Systemgrenzen, die im Beispiel der Akkreditierung gesetzt werden, entspringen dieser Anordnung zufolge zumindest teilweise staatlichen Setzungen, die innerhalb der KMK entwickelt werden. Anstatt diese Setzungen in direkter Art und Weise vorzugeben, zieht sich der Staat zurück, steuert indirekt und erreicht auf diese Art und Weise die „Entfaltung eines […] sich selbst generierenden […] Akkreditierungsmarkts“ (Link-Heer 2009: 65). Die Frage, was das Qualitätssicherungssystem der Akkreditierung demnach sichert, beantwortet Link-Heer kurz und prägnant: „Offenbar nur sich selbst“ (Link-Heer: 65). Betrachtet man die pyramidenartige Anordnung, durch die die Kontrolle der Kontrolle stattfindet, so fällt auf, dass die „Kontrolleure in letzter Instanz“, hier die hochschulpolitischen Gremien bzw. der Staat, indirekt Standards vorgeben, die als solche die Grenzen des Qualitätssicherungssystems markieren. Innerhalb dieser Grenzen agieren Regelkreise, die zum einen die Autonomie quasi-selbstorganisierter Bereiche sichern sollen, und zum anderen die Effizienzsteigerung dieser Bereiche den gesetzten Grenzen und Standards gemäß vorantreiben sollen. Die Regelkreise orientieren sich somit an einer inszenierten Homöostase. Ziel dieses Vorgehens ist die eigenständige Qualitätssicherung in den je eigenen Bereichen in Form einer freiwilligen Durchführung derselben, die auf dem Boden einer inszenierten Freiheit hergestellt wird.

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Die Bereiche, um die es sich hier handelt, lassen sich im Kontext des verwandten Beispiel wie folgt darstellen: Der Akkreditierungsrat kontrolliert die Akkreditierungsagentur, die dafür zuständig ist, die Studiengänge der Hochschule zu kontrollieren. Die Studiengänge unterliegen dem Qualitätsmanagement der Hochschule, das an den Standards, die durch den Akkreditierungsrat aufgestellt wurden, ausgerichtet ist. Der Dozent der Fakultät wird durch den Studiengang kontrolliert, bzw. ausgesucht, der sich z.B. anhand bibliometrischer Aussagen ein Bild von der Qualität eines Wissenschaftlers macht. Obwohl es das Ziel dieser ineinander verwobenen Abläufe ist, über die effiziente Streuung der gesetzten Standards innerhalb eines jeden Bereiches einen Prozess der Unabschließbarkeit in Gang zu setzen, bleibt das „Neue“, das „Kreative“ im Sinne einer Abweichung, die die Systemgrenzen sprengen kann, zwangsläufig außen vor: Weil Evaluation ihre Maßstäbe festlegen muss, bevor es ans Messen geht, bleibt sie blind für das Neue. Das Exzellenz-Siegel erhalten jene, die dem Mainstream folgen. Wer gegen den Strom schwimmt, landet auf den hinteren Rängen. Der Leistungsvergleich stärkt gerade nicht die innovativen Kräfte, nach denen man angeblich händeringend sucht. Kreativität ist nicht evaluierbar (Bröckling 2004: 79).

Die Abweichung, die innerhalb eines solchen Konzepts aufgefangen und effizient weiterverarbeitet wird, ist demnach eher als Garant dafür zu verstehen, das herzustellen, was Holert und Terkessidis als Mainstream der Minderheiten bezeichnen, anstatt als Ausdruck einer freiheitlichen, sich im Fluss befindlichen Vielfalt verstanden zu werden, die im Sinne eines Superorganismus Realität durch Selbstorganisation herzustellen weiß.

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2.4 F AZIT UND K ONKRETISIERUNG DURCH K ONZEPT DER EXZENTRISCHEN

DAS

POSITIONALITÄT Das Fazit dieses Kapitels dient dazu, herauszuarbeiten, dass die Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft nicht als Schwelle hin zu einer umfassenden Kontrolle betrachtet werden kann. Mit Plessner soll vielmehr gezeigt werden, dass es absolute Kontrolle, die letztlich nicht von absoluter Freiheit zu unterscheiden ist, nicht geben kann. Die Unmöglichkeit der Umsetzung kybernetischer Tendenzen, die sich darin äußern, das Individuum zu negieren, soll aufgezeigt werden, um eine Basis dafür zu schaffen, diese Tendenzen im Folgenden von Deleuzes differenzphilosophischem Ansatz unterscheiden zu können. Einleitend lässt sich bemerken, dass es sowohl Disziplinartechnologien, als auch Technologien der Kontrolle als Gebärden der Macht eigen ist, identitätsstiftende Wirkungen zu erzeugen. Es wurde gezeigt, dass diese Wirkungen entweder direkt oder indirekt zur Geltung gebracht werden. Gezeigt wurde außerdem, dass aktuelle gesellschaftspolitische Zustände auf einem Zusammenspiel beider Technologien basieren. Die Frage, inwieweit dieses Zusammenspiel ein spezifisches Phänomen beschreibt, das sich konkret innerhalb und als Übergang von der einen in eine andere Gesellschaftsform darstellen lässt, oder aber, ob dieses Zusammenspiel letztlich unüberwindbar ist, da Identitätsstiftung notwendigerweise auf exzentrisch positionierte Lebewesen ausgerichtet ist, soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Die Bedeutung dieser Thematik entspringt der grundsätzlichen Frage danach, ob Kybernetik, ob indirekte Steuerung einen Widerspruch in sich darstellt, der sich darin äußert, dass Freiheit ohne von Außen zu setzende Grenzen nicht möglich ist? Die beiden Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Frage stehen sich auf den ersten Blick diametral gegenüber. Entweder müssen diese Grenzen grenzenlos, d.h. tatsächlich weltweit gespannt sein, um von einem System ausgehen zu können, das über totale Kontrolle Freiheit aus dem Prinzip der Selbstorganisation heraus produziert. Oder aber, es muss von einem metaphysischen Denken ausgegangen werden, das die Verantwortung dafür, Identität und Freiheit parallel denken zu

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können, in ein autonomes Subjekt verlegt, das erkennt, was es zu erkennen gibt und Kontrolle von vorne herein aus sich selbst heraus und gleichzeitig innerhalb eines bestimmten Kontextes ausübt. Ein solches Denken setzt jedoch den Grundgedanken der Kybernetik außer Kraft und wurde im bisherigen Verlauf dieser Arbeit bereits durch die Ausarbeitung des Konzepts der exzentrischen Positionalität in Frage gestellt. Demnach widme ich mich der ersten Antwortmöglichkeit. Inwieweit kann davon ausgegangen werden, dass ein totales System, ein Superorganismus Kontrolle so undurchlässig gestalten kann, dass sich Freiheit auf dem Boden einer Identität entwickelt, die faktisch einer Negation des Individuums zugunsten dieses Organismus gleichkommt? Im Zuge der Darstellung der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft wurde deutlich, dass die identitätsstiftenden Wirkungen, die den jeweiligen Machttechnologien entspringen, in den unterschiedlichen Weisen gründen, Vielfalt zu fixieren. Es wurde angesprochen, dass Wiederholung entweder, im Kontext der Disziplin, zur Regel wird, oder aber, im Kontext der Kontrolle, dafür genutzt wird, stetig neue Ableitungen bestimmter Hypothesen herstellen zu können. In beiden Fällen entsteht rituelles Handeln, das die Vielfalt in spezifischer Form fixiert und seine identitätsstiftende Wirkung auf unterschiedlichen Ebenen zur Geltung bringt. Wolfgang Hilbig fasst diese unterschiedlichen Wirkungsweisen in seiner Erzählung Verabredung mit einem Briefträger am Beispiel der Ampel wie folgt zusammen: Rituale,…rituelles Handeln ist von einer eigentümlichen Kraft. Ob Sie mir zustimmen oder nicht, es wird damit etwas aufgehalten, das verschwinden will. Ein Glaube wird damit aufgehalten, ein Glaube an die guten Geister zum Beispiel. Wie diese Ampeln den Verkehr aufhalten, obwohl da gar kein Verkehr ist…Die Ampeln?...Es gibt hier keine Ampeln…sonst könnte ich sie sehen, im roten oder grünen Licht einer dieser Ampeln. Es ist nicht weit her mit unserer Wirklichkeit. Die Ampeln werden dringend gebraucht, es würde ein riesiges Chaos geben tagsüber, ohne diese Ampeln. Es würde Tote geben…“ (Hilbig 2002: 21).

Es wird etwas aufgehalten. Der Strom der Vielfalt wird fixiert.

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Das Beispiel der Ampel wird von Hilbig in zweierlei Hinsicht gebraucht und lässt sich zunächst auf die unterschiedlichen Technologien der Disziplin und der Kontrolle übertragen, bevor attestiert werden muss, dass sich ein Zusammenspiel beider Machtkonzeptionen letztlich nicht in eine totale Kontrolle ausweiten kann. Die Ampel, die etwas aufhält, obwohl es gar keinen Verkehr gibt, sowie der Verkehr, der sich in seinem Fluss selber aufhält, obwohl es keine Ampeln gibt, stehen für eine spezifische Form der Konstruktion von Wirklichkeit. Einmal wird hier die starre Figur einer Erziehungstechnik beschrieben, die im Sinne disziplinartechnologischer Einschließungsmilieus über Gedächtnispraktiken einen Individuierungsmodus bereithält, der sich in direkter Art und Weise auf das Individuum bezieht und Vielfalt von vornherein auszublenden weiß. Die Wiederholung, das Ritual wird hier zur Regel, sie hält auf, auch und sogar wenn es gar keinen Verkehr gibt: „Disziplinargesellschaften zwingen die Realität in eine einzige mögliche Welt“ (Lazzarato 2007: 258). Die andere hier gezeigte Figur, in welcher die „Emergenz des Sozialen und dessen Kontrolle zusammen [gedacht wird]“ (Stäheli 2008: 301), bezeichnet einen Individuierungsmodus, der sich auf ein System, ein Kollektiv bezieht. Der Verkehr, der aufgehalten wird, obwohl gar keine Ampeln sichtbar sind, lässt sich auf die kontrollierte Verkettung von Differenz und Wiederholung übertragen. Die Wiederholung ist nun nicht mehr eine Regel, die eine spezifische Wirklichkeit hervorbringt, vielmehr ereignet sich Realität durch die Selbstorganisation der Gesellschaft, die sich durch die Potentialität von Wiederholung und sich innerhalb dieser Wiederholung neu formierender Kräfte zu einem scheinbar autonomen Gebilde formt. Allerdings wird die Möglichkeit eines solchen Verkehrsflusses, der sich selbst dann aufhält, wenn es nötig ist, ohne von außen aufgehalten zu werden, innerhalb Hilbigs kurzem Absatz letztlich verworfen. „Es würde Tote geben“. Das Ritual, die Kontrolle der Ampel, kann demnach nicht mit der Emergenz des Sozialen in einer Weise zusammengedacht werden, die einer kollektiven Individuierung im Sinne der Kybernetik entspricht. Warum dies so ist, soll mit Hilfe Plessners erläutert werden, um des Weiteren, als Ausblick auf den folgenden dritten Teil dieser Arbeit veranschaulichen zu können, inwieweit

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Deleuzes Ansatz der Differenz, der Singularität der Gefahr ausgeliefert ist, Ritual, d.h. Wiederholung als Kontrolle nicht von einem fruchtbaren Umgang mit rituellen Formen unterscheidbar machen zu können. Diese von Deleuze entwickelten fruchtbaren, bzw. produktiven Formen zeichnen sich dadurch aus, dass durch sie die aufgezeigten Individuierungsmodi umgangen werden; bei Deleuze meint Wiederholung die Produktion reiner Differenz, anstatt die Synthese dieser Differenz mit einer sie produzierenden Form der Macht: „Die Singularitäten bezeichnen einen Individuierungsmodus, der weder auf die personale noch auf eine kollektive Form zurückgreift; die unwillkürliche, ungeplante Genese von unendlich kleinen Neuerungen legt Zeugnis von ihrer Wirkungsweise ab (die Singularitäten sind nämlich nichts anderes als reine Wirkungen oder Kräfte, die nicht getrennt sind von dem was sie vermögen)“ (Balke 2009: 151). Der Ansatzpunkt dafür, die Möglichkeit von Vielfalt, die nicht von außen fixiert wird, auszuloten, liegt zunächst in der Analyse eines Individuierungsmodus, der eine identitätsstiftende Wirkung auf Kollektive bereithält. Es geht um die Individuierung von Gemeinschaft, der eine Negierung des einzelnen Individuums inhärent ist. Während die bisherige Auseinandersetzung sich damit befasste, Subjektvorstellungen im Kontext des einzelnen Individuums nachzuzeichnen, und herausstellte, dass sich auch innerhalb machtförmig produzierter Wirklichkeiten Möglichkeitsfelder dafür erschließen, diesen Wirklichkeiten zu entfliehen, geht es nun darum, einen Individuierungsmodus zu überprüfen, der anstatt dem Individuum eine Wirklichkeit zur Verfügung zu stellen, durch die dieses subjektiviert wird, Wirklichkeit als grenzenlose Erfindung eines selbstorganisierten Gesamtkörpers begreift. Bröckling verweist in seinem Artikel Über Feedback auf die Dynamik, die dieser Individuierungsform zugrunde liegt. Anstatt das Individuum als Eckpfeiler dafür zu benutzen, Kontroll- bzw. Disziplinartechnologien funktionsfähig zu gestalten, und damit einen möglichst stabilen Zustand herbeizurufen, soll nun durch Transparenz und dem ihr folgenden Informationsgewinn ein dynamischer Zustand hergestellt werden, der persönliche und soziale Komponenten miteinander verbindet, indem sie als Teile eines Prozesses aufgefasst werden, der sie letztlich ununterscheidbar werden lässt:

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Die Gruppendynamik mobilisierte nicht mehr die communio eines partikularen Blutes oder der universellen Sache, sondern gründete ihr Ethos rückhaltloser Selbstöffnung auf einem der Kybernetik entlehnten Konzept des persönlichen und sozialen Wachstums durch Information: Je mehr ich von mir und den anderen weiß (und deshalb darüber spreche, wie ich mich fühle und die anderen erlebe), so die Ratio, desto effizienter werden wir unser Zusammenleben regeln und desto befriedigender wird es für jeden von uns sein. Selbstabschließung dagegen führt zu pathologischen Lernprozessen mit potentiell selbstzerstörerischen Folgen (Bröckling 2008: 336).

Bröckling bezeichnet diesen Zustand des Weiteren als demokratischen Panoptismus: An die Stelle eines allsehenden Beobachters auf der einen und den in ihnen eigenen Beobachtungsmöglichkeiten aufs äußerste eingeschränkten Beobachtungsobjekten auf der anderen Seite tritt ein nichthierarisches Modell reziproker Sichtbarkeit. Jeder ist Beobachter aller anderen und von allen anderen beobachtet. Die Norm ist ihrerseits allein relational bestimmt und nach oben hin offen (Bröckling 2008: 345).

Der Informationsfluss, der quasi ohne Anleitung von außen stattfindet, wird von Bröckling dahingehend entlarvt, als dieser durch eine umfassende Form des Beobachtens ein dynamisches Gleichgewicht, eine Norm erzwingt, die inszeniert ist, da die Gemeinschaft der Beobachter und Beobachteten auf einer tiefer liegenden Hierarchieebene kontrolliert wird. Im Gegensatz zu kybernetischen Aussagen darüber, dass es keine Grenze der Logik gibt, Aussagen von Aussagen ableiten zu können und demnach keine Realität, keinen Raum, innerhalb dessen der Fluss an Information einer Aktualisierung von außen unterworfen wäre, erkennt Bröckling das Prinzip des Panoptismus, das die Verwirklichung des Flusses, seine Aktualisierung zwar in die Hände des Individuums legt, dies jedoch paradoxer Weise erst, nachdem das Individuum zugunsten eines sozialen Radikalismus, zugunsten der Kontrolle der Gemeinschaft, entindividualisiert wurde. Plessner spricht sich gegen die Möglichkeit eines sozialen Radikalismus aus, der persönliche und soziale Komponenten in einer Art und Weise zu verbinden sucht, die darauf abzielt, ein grenzenloses System persönlicher Freiheit zu etablieren. Seiner Meinung nach ist jede Ge-

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meinschaft an Grenzen gebunden, die sich aus der exzentrischen Positionalität ihrer Mitglieder ergeben. Werden diese Grenzen missachtet, stellt sich persönliche Freiheit als determiniert heraus. Ein Superorganismus, die Negation des Individuums zugunsten einer freiheitlichen Identität der Gemeinschaft ist Plessner zufolge nicht möglich, da Entindividuierung durch völlige Transparenz den spezifischen Raum des je eigenen Körperleibes missachtet, der nicht völlig sichtbar gemacht werden kann, bzw. Transparenz an gleichzeitige Opazität koppelt. Entindividuierung, völlige Transparenz, kann für sich genommen nicht zu einem automatisch funktionierenden Gebilde freiheitlicher Gemeinschaft führen, sondern birgt immer und notwendigerweise eine Form von Hierarchie auf einer tieferliegenden Ebene in sich, durch die versucht wird, die Auflösung des Zusammenspiels von Transparenz und Opazität, von gleichzeitiger Ersetzbarkeit und Einmaligkeit, indirekt zu steuern. Plessner beschreibt diese Gleichzeitigkeit wie folgt: „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden“ (Plessner 1981b: 82). Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen agieren darüber, das hier angesprochene Verhältnis insofern auszuhöhlen, als Transparenz nun zum Garanten dafür wird, sich als Person zeigen zu können. Maske und Person sollen ununterscheidbar werden. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, geht dieser Auflösung notwendigerweise eine Ausrichtung, eine Polung oder Grenzziehung von außen voraus, die bestimmt, in welche Richtung, auf welches Merkmal hin sich diese Eindeutigkeit gestalten soll: „Soziale Transparenz, die Durchsichtigkeit der Individuen auf ein wesentliches Merkmal hin, ist in den Utopien und Ideologien der reinen Gemeinschaft gefordert“ (Eßbach 1994: 33). Plessner fragt in diesem Zusammenhang, ob „sich in einem idealen Zusammenleben der Menschen die Gewalt ausschalten [lässt]?“ (Plessner 1981b: 26). Gewalt, so wie sie hier verstanden wird, fußt auf einer dualistischen Vorstellung, der zufolge der Mensch sich als geistiges Wesen definiert, das um einer idealen Gemeinschaftsbildung willen gezwungen ist, seine körperlichen, gewaltsamen, Eigeninteressen verfolgenden Ausprägungen auszuschalten: „Als Geist und Seele steht das menschliche Wesen in einem schlechthin überindividuellen oder wenigstens überpersönlichen Seinskontakt, in einer unsichtbaren

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Gemeinschaft, während er als körperliches Wesen zur Vereinzelung und Vereinsamung, damit zur Verteidigung seiner persönlichen Eigeninteressen gezwungen ist“ (Plessner 1981b: 24). Der dualistischen Trennung von Körper und Geist folgt die Trennung von Gesellschaft und Gemeinschaft. Während der Gesellschaft in einem solchen Verständnis das bloße Aufhalten der Gewalt, die den Eigeninteressen des Einzelnen entspringt, zukommt, meint Gemeinschaft ein ideales, ein auf den geistigen Fähigkeiten des Menschen beruhendes, friedliches Miteinander: „Hat die dualistische Anthropologie recht, wenn sie den Menschen als Seele und Geist einer unsinnlichen Gemeinschaft eingliedert und darum jede Gesellschaft mit dem Makel der Minderwertigkeit, weil der Erzwungenheit durch die bloß physische Existenz behaftet?“ (Plessner 1981b: 26). Plessner hält diesem auf ein ideales Sollen hin ausgerichteten Gemeinschaftskonzept, das sich von dem körperlich Gegebenen absetzen will, entgegen, dass „Menschen von ihrer Natur her untereinander in ungeklärten Verhältnissen stehen“ (Eßbach 1994: 34). Das Wirkliche, klare Verhältnisse, müssen erst hergestellt werden und ergeben sich nicht aus der Gefangenschaft in den je eigenen Körper, der die eigentliche, die geistige Kapazität des Menschen unsichtbar werden lässt. Um diese ungeklärten Verhältnisse, die der exzentrischen Position des Menschen, seinem Doppelaspekt entspringen, in Wirklichkeit zu übersetzen, bedarf es einer willkürlichen Ordnung, die eine Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem einführt. „Diese Zweideutigkeit ist eines der Grundmotive sozialer Organisation. Denn von Natur, aus seinem Wesen kann der Mensch kein klares Verhältnis zu seinen Mitmenschen finden. Er muss klare Verhältnisse schaffen. Ohne willkürliche Festlegung einer Ordnung, ohne Vergewaltigung des Lebens, führt er kein Leben“ (Plessner 1981: 422). Dieser Punkt wurde im Verlauf dieser Arbeit bereits thematisiert, als darauf hingewiesen wurde, dass die Ordnungen, die aus dieser Vergewaltigung erwachsen, einem Spektrum möglicher Rollen entsprechen, die dem Menschen nicht rein äußerlich zur Verfügung stehen, sondern vielmehr eine durch ihn immer wieder aktualisierte Weise eigener Identifikation bezeichnen. Sie schaffen Wirklichkeit, indem sie eine Grenze setzen, die subjektiviert.

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Die Grenzen des Verkehrs, die diesen von außen regeln, sind dem Zitat Hielbigs folgend die Ampeln, die es geben muss, um einen geordneten Verkehrfluss, um im übertragenden Sinne menschliches Miteinander überhaupt zu ermöglichen. Sie stehen sinnbildlich für die Markierung der Grenze zwischen Transparenz und Opazität, dafür, dass Sicht- und Unsichtbarkeit verteilt werden muss. Gibt es sie nicht, gibt es Tote. Jedoch nicht aus einer jeweiligen Eigeninteressen entspringenden Gewalt, sondern aufgrund unklarer Verhältnisse. Die von Plessner angesprochene Vergewaltigung des Lebens birgt in ihrer willkürlichen Setzung also zunächst nichts mehr als die notwendige Durchsetzung klarer Verhältnisse in sich. Ampeln ohne Verkehr, bzw. Verkehr ohne Ampeln entsprechen im Unterschied hierzu einer Ausrichtung, die anstatt Verhältnisse aus einer Notwendigkeit heraus zu schaffen, davon ausgeht, dass diese Setzungen keiner Willkür entsprechen, sondern vielmehr daraufhin ausgerichtet sein sollen, spezifische Sichtbarkeiten, spezifische Bewegungen zu erzeugen. Es wird davon ausgegangen, dass diese Setzungen etwas Spezifisches hervorbringen sollen, das einer Idealität verhaftet ist. Es geht hier nicht darum, etwas künstlich zu ordnen, sondern darum, „die Durchsichtigkeit der Individuen auf ein wesentliches Merkmal hin“ (Eßbach 1994: 33) zu fördern. Während Transparenz, die Sichtbarkeit des vermeintlich Eingekerkerten innerhalb der Disziplinargesellschaft dadurch erzeugt werden soll, dass Symbole wie etwa die Psychiatrie bereitgestellt werden, die die Differenz zwischen Wahnsinn und Vernunft dekodieren, und demnach zwei Bereiche des Sichtbaren etablieren, die vor allem dazu dienen, Vernunft zu manifestieren, agieren Kontrolltechnologien darüber, diese Symbole der Sichtbarkeit in die Menschen selbst zu übertragen. Anstatt einer erzwungenen Gemeinschaftsbildung von entweder verrückten oder vernünftigen Menschen existiert nun eine völlige Transparenz dahingehend, die eigene Vernunft permanent zeigen, bzw. optimieren zu müssen. Während die Symbole, die Einschließungsmilieus innerhalb der Disziplinargesellschaft als Impuls von außen Sichtbarkeiten erzeugen, verschärft sich der Panoptismus in kontrollgesellschaftlichen Zuständen dahingehend, als der Einzelne nun nicht mehr einer permanenten Beobachtung ausgesetzt wird, sondern sich selbst beobachtet, sich selbst sichtbar, transparent machen muss,

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um sich zu verwirklichen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Form der Sichtbarmachung, die sich daran orientiert, die ökonomische Nützlichkeit, die Produktivkraft der Einzelnen zu steigern. Das Streben nach völliger Transparenz, das Ideal der maximalen Produktionskraft einer homogenen Gemeinschaft ist beiden Formationen inhärent, doch ändert sich die Strategie dahingehend, als sich die von außen bereitgestellten Symbole der Einschließung als nicht umfassend, als Nadel im Heuhaufen zeigen. Der Impuls von außen hätte auch ein ganz anderer sein können, der unter Umständen eine größere Wirkung nach sich gezogen hätte. Anstatt den Impuls von außen also vor die Sichtbarmachung zu setzen, wird nun versucht, diesen Impuls mit der Sichtbarmachung zu verbinden, um an die Selbstregulierungskräfte des Einzelnen zu appellieren. Der Verkehr ohne Ampeln. Plessner betont, dass radikalisierte Formen der Gemeinschaft sich durch den Versuch auszeichnen, zu einer Form der Eindeutigkeit vorzudringen, die es nicht geben kann. Die provozierte, und daher einer Teleologie entspringende Umsetzung einer Ununterscheidbarkeit von Transparenz und Opazität ist demnach nur durch ontologisierte Hypothesen zu verwirklichen, die das Erreichen eines Zieles vorantreiben sollen und veranschaulichen, warum es sich bei Freiheit hier um eine vermeintliche Freiheit handelt. Dieser Prozess lässt sich auch innerhalb des bearbeiteten Beispiels erkennen. Die quasi autonomen Bereiche, die innerhalb des Feldes des Qualitätsmanagements produziert werden, unterliegen der tieferen Hierarchieebene, den Hypothesen der Hochschulpolitik, die die Abweichungen, die das System funktionieren lassen in bestimmten Grenzen halten. Es muss innerhalb kontrollgesellschaftlicher Zustände demnach Hierarchien geben, die ein spezifisches Möglichkeitsfeld errichten, das es erlaubt, eine Teleologie zu verfolgen, ohne dass diese im Rahmen der Durchsetzung dieses Ziels die Potentialität der einzelnen Individuen einschränken könnte. Die so entstehenden Möglichkeitsfelder sind jedoch nicht zwingend an die sie konstruierende Ausrichtung gebunden, es lassen sich Plessner zufolge Möglichkeitsfelder errichten, die nicht ontologisierend, sondern vielmehr künstlich sind. Sie geben einen Rahmen, eine Realität vor, die vielerlei Ableitungen aber eben auch eigene Haltungen ermöglicht. Die willkürlichen Setzungen, die notwendigerweise

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das Leben vergewaltigen, um klare Verhältnisse zu schaffen, übertragen eine reine Dynamik, die keinen Ort haben kann, in eine Bewegung. Das entspricht der Gleichzeitigkeit von Ampeln und Verkehr. Der Mensch ist aufgrund seiner exzentrischen Positionalität ortlos, er ist gezwungen, sich einen Ort zu schaffen. Die Grenzen, die diesen Ort bezeichnen, sind künstlich und demnach stets verschiebbar. Als Möglichkeitsfeld schafft ein solcher Ort Bewegung, er überträgt die ortlose, reine Dynamik, das hin- und hergerissen sein eines menschlichen Wesens in ein Leben, das geführt werden kann. Im übertragenden Sinne findet dieses Leben zwischen den Ampeln statt und birgt Möglichkeiten in sich, von einem Zustand in einen anderen zu wechseln, die Potenzialität des Wechselspiels von gleichzeitiger Transparenz und Opazität auszuschöpfen und die Grenzen zu verschieben. Ontologisierend werden diese Möglichkeitsfelder nur dann, wenn sie einem Idealzustand entspringen, wenn die ortlose, reine Dynamik in eine ausgerichtete Dynamik übersetzt wird. In diesem Fall besteht ein Ort einfach, er ist, findet jedoch nicht statt. Der Idealzustand, der durch die kollektive Handlung der Individuen hergestellt werden soll, ist zwar an einen Ort gebunden, dieser Ort ist für sich genommen jedoch nicht in Bewegung, sondern als reine Austragungsstätte einer spezifischen Ausrichtung zu verstehen. Ihm kann nur entspringen, was ihm entspringen soll. Zu bemerken bleibt an dieser Stelle also, dass die Auflösung der spezifisch menschlichen reinen Dynamik von Transparenz und Opazität zugunsten einer grenzenlosen Gemeinschaft, eines Superorganismus nicht möglich ist. Sie muss immer wieder in Bewegung umgewandelt werden, die in einem Raum stattfindet und kann nicht reine Dynamik bleiben, die aus sich heraus eine spezifische Wirklichkeit, eine kollektive Lebensform bildet. Um noch einmal auf das Beispiel der Ameise zurückzukommen, ist es dem Menschen also nicht möglich, aus einem spezifischen Ort, der „nur“ ist heraus, hier dem Ameisenhaufen, eine Lebensform, hier den Ameisenstaat, zu erschaffen, der das Leben innerhalb dieses Ortes stattfinden lässt. Der Versuch eine ortlose, reine dynamische Form beizubehalten ist, betrachtet man menschliche Lebensformen, zwangsläufig an eine Ausrichtung gebunden, die die kollektiven Handlungen der einzelnen Individuen steuert.

