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German, Italian Pages 229 [234] Year 2018
Heliodorus redivivus Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen AithiopikaRezeption der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Christian Rivoletti und Stefan Seeber Klassische Philologie Franz Steiner Verlag
Palingenesia 112
Christian Rivoletti / Stefan Seeber (Hg.) Heliodorus redivivus
PALINGENESIA Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von ChrIStoPh SChubErt Band 112
Heliodorus redivivus Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen Aithiopika-Rezeption der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Christian Rivoletti und Stefan Seeber
Franz Steiner Verlag
Coverabbildung: Phönix in einem Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre. Fondation Eugène Piot, Monuments et Mémoires, publ. par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 36, 1938, 100. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12222-1 (Print) ISBN 978-3-515-12246-7 (E-Book)
INHALT Christian Rivoletti / Stefan Seeber Einleitung ................................................................................................................. 7 I. DIE WIEDERENTDECKUNG DES ROMANS UND DIE ALTPHILOLOGISCHE PERSPEKTIVE Laura Mecella Heliodor zwischen Historie und Legende. Überlegungen zum Problem der Datierung ......................................................................................................... 19 Giuseppe Zanetto Intertextualität und Intervisualität bei Heliodorus ................................................. 43 Judith Hindermann Die enzyklopädischen Exkurse in Heliodors Aithiopika: Die Naturalis Historia des Älteren Plinius und das mirabile der Zeugung Charikleas ............... 57 II. HELIODORUS ITALICUS: DIE AUFNAHME DER AITHIOPIKA IN DER ITALIENISCHEN LITERATUR DER SPÄTRENAISSANCE UND DES BAROCK Marc Föcking ,Male o bene, non so‘. Torquato Tasso und Heliodors Aithiopika ........................ 79 Guido Arbizzoni Die Aithiopika im italienischen Roman des 17. Jahrhunderts ............................... 93 Gabriele Quaranta Tra passione romanzesca ed evocazione regale: note sulla fortuna figurativa delle Etiopiche di Eliodoro nella Francia del Seicento ........................................ 111
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Inhalt
III. HELIODORUS GERMANICUS: DIE REZEPTION DER AITHIOPIKA IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM Seraina Plotke / Stefan Seeber Heliodor auf Abwegen – Johannes Zschorns Aithiopika-Übersetzung und ihre frühe Druckgeschichte .................................................................................. 127 Andreas Keller Transformation statt Translation: Plurale Heliodor-Imitatio am Beispiel von Exordialtopik im deutschsprachigen Roman des 17. Jahrhunderts .............. 147 Regina Toepfer Heliodor-Rezeption im deutschen Drama des 17. Jahrhunderts. Der Gattungstransfer der Aithiopika durch Caspar Brülow und Johann Joseph Beckh ............ 183 Sylvia Brockstieger Alte Form und neue Gattung. Heliodor und die Romanpoetik im 18. Jahrhundert..................................................................................................... 205 Thomas Borgstedt Wilhelm Meisters Lehrjahre und das heliodorische Romanschema .................... 217
EINLEITUNG Christian Rivoletti / Stefan Seeber 1. HELIODORUS REDIVIVUS – EIN EUROPÄISCHES PHÄNOMEN Heliodor ist der Begründer des modernen Romans, seine Aithiopika sind Vorbild für Generationen von Autoren, die sich in imitatio und aemulatio üben. Die Masse der Rezeptionszeugnisse scheint nur schwer überschaubar und kaum zu kategorisieren:1 Auf die editio princeps von 1534 folgt schnell eine französische Übersetzung (1548), dann eine Übertragung ins Lateinische (1552), aus der wiederum Übersetzungen ins Spanische (1554 und 1587), Italienische (1556), Deutsche (1559) und Englische (1569 bzw. 1577) hervorgehen. Heliodor wird also in ganz Europa gelesen, und nicht nur von Gelehrten, sondern auch in den Volkssprachen; er inspiriert sowohl Nachdichtungen als auch theoretische Auseinandersetzungen mit der Gattung und ihren Aufgaben.2 Das Urteil der Zeitgenossen und der modernen Forschung zu Heliodor als Gründervater der Gattung ist dabei einhellig – erst im 18. Jahrhundert, durch Agathon und Werther, wird das Heliodorschema abgelöst und einer neuen Romanpoetik der Weg geebnet, die die Wahrnehmung der Gattung bis heute bestimmt. Bis dahin ist Heliodor die maßgebliche Autorität und bedeutet die Auseinandersetzung mit seinem Werk die entscheidende Konstante in der Entwicklung einer Gattungspoetik. Dies ist festes Wissen der Forschung, zugleich aber auch eine Bürde, denn mit der Kanonisierung geht auch eine Tendenz zur Vereinfachung einher: So wie man im 17. Jahrhundert Heliodor nicht mehr kennen musste, um sich auf sein Schema zu berufen,3 ist es zum Gemeinplatz der Forschung geworden, die weite Verbreitung des Werkes als Beweis für seine Relevanz anzusehen und sich nicht mehr um 1 2
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Einen Überblick liefert Michael Oeftering: Heliodor und seine Bedeutung für die Litteratur. Berlin 1901 (Literarhistorische Forschungen 18). Die wirkmächtigste theoretische Beschäftigung mit Heliodor im 16. Jahrhundert dürfte dabei der Proesme seines Übersetzers ins Französische, Jacques Amyot, gewesen sein: Jacques Amyot: Le Proesme du Translateur. In: Héliodore: L’ Histoire Aethiopique. Traduction de Jacques Amyot. Édition critique établie, présentée et annotée par Laurence Plazenet. Paris 2008. Vgl. zu Amyot Antoine Berman: Jacques Amyot, traducteur français. Essai sur les origines de la traduction en France. Texte établi par Isabelle Berman et Valentina Sommella. Paris 2012, S. 157–164. Beispielhaft hierfür kann die Gattungskritik Gotthard Heideggers stehen, die lediglich etablierte Topoi aufruft: Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698. Hg. von Walter E. Schäfer. Bad Homburg 1969, z.B. S. 27 mit einem für Heidegger außergewöhnlich milden Urteil über die Aithiopika.
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Details dieser Verbreitung und Präsenz zu sorgen.4 Die Schematisierung weist den Aithiopika früh ihren Platz als Ausgangspunkt der Gattung und als narrativer wie protonarratologischer Steinbruch zu. Diese Deutung wird aber weder der dokumentierten Überlieferungssituation noch der tatsächlichen Rolle gerecht, die der Text bis zum Erscheinen von Goethes Werther in der europäischen Literaturgeschichte spielt. Eine wesentliche Aufgabe für die neue Forschung ist es vor diesem Hintergrund, Feinarbeit zu leisten und gerade die Details zu erhellen, die es erlauben, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der europäischen Heliodortraditionen im Vergleich aufzuzeigen. So wird es möglich, ein wesentlich differenzierteres Bild der Gattungsgenese des Romans im Allgemeinen und der Auseinandersetzung der verschiedenen Autoren des 16., 17., aber auch 18. Jahrhunderts mit Heliodor im Speziellen zu zeichnen. Für die französische und die englische Tradition ist diese Aufgabe bereits in Angriff genommen worden,5 für die deutsche und die italienische Tradition hingegen blieb eine solche vergleichende Zusammenschau trotz einiger Vorarbeiten bislang ein Desiderat. Diese Lücke bildete den Ansatzpunkt für eine interdisziplinäre Tagung von Italianisten und Germanisten, die zusammen mit Altphilologen im Juni 2014 in den Räumen des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) die Frage nach dem Heliodorus italicus und germanicus, also nach der einzelsprachlichen Aktualisierung und Entwicklung der Heliodortradition erörterten. Dabei ging es nicht allein um die Auseinandersetzung mit Ähnlichkeiten und Differenzen der einzelsprachlichen Heliodorrezeption, zusammengeführt wurden auch unterschiedliche Wissenschaftskulturen mit ihren je spezifischen Blickwinkeln auf ein genuin europäisches Phänomen mit distinkten nationalen Ausprägungen. Unsere Einleitung will deshalb in einem ersten Abschnitt knapp die Präsenz Heliodors in den beiden Literaturen durch das 16., 17. und 18. Jahrhundert umreißen, um in einem zweiten Schritt die einzelnen Beiträge der Tagung kurz vorzustellen. Der spätantike Roman Aithiopika erlebt im 16. Jahrhundert bereits seine zweite Wiederentdeckung – schon im Byzanz des 12. Jahrhunderts begeisterte man sich für die „alten“ Liebes- und Abenteuerromane und schuf auch neue Werke nach alten Vorbildern.6 Zugleich wurden die antiken Texte zeitgemäß überarbeitet und ei-
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Vgl. etwa Bruno Hillebrand: Theorie des Romans I: Von Heliodor bis Jean Paul. München 1972, hier S. 22 zur Rolle Heliodors im 17. Jahrhundert oder Viktor Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen 1990, S. 1 zur Diskontinuität der Gattung. Punktuelle aber wichtige Hinweise auf Heliodor auch in Guido Mazzoni: Teoria del romanzo. Bologna 2011, passim. Vgl. v. a. Carol Gesner: Shakespeare and the Greek Romance: A Study of Origins. Lexington 1970; Steve Mentz: Romance for Sale in Early Modern England: the Rise of Prose Fiction. Aldershot u.a. 2006 und die Arbeiten von Laurence Plazenet, z.B.: L’ébahissement et la délectation. Réception comparée et poétiques du roman grec en France et en Angleterre aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1997 (Lumière Classique 15). Siehe auch die klassische Studie von Alois Tüchert: Racine und Heliodor. Zweibrücken 1889. Zur byzantinischen Rezeption vgl. allg. Roderick Beaton: The Medieval Greek Romance. 2. Auflage. London, New York 1998.
