108 57 26MB
German Pages 241 Year 1989
RÜDIGER KRAMME
Helmuth Plessner und earl Schmitt
Helmuth Plessner und earl Schmitt Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre
Von
Dr. Rüdiger Kramme
Duncker & Humblot . Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Kramme, Rüdiger:
Helmuth Plessner und Carl Schmitt: eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre / von Rüdiger Kramme. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 Zug\.: Bielefeld, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06643-X
Alle Rechte vorbehalten
© 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Irma Grininger, Berlin 62 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06643-X
Inhalt
o.
Einleitung ...................................................
7
0.1.
Weimarer Republik ..........................................
10
0.2.
Helmuth Plessner und Carl Schmitt .....................•.......
13
0.3.
Vorüberlegungen .............................................
15
0.4.
Thesen; Aufbau der Untersuchung ..............................
17
1.
Helmuth Plessners frühe pontische Aufsätze .......................
23
- Vom abendländischen Kulturbegriff 1916 ......................
24
- Die Untergangsvision und Europa 1920 .......................
26
- Politische Kultur 1921 ..................................•...
28
- Universität und Staatsinteresse 1921 ......................... .
30
- Politische Erziehung in Deutschland, 1921
32
2.
Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft .................... .
37
2.1.
Radikalismus und Gemeinschaft .............................. .
38
2.2.
Mensch und Gemeinschaft ................................... .
43
2.2.1. Gemeinschaftssorten: Herren- und Gemeinschaftsmoral ............
45
Exkurs: Alfred Seidel, Bewußtsein als Verhängnis .................
53
2.2.2. Kritik der Gemeinschaft
60
Mensch und Gesellschaft
64
2.3.
2.3.1. Zu einer Philosophie des Psychischen ...........................
65
2.3.2. Zu einer Philosophie sozialer Interaktion ........................
70
2.4.
Zur Logik der Öffentlichkeit ...................................
80
2.4.1. Verkehrsformen .............................................
80
2.4.2. Mensch und Politik ..........................................
88
2.5.
Der Ertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
3.
Macht und menschliche Natur ......................•...........
105
3.1.
Die anthropologischen Grundlagen ..............•..............
108
3.2.
Eine anthropologische Begründung des Politischen .....•..........
116
6
Inhalt
3.2.1. Methodologisch-methodische Vorentscheidungen Plessners ..........
121
3.2.2. Macht und Politik ...........................................
124
3.3.
Der Ertrag .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
4.
earl Schmitts politische Theorie und die Anthropologie ..............
155
4.1.
earl Schmitt: Ideengeschichtliche Elemente und die Problematik ihrer Aneignung ..................................................
160
Exkurs: Sören Kierkegaard .............................••.....
167
4.1.1. earl Schmitt und Sören Kierkegaard ....................••......
174
4.2.
4.3.
5.
earl Schmitt: Politik als Lebenskampf ..........................
179
- Homogenität..............................................
180
- Bindung durch Ideologie ....................................
184
- Die Entscheidung ..........................................
189
- Staatslehre und Anthropologie ...............................
193
Politisch-anthropologische Kategorien ...........................
200
- Souveränität ..............................................
204
- Grenzziehungl Repräsentation ...............................
208
- Grenzziehungl Arcanum - Öffentlichkeit ......................
215
- Grenzziehung/Herrschaftswissen
217
SchluBbemeritung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Literaturverzeichnis ...........................................
230
MDas Bedürfnis nach Entscheidung eben ist es, welches die Reflexion austreibt oder austreiben will." Sören Kiergegaard
o. Einleitung Helmuth Plessners philosophische Anthropologie und earl Schmitts politische Theorie sind in ihrem politischen Kontext als ein Text zu lesen. Die im Deutschland der 20er Jahre prononciert inaugurierte Philosophische Anthropologie, zu deren Urhebern die Fachgeschichte unter wechselnder Betonung Scheler und Plessner zu zählen pflegt, verdeutlicht in ihrer" Wende zur Lebenswelt", um Odo Marquards treffende Formel zu benutzen·, den Versuch, einen Ansatz eingreifenden Denkens zu formulieren. Sie ist damit nicht nur eine Reaktion auf den Zusammenbruch des Idealismus und der ihm folgenden Krise traditioneller Selbstinterpretation des Menschen (Schnädelbach: 264 2), sondern der Versuch reflektierter Sinnstiftung als Antwort auf das Signum der Zeit: die Unsicherheit. Schnädelbach greift etwas zu kurz, wenn er meint, die "Skepsis gegenüber allen Versuchen, die "Krise des Ich" mit den herkömmlichen philosophischen Mitteln reflexiver Seibstvergewissenmg zu lösen", sei allein Anlaß und Grund für "die prekäre Verbindung des Philosophischen mit dem Empirischen im Konzept einer Philosophischen Anthropologie" gewesen (Schnädelbach: 269; Hervorhebung i. Orig.). Lebensweltorientierung der Philosophie als Anthropologie im Deutschland der 20er Jahre ist zugleich Reaktion auf disziplinexterne Erschütterungen, Artikulation mit Blick auf die sie umgebende politische Situation. Die Aufnahme empirischer Ergebnisse in philosophische Fragestellungen und Konzeptionen, wie sie für die philosophische Anthropologie bezeichnend ist, ratifiziert seitens der Philosophie das Faktum längst vollzogener Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften und anerkennt die Relevanz von F orschungsergebnissen anderer Disziplinen für das Selbstverständnis des Menschen. Daß der Versuch, "die einzelwissenschaftliche Erforschung der menschlichen Welt entweder zu einem Ganzen [zu] fügen oder aber durch eine philosophische Untersuchungsmethode [zu] überspannen und [zu] ersetzen", "allenfalls, wie bei Scheler, die Bedeutung einer Zusammenfassung des derzeitigen Forschungsstandes" haben könne, ist als eine Gefahrdung des genuinen Wertes der PhiloI Odo Marquard· Zur Geschichte des philosophischen Begriffs MAnthropologie" seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Ders.• Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt aM. 1973 (Suhrkamp), S. 122 pass. 2 Herbert Schnäde/bach: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt a.M. 1983 (Suhrkamp).
8
O. Einleitung
sophie beizeiten erkannt worden (Ritter: 40/60 3). Und Ritter befürchtete als Folgen, daß philosophische Anthropologie "den glänzenden Schein einer Weltanschauung" annehme, damit aber ihre wissenschaftliche Dignität verliere (Ritter: 60). Tatsächlich erwachsen aus diesem Modernisierungsversuch der Philosophischen Anthropologie weitreichende Konsequenzen. Denn diese "Wende zur Lebenswelt" ist ein Versuch, philosophisches Denken und Philosophie als institutionalisierte akademische Disziplin unter den radikal veränderten (jedenfalls so empfundenen) Bedingungen im Deutschland der 20er Jahre, konkret also: der Weimarer Republik, neu zu legitimieren. Sind die technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen dieser Verpflichtung aufgrund der direkten Verwertungsmöglichkeiten ihrer Ergebnisse in Wirtschaft und Gesellschaft weitgehend enthoben und die in ihnen tätige Intelligenz als "Träger des Arbeits- und Leistungswissens" "in die Industriegesellschaft funktionell eingegliedert" (Kurucz: 27128 4), so sieht sich die geistes- und sozialwissenschaftliche Intelligenz, zumal zu Zeiten knapper finanzieller Ressourcens, unter gesellschaftlichen Legitimationszwang gesetzt. So ist auch die Philosophie aufgefordert, zu konkreten Problemen der seriellen Krisenlagen der Gegenwart Stellung zu nehmen. Zugleich erwächst ihr in einer neuen Disziplin, der Soziologie, die "durch das neue politische System massive, institutionelle und politische Unterstützung" erhält (Käsler: 79 f., 251 f., 2626), in ihrer Wende zur Lebenswelt auf wissenschaftlicher Ebene eine neue, zudem protegierte Konkurrenz. Diese versteht sich nicht nur als adäquaten Ausdruck der Moderne, nämlich als "ureigene Wissenschaftsfrucht der bürgerlichen Neuzeit", sondern auch als Erbin der Philosophie als "Orientierungswissenschaft", als "in Nachfolge von Theologie und Philosophie" stehend (Papcke, 1980: 6/2\ Diese Schlaglichter erhellen, daß fachphilosophisches Bemühen, das mehr als eine Orchideenexistenz zu führen beansprucht, sich in der ersten Hälfte der Weimarer Republik in einen Kampf um die eigene Selbstbehauptung versetzt sieht. Diese Konstellation hat mit dazu beigetragen, so denke ich, daß Helmuth Plessner mit den im folgenden zu behandelnden Schriften noch eine zweite Wende zur Lebenswelt explizit vollzogen hat. 3 Joachim Ritter: Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen, Potsdam 1933; hier zit. nach: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M. (1974) 1980, (Suhrkamp), S.36-61. 4 Jenö Kurucz: Struktur und Funktion der Intelligenz während der Weimarer Republik. Köln 1967 (Grote). 5 Siehe dazu 0.1: Weimarer Republik. 6 Dirk Käsler: Die frühe deutsche Soziologie 1909-1934. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung. Opladen 1984 (Westdeutscher Verlag). 7 Sven Papcke: Die deutsche Soziologie zwischen Totalitarismus und Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 30. Jg., B20/80, 17. Mai 1980.
o. Einleitung
9
Denn der Ansatz einer philosophischen Anthropologie als Politischer Anthropologie, mit dem ich mich beschäftigen werde, inventarisiert keineswegs nur empirische Daten. Er intendiert ein eingreifendes Denken i.S.v. fachlich reflektierten Aussagen, die ihren praktischen Niederschlag in politisch relevantem Handeln finden sollen. Mit der Behauptung, ein theoretisch konsistentes Argumentationsgefüge von anthropologischen Aussagen und Formen politischen Handeins vorlegen zu können, begibt sich eine derartige Konzeption aber augenblicklich in die Gefahr, die Jürgen Habermas zu Recht an Gehlen kritisiert hat: Eine de facto Ontologisierung anthropiner Invarianten, aus denen anthropologisch adäquate Formen politischen Handeins deduzierbar erscheinen (Habermas, 1958: 107 pass. 8). Dadurch aber würde Politik gegenüber ihren Adressaten kritikimmun. Das hieße, das Selbstverständnis von Philosophie massiv zu reduzieren, wenn nicht zu dementieren. Vielmehr bietet die Öffnung zur Lebenswirklichkeit und der Anspruch, in diesa praktisch zu wirken, die Möglichkeit grundsätzlicher Kritisierbarkeit der philosophischen Konzepte auch am Maßstab eben dieser Wirklichkeit. Sie müssen sich hinsichtlich ihrer Ansprüche und Intentionen im Verhältnis zu dieser Wirklichkeit verorten (lassen). Dabei haben sie sich auch mit dem seit Rousseaus Hobbes-Kritik mitschwingenden Ideologieverdacht auseinanderzusetzen, philosophische Anthropologie verhelfe, gezielt oder ihrer Konsequenzen unreflektiert, einer sozial ungerechten und darin reaktionären Gesellschaft zu ihrer wissenschaftlichen Legitimation, indem sie, in Umkehrung der Rousseauschen Polemik im "Discours", der sozialen Ungleichheit auch noch die "natürliche" bescheinige und erstere durch letztere rechtfertige. Philosophische Anthropologie und Politische Theorie, die wir als Konzepte normativer Aussagen zu Formen operationalisierten und institutionalisierten politischen Handelns fassen können, stehen damit bereits in ihrem Ansatz in einem labilen Spannungsverhältnis, das die Gefahr des Aufgehens des einen im anderen in sich trägt. Bevor ich im folgenden der These von einer theoretischen Wahlverwandtschaft zwischen dem Philosophen Helmuth Plessner und dem Staatsrechtler earl Schmitt nachgehe und einen Überblick über die Untersuchung gebe, die sich diesen Problemen und ihren Konsequenzen widmen wird, möchte ich an einige wichtige Faktoren der Lebenswirklichkeit erinnern, die Voraussetzung, Anlaß und Gegenstand der Arbeiten Plessners und Schmitts wird. Vor dem Hintergrund der Weimarer Republik und auf sie bezogen, formulieren beide ihre Orientierungsangebote gegen eine allgemeine Unsicherheit.