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Während es den Stufen des Organischen entsprechend also einer Ameise nicht möglich ist, sich als Materialität außerhalb eines Ameisenstaates, der gleichzeitig durch sie erst hergestellt wird, wahrzunehmen, ist diese Möglichkeit dem Menschen gegeben. Die Form des Staates ist für ihn künstlich und eben keine grenzenlose Gemeinschaft, die auf ein ontologisierendes Merkmal hin ausgerichtet ist. Der Mensch agiert, bewegt sich innerhalb dieser künstlichen Grenzen den sich bietenden Möglichkeiten gemäß; er geht mit diesen Möglichkeiten eine Verbindung, eine neue Dynamik ein, der neue Möglichkeiten und Haltungen entspringen, durch die die Grenzen erweitert werden können. Sie müssen jedoch stets gesetzt werden. Und zwar innen wie außen. In Bezug auf die Frage danach, auf welcher Ebene sich Unbehagen als Variable des Nicht-Wissens ansiedeln muss, hilft die Einschätzung Plessners über die Grenzen der Gemeinschaft dabei, der Gefahr zu entgehen, eine inszenierte Homöostase durch ein sich selbst organisierendes, vermeintlich freiheitliches System ersetzen zu wollen. Gemeinschaft ist, betrifft sie menschliche Wesen, auf Formierungen, auf Grenzen angewiesen. Kontrolle wäre im Umkehrschluss als herrschende Praxis überflüssig, wenn es ein sich selbst generierendes, ein durch sich selbst funktionierendes System der Herrschaft, bzw. des effektiven kollektiven Miteinanders gäbe. Ein solches System zerbricht jedoch immer wieder am inneren sozialen Grenzverlauf des Sicht- und Unsichtbaren, der für Wesen exzentrischer Positionalität konstitutiv dafür ist, ein Leben führen zu können. Unbehagen soll also nicht als Unbehagen gegenüber einer spezifischen Inszenierung verstanden werden, da dann der Schnellschuss nahe läge, diese eine Inszenierung durch eine andere zu ersetzen, bzw. ersetzen zu müssen, da eine reine Homöostase wie gesehen nicht möglich ist. Unbehagen soll vielmehr dabei behilflich sein, Handlungsspielräume innerhalb einer Inszenierung freizulegen, um die ontologisierten Indikatoren innerhalb eines vermeintlich sich selbst organisierenden Systems als verhandelbar, als künstlich aufzuzeigen.

3 Die Kraft des Unbehagens

Entweder hat die Moral keinen Sinn oder es ist genau dies, was sie sagen möchte, und hat nichts anderes zu sagen: sich dessen würdig erweisen, was uns zustößt. Hingegen das, was zustößt, als ungerecht und unverdient auffassen (immer ist es die Schuld von irgend jemandem), genau das macht unsere Plagen ekelhaft, das ist das Ressentiment in Person, das Ressentiment gegen das Ereignis. […] Mehr kann man nicht sagen, nie wurde mehr gesagt: dessen würdig werden, was uns zustößt, darin also das Ereignis wollen und freilegen, der Sohn seiner eigenen Ereignisse und dadurch neugeboren werden, sich abermals eine Geburt verschaffen, mit der eigenen fleischlichen Geburt brechen. Sohn seiner Ereignisse und nicht seiner Werke werden, denn das Werk selbst wird nur vom Sohn des Ereignisses erstellt (Deleuze 1993a: 186/187).

In Anschluss an dieses Zitat und in Anschluss an die vorangegangene Diskussion darüber, inwieweit entindividuierende Tendenzen notwendigerweise einem hierarchischen System der Normalität ausgeliefert sind, soll untersucht werden, ob Deleuzes Aussage darüber, Sohn des eigenen Ereignisses und gerade darin unwahrnehmbar zu sein, möglicherweise auf Annahmen fußt, die es im Kontext des Gesagten zu problematisieren gilt. Es geht darum, in den Blick zu bekommen, ob die aussichtslose Unabhängigkeit (vgl. Holert/Terkessidis 1996: 14) der Individuen in der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft eine Form der Unsichtbarkeit bezeichnet, die dem, was Deleuze hier anspricht, gleichkommt, bzw. Deleuzes Versuch des Unsichtbar-Werdens konterkariert. Im übertragenen Sinne soll Deleuzes Konzeption daraufhin überprüft werden, ob das von ihm entwickelte Unsichtbar-Werden un-

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ter Umständen genauso aussichtslos ist wie die angesprochene Unabhängigkeit, da es durch die Komplexität und Unentrinnbarkeit der ontologisierten Indikatoren unterlaufen wird. Deleuze geht davon aus, dass sich Realität immer wieder aufs Neue, im Moment als Ereignis herstellt, das einem rhizomatischen Geflecht, wie etwa einem organlosen Körper oder einem Leben entspringt. Sohn des Ereignisses zu sein, meint in diesem Zusammenhang, sich durch eine spezifische Verkettung, die sich im und für den Moment darstellt, zu bewegen, anstatt sich und der eigenen Bewegung über Anfangs- und Endpunkte einen Bezugsrahmen zu geben. Es geht darum, sich der Bewegung zu überlassen und dementsprechend aus ihr heraus neu geboren zu werden, d.h. innerhalb der Bewegung zu einer feineren, einer Mikro-Wahrnehmung (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 339) animiert zu werden: „Es gibt immer eine Wahrnehmung, die feiner als die eure ist, eine Wahrnehmung eures Unwahrnehmbaren, eine Wahrnehmung dessen, was in eurer Schachtel ist“ (Deleuze/Guattari 1992: 390). Diese Schachtel steht im Kontext der Immanenz. Das eine Leben und der organlose Körper als rhizomatische Geflechte beziehen sich auf das Paradox, durch Ziellosigkeit das Ziel zu erreichen, Sohn des eigenen Ereignisses zu sein. Ziellosigkeit äußert sich durch das Nicht-Wissen dessen, was passiert, und führt in diesem Zusammenhang dazu, dass „das Unwahrnehmbare selber […] zwangsläufig wahrnehmbar [wird], während die Wahrnehmung selber zugleich zwangsläufig molekular wird“ (Deleuze/Guattari 1992: 384). In Bezug auf ein rhizomatisches Geflecht stellt Deleuze fest, dass dieses „weder Anfang noch Ende [hat], es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo. Der Baum ist Filiation, aber das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. Der Baum braucht das Verb sein, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion und…und…und… In dieser Konjunktion liegt genug Kraft, um das Verb sein zu erschüttern und zu entwurzeln“ (Deleuze/Guattari 1992: 41). Im Kontext dieser Aussage stellt sich die Frage, ob ein Rhizom mit der dargestellten Form eines Superorganismus vergleichbar ist, der, wie gezeigt wurde, seiner entindividuieren-

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den Wirkung gemäß, zu einer Ununterscheidbarkeit zwischen dem Organismus und seinen Bestandteilen führt? 39 Als Fluss der Bewegung, der wie etwa der Verkehr, der ohne Ampeln nicht aufgehalten werden kann, keinen Anfang und kein Ende hat, kann ein Rhizom keinen spezifischen, keinen sichtbaren Raum bezeichnen. Es kann sich innerhalb eines solchen Raumes nicht bewegen, da ein dem Rhizom entspringendes Unwahrnehmbar-Werden eines Ortes bedarf, der selbst unwahrnehmbar, unsichtbar ist, bzw. durch das Rhizom im Sinne einer vertikalen Sichtbarkeit erst hervorgebracht wird. Sohn eines Ereignisses zu werden beschreibt demnach den Augenblick dieser vertikalen Sichtbarmachung, den Augenblick eigener Aktualisierung, die nach Außen hin, die horizontale Ebene betreffend, nicht wahrnehmbar ist, sondern vielmehr ein Zustechen beschreibt, das einen immanenten Raum des Ereignisses eröffnet: Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-Gedächtnis. Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Variation, Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen. Im Gegensatz zur Graphik, Zeichnung oder Photographie, und im Gegensatz zur Kopie bezieht sich das Rhizom auf eine Karte, die produziert und konstruiert werden muss, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat (Deleuze/Guattari 1992: 36).

Als immanenter Raum des Ereignisses ist das Rhizom grenzenlos variabel und trifft sich mit dem grenzenlosen Möglichkeitsfeld der Indi-

39 Ähnlich des bisher genannten Beispiels der Ameise, die außerhalb ihres Organismus nicht als solche zu erkennen wäre, während der Organismus als solcher nicht ohne die Ameise existieren würde, erkennt Deleuze in Bezug auf durch Tiere gebildete Meuten ein rhizomatisches Geflecht: „Sogar Tiere sind es, wenn sie eine Meute bilden, wie etwa Ratten. Auch der Bau der Tiere ist in all seinen Funktionen rhizomorph: als Wohnung, Vorratslager, Bewegungsraum, Versteck und Ausgangspunkt. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen. Wenn Ratten übereinander hinweghuschen“ (Deleuze/Guattari 1992: 16).

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viduen innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, der zum Ausgangspunkt dafür wird, einen vermeintlich eigenverantwortlichen Prozess des Sichtbar-Werdens in Gang zu setzen. Zustechen als Verfahren der Durchlöcherung, der eine Neuerfindung folgt, muss, um einer Verwechselungsgefahr zu entgehen, von einem Verfahren unterschieden werden, das eine solche Neuerfindung an eine teleologische Ausrichtung bindet. Dynamik, dies wurde im letzten Kapitel gezeigt, kann entweder an einem Ziel ausgerichtet sein, dem Ziel, mehr Wissen aus bestehendem Wissen abzuleiten, oder aber als reine Dynamik ortlos, ziellos sein. In diesem Fall kann von einem emergenten Prozess gesprochen werden, der Neues entstehen lässt. Deleuze nennt eine solche Dynamik ein Intermezzo, das sich für einen Moment außerhalb von Bezugsrahmen darstellt, bis sich neue, möglicherweise eigene Bezugsrahmen entwickeln. Dieses Intermezzo muss sich bilden. Es muss unterscheidbar sein zu Formen der Bewegung, die einem Bedürfnis nach Sicherheit und Transparenz entspringen und sich in der Auseinandersetzung mit Bestehendem finden, von diesem abstammen, auch oder gerade wenn sie von diesem abweichen. Diese Formen von Bewegung sind zielgerichtet, teleologisch. Abweichungen, neue Erkenntnisse, neues Wissen entwickelt sich innerhalb gesetzter Systemgrenzen, zwischen dem Anfang A und einem unsichtbaren Ziel B. Emergente Bewegung hingegen durchlöchert diesen Weg von A nach B; anstatt horizontal verläuft sie vertikal, sie ist ein Einstich, aus dem heraus Nicht-Wissen sprudelt. Wissen muss demnach soweit in Frage gestellt werden, dass das Nicht-Wissen aus ihm selbst hervorbricht, ohne es gleichzeitig zu manifestieren. Im Zuge dieser Infragestellung löst sich zwangsläufig das Subjekt, das durch dieses Wissen konstituiert ist, mit auf, es verschwindet, wird unsichtbar. Um die reine Dynamik eines Rhizoms als Prozess beschreibbar zu machen, der einen Eingriff in die Wirklichkeit vornimmt, in etwas Neuem emergiert, muss ein Rhizom als immanenter und damit grenzenloser Ereignisraum anerkannt werden. Ansonsten ist es entweder Chaos oder Statik, da das, was entsteht, bereits existiert. Deleuze äußert sich hierzu folgendermaßen:

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Welche Bewegung, welcher Schwung reißt uns aus den Schichten heraus? […] Die organischen Schichten schöpfen das Leben […] nicht voll aus: der Organismus ist vielmehr das, was das Leben sich gegenüberstellt, um sich einzugrenzen. Das Leben ist umso intensiver und kraftvoller, je anorganischer es ist. Und es gibt beim Menschen auch noch nicht-menschliche Arten des Werdens, die die anthropomorphen Schichten von allen Seiten überschwemmen. Wie kann man diese Ebene erreichen, wie kann man diese Ebene konstruieren und die Linie ziehen, die uns dort hinführt? Denn außerhalb der Schichten oder ohne sie haben wir weder Formen noch Substanzen, weder Organisation noch Entwicklung, weder Inhalt noch Ausdruck. […] Wie könnten die ungeformte Materie, das anorganische Leben oder die nicht-menschlichen Arten des Werdens etwas anderes als das reine Chaos sein? Auch alle Versuche zur Destratifizierung […] müssen in erster Linie konkreten Regeln einer außerordentlichen Klugheit folgen: jede allzu radikale Destratifizierung läuft Gefahr selbstmörderisch oder krebserregend zu sein (Deleuze/Guattari 1992: 697).

Kann das unsichtbare, das anonyme Leben, das Deleuze hier anspricht, etwas anderes als Chaos oder Selbstmord bezeichnen, ohne Anonymität im Sinne eines pluralen Individuums zu bezeichnen, das Plessners Theorie der Gemeinschaft gemäß jedoch einer spezifischen Ausrichtung unterliegt? Auch in der grenzenlosen Gemeinschaft ist das einzelne Individuum unwahrnehmbar, es ist Gemeinschaft und befindet sich in einem Gebilde der Ununterscheidbarkeit gegenüber dieser Gemeinschaft. Allerdings basiert diese Ununterscheidbarkeit auf der Ausrichtung auf ein bestimmtes Merkmal hin, das sich innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft darin zeigt, dass die aussichtslose Unabhängigkeit der Individuen einen unabschließbaren Prozess des Sichtbar-Werdens im Sinne einer Selbstoptimierung forciert. Zu hinterfragen ist also, wie sich ein rhizomatisches Geflecht herstellt? Kann es existent sein, ohne durch eine tieferliegende Hierarchieebene konstruiert oder inszeniert zu sein? Überträgt man diese Problematiken auf die Thematik des Unbehagens als Variable des Nicht-Wissens, stellt sich heraus, dass sich zwei Achsen zeigen, die es im Kontext eines produktiven Unbehagens zu beachten gilt. Wie sich zeigen wird, entspringen diese beiden Achsen dem Paradox, Unbehagen als und aus einem nicht fixierten Ort heraus konstituieren zu müssen, um der Gefahr zu entgehen, sich verdeckten

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hierarchischen Strukturen zu überlassen, die das Unbehagen „das Nicht-Wissen gegen sich selbst ausspielen“ (Lemke 1997: 218). Fasst man Unbehagen als Ort, der sich durch den Widerspruch erklärt, im Moment des Nicht-Wissens der Bewegung überlassen zu sein und gleichzeitig dazu animiert zu werden, neue, feinere Formen der Wahrnehmung entwickeln zu können, wird deutlich, dass Reflexion hier einer immanenten, nicht einer einordnenden Ebene entspringt. Diese Ebene ist jedoch nicht einfach da, sie muss entwickelt, bzw. erkannt werden, sie muss aus der Wirklichkeit sprudeln. Die Thematik, bzw. das Paradox dieser Ebene des Nicht-Wissens, die hergestellt werden muss und sich durch die Notwendigkeit ihrer Herstellung möglicherweise bereits in spezifischen Kontexten befindet, die durch Wissensstrukturen geprägt sind, wurde anhand der Ausführungen über die Ziellosigkeit als Ziel bereits angesprochen. Die Frage ist also, wie Nicht-Wissen hergestellt werden kann, ohne dass diese Herstellung damit gleichzusetzen ist, ein Ziel zu verfolgen?

3.1 N ICHT -W ISSEN IN DER P ASSAGE VON DER D ISZIPLINAR - ZUR K ONTROLLGESELLSCHAFT Die Frage ist, ob durch Nicht-Wissen etwas entsteht, das nicht weiter zu konkretisieren ist, ob aus Nicht-Wissen Wissen im Sinne von etwas unmittelbar Wahrnehmbarem entspringen kann? Oder, ob Nicht-Wissen ohne von spezifischen Wissensformen abgeleitet zu sein nicht hergestellt werden kann, bzw. sich nicht einstellen kann, ohne dann selbst zum Garanten dafür zu werden, diese Wissensformen zu manifestieren? Anhand eines Vergleichs mit Foucaults widerständischen Subjektivierungsweisen wird deutlich, inwieweit Deleuzes Konzeptionen in diesem Zusammenhang darauf angelegt sind, das Mögliche zu erschöpfen, anstatt es zu verändern. Deleuze äußert sich bezüglich der Unterschiede beider Entwürfe wie folgt: „für ihn [für Foucault] war ein soziales Feld von Strategien durchzogen, für uns flieht es von allen Punkten aus“ (Deleuze 1993: 222). Deleuzes und Guattaris Modell der immanenten Seinauffassung erschafft im Gegensatz zu Foucault die Möglichkeit, Werden auf einer

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die Ebene der Strategien selbst erst konstituierenden Ebene zu denken. Während Foucault davon ausgeht, dass sich Subjektivität entwickelt, indem Mannigfaltigkeiten durch Kodes in einem über die Vermittlung von Sicht- und Sagbarem als messbar konstituierten Bereich in den Blick genommen und anhand von Koordinatensystemen, die diesen Kodes entsprechen, unterschieden und zugeordnet werden können, erstellen Deleuze/Guattari ein vorausgelegtes Koordinatensystem mit inhärenten Fluchtlinien. Das Mannigfaltige muss gemacht werden, aber nicht dadurch, dass man immer wieder eine höhere Dimension hinzufügt, sondern schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt, immer n-1 (das Eine ist nur dann Teil des Mannigfaltigen, wenn es davon abgezogen wird). Wenn eine Mannigfaltigkeit gebildet werden soll, muss man das Einzelne abziehen, immer in n-1 Dimension schreiben. Man könnte ein solches System Rhizom nennen. Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln (Deleuze/Guattari 1992: 16).

Anstatt den Moment der Überführung oder Überlagerung verschiedener Koordinatensysteme und den diesen Operationen entspringenden Überschüssen gemäß Widerstand zu denken, organisieren Deleuze und Guattari Überschuss aus einem immanenten Moment heraus. Während bei Foucault nicht deutlich wird, ob das überschüssige Moment, das der strategisch ausgerichteten Überführung von einem in ein anderes Koordinatensystem entspringt erst die Möglichkeit eines Bezugs zu sich herstellt, oder aber, ob dieser Bezug dafür sorgt, dass es dieses Moment gibt, überführen Deleuze/Guattari dieses Wechselspiel auf eine andere Ebene, indem sie ein vorausgesetztes System vorschlagen, das die Dynamik vielfältiger Verkettungen in sich selbst trägt. Dieses vorgelagerte System ist nicht als die Summe aller möglichen Koordinatensysteme zu verstehen, sondern beschreibt vielmehr das, was Deleuze als Immanenzebene bezeichnet: Die Immanenzebene ist kein gedachter oder denkbarer Begriff, sondern das Bild des Denkens, das Bild, das das Denken sich davon gibt, was denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren…bedeutet. […] Das

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Bild des Denkens hält nur fest, was das Denken rechtmäßig beanspruchen kann. Das Denken beansprucht nur die Bewegung, die bis ins Unendliche getrieben werden kann. Was das Denken in rechtlicher Beziehung beansprucht und auswählt, ist die unendliche Bewegung oder die Bewegung des Unendlichen. Sie ist es, die das Bild des Denkens konstituiert. Die Bewegung des Unendlichen verweist nicht auf raumzeitliche Koordinaten, die die sukzessiven Positionen eines bewegten Körpers und feststehenden Bezugspunkte definieren würden, bezüglich deren jene variieren. Sich im Denken orientieren impliziert weder einen objektiven Bezugspunkt noch einen bewegten Körper, der sich als Subjekt erfahren würde und als solches das Unendliche wollte oder benötigte. Die Bewegung hat alles erfasst, und es gibt keinen Platz für ein Subjekt und ein Objekt, die nur Begriffe sein können. Der Horizont selbst ist in Bewegung: Der relative Horizont entfernt sich, wenn sich das Subjekt voranbewegt, der absolute Horizont aber- wir haben ihn stets und immer schon auf der Immanenzebene erreicht (Deleuze/Guattari 2000: 44/45).

Deleuze stellt den absoluten Horizont, den er als Immanenzebene bezeichnet, einem relativen Horizont entgegen, indem er diesen als Referenzsystem darstellt. Raumzeitliche Koordinaten legen Wirklichkeit anhand von Einordnungen fest. Sie schaffen Zustände, innerhalb derer sich Sichtbarkeit im Sinne von Subjektivität darstellen lässt, bzw. erfahrbar wird. In disziplinargesellschaftlichen Realitäten bilden sich diese Zustände, wenn Nicht-Wissen in Wissen übersetzt wird, indem etwas gemessen wird. Der absolute Horizont wird demnach anhand einer Grenzziehung, die an spezifischen Koordinaten ausgerichtet ist, unterteilt. Diese Form der Grenzziehung wandelt sich in der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. Inwieweit diese Wandlung mit dem Bereich des Nicht-Wissens in Beziehung steht, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Am Beispiel der Unschärferelation der Quantenphysik wurde im Kontext Plessners bereits darauf hingewiesen, dass Elementarteilchen immer überall, an mehreren Orten gleichzeitig sein können. Wird der Ort eines Teilchens bestimmt, so ist es im gleichen Moment jedoch nicht möglich, seine Geschwindigkeit zu messen. Der Überlagerungszustand zwischen den Zuständen Geschwindigkeit und Ort, der für das Teilchen angenommen wird, bevor dieses gemessen wird, verschwin-

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det somit im Moment der Messung. Entweder man misst die Geschwindigkeit in einem Moment, oder den Ort. Der österreichische Physiker Schrödinger überträgt diesen Gedanken in ein Gedankenexperiment, das unter dem Namen Schrödingers Katze große Berühmtheit gewonnen hat. Innerhalb dieses Gedankenexperiments wird eine Katze zusammen mit einer Apparatur, die, gesteuert durch radioaktiven Zerfall, die Katze innerhalb von einer Stunde mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% tötet, in eine undurchsichtige Kiste gesteckt. Die Frage ist, in welchem Zustand sich die Katze nach einer gewissen Zeit befindet, wenn man nicht in die Kiste hineinschaut und steht somit analog zu der Frage nach dem quantenmechanischen Zustand eines Systems, solange man keine Messung an ihm vornimmt. Als Antwort auf diese Frage wird gegeben, dass die Katze sowohl gleichzeitig lebendig als auch tot ist. Erst wenn man die Kiste öffnet, manifestiert sich der Zustand in einer 100% lebendigen oder 100% toten Katze. Dieses Experiment geht davon aus, dass, egal wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass die Katze nach einer gewissen Zeit tot ist, ihr Zustand nur gewiss wird, wenn die Schachtel geöffnet wird und ihr Zustand konkret, nach einer Entweder-Oder-Vorgabe gemessen werden kann. Entweder sie ist tot, oder sie lebt. Nicht-Wissen wird hier in Wissen übersetzt, indem es anhand von zwei Möglichkeiten in Wirklichkeit umgewandelt wird. Die angenommenen Überlagerungszustände werden in die beiden Möglichkeiten tot oder lebendig aufgeteilt. Eine dieser Möglichkeiten stellt sich danach als Wirklichkeit heraus. Diesen Vorgang kann man auf das Verfahren der Disziplinierung übertragen. Auch hier wird eine Messung durchgeführt, die nach dem Entweder-Oder-Prinzip Einteilungen vornimmt. In der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ändert sich diese Vorgehensweise, indem der wirklichkeitsbildende Moment der Messung, der Moment der Umwandlung von Nicht-Wissen in Wissen umgangen wird. Wirklichkeit wird nun vielmehr dadurch konstruiert, dass eine Wahrscheinlichkeit ermittelt wird, dass die Katze in der Schachtel nach einer bestimmten Zeit tot ist. Eine Messung kann diese Wirklichkeit nur bestätigen oder aber eine Abweichung, einen Zufall darstellen. Die Abweichung oder der Zufall stehen somit trotzdem im Kontext des Wirklichen, anstatt als das Andere der Wirklich-

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keit, als das nicht Eingetretene zu fungieren. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dass die Katze tot ist nach einer bestimmten Zeit größer, doch ist es trotzdem möglich, dass sie lebt. Anstatt eine Grenze zu ziehen, anstatt zu messen und anhand dieser Messung bestimmen zu können, was ist, wird hier eine Entgrenzung vorgenommen, indem eine Bestimmung im Sinne einer Wirklichkeit durch die dieser Bestimmung folgenden, nicht zu erschöpfenden Möglichkeiten quasi im Umkehrschluss manifestiert wird.40

40 Der hier angesprochene Umgang mit Nicht-Wissen soll anhand von zwei Beispielen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung präzisiert werden. Im Kontext des sog. Ziegenproblems geht es darum, folgende Aufgabe zu lösen: Bei einer Fernsehshow sind hinter drei verschlossenen Türen zwei Ziegen und ein Auto versteckt. Beispielsweise in folgender Aufteilung: Tür A: Ziege, Tür B: Ziege, Tür C: Auto. Der Moderator bittet den Kandidaten, sich für eine Tür zu entscheiden. Der Kandidat wählt Tür A. Da der Moderator weiß, was sich hinter welcher Tür befindet, öffnet er Tür B. Der Kandidat weiß jetzt, dass hinter Tür B eine Ziege ist. Der Moderator gibt ihm nun die Möglichkeit, seine Entscheidung (Tür A) zu revidieren und sich für Tür C zu entscheiden. Ändert der Tausch von Tür A zu Tür C die Wahrscheinlichkeit dafür, das Auto zu gewinnen? Obwohl es sich hier auf den ersten Blick um eine Wahrscheinlichkeit von 50% handelt, liegt die Gewinnchance bei einem Tausch bei 2/3. Dies ist folgendermaßen zu erklären: Es gibt drei Möglichkeiten der Anordnung. ZZA, ZAZ, AZZ. (Z=Ziege, A=Auto) Wählt der Kandidat Tür A, bleibt dem Moderator nur Tür B zum Öffnen. Ein Tausch würde den Gewinn bedeuten. Wählt der Kandidat Tür B, bleibt dem Moderator Tür A zum Öffnen. Ein Tausch würde den Gewinn bedeuten. Wählt der Kandidat jedoch Tür C, würde der Tausch eine Ziege bedeuten. Dies ist mit allen drei Anordnungen gleichermaßen durchzuführen. Das zweite Beispiel lautet folgendermaßen: Familie Bayes hat zwei Kinder. Frau Bayes sagt zu Frau Fisher. „Meine Tochter Bouilla hat gestern ihre erste Statistikvorlesung besucht! Und das mit vier Jahren!“ Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Bouilla eine Schwester hat? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Bouilla einen Bruder hat? Obwohl hier, wie im Beispiel zuvor auf den ersten Blick eine 50% Chance besteht, dass Bouilla eine Schwester hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit hierfür nur 1/3.