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ner Art „homogenizing process“ unterzogen, dessen Ergebnis ein „saccharine product“7 ist – da aus der Zeit vor dem 12. Jahrhundert nur ein Aithiopika-Papyrusfragment des 6. Jahrhunderts erhalten geblieben ist, lassen sich allerdings keine Vergleiche zwischen spätantikem Ausgangstext und byzantinischer Überlieferung anstellen.8 In unserem Kontext ist noch eine Episode zu erwähnen, die sich zwischen der byzantinischen Tradition und der endgültigen Wiederentdeckung im Zeitalter der Renaissance situiert. Die älteste lateinische Übersetzung der Aithiopika stammt aus der Feder von Angelo Poliziano, der auch die Romane von Xenophon von Ephesos sowie von Longos von Lesbos gelesen (und zum Teil übersetzt) hat. In den 1480er Jahren fügt der italienische Humanist in seine Miscellaneorum Centuria Prima (eine Sammlung philologischer Ausführungen) die lateinische Version eines Fragments aus dem 10. Buch des heliodorischen Textes ein.9 Die Übersetzung Polizianos, die 1489 sogar gedruckt wird, bleibt aber ein isoliertes Ereignis. Zum zweiten Mal wiederentdeckt werden die Aithiopika erst, als ein Soldat den Text aus der Bibliothek des Martin Corvinius in Buda raubt und nach Deutschland bringt – 1534 wird der Roman in Basel erstmals gedruckt.10 Damit beginnt eine umfassende Erfolgsgeschichte, eine zweite, „durch den Buchdruck entscheidend gestützte“11 Renaissance, die unter anderem auch italienische (1556) und deutsche (1559) Übersetzungen der Aithiopika hervorbringt und nationalsprachliche Rezeptionstraditionen begründen hilft.12 Zugleich initiiert die Wiederentdeckung auch eine proto-philologische Auseinandersetzung mit dem Werk, ihr erstes sichtbares Zeichen ist die
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So urteilt Gerald Sandy: The Heritage of the Ancient Greek Novel in France and Britain. In: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden 1996 (Mnemosyne Suppl. 159), S. 735–773, hier S. 735. 8 Vgl. Otto Mazal: Die Textausgaben der Aithiopika Heliodors von Emesa. In: Gutenberg Jahrbuch 41 (1966), S. 182–191 sowie Robert M. Rattenbury: Introduction. In: Héliodore: Les Éthiopiques (Théagène et Chariclée), Tome I. Texte établi par R. M. Rattenbury et T. W. Lumb, et traduit par J. Maillon. Paris 1935, S. VII–LXXXII, hier S. XXIVf. 9 Das Interesse von Poliziano für das Fragment, in dem eine Giraffe beschrieben wird, entsteht wahrscheinlich im November 1487, als Lorenzo il Magnifico in Florenz ein Exemplar dieser damals unbekannten Tierart vom ägyptischen Sultan geschenkt bekommt. Siehe: Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman. 2. Auflage. Zürich, Stuttgart 1962, S. 70; Józef Baliński: Heliodorus Latinus. Die humanistischen Studien über die Aithiopika. Politianus, Warszewicki, Guillonius, Laubanus. In: Eos 80 (1992), S. 273–289, hier S. 276–281; Nunzio Bianchi: Poliziano, Senofonte Efesio e il codice Laur. Conv. Soppr. 627. In: Quaderni di storia 55 (2002), S. 183–214, hier S. 187f. 10 Vgl. die Anmerkungen von Obsopoeus in der Epistola dedicatoria, [a 2v], In: [Vincentius Obsopoeus]: Historiae Aethiopicae libri decem, nunquam antea in lucem editi. Basel: Johann Herwagen, 1534. 11 Jutta Eming: Historia und Episteme in der Aethiopica Historia. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Baisch, Jutta Eming. Berlin 2013, S. 255–273, hier S. 257. 12 Zum breiten Feld der „Rezeptionsliteratur“ (Roloff) und der transformativen Aneignung des Stoffes, die sich nicht in Übersetzungen erschöpft, sondern die produktive Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext sucht, vgl. die Sammelbände: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hg. von Hartmut Böhme. München 2011; Übersetzungen antiker
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Epitome des Martin Crusius,13 die 1584 die komplexe medias in res Struktur der Aithiopika auflöst, Werk und Autor verortet und die wesentlichen Handlungszüge kommentiert. 1596 erscheint Commelinus’ griechisch-lateinische Heliodor-Ausgabe, welche die Basis der gelehrten Debatte des 17. Jahrhunderts bildet.14 Die drei Stränge der gräzistischen, romanistischen und germanistischen Auseinandersetzung mit Heliodor im Rahmen der Tagung seien vor diesem Hintergrund knapp skizziert. 2. DIE WIEDERENTDECKUNG DES ROMANS UND DIE ALTPHILOLOGISCHE PERSPEKTIVE Laura Mecellas einleitender Beitrag beschäftigt sich mit dem Problem der Datierung des Werkes. Sie unterzieht Heliodors Patronymikon, seinen Ursprung in Emesa und eine mögliche Verbindung seiner Figur mit dem Sonnenkult einer neuen Lektüre und stellt bisherige Datierungsversuche vor, die zwischen dem 3. und 4. nachchristlichen Jahrhundert schwanken. Mecella legt eine neue Analyse der Quellen vor und datiert auf dieser Basis das Werk neu in die Jahre 360–390 nach Christus. Zugleich und damit verbunden zieht sie das Bild von Heliodor als Bischof von Tricca während der Herrschaft von Theodosius, wie es Socrates Scholasticus und Symeon Logothetes zeichnen, grundlegend in Zweifel. Eine Detailanalyse legt im Anschluss daran Giuseppe Zanetto vor, der die Eingangsszene der Aithiopika als Ekphrase in den Blick rückt. Hier weist er nach, dass Heliodor ein intertextuelles Spiel mit der Odyssee betreibt, indem das Eingangstableau einen Rekurs auf die Mnesterophonia des 22. Gesangs bei Homer bietet. Heliodor macht seine imitatio Homers dabei explizit, und nach Zanetto hat die Anwesenheit des homerischen Hypertextes schon im incipit den Wert eines präzisen künstlerischen Programms: Der Roman ist von den ersten Zeilen an als eine Art erneutes Verfassen einer Odyssee gedacht und stellt sich damit neben das verehrte Original. Eine weitere Einzelanalyse legt Judith Hindermann vor, deren Beitrag den gräzistischen Teil des Sammelbandes beschließt. Hindermann unternimmt es, Heliodors Exkurse, die lange Zeit als unnütze Abschweifung vom Plot der Aithiopika gering geschätzt wurden, ins rechte Licht zu rücken. Um dies zu erreichen, unterscheidet sie drei Formen des Exkurses: Deutlich markierte Exkurse, die die Vorgeschichte der Helden nacherzählen und den Einstieg der Aithiopika medias in res leichter verständlich machen, bilden dabei die erste Gruppe. Als zweite nimmt sie die klassischen Ekphraseis, die visuell-statische Beschreibungen bieten; zuletzt Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Martin Harbsmeier u.a. Berlin, New York 2008 (Transformationen der Antike 7) sowie: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit. Beiträge zur ersten Arbeitstagung in Eisenstadt (März 2011). Hg. von Hans-Gert Roloff. Bern 2012. 13 Martin Crusius: Aethiopicae Heliodori Historiae Epitome […]. Frankfurt: Jobin, 1584. 14 Hieronymus Commelinus: Heliodori Aethiopicorum Libri X. Collatione Mss. Bibliothecae Palatinae & aliorum, emendati & multis in locis aucti. Heidelberg: Commelinus, 1596.