8 Jürgen Habermas: Philosophische Anthropologie (ein Lexikonartikel) 1958; zit. nach: Ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a.M. (1973) 2/1977, S. 89-111.
10
O. Einleitung
0.1. Weimarer Republik Der Schriftsteller Alfred Döblin kommentierte bereits 1920, die Weimarer Republik sei "eine Republik ohne Gebrauchsanweisung". Diese sarkastische Feststellung charakterisiert in mehrfacher Hinsicht zutreffend ein ganz wesentliches Problem während der gesamten Zeit ihres Bestehens. Es gab für das Leben in einer repräsentativ parlamentarischen Demokratie weder theoretisch noch praktisch ein Vorbild, das handlungs leitend als Modell hätte dienen können. Stattdessen sah sie sich von vornherein mit den Lasten dessen konfrontiert, das ihre Konstituierung erst erlaubt hatte: der Kriegsniederlage und ihren Folgen. Mehr noch: Sie wurde weitgehend selbst als Folge der Kriegsniederlage empfunden. Sie als Ergebnis eigenen Wollens und Kampfes zu begreifen, war schon bald nicht einmal jenen ungebrochen möglich, die sie durch ihre Aktionen und Kämpfe in der "Novemberrevolution" 1918 mitermöglicht hatten. Darüber hinaus konnten die bisherigen Erfahrungen mit dem Parlament in der Wilhelminischen Zeit, in der es aufgrund seiner verfassungsmäßig schwachen Stellung bereits als "Schwatzbude" denunziert worden war, nur belastend für den Versuch eines Neuanfanges wirken. Zudem hatte die politische Machtverteilung im Kaiserreich zu einer Entpolitisierung der absolut überwiegenden Zahl seiner Untertanen geführt, die nun Bürger ihrer Republik wurden (Eschenburg: 20ff. I ). Kurz: Die bisherigen politischen Erfahrungen standen in diskrepantem Verhältnis zu den nun geforderten "demokratischen Tugenden" des Verhandeins, Ausgleichens, Kompromißschließens und Respektierens von Entscheidungen demokratisch legitimierter Mehrheiten. Stattdessen gab es den Versailler Vertrag, gegen dessen Artikel 231 sich erbitterter Widerstand rührte. In ihm wurden Deutschland und seinen Verbündeten die Alleinschuld am Kriegsausbruch zugeschrieben und ihnen Reparationsforderungen in ungeklärter Höhe gestellt. Beide Komponenten führten zu schwerwiegenden Konsequenzen. "Versailles" wurde zum Symbol hemmungsloser Sieger. Verbunden mit der von Hindenburg verbreiteten "Dolchstoßlegende", wurden beide zu den massenwirksamsten ideologischen Waffen der antidemokratischen Rechten. Die Reparationsforderungen aber hatten v.a. einen die Möglichkeit innenpolitischer Konsolidierung bis 1924 (Dawes-Plan, Währungsschnitt) verhindernden Effekt. Von der bis dahin galoppierenden Inflation wurde besonders der Mittelstand betroffen, der sein Vermögen in festen Vermögensformen angelegt hatte, die die Inflation aufzehrte. "Das führte dazu, daß diese, in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohten, vornehmlich bürgerlichen Gruppen sich radikalisierten und gegen die politischen Veränderungen und die demokratische Ordnung von 1918 I Theodor Eschenburg: Die improvisierte Demokratie. Ein Beitrag zur Geschichte der Weimarer Republik. In: Ders.• Die Republik von Weimar. Beiträge zur Geschichte einer improvisierten Demokratie. Überarb. Neuausgabe München 1984 (Piper), S. 13-74.
0.1. Weimarer Republik
11
- als der vermeintlichen Ursache ihrer Misere - Stellung bezogen", beschreibt Helmut Böhme die politisch-ökonomische Situation derer, die Plessner in seinen "Grenzen der Gemeinschaft" als seine Adressaten ansprechen wird (Böhme: 114 \ Neben der real materiellen ist die psychologische Wirkung nicht zu überschätzen. "Der Mittelstand war völlig runiert, während Schieber, Spekulanten und die Architekten gewaltiger Industriekonzerne riesige Vermögen angehäuft hatten" (Hardach: 37\ Plessner wird von den "nouveaux riches" sprechen. Dieser allgemeinen Lage entging natürlich auch nicht die Intelligenz, zumal die akademische, die sich überwiegend aus der Gesellschaftsschicht rekrutierte, die von dieser Entwicklung am härtesten betroffen wurde, der Mittelschicht. Gerade in bezug auf sie kann man von einer negativen Einbindung ins demokratische Ganze sprechen, die als Bedrohungssituation empfunden werden konnte. Denn neben der realen wirtschaftlichen Situation traf sie v.a. die gesellschaftspolitische Entwicklung. So führt Wippermann aus, daß infolge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse eben nicht mehr sie als "die mehr oder weniger geistigen Führer der Nation" angesehen wurden, sondern "Parteipolitiker und Publizisten, die die öffentliche Meinung beherrschten", nun in den Vordergrund traten (Wippermann: 146 4). D.h., daß Versuche akademischer Politikberatung sich nun gegen nichtakademische, dafür aber massenwirksame Konkurrenz behaupten mußten. Auch dies ein Aspekt, dessen man sich im Zusammenhang mit Plessners Appellen zu politischem Engagement der "Geistigen" und einer Verwissenschaftlichung der Politik erinnern muß. Doch nicht nur das Sozialprestige war bedroht. Der später bei Plessner und Schmitt zu analysierende Mythos des Einzelnen hat auch Impulse durch die reale Erfahrung erhalten, in einem System egoistischer Interessenvertretungen sich nicht behaupten zu können. Gemeint ist die Erfahrung der akademischen Intelligenz, aufgrund ihrer wirtschaftsfremden Stellung und ihres zahlen mäßig verschwindenden Bevölkerungsanteils über keine ernsthaften Erzwingungsmittel zur Durchsetzung eigener (materieller und berufsständischer) Interessen zu verfügen. Dadurch auf die Alimentierung durch die staatliche Bürokratie angewiesen, mußte sie sich einerseits staatlichen Einflüssen öffnen, konnte selbst auf den Staat aber kaum wirksamen Einfluß ausüben (s.a. Kurucz: 120 f.). Diese Ohnmachtserfahrungen lassen sich bei Plessner noch 1931 nachvollziehen, wenn er nicht nur die bekannten Appelle an die Intelligenz wiederholt, sondern auch die "grauenhafte Parteilichkeit" in allen Dingen der Kulturpflege wie ehedem beklagt.
2 Helmut Böhme: Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert (1968) Frankfurt a.M. 6/1979 (Suhrkamp). J Karl Hardach: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Göttingen 1976 (Vandenhoeck & Ruprecht). 4 Klaus W. Wippermann: Die Hochschulpolitik in der Weimarer Republik. Die politische Stellung der Hochschullehrer zum Staat. In: Politische Studien 20 (1969), S. 143-158.
12
o. Einleitung
Die im Vergleich zur Kaiserzeit dynamischen Veränderungen in allen Lebensbereichen führten bei denjenigen, die nicht von ihnen profitieren konnten, zu einem Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung. Der Mittelstand, Hauptträger des Nationalgedankens, neigte dazu, das eigene Unglück mit dem nationalen gleichzusetzen, die Furcht vor der Proletarisierung führte zur Frontstellung gegen die organisierte Arbeiterschaft und v.a. gegen den Marxismus. Eine Pazifizierung der nun offen ausgetragenen gesellschaftlichen Antagonismen erhoffte man keineswegs von einer "klassenlosen Gesellschaft", sondern eher von einer ständisch gegliederten "Gemeinschaft" (s.u.), in der die gesellschaftliche Dynamik stillgestellt und jeder seinen Platz einnehmen werde. Angesichts der für die einzelnen schwer durchschaubaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse wirkte sich das Fehlen einer "Gebrauchsanweisung" als eines Orientierungsmittels außerordentlich belastend aus. Das Theoriedefizit konnte keineswegs durch die Verfassung gedeckt werden. Das aber bedeutete, daß all diejenigen, die sich nicht den Kommunisten oder Sozialdemokraten verbunden fühlten (s.o.), über keine verbindlichen Leitbilder verfügten, keine der neuen Situation annähernd angemessenen Orientierungsmodelle hatten, die im Rahmen einer parlamentarisch demokratischen Selbstorganisation der Gesellschaft als Staat sinnstiftende Funktionen hätten übernehmen können. Als nach einer Phase relativer Konsolidierung zwischen 1924 und 1928 die wirtschaftliche Konjunktur nachließ, bei fallenden Löhnen die Arbeitslosigkeit stieg, begann zunächst auf dem ökonomischen Sektor ein neuer Machtkampf, dem wiederum große Teile des Mittelstandes zum Opfer fielen, sei es, daß sie Kartellen oder anderen organisierten Marktführern keine Konkurrenz mehr bieten konnten, sei es aufgrund der als Folge der Massenarbeitslosigkeit schwindenden Kaufkraft. Gleichzeitig gelang es den Unternehmern, sich vor dem Reichsarbeitsgericht von dem staatlichen Schlichtungsverfahren zu befreien, weitere Soziallasten abzulehnen und stattdessen eine konsequente Deflationspolitik zu fordern, die dem Staat die volle Last der Wirtschaftskrise überantwortete. Die wirtschaftliche Lage mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen forderte damit ein politisches System, das sich seit seinem Bestehen nicht wirklich hatte konsolidieren können. Während von den acht Reichstagen der Weimarer Republik keiner über die volle Zeit der Legislaturperiode amtierte, von den insgesamt 21 Kabinetten immerhin 14 Minderheitskabinette waren, lösten sich in der Zeit von 1928 bis einschließlich 1932 sieben Kabinette ab. Seit dem 30.3.1930, dem ersten Kabinett Brüning, regierten sie ohne parlamentarische Bindung, vom Vertrauen des Reichspräsidenten getragen, mit Hilfe des Artikels 48 WRV. Die Installierung des Kabinetts Brüning zeigte, daß außerparlamentarische Kräfte zu dieser Zeit in Deutschland in der Lage waren, am Parlament vorbei eine von diesem nicht kontrollierbare Exekutive bilden zu lassen.