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Ewald stellt diese Veränderung in Bezug auf Techniken der Normalisierung folgendermaßen dar: In Überwachen und Strafen hat Michel Foucault gezeigt, wie die Disziplinen normalisieren […]. Man könnte sagen, dass die über die Disziplin erfolgende Normalisierung nach wie vor eine Normalisierung klassischen Typs ist: Die Individuen werden nicht unter Bezugnahme auf einen Mittelwert, sondern gemäß einer Norm, einer Regel oder einem ihnen äußerlich bleibenden Maßstab identifiziert und bewertet, und zwar vom Besten bis hin zum Schlechtesten, vom Vollkommenden bis zum Abscheulichen. Die mit dem Begriff des Durchschnittsmenschen verbundene Normalisierung ist von ganz anderer Art; sie bedient sich eines völlig verschiedenen Standards. Es wird nun nicht mehr von den Individuen ausgegangen, an die die Elle ihrer jeweiligen Fähigkeiten angelegt wird, sondern von der Menge, der Kollektivität selbst, und die Klassifizierung geschieht unter der Bezugnahme auf deren Normalität: nicht mehr in einer hierarchischen Abstufung von 0-10, sondern anhand der Abweichung von einem Mittelwert, der nicht das zu erreichende Minimum, sondern den gruppenspezifischen Typus bezeichnet (Ewald 1993: 192/193).

In Bezug auf die unterschiedlichen Formen dessen, was Ewald unter Normalisierung fasst, ist zu bemerken, dass sie einer je typischen Logik darüber folgen, Wirklichkeit und Möglichkeit zueinander in Ver-

Folgende Anordnungen ergeben sich: TT, TS, ST, SS (T=Tochter, S=Sohn). Da die Aufgabe jedoch bereits die Information enthält, dass Familie Bayes eine Tochter hat, fällt die letzte Möglichkeit weg. Es bleiben: TT, TS, ST. Da die erwähnte Tochter in jeder Konstellation dabei sein muss, bleibt nur eine Möglichkeit, dass Bouilla eine Schwester hat. Letztlich ist ausschlaggebend, dass die Aufgabe die Information bereitstellt, dass Familie Bayes zwei Kinder hat. Ohne diese Information gäbe es eine 50% Chance dafür, dass Bouilla einen Bruder hat und eine 50% Chance dafür, dass sie eine Schwester hat (SS, SB). Ähnlich verhält es sich bei der Ziegenproblematik. Ohne die Festlegung eines Ablaufs, der besagt, dass zunächst von drei Türen ausgegangen wird, von denen eine geöffnet wird und somit wegfällt, wäre die Situation, die sich herstellt, sobald die dritte Tür keine Rolle mehr spielt eine 50%-50% Situation.

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hältnis zu setzen. Einmal, im Falle der Disziplinierung, erfolgt die „Verwirklichung des Möglichen durch Ausschließung“ (Deleuze 1996a: 52). Das andere Mal wird Wirklichkeit durch Wahrscheinlichkeit bereits ermittelt, bevor konkrete Ereignisse betrachtet, bzw. gemessen werden. Die dieser Ermittlung entspringenden Möglichkeiten bestätigen diese Wahrscheinlichkeit entweder, oder gelten als unwahrscheinliche, aber dennoch mögliche Formen des als wirklich Ermittelten. Deleuze versucht, die Zusammenhänge zwischen Möglichem und Wirklichem, egal welcher Art sie sind, aufzulösen. Um auf das Beispiel Schrödingers Katze zurückzukommen, geht es ihm nicht darum, aus zwei Möglichkeiten (tot/lebendig) eine Wirklichkeit zu ermitteln, sondern darum, „das Wirkliche zu beseitigen“ (Deleuze 1996a: 53). „Es ist Nacht, es ist nicht Nacht; es regnet, es regnet nicht“ (Deleuze 1996a: 53), die Katze lebt, die Katze lebt nicht. „Die Disjunktion ist nunmehr einschließend, alles teilt sich, aber in sich selbst“ (Deleuze 1996a: 54). Deleuze versucht, die Möglichkeiten zu erschöpfen. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Ermüdung und Erschöpfung: Erschöpft sein heißt sehr viel mehr als ermüdet sein. […] Der Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeit mehr, er kann also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen. Die Möglichkeit bleibt jedoch bestehen, denn man verwirklicht nie alle Möglichkeiten, man schafft sogar in dem Maße, wie man sie verwirklicht, neue. Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft. Der Ermüdete kann nichts mehr verwirklichen, der Erschöpfte hingegen kann keine Möglichkeit mehr schaffen (Deleuze 1996a: 51).

Eine Erschöpfung der Möglichkeiten im Falle einer disziplinären Form der Disjunktion, die einem ausschließenden Entweder-OderPrinzip folgt, bestimmt sich daran, eine Verwirklichung außer Kraft zu setzen, bzw., diese zu verhindern, indem alle Möglichkeiten auf sich selbst bezogen eingeschränkt werden. Ich bin verrückt, ich bin nicht verrückt; ich bin eine Frau, ich bin keine Frau; ich bin gesund, ich bin nicht gesund etc. Die binären Kodes disziplinargesellschaftlicher Facon erschöpfen sich, indem sich alles, was möglich ist, er-

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schöpft. Anstatt eine Möglichkeit zu verwirklichen und damit eine andere auszuschließen, entsteht ein Ereignis, das möglich bleibt, ohne Wirklichkeit zu erlangen: „Es genügt vollkommen, von einem Ereignis zu sagen, dass es möglich ist, denn es tritt nicht ein, ohne sich mit etwas anderem zu vermischen und das Wirkliche, um das es ihm geht zu beseitigen. Existenz ist nur etwas Mögliches“ (Deleuze 1996a: 53). Deleuzes Vorstellung der Erschöpfung befindet sich in einem Zustand vor der Messung, vor der Verwirklichung. Es geht ihm darum, diesen Zustand auszuhalten und aus diesem Aushalten heraus Ereignisse hervortreten zu lassen, die eben keine Verwirklichung meinen, sondern sich zu einer Mannigfaltigkeit zusammenschließen. n-1 (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 16). Anstatt durch Verwirklichung immer neue Möglichkeiten zu schaffen, geht es darum, von allen Möglichkeiten vor der Verwirklichung ein Ereignis abzuziehen, das sich mit anderen Ereignissen rhizomatisch verknüpft. Innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft wandelt sich das Prinzip des Entweder-Oder in ein Wenn-DannPrinzip. Ausgehend von einer Wahrscheinlichkeit, die sich an einem ermittelten Durchschnitt bemisst, existieren Möglichkeiten entweder als wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Möglichkeiten. Verwirklichung in einem Sinne, wie sie anhand des Entweder-Oder-Prinzips dargestellt wurde, kann nicht stattfinden, da die Möglichkeiten bereits Teil einer spezifischen Wirklichkeit sind, die sie entweder direkt oder indirekt bestätigen, indem sie als Konsequenzen oder Abweichungen des bereits Ermittelten auftauchen. Es gibt keine Chance zu einer eindeutigen Verwirklichung, weil keine Möglichkeit ausgeschlossen werden kann. Die Unterschiede, die den verschiedenen Prinzipien entspringen, lassen sich auf den jeweiligen Umgang damit, was als Nicht-Wissen bezeichnet wird, konkretisieren. Während das Entweder-Oder-Prinzip Nicht-Wissen in Wirklichkeit umwandelt, indem durch Messung eine der durch binäre Kodes ermittelten Möglichkeiten Realität gewinnt, basiert das Wenn-Dann-Prinzip darauf, Nicht-Wissen zu umgehen, indem dieses in Wahrscheinlichkeit übersetzt wird und somit selbst bereits Realität gewinnt. Ewald fasst die Unterschiede folgendermaßen zusammen:

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Wir sind nicht in der Lage des Lottospielers, der die Anzahl und Farben der Kugeln kennt und daher die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens a priori berechnen kann, sondern in der umgekehrten Situation. Wir kennen zwar die Resultate der endlos wiederholten, aber notwendig lückenhaften Ziehungen, aber sonst nichts. Wie könnten wir, falls wir etwas entdecken sollten, dies feststellen? Das Paradoxon des Kreters ist bekannt: Weil er die Wahrheit sagt, lügt er. Das vorliegende Paradoxon ist komplexer: Auch wenn man stets die Wahrheit sagt, gibt es kein Mittel dies zu erfahren (Ewald 1993: 182).

Die hier angesprochenen Resultate der endlos wiederholten aber lückenhaften Ziehungen sind die Wahrscheinlichkeit, die Wirklichkeit als ermittelter Durchschnitt. In Bezug auf Schrödingers Katze in der Schachtel ist die Schachtel der Ereignisraum, der bestimmte Ereignisse, bestimme Möglichkeiten zulässt. Egal, ob die Schachtel auf oder zu ist, bestimmen sich anhand dieses Raums zwei Möglichkeiten, die jedoch nicht in Wirklichkeit übersetzt werden müssen, sondern bereits Wirklichkeit sind. Ohne die Schachtel zu öffnen, sind die Resultate des Experiments bereits getroffen. Die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass die Katze nach einer bestimmten Zeit tot ist. Diese Wahrscheinlichkeit ändert sich auch nicht, wenn die Katze der Wahrscheinlichkeit zum Trotz lebt. Wird davon ausgegangen, dass das, was in der Schachtel passiert, Nicht-Wissen ist, das im ersten Fall anhand einer Messung in Wirklichkeit gewandelt wird, so wird dieses Nicht-Wissen hier umgangen, indem es zur Grundlage einer Analyse gemacht wird. Diese Analyse misst nicht, indem das Gemessene gleichzeitig Wirklichkeit erlangt, sondern schafft, bzw. geht von einem spezifischen Ereignisraum aus, der bereits Wirklichkeit ist, obwohl die konkreten Ereignisse, die diesem Raum entspringen, nicht vorhergesagt werden können. Sie bleiben Möglichkeiten. Allerdings sind diese Möglichkeiten immer Teil des Ereignisraumes, immer Teil der Ergebnismenge, die dieser Raum bereithält und können in ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmt werden: Das Paradoxon des Wahrscheinlichkeitskalküls […] rührt daher, dass dieses grundsätzliche Nichtwissen nicht letztlich doch durch ein Wissen von der Art einer Entdeckung ausgefüllt wird, dass wir das Terrain des Beobachters nie

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verlassen werden. Die Kunst des Kalküls besteht daher darin, dieses Nichtwissen gegen sich selbst auszuspielen, es zu umgehen, indem wir es sozusagen gegen es selbst verwenden (Ewald 1993: 182).

In Bezug auf Deleuzes Vorschlag, das Mögliche zu erschöpfen, zeigt sich in diesem Zusammenhang die Problematik, dass das Mögliche hier mit einem Ereignis gleichzusetzen ist, das einer spezifischen Wirklichkeit, einem Ereignisraum entspringt. Je mehr Ereignisse in einem Raum stattfinden, desto mehr Möglichkeiten gibt es. Im Gegensatz dazu geht Deleuze davon aus, dass ein Ereignis erst mit dem Erschöpfen des Möglichen entsteht. Während durch die Verwirklichung einer Möglichkeit in disziplinargesellschaftlichen Zuständen eine Grenze gesetzt wird, da gleichzeitig andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden, ist im Fall des Nicht-Wissens, das umgangen wird, eine grenzenlose, entgrenzte Dynamik zu erkennen, die sich darauf stützt, Möglichkeiten bereits als Resultate zuvor ermittelter Wahrscheinlichkeiten aufzufassen und sie somit der Notwendigkeit eines Ausschlusses zu entziehen, bzw. einen Ausschluss unmöglich werden zu lassen. Es gibt keine Chance zu einer eindeutigen Verwirklichung, da keine Möglichkeit ausgeschlossen werden kann. Im Umkehrschluss existieren demnach unendlich viele Möglichkeiten gleichzeitig. Das von Deleuze geforderte Erschöpfen des Möglichen, indem von allen Möglichkeiten n etwas abgezogen wird, n-1, und es sodann möglich wird, dass ein Ereignis sich verwirklicht, anstatt verwirklicht zu werden (vgl. Deleuze 1996a: 77), basiert darauf, das EntwederOder-Prinzip außer Kraft zu setzen. Es geht ihm darum, das Mögliche soweit zu intensivieren, dass „die Gesamtheit alles Möglichen nicht mehr zu unterscheiden ist vom Nichts, von dem jedes Ding eine Modifikation ist“ (Deleuze 1996a: 54). Nicht die Verwirklichung einer Möglichkeit steht also im Vordergrund, sondern „ein Ende mit dem Möglichen zu machen, […] um abermals zu enden“ (Deleuze 1996: 51). Es geht darum, eine „Zwischen-Zeit […], dort, wo nichts geschieht, eine unendliches Warten“ zu erreichen, das nicht auf das folgt, was geschieht, „sondern […] mit dem Augenblick oder der Zeit des Zufalls [koexistiert]“ (Deleuze/Guattari 2000: 184). Zwei Möglichkeiten existieren gleichzeitig, überlagern sich: „etwas passiert oder

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passiert nicht. Es gibt nichts zu erklären, nichts zu verstehen, nichts zu interpretieren“ (Deleuze 1993: 18). „Es ist wie ein Stromanschluss“ (Deleuze 1993: 18), der das Nicht-Wissen aus der Wirklichkeit sprudeln lässt. Wenn die Gesamtheit alles Möglichen bereits Wirklichkeit ist, und vom Nichts dahingehend unterschieden werden kann, als sie sich als eine wahrscheinliche Verteilung präsentiert, die innerhalb eines spezifischen Ereignisraumes stattfindet, so gerät Deleuzes Ansatz möglicherweise in einen Engpass, weil ein Ereignis, das sich aus dieser Gesamtheit speist, nicht das Ende des Möglichen meint, sondern vielmehr dazu dient, weitere Informationen dafür zu liefern, Nicht-Wissen immer lückenloser umgehen zu können. n als bisher ermittelte Gesamtheit aller Möglichkeiten wäre demnach mit einer als grenzenlos konstruierten Wirklichkeit gleichzusetzen, während -1 zu +1 wird, ein Ereignis innerhalb dieses grenzenlosen Systems, das weitere Möglichkeiten aufzeigt. Inwieweit diese Anordnung sich auf die Thematik des UnsichtbarWerdens niederschlägt, und dafür sorgt, dass dieses sich unter Umständen nicht außerhalb von Normalisierungsprozessen aufhalten kann und damit nicht von einem Sichtbar-Werden zu unterscheiden ist, soll im nun folgenden Abschnitt anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. 3.1.1 Barbie werden Ein grenzenloses System, ein Ereignisraum, der sich herstellt, indem Nicht-Wissen umgangen und zur Grundlage einer Analyse gemacht wird, deren konkrete Ergebnisse gleichzeitig immer bereits Teilmengen einer Ergebnismenge und damit Teil des Ereignisraumes sind, führt dazu, dass Verwirklichung nicht durch ein zielgerichtetes, ein gemessenes Ausschließen von Möglichkeiten zustande kommt, sondern jede Möglichkeit bereits Wirklichkeit ist. Das Mögliche wird mit dem Wirklichen also in eine dynamische Überlagerung versetzt, anstatt das Wirkliche durch Ausschluss von Möglichkeiten herzustellen. Der Ereignisraum ist in diesem Zusammenhang ein Möglichkeitsraum. Die konkreten Ereignisse, die diesem Raum entspringen, sind jedoch nicht verwirklichte Möglichkeiten, sondern Teilmengen der

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durch den Raum festgelegten Ergebnismengen. Anstatt den Zufall, das Nicht-Wissen auszuschalten, indem er, bzw. es gemessen und damit eingeordnet wird, wird ihm nun freier Lauf gewährt. Ein Lauf, der einem Wahrscheinlichkeitswert entspricht, der durch die Spezifik des Ereignisraums festgelegt wird. Der Wahrscheinlichkeitswert kann voraussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit etwas passieren wird. Was tatsächlich passiert, kann jedoch nicht ermittelt werden. Ein konkretes Ereignis kann demnach nur wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sein. Der Zufall, das Nicht-Wissen ist demnach eine Möglichkeit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Allerdings werden als wahrscheinlich angesehene Ereignisse nicht als Zufall behandelt, sondern entsprechen, bzw. sind Normalität. Dagegen lassen sich unwahrscheinliche Ereignisse als zufällig beschreiben. Bei ausreichend häufiger Wiederholung oder Betrachtung stattfindender Ereignisse, ob wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher Art, stellt sich eine Verteilung her, die dann wieder wahrscheinlich ist. Das Prinzip der Wahrscheinlichkeit ist insofern dynamisch, als sich das Anormale, das Unwahrscheinliche oder Zufällige, je mehr Ereignisse betrachtet werden, in eine Normalverteilung eingliedert, bzw. diese herstellt. Der Zufall wird also auf einer anderen Ebene betrachtet. Er schafft und zeigt Möglichkeiten auf, anstatt für sich genommen wahrnehmbar zu werden, indem er mit dem von Deleuze angesprochenen unendlichen Warten, der Erschöpfung des Möglichen koexistiert. In Bezug auf den Vorgang der Subjektivierung zeigt sich der Wandel hin zu einer sich immer wieder aktualisierenden Normalverteilung, wie bereits anhand der unterschiedlichen Subjektivierungsmodi bezüglich disziplinar- und kontrollgesellschaftlicher Zustände gezeigt wurde, daran, dass Subjektivierung nun zu einem Prozess der Selbstregulierung innerhalb eines spezifischen, hier innerhalb eines vermeintlich grenzenlosen Handlungsraumes gerät. Die Individuen stellen die Normalverteilung innerhalb eines Ereignisraums selbst her, anstatt dass die Norm durch die Teilung dieses Raumes erzwungen wird. Um eine optimale Verteilung zu erlangen, muss es eine maximal hohe Ereignisdichte geben. Denn je mehr Ereignisse es innerhalb eines Ereignisraums gibt, desto mehr Möglichkeiten werden sichtbar. Durch das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit soll sichergestellt werden,

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dass diese möglichst hohe Ereignisdichte erreicht wird, um das Potential des Raumes nach und nach maximieren zu können. Die Fülle der Möglichkeiten, die ein Raum bereithält, richtet sich also an den empirischen Gegebenheiten, den Ereignissen aus, anstatt durch diese ausgeschöpft zu werden. Anstatt die Möglichkeiten eines Raumes zu erschöpfen, hilft das Ereignis dabei, das Potential eines Raumes erst aufzuzeigen. Das Ereignis bleibt somit Teil dieses Potentials, es hilft dabei, es in seiner ganzen Fülle darzustellen, anstatt eine spezifische Begebenheit aus diesem zu extrahieren. Was bleibt, ist das Ausfüllen der durch den Raum bereits vorgegebenen Menge möglicher Ergebnisse. Das Prinzip der Selbstregulation, der Eigenverantwortlichkeit entspringt demnach der Notwendigkeit einer möglichst hohen Ereignisdichte und führt dazu, das Potential eines Raumes anhand einer Normalverteilung aufzuzeigen und stetig weiter zu maximieren. Deleuzes Vorschlag, die Möglichkeiten zu erschöpfen und auf diese Art und Weise Ereignisse hervortreten zu lassen, ist unter diesen Vorzeichen mit der Problematik konfrontiert, dass Ereignisse nun im Gegenteil dazu beitragen, das Potential eines Ereignisraumes, der Ergebnisse über diese Ereignisse bereithält, ohne diese zu kennen, auszuschöpfen und damit immer neue Möglichkeiten bereitzustellen, anstatt die Möglichkeiten an sich auszuschöpfen. Werden, so wie Deleuze es beschreibt, ist in einer solchen Konstellation möglicherweise daran gebunden, Sichtbarkeit zu produzieren, anstatt Unsichtbarkeit zu fördern. Die Frage ist, ob ein Werdensprozess im Deleuzschen Sinne von einem Werdensprozess zu unterscheiden ist, der sich an einem Normalisierungsprozess orientiert. Das nun folgende Beispiel soll diese Problematik verdeutlichen. Angela Vollrath wurde 1999 im ZDF Fernsehgarten zur „Miss Barbie Deutschland“ gewählt. Ihr Werdensprozess ist dadurch gekennzeichnet, durch zahlreiche Operationen das Aussehen einer Barbiepuppe anzunehmen. Versteht man Deleuzes Versuch des Unsichtbar-Werdens, des Erschöpfens der Möglichkeiten als Aufgabe, bzw. Verzicht einer Orientierung an Normalisierungsprozessen, so ist in Bezug auf disziplinargesellschaftliche Realitäten festzuhalten, dass sich ein solcher Versuch daran zu erkennen gibt, dass der klar definierte und begrenzte Raum, innerhalb dessen Subjektivität hergestellt

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wird, verlassen wird, indem man jemand anderes, indem man „neu geboren wird“ (vgl. Deleuze 1993a: 187). Auch Angela Vollrath will zu jemand anderem werden, sie will zu Barbie werden. Zu untersuchen ist, ob dieses Barbie-Werden ein Unsichtbar-Werden ist, oder, ob es im Gegenteil als Sichtbar-Werden anzusehen ist, und sich somit an einem Normalisierungsprozess orientiert. Angela Vollrath beschreibt in einem Interview der Zeitschrift RaumK die Prozesse, die sie in ihrem Werdensprozess durchläuft, wie folgt: Es ging mir bei meiner Umwandlung weniger darum, wie Barbie auszusehen. Ich wollte vornehmlich, dass ich mich selbst wohlfühle. Aber mein Schönheitsideal entspricht offenbar dem von Barbie. Was ich gemacht habe? Haarverlängerung, Great Lenghts und Haare blond gefärbt, Nase, Busen und Lippen korrigiert. Da einiges derzeit aber noch nicht perfekt ist, werde ich im Laufe des nächsten Jahres acht weitere kleine OPs bei Dr. Akos Hargitter in Wiesbaden machen, dem ich voll vertraue. Kleines Facelifting, Korrekturen der Lippe und der Nase sowie die Erneuerung der Brustimplatate (RaumK 2007).

Das Ziel, sich selbst wohlzufühlen, wird hier an eine Umwandlung gebunden. Barbie wird jedoch nicht als Original betrachtet, dessen Kopie mit dieser Umwandlung angesteuert wird, sondern zunächst als „jemand“ mit dem gleichen Schönheitsideal. Der nächste Abschnitt verdeutlicht, inwieweit die Ebene eines vermeintlich authentischen Selbst mit der künstlichen Ebene eines Barbie-Seins gekoppelt wird. Diese Kopplung stellt jedoch keine Verdichtung in dem Sinne dar, als beide Ebenen durch die Kopplung aufgehoben werden, und ihnen ein drittes entspringt. Vielmehr ist zu erkennen, dass die Ebene des vermeintlich authentischen Selbst durch diese Kopplung in einen Prozess der Perfektionierung eingelassen wird: Barbie ist Teil von mir geworden. Es ist mir eine Ehre, mit Barbie verglichen zu werden, weil sie für mich das Bild einer perfekten Frau darstellt. Aber ich bin nicht Barbie, sondern ein ganz normaler Mensch mit Gefühlen. Von daher

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ist es schwierig, wenn manche Medien einen in die Schublade „blödes Dummchen“ stecken und man dort nicht rauskommt. So blöd bin ich auch nicht, auch wenn ich im Gegensatz zu meiner Schwester nicht nach dem Gymnasium studiert habe. Und ich bin zu jedem freundlich und keineswegs eingebildet. Da ein Mensch aber nie perfekt sein kann, ist es stressig, so zu sein wie Barbie, das Idealbild einer Frau für viele Männer. Barbie hat lange Haare, ist blond, große Augen, kleine Nase, Schmollmund, schlanke Figur und trotzdem Rundungen. Es ist trotz regelmäßigem Fitnesstraining schwer, als Angela Vollrath genauso zu sein. Ich identifiziere mich also mit Barbie, ohne, dass es als Mensch möglich wäre, Ideal zu sein wie eine Puppe (RaumK 2007).

Der Prozess des Barbie-Werdens wird als sich aus einer zufälligen Ähnlichkeit heraus ergebend betrachtet. Diese Zufälligkeit wurde bereits anhand der Aussage darüber, dass Angela Vollrath und Barbie ein ähnliches Schönheitsideal haben, angedeutet. Es geht hier auf den ersten Blick nicht darum, sich in etwas Bestimmtes zu verwandeln, sondern darum, das, was bereits in einem steckt, zu verwirklichen. Allerdings erfolgt bei Angela Vollrath das Erkennen dessen, was in ihr steckt, über den Vergleich mit Barbie, mit der eine zufällige Ähnlichkeit zu bestehen scheint: Als Kunstprodukt sehe ich mich nicht. Denn soviel habe ich mich nicht verändern lassen. Natürlich passe ich die Kleidung Barbie an, aber ich habe durch die OPs mein Aussehen nicht großartig verändern lassen, um wie eine Puppe zu wirken, sondern, um mich schöner und wohler zu fühlen. Die Ähnlichkeit mit Barbie hat man mir übrigens schon nachgesagt, bevor ich mich jemals habe operieren lassen. Von daher ist die Barbie Rolle keine, die ich mir selbst ausgesucht habe (RaumK 2007).