Einleitung
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analysiert sie die naturwissenschaftlichen Exkurse, die sich der Wissensvermittlung widmen – dabei handelt es sich allerding um Wissen, das man für das Verstehen der Handlung des Romans nicht benötigt und das deshalb auf den ersten Blick unnötig erscheint. Diese dritte Kategorie der Exkurse steht im Zentrum von Hindermanns Interesse; sie macht anhand der Distribution naturwissenschaftlicher Exkurse plausibel, dass Heliodor distinkte Bilder von Griechen und Barbaren und ihrem jeweiligen Umgang mit Wissen zeichnet, wobei in zentralen Figuren wie Kalasiris (den Hindermann als Figur gewordene Enzyklopädie versteht) ein Aufstiegsund Entwicklungsgedanke präsentiert wird: Die Annäherung an das Ideal des Griechentums ist möglich und wird in den naturwissenschaftlichen Exkursen prominent in der Handlung platziert. 3. HELIODORUS ITALICUS: DIE AUFNAHME DER AITHIOPIKA IN DER ITALIENISCHEN LITERATUR DER SPÄTRENAISSANCE UND DES BAROCK Anfangspunkt der Wiederentdeckung von Heliodor in Italien ist die volkssprachliche Übersetzung der Aithiopika von Leonardo Ghini, die erstmals 1556 in Venedig erscheint.15 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird der Roman insbesondere am Hofe der Este in Ferrara gelesen und bearbeitet. Zu diesem Ferrareser Rezeptionsstrang zählen zwei prominente Autoren mit ihren Hauptwerken: Torquato Tassos Gerusalemme liberata (1575) und Battista Guarinis Il pastor fido (1599). Während der Einfluss der Aithiopika auf das Drama Guarinis bereits Gegenstand eingehender Analysen gewesen ist,16 waren dagegen in der Forschungsliteratur nur einzelne Hinweise auf Tassos Beziehungen zu Heliodor vorhanden. Bisher fehlte zudem eine extensive Analyse, um die Position des italienischen Dichters gegenüber dem altgriechischen Roman zu bestimmen. Diese wird von Marc Föcking unternommen, dessen Beitrag zunächst den Kontext der theoretischen Debatte rekonstruiert, die in Italien seit der Verbreitung der aristotelischen Poetik in den 1540er Jahren entflammte. In diesem Kontext erklärt sich die Abwesenheit der Aithiopika aus zwei Gründen: Einerseits ist Heliodors Roman mit dem aristotelischen Epenmodell strukturell gar nicht verrechenbar; andererseits vollzieht sich die Legitimierung der „anti-aristotelischen“ Gattung des ‚romanzo‘ durch das moderne Beispiel des Orlando furioso von Ludovico Ariosto und somit voll und ganz ohne den Rekurs auf die Aithiopika.
15 Historia di Heliodoro delle cose ethiopiche. Nella quale fra diuersi, compassioneuoli auenimenti di due amanti, si contengono abbattimenti, discrittioni di paesi, e molte altre cose utili e diletteuoli a leggere. Tradotta dalla lingua greca nella thoscana da messer Leonardo Ghini [...]. Venezia: Appresso Gabriel Giolito de’ Ferrari, 1556. Die Übertragung erlebte bis Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Neudrucke. 16 Vgl. Oeftering: Heliodor (Anm. 1), S. 162–164 (dessen Ausführungen allerdings nicht alle überzeugend sind) und die eingehende Analyse von Elisabetta Selmi: ‚Classici e moderni‘ nell’officina del Pastor fido. Alessandria 2001, insbes. S. 98, 102f, 106f, 109 und passim.
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Allerdings wird Heliodor in prominenten Poetiken des 16. Jahrhunderts erwähnt, wie in Julius Scaligers Poetices libri septem und in Torquato Tassos Discorsi bzw. in seinem Brief an Scipione Gonzaga. In allen diesen Fällen bezieht sich aber die Modellhaftigkeit der Aithiopika ausschließlich auf die strukturellen Elemente des Textes (wie die Digressionen oder die Erzählverfahren, die eine gelungene Spannung produzieren), das heißt nur auf die Dispositio. Sobald es dagegen um die Inventio geht – so Föckings These –, verlieren die privaten Liebeswirren des hellenistischen Liebesromans sogleich ihren beispielhaften Charakter, da sie weder das für ein vollkommenes Epos geforderte Maß an „nobiltà“ und „eccelenza“, noch die „autorità dell’istoria“ (wie es für das Poema eroico vorgesehen ist) auf ihrer Seite haben. Obwohl Tasso die Aithiopika auch ganz seiner klassizistischen Epen-Poetik hätte opfern können, greift er für die Modellierung der Herkunftsgeschichte Clorindas im 12. Gesang seines Epos Gerusalemme liberata auf eine signalhafte Episode des heliodorischen Romans zurück. Im letzten Abschnitt seines Beitrags bietet Föcking eine ausführliche Untersuchung der umfangreichen Strategien der Rechtfertigung, Motivierung und Modifikation dieser Heliodor-Episode, die Tasso in seinem Epos einsetzt. Zum Ersten wird aufgezeigt, wie Tasso auf die bereits in Ludovico Ariosts Orlando furioso auftretende Figur des Äthiopierkönigs Senapo rekurriert, die in der Gerusalemme liberata XII, 21 die Stelle von Heliodors König Hydaspes übernimmt. Der Ariost’sche Senapo wird hier aber, ganz im Sinne von Tassos Orientierung des Poema eroico an der „autorità dell’istoria“, gleichzeitig von aller Legendenbildung befreit. Zum Zweiten historisiert und demystifiziert der Autor der Liberata Senapo und seinen Hof, indem er, statt sich auf mittelalterliche Legenden zu beziehen, auf den zeitgenössischen Reisebericht des portugiesischen Priesters Francisco Alvarez zurückgreift, dessen italienische Fassung 1550 erscheint. Zum Dritten wird auch die zentrale Episode der Telegonie den Normen des aristotelisch geprägten Poema eroico angepasst. Anders als Charikleas Mutter Persinna, die bei der Zeugung ihrer Tochter ausschließlich auf „das Bildnis der nackten Andromeda“ blickt, ist bei Tasso neben einer Jungfrau auch ein Ritter die Quelle der Telegonie Clorindas: Somit wird die Verwandlung der unheldischen Liebenden Chariklea in die amazonenhafte Kriegerin Clorinda motiviert. Schließlich zeigt Föcking, wie Tasso kurz vor dem Beginn der Karriere Heliodors als Modellautor des barocken Prosaromans in der Revision der Gerusalemme liberata zur Gerusalemme conquistata (1593) die Aithiopika-Bezüge noch unkenntlicher macht und sie, ganz im Sinne der eigenen Programmatik, noch enger an die verbürgte Geschichtsschreibung heranführt. Was das Zeitalter des Barock betrifft, wurde bislang nur das Kapitel der neapolitanischen Rezeption Heliodors ausführlich untersucht, zu der das Gedicht Teagene (1637) von Giovan Battista Basile sowie das Drama Carichia von Ettore Pignatelli zählen.17 17 Neben den ausholenden Abhandlungen von Alberto Sana: Eliodoro nel Seicento italiano. II Teagene di Giovanni Battista Basile. In: Studi Secenteschi 37 (1996), S. 29–108 und ders.: Eliodoro nel Seicento italiano. La Carichia di Ettore Pignatelli. In: Studi Secenteschi 38 (1996),
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Ein wahres Niemandsland stellt dagegen noch die Aufnahme Heliodors in den Bereich der erfolgreichen Gattung des italienischen Barockromans dar, die der Gegenstand des Beitrags von Guido Arbizzoni ist. In der Forschungsliteratur zum italienischen Barockroman taucht der Name Heliodor immer wieder auf, allerdings meist in allgemeinen Zusammenhängen und unterschiedslos unter die Autorennamen der überkommenen antiken Romane gemischt, die zusammen mit der neueren Tradition des epischen Ritterromans als Vorbilder des neuen Prosa-Romans genannt werden. Um eine klarere Auffassung des Einflusses Heliodors auf die Romanschriftsteller des 17. Jahrhunderts zu bekommen, muss man sich der Lektüre der damaligen Literaturtheorie direkt zuwenden. Von Amyot über Scaliger und Tasso bis zur berühmten Lettre […] de l’origine des romans von Pierre-Daniel Huet loben alle Theoretiker die Dispositio von Heliodors Roman, die durchgängig mit der des Heldenepos gleichgesetzt wird, vor allem was den Auftakt in medias res angeht. Diese generelle Angleichung zwischen incipit in medias res des Heldenepos und incipit von Heliodors Roman – so Arbizzonis These – ist allerdings irreführend. Denn während die handelnden Personen des Epos sofort erkennbar sind, da jeder Leser, zumindest in groben Zügen, ihre Taten kennt, sind dagegen die Protagonisten des Romans von Heliodor völlig unbekannt. Daher ist diese Typologie des incipit absolut originell und kann als charakteristisches Merkmal des Textes von Heliodor gesehen werden. Wie Arbizzoni anhand einer Reihe von Beispielen zeigt, sind die Romane, die sich insgesamt stärker an das Vorbild der Aithiopika anlehnen, sofort an der Typologie des incipit zu erkennen. Zum Schluss wird am Beispiel des Romans Dianea (1635) von Giovan Francesco Loredano exemplarisch untersucht, wie im italienischen Barockroman das Vorbild Heliodors nicht nur im Auftakt der Erzählung, sondern auch in der inneren Strukturierung der Narration zum Ausdruck kommt. Während die Untersuchung von Arbizzoni die engen Verbindungen zwischen dem französischen und dem italienischen Kontext im Zeitalter des Barock aufzeigt, wird im Beitrag von Gabriele Quaranta diese interkulturelle Vernetzung um eine weitere Dimension ergänzt: die der Bildenden Künste. Sowohl in kleineren, raffinierten Kunstobjekten (wie Uhrenetuis), die die große Verbreitung der abgebildeten Bildmotive bezeugen, als auch auf großen Wandteppichen werden Episoden aus italienischen Werken (Orlando furioso, Gerusalemme liberata und Pastor fido) sehr oft neben Szenen aus den Aithiopika dargestellt. Im Mittelpunkt der Untersuchung Quarantas steht die Frage nach der ideologischen (Re-)Interpretation des Textes von Heliodor in der französischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Ein interessantes Beispiel ist die Dekoration der Chambre du Roi im Schloss Cheverny, in der zwei Bildzyklen miteinander kombiniert werden: Während die Holztäfelung Szenen aus den Aithiopika zeigt, stellt die Decke die Geschichte von Perseus dar, der schon zur Zeit Heinrichs IV. und Ludwigs XII. den französischen S. 107–183, siehe auch die stringente Analyse von Massimo Fusillo: Heliodorus Parthenopaeus, the Aithiopika in Baroque Naples. In: Studies in Heliodorus. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 157–181.