0.2. Helmuth Plessner und earl Schmitt
13
Diese Skizze der konkreten historischen Situation ist für den weiteren Verlauf der Arbeit mitzubedenken, als konkrete Problemlagen, auf die theoretische Aussagen als konkrete Antworten bezogen werden. Denn in diesen Kontext fallen die Orientierungsmodelle Helmuth Plessners und earl Schmitts.
0.2. Helmuth Plessner und earl Schmitt Da Plessner keine ausgearbeitete Staatstheorie, Schmitt keine explizite Anthropologie anbieten, scheinen ihre gegenseitigen Verweise als Möglichkeiten wechselseitiger Ergänzung auf den ersten Blick plausibel, sagen allerdings noch nichts über Grade der Konkretheit, Intensität und systematischen Stellenwert aus. Tatsächlich ist der theoretisch-literarischen Wahlverwandtschaft zwischen dem Philosophen Helmuth Plessner und dem Staatsrechtler earl Schmitt bislang noch nicht systematisch nachgegangen worden. Dies aber kann nicht an einer Unverträglichkeit zwischen den beiden Theoriekonzeptionen liegen, so daß die gegenseitigen Verweise nur als Selbstrnißverständnis oder fa~on de parler aufzufassen wären. Ebenso fragwürdig wäre die Behauptung der Irrelevanz des Themas, weil von den Autoren immerhin die Vorlage einer stringenten Argumentation von der kleinsten bis zur größten Einheit, vom Individuum bis zu seiner politischen Organisation im und durch den Staat, prätendiert wird. Verfolgt man die gegenwärtige Neokonservatismusdiskussion und den Stellenwert, den in ihr die Aussagen der Soziobiologie einnehmen, läßt sich das Weiterbestehen eines (konservativen) Interesses an der Möglichkeit eines derartigen Argumentationskontinuums gut belegen. Der Rezeptionswiderstand leitet sich denn wohl auch eher aus dem höchst unterschiedlichen Verlauf beider Biographien her. earl Schmitts eindeutige Stellungnahmen für Formen eines autoritären Etatismus während der Weimarer Republik, seine aktive Akkomodation an den Nationalsozialismus, die ihn bis zu panegyrischen Verklärungen des nationalsozialistischen Regimes und seines Führers trieben, haben seinen Ruf als "Kronjuristen des III. Reiches" (W. Gurian l ), an dem als "Zweihundertprozentigem" nach 1933 an der "Rechtsfront" niemand vorbeigehen konnte, der im Bereich des Staatsrecht etwas werden wollte (0. Koellreutter 2), gefestigt. Dies führt dazu, daß offenbar jedem, der sich auf den Versuch einer produktiven Umsetzung der von Schmitt in den I Diese griffige Formel stammt von Wa/demar Gurian: earl Schmitt, der Kronjurist des III. Reiches. Zit. nach: Heinz Hüften (Hg.): Deutsche Briefe 1934-1938. Ein Blatt der katholischen Emigration. Nachdruck in zwei Bänden, Mainz 1969, Bd. I, S. 52 fr. 2 Otto Koellreutter. zit. bei Walter Jens: Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik (1977), München 1981 (dtv), S. 335; wobei zu bedenken ist, daß O.K. zu den "völkischen" Kritikern earl Schmitts gehörte.
14
o. Einleitung
Jahren der Weimarer Republik formulierten Theoreme einläßt, per se Formen demokratischer Immunschwäche unterstellt werden, ein Verdikt, zu dem das Bild Helmuth Plessners nicht paßt. Während Schmitt in den ersten Jahren der Nazidiktatur Karriere machte (Ernennung zum Preußischen Staatsrat, etc.), sah sich der Halbjude Plessner gezwungen, vor den Selektionsmaßnahmen des Regimes, dem Schmitt nun diente, über die Türkei in die Niederlande zu emigrieren, von wo aus er, auch dort durch die deutsche Besetzung der Niederlande gefährdet, erst nach Kriegsende zurückkehren konnte. Doch die anerkennende Würdigung des persönlichen Schicksals und Wirkens sollte nicht dazu führen, intellektuelle Denksperrzonen zu errichten und stillschweigend zu konservieren, die Erkenntnismöglichkeiten aus Bedacht vor interessierter Denunzierung abbrechen, während zugleich in zunehmendem Maße Schmitts Schriften als bedenkens werte Einsichten zur Analyse politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in der Bundesrepublik herangezogen werden. So nehme ich denn die Diskrepanz der Karrieren und die Kongruenz einer Vielzahl relevanter Theoreme zum Anlaß, Plessners Selbstverständnis von einer politischen Anthropologie auf ihren Ansatz, ihre Argumentationen und Intentionen zu befragen. Daher versteht sich die folgende Arbeit als notwendigen Beitrag zur Ergänzung des historischen Bildes der Arbeiten Helmuth Plessners und Carl Schmitts innerhalb der Geschichte der Philosophischen Anthropologie und Politischen Philosophie während der Weimarer Zeit. Während Carl Schmitts Schriften zu dieser Zeit bereits in Kreisen politisch engagierter Intellektueller über den Rahmen seines Faches hinaus bekannt waren, ehe er mit dem "Begriff des Politischen" (1927) u.v.a. als Prozeßvertreter des Reiches im Prozeß "Preußen contra Reich", vulgo "Preußenschlag" , 1932 für eine breitere Öffentlichkeit in Erscheinung trat, ist Helmuth Plessners wissenschaftliche und publizistische Ausstrahlung in dieser Zeit eher gering zu nennen. Nach eigenen Worten 3 traf dabei sein anthropologisches Hauptwerk, "Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie", nach einigen vorangegangenen publizistischen Ungeschicklichkeiten ein doppeltes Mißgeschick. Zum einen fiel die Veröffentlichung mit Max Schelers "Die Stellung des Menschen im Kosmos" zusammen, zum anderen mit Heideggers "Sein und Zeit", das Plessner ebenfalls auf das Jahr 1928 datiert. Folgenreicher war sicher das zeitliche wie thematische Zusammentreffen mit Schelers Schrift, waren doch zudem beide an demselben Institut in Köln, so daß schon allein aufgrund des Alters- und Prominenzgefälles zwischen ihnen die "Lektüre eines spröden Textes" (Plessner), eben der "Stufen", durch die wissen3 Helmuth Plessner. in: Philosophie in Selbstdarstellungen I, hrsg. v. Ludwig J. Pongratz, Hamburg 1975 (Meiner Verlag), S. 269-307: 282,285 f., 287 f.
0.3. Vorüberlegungen
15
schaftliche Rezeption weitgehend entfiel 4• Daß weiterhin sowohl die "Einheit der Sinne" (1923) als auch die "Stufen" (1928) ihre zweite Auflage erst in den 60er Jahren erlebten (1965 bzw. 1963), die 1924 publizierten "Grenzen der Gemeinschaft" gar erst 1972 als Verla~gabe zu Plessners 80. Geburtstag wieder aufgelegt wurden, mag als Beleg gelten. Was also kann das Interesse an der Behandlung zweier derart unterschiedlicher Autoren heute noch wecken? Die Möglichkeit des Einblickes in ein historisches Stück Fach- und Theoriepolitik und die damit aufgeworfene Frage nach ihrer möglichen heutigen Relevanz. Denn hier gilt, was oben über den Zusammenhang von Krise und Unsicherheit gesagt wurde. Die hier in Rede stehenden Publikationen Plessners und Schmitts versuchen, ihre Analyse der Weimarer Situation mit den fachwissenschaftlichen Mitteln ihrer Disziplinen theoretisch aufzubereiten, um ihre Ergebnisse über ihre intendierten Adressaten praktisch werden zu lassen. Dabei gewinnt der Zeitraum der Weimarer Republik, die Schreibanlaß und gesellschaftliche Voraussetzungssituation zugleich ist, für die Autoren funktional katalysatorische Kraft. Das heißt, die realen Rahmenbedingungen lassen in ihrer krisenhaften - und als solche auch empfundenen - Zuspitzung Strukturen und Probleme von Orientierungserfordernissen, Legitimationsanforderungen und Selbstverortungen deutlicher als zu Zeiten (relativ) unangefochtener Ordnung zutage treten. Wenn man dabei bedenkt, daß es für eine demokratische Neuordnung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland weder ein theoretisches noch praktisches Vorbild gab, wird deutlich, daß unter diesen Bedingungen ,öffentliche Weltauslegung' auf theoriegeleitetes praktisches Handlen abzielt.
0.3. Vorüberlegungen
Philosophische Anthropologie, insbesondere als ,politische Anthropologie' (Plessner), ist auch als Teil der erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen zu verstehen, die sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert aus der Philosophie ausdifferenziert haben. Inhaltlich und personell steht sie in Wechselwirkung zur Soziologie, die sich zu dieser Zeit zu institutionalisieren begann. Dies ist nicht nur an Themata und Kategorien Plessners zu sehen (wie Takt, Diskretion, Rolle, Schauspieler, Spiel, Form usw.), die lange vor ihm der Soziologe und Philosoph 4 Unter diesem Aspekt lese man Plessners Darstellung der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses, in: Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in den deutschen Universitäten (1924), hier in: Ders.• Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie (1966) Frankfurt a.M. 1974 (Suhrkamp), S. 121-142: 130 f., 137.