Insbesondere der letzte Ausspruch darüber, dass die Rolle der Barbie keine selbstgewählte Rolle darstellt, sondern vielmehr aus einer zufälligen Ähnlichkeit herrührt, lässt darauf schließen, dass es hier nicht darauf ankommt, welche Rolle, welche Form der Sichtbarkeit eingenommen wird, sondern darauf, überhaupt etwas zu sein, überhaupt Sichtbarkeit zu erlangen. Zwar wird die Puppe Barbie als perfekt geschildert, womit einhergeht, dass der Prozess der Umwandlung letztlich nicht abgeschlossen werden kann, doch scheint er trotzdem und

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paradoxer Weise die einzige Möglichkeit darzustellen, sich zu verwirklichen. Es geht bei dem hier geschilderten Prozess des Werdens demnach um ein Sichtbar-Werden, das Deleuzes Konzept des Unsichtbar-Werdens konterkariert. Der Rekurs auf den Unterschied zwischen Puppe und Mensch und die Verweise darauf, dass es Angela Vollrath nicht darum geht, wie eine Puppe zu sein, sondern sich selbst wohlzufühlen, verstärken diesen Prozess, obwohl es auf den ersten Blick so scheint, als wäre hier ein Rest an authentischer Sichtbarkeit vorhanden, der durch die Umwandlung nicht betroffen wäre. Da die Puppe Barbie für Angela Vollrath eine soziale Person darstellt, mit der sie in Verbindung steht, weil beide einem gleichen Schönheitsideal folgen, stellt die Umwandlung keine Unsichtbarkeit her. Es ist möglich, so zu sein wie Barbie. Die Grenzregime lassen dies zu, der Ereignisraum umfasst auch Barbie. Auf der anderen Seite kann die Unterscheidung zwischen Mensch und Puppe nicht als Rest an Reflexion gedeutet werden, der Angela Vollrath davor schützt, sich dem kontrollgesellschaftlichen Vorsatz des individualisierten Konkurrenzkampfes zu entziehen, der die Notwendigkeit einer möglichst kreativen Form der Selbstverwirklichung nach sich zieht. Gerade die Aussage, die Umwandlung nur für sich durchzuführen und ein Mensch mit Gefühlen zu sein, zeigt, dass der Rückzug auf eine leibliche Position die Arbeit an sich forciert und das körperliche Barbie-Werden damit verknüpft, sich selbst auch als „Mensch“ wohlzufühlen: „Es trifft zu, dass ich Narkosen hasse. Da ich es aber noch mehr hasse, schlecht auszusehen, nehme ich die Narkosen in Kauf. Nur wenn ich mich vom Aussehen wohlfühle, kann ich auch öffentlich locker auftreten“ (RaumK 2007). Es zeigt sich, dass Aussehen hier nicht an eine Norm gebunden ist, die Erfolg daran knüpfen würde, dem zu entsprechen, was als schön gilt, sondern daran, Schönheit herzustellen, indem man ausreichend genug an sich arbeitet. Norm wird nun konstruiert, indem das NichtWissen darüber, welche individuellen Schönheitsideale vorherrschend sind, dahingehend umgangen wird, als ein entgrenzter Ereignisraum bereitgestellt wird, der Verwirklichung zu einem Prozess der Selbstfindung werden lässt. Es entsteht ein Spannungsfeld, das durch eine übergeordnete Entgrenzung, die Auflösung der Grenze zwischen Puppe und Mensch und einer gleichzeitigen individuellen Grenzziehung,

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die zwischen privatem und öffentlichem Leben unterscheidet, gekennzeichnet ist: Verändert habe ich mich als Barbie menschlich nicht. Das werden meine Freunde bestätigen können. Natürlich hat sich mein Leben verändert. Ich gehe zum Beispiel nicht mehr alleine in Wiesbaden in der Straße einkaufen, weil mich überall Leute anstarren. Aufmerksamkeit will ich nur, wenn ich beruflich unterwegs bin. Und es macht sehr viel Spaß, in Fernsehsendungen aufzutreten oder einfach an Veranstaltungen teilzunehmen oder Prominente zu treffen, was als normaler Mensch unmöglich wäre. […] Ja, es gibt die Privatperson Angela Vollrath noch, da ich meinen Charakter nicht verändert habe. In der Öffentlichkeit achte ich aber schon mehr auf mein Aussehen. Trotzdem bin ich Angela Vollrath und keine Puppe. Nur ein Mensch von dem viele denken, dass er der Barbie ähnlich sieht (RaumK 2007).

Angela Vollraths Aussage kann in einen direkten Zusammenhang mit der Darstellung des Subjektivierungsmodus innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft gestellt werden, als deutlich wird, dass sich hier ein doppeltes Feld möglichen Handelns auftut, das es durch das Individuum zu strukturieren gilt. Nachdem die in disziplinargesellschaftlichen Kontexten als natürlich konstruierte Grenze zwischen Puppe und Mensch dahingehend gesprengt wurde, als es Angela Vollrath nun möglich ist, eine als zufällig angesehene Ähnlichkeit zwischen ihr und Barbie auszumachen, bleibt die Aufgabe, diese vermeintlich zufällige Möglichkeit in selbstregulativer Art und Weise zu verwirklichen. Um diese Verwirklichung zu realisieren, muss eine Grenze gezogen werden, die innerhalb des grenzenlosen Ereignisraums einen eigenen Ort schafft. Es müssen im Sinne Deleuzes andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden, um die eine Möglichkeit, Barbie zu werden, verwirklichen zu können. Als Grenze fungiert im Beispiel des Barbie-Werdens die konstruierte Trennung der entgrenzten Bereiche. Vollrath zieht sich auf eine Trennung zwischen einem öffentlichen Leben als Barbie und einem privaten Leben als Mensch, dem viele Leute eine Ähnlichkeit zu Barbie nachsagen, zurück und etabliert so einen Ort des vermeintlich Eigenen. Aus diesem heraus stellt sie zwischen den beiden Bereichen eine Balance her, anhand derer sich ihr spezifisches Leben als Barbie ausdrücken lässt. Die

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Etablierung des Paradoxons ein spezifisches, eigenes Leben als Barbie zu führen, ist gekoppelt an die Fähigkeit von Angela Vollrath, effiziente Selbstpraktiken selbstverantwortlich entwickeln und realisieren zu können, um die getrennten Bereiche miteinander in eine gute Balance zu bringen. Es ist zu hinterfragen, inwieweit diese Balance ein Ausschöpfen der konstruierten Möglichkeiten meint, das Deleuze im Kontext des Werdens thematisiert? Es gilt herauszufinden, ob die Erfahrungen, die Angela Vollrath als Barbie macht, in Informationen umgewandelt werden, die dazu dienen, den Ereignisraum kontrollgesellschaftlicher Prägung weiter differenzieren zu können, womit einhergeht, dass Kontrollstrukturen immer umfassender werden, oder aber, ob diese Erfahrungen für sich genommen ein Unsichtbar-Werden im Sinne Deleuzes in Gang setzen. Der zentrale Punkt dieser Fragestellung ist, inwieweit eine Balance zwischen zwei Bereichen es ermöglicht, Freiheit, hier Freiheit gegenüber einem Vorbild herzustellen, oder aber, ob diese Balance bereits gepolt ist und dementsprechend die Verwicklungen zwischen beiden Bereichen in eine bestimmte Richtung steuert. Am Beispiel Angela Vollrath zeigt sich, dass das Gefühl von Freiheit gegenüber dem Vorbild Barbie vornehmlich innerhalb des privaten Raumes hergestellt wird. Dieser Ort wird zu einem Ort der Unsichtbarkeit, als Vollrath hier keiner Aufmerksamkeit ausgesetzt sein möchte. Allerdings steht dieser Raum im Kontext der notwendigen Balance, die Vollrath zwischen den Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens herzustellen sucht. Den zitierten Aussagen gemäß beschreibt keiner dieser beiden Orte unabhängig von dem jeweils anderen die Möglichkeit, „Ich bin…“ zu sagen. Stattdessen wird die Frage danach, wann man „Ich“ sagen kann, in eben die Balance der getrennten Bereiche gelegt, da dem Subjektivierungsmodus innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft gemäß zunächst keine Wirklichkeit im Sinne von „Ich bin…“ zur Verfügung steht. Am Beispiel des Magneten (vgl. S.199) wurde gezeigt, dass das Individuum innerhalb dieser Passage vielmehr zu der Einschätzung „Ich bin nicht…“ gelangt. „Ich“ muss also erst gestaltet werden. Eine eindeutige Gestaltung wie etwa „Ich bin Angela Vollrath“ oder „Ich bin Barbie“ ist nicht möglich, da die Grenzsetzung, die die beiden Bereiche

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trennt und notwendig dafür ist, eine Verwirklichung überhaupt erreichen zu können, sich innerhalb eines Ereignisraums befindet, innerhalb dessen sich beide Bereiche überlagern. Die Grenzsetzung ist demnach nicht als Messung zu verstehen, deren Ergebnisse Realität sind, sondern beschreibt ein dem Ereignisraum immanentes Unterfangen, das dazu beiträgt, aus einer Überlagerung Möglichkeiten zu gewinnen. Ein eigener Ort, ein Ort des Eigenen wird also gerade dadurch, dass er von einem öffentlichen Raum getrennt wird, mit diesem in Verbindung gebracht. Michel de Certeau beschreibt ein solches Verständnis der Grenzziehung wie folgt: „Das Paradox der Grenze: da sie durch Kontakte geschaffen werden, sind die Differenzpunkte zwischen zwei Körpern [oder zwei Bereichen] auch ihre Berührungspunkte. Verbindendes und Trennendes ist hier eins. Zu welchem von den Körpern [den Bereichen], die Kontakt miteinander haben, gehört die Grenze? Weder dem einen noch dem anderen. Heißt das niemandem?“ (de Certeau 1988: 233). Angela Vollraths Aussagen darüber, als Andrea Vollrath eine Umwandlung vorzunehmen, um sich selbst wohlzufühlen, beschreiben dieses Paradox genauso, wie ihre Äußerung, trotz regelmäßigem Fitnesstraining nicht das Aussahen von Barbie erreichen zu können. In Rekurs auf Gesa Lindemann lässt sich dieser vermeintliche Ort des Eigenen als Ort der leiblichen Erfahrung bezeichnen. Lindemanns Meinung nach sind wir „als Leiber […] die friedlichen Haustiere einer gesellschaftlichen Ordnung, die wir selbst geschaffen haben“ (Lindemann 2005: 76). Lindemann spielt hier auf die Setzung einer äußeren Grenze an, die sie als Grenzregime bezeichnet. Neben der Problematik des Ausschlusses von Wesen, die durch diese Regime als nicht-lebendig produziert werden, ergibt sich hier umgekehrt die Problematik der Möglichkeit, Barbie als konkretes Vorbild auszuwählen, das Lebendigkeit gewinnt, indem es Teil von Angela Vollrath wird. Die Differenz zwischen Natur und Kultur, die von Angela Vollrath immer wieder angesprochen wird, ist Lindemann zufolge durch eben diese Grenzregimes untermauert (vgl. S. 71ff). Eine Gegenüberstellung der beiden Bereiche funktioniert aus diesem Grund, ähnlich der Gegenüberstellung von privatem und öffentlichem Raum nicht, um einen Ort des Unverfügbaren zu ermitteln. Beide Seiten sind jeweils miteinander verstrickt, da eine äußere Grenzziehung dafür

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sorgt, dass sie sich überlagern, bzw. dafür sorgt, dass sie so, wie sie sich darstellen, bereits Produkt von spezifischen Machtverhältnissen sind. In Bezug auf die von de Certeau gestellte Frage danach, wem die Grenze zwischen den beiden Bereichen des Privaten und des Öffentlichen „gehört“ (vgl. de Certeau 1988: 233), lässt sich konstatieren, dass die Grenzziehung Teil einer Handlungsstrategie ist, die „im Dunkel der Unbegrenztheit“ (de Certeau 1988: 233) einen Ort des vermeintlich Eigenen braucht, um wirksam werden zu können: Als Strategie bezeichne ich die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden kann und somit als Basis für die Organisierung von Beziehungen zu einer Exteriorität dienen kann, seien dies Stoßrichtungen oder Bedrohungen (Kunden oder Konkurrenten, Feinde, das Umland der Stadt, Forschungsziele und –gegenstände etc.) Wie beim Management ist jede strategische Rationalisierung vor allem darauf gerichtet, das Umfeld von dem eigenen Bereich, das heißt vom Ort der eigenen Macht und des eigenen Willens, abzugrenzen. Ein cartesianisches Unterfangen, wenn man so will (de Certeau 1988: 88).

Das vermeintlich authentische, nicht entfremdete, unsichtbare Selbst Angela Vollraths, das aus seinem Ort des Eigenen heraus agiert, ist demzufolge Ausdruck einer Handlungsstrategie, die darauf angelegt ist, Beziehungen aus einer Basis heraus zu organisieren. Allerdings entsteht durch die Handlungsstrategie eine Dynamik zwischen den getrennten Gebieten des Privaten und des Öffentlichen, die der angesprochenen Balance, die Angela Vollrath herzustellen sucht, entspricht. Angela Vollrath ist innerhalb ihres privaten Ortes also nicht in einem Raum der Freiheit ihrem Vorbild gegenüber. Die kaschierte Trennung der Bereiche privat und öffentlich zielt hier vielmehr auf die umfassende Mobilisierung Angela Vollraths zu Zwecken profitabler Privatproduktion. Letztlich ist es nicht mehr zu unterscheiden, ob sie ihr Fitnesstraining absolviert, um eine Erfahrung außerhalb ihres Barbie-Daseins zu machen, oder, ob dieses Training dem unabschließbaren Prozess des Barbie-Werdens dient.

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In Bezug auf Deleuzes Vorschlag eines Erschöpfens der Möglichkeiten aus dem heraus ein Unsichtbar-Werden entspringen kann, ist zu fragen, ob die Verstrickung, die die beiden Bereiche des Privaten und des Öffentlichen im Beispiel des Barbie-Werdens eingehen, obwohl, bzw. gerade weil sie vordergründig getrennt werden, sich mit dem trifft, was Deleuze als Immanenzebene bezeichnet. Deleuzes Ansatz dreht sich darum, die Wirklichkeit außer Kraft zu setzen. Es wurde deutlich, dass es auch Angela Vollrath aufgrund der Dynamik, die zwischen einer äußeren und einer inneren Grenzziehung besteht, weder möglich ist, eine Verwirklichung im Sinne des Ausschließens von Möglichkeiten zu erreichen, noch Freiheit dadurch zu gewinnen, sich von ihrem Vorbild zu lösen, um etwas Neues entstehen zu lassen. Vielmehr ist sie in einen unabschließbaren Prozess eingelassen, der einem Werden entspricht. Einem Werden, das im Gegensatz zu Deleuze jedoch an einem Normalisierungsprozess orientiert ist, ein Werden, das zur umfassenden Mobilisierung der Individuen genutzt wird, um im Umkehrschluss den sich innerhalb der Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellschaft etablierenden Ereignisraum in seiner Potentialität zu entwickeln, bzw. sich entwickeln zu lassen. Es geht im Kontext dieses Werdens um die Gleichzeitigkeit von Kontrolle und der Verwertung des Unkontrollierbaren, indem die Erfahrungen der Individuen innerhalb der Verstrickung zwischen Selbstdisziplin und kreativer Neuerfindung in Informationen umgewandelt werden, die dabei behilflich sind, das Netz der Kontrolle immer dichter werden zu lassen. Diese Informationen stellen sich als Ereignisse dar, die Teilmengen eines Ereignisraumes sind, der durch eine äußere Grenzziehung hergestellt wird. Je größer die Informationen über diesen potentiellen Raum sind, je mehr Ereignisse in ihm stattfinden, desto dichter zeigt sich ein Netz von Möglichkeiten, die letztlich der wahrscheinlichen Normalverteilung innerhalb dieses Raums entsprechen. Barbie-Werden, so wie es am Beispiel Angela Vollraths dargestellt wurde, orientiert sich an dieser wahrscheinlichen Normalverteilung, an einem inszenierten Gleichgewicht, indem sie es gleichzeitig herstellt. Ähnlich wie bei dem Gedankenexperiment Schrödingers Katze, in dem sich anhand der Informationen darüber, was sich in der Schachtel befindet, eine Wahrscheinlichkeit darüber errechnen lässt, ob die Katze tot oder lebendig ist, ist es zunächst auch in Bezug auf

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die erste, äußere Eingrenzung im Falle des Barbie-Werdens. Wenn durch Grenzregimes festgelegt werden kann, wer in den Kreis der Wesen gehört, denen Sozialität möglich ist, erschließen sich aus dieser Festlegung Informationen, die es zulassen, Wahrscheinlichkeiten über die zwischen den sich innerhalb dieses Feldes befindenden Wesen entstehenden Wechselwirkungen zu errechnen. Man weiß, was passieren könnte und kann anhand dieses Wissens Vermutungen anstellen, ohne zu wissen, was tatsächlich passiert. Anstatt die Ungewissheit dem Tatsächlichen gegenüber auszuschalten, indem die Schachtel geöffnet wird, um eine Messung vorzunehmen, die einem Entweder-Oder-Prinzip unterliegt und das Tatsächliche einordnet, bleibt die Schachtel zu. Statt einer Messung wird nun versucht, die Informationen über die Vorgänge innerhalb derselben zu maximieren, um sich so dem Tatsächlichen zu nähern, ohne sein Potential durch Festschreibungen zu gefährden. Allerdings ist diese Informationsmaximierung an einem Ziel ausgerichtet. Es wird versucht, eine Optimalverteilung anzustreben, d.h. die Elemente, die sich innerhalb des Raumes, bzw. der Schachtel befinden in eine Ordnung zu bringen, anhand derer ihre Wechselwirkungen das erreichen, was der Zielvorgabe entspricht. Da die Zielvorgabe an die Konstitution, bzw. den Inhalt der Schachtel gebunden ist, ist die Erfüllung dieser Vorgabe gleichzusetzen damit, das Potential dieses Raumes in Bezug auf ein bestimmtes Kriterium ausgeschöpft zu haben. Raum und Elemente des Raums sind dann in einem Sinne ununterscheidbar, der dem im letzten Kapitel angesprochenen Ameisenhaufen gleicht. Die Zielvorgabe innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft heißt Effizienz. Es gilt also einen Ereignisraum zu entwerfen, dessen Potential von den Wesen, die ihn ausfüllen, ausgeschöpft wird, indem diese Wesen gleichzeitig ihr Potential dafür, möglichst effizient zu handeln, ausschöpfen. Die dargestellte Form eines Werdens, das Barbie-Werden, ordnet sich hier an. Zum einen existiert ein Ereignisraum, der es ermöglicht, sich mit einer künstlichen Figur wie Barbie zu identifizieren, ohne durch eine Verwirklichung im „klassischen Stil“ diese Möglichkeit bereits ausgeschlossen zu haben. Zum anderen wird eine zweite, innere Eingrenzung nötig, um diese durch den Raum gebotene Möglichkeit selbst zu verwirklichen. Diese innere Eingrenzung produziert ei-

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nen vermeintlich eigenen Ort innerhalb des Raums, der seine Eigenheit nun nicht mehr einem Entweder-Oder-Prinzip verdankt, sondern in eine Wechselwirkung mit den Vorgaben tritt, die der Raum bereithält und sich somit an der Zielvorgabe, mit der der Ereignisraum gebildet wurde, orientiert. Anstatt das Individuum also direkt zu steuern, indem es anhand bestimmter Kriterien gemessen wird, und sich somit zwangsläufig an diesen Kriterien orientiert, etabliert sich eine indirekte Steuerung, die das Potential der Individuen dahingehend in Betracht zieht, als dieses sich einer gewissen Ausrichtung gemäß entfaltet, und sich innerhalb einer angestrebten Verteilung aktualisiert. Als Ziel, unter dem sich das Mögliche anordnet, steuert die Vorgabe des effizienten Handelns Bewegungen und Veränderungen innerhalb eines Ereignisraums. Sie werden in eine bestimmte Richtung geleitet, sind Ausdruck des zu Erreichenden, das jedoch unerreichbar ist, da es einen Grenzwert darstellt, dem man sich unendlich nah annähern kann, ohne ihn jemals zu erreichen. Der gesellschaftliche Raum, in dem sich Angela Vollrath aufhält, hat als Zielsetzung, die Effizienz seiner Mitglieder zu erhöhen, indem diese ihr Potential vermeintlich freiheitlich entfalten. Ihre Freiheit besteht darin, sich zur Barbie umzuwandeln und damit zu erreichen, dass sie sich selbst wohler fühlt, anstatt dieser Möglichkeit durch disziplinäre Maßnahmen beraubt zu werden. Anstatt Wirklichkeit dadurch herzustellen, die Möglichkeit, eine Puppe zu sein, auszuschließen, bleibt diese Möglichkeit nun bestehen, ohne jedoch verwirklicht werden zu können, da sie dem Gesetz der Effizienz entspringt und sich das Individuum Angela Vollrath entweder auflösen müsste, oder sich nur unendlich nah dem Grenzwert Effizienz nähern kann, ohne ihn jemals zu erreichen. Es wird also davon ausgegangen, dass sich die Wahrscheinlichkeit dafür, das Ziel der Effizienz zu erreichen, durch das Modell der Selbstverwirklichung erhöht, da dieses das Ziel an persönliche Freiheit koppelt. Die Freiheit, die Angela Vollrath zugesprochen wird, ist demnach letztlich kontrolliert. Zwar handelt sie scheinbar selbstbestimmt, und entfaltet ihr Potential, doch basiert diese Entfaltung, ihre Kreativität auf einem Modell, mit dessen Hilfe eine Zielvorgabe erreicht werden soll. Dieses Modell koppelt die scheinbare Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und das dieser Möglichkeit ent-

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springende Gefühl von Freiheit an eine Zielvorgabe, die nie erreicht werden kann. Eine andere Form von Freiheit, lässt sich in einer Verdichtung der Ereignisse innerhalb des Ereignisraumes finden. Deleuzes Konzept sieht vor, dass sich eine solche Verdichtung durch das Erschöpfen des Möglichen kreiert. Im Gegensatz zu einer Verteilung von Ereignissen innerhalb eines Raumes, die an Zielvorgabe und Modell, bzw. Funktion gebunden ist und damit einhergeht, das Potential des Raumes, d.h. seine Möglichkeiten aufzuzeigen und abzuwägen, geht es hier darum, die Ereignisse nicht als Teilmenge dieses Ereignisraumes zu begreifen, sondern als für sich stehend wahrnehmen zu können. Werden meint also einmal, wie am Beispiel des Barbie-Werdens gezeigt, Selbsterfindung als Funktion dafür zu nutzen, Effizienz zu schaffen, während Werden bei Deleuze einen Schöpfungsprozess beschreibt, der andere Wirklichkeiten schafft, die sich ergeben, wenn die Gegebenheiten sich neu zusammensetzen. Anstatt einem Gesetz als Funktion zu dienen, schaffen diese Schöpfungsprozesse neue Gesetze, die Unendlichkeit nicht herstellen, sondern sich an der Unendlichkeit orientieren. Die Problematik, die sich ergibt, wenn dieses Konzept in eine Verbindung mit den Prozessen innerhalb der Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellschaft gebracht wird, besteht darin, dass das Erschöpfen des Möglichen hier damit gleichzusetzen ist, den Ereignisraum zu erschöpfen. Es wurde gezeigt, dass eine Ausschöpfung des Ereignisraumes dazu führen würde, dass sich das einzelne Ereignis auflöst, da es nicht mehr vom Raum als solchem zu unterscheiden ist. Eine maximale Ereignisdichte füllt den Raum aus und zeigt ihn in seiner ganzen Potentialität. Die Frage ist, ob Deleuze Unsichtbar-Werden an diese Ausschöpfung des Ereignisraums bindet und ob sein Konzept durch diese Konsequenz zum Spielball der Macht wird, da Unsichtbar-Sein letztlich mit einem pluralem Individuum gleichgesetzt werden muss? Zum anderen ist zu hinterfragen, ob der Prozess der Normalisierung umgekehrt darauf angewiesen ist, eine Form der Unendlichkeit beizubehalten, die daraufhin ausgelegt ist, sich einem Grenzwert zwar immer weiter nähern zu können, ihn jedoch nie zu erreichen?

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Mit Hilfe Plessners und seiner Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft konnte bereits gezeigt werden, dass eine absolute Gemeinschaft am inneren sozialen Grenzverlauf des Sicht-, bzw. Unsichtbaren zerschellen muss. Es kann also weder davon ausgegangen werden, dass sich Normalisierungsprozesse insoweit erschöpfen, als sie in ein durch sich selbst funktionierendes System der Herrschaft münden, noch kann davon ausgegangen werden, dass Deleuzes Ansatz gerade dadurch, dass er Unsichtbarkeit an eine radikale Form der Entindividualisierung bindet, sich die Unmöglichkeit einer solchen Erschöpfung zu Nutze macht. Unsichtbar-Sein betritt dann zwangsläufig ein Gebiet, das einer vitalistischen Ausrichtung folgt. Eine vitalistische Ausrichtung würde Nicht-Wissen obsolet werden lassen, da ein Leben als reine Diesheit sich jenseits von Wissensstrukturen befinden würde. Allerdings ist Deleuzes Konzept auf dieses Nicht-Wissen insofern angewiesen, als dieses den Kontakt zu einer Form der Unendlichkeit herstellt, die eben nicht durch den relativen Horizont eines Grenzwertes bestimmt ist, sondern den absoluten Horizont beschreibt, den Deleuze mit der Immanenzebene gleichsetzt. Das nächste Kapitel wird sich der Frage widmen, wie es möglich ist, dieses Nicht-Wissen freizusetzen, ohne dass dieses durch eine wahrscheinliche Verteilung umgangen wird, die durch eine Eingrenzung im Sinne einer Zielvorgabe bestimmt ist.

3.2 D IE E BENE

EINES PRODUKTIVEN U NBEHAGENS

In seinem Buch Kunst des Handelns beschreibt Michel de Certeau Möglichkeiten dafür, Handlungsweisen in den Blick zu bekommen, anhand derer sich darstellen lässt, dass Verhaltensweisen nicht zwangsläufig an den Ort, dem sie entspringen, gebunden sind, sondern vielmehr ein Spielen mit Ordnungen implizieren. „Diese Handlungsweisen sind die abertausend Praktiken, mit deren Hilfe sich die Benutzer den Raum wiederaneignen, der durch die Techniken der soziokulturellen Produktion organisiert wird“ (de Certeau 1988: 16). De Certeau geht im Gegensatz zu Foucault davon aus, dass sich eine solche Form der Aneignung unterhalb des Netzes befindet, das durch die pro-

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duktive Machttechnologie der Disziplinierung gestrickt wird.41 Es geht de Certeau darum, „die untergründigen Formen ans Licht zu bringen, welche die zersplitterte, taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die heute von der Überwachung betroffen sind. Diese Praktiken und Listen von Konsumenten bilden letztlich das Netz einer Antidisziplin“ (de Certeau 1988: 16). De Certeau konstatiert, dass Konsumenten selbst etwas produzieren, das „von den Systemen, in denen es sich entwickelt, weder bestimmt noch eingefangen werden kann“ (de Certeau 1988: 22). Er fasst das Produkt dieser Eigenproduktion als „unlesbare Querverbindungen“ (de Certeau 1988: 22), die den Bahnen, die die Individuen innerhalb eines gesellschaftlichen Raumes zurücklegen, unvorhersehbar entspringen. Diese Querverbindungen sind unlesbar, weil sie durch die zur Verfügung stehenden Darstellungsformen, wie etwa der Statistik, nicht wahrgenommen werden können, da diese „sich darauf beschränkt, die lexikalischen Einheiten zu klassifizieren, zu berechnen und aufzulisten, aus denen diese Bahnen zwar zusammengesetzt sind, auf die sie sich aber nicht reduzieren lassen“ (de Certeau 1988: 22). Diese Vorgehensweise gleicht de Certeau zufolge einer Transkription, der eben das entgeht, „was sie zu suchen und darzustellen glaubt“ (de Certeau 1988: 22). Im Zuge der Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik beschreibt de Certeau Beispiele dafür, inwieweit es in Systemen, wie etwa einem Fabriksystem, Möglichkeiten gibt, „auf eigene Rechnung zu arbeiten“, d.h. während der Arbeit eigenen Beschäftigungen nachzugehen. Durch Praktiken wie diese wird de Certeau zufolge die Grenze

41 vgl. de Certeau: „Wenn es richtig ist, dass das Raster der Überwachung sich überall ausweitet und verschärft, dann ist es umso notwendiger, zu untersuchen, wie es einer ganzen Gesellschaft gelingt, sich nicht darauf reduzieren zu lassen: welche populären (und auch verschwindend kleinen, alltäglichen) Praktiken spielen mit den Mechanismen der Disziplinierung und passen sich ihnen nur an, um sie gegen sich selber zu verwenden; und welche Handlungsweisen bilden schließlich auf Seiten der Konsumenten (oder Beherrschten?) ein Gegengewicht zu den stummen Prozeduren, die die Bildung der soziopolitischen Ordnung organisieren? (de Certeau 1988: 16)

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zwischen den klar definierten und voneinander abgegrenzten Einschließungsmilieus disziplinargesellschaftlicher Prägung immer schon überschritten. Allerdings fasst de Certeau eine solche Grenzüberschreitung nicht per se als widerständische Handlung auf, die sich gegen die Macht eines repressiven Ortes zur Wehr setzt, sondern unterscheidet zwischen den Handlungsweisen, die zu diesen Überlagerungen führen: Der Bruch [verläuft] nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit. Diese beiden Tätigkeitsbereiche gehen ineinander über. Sie wiederholen sich gegenseitig. An den Arbeitsstätten verbreiten sich kulturelle Techniken, die die ökonomische Reproduktion unter dem Schein von Überraschung (das Ereignis), von Wahrheit (Information) oder Kommunikation (Animation) verbergen. Umgekehrt bietet die kulturelle Produktion einen Expansionsbereich für rationelle Vorgehensweisen, die es ermöglichen, die Arbeit zu organisieren, und zwar durch Aufteilung (Analyse), Aufrastern (Synthese) und Verdichtung (Verallgemeinerung). Es drängt sich eine andere Einteilung auf als diejenige, die die Verhaltensweisen nach ihrem Ort (der Arbeit oder der Freizeit) unterscheiden und sie somit dadurch bestimmen, dass sie sich auf diesem oder jenem Feld des gesellschaftlichen Schachspiels befinden. […] Es gibt Unterscheidungen anderer Art. Sie beziehen sich auf die Modalitäten des Handelns und auf die Formalitäten der Praktiken. Sie überschreiten die Grenzen der Zuordnung zum Bereich der Arbeit oder der Freizeit. So überträgt sich zum Beispiel das auf eigene Rechnung arbeiten auf das System der Fließbandproduktion (es ist sein Gegenteil an ein und demselben Ort) als eine Tätigkeitsvariante, die außerhalb der Fabrik (an einem anderen Ort) die Form der Bastelei hat (de Certeau 1988: 77/ 78).