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König symbolisierte. Somit enthält die Dekoration der Chambre einen doppelten, metaliterarischen Hinweis auf die Herrscherfigur, denn im Roman Heliodors liest man, dass das äthiopische Königshaus selbst mit Bildern von Perseus geschmückt war. 4. HELIODORUS GERMANICUS: DIE REZEPTION DER AITHIOPIKA IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM In die deutsche Literatur findet Heliodors Roman 1559 Eingang, als Johannes Zschorn den Text aus dem Lateinischen Stanislaw Warschewiczkis ins Deutsche überträgt.18 Nachahmungen regt die Übersetzung allerdings nicht an, ganz im Gegenteil bemüht sich Zschorn darum, den besonderen Text als gewöhnliche historie in das Gros der verfügbaren Prosaromane der Zeit einzufügen. Der Beitrag von Seraina Plotke und Stefan Seeber zeichnet nach, wie Zschorn übersetzt, wie er seine Übersetzung paratextuell rahmt und welche Strategien der Leserlenkung er nutzt, um seinem Werk die gewünschte Aufnahme zu sichern. Der zweite Teil der Analyse ist der weiteren Druckgeschichte der deutschen Aithiopika gewidmet; nach einem ersten Neudruck der Übersetzung durch Nikolaus Bassée (1580), der Zschorns ungewöhnliche Widmungsvorrede durch eine konventionelle Werkbeschreibung und -verortung ersetzt, findet Zschorns Text Aufnahme in das Buch der Liebe das Sigmund Feyerabend 1587 als Liebesroman-„Sampler“ auf den Markt bringt. Der Beitrag skizziert das Buch der Liebe als Spartenprodukt für eine kleine, finanzstarke Käuferschicht und zeigt, wie Feyerabend seine Zielgruppe intensiv auf dem Titelblatt der Ausgabe umwirbt. Hier werden die Schicksale der Titelhelden mit den Interessen der Käufer eng geführt und es wird der Grundstein dafür gelegt, dass die Aithiopika in der Geschichtensammlung den Prototyp der positiven Liebesgeschichte nach dem Verständnis der Zeit darstellen können. Die didaktische Funktion, die Feyerabend dabei mit den präsentierten Romanen verbindet, wird abschließend in die Tradition der Hofmanns-Traktate eingeordnet, die, aus Italien kommend, im 16. Jahrhundert bereits eine umfassende Präsenz auf dem deutschen Buchmarkt vorzuweisen haben – so erschließt sich ein maßgebliches Moment der Selbstrechtfertigung, das das Buch der Liebe in der paratextuellen Eigenwerbung betreibt, im Kontext der Zeit. Mit dem Beitrag von Andreas Keller tritt die Heliodorrezeption nach 1600 in den Vordergrund. Im Kontext des nach 1648 etablierten Staatsromans, der zeit- und ortsgenau Texte generiert und dessen individuelle Kommunikationssituation unwiederholbar erscheint, kommt Heliodor dabei eine zentrale Funktion als Vorbild
18 Stanislaw Warschewiczki: Heliodori Aethiopicae Historiae libri decem […]. Basel: Oporinus, 1552, Zschorns Text liegt in einem mit umfangreicher Einleitung versehenen Neudruck vor: Heliodorus Emesenus: Aethiopica Historia. In der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559. Hg. u. eingel. von Peter Schäffer. Bern 1984 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jh.s 30), die Einleitung findet sich auf S. 7*–56*.
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und Inspiration zu. Hierbei werden die Aithiopika auf Wiedererkennbarkeitsmomente reduziert, sie sind einer „mutierenden Transformation“ (Keller) ausgesetzt, die dynamische Geschichtsbilder mit einem Handlungsappell verbinden und so den Text neu funktionalisieren. Keller arbeitet anhand spezifischer wiedererkennbarer Momente wie dem Sonnenaufgang oder dem Piratenüberfall in Aramena, Herkules und anderen Staatsromanen die neue Besetzung von Schlüsselphänomenen heraus. Diese nutzen, so seine zentrale These, Heliodor als Matrix und Impulsgeber, mithin als Produktivrahmen, der so lange in Gebrauch bleibt, bis die neuen Muster etabliert sind und ohne die Dignität des Vorbildautors auskommen können. Der AithiopikaGebrauch wird damit zu einer „zerstörenden Ingebrauchnahme“ (Keller), der Heliodorus redivivus mutiert zum Heliodorus deletus. Das bislang von der Forschung völlig vernachlässigte Feld der dramatischen Heliodorrezeption im 17. Jahrhundert nimmt Regina Toepfer in den Blick. Sie stellt die vier Dramatisierungen durch Waldung (1605), Scholvin (1608), Brülow (1614) und Beckh (1666) vor und vollzieht nach, welche Eingriffe der Gattungstransfer in die Handlung des bühnenhaft angelegten, von Theatermetaphorik entscheidend mit getragenen Romans mit sich bringen. Den besonderen Schwerpunkt ihrer Ausführungen legt Toepfer auf die Dramatisierungen Brülows und Beckhs, die sie detaillierter vorstellt. Für Brülow betont sie den Einfluss des neulateinischen Dramenkonzepts, das auf Deutsch realisiert wird, ebenso wie den daraus resultierenden Umgestaltungsprozess der Handlung, die zwei Hauptstränge im ordo naturalis umfasst und auf diese Weise den verschachtelten ordo artificialis der Vorlage zu imitieren versucht. Brülow moralisiert, so Toepfers These, die Handlung, er konfessionalisiert und antikisiert sie. Das macht seine Bearbeitung zum Spiegel lutherischer Sozialethik und Mythologie. Beckh, dessen sehr späte Dramatisierung eventuell mit einem Neudruck der Übersetzung Zschorns (Nürnberg, bei Endtner in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts) in Zusammenhang zu bringen ist, skizziert Toepfer hingegen als gesellschaftskritischen Autor. Mit Alamod bringt er eine komische Figur in Form von Zwischenspielen in den Handlungsgang ein, ansonsten steht jedoch der von ihm in den Plot eingebrachte Standeskonflikt zwischen Chariklea und Theagenes im Vordergrund seines Interesses. In ihrem Fazit zeigt Toepfer auf, wie umfassend das kunstvolle Konstrukt der Aithiopika den individuellen Akzentsetzungen der Dramatiker weichen muss und welche poetische Gestaltungsfreiheit die Antikenrezeption des 17. Jahrhunderts dominiert. Dem 18. Jahrhundert sind die beiden letzten Beiträge des Bandes gewidmet. Sylvia Brockstieger untersucht, wie die neuen Aithiopika-Übersetzungen Agricolas (1755) und Meinhardts (1767) im Kontext der breiteren Tradition der Antikenübersetzung im 18. Jahrhundert zu lesen sind. Der rezeptionsgeschichtliche Umbruch der Zeit (die ostentative Abkehr von markierter Rezeption zu ausgesprochener Ablehnung im Kontext eines neuen Bildungsverständnisses, dem alte Romane vermeintlich nicht mehr zu genügen vermögen) bildet dabei den Hintergrund von Brockstiegers Ausführungen. Sie skizziert aus den wenigen Zeugnissen Porträts der Übersetzer Agricola und Meinhardt und zeigt sodann auf, wie Agricola die Aithiopika als Tugendlehre ausstellt, wobei er stark auf das dramenpoetologische Programm seines Vorbilds Gottsched rekurriert. Meinhardt hingegen betreibt in seiner