16
o. Einleitung
Georg Simmel behandelte. Entscheidend vielmehr ist, daß die philosophische Anthropologie der frühen 20er Jahre an die soziologischen Ansätze eines Durkheim, Weber und Simmel anknüpft, die sich bemühten, die Regeln der Vergesellschaftung evolutionär, aufgrund physisch-psychologischer Bedingungen der Menschen zu erklären. Ging der Soziologie dieser doppelte Ansatz um die Jahrhundertwende verloren, so wird er konstitutiv für die frühe philosophische Anthropologie, indem sie den freigewordenen Platz mit ihren Mitteln zu besetzen)mcht. Ihre Wende zur Lebenswelt ist eine Zuwendung zur Gegenwart. Ihr Anspruch, zu dem Selbstaufklärungsprozeß des Menschen über sich und "seine Stellung in der Welt" beitragen zu können, ist der von der zweiten Soziologengeneration im Deutschland der 1890er Jahre aufgegebene Ganzheitsanspruch. Mit diesem Erbe reklamiert die philosophische Anthropologie den Anspruch, Aussagen über die politisch-gesellschaftliche Gegenwart zu machen. Darin trifft sie sich mit der politischen Theorie, die als philosophische Politologie, Staatsoder Rechtsphilosophie Ordnungsstrukturen beschreiben, analysieren, kritisieren und empfehlen will, die am Maßstab ihrer möglichen Effizienz für ein reibungsloses Funktionieren der Gesellschaft und ihrer politischen Organisation, dem Staat, ausgerichtet sind. Philosophische Anthropologie ist politisch. Denn alle Aussagen über den Menschen, seine Beschaffenheit, seine Erfordernisse, Möglichkeiten, Grenzen und Zwänge sind bereits politisch, ehe sie auf Bereiche politischer Theorien oder politischen Handeins explizit bezogen werden. Die Zuwendung zum Menschen selbst ist politisch. Denn dieser kann/muß im Zuge der Durchrationalisierung und Enthypostasierung metaphysischer Weltbilder sich selbst als Subjekt seiner Handlungen verantwortlich sehen. Diese Verantwortung verbleibt nicht abstrakt, theoretisch und allgemein, sondern ist konkret, praktisch, die eines konkreten Menschen unter konkreten, d.h. bestimmbaren historischen, also veränderbaren Bedingungen in konkreten Gesellschaften. Ist somit die Zuwendung der philosophischen Anthropologie zur Gegenwart bereits selbst eine politische Tat, so sind Aussagen zu und über die in ihr lebenden Menschen politische Aussagen. Denn in ihrem Ganzheitsanspruch, Aussagen über den Menschen als eines Natur- und zugleich historischen Wesens und seiner ihm adäquaten Lebensumstände zu treffen, sind in die deskriptiven Aussagen normative Elemente eingelagert. Die empirische Gegenwart wird mittels eines philosophischen Paradigmas einer Qualitätskontrolle unterzogen. Indem philosophische Anthropologie sagt, wie der Mensch ist, sagt sie zugleich, wie er sein sollte. Indem sie ihre Aussagen auf seine Lebensumstände ausweitet und aus seinem Leistungsaufbau ableitet, sagt sie zugleich, wie diese sein sollten. Indem sie sich an selbstverantwortlich handelnde Individuen wendet, intendiert sie eine aktive Umsetzung ihrer philosophisch-moralischen Aussagen. Das heißt: Öffentliche Welt- als Selbstauslegung intendiert eine theoretische Einflußnahme
0.4. Thesen; Aufbau der Untersuchung
17
auf die praktische Gestaltung einer konkreten Gesellschaft durch ihre Adressaten. Dem von ihnen behandelten Gegenstandsbereich gehören die Autoren selbst an. Dieses Verhältnis mag reflektiert distanziert oder projektiv affirmativ sein. Es erlaubt jedenfalls, im wechselseitigen Aufeinanderbeziehen Erkenntnisse über Anlässe und Funktionen der theoretischen Konzepte, aber auch über die Position ihrer Verfasser in ihrem politischen und geistesgeschichtlichen Kontext zu gewinnen, die, zu sich in einem doppelten Verhältnis stehend, sich selbst verorten müssen.
0.4. Thesen; Aufbau der Untersuchung
Diese Orientierungsangebote sind also als Antworten auf gegenwärtige Problemlagen anzusehen. Dabei sind im Rahmen einer politischen Anthropologie die anthropologischen Aussagen als vorgelagerte und fundamentale Argumentationsebene zu betrachten, durch die und vor der eine politische Theorie ihre Legitimation erbringen muß. Carl Schmitts Politische Theorie bedarf einer anthropologischen Fundierung, der Helmuth Plessners Theorieangebot in ihrem Design hinlänglich genau entspricht. Entsprechendes gilt für Plessner. Denn Plessners anthropologischer Ansatz faßt den Menschen als einen sich selbst individuierenden Solipsisten mit einer prekär dynamischen psychophysischen Struktur. Um seine Identität zu wahren, bedarf dieser Formen permanent zu vollziehender, selbstbewußter Bindung sowie selbstbehauptender Abwehr. Dies führt Plessner zu der Konstruktion eines politisch-gesellschaftlichen Bildes kompetitiver Einzelner, die zur Wahrung ihrer Persönlichkeit des unvermittelten Gegengewichts einer überpersönlichen Macht bedürfen. Carl Schmitts politische Theorie eines souverän exekutivischen Etatismus befriedigt in ihren ordnungspolitischen Strukturen diese anthropologisch begründete Notwendigkeit eines hypostasierten Staates. So werde ich im folgenden zeigen, daß beide Theoriekonzepte in ihrem politischen Kontext als ein Argumentationskontinuum gelesen werden können, weil die die Argumentation tragenden Kategorien über ihren jeweiligen Stellenwert hinaus eine sozialanthropologische Ambivalenz aufweisen, die sie dem jeweiligen anderen Konzept kongenial anschließen lassen. Daß diese Anschließbarkeit theoretisch vermittelt ist, werde ich durch die Analyse der sie tragenden Argumentationsstrategien und -strukturen nachweisen. Ferner werde ich zeigen und belegen, daß die auf die Ebenen philosophischer Anthropologie und politischer Theorie übersetzten Rezeptionen politischer und gesellschaftlicher Realität in ihre Elemente isoliert und neu arrangiert werden. Durch Serien begriffspolitischer Operationen wird ein Verweisungszusammen2 Kramme
18
O. Einleitung
hang konstruiert, innerhalb dessen die exzerpierten Kategorien durch Neubewertung, Stärkung oder Schwächung ihres Stellenwertes innerhalb des Konzeptes, Radikalisierung ihrer Definition oder begriffshistorischen Rekurs für eine gezielte Neustrukturierung des politischen Feldes flexibilisiert werden. Exemplarisch sei hier auf die Anthropologisierung und Hypostasierung der Entscheidungskategorie verwiesen, deren absoluter Stellenwert als Ergebnis derartiger Operationen auf anthropologischem wie politischem Theoriefeld es zum Schluß völlig stimmig erscheinen läßt, die Konstituierung einer diktatorischen Exekutive innerhalb eines - nun allerdings völlig umstrukturierten - Demokratiekonzeptes einzufordern. Mit diesen begriffspolitischen Operationen werden nicht nur "Begriffe und Positionen" strategisch neu besetzt. Sondern mit diesen Formen von Theoriepolitik wird versucht, Akzente neu zu setzen, Haltungen und Handlungen gezielt zu verändern und so über ein verändertes Selbstverständnis von Politik, ihren Bedingungen und Zielen, auf praktisch politisches Handeln selbst einzuwirken. Getragen werden diese Neukonzeptualisierungen von einem deutlichen Mißtrauen in die Lebens- und Leistungsmöglichkeiten einer parlamentarisch repräsentativen Demokratie. Bei Carl Schmitt nährt sich dieses vornehmlich aus der Diagnose parlamentarischer Lähmung exekutiver Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten. Plessner wiederum deduziert es der Sache, nicht dem Begriffe nach, wenn er dem anthropologisch begründeten psychophysischen Distanzbedürfnis das soziale Phänomen organisationsfähiger Solidarität entgegenstellt und diese als Bedrohung bzw. Verletzung individueller Identität versteht. Zugleich leitet er aus dem individuellen Autonomiestreben die Unwahrscheinlichkeit konsensueller Verständigung über soziale Prozesse ab, eine Folgerung, die auch der Beobachtung parlamentarischen Lebens in der Weimarer Republik abgerungen sein könnte. Im Hinblick auf seinen Entwurf einer politischen Anthropologie werde ich ferner die These vertreten, daß Plessners Orientierungsangebot an das gebildete, zu kollektiven Durchsetzungsstrategien sozial nicht fähige Bürgertum dessen mentale, soziale und politische Situation auf die anthropologische Ebene verallgemeinert, die partiellen Erfahrungen als abstrakt universale reflektiert und diese zum Maßstab der Neustrukturierung des politischen Feldes macht. Dabei wird der empirisch sozial Einzelne in die philosophische Kategorie des Autonomie wahrenden Individuums transponiert. Die Verbindung zu Carl Schmitt zeigt dabei, daß dieses innerhalb des Demokratiekonzeptes, dessen Beibehaltung als Legitimationsgrundlage unerläßlich scheint, möglich ist und als kategoriale N eustrukturierung die Ausschaltung konkurrierender (Theorie-)Ansprüche erlaubt. Die These behauptet damit die ideologische Funktion der politischen Anthropologie Plessners. Jene kann, weil sie Gesellschaft nur als Summenphänomen vereinzelter Individuen faßt, aufgrund des ihr eigenen systematischen Argumentationsbruches sowohl als Legitimationsgrundlage der Notwendigkeit von Herrschaftsunterworfenheit als auch als Anthropologie des souverän Herrschenden verstanden werden. Dieser Hiatus bezeichnet exakt die SystemsteIle, an der
0.4. Thesen; Aufbau der Untersuchung
19