De Certeau unterscheidet im Rahmen dieser grenzüberschreitenden Praktiken zwischen solchen, die Beziehungen zwischen den Orten herstellen wollen und solchen, die sich auf die Zeit und den ihr entspringenden Gelegenheiten berufen: [Strategien] bevorzugen die Beziehungen zwischen den Orten. Zumindest streben sie danach, alle zeitlichen Relationen darauf zu reduzieren, indem sie analytisch jedem einzelnen Element einen eigenen Platz zuweisen und indem sie kombinatorisch die spezifischen Bewegungen in Einheiten oder in Einheiten-

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komplexe zusammenfassen. […] Taktiken sind Handlungen, die ihre Geltung aus der Bedeutung beziehen, welche sie der Zeit beilegen – und auch den Umständen, welche in einem ganz bestimmten Interventionsmoment in eine günstige Situation verwandelt werden (de Certeau 1988: 91).

Weiterhin charakterisiert de Certeau Strategie als eine „Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt […] von einer Umgebung abgelöst werden kann“ (de Certeau 1988: 23). Taktiken haben nichts Eigenes. Sie stehen stattdessen in einem direkten Umgangsverhältnis mit den Gegebenheiten, welchen sie unterworfen sind und verknüpfen diese in ungeahnter Art und Weise. Taktiken bewegen sich innerhalb der Ordnung der Macht und benutzen die Gegebenheiten, die dieser entspringen, um Querverbindungen herzustellen. Sie machen sich die Gegebenheiten zu Nutze, „ändern sie zu ihren eigenen Zwecken um“ (de Certeau 1988: 73), anstatt ihr Verhältnis zur Macht „unter objektiven Kalkülen zu verstecken“ (de Certeau 1988: 25): Auch wenn diese grenzüberschreitenden Taktiken von den jeweiligen Umständen abhängen, so unterwerfen sie sich doch nicht dem Gesetz des Ortes. Sie werden nicht durch den Ort definiert oder identifiziert. In dieser Hinsicht sind sie ebenso wenig lokalisierbar wie die technokratischen Strategien, die Orte schaffen wollen, die mit den abstrakten Modellen übereinstimmen. Was beide voneinander unterscheidet, sind die Typen des Handelns in diesen Räumen, die die Strategien produzieren, aufrastern und aufzwingen können, während die Taktiken sie nur gebrauchen, manipulieren und umfunktionieren können (de Certeau 1988: 78).

De Certeau spricht die Überlagerung der Tätigkeitsbereiche Arbeit und Freizeit aus einer Perspektive an, die diese als durch alltägliche Handlungsweisen praktiziert begreift. Diese Handlungsweisen widersprechen der Vorstellung, dass Technologien der Disziplinierung Orte errichten, denen Subjekte unterworfen sind, ohne an der Herstellung der Orte selbst mit beteiligt zu sein. Sie unterscheiden sich untereinander jedoch dadurch, dass Taktiken diese Überlagerung herstellen, indem sie sie für konkrete Taten nutzen; sie führen etwas in ein herrschendes System, hier ein Fabriksystem ein, schaffen sich einen Frei-

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raum, zur „Benutzung der aufgenötigten Ordnung“ (de Certeau 1988: 79). Strategien gehen planmäßig vor; sie reproduzieren das System, dem sie angehören. Strategisches Handeln wird in dem Moment möglich, „wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt ausmachbar ist“ (de Certeau 1988: 87). Man kann die Überlagerung der Bereiche demnach aus zwei Blickrichtungen betrachten. Einmal, wenn es darum geht, strategische Handlungsweisen zu erklären ist diese Überlagerung in sich geordnet, d.h. sie folgt der Steuerung einer Macht, die diese Überlagerung dafür nutzt, einen eigenen Ort, hier eine Fabrik von seinem Umfeld, seinen Konkurrenten, abzugrenzen. Das andere Mal, wenn von taktischen Handlungsweisen gesprochen wird, beschreibt eine solche Überlagerung eine Gelegenheit („auf eigene Rechnung arbeiten“), die sich innerhalb einer herrschenden Ordnung vollzogen hat. Einmal hat man es mit einer Überlagerung als Methode zu tun, einmal mit einer Überlagerung, die einen Spielraum aufzeigt. Während die Strategie also von einem Ort des Eigenen ausgeht, von dem aus die Beziehungen zu einem Umfeld organisiert werden, macht sich die Taktik die Macht zu Nutze, um ihr letztlich zu entfliehen: „Ohne eigenen Ort, ohne Gesamtübersicht, blind und scharfsinnig wie im direkten Handgemenge, abhängig von momentanen Zufällen, wird die Taktik durch das Fehlen von Macht bestimmt, während die Strategie durch eine Macht organisiert wird“ (de Certeau 1988: 90). Die Strategie stellt eine Handlungsweise dar, die, da sie von einem eigenen Ort ausgeht, der als Basis für die Organisation der Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt fungiert, in Allianz mit der Macht steht. Sie ist geschützt durch die Bereitstellung dieses eigenen Ortes. Die Taktik agiert mit und innerhalb eines Terrains, das jedoch nicht ihr Ort, sondern der Ort des Anderen, das zur Verfügung Stehende, ist.42

42 vgl. hierzu Michel de Certeau: „Im Gegensatz zu den Strategien […] bezeichne ich als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Keine Abgrenzung einer Exteriorität liefert ihr also die Bedingung einer Autonomie. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muss mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Macht organisiert. Sie ist nicht in der Lage, sich bei sich selbst aufzuhalten, also auf Distanz, in einer Rück-

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Innerhalb des letzten Kapitels konnte anhand des Beispiels „Barbie“ herausgearbeitet werden, dass der Ereignisraum innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft einen Überlagerungszustand darstellt, der auf den ersten Blick dem gleicht, was hier von de Certeau im Kontext grenzüberschreitender Praktiken angesprochen wurde. Anstatt dass Orte, wie etwa die Fabrik oder die Schule bereitgestellt werden, um Verhaltensweisen, bzw. Subjektivität zu konstituieren, und somit Realität, d.h. einen Handlungsraum von außen zu organisieren, gerät die Entwicklung dieser Orte in den Aufgabenbereich der Individuen. Es wurde deutlich, dass durch die zu gestaltenden Bereiche eine Grenze innerhalb des Überlagerungszustandes gesetzt wird, die einen eigenen Ort von einem Umfeld abzutrennen versucht. Das Paradox dieser Grenze bringt die getrennten Bereiche in eine spezifische Dynamik zueinander, die an der Zielvorgabe ausgerichtet ist, den Überlagerungszustand in ein effizientes Gleichgewicht zu übertragen. Auch wenn de Certeau im Rahmen seiner Unterscheidung von Strategie und Taktik sein Augenmerk darauf legt, kreative Vorgänge innerhalb disziplinargesellschaftlicher Zustände zu ermitteln, möchte ich sein Konzept aufgreifen, um zu untersuchen, welche Konsequen-

zugsposition, wo sie Vorausschau üben und sich sammeln kann: sie ist eine Bewegung innerhalb des Sichtfeldes des Feindes, wie von Bülow sagte, die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt. Sie hat also nicht die Möglichkeit, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen und den Gegner in einem abgetrennten, überschaubaren und objektivierbaren Raum zu erfassen. Sie macht einen Schritt nach dem anderen. Sie profitiert von Gegebenheiten und ist von ihnen abhängig; sie hat keine Basis, wo sie ihre Gewinne lagern, etwas Eigenes vermehren und Ergebnisse vorhersehen könnte. Was sie gewinnt, kann nicht geortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos die Mobilität – aber immer in Abhängigkeit zu den Zeitumständen -, um im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muss wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftut. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber“ (de Certeau 1988: 89).

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zen die veränderte Situation innerhalb des Übergangs zur Kontrollgesellschaft für diese von de Certeau getroffene Unterscheidung mit sich bringt. Im Kontext des Beispiels „Barbie-Werden“ geht es darum, zu untersuchen, ob es aufgrund der nur vordergründig getrennten Bereiche des Privaten und des Öffentlichen, aufgrund der im Dunkel liegenden Unbegrenztheit des Ereignisraumes und der ihr entspringenden Überlagerung der Bereiche, zulässig ist, Angela Vollrath eine taktische Handlungsweise zuzusprechen, oder ob der Wandel in machttypologischer Hinsicht dazu führt, die von de Certeau als unkontrollierbar dargestellten Taktiken in einen Verwertungszusammenhang zu überführen? Es muss geklärt werden, ob Angela Vollrath strategisch handelt, da sie als Unternehmerin ihrer Selbst aus einem eigenen Ort heraus agiert, oder, ob der vermeintlich offene Ereignisraum kontrollgesellschaftlicher Prägung, dem dieser Ort zuallererst entspringt, es vielmehr nahe legt, von einer taktischen Verhaltensweise auszugehen? Konkret gilt es herauszufinden, ob sich innerhalb des Systems, Unternehmerin ihrer Selbst zu sein, eine Komplizenschaft mit sich als Barbie ergeben kann, die dafür sorgt, dass sich Angela Vollrath ungeahnte Gelegenheiten dafür bieten, eigene Überlagerungen herzustellen und „im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet“ (de Certeau 1988: 89). De Certeau äußert sich zu Komplizenschaften in Bezug auf eine komplizenhafte Unterstützung eines „auf eigene Rechnung arbeitenden Arbeiters“ durch andere Arbeiter in einer Fabrik, „die auf diese Weise ihre von der Fabrik aufgezwungene Konkurrenzsituation umgehen“ (de Certeau 1988: 72). Diese Unterstützung erfolgt im Rahmen von taktischen Praktiken, bzw. stellt diese gleichzeitig dar. Der „auf eigene Rechnung arbeitende Arbeiter“ in der Fabrik nutzt den Ort des Anderen, den Ort der Fabrik und funktioniert die Abläufe um, indem er die Gegebenheiten, unter anderem also die Solidarität seiner Kollegen, gebraucht. „Er nimmt die vorhandenen Kräfte, Qualitäten und Effekte und ordnet sie schnell und situativ an“ (Ziemer 2007: 79). Die Frage ist, ob Angela Vollrath den Kontext eines öffentlichen Auftritts in einer Art und Weise nutzen kann, die dem entspricht, was de Certeau als Taktik beschreibt. In diesem Fall wäre die Öffentlichkeit der Ort des Anderen, der Ort des öffentlichen Auftritts als Barbie

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mit dem, oder sogar mit der (Barbie) sie agiert. Der Ort des Anderen beschreibt in diesem Fall ein Schönheitsideal, das sich personifiziert in der Puppe Barbie zeigt. Angela Vollrath wäre de Certeau zufolge also Teil eines Systems, das bestimmt, wie ideale Schönheit aussieht und benutzt dieses System, um „auf eigene Rechnung zu arbeiten“, das heißt in diesem Fall, um von den Gelegenheiten, die dieses System für sie bietet, zu profitieren. Sie würde das System nutzen, um einen temporären Nicht-Ort zu gebrauchen, der es ihr ermöglicht, im Vorübergehen für Überraschungen zu sorgen, eine Intervention in das Gegenwärtige vorzunehmen, die sich beispielsweise darin zeigt, kreative Vorgänge zu vollziehen, die der Symbolik ihres Barbie-Daseins entfliehen. Die von Angela Vollrath verfassten Gedichte, die auf ihrer Homepage zu sehen sind, wären in diesem Kontext zu nennen. De Certeau merkt allerdings an, dass das, „was sie gewinnt, […] nicht gehortet werden [kann]“ (de Certeau 1988: 89) und widerspricht so der Möglichkeit, diese Arten der Komplizenschaft als Marketing Konzept nutzen zu können. Seiner Meinung nach bedeutet die Bewegung innerhalb und mit dem Ort des Anderen, den eigenen Ort notwendigerweise zu verfehlen:43

43 Niamh Stephenson und Dimitris Papadopoulos untersuchen das Feld der alltäglichen Erfahrung unter anderem anhand einer Auseinandersetzung mit dem 1977 unter der Regie von John Cassavetes entstandenen Film Opening Night. Die hier von Gena Rowlands verkörperte Myrtle Gordon, ein Star, auf der Bühne wie im Film, soll in dem Theaterstück „The second Woman“ die Rolle der nach und nach an ihrem Alter zerbrechenden Hauptdarstellerin spielen. Sie sperrt sich gegen diese Figur, da sie spürt, dass dieser Charakter ein leeres, von der Gesellschaft konstruiertes Klischee ist und will eine eigene Figur erschaffen, eine Figur, deren Alter keine Rolle spielt. Sie will sich nicht in Rollen pressen lassen, braucht keine klare Identität, die ihr nur von anderen, der Gesellschaft, einer Autorin oder einem Regisseur aufgezwängt wird. Stattdessen findet und definiert sie sich in jedem Moment neu. Die Art und Weise, in der ihr dies gelingt, beschreiben Stephenson/Papadopoulos folgendermaßen: „Myrtle tries to refuse the imperative to first interiorise the character and then to struggle with the experience of aging in a reflexive way. Instead, she tries to perform this experience as a

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shared and continuous mode of relating to the others involved in the production. Myrtle does the experience of aging as something which drifts through indivisible terrain, working at the level of deep linkages that allow for new connections with others, new forms of intimate relations, a new feeling of ones own position in the world” (Stephenson/Papadopoulos 2006a: 440). Der entscheidende Punkt des hier zugrunde liegenden Erfahrungsbegriffes, äußert sich in der sich jeweils bedingenden Gleichzeitigkeit einer Gegenwärtigkeit, des Vollzugs im Moment, der jedoch immer wieder neu eingebunden ist in einen dauerhaften, sich zwischen Menschen, Dingen, Körpern oder Situationen abspielenden Prozess. Zwar könnten die Ereignisse, die sich innerhalb eines solchen Prozesses ergeben, hier, innerhalb der von Cassavetes dargestellten Probezeit des Theaterstückes, immer auch ganz andere sein, allerdings nur aus sich selbst heraus, im Moment der Entstehung, im Moment des Vollzugs, inmitten der immer wieder vergegenwärtigten Situation. Im Gegensatz dazu, der Idee einer vermeintlichen Überlagerung zweier hinsichtlich ihrer jeweiligen Konkretheit unterschiedener Bereiche zu folgen, geht das Konzept der gegenwärtigen Erfahrung von einem Kontinuum aus, ähnlich der Vorstellung einer kontinuierlichen Linie ohne Anfang und Ende, auf der sich beispielsweise das, was rechts und was links ist, durch die momentane Stellung des betrachtenden Kopfes bestimmt. Das von Stephenson/Papadopoulos angesprochene sich herauskristallisierende Gefühl für die eigene Position in der Welt beschreibt folglich einen singulären Moment inmitten eines Zeitraumes, in welchem die Erfahrung der Gefangenschaft eines vermuteten Sinns entflohen ist, unwahrnehmbar wird. Sinn gibt allein das zur Verfügung stehende Selbst, nicht die Identifizierung, die Einordnung desselben anhand eines offen oder versteckt auftretenden Orientierungsmusters: „Myrtle works with unrealized trajectories, possibilities which do not yet exist, potentials which may never manifest. And yet she is driven by these non existent possibilities. Not because she had a vision of an alternate future, but because this expanded, slowed-down present fuels new relations with other actants and new forms of action, possibilities she is compelled to explore, but which only later and unexpectedly will materialize in a new version of the play” (Stephenson/Papadopoulos 2006: 170).

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Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozeß abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes. Diese Erfahrung zerfällt allerdings in zahllose und winzige Entwurzelungen und Deportationen (Ortsveränderungen und Wanderungen), wird durch die Bezüge und Überschneidungen jener Massenauswanderungen kompensiert, die zu Verflechtungen führen und das urbane Netz bilden, und untersteht dem Zeichen dessen, was schließlich der Ort sein sollte – aber die Stadt ist nur ein Name. Und die Identität, die dieser Ort verschafft, ist umso symbolischer, als es trotz der Ungleichheit der Positionen und Einkünfte der Einwohner, nur ein einziges Gewimmel von Passanten gibt, ein Netz von flüchtigen, der Zirkulation entzogenen Unterkünften, eine Durchquerung von scheinbar eigenen Orten und ein Universum von gemieteten Orten, die von einem Nicht-Ort bedrängt werden (de Certeau 1988: 197/198).

Um im nächsten Kapitel näher auf die Frage nach der Möglichkeit von Komplizenschaften innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft eingehen zu können und in diesem Kontext das Beispiel des Barbie-Werdens konkret analysieren zu können, ist es notwendig, die Spezifik des Umgangs mit einem temporären NichtOrt in dieser Passage herauszuarbeiten. De Certeau beschreibt die Stadt hier als einen Nicht-Ort der Differenz. Zwar hat die Stadt einen symbolischen Namen, kann aber „keinen tatsächlich örtlichen Charakter (als strukturierter Handlungsraum) aufweisen“ (Jain 2006: 5), sondern ist vielmehr ein Raum des Vorübergehens, der endlosen Suche und der Abwesenheit eines eigenen Ortes. Im übertragenen Sinne zeigt sich dieser Nicht-Ort darin, dass Angela Vollrath ihrem symbolischen Namen (in diesem Fall dem Namen „Miss Barbie Deutschlands“) immer wieder entfliehen muss und sich diese endlose Suche nach dem Eigenen zum Beispiel in kreativen Prozessen, wie etwa dem Verfassen von Gedichten darstellen lässt. „Miss Barbie“ ist demzufolge der symbolische Name eines Ortes, der durch den Nicht-Ort der Differenz gleichzeitig Angela Vollrath zu sein, gekennzeichnet ist. Anil K. Jain setzt sich in seinem Text Imaginierte (Nicht-) Orte mit der Rolle der von de Certeau entwickelten Nicht-Orte im Kontext der Globalisierung auseinander. Die Übertragung der Theorie de Cer-

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teaus auf die veränderten Verhältnisse, die im Zuge der Globalisierung auftreten, zeigt den strategischen Versuch der Nutzbarmachung eben jener Nicht-Orte, die, ähnlich wie hier von Jain skizziert, auch für die Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft zu bemerken ist. Jain bemerkt einen Wandel, da der spezifische Ort, der von de Certeau als der Ort des Eigenen bezeichnet wurde an Bedeutung verliert. Die Ordnung, d.h. die Spezifik, die diesem Ort verliehen wurde, führt dazu, dass dieser sich eben durch seine Spezifik, durch das Eigene, das die Basis seiner Beziehungen zu einem Umfeld darstellt, nicht, oder nur unzureichend, in ein globales Netzwerk im Sinne des angesprochenen Ereignisraums integrieren lässt: Im space of flows der Netzwerkgesellschaft verliert der Ort tendenziell seine Spezifik und Bedeutung. Denn ein spezifischer, konkreter Ort, der sich eine eigenständige Charakteristik bewahrt, lässt sich in das globale Netzwerk des fluiden Kapitals möglicherweise nicht nahtlos integrieren, entfaltet eventuell einen widerständigen Eigensinn (als Ortssinn). Gefragt sind also Orte, die unbestimmt, die austauschbar sind, sich frei (ver)formen und gestalten lassen. Die Widerständigkeit des konkreten Ortes, die sich durch eine Verankerung in Geschichte und Kultur und aus der Verflechtung mit der konkreten Lebenswelt der Menschen ergibt, muss also durch die absorbierende und zugleich entbettende Kraft der Globalisierung aufgelöst werden, um die Orte in das globale Netzwerk zu integrieren. Es entstehen (hyper)reale Nicht-Orte (Jain 2006: 4).

Indem spezifische Orte abgebaut werden, etablieren sich formbare Gebilde, die auf den ersten Blick dem entsprechen, was de Certeau als Nicht-Ort, als Netz der Antidisziplin bezeichnet. Allerdings sind diese Nicht-Orte im Gegensatz zu de Certeaus Konzeption als (hyper)reale Nicht-Orte zu verstehen. Während Nicht-Orte, so wie de Certeau sie entwirft, ihre Besonderheit und ihr Potential gerade dadurch gewinnen, operationalen Leistungen zu entsprechen, Wendungen zu beschreiben, anstatt Einheiten festzulegen, errreichen (hyper)reale NichtOrte Wirklichkeit: Die Nicht-Orte der Globalisierung sind […] imaginierte Orte. Sie sind nach bestimmten Vorstellungen erschaffen oder (um)gestaltet. Sie haben zugleich realen und unwirklichen Charakter. […] Ab einen gewissen Zeitpunkt sind

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diese imaginierten Orte nicht nur die Spiegelung jener Vorstellung(en), die sie geformt haben, sondern sie erreichen tatsächlich sogar ein unvorstellbares Ausmaß an Wirklichkeit. Sie müssen diese gesteigerte Form des Wirklichen annehmen, um ihre Besonderheit glaubwürdig herausstellen zu können, um Kapital, Investitionen oder Besucher etc. erfolgreich anziehen and anbinden zu können. Zumeist verkleiden sie ihren Kunstcharakter dabei in einer Authentizitätsfiktion, denn sonst würde der Zauber der Differenz nur schwer funktionieren (Jain 2006: 5).

Als Zauber der Differenz beschreibt Jain hier die Inszenierung einer Differenz zu anderen Orten, die konträr zu der von de Certeau beschriebenen Einführung einer Differenz in eine bestimmte Ordnung, steht. Im Zuge der Etablierung eines vermeintlich grenzenlosen Ereignisraumes innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ändert sich die räumliche Landschaft, innerhalb derer Subjektivierung stattfindet. Waren die spezifischen Orte, anhand, d.h. in Abhängigkeit derer Subjektivität ermittelt wurde in disziplinargesellschaftlichen Realitäten dafür zuständig, die Vielfalt und Differenz einzuschließen, so ist das System im Übergang zur Kontrollgesellschaft auf diese Differenzen angewiesen. Sie sind der Motor dafür, das Potential des Ereignisraumes immer weiter ausschöpfen zu können. Zwar entwerfen die Disziplinartechnologien Differenzen zwischen den einzelnen Orten, doch können diese nur als Differenzen auf einer zweiten Ebene bezeichnet werden, die anstatt als Motor zu fungieren, vielmehr die Gefahr in sich tragen, starre Formen der Abgrenzung und damit ebenso starre Formen der Identifikation zu entwickeln. Starre Formen stehen der Systematik eines offenen Netzwerkes kontraproduktiv gegenüber, bzw. lassen sich in dieses nicht integrieren. Demnach müssen die einzelnen Orte aufgebrochen werden, um die Differenzen erster Ordnung nutzen und damit gleichzeitig einen Wandel in machttypologischer Hinsicht vollziehen zu können. Da die Etablierung eines vermeintlich grenzenlosen Ereignisraumes das Aufbrechen der einzelnen Orte voraussetzt, homogenisieren sich Jain zufolge im Zuge dieses Wandels die Differenzen zweiter Ordnung. Jain betrachtet diese Homogenisierung als Ausgangspunkt dafür, „neue Differenzen“ inszenieren zu müssen, um das System

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nicht zum Stillstand zu bringen. Meiner Meinung nach beschreibt eine solche Inszenierung jedoch vielmehr eine spezifisch ausgerichtete Ordnung der nun „freigelassenen“ Differenzen der ersten, der virtuellen Ebene. Wie mit Plessner aufgezeigt wurde, kann eine grenzenlose Gemeinschaft als solche nicht existieren, ohne durch eine Ausrichtung gesteuert zu sein, die paradoxerweise die Grenzenlosigkeit durch ihre Spezifik erst herstellt. Demnach führt die Überführung der einzelnen Orte in einen als grenzenlos konstruierten Gesamtraum dazu, dass die Differenzen zweiter Ordnung, die an die Grenzen ihrer jeweiligen Orte gebunden waren, sich von diesen konkreten, künstlichen Grenzen zwar lösen, dies jedoch, indem sie gleichzeitig durch eine abstrakte Grenze kontrolliert werden. Wenn von Homogenisierung gesprochen werden kann, betrifft diese vielmehr die „freigelassenen“ Differenzen, als die den konkreten Orten entspringenden Differenzen der zweiten Ebene. Diese Sichtweise macht deutlich, dass eine Inszenierung der „freigelassenen“ Differenzen nicht zustande kommt, weil eine Homogenisierung bereits bestehender Differenzen stattfindet, sondern, weil die Differenzen, die unterhalb der konkreten Orte lagen und von diesen aus-, bzw. eingeschlossen waren, nun gerade durch ihre „Freilassung“ homogenisiert werden. Die Freilassung der Differenzen, die ihrer gleichzeitigen Homogenisierung entspricht, bezeichnet demnach die Inszenierung eines (Nicht)-Ortes, dem scheinbar alle möglichen Verbindungen entspringen können. Faktisch bewegen sich diese Verbindungen jedoch in eine bestimmte Richtung; das dem (Nicht)-Ort entspringende Unvorhersehbare ist dabei behilflich, das Potential des globalen Netzwerkes weiterzuentwickeln, indem seine Potentialität in konkrete Möglichkeiten umgewandelt wird. Es muss also Differenzen geben, ohne dass es deshalb gleichzeitig Orte geben muss. In Übertragung auf die von de Certeau beschriebenen Nicht-Orte drängt sich demnach der Verdacht auf, dass diese nun von einem als grenzenlos konstruierten Ereignisraum eingenommen, bzw. ununterscheidbar werden. Die von de Certeau konzipierte Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik hilft dabei, erkennen zu können, dass die Konstruktion einer solchen Ununterscheidbarkeit zwischen einem kapitalistisch-globalen Netzwerk und einem kreativen Nicht-Ort sich als Produkt spezi-

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fischer Machtverhältnisse zu verstehen gibt, dessen Ziel es ist, das Unvorhersehbare zu eliminieren, indem es in die Verhältnisse integriert wird. Betrachtet man diese vermeintliche Ununterscheidbarkeit jedoch von einer übergeordneten Ebene aus, so zeigt sich, dass es gerade aufgrund der Etablierung eines globalen Netzwerkes keine Nicht-Orte, wie de Certeau sie beschreibt, mehr geben kann. De Certeau zufolge setzen Taktiken, die als Handlungsweisen innerhalb eines Nicht-Ortes fungieren, „auf einen geschickten Gebrauch der Zeit, der Gelegenheit, die sie bietet, und auch der Spiele, die sie in die Grundlagen der Macht einbringt“ (de Certeau 1988: 92). Demgegenüber forcieren Strategien den Widerstand gegen die Zeit. „Sie setzen auf den Widerstand, den die Etablierung eines Ortes dem Verschleiß durch die Zeit entgegenhalten kann“ (de Certeau 1988: 92). Der Gebrauch der Zeit wird in der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft insoweit negiert, als dass Zeitlichkeit nun der Raumlogik eines vermeintlich grenzenlosen Ereignisraums untersteht, bzw. innerhalb dieser Logik zusammenbricht (vgl. Jain 2006: 5). Um die der Logik des Raums folgende Homogenisierung von (taktischen) Differenzen voranzutreiben, indem diese Differenzen notwendigerweise zum Motor für gesteuerte Entwicklungen werden, verhält sich Grenzsetzung nun als Inszenierung eines (Nicht)-Ortes, der jedoch in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen, mit der Ausrichtung des globalen Ereignisraumes steht, bzw. von diesem hervorgebracht wird. Die scheinbare Ununterscheidbarkeit zwischen globalem Raum und Nicht-Ort zeigt sich demnach als ein machtstrategisches Unterfangen, da nun gerade die Differenz, das „auf eigene Rechnung arbeiten“ zum Garanten dafür wird, sich dem Prozess der Normalisierung entsprechend zu verhalten. Gerade dann, wenn eine taktische Handlung vorzuliegen scheint, unterliegt diese einer strategischen Steuerung, die von einem „eigenen“ globalen Ort ausgehend agiert: Das Eigene ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Es ermöglicht, aus den errungenen Vorteilen Gewinn zu schlagen, künftige Expansionen vorzubereiten und sich somit eine Unabhängigkeit gegenüber den wechselnden Umständen zu verschaffen. Das ist eine Beherrschung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes. […] Es ist auch eine Beherrschung der Orte durch das Sehen. Die Gliederung des Raumes ermöglicht eine panoptische Praktik ausgehend

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von einem Ort, von dem aus der Blick die fremden Kräfte in Objekte verwandelt, die man beobachten, vermessen, kontrollieren und somit seiner eigenen Sichtweise einverleiben kann (de Certeau 1988: 88).