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Übersetzung eine bewusste und zielgerichtete „Antiquarisierung“ (Brockstieger) des Romans, der als Werk alter Zeit ausgestellt und letztlich ad acta gelegt wird. Abschließend skizziert Brockstiegers Beitrag auf der Basis der detailliert analysierten Übersetzungen die generelle Breite des Spektrums divergierender Übersetzungstechniken als Spiegel des Antikenverständnisses im 18. Jahrhundert. Thomas Borgstedt nimmt abschließend das späte 18. Jahrhundert in den Blick, in dem das Heliodorschema keine innovative Kraft mehr besaß und in der Romankunst der Zeit de facto keine Rolle mehr spielte. Vor diesem Hintergrund stellt er die Frage, warum und in welcher Art und Weise sich das Heliodorschema als strukturbestimmend für Goethes Wilhelm Meister erweist und wie Heliodors Aithiopika neu instrumentalisiert werden. Borgstedt arbeitet heraus, wie das zirkuläre Heliodorschema, das dem Entwicklungsgedanken von Goethes Roman eigentlich zuwiderläuft, als kontrafaktisches Element genutzt wird, um der stufenweisen Entwicklung der Figur Wilhelms eine Spannungskurve mit Impulsen für die Rezeption zu verleihen. Heliodors Roman wird dabei nicht einfach adaptiert oder zitiert, sondern neu angepasst und für ein neues Erzählkonzept funktionalisiert. Die hier versammelten Beiträge sind die Akten einer deutsch-italienischen Tagung, die vom 5. bis 7. Juni 2014 am Freiburg Institute for Advanced Studies der AlbertLudwigs-Universität Freiburg stattgefunden hat. Am Ende der langen und intensiven Arbeit an diesem Band möchten wir allen danken, die uns in den verschiedenen Phasen der Vorbereitung der internationalen Tagung und der Erstellung und Veröffentlichung des Sammelbandes geholfen haben. Unser Dank gebührt zuerst der Fritz Thyssen-Stiftung, die unsere Tagung großzügig förderte, dem Freiburg Institute for Advanced Studies, das uns als Gastgeber logistisch unterstützte, und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die die Druckkosten des Tagungsbandes übernommen hat. Ohne die unbürokratische Förderung durch diese Institutionen wären die Tagung und die Publikation nicht möglich gewesen. Zu nennen sind selbstverständlich auch alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Tagung selbst, die durch Vorträge und Diskussionsbeiträge geholfen haben, die komparatistischen und interdisziplinären Ansätze und Leitgedanken dieses Heliodor-Projektes zu schärfen. Herzlich gedankt sei ebenso Heinz Hofmann (Universität Tübingen), der mit großem Engagement die altphilologische Sektion der Tagung moderiert hat. Ferner möchten wir Christoph Schubert (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) besonders danken, der unser Publikationsprojekt zur deutschen und italienischen Rezeption von Heliodor in der von ihm geleiteten Reihe Palingenesia mit Begeisterung aufgenommen und kräftig unterstützt hat und der auch die erste Rohfassung des Textes persönlich durchgesehen hat. Schließlich gilt unser Dank Elisabeth Tilmann (Universität Bonn), die uns besonders am Anfang der Arbeit am Buch geholfen hat, und vor allem Carmen Brand und Ann-Catrin Rebohl (beide Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) für die umsichtige Hilfe bei der Korrekturdurchsicht des Gesamttextes und für die sorgfältige Redaktion des Bandes.
I. DIE WIEDERENTDECKUNG DES ROMANS UND DIE ALTPHILOLOGISCHE PERSPEKTIVE
HELIODOR ZWISCHEN HISTORIE UND LEGENDE ÜBERLEGUNGEN ZUM PROBLEM DER DATIERUNG∗ Laura Mecella 1. Konstantinopel, gegen Mitte des sechsten Jahrhunderts. In der Säulenhalle eines Heiligtums trifft sich eine Gruppe von Freunden, um gemeinsam die Aithiopika des Heliodor zu lesen und zu besprechen. Im Gegensatz zu vielen Anwesenden, die den Roman ins Lächerliche ziehen, versucht der neuplatonische Philosoph Philippos mutig den allegorischen Gehalt der Aithiopika zu verteidigen, indem er vorschlägt, die Stationen der Liebe zwischen Chariklea und Theagenes als Annäherung der Seele an Gott zu verstehen.1 Diese Polemik, welche Philippos in den sogenannten ༁ρµηνε༁α wiedergibt, ist beispielhaft für die Verlegenheit der byzantinischen Kultur gegenüber dem Text des Heliodor: wurde das Werk doch oftmals aufgrund seiner erotischen Komponenten – auch wenn diese weit weniger explizit sind als bei vielen antiken Novellen – als unmoralisch verworfen, immer wieder aber auch mühsam mittels allegorischer Interpretationen wiederbelebt.2
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Für eine vertiefende Lektüre zu den in diesem Beitrag behandelten Themen vgl. Laura Mecella: L’enigmatica figura di Eliodoro e la datazione delle Etiopiche. In: Mediterraneo Antico 17 (2014), S. 633–658. Das ist die angenommene Ausgangslage im Dialog, der bekannt ist unter dem Namen τ༁ς Χαρικλε༁ας ༁ρµηνε༁α τ༁ς σ༁φρονος ༁κ φων༁ς Φιλ༁ππου το༁ φιλοσ༁φου, der im Anhang des Romans einzig im Marc. gr. 410 ([522] Salento, Mitte des zwölften Jahrhunderts) erhalten ist. Datierung und Einordnung des Textes bleiben umstritten: Ich greife hier die von Augusta Acconcia Longo vorgeschlagene Rekonstruktion auf (La questione di Filippo il filosofo. In: Ν༁α ༁༁µη 7 [2010], S. 11–39; vgl. auch dies.: Filippo il filosofo a Costantinopoli. In: Rivista di studi bizantini e neoellenici 28 [1991], S. 3–21). Sie ordnet die Begebenheit in das Konstantinopel des Justinianischen Zeitalters ein, in der Nähe der Wallfahrtskirche der Madonna τ༁ς Ζωοδ༁χου Πηγ༁ς. Zu Heliodors Nachleben im byzantinischen Zeitalter vgl. Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman. 2. Auflage. Zürich, Stuttgart 1962, S. 56–60; Hans Gärtner: Charikleia in Byzanz. In: Antike und Abendland 15 (1969), S. 47–69; Herbert Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner. Bd. II. München 1978, S. 119–142; Michael Psellus: The Essays on Euripides and George of Pisidia and on Heliodorus and Achilles Tatius. Hg. von Andrew R. Dyck. Wien 1986, S. 80–88; Panagiotis A. Agapitos: Narrative, rhetoric, and ‚drama‘ rediscovered: scholars and poets in Byzantium interpret Heliodorus. In: Studies in Heliodorus. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 125–156.