Schmitts politische Theorie einsetzt, weil sie die Plessner nicht theorieimmanent mögliche Erklärungsleistung des Zusammenhanges von politischer Herrschaft und politischer Neutralisierung von sich politisch verhaltenen Individuen in einer Gesellschaft formuliert. Um das heuristische Leitthema nicht als methodische Fragen kurzzuschließen, setzt die Untersuchung an den immanenten Strukturen der Theorien selbst an. Dies verhindert das Aufgehen in ein borniertes Registrieren von Abweichungen oder Übereinstimmungen und läßt sich stattdessen auf die Sache selbst ein. Es erlaubt, den Argumentationsstrukturen und -strategien zu folgen, ihren Veränderungen und ideen- wie realgeschichtlichen Voraussetzungen nachzugehen. Dabei können Konstituierungen und Variationen, aber auch die Funktionalisierung der Kategorien, die als Kristallisationskerne der Theoreme fungieren, in ihrem Kontext entfaltet und so kritisiert werden. Dies bedeutet, die begriffshistorischen Zusammenhänge und die begriffspolitischen Verwendungen in ihrem Verweisungszusammenhang aufzuschließen. Die auf diese Weise zu gewinnenden Einsichten in die Strukturen der jeweiligen Theoriekonzepte, insbesondere ihrer inhärenten Verweisungen innerhalb des Argumentationskontinuums, heben die relativen Nachteile eines deskriptiven Verfahrens, v.a. die notwendige Ausführlichkeit der Darstellung relevanter Sachverhalte, im Ergebnis auf. Aus systematischen Gründen liegt der Schwerpunkt der Arbeit aufPlessners Versuchen eines Entwurfs politischer Anthropologie, die als Versuch einer anthropologischen Begründung von Politik dieser vorgelagert ist. Da ich von einer allgemeinen Kenntnis der Schmittschen Theorie, wenngleich nicht in ihrem systematischen Zusammenhang, ausgehen kann, Plessners "Grenzen" und "Macht" hingegen weitgehend "weiße Flecken" in der Rezeptionsgeschichte sind, werde ich mich relativ ausführlicher mit ihnen beschäftigen. Der Textkorpus wird dabei von den gegenseitigen Verweisen der Autoren begrenzt. Dabei werden allerdings Plessners naturphilosophisch-erkenntnistheoretische Schrift über die "Einheit der Sinne" wie auch Schmitts überwiegend fachjuristische Arbeiten nicht berücksichtigt. Um den Thesen nachzugehen, sie zu überprüfen und innerhalb ihres Kontextes ggf. zu plausibilisieren, beginne ich mit der Untersuchung der Plessnerschen Schriften. Da in ihnen, im Gegensatz zu Schmitt, eine Entwicklung festzustellen ist, empfiehlt es sich, der Chronologie der Arbeiten zu folgen. Dagegen werde ich zeigen, daß die entscheidenden systemkritischen Theoreme Schmitts, die ab 1927/28 massiv in den Vordergrund rücken, der Sache nach in noch nicht konzentrierter Form bereits vor dem Erscheinen von Plessners "Grenzen" vorlagen. Daraus ziehe ich zwei Konsequenzen: Zum einen erlaubt die Textlage den wechselseitigen Bezug der Theorien und Theoreme. So läßt sich z.B. an Plessners Amalgamierung der Schmittschen Souveränitätsformel bereits in den "Grenzen" die entscheidende Frage stellen und beantworten, ob Plessners Rekurs auf dieses Theorem am Maßstab seiner Argumentation angemessen ist, welche Ziele damit verfolgt werden könnten und umgekehrt, ob es sich um die eklektizistische Zitie2"
20
o. Einleitung
rung einer griffigen Formel oder tatsächlich um die Einarbeitung eines Theorems handelt. Weiterhin vermag ich dadurch, auf eine chronologische Behandlung der Arbeiten Schmitts zu verzichten und sie stattdessen in ihren systematischen kategorialen Bezügen kompakt darzustellen und zu behandeln. In dieser kondensierten Form wird sich konzentriert überprüfen lassen, ob der umgekehrte Bezug Schmitts auf Plessner, dessen hier zu behandelnde Arbeiten zu jenem Zeitpunkt ebenfalls vollständig vorliegen, der Sache und der Intention nach gerechtfertigt ist. In diesem Sinne bilden Plessners "frühe Aufsätze" im 1. Kapitel eine Art Prolog. Diese bislang unbeachtet gebliebenen öffentlichen Äußerungen zu Politik und Zeitgeschehen stehen anfangs noch ganz im Geiste akademischer Politikberatung und der neukantianisehen Trennung von praktischem Leben und Theorie als interesselosen Forschens. Doch läßt sich in Plessners Äußerungen nach Gründung der Republik, in seinen Appellen zu einer Verwissenschaftlichung der Politik zur Staatskunst und zum politischen Engagement der "Geistigen" bereits die Standortsuche im Verhältnis zu Politik und Gesellschaft erkennen. Ist der Einfluß Max Webers, den Plessner persönlich kannte und schätzte, in diesen ersten Versuchen noch unverkennbar, so bedeuten die "Grenzen der Gemeinschaft" in jeder Hinsicht eine deutliche Zäsur. Mit ihnen versucht Plessner, seine o.g. Appelle selbst praktisch einzulösen. Das heißt, nicht mehr unter Rekurs auf das (ohnehin geschwundene) Sozialprestige der Repräsentanten des Geistes, sondern mit fachwissenschaftlichen Mitteln sollen Krisensymptome der Zeit behandelt und das Ergebnis als Orientierungswissen von den Rezipienten praktisch operationalisiert werden. Ich werde dabei zeigen, daß mithilfe der Kategorien des zugrundegelegten Konzepts einer "Philosophie des Psychischen" das praktisch bestehende, durch Klassenantagonismen strukturierte Politikfeld radikal umgeordnet und neu vermessen wird. Im Namen eines anthropologisch fundierten und auf dieser Grundlage neu konzipierten "Gesellschaftsethos" wird so eine Legitimationsgrundlage für die moralisch neutrale Verfolgung egoistischer Interessen und eine diese schützende souveräne Exekutive konzipiert. Plessners Adressaten 1, die nicht gewerkschaftlich oder wirtschaftlich organisationsfähigen sozial Einzelnen, werden innerhalb des Theoriekonzeptes zu den anthropologisch legitimierten Trägem bestimmter politischer Formen des Handelns und Verhaltens. Die Rückübersetzung von Politik in anthropologische Kategorien, die innerhalb eines anthropologischen Konzepts neu geordnet wiederum auf das politische Feld transponiert werden, das nun seinerseits Züge des klassischen Wirtschaftsliberalismus annimmt, läßt Schmitts SouveränitätsI Auf die wirtschaftliche, politische und mentale Lage der Adressaten habe ich in 0.1 hingewiesen.
0.4. Thesen; Aufbau der Untersuchung
21
theorem theorieimmanent notwendig werden. So ergänzt und legitimiert sich die politische Kategorie als anthropologisch geforderte. Ich nehme diese Ergebnisse als Belege für meine Thesen und wende mich Plessners nächstem Schritt zu, indem ich im dritten Kapitel die "Stufen des Organischen" und "Macht und menschliche Natur" zusammen behandele. Die "Stufen", die als "Einleitung in die philosophische Anthropologie" untertitelt sind, bilden insofern einen Neuansatz, als das Konzept der "Positionalität" sowohl eine systematisch kategoriale Präzisierung der bereits in den "Grenzen" gemachten anthropologischen Aussagen erlaubt als auch eine erkenntnistheoretisch hermeneutische Begründung der Bedürfnisse und Leistungsfahigkeit des Menschen als kulturbestimmendes und -bestimmtes Wesen. Was Plessner wiederum nicht gelingt, ist, innerhalb des Zusammenhanges von Exzentrizität und Expressivität ein Konzept von, im engeren Sinne, sozialer Interaktion einzubringen. Damit bleibt sein anthropologisches Konzept aber letztlich einem Bild des Menschen als Solipsisten verhaftet, der wohl in einem aktiven Verhältnis zu der ihn umgebenden Natur und Kultur stehend auf diese einzuwirken und sie nach seiner Maßgabe zu verändern sucht, dessen sozialer Austausch im Verhältnis zu seinem Mitmenschen aber in abwehr bereiter Selbstbehauptung verharrt. Die in den "Stufen" entwickelten Kategorien bilden die Anatomie des Verhältnisses von "Macht und menschlicher Natur". Jene Arbeit, die sich als Fortsetzung und Ergänzung der "Grenzen" versteht, demonstriert auf der Grundlage der "Stufen" und unter Zuhilfenahme der Diltheyschen Hermeneutik die sozialanthropologische und damit auch politische Ambivalenz der Plessnerschen Kategorien. Die erkenntnistheoretisch anthropologische Exzentrizität und die mit ihr gegebene Offenheit des Menschen erfordern nach Plessner nicht nur das Ausnutzen von "Möglichkeiten", sondern ebenso die selbständige und selbst bewußte "Bindung", um das Leben führen zu können. Die "Dynamik" des Lebens stellt sich als unübersehbare Folge von "Situationen" dar, denen, weil Naturdeterminanten fehlen und metaphysische Weltbilder obsolet geworden sind, durch selbstbewußte "Entscheidung" begegnet werden muß. Die als anthropine Kategorie eingeführte Entscheidung führt durch die Notwendigkeit der Selbstbindung und Verteidigung selbsterwirkter Einseitigkeit zu einer Anthropologisierung der Schmittschen Politikdefinition als Freund-Feind-Verhältnis. Abgrenzung zur Identitätssicherung wird damit zum expliziten Sinn des Politischen, Entscheidung zu einem anthropinen Wert an sich, verstanden als Antwort auf den Situationsdruck eines dynamischen Lebens. Politik wird so bestimmt als Selbstbestimmung durch perennierende Grenzziehung im individuellen wie überindividuellen Leben, zu deren Durchsetzung der Mensch die "Macht" hat und gebraucht, um am Leitfaden der "Haltung" "Entscheidungen" zur Sicherung der "Identität" des "Eigenbereiches" zu treffen und auch gegen Widerstände durchzuführen. Tatsächlich zeigt die Analyse dieses Zusammenhanges mittels der von Plessner definierten Kategorie
22
o. Einleitung
"Zeit", daß das von ihm beschriebene Politikverhalten sich in "große" und "kleine" Politik differenziert, d.h. die beschriebenen Notwendigkeiten "politischen" Verhaltens eine verständnisvolle "Haltung" für Notwendigkeiten, Handlungen und Formen "großer" Politik prädisponieren. Dabei wird die Ausübung der individuellen Politikkompetenz durch die Einbindung des Individuums in sein "Volk" als Möglichkeitsgrund und Horizont seiner Lebensführung gebrochen. So steht es unter einem Primat der Einheit, die zugleich vorausgesetzt als auch permanent herzustellen ist. Eben diese Sicherung und Mehrung des Eigenbereiches ist Politik. Plessners "Macht und menschliche Natur", die sich an die politischen Erzieher wendet, reagiert damit auch auf die zunehmende Anonymisierung und Abstraktheit der deutschen Innenpolitik (siehe 0.1). Sie bietet vielfältige Belege für meine These, daß mittels begriffs politischer Operationen auf der Theorieebene praktische Politik durch Veränderungen von Haltungen, Einstellungen und entsprechenden Bewertungen initüert werden soll, die im Falle ihres Erfolges zu faktischen Veränderungen politischen Handelns und Verhaltens führen könnte. Kurz: Intendiert ist eine Veränderung der tatsächlichen politischen Situation. Ein Musterbeispiel hierfür ist earl Schmitts politische Theorie, die ich zum Schluß behandeln werde. Stellt Plessners Entwurf einer politischen Anthropologie kongenial die notwendige Ergänzung Schmitts dar, so Schmitt die Plessners im Sinne einer politischen Handlungstheorie im makrosozialen Rahmen. Plessners Ausführungen lassen sich als notwendige anthropologische Erläuterungen der Schlüsseltheoreme Schmitts lesen und umgekehrt. Beide Theorien bilden zusammen also ein Argumentationskontinuum, ohne ineinander aufzugehen. Ausgehend von der Diagnose, die Demokratie sei die Politische Theologie dieses Zeitalters, damit aber als herrschende Legitimationsvorstellung unverzichtbar, löst Schmitt die sie tragenden Kategorien in ihre Elemente auf, definiert sie neu, weist ihnen veränderte Stellenwerte zu und kommt im Ergebnis zu einem neu strukturierten Tableau bekannter Kategorien, das die Diktatur als vollendeten Ausdruck der Demokratie zeigt. Ich werde zeigen, daß die bei Plessner in die anthropine Struktur verankerte Kategorie der "Abstandnahme", die sich sozialempirisch als anthropologisches Distanzbedürfnis manifestiert und als politisches Handeln die Vertrauens- und Mißtrauenssphären definiert, in Schmitts Theorie die implizite systematisch organisierende Kategorie ist. Im Ergebnis erweist sich damit die anthropologisch begründete Emphatisierung des Politischen im Rahmen einer Massendemokratie als Legitimation politischer Neutralisierung der Vielen und der politischen Herrschaftsausübung einer Elite.