Dieser Ort des Eigenen ist also nicht mehr der konkrete Ort, anhand dessen sich Subjektivität zwar vollzieht, unterhalb desselben sich jedoch Taktiken ereignen können, die das Unvorhersehbare als Zeiteinbrüche in denselben einführen. Der Ort des Eigenen ist nun der abstrakte Raum eines globalen Netzwerkes, der das Unvorhersehbare ausschließt, indem er es einer umfassenden Raumlogik unterwirft, die Nicht-Orte als inszenierte (Nicht)-Orte darstellt. Eine taktische Differenzproduktion wird somit zu einer strategischen Differenzproduktion zweiter Ordnung, bei der die virtuellen Differenzen steuerbar werden. Als Beispiel für einen solchen (Nicht)-Ort können die Anmerkungen auf Webseiten wie etwa www.amazon.de genannt werden. Verkaufsportale wie Amazon speichern Daten, die Kunden beispielsweise während einer Produktsuche oder bei Bestellvorgängen zurücklassen und wandeln diese in Informationen um, die sie dem Kunden bei seinem nächsten Besuch auf der Website zur Verfügung stellen. Diese Informationen werden als Empfehlungen präsentiert, die aus den gesammelten Daten zusammengesetzt und durch Neuerscheinungen erweitert werden. Daneben werden Querverbindungen zwischen den Daten verschiedener Kunden vorgenommen, die die jeweiligen Empfehlungen dahingehend präzisieren, als unter der Rubrik „Kunden, die eine ähnliche Suche ausführten, kauften ebenfalls…“ zu sehen ist, welche Daten andere User des Verkaufsportals hinterließen. Im Kontext der Aussage de Certeaus, über die Macht eines eigenen Ortes einen Raum zu gliedern und eine panoptische Praktik auszuführen, die seine Sichtweise den diesen Raum bevölkernden Kräften einverleibt, lässt sich auf dieses Beispiel bezogen festhalten, dass die Einverleibung hier anhand eines inszenierten (Nicht)-Ortes verläuft. Dieser inszenierte (Nicht)-Ort stellt sich über Querverbindungen her, die im Gegensatz zu den von de Certeau entwickelten taktischen Praktiken nun einer strategischen Ausrichtung folgen. Der Nicht-Ort im Sinne de Certeaus ist demnach nun Produkt einer Strategie und verwandelt sich in einen (Nicht)-Ort, als die Informationen, die ihm entspringen, das Netz der Kontrolle immer engmaschiger werden lassen,

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anstatt ein Netz der Antidisziplin darzustellen. Jain bringt dies auf den Punkt: Die imaginierten (Nicht-)Orte inszenieren zwar durch Hyperrealität ihre Differenz zu anderen Orten, aber sie sind auch keine Heterotopien. Denn sie sind weder andere Räume in dem Sinn, dass sie das Andere, das Abweichende umschließen und eingrenzen würden, wie etwa Gefängnisse oder Irrenanstalten, noch sind sie Orte, wo widerständige Praktiken ihren realen Ort und Raum der Entfaltung fänden. Denn alles Inkompatible zu jenem Traum, den sie inszenieren, um sich im globalen Differenzraum zu positionieren, bleibt notwendig ausgeklammert, wird aussortiert und ausgeschlossen. Ihre Differenz geht so auf in Identität, als Herausstellung eines Besonderen, das aber in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen: der Norm des Faktischen steht (Jain 2006: 6).

Welche Auswirkungen die Inszenierung eines (Nicht)-Ortes hat, wird deutlich, wenn man de Certeaus Aussagen über die Unterschiedlichkeit zwischen Lebendigkeit und Programmierung, die er erneut am Beispiel der Stadt erläutert, auf die Situation innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft überträgt: Das Unvorhersehbare zu eliminieren oder es aus dem Kalkül als einen illegitimen Unfall auszuschließen, der die Rationalität bedroht, bedeutet […] die Möglichkeit eines lebendigen […] praktischen Umgangs mit der Stadt zu verbieten. Dabei blieben für ihre Bewohner nur die Stücke einer Programmierung übrig, die von der Macht des Anderen vorgenommen und vom Ereignis verfälscht wurden. Die Zeiteinbrüche sind das, von dem in den tatsächlichen Diskursen der Stadt erzählt wird: eine unbestimmte und unendliche Fabel (de Certeau 1988: 357).

De Certeau spricht einem Ereignis hier die Rolle einer Verfälschung der von der Macht hergestellten Programmierung eines Ortes zu und stellt es einem Zeiteinbruch im Sinne eines Nicht-Ortes entgegen. Ereignis meint eine Form der Überraschung innerhalb einer „vom Diskurs konstruierten Zeit“ (de Certeau 1988: 356), innerhalb einer fiktiven Vernunft, die die „Obszönität des Undeterminierten“ (de Certeau 1988: 356) zu verschleiern sucht. Das Verhältnis zwischen Ereignis und einer solchen Form der Vernunft, einer solchen Form der

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Macht, bildet de Certeau zufolge „die Zusammenführung dessen, was einen Zusammenhang bildet, ohne kohärent zu sein, und was Verbindungen herstellt, ohne gedacht werden zu können“ (de Certeau 1988: 356). Seiner Meinung nach bietet diese Zusammenführung, die letztlich die Symbolisierung bildet, aufgrund dessen, dass sie nicht gedacht werden kann, „einen Zugang zu einer anderen Dimension“ (de Certeau 1988: 356), die de Cersteau in den günstigen Gelegenheiten, den Zeiteinbrüchen sieht. Am Beispiel der Überlagerung der Bereiche Arbeit und Freizeit wurde bereits beschrieben, inwieweit diese als strategische Methode dazu genutzt wird, Ereignisse, d.h. das Unwahrscheinliche, bzw. das Überraschende in einen Arbeitsprozess zu integrieren, um die Abläufe innerhalb dieses Prozesses zu intensivieren. Auf der anderen Seite wurde gezeigt, dass eine solche Überlagerung auch als taktische Handlungsweise verstanden werden kann, die einem Zeiteinbruch in ein System entspricht. Dieser Zeiteinbruch ist ein eigenes Ereignis, das die Programmierung eines Systems nicht verfälscht, indem sie ihr anderes darstellt, sondern das für sich genommen wahrnehmbar wird. De Certeau bindet Lebendigkeit, d.h. einen praktischen Umgang mit den Gegebenheiten an diese Form eines eigenen Ereignisses und stellt eine direkte Verbindung zwischen einem solchen Umgang und einem Nicht-Ort her, die er einer Verbindung zwischen dem durch Macht kontrollierbaren und einem Ereignis als dem unwahrscheinlichen, der Überraschung, entgegenstellt. Während das eigene Ereignis einem Nicht-Ort entspringt und für sich steht, ist das Ereignis als Überraschung an die Konstruktion einer Rationalität gebunden. Es ist demnach nur Ereignis, weil es dem widerspricht, was erwartet wird. Überträgt man diese Unterscheidung auf das Beispiel von Internetportalen wie Amazon, wird deutlich, dass ein inszenierter (Nicht)-Ort hier dafür sorgt, dass Ereignisse (Daten) in Informationen umgewandelt werden, die die Vorlieben des einzelnen Kunden ermitteln. Anstatt also „nur“ eine Verbindung zwischen Kunden und Portal, zwischen Kunden und System herzustellen, anhand derer die Auswahl eines Kunden z.B. eingeschränkt werden kann, oder eine unwahrscheinliche Suche des Kunden dazu führt, dass das Portal seine Bestände erweitert, ist es in diesem Fall so, dass die weiteren Schritte des Kunden kontrolliert werden sollen. Die Ereignisse, die dem Verhältnis ent-

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springen, stehen hier also im Mittelpunkt. Diese Ereignisse werden vorausschauend geplant, ohne durch diese Planung die „Lebendigkeit“ des Kunden einzuschränken. Ganz im Gegenteil wird versucht diese zu forcieren, indem der Kunde mit anderen Kunden in eine Beziehung gebracht wird, der Querverbindungen entspringen, die sich als Verdichtung, als eigenes Ereignis präsentieren, obwohl sie faktisch einer Verallgemeinerung, d.h. einem Normalisierungsprozess entspringen. Es drängt sich demnach der Verdacht auf, dass die Inszenierung der (Nicht)-Orte innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft dem Versuch geschuldet ist, Lebendigkeit zu konstruieren, um die Differenzen, die Besonderheiten der Individuen sowohl dafür zu nutzen, das Potential des vermeintlich grenzenlosen Ereignisraumes auszuschöpfen, als auch dafür zu sorgen, dass diese Besonderheiten sich innerhalb der Systemgrenzen halten, d.h. eine Normalverteilung ergeben. Die von de Certeau beschriebenen Zeiteinbrüche werden somit in die Raumlogik eines globalen Netzwerkes integriert. Sie sind dabei behilflich, das System zu entfalten und sorgen gleichzeitig dafür, es nicht zu erschöpfen. Die Inszenierung der (Nicht)-Orte ist ein notwendiger Bestandteil dafür, diese Raumlogik zu etablieren. Sie ist der Garant dafür, die Ausrichtung, die diesem Raum seine Grenzen setzt, in die Individuen zu übertragen. Ohne diese Inszenierung bliebe nur die Möglichkeit, von einem Ort der Macht ausgehend, strategische Handlungen durchzuführen. Diese Handlungen bezögen sich jedoch nicht auf eine Exteriorität, von dem sich ein eigener Ort abgrenzen würde, sondern auf eine Interiorität, die demnach Bestandteil des eigenen Ortes der Strategie wäre, womit sich die Strategie zugunsten einer Selbstorganisation des Raumes auflösen würde. Ein solcher Zustand hätte demnach eine tatsächlich grenzenlose Gemeinschaft zur Folge; es gäbe nur einen Raum, was bedeutet, dass alle Individuen, die diesen Raum bevölkern, auch nur diesen zur Verfügung hätten, um ihr Leben zu führen. Am Beispiel des Ameisenhaufens konnte gezeigt werden, dass ein solcher Ort besteht, ohne stattzufinden. Mit Plessner wurde in diesem Zusammenhang bemerkt, dass es dem Menschen nicht möglich ist, aus einem spezifischen Ort, der „nur“ ist, heraus, eine Lebensform zu erschaffen, die das Leben innerhalb dieses Ortes stattfinden lässt. Diese Form ei-

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nes sich selbst organisierenden Systems verstößt gegen das von Plessner entwickelte Konzept der Lebendigkeit, das sich den Stufen des Organischen gemäß für den Menschen durch seine exzentrische Positionalität zeigt, indem es eine Eindeutigkeit erzeugt, die es nicht geben kann. Der umfassende Raum eines solchen Systems, der nur „ist“, stellt eine solche Eindeutigkeit her, indem er die Möglichkeit von Nicht-Orten aufgrund einer fehlenden Dynamik beseitigt. Dieser Dynamik zwischen etwas Eigenem und etwas Anderem entspringt wie gesehen der Prozess der Gemeinschafts-, bzw. Gesellschaftsbildung in einem strategischen Sinne. Aufgrund der Einschätzung, dass das Andere hier nicht wahrgenommen werden kann, ohne auf das Eigene zu rekurrieren, erkennt de Certeau in einer strategischen Form der Gemeinschaftsbildung immer auch ein Moment der Verkennung. Stephenson und Papadopoulos beschreiben dieses Moment wie folgt: Sociability always entails an element of misrecognition. The unrepresentable is already operating within social relations, effecting the development of sociabilities, at times throwing us into turmoil, leaving us staggering. […] What is present, but unrepresented in social relations with others, is that we are already more than ourselves. […] Knowledge of the other is always limited simply because there is more to what they say and how they present than can be fathomed. Instead of apprehending the other as s/he is, people tend to inflate a fragment into a generality by imaging the completeness of the others peculiarity (Stephenson/Papadopoulos 2006: 90/ 91).

Die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen entspringt dieser Äußerung zufolge dem Eigenen selbst und führt immer das Element der Verkennung mit sich. Diese Verkennung ist de Certeau zufolge ein produktiver Aspekt innerhalb des Prozesses der Gemeinschaftsbildung, da er neben Beziehungen, die einer Repräsentation im Sinne eines Ortes entspringen, die Möglichkeit von Beziehungen darstellt, die dem, was unterhalb dieser Repräsentationen besteht, entspringen. Diese Form der Beziehung bezeichnet eine Komplizenschaft, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Um Möglichkeiten dafür herauszuarbeiten, eine solche Beziehungsform innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ausfindig machen zu können, muss zunächst konkretisiert

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werden, dass der Nicht-Ort, innerhalb dessen sich eine Komplizenschaft abspielt, de Certeau und auch Plessner zufolge notwendigerweise in eine lebendige Lebensform eingebettet ist. Der dargestellte grenzenlose Ort, der „nur“ ist, anstatt stattzufinden, bezeichnet eine ortlose, reine Dynamik, der diese Form der Lebendigkeit nicht entspringen kann. Ein solch grenzenloser Ort kann entweder völlige Repräsentation sein, d.h. zu völliger Sichtbarkeit führen, oder aber, was, da es ein jeweiliges Extrem bezeichnet, dasselbe ist, völlige Unsichtbarkeit im Sinne des von Deleuze erarbeiteten einen Lebens meinen. Plessner zufolge treffen sich diese beiden Extreme darin, für ein Wesen in exzentrischer Positionalität nicht möglich zu sein. Ein grenzenloser Ort wird deshalb immer wieder „am inneren sozialen Grenzverlauf des Sichtbaren/Unsichtbaren zerschellen“ (Eßbach 1994: 33). Eine Verhinderung dieses Grenzverlaufs ist nicht möglich, da dieser daran gekoppelt ist, Lebendigkeit im Sinne einer menschlichen Lebensform verwirklichen zu können. Die Inszenierung von (Nicht)-Orten erklärt sich demnach aus dem Versuch, diesen Grenzverlauf, der mit der Notwendigkeit der Verkennung innerhalb von Gemeinschaftsbildungen gleichzusetzen ist, kontrollieren zu können. Deutlich wird, dass die von Plessner ermittelte Notwendigkeit einer Grenzsetzung zwischen eigenem Ort und dem Ort des Anderen Elemente der Verkennung mit einschließt, deren Potential dafür, einen zeitlichen Einbruch in die Orte der Repräsentation vorzunehmen, in einem vermeintlich grenzenlosen Ereignisraum inszeniert werden, um das dieser Verkennung entspringende Unvorhersehbare kontrollieren zu können. Unbehagen als Zustand der eigenen Ortlosigkeit, als ein Zustand der Abhängigkeit von der Zeit anstatt von einem Ort, wird in diesem Zusammenhang zu einem Ausgangspunkt dafür, Differenz anhand vorgegebener Richtlinien herzustellen, anstatt Unbehagen als günstigen Augenblick dafür begreifen zu können, zu einer eigenen Geschichte animiert zu werden. Das nun folgende Kapitel widmet sich in diesem Zusammenhang dem Konzept der Komplizenschaft. Es wurde bereits gezeigt, dass dieses einer taktischen Handlungsweise entspringt, bzw. eine solche darstellt und somit einen Nicht-Ort herstellt auf den es gleichzeitig angewiesen ist. Während de Certeau nur kurz auf die Möglichkeiten einer

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Komplizenschaft innerhalb eines Systems, wie etwa der Fabrik eingeht, erweitert und konkretisiert Gesa Ziemer diesen Ansatz, der für sie eine „zukunftsweisende Art der Zusammenarbeit“ (Ziemer 2007a:5) darstellt. 3.2.1 Das Konzept der Komplizenschaft Innerhalb des letzten Kapitels wurde die Frage aufgeworfen, ob Angela Vollrath eine Komplizenschaft mit Barbie, bzw. mit sich als Barbie eingehen kann. Es wurde angedeutet, dass Michel de Certeau Komplizenschaften als Alltagspraktik begreift, die eine Unterstützung während der Ausübung einer taktischen Handlungsweise darstellt. De Certeau beschreibt, wie eine solche Unterstützung dabei behilflich sein kann, einen „Coup“ in einer etablierten Ordnung zu landen (vgl. de Certeau 1988: 72). In Bezug auf die Frage, ob Angela Vollrath durch ihre Auftritte als Barbie ebenfalls einen Coup landet, der darin besteht, ein System dafür zu nutzen, „auf eigene Rechnung zu arbeiten“, das heißt, von den Gelegenheiten, die dieses System für sie bietet, zu profitieren, wurde bemerkt, dass „auf eigene Rechnung arbeiten“ hier eher als Marketing Konzept zu verstehen ist. Anstatt das System zu nutzen, indem sie einen temporären Nicht-Ort gebraucht, der es ihr ermöglicht, eine Intervention in das Gegenwärtige vorzunehmen, und so die Symbolik ihres Barbie-Daseins in ein eigenes Ereignis umzuwandeln, orientiert sie sich an diesem System. Barbie ist für Angela Vollrath gleichzeitig der Ort, dem sie sich anzupassen versucht und eine Unterstützung dabei, sich diesem Ort zu nähern, ihm zu entsprechen. Auf abstrakter Ebene beschreibt Barbie in diesem Zusammenhang das Ideal perfekter Schönheit, dem Angela Vollrath sich auf einer konkreten Ebene, anhand eines konkreten Vorbildes und demnach anhand konkreter Umwandlungsprozesse angleichen kann. Diese Konstellation entspricht einem inszenierten (Nicht)-Ort. Der von Angela Vollrath als zufällig beschriebenen Ähnlichkeit mit Barbie entspringt ein Prozess der Angleichung, der von ihr als Prozess der Selbstverwirklichung wahrgenommen wird. Ähnlich wie anhand des Beispiels Amazon gezeigt werden konnte, werden Daten, hier das Aussehen, in Informationen

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umgewandelt, die sodann eine vermeintlich wahre Auskunft darüber geben, wer man ist, bzw. was man aus seinem Potential machen kann. Bezüglich einer Komplizenschaft zeigt sich der Unterschied zu dem von de Certeau geschilderten Beispiel der Unterstützung seitens eines Arbeitskollegen in der Fabrik, die dazu beiträgt, einen Nicht-Ort innerhalb eines Ortes herzustellen daran, dass Barbie für Angela Vollrath bereits einen Ort der Orientierung, ein Ziel darstellt, obwohl sich diese Verbindung scheinbar zufällig ergeben hat. Barbie ermöglicht Angela Vollrath zwar, „auf eigene Rechnung zu arbeiten“, d.h. sich selbst zu verwirklichen, doch fußt diese Verwirklichung nicht darauf, die Gelegenheiten, die sich innerhalb eines bestimmten Systems ergeben, für einen Moment zu ergreifen, sondern darauf, das Potential dieses Systems aufzuzeigen. Anstatt etwas Unvorhersehbares in ein System einbrechen zu lassen, wird Unvorhersehbarkeit durch ein klares Ziel eliminiert. Kreativität bezieht sich darauf, sich selbst zu vermarkten und bezeichnet somit eine Form der Differenzproduktion, die an einem Ziel ausgerichtet ist. Während Komplizen im Konzept de Certeaus Teile, Gegebenheiten innerhalb eines Systems sind, die sich im richtigen Augenblick entweder zeigen oder nicht, ist Barbie eine scheinbar freie, aber direkte Wahl Angela Vollraths, die sich auf eine zufällige Gegebenheit stützt. Insofern kann im Fall von Angela Vollrath und Barbie nicht von einer Komplizenschaft im Sinne de Certeaus gesprochen werden. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit de Certeaus Ansatz innerhalb eines durch eine umfassende Raumlogik begründeten Systems überhaupt Anwendung gewinnen kann. Da es nur einen als grenzenlos konstruierten Ereignisraum gibt, ist fraglich, wie sich aus den diesem Raum entspringenden unendlichen Gegebenheiten Komplizenschaften ergeben können, die, wie gesehen, auf die Spezifik eines bestimmten Ortes angewiesen sind. Komplizenschaften im Sinne de Certeaus finden statt, ohne Teil eines Plans zu sein. Sie tragen dazu bei, einen Nicht-Ort herzustellen, allerdings nicht in der Art und Weise, dass die Komplizenschaft an sich ein Nicht-Ort wäre, sondern in einer Art und Weise, die einen Komplizen als eine Gegebenheit der taktischen Handlung des anderen Komplizen darstellt. Augrund dieser Anordnung ergibt sich das Problem, dass es in einem als grenzenlos konstruierten Raum entweder unendlich viele Gegebenheiten geben muss,

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oder aber, wie am Beispiel Barbie gezeigt, diese Unendlichkeit der Gegebenheiten durch die Inszenierung eines (Nicht)-Ortes eingeschränkt wird. Gesa Ziemer erweitert in ihrem Projekt Komplizenschaft – Andere Arbeitsformen de Certeaus Ansatz, indem sie Komplizenschaft als Nicht-Ort, d.h. als eigenes, temporäres System darstellt. Im Gegensatz zu de Certeau bezeichnet Komplizenschaft hier also nicht nur eine komplizenhafte Unterstützung, die sich aus den Gegebenheiten eines Ortes, eines konkreten Systems heraus ergibt, sondern auch die konkrete Zusammenarbeit von Komplizen. Ziemer versucht, der produktiven Form der Machtausübung, die auf dem Boden einer umfassenden Raumlogik, Differenzen inszeniert eine ebenso produktive Form der Kritik entgegenzustellen (vgl. Ziemer 2007: 76). Sie unterscheidet hierbei zwischen Kritik, die einer verdeckten Ermittlung entspringt, und besagter Komplizenschaft. In Anlehnung an de Certeaus Unterscheidung zwischen strategischen und taktischen Handlungsweisen beschreibt Ziemer einen verdeckten Ermittler als kritischen Akteur, der aus einem eigenen Ort heraus agiert: [Ein] verdeckter Ermittler [ist] jemand, der unter strenger Geheimhaltung seiner Tätigkeit in eine undurchsichtige Materie eintaucht. Er ermittelt, indem er empathische Beobachtungsgabe gesellschaftlicher Codes, große Faszination für fremde Sphären und virtuose Verwandlungsfähigkeit seiner eigenen Identität an den Tag legt. Er wagt sich weit in das Territorium der Anderen und ermittelt von innen aus der Materie heraus. Wie ein Chamäleon weiß der Ermittler, wie er sich dem Umfeld anpassen muss, damit er so viele Informationen wie möglich sammeln kann. Natürlich kann er dann aber – im Gegensatz zum Chamäleon – aus seiner Haut schlüpfen und an seinen eigenen Ort zurückkehren. Er macht die Informationen für sich oder seinen Auftraggeber nutzbar – sei es Erkenntnisgewinn (Wissenschaft), die Lösung eines Falles (Kriminalistik) oder Unterscheidungsvermögen (Kritik) (Ziemer 2007: 78).

Ziemer erkennt im Rahmen kritischer Ermittlung die Gefahr, verdeckte Agenten, Spione von offiziellen Vertretern nicht unterscheiden zu können:

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Wie schwierig es für verdeckte Ermittler ist, den eigenen Ort zu halten, zeigen uns diverse Spionageplots, in denen Mehrfachagenten durch ihre extrem komplexen Verwirrspiele erzählerische Überraschungen kreieren, das Publikum täuschen und so Spannung erzeugen. Oft verlieren diese, weil sie sich so nah an die Materie heranwagen, den Überblick und werden zu Mitläufern (Ziemer 2007: 79).