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Diese Ambivalenz gegenüber dem Werk setzt sich in der Auseinandersetzung mit dessen Autor fort, der ab dem fünften Jahrhundert zuweilen als orthodoxer Bischof, dann wieder, ganz gegenteilig, als angsteinflößender Magier dargestellt wird. Tatsächlich ist über den Verfasser der Aithiopika nur das bekannt, was er von sich selbst in der σφραγ༁ς als Abschluss des Romans behauptet: τοι༁νδε π༁ρας ༁σχε τ༁ σ༁νταγµα τ༁ν περ༁ Θεαγ༁νην κα༁ Χαρ༁κλειαν Α༁θιοπικ༁ν· ༁ συν༁ταξεν ༁ν༁ρ Φο༁νιξ ༁µισην༁ς, τ༁ν ༁φ᾽ ༁λ༁ου γ༁νος, Θεοδοσ༁ου πα༁ς ༁λι༁δωρος. [So endigte die äthiopische Geschichte von Theagenes und Chariklea, die ein Phönizier aus Emesa und aus dem Geschlechte des Helios, Heliodor, der Sohn des Theodosius, verfaßte.] [übers. v. Th. Fischer]
Diese wenigen Informationen ließen zu, dass sich um seine Identität vielfältige Legenden bilden konnten. Die frühesten Angaben über das Leben des Heliodor können den Schriften des Kirchenhistorikers Sokrates Scholastikos entnommen werden, demzufolge Heliodor, nachdem er in seiner Jugend Bücher erotischen Inhalts verfasst hatte, Bischof der thessalischen Kleinstadt Trikka geworden sei. Entgegen verbreiteter Behauptungen findet man bei Sokrates keinerlei zeitgeschichtliche Hinweise, die für eine Datierung nützlich sein könnten.3 Die biographischen Angaben werden in der Epitome der Historia Tripartita des Theodoros Anagnostes4 und ebenfalls bei Photios wiederholt.5 In diese Überlieferung reiht sich im vierzehnten Jahrhundert auch Nikephoros Kallistos Xanthopoulos ein, der berichtet, dass es Heliodor vorzog, als die lokale Synode ihn aufforderte, seine eigenen Bücher als Quelle des Eros und zum Schutz
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Socr., h.e. V 22, 51 (302 Hansen): „༁λλ༁ το༁ µ༁ν ༁ν Θεσσαλ༁༁ ༁θους ༁ρχηγ༁ς ༁λι༁δωρος, Τρ༁κκης τ༁ς ༁κε༁ γεν༁µενος , ο༁ λ༁γεται πον༁µατα ༁ρωτικ༁ βιβλ༁α, ༁ ν༁ος ༁ν συν༁ταξεν κα༁ Α༁θιοπικ༁ προσηγ༁ρευσεν.“ Die Textstelle nimmt Bezug auf das Vorgehen der thessalischen Kirche, Mitglieder des Klerus, die nach der Priesterweihe weiterhin mit ihren zuvor geheirateten Frauen zusammenlebten, auszuschließen, wovon Sokrates unmittelbar im voranstehenden Passus spricht. Ebenso bemerkenswert ist, dass ༁π༁σκοπος eine Ergänzung von Hansen auf Grundlage der armenischen Textübersetzung des sechsten bis siebten Jahrhunderts ist, die dennoch, wie der Herausgeber betont, „unsere Hauptstütze für die Rekonstruktion des griechischen Originaltextes“ darstellt, da sie vermutlich auf einem griechischen Schriftstück aus dem fünften oder sechsten Jahrhundert beruht (vgl. hierzu Sokrates Kirchengeschichte. Hg. von Günther Ch. Hansen, mit Beiträgen von Manja Širinjan. Berlin 1995, S. XXV–XXXI, hier S. XXV). Von der Historia tripartita des Theodoros Anagnostes (Ende des fünften bis Anfang des sechsten Jahrhunderts), der die Kirchengeschichten von Sokrates, Sozomenos und Theodoretos in einem einzigen Text verschmolz, sind nur noch die beiden ersten Bücher erhalten; das restliche Werk ist lediglich durch eine Epitome aus dem siebten Jahrhundert bekannt. Für die betreffende Stelle vgl. ep. 264 (82–83 Hansen). Photios widmet Heliodor den gesamten cod. 73, vgl. dazu Nunzio Bianchi: Un manoscritto di Eliodoro nella Biblioteca di Fozio. In: Segno e Testo 14 (2016), S. 99–135. Am Ende stellt er, mit einem Hauch Skepsis, fest: „τα༁τα δ༁ συνέγραψε Φο༁νιξ ༁ν༁ρ ༁µισην༁ς Θεοδοσίου πα༁ς ༁λιόδωρος ༁ν ο༁ς κα༁ τ༁ τέλος. το༁τον δ༁ κα༁ ༁πισκοπικο༁ τυχε༁ν ༁ξιώµατος ༁στερόν φασιν.“
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der Jugend zu verbrennen, sein Priesteramt niederzulegen statt sein Werk zu vernichten.6 Die uns unbekannte Quelle des Nikephoros ist sicher von den Schatten, die in der Zwischenzeit auf den Romanautor gefallen sind, beeinflusst; in byzantinischer Zeit wurde der Autor der Aithiopika Opfer einer fortschreitenden Entstellung, die ihn immer stärker mit der Welt der Magie und des Übernatürlichen in Verbindung setzte, und diesen im besten Fall in einen Alchemisten, im schlimmsten in einen dämonischen Zauberer verwandelte.7 So werden Mitte des zehnten Jahrhunderts von Symeon Logothetes, einige Kaiser Theodosius dem Großen gewidmete Jamben über die Herstellung von Gold Heliodor von Emesa zugeschrieben.8 Die Herkunft dieser angeblichen Urheberschaft ist in diesem Fall einfach zu bestimmen: unter dem Namen ༁λι༁δωρος φιλ༁σοφος war ein alchemistisches Gedicht im Umlauf, das jedoch in der Zeit nach Heraklios verfasst wurde.9 Die falsche Zuschreibung beruht wahrscheinlich auf der Homonymie des Romanverfassers und eines neuplatonischen Philosophen des fünften oder sechsten Jahrhunderts, der für seine Kenntnisse der Astronomie und Astrologie bekannt war.10 6
Nic. Call. Xanth. XII 34 (PG 146, 860c). Über die teilweise Abhängigkeit von Nikephoros’ Werk von der Historia Ecclesiastica des Sokrates: Günter Gentz: Die Kirchengeschichte des Nicephorus Callistus Xanthopulus und ihre Quellen. Berlin 1966, S. 184 (und ebd. für die besagte Textstelle S. 110–111). 7 S. dazu Augusta Acconcia Longo: La vita di S. Leone vescovo di Catania e gli incantesimi del mago Eliodoro. In: Rivista di studi bizantini e neoellenici 26 (1989), S. 3–98, hier S. 14–15. 8 Sym. Log. 95, 9: „༁λι༁δωρος γρ༁ψας τ༁ λεγ༁µενα Α༁θιοπικ༁ ༁π༁σκοπος ༁ν τ༁ς Τρ༁κκης ༁π༁ Θεοδοσ༁ου. γρ༁φει δ༁ κα༁ δι༁ στ༁χων ༁༁µβων τ༁ν το༁ χρυσο༁ πο༁ησιν πρ༁ς τ༁ν α༁τ༁ν Θεοδ༁σιον“ (122 Wahlgren, auf diese Ausgabe wird für die Identifikation der Chronik des sogenannten ‚Theodosios Melitenos‘ – dem man zuvor die Textstelle zugeordnet hat – mit einer der Versionen des Werks von Symeon Logothetes verwiesen). Es sollte betont werden, dass dieser Passus das erste Zeugnis ist, das Heliodor an das Reich Theodosius I. bindet, und nicht der oben angeführte Passus von Sokrates. 9 „༁λιοδ༁ρου φιλοσ༁φου πρ༁ς Θεοδ༁σιον τ༁ν µ༁γαν βασιλ༁α περ༁ τ༁ς τ༁ν φιλοσ༁φων µυστικ༁ς τ༁χνης.“ Es handelt sich um das erste einer Reihe von vier alchemistischen Gedichten in jambischen Trimetern; für die Ausgabe des Textes vgl. Günther Goldschmidt: Heliodori carmina quattuor ad fidem codicis Casselani. Giessen 1923, S. 26–34. 10 Zu Heliodor, Schüler von Proklos und Sohn von Hermias, Bruder von Ammonios s. Franz Boll: Heliodoros (13). In: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. VIII, 1. Hg. von Wilhelm Kroll. Stuttgart 1912, S. 18–19. Ich bin nicht der Ansicht, dass sich hinter der Erwähnung ༁λι༁δωρος φιλ༁σοφος ursprünglich die Figur des Schriftstellers verbirgt, sondern viel eher Proklos’ Schüler, wie es auch andere Formeln magischer Wahrsagerei bezeugen, die in der handschriftlichen Tradition unter dem Namen Heliodors vorkommen und häufig dem neuplatonischen Philosophen zugeschrieben werden (vgl. z.B. jene auf f. 225 des Codex 23 [H 2 inf.] der Biblioteca Ambrosiana, in: Codices Mediolanenses [CCAG III]. Hg. von Emidio Martini, Domenico Bassi. Bruxellis 1901, S. 14 und 53). Die chronologische Inkonsequenz (ein Theodosius I. gewidmetes Gedicht / ein Philosoph, der an der Wende vom fünften zum sechsten Jahrhundert lebte) wird rasch verständlich, wenn man bedenkt, dass auch die anderen drei Gedichte nur auf schwer identifizierbare Figuren zurückzuführen sind; zu diesem Problem s. Julius Ruska: Turba philosophorum. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie. Berlin 1931, S. 264–265, der zu diesem Schluss kommt: „so bleibt als wahrscheinlichstes Ergebnis, daß ein unbekannter Byzantiner in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts seinen Machwerken durch hochtönende Verfassernamen und durch die gefälschte Widmung an einen alten und berühmten
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Viel dunkler erscheinen dagegen die Wege, auf denen es dazu kam, dass sich unser Heliodor in den berüchtigten Zauberer Heliodor von Catania verwandelte, dessen Machenschaften sich in der Zeit Leos III. und Konstantins V. ereignet haben sollen. In den Hagiographien wird nämlich Leo, Bischof von Catania, als der Heilige hervorgehoben, der neben vielen anderen Verdiensten auch den mächtigen Magier Heliodor beseitigt habe. Dieser hielt dank seiner durch einen Pakt mit dem Teufel erworbenen Macht Bevölkerung und Würdenträger in Catania und Konstantinopel (wohin er zwei Mal vergeblich gebracht wurde, um ihm den Prozess zu machen) in Schach. Dem Zauberer wird dabei jede Art von Freveln zugeschrieben: Verwünschungen, Zaubereien, um die Anwesenden der Lächerlichkeit preiszugeben, seine Erscheinung als Teufel, die Verwandlung von gemeinen Materialien in Silber und Gold und umgekehrt, die Verführung junger Frauen, gotteslästernde Schändung der Liturgie, unerklärbar langes Untertauchen im Wasser und teuflische Flüge, um der Festnahme zu entgehen. Trotz dieser Fähigkeiten gelingt es schließlich dem Bischof Leo von Catania, ihn zu stellen und auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Es ist nicht meine Absicht, die komplexen Probleme der Entstehung des Textes der Heiligengeschichte – deren Urtext wohl in die zweite Phase des Bilderstreits (815–843) fällt – oder die Bedeutung, die die Geschichte von Leo und Heliodor in der byzantinischen Kultur erlangt hat, nochmals anzugehen. Diese Problemfelder wurden von Augusta Acconcia Longo umfassend und mit aufschlussreichen Ergebnissen untersucht.11 Es ist hier völlig ausreichend, daran zu erinnern, dass – wie die Gelehrte schreibt – die dem Zauberer Heliodor zugeschriebenen Merkmale sono, in senso peggiorativo, un derivato della trasformazione subìta nel medioevo dalla figura di Eliodoro di Emesa. L’autore del romanzo d’amore diviene il corruttore di fanciulle, il narratore di viaggi avventurosi diventa il protagonista di spostamenti diabolici, l’alchimista è un imbroglione che trasforma sostanze vili in oro e poi le riporta allo stato primitivo per ingannare i mercanti e distruggere la vita economica della città.12
Kaiser bei seinen Lesern Gewicht zu verschaffen bemüht war“ (S. 265). Erst danach ergab sich dann die Assimilation dieser Figur mit der des Heliodor von Emesa, die man bei Symeon Logothetes wiederfindet, begünstigt durch die magisch-mysteriöse Konnotation einiger Romanpassagen (hierfür s.u.). Diese Überlappung schuf in der späteren Überlieferung die ‚Legende‘ eines Heliodor aus Emesa, der zur Zeit Theodosius I. lebte, der keineswegs zufällig in unserer Tradition nicht vor dem zehnten Jahrhundert erscheint: s. dazu auch die unten angestellten Überlegungen. 11 Vgl. Acconcia Longo: La vita di S. Leone (Anm. 7), passim und dies.: Note sul dossier agiografico di Leone di Catania: la trasmissione della leggenda e la figura del mago Eliodoro. In: Rivista di studi bizantini e neoellenici 44 (2007), S. 3–38; für alle Einzelheiten der Erzählung wird ebenso darauf verwiesen. 12 [gehen auf die Verwandlung, in abwertendem Sinn, zurück, die die Figur des Heliodor aus Emesa im Mittelalter erfahren hat. Der Autor des Liebesromans wird zum Mädchenverführer, der Erzähler von Abenteuerreisen zum Protagonisten teuflischer Ortswechsel, der Alchimist ist ein Schwindler, der gemeine Materialien in Gold verwandelt und sie dann in den ursprünglichen Zustand zurückführt, um die Händler zu täuschen und das Geschäftsleben der Stadt zu zerstören.] Acconcia Longo: La vita di S. Leone (Anm. 7), S. 15.