1. Helmuth Plessners frühe politische Aufsätze Schon früh hat sich Helmuth Plessner in Publikationen des Themas "Wissenschaft und Politik" angenommen. Dabei verläßt er weder in Stil noch Topoi die Tradition akademischer Politikberatung 1• Im Gestus der Distanz zur Tages- und Parteienpolitik werden vom (geistes-)wissenschaftlichen Standpunkt her die politischen Grundfragen der Gegenwart erörtert und dabei ein Konstrukt formuliert, dem es sich - bei aller expliziten Abwehr idealistischer Traditionen strebend zu nähern gilt: dem Konstrukt "reiner" Politik als einer "Staatspolitik" , die fernab der Niederungen partikularer Interessenverfolgungen sich als "Staatskunst" verwirklichen möge (z.B. Pol.Erz.: 150 f.; Pol.Kultur: 7/1 *). Diese Aufsätze sind belangvoll, weil sie in der Retrospektive als Vorbereitungen der Hauptschriften über die "Grenzen der Gemeinschaft" und "Macht und menschliche Natur" gelesen werden können. Sie illustrieren das Feld und die Topoi, die Plessners politische Anthropologie zu erfassen suchen wird. Es gilt, einen neuen Begriff von Politik zu definieren, sie als Kulturaufgabe in das Bewußtsein zu heben. Dazu wendet sich Plessner zum einen an die "Geistigen", Politik nicht denen zu überlassen, die sich ohnehin mit ihr beschäftigen, den Politikern und organisierten Interessenvertretern (s.a. später, GdG: 30 f., M: 361 f.). Hiermit korrespondiert zum anderen das zentrale Interesse an einer politischen Erziehung, die entsprechend dieser Neufassung des Politischen die ihm zuzuordnenden Werte und Einstellungen, also eine ihm angemessene Haltung vermittelt. Überblickt man den hier zu Diskussion stehenden Textkorpus der Schriften Plessners, läßt sich ein interessantes Oszillieren seiner Einschätzung des Politischen feststellen: Von der fraglosen Anerkennung als eines gesonderten Bereiches von Fachleuten zu einem Metier erlernbarer technischer Fertigkeiten (Politik als Beruf), zurück zu einer exklusiven Kunst, die neben diesen Fertigkeiten das persönliche gewisse Etwas benötigt, um als "Staatskunst" zu wirken, schließlich die Verankerung von Politik als Lebensgebiet jedes Menschen - ob er wolle oder nicht -, auf dem es allerdings wiederum besonders begabte Spezialisten gebe ..
I Siehe zum Thema "geistesaristokratischer Politikberatung" (Vom Bruch) Käsler: 275-278, 536 und meine Einleitung. * Folgende Aufsätze Plessners werden herangezogen (zur Bibliographie: siehe Literaturverzeichnis): Vom abendländischen KulturbegrifT (1916), Die Untergangsvision und Europa (1920), Politische Kultur (1921 a), Universität und Staatsinteresse (1921 b) und Politische Erziehung in Deutschland (1921 c). Die Schriften Plessners und Schmitts werden künftig in Abkürzungen zitiert; zu Bibliographie und Abkürzungen siehe Literaturverzeichnis.
24
1. Helmuth Plessners frühe politische Aufsätze
Die Kurzformel, "Politik als Beruf', erinnert nicht zufällig an Max Webers gleichnamigen Aufsatz. Gerade hinsichtlich des Komplexes "Politische Erziehung" lassen sich seine Einflüsse auf Plessner in dieser Zeit nicht verkennen. Das gilt auch für Plessners Aufsatz aus dem (Kriegs-)Jahr 1916, "Vom abendländischen Kulturbegriff - Anläßlich der Umbildung der Universität Konstantinopel". In diesem warnt Plessner, auf der Linie von Webers Arbeit über die Protestantische Ethik und ihrer Konsequenzen für die Herausbildung einer dem modernen Kapitalismus verbundenen Wirtschafts gesinnung, vor einem umstandslosen Applizieren europäischer (kapitalistischer) Wirtschaftsformen in dem durch den Islam geprägten Orient am Beispiel der Türkei (Kulturbegr.: 49 2). Für meine übergreifende Frage nach den Möglichkeiten der Selbstaufklärung und Selbstverortung in und mittels der Schriften Plessners und Schmitts ist es dabei wichtig zu sehen, von welchem Ausgangspunkt die Autoren kommen und welchen Weg sie zur Klärung der von ihnen exzerpierten Problemstände wählen und vorschlagen. Daher ist in diesem Aufsatz das von Plessner thematisierte Theorie-/Praxis-Problem von besonderem Interesse, weil es sich in modifizierten Formen durch alle entsprechenden Arbeiten Plessners zieht. Zu dieser Zeit befindet sich Plessner noch in völliger Übereinstimmung mit dem dominanten Neukantianismus und seinen Dualismen von Theoretiker und Praktiker, Ethik und Politik, Begriff und Leben, Vernunft und Handeln (Kulturbegr.: 45). Entsprechend münden sie in das praktische Handlungsmonopol des Politikers, insbesondere des regierenden als desjenigen, der Handlungen exekutiert, auf der einen Seite und der Wissenschaft und ihrer Institution, der Universität als Stätte interesselosen Denkens zur Erforschung der Wahrheit, auf der anderen Seite (Kulturbegr.: 52 f.). Die Frage, wie unter dieser Konstellation Theorie und Praxis zu vermitteln seien, sieht sich auf die verinnerlichten Maßstäbe des praktisch handelnden Politikers verwiesen 3 • Folglich läßt sich dies nur als Hoffnung, nicht als Forderung formulieren. Zugleich verteidigt Plessner den Primat der Praxis vor der Theorie (Kulturbegr.: 45), die sich der hier gemeinten politischen Praxis als nützlich erweisen muß, will sie von jener gehört werden. Das damit verbundene Dilemma läßt sich an Plessners aktuellem Anlaß demonstrieren. Ausgangspunkt ist die Frage, wie die Kooperation zwischen Europa und Islam gestaltet werden könnte, daß beide - aus der Sicht Europas: v.a. die europäischen Länder - daraus Gewinn ziehen können. Im Grunde genommen ver2 Auch hierin steht Plessner im Einklang mit Max Weber, siehe ders., Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart (Dezember 1915), in: ders., Gesammelte politische Schriften. 2., erw. Aufl.; m.e. Geleitwort v. Theodor Heuss neu hrsg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 1958 (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck». 3 In einem nur scheinbar ganz anderem Zusammenhang wird uns exakt dieses Problem in den Arbeiten von 1924 und 1931 unter dem Namen "Haltung" ausführlich beschäftigen. Geradezu vorbildhaft sind diese neukantianischen Exklusivierungen zu sehen bei Max Weber: Zwischen zwei Gesetzen, Februar 1916, in: ders., Ges.poI.Schr., 139-142: 142.
I. He1muth Plessners frühe politische Aufsätze
25
folgt Plessner einen recht modernen Gedanken: Wenn man kolonialisierte Gebiete nicht nur als Rohstoffquellen ausbeuten (siehe Kulturbegr.: 46), sondern sie zum Wohle der eigenen Wirtschaft zu Absatzmärkten und Handelspartnern der eigenen Waren heranziehen will, muß man sie in die Lage versetzen, den europäischen - und das heißt auch kapitalistischen - Ansprüchen zu genügen (Kulturbegr.: 46 f.). M.a.W.: Die aus dem protestantischen Arbeitsethos entwickelte Erwerbsgesinnung bedarf eines Pendants, soll es zu einem ökonomisch befriedigenden Austausch von Waren kommen (Kulturbegr.: 51 f.). Hier erweise sich die Notwendigkeit eines entsprechenden Wirtschaftsethos, das im jeweiligen Volk weit verbreitet und tief verankert sein müsse. Das rein Ökonomische bedarf zu seiner Legitimation der Auffüllung mit Sinn, sonst wirke es "entartend" (Kulturbegr.: 46). Aber der Versuch, mit einer "modernen Wirtschaftsform" zugleich "die ihr zugehörige Ethik gesondert mit transplantieren zu wollen", scheitere in der Regel an den kulturellen und religiösen Besonderheiten "in dem zu kolonisierenden Gebiet" (Kulturbegr.: 47). Hier nun setze die Arbeit der Wissenschaft an, ohne die der Wirtschaftler nicht weiterkomme: Man müsse erforschen, worin das Geheimnis des modernen Kapitalismus und des mit ihm verbundenen Wachstum der Geistes- und Naturwissenschaften für Europa liege. Denn: "Sieht man darin klarer, so gibt sich auch die Möglichkeit, das europäische Organisationswerk einem fremden Volksgeist einzufügen, ohne einen unheilvollen Kampf gegen sein Ethos und seine Religion aufnehmen zu müssen." (Kulturbegr.: 48)4
Damit aber tut sich das eigentliche Problem des Selbstverständnisses des Wissenschaftlers auf. Zum einen bedarf es eines wissenschaftlichen Hilfsdienstes, dessen Resultate durch Wirtschaft und Politik operationalisiert werden können. Zum anderen gilt es, die Autonomie der Wissenschaft zu wahren und ihre Funktionalisierung i.S. ihr fremder Interessen zu verhindern. Was hier noch als Gefahr extra muros geortet wird, wird wenig später in der Weimarer Republik als Problem der deutschen Universität empfunden. Deshalb erscheint es instruktiv, Plessners Selbstverortung von 1916 zu sehen: "Vollzieht sich die Mobilisierung des Volkes zur Arbeit nur unter dem Druck der Konkurrenzangst und Gewinnsucht, dann wird die Wissenschaft zum Mittel, und von einer inneren Erfassung europäischen Geistes kann nicht die Rede sein. Dazu werden wir aber die Universität als eine Anstalt um der Wahrheit willen niemals erniedrigt sehen wollen; sie muß unter allen Umständen die Ehre des interesselosen Denkens schützen. Die Wahrheit zu erforschen, - das ist zu motivieren ... " (Kulturbegr.: 52).