Im Unterschied zur verdeckten Ermittlung zeichnet sich Komplizenschaft bei Ziemer dadurch aus, dass sie nicht strategisch ist, sondern von Taktiken geprägt. Wie bereits angesprochen, hat der Taktiker de Certeau zufolge im Gegensatz zum Strategen nur den Ort des Anderen, mit dem er agiert. Während de Certeau jedoch davon ausgeht, dass eine taktische Bewegung innerhalb dieses Ortes des Anderen „eine Bewegung innerhalb des Sichtfeldes des Feindes“ (de Certeau 1988: 89) ist, geht Ziemer davon aus, dass dieser Ort des Anderen den Ort eines Komplizen darstellt. Anders als bei de Certeau ist der Komplize hier wie gesagt nicht dabei behilflich, einen Nicht-Ort innerhalb eines feindlichen Ortes des Anderen zu errichten, sondern bildet mit mindestens einem Anderen zusammen eine Komplizenschaft. Ziemer spricht diesen Unterschied, bzw. diese Entwicklung nicht explizit an, doch bezeichnet er meiner Meinung nach eine entscheidende Wendung, da de Certeaus Konzept im Kontext der Machtverhältnisse innerhalb der Passage zur Kontrollgesellschaft der Gefahr ausgeliefert ist, dass taktische Handlungsweisen einer versteckten Strategie folgen.44 Die Erweiterung seines Ansatzes durch eine „Verschärfung“

44 Über Gesa Ziemers Konzept liegt zur Zeit ein Beitrag unter dem Titel Komplizenschaft – Eine Taktik und Ästhetik der Kritik?, sowie eine Publikation des Forschungsprojekts Komplizenschaft – Arbeit in Zukunft, das von Juni 2006 bis Dezember 2007 am Institut für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste durchgeführt wurde, vor. Ziemer äußert sich hier zwar zu de Certeaus Unterscheidung von Strategie und Taktik, die sie auf die Unterscheidung von verdeckten Ermittlern und Komplizen überträgt, doch geht sie nicht explizit auf die Unterschiede zwischen de Certeaus Form einer Komplizenschaft und ihrer Konzeption ein. Meiner Meinung nach äußert sich dieser Unterschied, darin, das, was de Certeau als taktische Handlungsweise beschreibt, deren Element eine Komplizenschaft

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dessen, was unter Komplizenschaft verstanden werden kann, ist hier möglicherweise ein Ausweg. Die auf einen als grenzenlos konzipierten Raum gründende Logik, die innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft vorherrschend ist, macht es im Gegensatz zu einer Ordnung, die auf verschiedenen, in Beziehung zueinander stehenden Orten basiert, schwierig, zeitliche Einbrüche vorzunehmen. Da die Notwendigkeit von individuellen Abweichungen für ein System, das auf vermeintlicher Selbstorganisation beruht, dazu führt, dass diese Abweichung über die Inszenierung von (Nicht)-Orten gewährleistet werden muss, beschreibt jede vermeintlich taktische Handlungsweise deshalb eine Strategie, weil sie automatisch an den umfassenden Ort gebunden bleibt, der die Selbstorganisation im Umkehrschluss organisiert. Es gibt demnach nicht mehr die von de Certeau beschriebene komplizenhafte Unterstützung innerhalb eines Ortes, dem ein Nicht-Ort entspringen kann, da dieser einzelne Ort Teil eines globalen Ortes ist, weshalb der ermittelte Nicht-Ort bereits (Nicht)-Ort auf einer nächsten Stufe ist. Am Beispiel des Qualitätsmanagements in Hochschulen lässt sich in diesem Zusammenhang erkennen, dass jeder Mitarbeiter zu einem Agenten seines Instituts, bzw. auf höherer Ebene jede Universität zu einem Agenten der Hochschulpolitik avanciert, auch oder gerade wenn eine taktische Handlungsweise im Sinne de Certeaus vorzuliegen scheint. Gesa Ziemer erweitert de Certeaus Konzept, indem sich Komplizen bei ihr nicht in einem konkreten Ort wie etwa der Fabrik treffen und sich gegenseitig bei unterschiedlichen Handlungen, bzw. Zielen unterstützen, sondern diesen Ort erst herstellen, indem sie sich treffen. Während die Komplizenschaft der zwei Arbeiter innerhalb einer Fabrik zustande kommt, weil sich beide innerhalb dieses speziellen Ortes befinden, in dem sie dann, aufgrund einer komplizenhaften Unterstüt-

sein kann, nun als Vorgang darzustellen, der gerade in Form einer Komplizenschaft ausgeführt werden kann. Diese Entwicklung stellt meines Erachtens einen entscheidenden Schritt für die Anwendungsmöglichkeiten von Komplizenschaften innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft dar und wird deshalb von mir in das Konzept Ziemers eingebaut.

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zung jeweils einen Nicht-Ort herbeiführen, entspringt Komplizenschaft in Ziemers Konzept keinem speziellen Ort. Vielmehr ist die Komplizenschaft an sich ein Nicht-Ort, der nur stattfinden kann, weil alle Teilnehmer der Komplizenschaft durch die Komplizenschaft ein gemeinsames Ziel verfolgen. „Komplizenschaft entwirft ein Konzept von Gemeinschaft ohne fixierten Ort“ (Ziemer 2007: 80). Komplizen haben wie die Taktiken bei de Certeau nur den Ort des Anderen. Allerdings ist eine Komplizenschaft bei Ziemer kein Hilfsmittel dafür, „auf eigene Rechnung“ arbeiten zu können, oder eine Konkurrenzsituation zu umgehen, sondern bezeichnet durch sich selbst erst die Möglichkeit einer taktischen Handlung. Das „auf eigene Rechnung arbeiten“ ist im Beispiel de Certeaus genauso wie das Umgehen der Konkurrenzsituation an den Ort gebunden, dem die Komplizenschaft entspringt. Beides sind Taktiken dafür, mit dem Terrain fertig zu werden, das beiden so vorgegeben ist (vgl. de Certeau 1988: 89). Jeder der beiden verfolgt in diesem Zusammenhang ein anderes Ziel, das jedoch zusammen erreicht wird. Während Komplizen bei de Certeau mit dem Terrain, mit den Möglichkeiten, die diesem entspringen, spielen und sich dabei zu unterschiedlichen Zwecken unterstützen, agieren Komplizen bei Ziemer mit dem jeweils anderen Komplizen, dessen Ort es jeweils zu gebrauchen gilt. In Gesa Ziemers Konzept beschreibt Komplizenschaft eine Taktik dafür, durch einen temporären Zusammenschluss ein Ziel zu erreichen, dass sich durch diesen Zusammenschluss ergibt. Die Konstellation, dass jeweils ein Komplize nur den Ort des anderen Komplizen zur Verfügung hat, schafft hier eine eigene Sprache, eine eigene Geschichte, einen „Coup“, der nicht rückwirkend an einen dritten Ort gebunden werden muss, dem beide jeweils als „Gelegenheit“ für den Anderen entsprangen. Dieser „Coup“ steht für sich. Wenn die Komplizen nicht aus einem gemeinsamen Terrain im Sinne eines konkreten Ortes kommen müssen, um eine temporäre Verbindung einzugehen, stellt sich die Frage, wie sich eine solche Gemeinschaft ohne fixierten Ort finden kann? Gesa Ziemer beschreibt den Vorgang der Bildung einer Komplizenschaft folgendermaßen:

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KomplizInnen gehen nicht primär auf eine geplante Suche, weil ihnen etwas fehlt. Vielmehr werden sie überrascht und von etwas oder von jemandem angesprochen. Sie besitzen die Fähigkeit, etwas oder jemanden zu finden. Es stößt ihnen etwas zu, das sie gerne aufnehmen. Sie sind sensibel für den richtigen Moment (Ziemer 2007a: 45).

In Rekurs auf Roland Barthes und dessen Bemerkungen zur Photographie unterscheidet Gesa Ziemer den Vorgang der Bildung einer Komplizenschaft von bewussten, d.h. geplanten Zusammenkünften. Komplizen suchen sich demnach nicht, sie finden sich: Der Literaturwissenschaftler Roland Barthes beschreibt, was wir tun, wenn wir eine Fotographie anschauen. Er unterscheidet zwei Wahrnehmungsformen, die er studium und punctum nennt. Während das studium eine Aktivität des gezielt Suchenden darstellt, meint das punctum ein aktives Element des Gegenübers. Beim punctum „bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingehend ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewusstsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.“ Die ästhetische Erfahrung des punctum wirkt auch in der Komplizenschaft: Sie kann nicht erlernt (studium) werden, sondern durchbohrt einen. Komplizen stehen plötzlich vor einem und man darf die Gelegenheit nicht verpassen (Ziemer 2007a: 45).45

Man findet Komplizen und es entsteht etwas, das man vorher nicht vermutet oder gesehen hat. Sehen kann man es nur, wenn man nicht von Beginn an alles in feste Definitionen und Identitäten einordnet (vgl. Ziemer 2007a: 17). Die Hierarchie zwischen Identität und Differenz wird im Konzept der Komplizenschaft umgekehrt. Ähnlich der Deleuzschen Forderung, dass es nicht ausreicht, das, was die Minderheiten zu Minderheiten

45 vgl. Roland Barthes: „Dieses zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich […] punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnittund: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)“ (Barthes 1985: 36).

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macht, zu kritisieren, sondern vielmehr die Prozesse des MinoritärWerdens zu intensivieren, so dass die Immanenzverhältnisse sichtbar werden, in denen die etablierten Strukturen der Mehrheit als bedingt erscheinen (vgl. Rölli 2006: 40), interessieren sich die Komplizen für vieles, was abseits offizieller, fest definierter Strukturen liegt, um Wissen aufzudecken, das zwischen den Knotenpunkten der Macht liegt. Sie versuchen, unter die ontologisierten Indikatoren des kontrollgesellschaftlichen Regelkreissystems vorzudringen. Sie stehen demnach nicht „außerhalb des Systems, sonst würden sie es mit ihrer Kritik selber hervorbringen. Viel eher eignen sie sich feindliche Figuren radikal an, um sie zu verschieben. Sie beziehen ihre Handlungsfähigkeit von eben der Macht, gegen die sie sich wenden“ (Ziemer 2007a: 47). Ziemer konkretisiert die Art und Weise eines komplizenhaften Vorgehens, indem sie darstellt, inwiefern sich das unsichere Terrain, von dem aus eine Komplizenschaft startet, auf die Vorgehensweise innerhalb einer solchen Gemeinschaft überträgt: KomplizInnen agieren oft von einem unsicheren Terrain aus, das freiwillig oder er unfreiwillig zum Ausgangspunkt des Coups genommen wird. Sie ermutigen sich oder werden gezwungen, die Situation, in der sie stecken, produktiv zu nutzen – ob als schöpferischen Lebensentwurf oder als Überlebensstrategie. Aus der Unsicherheit gewinnen KomplizInnen Lust, die sie zu affektiven Handlungen animiert. […] Affekte erzeugen Unschärfen, sind oft wuchtig oder verstörend, sie enervieren, regen auf oder an. Sie sind Antrieb für Handlungen, was der umgangssprachliche Ausdruck, jemand habe im Affekt gehandelt verdeutlicht. Emotionen sind im Gegensatz dazu oft vordefinierte, abrufbare Gefühlswelten, an die man gezielt appellieren kann (Ziemer 2007a: 45).

Im letzten Kapitel wurde angedeutet, dass Unbehagen als Zustand einer eigenen Ortlosigkeit, als ein Zustand der Abhängigkeit von der Zeit anstatt von einem Ort, innerhalb der Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellschaft zu einem Ausgangspunkt dafür wird, Differenz anhand vorgegebener Richtlinien herzustellen. Die Möglichkeit von Zufällen, von Nicht-Orten, die sich ergeben, weil dem Grenzverlauf zwischen Eigenem und Anderem immer das Moment der Verken-

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nung inhärent ist, ist in eine Raumlogik eingebaut, die diese Zufälle letztlich als Teil einer Verteilung innerhalb eines nur scheinbar grenzenlosen Raums darstellt. Gesa Ziemer bindet Komplizenschaft an Orte, die sich erst im Moment eines Zusammenschlusses zeigen. Gibt es beispielsweise eine Komplizenschaft zwischen zwei Menschen, so entsteht im Moment ihrer Verbindung für beide jeweils ein Ort des Anderen. Man kann hier also davon sprechen, dass eine Komplizenschaft durch die Verbindung ihrer Mitglieder Orte inszeniert. Im Gegensatz zu der Inszenierung von (Nicht)-Orten, entspringt einer solchen Inszenierung von konkreten Handlungsorten erst ein Nicht-Ort, ein Zufall. Der Unterschied zwischen einer Inszenierung von Differenz, d.h. der Inszenierung von (Nicht)-Orten und der Inszenierung von Orten, ist meines Erachtens von großer Bedeutung. Er macht deutlich, was Ziemer meint, wenn sie davon spricht, dass sich eine Komplizenschaft der Macht bedient, gegen die sie sich wendet. Komplizen nutzen das Feld eines scheinbar grenzenlosen Ereignisraumes aus. Sie gebrauchen die Gegebenheiten innerhalb eines Systems, das darauf setzt, Differenzen herzustellen, da sie die Unsicherheit, bzw. das Unbehagen, das einem solchen System dazu dient, Grenzsetzungen kontrollieren zu können, produktiv dafür einsetzt, eigene Gesetze, eigene Geschichten herauszustellen. Die Gegebenheiten innerhalb eines solchen Systems bestehen aus inszenierten Zufällen, anhand derer „Lebendigkeit“ gefördert werden soll. Komplizen benutzen diese „Lebendigkeit“, um ein eigenes System zu entwickeln, das das Unbehagen, das diesen Zufällen folgt, forciert, anstatt es beseitigen zu wollen: KomplizInnen mögen das Abenteuer, lassen sich auf Unbekanntes ein und setzen dabei etwas aufs Spiel. Vielleicht ihren Reichtum, ihre Familie, ihre Gesundheit, ihren definierten Ort, Sie erschaffen dafür anderes, Unvorhersehbares. Sie erfinden ihre eigenen Gesetze, die sie stärker binden als das bestehende Recht. Für Gilles Deleuze basieren Denken und Handeln stets auf Schöpfungsprozessen, die nie alleine, sondern immer im Netz von Gegebenheiten stattfinden. Andere Begriffe und andere Praktiken setzten andere Tatsachen, sie kreieren andere Wirklichkeiten. KomplizInnen sind keine kontemplativen Subjekte, sie sind TäterInnen. Und deshalb auch nicht nur schöpferisch, sondern manchmal auch sehr erschöpft (Ziemer 2007a: 46).

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Ziemer spricht hier an, was mit Bezug auf Deleuze als das Erschöpfen der Möglichkeiten angesprochen wurde. Deleuzes Ausführungen zu einer Erschöpfung des Möglichen, das zugleich ermöglicht, dass sich ein Ereignis verwirklicht, wurden im Verlauf dieser Arbeit mit der Problematik konfrontiert, letztlich ein Ausschöpfen der Potentialität des Ereignisraums zu provozieren, und aus diesem Grund in ein Leben münden zu müssen, das in seiner Unsichtbarkeit nicht von einer totalen Sichtbarkeit zu unterscheiden ist. Ziemers Ansatz ermöglicht es nun, das Erschöpfen des Möglichen in ein eigenes System zu transferieren. Da Komplizen nur den Ort des jeweils anderen Komplizen haben und sich aus dieser Konstellation ergibt, dass sich das Eigene nur in Beziehung, bzw. in der Bewegung mit dem Ort des Anderen und somit nur gemeinsam zeigen kann, erschöpfen sich die Möglichkeiten, wenn das Potential dieser Konstellation, dieses eigenen Systems ausgeschöpft ist. Zwei Orte, die jeweils der Ort des Anderen sind, erschöpfen ihre Möglichkeiten demnach, indem sie in einem Ereignis münden, das so, wie es ist, nicht weiter konkretisiert werden kann. Ziemer erläutert, inwieweit dieses Erschöpfen mit Deleuzes Aussage darüber, ein Ende mit dem Möglichen zu machen, „um abermals zu enden“ (Deleuze 1996a: 51), übereinstimmt. Komplizen agieren von „Coup“ zu „Coup“ und fordern das Ungewisse immer wieder aufs Neue heraus; sie enden in ihren Taten: Entweder haben sie schon längst die nächste Gelegenheit ergriffen, fette Beute ergattert oder sind im Gefängnis gelandet. Sie sind mit Erfahrungen konfrontiert, die ein Zurück nicht möglich machen. Komplizen verwandeln ihre Angst in Lust und folgen Affekten, Verführung und Begehren. Diese lustgesteuerten Eigenschaften implizieren creatio continua im wahrsten Sinne des Wortes, als permanente Schöpfungskraft, und verhindern es damit in eine geordnete Welt zurückzukehren. Stattdessen zwingen Taten, Begegnungen und die Beute dazu, immer wieder neue Welten zu schaffen. Die Lust am Risiko, Spiel und Ungewissen forciert das Verknüpfen heterogener Elemente und bietet erfinderische Möglichkeiten (Ziemer 2007: 80/81).

Die Unmöglichkeit, in eine geordnete Welt zurückzukehren, beruht auf den Taten der Komplizen, die, wie Ziemer anmerkt, bewirken,

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dass sich die Verhältnisse nicht rückgängig machen lassen (vgl. Ziemer 2007: 80). Dieser Punkt ist auf den ersten Blick nicht von Formen eines Werdens, wie etwa des „Barbie-Werdens“, zu unterscheiden. Auch für Angela Vollrath lassen sich die Verhältnisse nicht rückgängig machen, die Operationen, die sie unternimmt, um sich Schritt für Schritt in Barbie zu verwandeln, können streng genommen auch als „Coups“ angesehen werden. Allerdings unterscheiden sich die „Coups“, die Angela Vollrath vollzieht und die „Coups“, die Ziemer anspricht dahingehend, als sie einmal von einem System gesteuert sind und einmal innerhalb eines eigenen Systems stattfinden. Das bedeutet, bzw. zeigt sich darin, dass Angela Vollraths „Coups“ eine zusammenhängende Kette eines spezifischen Werdensprozesses darstellen, während die Komplizen, so wie sie von Ziemer konzipiert sind, entweder von einem speziellen „Coup“ zu einem nächsten, neuen „Coup“ hin agieren, oder aber ihre Komplizenschaft nach einem „Coup“ beenden. Meiner Meinung nach bezeichnet diese Unterscheidung die Möglichkeit, Werdensprozesse auf ihre „Unabhängigkeit“ hin zu untersuchen, und zu präzisieren, was Deleuze unter Werden im Sinne eines Unsichtbar-Werdens entwickelt. Der Ansatz einer solchen Untersuchung, bzw. Überprüfung von Werdensprozessen muss sich daran orientieren, die Zufälle, d.h. die Nicht-Orte, die diesen zugrunde liegen, zu analysieren, und einzuschätzen, ob diese inszeniert sind, oder aber als „sinnliche Zufälle“ aufzufassen sind. Gelingt diese Analyse, so schließt sich meines Erachtens die Kluft innerhalb des Deleuzschen Werkes, die zwischen einem „Rest an Reflexion“ und keinerlei Reflexion in Bezug auf ein Leben angenommen wurde. „Sinnliche Zufälle“ unterscheiden sich von inszenierten Zufällen, weil sie ziellos sind. Wie bisher gezeigt wurde, dient die Inszenierung von (Nicht)-Orten der Kontrollierbarkeit des Unvorhersehbaren. Zufälle werden innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft inszeniert, um ein Werden in Gang zu setzen, das sich an einem Normalisierungsprozess orientiert, ohne die „Lebendigkeit“ der Individuen, die an diesem Prozess beteiligt sind, einzuschränken. In diesem Kontext stellt Komplizenschaft, wie sie im Rahmen taktischer Handlungsweisen von Michel de Certeau herausgearbeitet wurde, eine problematische Position dar. Wenn Nicht-Orte als (Nicht)-Orte insze-

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niert werden, unterstützen sich Komplizen auf ein Ziel hin, das durch die Anordnung innerhalb eines vermeintlich grenzenlosen Raumes von außen gesetzt wird, da zeitliche Einbrüche durch eine umfassende Raumlogik aufgefangen werden. In diesem Sinne beschreibt beispielsweise die Puppe Barbie für Angela Vollrath ein Punctum im Sinne Barthes, das jedoch einem gezinkten Würfelwurf entspricht (vgl. Fußnote 44). Die vermeintliche Eigenheit Angela Vollraths, die sich durch den Zufall, den Einstich, der Ähnlichkeit zu Barbie zeigt, ist hier vielmehr einem Aufruf zur Produktion einer „autonomen“ Subjektivität geschuldet, als einem schöpferischen Prozess zu entspringen. Ein Erschöpfen der Möglichkeiten käme innerhalb dieses Selbsterfindungsvorgangs einer Zerstörung gleich, da der Versuch einer völligen Angleichung an Barbie dazu führen würde, dass Angela Vollraths Körper durch zahlreiche Operationen dem gleichen würde, was mit Deleuze als „finstere, ausgehöhlte Körper“ (Deleuze/Guattari 1992: 22) beschrieben wurde. Deleuzes Forderung, einen solchen „selbstmörderischen oder unsinnigen Zusammenbruch“ (Deleuze/Guattari 1992:221), der dadurch entsteht, das Eine durch etwas Anderes ersetzen zu wollen, durch einen „Rest an Reflexion“ zu verhindern, bleibt in diesem Kontext vage, da, wie bereits erwähnt, nicht deutlich wird, welchem Untergrund dieser „Rest an Reflexion“ entspringen soll. Barbie ist eine Komplizin, die durch und von einem scheinbar grenzenlosen Ereignisraum zur Verfügung gestellt wird, um den (Nicht)-Ort Angela Vollraths kontrollieren zu können. Die Komplizenschaft zwischen Barbie und Angela Vollrath beschreibt somit kein mikrogemeinschaftliches Konzept, innerhalb dessen Komplizen Mittäter sind (vgl. Ziemer 2007: 81), sondern ein Marketing Konzept, das sich auf einer durch Strategien der Macht geschaffenen Grundlage befindet, die Effizienz und ein Gefühl von Freiheit zu verbinden sucht. Ein „Rest an Reflexion“ steht nicht außerhalb dieser Anordnung, sondern kann im Gegenteil damit in Zusammenhang gebracht werden, die Möglichkeiten nicht dadurch zu erschöpfen, „wild drauflos [zu] destratifizier[en]“ (Deleuze/Guattari 1992: 220), sondern, dadurch, in ein Leben hineingezogen zu werden, das nicht durch äußere, soziale Einflüsse zerstört werden kann. Es wurde gezeigt, dass dieses eine Leben, das „überall [ist], in allen Menschen, die von diesem oder jenem lebenden Subjekt durchlaufen und von diesen oder jenen erlebten Objekten ge-

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messen werden“ (Deleuze 2005a: 368), mit einem in seiner Potentialität erschöpften Ereignisraum gleichzusetzen ist. Ein „Rest an Reflexion“ birgt auf einer streng theoretischen Ebene somit die Gefahr, ab einem gewissen Moment bereits etwas anderes zu sein, anstatt einer selbstmörderischen Neuordnung zu verfallen, die daran gekoppelt ist, etwas anderes werden zu wollen. Anstatt „Coup“ für „Coup“ voran zu schreiten, um etwas anderes zu werden, und dabei möglicherweise eine selbstmörderische Neuordnung herbeizuführen, beschreibt ein Leben das Ende der „Coups“, im Rahmen unseres Beispiels also ein Barbie-Sein. Die Frage ist also, wie ein „Rest an Reflektion“ angenommen werden kann, ohne dem unabschließbaren Prozess einer Selbstverwirklichung dahingehend ein Ende zu setzen, als davon ausgegangen wird, dass „etwas Anderes“ ist, anstatt zu werden. Es wurde gezeigt, dass diese Form eines Lebens innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft bedeutet, die Ausrichtung, der ein hier etablierter Ereignisraum entspringt, zu erschöpfen. Different-Sein als Barbie wäre sozusagen ein perfektioniertes Marketing-Konzept, das als solches jedoch nicht umgesetzt werden kann, da es sich außerhalb der „Sphäre der Lebendigkeit“ befinden würde. Wie angedeutet, entwickelt Gesa Ziemer Komplizenschaft als überraschendes Zusammentreffen: „KomplizInnen stehen plötzlich vor einem und man darf die Gelegenheit nicht verpassen“ (Ziemer 2007a: 45). Im Gegensatz dazu, einem inszenierten Zufall zu folgen, entwickelt Ziemer dieses Zusammentreffen als Überraschung, die auf einem „sinnlichen Zufall“ beruht. In Bezug auf die Thematik des Unbehagens lässt sich festhalten, dass dieses in Folge eines „sinnlichen Zufalls“ eintritt, weil etwas passiert, das verletzt, indem es die Komplizen jeweils wie ein Pfeil durchbohrt. Allerdings besticht diese Begegnung im gleichen Moment, da sie, wie Barthes am Beispiel der Photographie zeigt (vgl. Barthes 1985: 36), einen Moment aufzeigt, der sich unterhalb der Repräsentationen befindet. Anstatt das Wahrgenommene, hier also den Komplizen als Objekt zu betrachten, d.h. ihn seiner eigenen, subjektiven Vorstellung gemäß als Komplizen zu erkennen, stellt sich Komplizenschaft als solche dar. „Wer vorstellt, meint etwas zu repräsentieren, wer darstellt, bricht die Repräsentation und kreiert stattdessen etwas, das auf nicht Repräsentierbares ver-

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weist“ (Ziemer 2008: 12). „Sinnliche Zufälle“ schaffen Unbehagen, weil sie Formen des Erkennens und damit subjektive Wahrnehmungsvorgänge verletzen. Anstatt aufgrund eines „inszenierten Zufalls“ dazu aufgefordert zu werden, einen eigenen Ort zu suchen, bzw. zu verwirklichen und somit Subjektivierungsvorgänge in Gang zu setzen, die sich an Normalisierungsprozessen orientieren, folgt Unbehagen hier einem Einbruch der Zeit und nicht einer Zielvorgabe, die einen von „Coup“ zu „Coup“ lenkt. Obwohl und weil Komplizen durch und in dem Moment ihres Zusammentreffens nur den Ort des Anderen haben, stellt diese Form der Gemeinschaft eine Form von Werden bereit, die darin besteht, Subjektivität innerhalb eines spezifischen Zusammenhangs zu betrachten, der eine Tat, eine aktive Handlung darstellt. „Komplizenschaft ist eine Praxis, die sich je nach Anwendung unterschiedlich ausprägt“ (Ziemer 2007a: 5). Dieser Praxiszusammenhang lässt es aufgrund seines zufälligen, temporär auf einen „Coup“ gerichteten Entstehens zu, sich abseits normalisierender Prozesse betrachten zu können: „Nicht das Andere des Anderen wird angeschaut, sondern das Andere in mir“ (Ziemer 2008: 104). Als Praxis ist Komplizenschaft Teil der Verhältnisse und schöpft ihre Handlungsweise aus der Macht, die diese Verhältnisse produzieren. Die „Lebendigkeit“, die innerhalb der Machtverhältnisse hergestellt wird, orientiert sich, wie gesehen, an Normalisierungsprozessen, die einer möglichst effektiven Verteilung innerhalb eines vermeintlich grenzenlosen Ereignisraumes geschuldet sind. Die Praxis, die eine Komplizenschaft darstellt, schafft Lebendigkeit in ihrem eigenen, temporären System. Die durch und innerhalb spezifischer Machtverhältnisse inszenierten Zufälle werden im Rahmen dieses Systems unterlaufen, indem ihnen „sinnliche Zufälle“, d.h. in gewissem Sinne selbst inszenierte Zufälle entgegengesetzt werden, die im Moment, für sich genommen, eine Verdichtung innerhalb einer Normalverteilung beschreiben. Diese Verdichtung kann nur gesehen, bzw. erfahren werden, wenn sie sich unterhalb der den Ereignisraum repräsentierenden inszenierten Zustände befindet. Innerhalb derselben wären Komplizenschaften als eigene Systeme nicht sichtbar. Sie wären Teile der Normalverteilung. Demnach muss ein Durchbruch erfolgen, der dem entspricht, was im Laufe dieser Arbeit als Einstich in die Vertikalität beschrieben wurde. Anhand einer Komplizenschaft lässt sich verdeut-

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lichen, wie eine solche Ebene erreicht werden kann. Der Einstich kommt aus der Praxis und ist Praxis. Je intensiver, je leidenschaftlicher sich Komplizen mit einer Sache, mit einer Thematik beschäftigen, oder auch beschäftigen müssen, desto sensibler werden sie dafür, sich zu finden, d.h. den Anderen wahrzunehmen. Sie provozieren „sinnliche Zufälle“. Plessners Begriff von Lebendigkeit platziert sich meines Erachtens genau am Punkt der Umkehr von „inszenierten“ zu provozierten „sinnlichen“ Zufällen: Sein [des Menschen] Verhalten vollzieht sich nicht gemäß der jeweils herrschenden Verhältnisse, sondern ihnen gegenüber. […] Ein Phänomen, das er sieht, sein Zustand, in dem er sich befindet, ein Ausspruch, den er versteht, bieten plötzlich keine Anknüpfungspunkte mehr. Sie sind außer allem Verständnis geraten (Plessner 1982: 379).