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Außerdem ist der Zauberer beschuldigt worden, die Bevölkerung zum Götzendienst und zur Verehrung eines ξ༁ανον verleitet zu haben – eines Talismans, der die Kraft besäße, Ausbrüche des Vulkans Ätna zu verhindern. Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Patria einem „gottlosen Heliodor“ („༁λιοδ༁ρου το༁ δυσσεβο༁ς“) mit großem Wissen und Kenntnissen der Astronomie (µετ༁ πολλ༁ς ༁πιστ༁µης κα༁ ༁στρονοµ༁ας) den Bau des Anemodulion in Konstantinopel zuschreiben.13 Hier kommt deutlich der Zwiespalt zwischen ‚hellenischer‘ Kultur, deren Sprachrohr Heliodor wurde, und der christlichen Lehre zum Ausdruck, der in der byzantinischen Welt niemals überwunden wurde. Tatsächlich kreist das incipit der ältesten uns überlieferten Rezension des Lebens des Heiligen Leo genau um diesen Widerspruch zwischen „τ༁ν ༁λλ༁νων β༁βηλοι ༁༁σεις“ [den weltlichen Reden der Hellenen] und „σοφ༁α το༁ Θεο༁“ [der göttlichen Weisheit].14 2. Zwischen diesen beiden Extremen, dem des Bischofs und dem des Götzendieners, verschwimmt die Gestalt Heliodors. Lässt man die eindeutig legendenhaften Berichte über Alchemie und schwarze Magie bei Seite, reduzieren sich die Informationen, die glaubwürdig sein könnten, drastisch: Seine Herkunft aus Emesa und die Verbindung zum Sonnenkult, die Datierung in die Zeit des Theodosius und seine Berufung zum Bischofsamt. Dies sind die Grundlagen, auf denen moderne Forscher ihre Rekonstruktion aufbauen. Dabei ist Heliodors Biographie verschieden akzentuiert worden; als christlicher Bischof Ende des vierten Jahrhunderts, der als reifer Mann nach der Verfassung des Romans zum Christentum übertrat, oder als Vertreter des Sonnenkultes aus Emesa, weshalb er ins dritte Jahrhundert datiert werden müsste, oder als Schriftsteller, der am Ende der Regierung der Antoniner und zur Zeit der Severer tätig gewesen sei. Feuillâtre datierte ihn in die Zeit Hadrians, da in den Aithiopika dem Heiligtum in Delphi eine herausragende Rolle zukommt;15 dennoch würde eine so frühe Datierung grundsätzlich in Widerspruch zu den Angaben Heliodors in dem Beiwort
13 Patr. Const. III 114 (II, 253 Preger): Hier wird die Konstruktion der Skulpturengruppe auf das Zeitalter Leos III. datiert, bedeutenderweise die gleiche, in der auch die Geschichte vom heiligen Leo eingereiht werden sollte; nach Kedrenos (344.10 = 558 Tartaglia) stammt es hingegen aus der Epoche Theodosius I. Über den Bericht der Patria s. Gilbert Dagron: Constantinople imaginaire. Études sur le Recueil des Patria. Paris 1984, S. 131 mit Anm. 20. 14 Griechischer Text in Acconcia Longo: La vita di S. Leone (Anm. 7), S. 80 Z. 3. Noch immer ein Klassiker zum Thema ist Paul Lemerle: Le premier humanisme byzantin. Paris 1971, passim und insbes. 101, 156, 171–175, 202–204, 301–307. 15 Emile Feuillâtre: Études sur les Éthiopiques d’Héliodore. Contribution à la connaissance du roman grec. Paris 1966, passim und bes. 45–67, 147–148.
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Φο༁νιξ stehen, welches die unter Septimius Severus erfolgte Teilung Syriens in Syria Coele und Syria Phoenice (zu der auch Emesa gehörte) voraussetzt.16 In seinem Beitrag aus dem Jahr 2000 hat Robiano vor allem auf die Assimilierung von Heliodor und Achilleus Tatios (der zwischen Mitte und Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus anzusiedeln ist) in die byzantinische Kultur hingewiesen, um so eine zeitliche Nähe zwischen ihnen zu rechtfertigen. Er bekräftigt sogar die Schlussfolgerung, welche schon Photios und Michael Psellus äußerten, dass es sich bei Leukippe und Kleitophon um eine Ableitung von den Aithiopika handele.17 Jedoch folgt aus der gegenseitigen, von den Byzantinern wahrgenommenen Affinität der beiden Werke nicht notwendigerweise deren Gleichzeitigkeit; und das Wiederkehren topischer Motive in beiden Romanen konnte leicht bei antiken wie auch modernen Lesern dazu führen, fälschlicherweise Abhängigkeiten zu vermuten. Hani betonte die Bedeutung des Sonnenkultes im Roman, die Heliodor aus Emesa zum Zeitgenossen Elagabals und zum Anhänger des vom Kaiser befürworteten Kults machen würde,18 während Rattenbury auf die Regierung des Severus Alexander hinweist.19 Einer späteren Datierung ins dritte Jahrhundert zugeneigt sind
16 Dieses Element wurde kürzlich hervorgehoben, vor allem von Patrick Robiano: Héliodore d’Émèse. In: Dictionnaire des Philosophes Antiques. Hg. von Richard Goulet. Bd. III: D’Eccélos à Juvénal. Paris 2000, S. 535–544 (H 31), hier 537. Wie auch der Gelehrte selbst daran erinnert, war die Zugehörigkeit von Emesa zur phönizischen Welt dennoch eine kulturell gewachsene Tatsache, die nicht notwendigerweise die Verwaltungsreform der Zeit der Severer miteinschließt. 17 Patrick Robiano: Pour en finir avec le christianisme d’Achille Tatius et d’Héliodore d’Émèse: La lecture des Passions de Galaction et d’Épistèmè. In: L’Antiquité Classique 78 (2009), S. 145–160, hier 153ff. Robiano erinnert daran, wie im byzantinischen Zeitalter, angefangen bei der handschriftlichen Tradition, die Werke Heliodors und die von Achilleus Tatios häufig miteinander verbunden wurden; und er hebt hervor, dass die von Photios zitierte Angabe (cod. 87) und die von Michael Psellos („Τ༁ς ༁ δι༁κρισις τ༁ν συγγραµµ༁των, ༁ν τ༁ µ༁ν Χαρ༁κλεια, τ༁ δ༁ Λευκ༁ππη ༁ποθ༁σεις καθεστ༁κατον“; Z. 66 [94 Dyck]) durch ein Detail in den Passiones indirekte Bestätigung gefunden hätte. Hier stößt man nämlich auf Leukippe, Tochter eines aus Emesa stammenden Memnon: Das Detail könnte demnach auf eine ‚Abstammung‘ der Leukippe und Kleitophon von den Aithiopika des Heliodor aus Emesa anspielen (wo im Übrigen ein Memnon als Stammeshaupt der äthiopischen Königsfamilie angegeben ist: s. Aeth. IV 8 und X 6). All dies aber gibt uns vom literarischen Bewusstsein eines Teils der byzantinischen Welt Kenntnis, nicht aber von der historischen Realität, in der die beiden Werke verfasst wurden. Zugunsten einer Datierung der Aithiopika zwischen dem späten zweiten und frühen dritten Jahrhundert n. Chr. vgl. auch Jean Pouilloux: Delphes dans les Éthiopiques d’Héliodore. La réalité dans la fiction. In: Journal des Savants (1983), S. 259–286, der seine Ergebnisse auf der Beschreibung des delphischen Heiligtums in diesem Roman fußen lässt. 18 Jean Hani: Le personnage de Charicleia dans les Éthiopiques: incarnation de l’idéal moral et religieux d’une époque. In: Bulletin de l’Association Guillaume Budé (1978), S. 268–273. Nebulös sind auch die weiteren Argumentationen, mit denen Hani versucht hat, die Verkörperung des vermeintlich „moralischen und religiösen Ideals“ des dritten Jahrhunderts in Charikleas Persönlichkeit einzufangen. 19 Robert M. Rattenbury: Introduction. In: Héliodore: Les Éthiopiques (Théagène et Chariclée), Tome I. Texte établi par R. M. Rattenbury et T. W. Lumb, et traduit par J. Maillon. Paris 1935, S. VII–LXIV, hier S. VII–XV.