Durch den Kriegsverlauf und die Niederlage wird wenig später auch die Stilisierung der Universität als Elfenbeinturm und Hort reiner Wahrheit zutiefst fragwürdig. 4 Plessner schließt sich im übrigen den Ergebnissen Webers an (Kulturbegr.: 48-51), um zu folgern, daß die Motivierung der notwendigen Werkfreudigkeit eine kulturpolitische Aufgabe der Regierung sei - ggf. auch gegen den Klerus (Kulturbegr.: 52 f.); nb.: die Türkei war Bündnispartner Deutschlands während des WK I.
26
I. He1muth Plessners frühe politische Aufsätze
Was aber zunächst bleibt, ist diese indirekte Form der Politikberatung. Ihrer mag sich nun der Praktiker bedienen oder nicht. Von aktuellen Problemlagen ausgehend werden diese auf einer abstrakten Ebene grundsätzlich behandelt und die Ergebnisse der praktischen Ebene wieder angeboten, die hieraus Strategien entwickeln mag, die langfristiger und erfolgreicher zum angestrebten politischen Ziel führen mögen. Dieser Gestus der Distanz vom aufgeregten Tagesgeschehen, aus dem heraus, in einem weiten (geistesgeschichtlichen) Rahmen gestellt, dieses deutbar und auf seine Zukunftsträchtigkeit befragbar wird, findet sich denn auch in Plessners Aufsatz aus dem Jahr 1920, "Die Untergangsvision und Europa". In einem ideengeschichtlichen Aufriß der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter, stellt Plessner seiner Gegenwart die Diagnose. Dabei erweist sich der Aufsatz als Brückenschlag zwischen dem des Jahres 1916 und den "Grenzen" 1924, insofern zum einen die bereits vorgestellte Dichotomie zwischen Orient und Okzident die ideellen Pole markiert, zum anderen bereits hier die ideellen, sozialen und politischen Themata angeschlagen werden, die in den "Grenzen" das Gerüst der Argumentation bilden werden. Plessner schließt thematisch an eine Diskussion an, die bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begonnen wurde. Damals wurden als Probleme einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart v.a. die wachsende Bürokratisierung (Max Weber) und Mechanisierung des Sozialwesens (W. Rathenau; Tönnies) sowie die Frage, wie eine wachsende Massengesellschaft bei gleichzeitig sinkenden Glaubens- und Werteverbindlichkeiten geordnet bestehen könne, begriffen. Dilthey, den Plessner später als seinen Ahnherren für seinen Ansatz einer Philosophischen Anthropologie hervorheben wird (s.u.), erblickte als Konsequenz der wachsenden Glaubenslosigkeit v.a. die Unfähigkeit, "wirksame anti-revolutionäre, konservative Überzeugungen hervorzubringen 5." Damit hatte Dilthey rund ein Vierteljahrhundert vor Gründung der Weimarer Republik das in ihr fortlebende Legitimationsproblem klar angesprochen: Wie ist Herrschaft gegen massenhafte Partizipationsansprüche zu rechtfertigen, nachdem metaphysische Weltbilder als Legitimationsmodelle obsolet geworden sind? Plessner nun setzt an diesem Problemstand an, übersetzt ihn aber auf die kulturanthropologische Ebene. Sicher sei die "im Galopptempo der Amerikanisierung" sich vollziehende Industrialisierung und ihre Folgen erschreckend (Untergangsvision: 269), tiefer aber greife, "daß hier ein Ende droht aus menschlicher Verkümmerung, aus Mangel an Kultur, aus Mangel an Glaubef (ebd.). Seien Teile des Protestes 5 Leonhard von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begriffiicher Ursprung bei Hege!, Haym, Dilthey und Yorck. Göttingen (1963),2., durchges. Aufl. 1968 (Vandenhoeck & Ruprecht): 106.
1. Helmuth Plessners frühe politische Aufsätze
27
gegen die erschreckend wachsende Mechanisierung, Ökonomisierung des Lebens, Bürokratisierung und Nationalisierung und die Opposition gegen die Entartung des Menschen zugunsten des Betriebes auch verständlich (ebd.), so sei doch der Angriffspunkt falsch. Denn, ,,(d)er Untergang des Abendlandes ist eine Diagnose auf Grund des Symptomkomplexes der modernen Technik", diese aber ist unverzichtbar (Untergangsvision: 274; S.u. GdG!). Entsprechend falsch ist die Polarisierung in (gute) Kultur und (schlechte) Zivilisation, oder wie Plessner in den "Grenzen" diesen Faden wieder aufnehmen wird, in gute Gemeinschaft und schlechte Gesellschaft. Dies sei schlechte Romantik, die, "erbittert von der Härte des wirklichen Lebens, von dem ungläubigen, experimentellen Charakter unserer Kunst, von Intellektualismus, Spezialistentum, Überorganisiertheit, Merkantilismus und Glanzlosigkeit der neuen Republik, den Apparat der ganzen Weltgeschichte auf«-biete», um den Sterbenskeim in diesem verhaßten Kreis des verlorenen Krieges, der nicht funktionierenden Eisenbahn und der Massenstreiks zu beweisen." (Untergangsvision: 274).
Die Aufzählung enthüllt nicht nur Symptome, sondern auch die Fokussierung der Kritik auf die sozialen und politischen Lebensbedingungen, die mit der Weimarer Republik und diese mit allen Bösen identifiziert vor das Weltgericht der vermeintlich echten Kultur gezogen werden sollen. Plessner hat damit den Zusammenhang von Kulturkritik als Gegenwartskritik sehr genau durchschaut. Doch wendet er sich von diesen Kritikfiguren nicht ab, sondern setzt entschieden die Akzente anders. Denn diese Kritik bleibe rückwärts gewandt und sei darüber hinaus unseriös, weil "das wahrhaft Gegenwärtige, die existentielle Welt, in der es auf den Sprung der Entscheidung ankommt, erwählt die Richtung der Epoche, den Sinn, welchen kommende Historie von ihr ablesen wird,for sich selbst nicht. " (Untergangsvision: 275; Hervorhebung i. Orig. gesperrt, RK). Diese deutlich an Kierkegaards Existentialismus angelehnte Setzung wird mit der Folgerung, ,,(d)arum ist es eine philosophische Unmöglichkeit, die Gegenwart, die wir leben und sind, mit dem Gewordenen zu vergleichen" (Untergangsvision: 276), die ebenso deutlich dem Zeit- und Geschichtsverständnis Diltheys entlehnt ist, richtungsweisend für Plessners späteres erkenntnistheoretisches Vorgehen 6• Beide Komponenten bilden die philosophische Grundlage für Plessners Amalgarnierung der Politikdefinition earl Schmitts. Doch 1920 bleiben Kritik und empfohlene Remedur noch der kurrenten Kultur-/Zivilisationskritik verhaftet, so daß Plessner die emphatische Klage über den Kulturverfall schlicht als Restbestände eines orientalischen Denkens, das dem westlichen Denken der Selbstbestimmung des Individuums nicht gerecht werde, disqualifizieren kann. Nicht orientalische Selbstdisziplinierung 6 Diesem Ansatz begegnen wir in "Politische Kultur", 711 wie auch in den "Grenzen", v.a. aber in "Macht" wieder, in dem er dann in deutlicherem Bezug auf Dilthey formuliert wird; siehe Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. VII, 3. unveränd. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1961 (B.G. Teubner Verlagsgesellschaft/Vandenhoeck & Ruprecht).