Komplizenschaft bezieht sich auf ein Zusammentreffen, das stattfinden kann, weil beide Komplizen ausreichend sensibel dafür sind, vom jeweils anderen gefunden zu werden. In dem Moment des durch die nötige Sensibilität provozierten Zufalls des Zusammenfindens sind Komplizen außer allem Verständnis, sie haben nur sich, sie haben ihr eigenes System, ihre eigene Lebendigkeit. Ein Anknüpfungspunkt kann nur der nächste „Coup“ sein, der jedoch nicht zwangsläufig in einen daran anschließenden „Coup“ mündet. Komplizenschaft ist demnach eine produktive Form des Unbehagens. Sie speist sich aus den Verhältnissen, und provoziert sich innerhalb dieser selbst, indem Anknüpfungspunkte aufs Spiel gesetzt werden. Aus diesem Grund enthalten „Komplizenschaften immer ein Moment von Undurchsichtigkeit, das erhalten bleiben muss“ (Ziemer 2007a: 8).

Schlussbetrachtung

Unbehagen stellt sich ein, wenn Bezugsrahmen verschwinden, wenn ein unsicheres Terrain beschritten wird, das keine Anknüpfungspunkte bietet. Dieses Terrain kann nicht gefunden werden, sondern findet statt. Der Zustand des Unbehagens animiert dazu, dieses Terrain wahrzunehmen. Unbehagen beschreibt in diesem Sinne einen Nicht-Ort, der sich einstellt, und dem möglicherweise ein „Coup“ entspringt. Ich versuchte, mich in dieser Arbeit diesem Nicht-Ort zu nähern, was jedoch gleichzeitig bedeutet, sich von einem Ergebnis im Sinne einer Festschreibung dessen, was Unbehagen ist, distanzieren zu müssen. Unbehagen ist nicht zu sichern. Warum sich also mit dem Unbehagen beschäftigen? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der produktiven Kraft, die dem Unbehagen zugeschrieben werden kann und in dieser Arbeit ermittelt werden sollte. Das Fazit einer wissenschaftlichen Arbeit besteht in der Regel daraus, konkrete Ergebnisse zu präsentieren. Im Falle dieser Arbeit ist dies nicht möglich, da sich die vorgenommenen Untersuchungen darauf stützen, Werdensprozesse ausfindig zu machen, die sich aus sich selbst heraus ereignen, sich aus sich selbst heraus kreieren. Sobald sich etwas aus sich selbst heraus ereignet, d.h. sich selbst überlässt, kann es nicht an ein Ziel gebunden sein. Ein Ziel entspricht in diesem Kontext einer Handlungsanweisung. Was sich jenseits der Ziele, jenseits der Handlungsanweisungen befindet, entzieht sich der Möglichkeit der Festschreibung.

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Ich habe mich in dieser Arbeit damit beschäftigt, herauszufinden, wie es möglich ist, diesen Handlungsanweisungen zu widerstehen, ohne Widerstand selbst als Ziel meiner Analysen zu begreifen. Innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft verschärft sich die Frage nach Möglichkeiten des Widerstands dahingehend, als es ein sich innerhalb der Machtverhältnisse etablierendes, scheinbar grenzenloses Zusammenspiel von Effizienz und Freiheit erschwert, eine Position zu finden, aus der heraus Widerstand ausgeübt werden könnte. Wem, bzw. was gegenüber kann man widerstehen, wenn nicht geklärt ist, aus welchem Ort heraus dieser Widerstand ausgeübt werden soll? Jede kritische Analyse, die darauf zielt, Möglichkeiten des Widerstands zu ermitteln, ist mit dieser Problematik konfrontiert.46 Die Analyse von Machtverhältnissen orientiert sich hier an einem Ort, aus dem heraus sie agiert. Dieser Ort muss innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft jedoch erst hergestellt werden. Es wurde deutlich, dass gerade die Herstellung des eigenen Ortes durch die Strategien der Macht provoziert ist. Ein Ort der kritischen Analyse ist demnach allzu oft der Gefahr ausgeliefert, selbst zu einem die Machtverhältnisse stabilisierenden Ort zu werden. Mit Gesa Ziemer lässt sich sagen, dass ein verdeckter Ermittler in diesem Fall zu einem Mittäter wird (vgl. Ziemer 2007: 79). Widerstand bedeutet dann möglicherweise Abweichungen zu produzieren oder darzustellen, die, wie im Kontext der Kybernetik gezeigt wurde, von einem umfassenden Kontrollsystem aufgefangen werden.

46 Insbesondere die auf den Marxismus zurückgehenden Widerstandsmodelle treffen sich darin, „dem Menschen und der Klasse den Inhalt des Eigentlichen zuzuschreiben, der wirklichen Bestimmung des Seins, nämlich der kooperativen und frei assoziierten Praxis“ (Diefenbach 2007: 1). Das eigentliche, nicht-entfremdete menschliche Dasein, das marxistische Widerstandsbewegungen befreien wollen, bezeichnet gleichzeitig den Ort, aus dem heraus diese Bewegungen agieren. Es wird davon ausgegangen, dass das nicht-entfremdete menschliche Dasein durch eine es von sich entfremdenden Form unterdrückt wird. Gegen diese Unterdrückung kann Widerstand geleistet werden.

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Versucht man innerhalb eines kritischen Ansatzes, widerständische Prozesse ausfindig zu machen, ohne einen eigenen Ort zu beanspruchen, zeigt sich im Gegensatz zu der Gefahr des Überlaufens eine Problematik, die ich als Gefahr des Stillstands bezeichnen möchte. Ein Forschungsprojekt, das sich der Analyse von Machtverhältnissen ohne konkretes Anliegen, d.h. ohne die Vorgabe, aus einem eigenen Ort heraus, widerständische Handlungen zu ermitteln, widmet, um stattdessen Orte, d.h. Subjektzuschreibungen abbauen, bzw. durchschauen zu können, gerät unter Umständen in einen unaufhörlichen Prozess des Problematisierens, der letztlich nur im Stillstand, in der Bewegungslosigkeit enden kann. Um Alternativen zu den durch und innerhalb spezifischer Machtverhältnisse produzierten Zuschreibungen ausfindig machen zu können, die sodann Widerstand ohne Halt bezeichnen, muss die Bewegung, die Dynamik der Macht in theoretischer Hinsicht angehalten, d.h. so lange problematisiert werden, bis sich Lösungen, im Sinne von Ablösungen von dieser Dynamik bilden können. Die Frage ist jedoch, wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, solcherlei Ablösungsprozesse, die dem entsprechen, was Deleuze unter Werden fasst, ergreifen zu können, ohne in die Gefahr zu geraten, unbemerkt einen eigenen Ort zu etablieren, aus dem heraus Werden eine die Verhältnisse stützende Strategie darstellt. Im Rahmen einer Herangehensweise, die sich darauf stützt, ohne eigenen Ort zu agieren, ist der richtige Zeitpunkt, der Moment, der in dieser Arbeit als Einstich von der Horizontalen in die Vertikale bezeichnet wurde, theoretisch nicht greifbar. Allerdings ist er nicht nicht greifbar, weil er sich selbst entzieht, sondern, weil er nicht zugelassen wird. Der Gefahr, Werden als Strategie zu missbrauchen, kann innerhalb eines solchen Ansatzes nur entgangen werden, indem den Analysen von Machtverhältnissen stets weitere Analysen folgen. Der Produktivität der Macht kann durch einen solchen Ansatz jedoch keine eigene Produktivität entgegengesetzt werden, ohne in eine Position zu verfallen, die Widerstand an eine eigene Haltung bindet, aus der heraus Kritik ausübbar wird. Diese Gefahr kann einer logischen Schlussfolgerung gemäß nur umgangen werden, wenn die Machtverhältnisse soweit analysiert würden, dass der Moment des Einstichs aus einem Stillstand emporbricht. Da dieser Stillstand nicht erreicht werden kann, verliert sich eine solche Herangehensweise in einem nicht abzuschließenden Prozess der

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Analyse. Sie ist auf der Suche nach dem Werden, ohne je selbst zu Werden. Diese Arbeit steht in der Mitte dieser beiden Vorgehensweisen und zieht aus dieser Position ihre produktive Kraft. Die Machtverhältnisse innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft werden einer kritischen Analyse unterzogen, doch geschieht diese Analyse in Hinblick darauf, sie selbst produktiv zu wenden, indem ein Nicht-Ort des Unbehagens ermittelt wird. Unbehagen kann kein Ort sein, aus dem und in den hinein Analysen vollzogen werden. Unbehagen ist keine Haltung, aus der heraus klare Formen des Widerstands entwickelt werden können. Auf der anderen Seite ist Unbehagen als Nicht-Ort jedoch der Moment, an und durch den eine eigene Bewegung innerhalb der Dynamik der Macht einsetzen kann. Um diese Position in der Mitte der beiden genannten Ansätze einnehmen zu können, um Unbehagen als Nicht-Ort zwischen einem eigenen Ort und keinem Ort etablieren zu können, muss zwischen einem Begriff von Unbehagen und dem Zustand des Unbehagens unterschieden werden. Der Zustand eines produktiven Unbehagens verweist auf emergente Entwicklungen, die einsetzen, sobald die Wirklichkeit außer Kraft gesetzt ist; er entspringt einer taktischen Handlung, da er einen NichtOrt darstellt. Der Versuch, die Ziellosigkeit einer taktischen Handlung mit Hilfe eines Begriffs von Unbehagen in den Blick zu bekommen, ist jedoch daran gebunden, ein Ziel zu verfolgen; das Ziel, Ziellosigkeit als Unbehagen zu ermitteln. Streng genommen lässt sich die Wahl des Begriffs Unbehagen damit als Entscheidung für einen bestimmten Ort auslegen und unterliegt der Gefahr, diesen Ort, d.h. diesen Begriff zu füllen, indem er von anderen Orten abgegrenzt wird. Das Ergebnis dieser Arbeit wäre sodann die Definition dessen, was ich unter Unbehagen verstehe. Deleuze bemerkt, dass Begriffe „derart belastet [sind] mit Berechnungen und Bedeutungen und auch mit persönlichen Intentionen und Erinnerungen, alten Gewohnheiten, die sie festzementieren, dass ihre Oberfläche, kaum, dass sie angekratzt ist, sich schon wieder schließt“ (Deleuze 1996a: 98). Ein Begriff davon, was Unbehagen bedeutet, ist demzufolge an die Möglichkeiten gebunden, die durch ihn selbst erst ausgedrückt werden. Er selbst wird zur Bedin-

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gung dafür, Ziellosigkeit greifbar, sichtbar werden zu lassen und vereitelt diese Sichtbarmachung im gleichen Moment, indem er sie an die Verwirklichung des Möglichen bindet. Eine Definition von Unbehagen wäre sodann mit einer Handlungsanweisung dafür gleichzusetzen, wie Ziellosigkeit erreicht werden kann. Genau darum geht es in dieser Arbeit nicht. Die von mir vorgeschlagene Mitte zwischen den beiden Positionen einer kritischen Wissenschaft orientiert sich umgekehrt daran, Ziellosigkeit in einem Sinne aufzufassen, der diese aus sich heraus als Ziel auffasst. Ein Paradox, das Deleuze als „äußerste Determination des Unbestimmten“ bezeichnet. Die „äußerste Determination des Unbestimmten […] als reine Intensität, die die Oberfläche durchdringt“ (Deleuze 1996a: 98) wird durch den Begriff, der sie benennt, eben nicht vollzogen, sondern „erstickt“ (Deleuze 1996a: 98). Anstatt auf das Ziel hin zu arbeiten, Ziellosigkeit als Unbehagen zu ermitteln, ging es mir vielmehr darum, aufzuzeigen, inwiefern Unbehagen als Form des Vollzugs von Ziellosigkeit verstanden werden kann. Als ein Zustand der Ziellosigkeit. Als Nicht-Ort. Diese Form des Vollzugs, die sich zwischen Ort und Ortlosigkeit ansiedelt wurde in dieser Arbeit an Helmuth Plessners Konzeption der exzentrischen Positionalität gekoppelt. Dies war notwendig, um den Begriff des Vollzugs aus einer Sichtweise zu befreien, die ihn an eine vitalistische Ausrichtung bindet. Plessners Theorie stellt Vollzug als eine Dynamik dar, die stattfindet, indem der Mensch Grenzen setzt. Im Gegensatz zu der zentrischen Positionalität des Tieres, die durch Direktheit geprägt ist, agiert der Mensch indirekt, obwohl, oder gerade, weil er etwas vollziehen muss, um sein Leben führen zu können. Lebendigkeit zeichnet sich bei Plessner dadurch aus, die Ortlosigkeit, die zwischen Körper sein und Körper haben besteht, künstlich zu begrenzen, d.h. die Hälftenhaftigkeit des Menschen in ein künstliches Gleichgewicht zu überführen. Die ortlose Dynamik des Menschen bezeichnet in Plessners Konzept somit einen Ausgangspunkt, während Deleuze eine solche als ein Leben, als reine Diesheit und seiner Philosophie der Differenz entsprechend, als Nicht-different-Sein des Differenten betrachtet. Während Deleuze zwischen einer immanenten und einer repräsentativen Form der Lebendigkeit, zwischen einem und dem Leben unterscheidet, fasst Plessners Ansatz Lebendigkeit als Relation der Unbestimmt-

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heit sich selbst gegenüber. Während Deleuze darauf abzielt, Lebendigkeit als Unsichtbar-Sein, bzw. Unsichtbar-Werden zu entwickeln, sieht Plessner die Relation der Unbestimmtheit sich selbst gegenüber als konstitutiv an. Während Deleuzes Ansatz Unsichtbarkeit entwirft, um Fluchtlinien dafür zu schaffen, das Unmittelbare erfassen zu können, begreift Plessner Unbestimmtheit als Ausgangspunkt dafür, immer wieder aufs Neue Grenzverläufe zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit herstellen zu müssen. Wenn es darum geht, Spielräume zu entwickeln, die innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft Lebendigkeit ermöglichen, ohne dass diese als Produkt einer übergreifenden Ausrichtung verstanden werden muss, kann zunächst mit Plessner dargestellt werden, dass sich die Dynamik, die Lebendigkeit menschlicher Wesen, nicht in einer absoluten Gemeinschaft auflösen kann. Diese Einschätzung ist aus verschiedenen Gründen von Bedeutung. Zum einen kann in Rekurs auf Plessner dargestellt werden, dass kontrollgesellschaftliche Realitäten einer Ausrichtung folgen müssen, die dafür sorgt, das Potential ihrer Mitglieder in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ein sich selbst organisierendes System, das Freiheit und Effizienz aus sich heraus in ein dynamisches Gleichgewicht bringt, würde immer wieder am Grenzverlauf von Transparenz und Opazität zerbrechen, der konstitutiv für menschliche Formen der Soziabilität ist. Systeme, wie etwa ein System der Kontrolle, müssen die Potentialität ihrer Mitglieder in eine Richtung, anhand eines Merkmals ausrichten, auch oder gerade wenn sie darauf abzielen, die künstlichen Grenzen gesellschaftlicher Räume zu verabsolutieren. Im Rahmen dieser Erkenntnis erklärt sich, warum ich von der Passage von der Disziplinarzur Kontrollgesellschaft spreche, anstatt davon auszugehen, dass dieser Übergang bereits abgeschlossen sei. Zwar unterscheiden sich Disziplinartechnologien von Technologien der Kontrolle vor allem hinsichtlich der angewandten Steuerungsmechanismen, doch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die eine Technologie die andere ablösen würde. Absolute Kontrolle im Sinne einer allübergreifenden indirekten Regulationsweise kann mit Plessner gesprochen, nicht verwirklicht werden, da sie mit der Negation des Individuums gleichzusetzen wäre. Freiheit und Effizienz wären in diesem Fall sowohl deckungsgleich, als auch auf jedes Individuum in gleichem Maße über-

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tragbar. Anstatt in der Grenze zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit zu stehen, würde sich der Mensch hier als völlig transparentes Wesen zeigen. Die von Plessner als notwendig dargelegte Durchführung einer Ausrichtung innerhalb einer absoluten Gemeinschaft wird innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft den Disziplinartechnologien übertragen, um den Anschein eines grenzenlosen Systems persönlicher Freiheit nicht zu gefährden. Als „Kontrolleure in letzter Instanz“ (Tiqqun 2007: 48) greifen diese ein, wenn Abweichungen die Ausrichtung gefährden. Zum anderen diente die Auseinandersetzung mit Plessner dazu, erkennen zu können, dass die spezifische Form menschlicher Lebendigkeit auch nicht in einem Leben, so wie Deleuze es entwickelt, aufgehen kann. Anstatt der Unmöglichkeit völliger Transparenz, unterliegt dieser Ansatz der Unmöglichkeit völliger Unsichtbarkeit und unterscheidet sich in letzter Konsequenz nicht von dem Prinzip einer absoluten Gemeinschaft, innerhalb der der künstliche Grenzverlauf zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit zugunsten der Naturalisierung einer Seite aufgegeben wird. Deleuzes Konzept ist demnach der Gefahr ausgeliefert, ein Leben selbst auf ein spezifisches Merkmal hin ausrichten zu müssen, bzw. mit seinem Ansatz unbemerkt dem Ziel, der Ausrichtung des scheinbar grenzenlosen Ereignisraumes kontrollgesellschaftlicher Prägung zu folgen, obwohl ein Leben als reine Diesheit von ihm als zielloses, immanentes Moment dargestellt wird. Anhand von Deleuzes Konzeption des Werdens, das er als ein Unsichtbar-Werden beschreibt, lässt sich diese Problematik verdeutlichen. Unsichtbar-Werden ist ein Ziel, das sich jedoch nur in einem ziellosen Prozess herstellen lässt. Unsichtbarkeit im Sinne Deleuzes ist das Ziel der Ziellosigkeit eines Werdens, das in einem Leben seine letzte Ausprägung erhält. Gleiches gilt jedoch auch für innerhalb dieser Arbeit ermittelte Werdensprozesse, die sich an einem Prozess der Normalisierung orientieren. Der Versuch „etwas“ zu werden, das Ziel „etwas Bestimmtes“, bzw. „jemand Bestimmtes“ zu werden, mündet in eine Normalverteilung, bzw. stellt diese her, anstatt das Ziel jemals erreichen zu können. „Etwas“ zu werden ist ein Ziel, dem eine Entscheidung, eine Wahl zugrunde liegt, die wie auch immer sie zustande kommt, Werden in einen Kontext presst, der es einordnet. Im konkreten Fall konnte gezeigt werden, dass das „Barbie-Werden“ Angela

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Vollraths letztlich ein Marketing-Konzept darstellt. Das Ziel, so auszusehen wie Barbie, ist in diesem Fall der Antrieb für ein Werden, das einem vordergründig konstruierten Zufall entspringt. Es kann zum einen also konstatiert werden, dass völlige Transparenz genauso wie völlige Unsichtbarkeit, nicht erreicht werden kann. In beiden Fällen handelt es sich um Zustände, die als solche nicht erlebt werden können und demnach keinem Prozess des Werdens entspringen können. Zum anderen kann festgehalten werden, dass Prozesse des Werdens, die auf Zustände völliger Transparenz, bzw. völliger Unsichtbarkeit hinsteuern, einer Ausrichtung unterliegen müssen, durch die sie gesteuert werden. Eine Ausrichtung, ein Ziel, schafft immer neue Möglichkeiten, die jedoch einem spezifischen Ausgangspunkt entspringen. Werden ist aus diesem Grund nicht abzuschließen. Deleuzes Vorschlag, das Mögliche zu erschöpfen, um „abermals zu enden“ (Deleuze 1996a: 51) muss sich demnach aus einer Position befreien, die seine Konzeption des Werdens an die gleiche Ausrichtung bindet, der auch die Form des Werdens entspringt, die sich an einem Normalisierungsprozess orientiert. Es geht darum, die Möglichkeiten zu erschöpfen, die durch ein bestimmtes System immer wieder hergestellt werden, anstatt die Möglichkeiten erschöpfen zu wollen, die der exzentrischen Positionalität des Menschen entsprechend nicht zu erschöpfen sind. Es geht um ein Erschöpfen des Möglichen, das selbst lebendig ist, anstatt darum, eine Theorie zu entwickeln, die mit und durch ein Erschöpfen des Möglichen auch die Lebendigkeit exzentrischer Wesen erschöpft. In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, eine solche Form der Möglichkeitserschöpfung durch und innerhalb des Konzepts der Komplizenschaft darzustellen. Komplizenschaft kreiert ein eigenes System, das demzufolge auch einer eigenen Ausrichtung folgt und beschreibt Spielräume, die sich innerhalb eines als vermeintlich grenzenlos konstruierten Ereignisraumes kontrollgesellschaftlicher Prägung befinden. Diese Handlungsspielräume ergeben sich nicht, weil sich Komplizen gegenseitig suchen, sondern, weil sich Komplizen finden. Nur dann kann sich innerhalb eines eigenen Systems das vollziehen, was als „Coup“ angedeutet wurde. Der Unterschied, der dazwischen

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besteht, sich zu suchen oder sich zu finden, lässt sich auf verschiedene Formen der Sensibilität übertragen. Marc Rölli bemerkt, dass, wenn „man nicht sensibel für etwas [ist], es so [ist], als ob dieses Etwas gar nicht existiere“ (Rölli 2008a). Im Kontext einer Komplizenschaft ist mit Sensibilität keine Sensibilität den Verhältnissen gegenüber gemeint, vielmehr stellt sich diese Sensibilität innerhalb der Verhältnisse her. Man ist oder wird nicht sensibel gegenüber etwas, das sich einem aufgrund spezifischer Verhältnisse zeigt, sondern man ist sensibel gegenüber etwas, das einem aus den Verhältnissen heraus begegnet. Sensibilität zeigt sich dann daran, Unbehagen zuzulassen, weil es keine andere Wahl gibt, anstatt sich in einem Zustand des Unbehagens zu befinden, weil es zu viele Möglichkeiten gibt. Mit Plessner gesprochen, geht es darum, zuzulassen, dass es im Moment einer Begegnung „mit der Bewandtnis aus ist“ (Plessner 1982: 379). Er beschreibt solche Momente, wenn er die Grenzen menschlichen Verhaltens durch ungespieltes Lachen und Weinen darstellt. Auf die verschiedenen Formen der Sensibilität übertragen, lässt sich demnach folgende Unterscheidung treffen: Einmal kann man sensibel sein, sensibel für etwas werden, weil man eine Wahl treffen muss. In diesem Fall ist man den Verhältnissen gegenüber sensibel. Innerhalb der Passage von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ist diese Form der Sensibilität gefordert, da eine Wahl dafür getroffen werden muss, sich in einer bestimmte Art und Weise zu verwirklichen. Bei Angela Vollrath fiel diese Wahl auf Barbie. Ein anderes Mal jedoch zeigt sich Sensibilität gerade darin, keine Wahl zu haben. Da der Zustand des Unbehagens, der in dieser Arbeit dargestellt wird, einer Wahl ohne Alternative entspringt, kann er nicht der Sensibilität einer bestimmten Sache gegenüber geschuldet sein, die zustande kommt, weil eine Wahl getroffen werden muss. „Etwas Bestimmtes“ würde sich hier dadurch auszeichnen, „etwas Anderes“ aufgrund einer getroffenen Wahl auszuschließen. Bei einer Wahl ohne Alternative gibt es kein „Anderes“, das auch hätte gewählt werden können. Die Sensibilität dafür, einen Komplizen als solchen wahrnehmen zu können, speist sich demzufolge nicht daraus, Bewandtnis herzustellen, d.h. aus einem Zustand der Unsicherheit heraus, Klarheit zu schaffen, sondern daraus, es zuzulassen, sensibel dafür zu sein, dass es

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Grenzen der Bewandtnis gibt, die entstehen, weil es keine Wahl gibt, obwohl zahlreiche Optionen zur Verfügung stehen. Das Finden von Komplizen ist daran gebunden, Sensibilität dahingehend zu wenden, als es nicht darauf ankommt, Einordnungen vorzunehmen. Dies würde zum Beispiel bedeuten, aus einer den Verhältnissen entspringen Notwendigkeit heraus, sensibel gegenüber dem eigenen Körper zu werden, und diese Sensibilität durch „Komplizen“ wie etwa Ärzte, einzuordnen. Einem solchen Verhältnis entspringt das Gefühl, sich durch aufgesuchte „Komplizen“ selbst besser kennen zu lernen. In dem in dieser Arbeit vorgestellten Konzept von Komplizenschaft meint Sensibilität jedoch vielmehr, einen „Coup“ zu landen, weil man den Einordnungen und Notwendigkeiten entflieht. Abschließend lässt sich sagen, dass das Ende dieser Arbeit den Anfang neuer Versuche dafür darstellt, sich dem Zustand des Unbehagens zu nähern. Da sich die Möglichkeiten dafür, diese Annäherung über Begriffe, über die Sprache zu gestalten, für mich im Rahmen dieser Arbeit darin erschöpft haben, zu erkennen, dass es bei meinem Vorhaben letztlich nicht darauf ankommt, Definitionen zu entwickeln, die sich daran orientieren, Problematiken erkannt und Einschreibungen ausfindig gemacht zu haben, sondern vor allem darauf, selbst produktive Kräfte zu entwickeln, etwas zu machen, das sich nicht in sich erschöpft, ist ein Ort des Anderen, der innerhalb einer Komplizenschaft auftaucht, meiner Meinung nach auch für eine Wissenschaft, die sich auf die Suche nach der Immanenz begibt, ein aussichtsreicher Ansatz. Die Dynamik, die durch die Verknüpfung verschiedener Disziplinen entsteht, kann in diesem Zusammenhang dabei behilflich sein, Auswechselungen zwischen den Feldern herbeizuführen. Durch eine Komplizenschaft der Philosophie mit der Nicht-Philosophie können Begriffe aufgebrochen werden, um „dazwischen Dinge oder Bewegungen einzuführen“ (Deleuze/Guattari 2000: 41). So öffnet sich möglicherweise ein „Feld der Mitte, das etwas Drittes zeigt“ (Ziemer 2008: 46). Ein Raum der Intensität, der seine eigenen Kräfte besitzt und der Verwirklichung, der Konkretisierung von Möglichkeiten, die einer bestimmten Vorstellung von Wirklichkeit entspringen, vorausgeht. Ein Raum, der „über Potentialität [verfügt], sofern er die Ver-

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wirklichung von Ereignissen ermöglicht“ (Deleuze 1996a: 71). Kurz: ein eigenes System in dem sich beide Disziplinen bewegen.

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Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Oktober 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen Oktober 2011, ca. 260 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2

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Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze März 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Oktober 2011, ca. 420 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

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Sozialtheorie Fritz Böhle, Sigrid Busch (Hg.) Management von Ungewissheit Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht September 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1723-8

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Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme September 2011, ca. 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4

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Barbara Henry, Alberto Pirni (Hg.) Der asymmetrische Westen Zur Pragmatik der Koexistenz pluralistischer Gesellschaften August 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1705-4

Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven Februar 2011, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7

Volkhard Krech Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft Juli 2011, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1850-1

Sophie-Thérèse Krempl Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus Januar 2011, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1492-3

Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper März 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit November 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1762-7

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