I. He1muth Plessners frühe politische Aufsätze
28
der Seele, sondern technische Disziplinierung der äußeren Natur ist das Ziel, zu dessen Sprecher er sich macht (Untergangsvision: 278). Doch in seiner Anthropologie wird diese Dichotomisierung zugunsten einer Synthetisierung aufgehoben werden (s.u.). Und eben dies ist es, was diese Aufsätze, über ihre historisch bedingten und konkreten Themata hinaus, für eine Analyse der politischen Anthropologie Plessners interessant werden läßt. In ihnen finden sich eine Vielzahl von Aussagen, die in anverwandelter Form in der Anthropologie wieder aufgenommen, präzisiert und systematisiert werden. Dies gilt ebenso für den hier unternommenen Versuch, technische Naturbeherrschung und Kultur im Begriff einer "westlichen Kultur" zu versöhnen (Untergangsvision: 278) wie auch für den, kulturelle Gestaltung hier als Versuch spiegelbildlich praktischer Entäußerung internalisierter Ideengeschichte zu deuten. Wenig später wird diese Argumentation ihrer geistesgeschichtlichen Einkleidung entnommen und als anthropologische Notwendigkeit formuliert, durch permanent zu errichtende Außenhalte ein (labil bleibendes) psychophysisches Gleichgewicht zu schaffen. Diese Fundierung fehlt 1920 zwar noch, doch die Zielsetzung auch der späteren Schriften ist bereits zu erkennen: Anerkennung der bestehenden Härten und Mängel und Ablehnung jeglicher Fluchtideologien, seien sie Spenglerscher Provenienz, seien sie Utopien "in den Formen neukatholischer Metaphysik, wie etwa bei Bloch", den Plessner mit Lukacs bei Weber kennengelernt hatte (Untergangsvision: 272). Stattdessen, so lautet die Botschaft, Vertrauen auf die eigene Stärke und Ausnutzung der gegenwärtigen Möglichkeiten. Die Abwehr des Kultur-IZivilisationsdualismus im Namen einer Kultur technischer Zivilisation, die Abwehr von Fluchtideologien, die entschlossene Hinwendung zur Gegenwart, ihre Immunisierung vor der Reflexion durch Philosophie und Geschichte und nicht zuletzt die Intellektuellenschelte (Untergangsvision: 270, 271 f., 275), die in einen Appell zum geistigen Engagement für die kulturellen und zivilisatorischen Belange der Gegenwart mündet, haben zum Ziel, "vom Wert und Sinn der Staatskunst als Kulturaufgabe"7 zu überzeugen, Schritte zu einer "Politischen Kultur"g zu formulieren. Im Hinblick auf die späteren größeren Arbeiten kann man sagen, daß Plessner mit diesem Aufsatz die Problemstellung skizziert, die er später vom Ansatz einer philosophischen als explizit politischen Anthropologie aufzuarbeiten versucht. Denn spätestens seit Bismarck, so Plessner, könne von einer "politischen Kultur" in Deutschland keine Rede sein, "in der Geringschätzung des politischen So der Untertitel des Aufsatzes »Politische Kultur". Zit. nach dem Nachdruck der Deutschen Universitätszeitung (DUZ), 8. Jg., Nr. 2, Göttingen 1953, S. 6 f.: Seite/Spalte; zuerst in Frankfurter Zeitung v. 3.4.1921. 7
8
I. Helmuth Plessners frühe politische Aufsätze
29
Geschäfts sind sich alle Deutschen einig" (Pol.Kultur: 6/1). Politik treiben heiße, "man geht in die Drecklinie, erfüllt seine Pflicht und dient der für gut und wahr erkannten Idee" (ebd.). Damit aber verfalle Politik dem gleichen Verdikt wie die geschmähte Zivilisation, als "bloße Technik und Sache der Ges~hicklichkeit", und habe, "wie man bei uns zu scheiden beliebt, mit Kultur als dem Inbegriff des Über-Alltäglichen nichts zu tun" (ebd.). Wohl sehe man, daß politische Praxis im Sinne eines Mehr an gegenseitigem Verständnis, Takt, Diskretion (s.u. GdG!) weiterentwickelt und dem europäischen Maßstab genähert werden müsse, eine Kulturaufgabe aber sehe man darin nicht. Plessner nun, und auch dies wird richtungsweisend, versucht das Problem zu lösen, indem er es neu definiert: Es gilt, Politik als "Technik" und politische Kultur als "Haltung" zu vermitteln. Diese selbstgestellte Aufgabe und die Versuche ihrer Verwirklichung lassen sich in Plessners Schriften von 1921 bis 1931 verfolgen wie auch ihre theoretische Operationalisierung in den Schriften earl Schmitts. So ist bereits in diesem Aufsatz in nuce die erkenntnisleitende Diagnose, die pragmatische Remedur und die mit ihr verfolgte Selbstverortung und -legitimation zu erkennen. Die Diagnose: Die Einstellungen zum Politischen beruhten auf falschen Dichotomien, entweder Politik als angewandte Ethik oder schlichte Praxis, der Staat entweder als reiner Nützlichkeitsstaat oder überpersönlicher, substanzieller Staat mit der Folge der Staatsvergottung (Pol.Kultur: 6/1 f.). Hinzu trete das Festhalten an der akademischen Unterscheidung von Norm und Wirklichkeit, wobei die Norm, auch als Idee verstanden, die Kultur für sich habe (Pol.Kultur: 7/1). Hierin aber sieht Plessner, nun seinerseits gut idealistisch, das eigentlich politische Problem seiner Gegenwart. Denn, so führt er aus, abstrakt gesehen seien alle Parteien durch Ideale und Weltanschauungen für sich gebunden und durch sie voneinander getrennt. Dabei aber verliere sich das eigentlich Verbindende: die Verpflichtung auf das Wie, die Staatskunst, die für ihn den kleinsten gemeinsamen und wohl auch zugleich wertneutralen Nenner bedeutet. Leider führt er den Gedanken von Politik als Macht-Technik, deren verpflichtender Gehalt zu einer innerstaatlichen Pazifizierung führe (Pol.Kultur: 7/1), weder hier noch in den späteren Schriften, in denen er anklingt, materiell aus. Man muß aber festhalten, daß diese Überlegung einer inhaltlich indifferenten und wert neutralen Technik des Politischen, die sich in die Metapher "Staatskunst" kleidet, später als "Form" des Politischen anthropologisch-naturalistisch aufgefüllt wird. Diese "inhaltliche" Bestimmung, z.B. durch das Postulat der Machtvermehrung, erhält damit den Stellenwert eines quasi-ontologischen Imperativs und wird wieder der "Form" zugeschlagen 9 • Daß Plessner hier den Staat als Leistung bestimmt, der damit "durch den Anreiz zur Mitarbeit an seinen Aufgaben die Befriedigung gewährt, welche nur 9 Siehe dazu in den "Grenzen" den Gesamtbereich des "Spiels" sowie in "Macht" den Versuch einer formal-anthropologischen Bestimmung von Macht und Politik.
30
I. Helmuth Plessners frühe politische Aufsätze
unmittelbare Hingabe an den ewigen Wertlcreis der Kultur bewirkt" (Pol.Kultur:
712), widerspricht nicht meiner These von der anthropologisch notwendigen
Hypostasierung des Staates. Denn eben die anthropologische Fundierung und Systematisierung fehlt noch 1921. Aber es zeigt stattdessen die andere Seite, die ich als Vermittlung von "Haltung" und Einstellungen angesprochen habe, die Bindungen schafft. Denn Plessner führt aus, daß eben nur bei Bürgern und Intellektuellen das Verständnis für die Weimarer Republik wachsen könne, m.a.W. also jenen Schichten, die Politik bisher für ein schmutziges Geschäft hielten, das man besser anderen überläßt.
"Die heimliche Sehnsucht oder der öffentliche Schrei nach dem starken Mann ist nur ein Symptom dafür, daß man alles politische Heil von überall her, nur nicht von seiner eigenen Entschlußfähigkeit erwartet" (PoI.Kultur: 712; s.a. unten),
diagnostiziert Plessner die vorherrschende Einstellung. Doch etwas später, 1924, ist die "Sehnsucht nach dem starken Mann" als Personifikation einer entschlußfähigen Exekutive in seine Anthropologie in einer Weise eingearbeitet, die man mit earl Schmitt als Dialektik der Humanität bezeichnen könnte. Dann ist auch die hier in dem indirekten Appell durchklingende Sorge, "aus dem deutlichen Bewußtsein der Gemeinsamkeit unseres nationalen Schicksals" werde man "Konsequenzen auch programmatischer Art zu ziehen bereit sein" müssen (ebd.), deutlicher formuliert. Die Sorge nämlich, daß die Gemeinsamkeit des nationalen Schicksals, als dessen Träger sich das Bürgertum begreift, die organisierten Interessen einerseits und die Renegaten aus dem eigenen Lager andererseits keineswegs daran hindert, das Bürgertum politisch bedeutungslos werden zu lassen. Doch noch sieht Plessner die Möglichkeiten vornehmlich politischer Stärke in der Förderung politischer "Entschlußfähigkeit" ,die als eine Erziehung zur Wirklichkeit Aufgabe der Gebildeten, zuvörderst der Philosophen und Psychologen, sei. Infolgedessen beschäftigen sich auch die beiden Aufsätze, die Plessners Gegenwartsdiagnose und damit seine Ausgangsposition beleuchten, mit den Bereichen "politische Bildung" und "Staatskunst". Sie ergänzen in instruktiver Weise das bisher gezeichnete Bild einer prekären Theorie-/Praxisverbindung, auf deren Grundlage modemen Kulturverfalldiagnosen ebenso wie Fluchtideologien eine entschiedene Absage zuteil wird und statt dessen einer ebenso entschiedenen Zuwendung zur Gegenwart als einer kulturell und politisch zu bewältigenden Aufgabe die Richtung gewiesen wird. Über die Notwendigkeit und ihre situationellen Voraussetzungen klingt einiges in Plessners Aufsatz über das Verhältnis von "Universität und Staatsinteresse" an, den er mit dem Satz einleitet: "Ohne Uebertreibung, ohne Gefahr tendenziösen Niveaus dürfen wir sagen, daß Verfassung und grundsätzliche Richtung der Politik des Deutschen Reiches von der über-
I. Helmuth Plessners frühe politische Aufsätze
31
wiegenden Majorität der Dozenten und Studenten unserer Universitäten abgelehnt wird." (U niversität: 1/ I) 10
Form und Intensität des drohenden Konfliktes lassen Plessner die historische Parallele mit dem Kulturkampf angemessen erscheinen (ebd.). Die Gründe hierfür seien offenkundig: Die Gründung der Republik werde als Folge der Kriegsniederlage verstanden, die bisherige Skala sozialen Prestiges habe zugunsten der "nouveaux riches", die noch nicht wüßten, "daß es Universitäten gibt und wozu man sie braucht" sowie zugunsten von Parteifunktionären (gemeint sind die der SPD) ihre Geltung verloren ll . Darüber hinaus sehe sich die aus dem Krieg gekommene Jugend materiell verarmt, ideell betrogen. Der in den Wilhelminischen Verhältnissen verankerten Professorenschaft aber sei als geistigen Arbeitern ohnehin nicht das rechte Verständnis für Themen wie Achtstundentag, Schichtwechsel, Streik usw. abzuverlangen. Mit kurzen Strichen hat Plessner damit v.a. die Gründe der mentalen Opposition gegen die neue Staatsform gezeichnet. Auf sie treffen nun Maßnahmen des Staates, die auf einen dem demokratischen Selbstverständnis genügenden Ausbau der universitären Selbstverwaltung abzielen und, wie Plessner betont, im Sinne akademischer Arbeit auch zu begrüßen seien. Aber - und hier formuliert er eine auch für seine spätere Haltung bezeichnende Wendung - die Formen formaler Demokratie als eines formalen Gewährenlassens könnten im Effekt zu dem absurden Ergebnis führen, "zum Schutz der wissenschaftlichen Autonomie unter Umständen die Autonomie aufzuheben." (Universität: 1/2). Der Staat habe nämlich einer "teilweise auch sehr ungenierten Hetze gegen sich selbst gezwungen die Freiheit" gelassen (ebd.) und damit ,;den Entrüstungsromantikem Raum und Hoffnung [gegeben], die Wiederherstellung der alten Herrlichkeit gewissermaßen aus dem Geist des Komments und der Mensur zu versuchen." Noch sei es nur die Atmosphäre, aus der "das absolute Nichtsgelernthaben", "die reaktive Verherrlichung des Vergangenen und die gänzliche Mißachtung der Republik und des parlamentarischen Systems" spreche (Universität: 1/2). Doch hier müsse seitens des Staates eingeschritten werden: Keine Politik im Hörsaal ("Auch keine Linkspolitik."); stattdessen aber politische Bildung, politische Erziehung. Und in dieser Aufgabe sieht Plessner die Gebildeten Seite an Seite mit den politisch Regierenden, ihre staatsbürgerliche Legitimation, zumal er sich damit in prinzipieller Übereinstimmung mit dem damaligen Kultusminister Becker sieht. Regt Plessner in diesem Aufsatz noch die Verankerung der politischen Bildung in einer humanwissenschaftlichen Fakultät an, eventuell auch im Rahmen einer Neubelebung des Faches Rhetorik, während Becker mehr an Philosophie und Soziologie "im weitesten Sinne des Wortes" dachte, "ein10 Erschien in zwei Teilen im Hochschulblatt der Frankfurter Zeitung v. 20. Oktober 1921 (= I), S. 3, und 3. November 1921 (= 11), S. 3. 11 Vergleiche hier die Einleitung, 0.1.
32
I. He1muth Plessners frühe politische Aufsätze
schließli