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dagegen Münscher20 und Altheim, denen zufolge Heliodor den Wunsch hegte, den negativen Eindruck des Emesischen Kults, der durch die Exzesse Elagabals verursacht wurde, vergessen zu lassen, und gehen folglich davon aus, dass das Werk unmittelbar in den Jahrzehnten nach der Herrschaft dieses Kaisers entstand.21 Rohde legt die Entstehungszeit der Aithiopika in die Herrschaftszeit des Kaisers Aurelian (270–275 n. Chr.), der den Kult des Sol invictus förderte;22 Scarcella wertet die „Angsttränen“, die den Seiten des Romans entströmen, als reinen Ausdruck der sogenannten ‚Krise‘ des dritten Jahrhunderts.23 Schließlich befürwortet Cracco Ruggini eine Datierung in die Zeit zwischen Aurelian und Konstantin.24 20 Karl Münscher: Heliodoros (15). Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. VIII, 1. Hg. von Wilhelm Kroll. Stuttgart 1912, S. 19–28, hier S. 23–24, die die Jahrzehnte 220–250 behandeln. Münscher hat vor allem die Affinität zwischen Heliodor und Xenophon von Ephesos hervorgehoben (für dessen Arbeit die Zerstörung des ephesinischen Artemision durch die Goten im Jahre 262 als terminus ante allgemein gilt, da die Begebenheit nicht darin erwähnt ist), und die Priorität des ersten über den zweiten bekräftigt. Für eine Datierung in die dreißiger und fünfziger Jahre des Jahrhunderts ist auch Weinreich: Der griechische Liebesroman (Anm. 2), S. 32–40 (vgl. ebd., S. 34: „Heliodors Leben hätte sich also unter der Dynastie der Severer abgespielt, er hätte Heliogabals verfrühten Versuch erlebt, den Gott von Emesa zum Reichsgott zu machen, hätte unter Severus Alexander geschrieben und den Roman unter Decius’ erster Regierungszeit abgeschlossen“). 21 Franz Altheim: Helios und Heliodor von Emesa. Amsterdam, Leipzig 1942, der ebenso für eine Datierung zwischen 233 (d.h. nach dem persischen Feldzug von Severus Alexander, welcher die Beschreibung der persischen Kavallerie des IX. Buches inspiriert haben soll, s.u.) und der Mitte des Jahrhunderts ist. 22 Erwin Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer. 4. Auflage. Hildesheim 1960, S. 453–498, der als Erster auf den Ähnlichkeiten zwischen den Aithiopika und der Vita Apollonii des Philostratos beharrte. 23 Antonio M. Scarcella: Testimonianze della crisi di un’età nel romanzo di Eliodoro. In: Maia 24 (1972), S. 8–41. Die Wahrnehmung des dritten Jahrhunderts als einer ‚Epoche der Angst‘, auf Grundlage des berühmten Buches von Erich M. Dodds: Pagan and Christian in an Age of Anxiety: some aspects of religious experience from Marcus Aurelius to Constantine. Cambridge 1965, wird jetzt von der neuesten Kritik angefochten. Vgl. inter aliis Karl Strobel: Das Imperium Romanum im ‚3. Jahrhundert‘. Modell einer historischen Krise? Zur Frage mentaler Strukturen breiterer Bevölkerungsschichten in der Zeit von Marc Aurel bis zum Ausgang des 3. Jh. n. Chr. Stuttgart 1993. Im Rahmen dieses Artikels ist es mir nicht möglich eine umfassende Bibliografie über diese Diskussion zu geben, ich beschränke mich daher darauf, auf die Literaturangaben zu verweisen in: Laura Mecella: L’età dei Soldatenkaiser nella storiografia recente. In: Mediterraneo Antico 11 (2008), S. 657–671. 24 Lellia Cracco Ruggini: Leggenda e realtà degli Etiopi nella cultura tardoimperiale. In: Atti del IV Congresso Internazionale di Studi Etiopici (Roma, 10–15 aprile 1972). Roma 1974, S. 141– 193, hier 161–185. Sie besteht auf einer Reihe von Elementen, die ihrer Ansicht nach an die Geschichte der römisch-äthiopischen Beziehungen der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts erinnern; doch erscheint das unbedingte Bestreben genaue Angaben zur historischen Aktualität aus einem Fantasietext herauslesen zu wollen, der bekanntermaßen Elemente derart unterschiedlichen Epochen und Situationen entnimmt (der griechischen Klassik, der frühen römischen Kaiserzeit, der beginnenden Spätantike: dazu bes. s.u., Anm. 34), als eine klare Verzerrung. Unklar bleiben die Beweggründe, weshalb Ken Dowden: Pouvoir divin, discours humain chez Héliodore. In: Discours et débats dans l’ancien roman. Actes du Colloque de Tours, 21– 23 octobre 2004. Hg. von Bernard Pouderon, Jocelyne Peigney. Lyon 2006, S. 249–261, den
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Den entscheidenden Punkt für eine chronologische Einordnung Heliodors bildet, wie oft hervorgehoben wurde, die im IX. Buch (§§ 2–8) beschriebene Belagerung von Syene, deren Hergang frappierend an die Beschreibung des Angriffs der Perser gegen die Stadt Nisibis (350 n. Chr.) erinnert, welche sowohl in der ersten wie auch der zweiten julianischen Rede auf Constantius II. zu finden ist. In den Aithiopika ist zu lesen, dass der äthiopische König Hydaspes, um die Bürger zur Kapitulation zu zwingen und Syene in Besitz zu nehmen, eine Überschwemmung verursachte, indem er das nahe Wasser des Nils nutzte und es mittels eines Dammund Kanalbaus umleitete; auf diese Weise wurde das direkt um die Stadt liegende Gebiet überschwemmt, ein Teil der Stadtmauer zum Einsturz gebracht und die Kapitulation der Belagerer erreicht. Bei Benachrichtigung über die Kapitulation gab Hydaspes den Soldaten den Auftrag, das Wasser abfließen zu lassen und sich zu den Bewohnern zu begeben, doch die Bürger, die seine Absichten missverstanden, griffen die Soldaten an, die auf Booten versuchten zur Stadt zu gelangen. Nach mühsahmen Verhandlungen erreichten die Parteien einen Waffenstillstand. Auch Julian, der an die persische Belagerung von Nisibis im Jahre 350 erinnert, erzählt, dass Schapur II. den Lauf des Mygdonios umleiten ließ, um das Gebiet zu überfluten und eine Art künstlichen See zwischen der Stadtmauer und den ad hoc errichteten Erdwällen zu schaffen; so konnte er einen Angriff mit den Booten beginnen.25 Neben inhaltlichen Ähnlichkeiten sind es einige verbale Entsprechungen, die auf eine nicht zufällige Übereinstimmung der beiden Texte hinweisen.26 Deshalb ist die Behauptung berechtigt, dass die Textpassage bei Heliodor dem Bericht Julians entstammt.27
Roman in die dreißiger Jahre des vierten Jahrhunderts datiert. Von der Überlegung ausgehend, dass sich die Verwendung des Adjektivs κρε༁ττονες in Bezug auf die Götter in Heliodors Prosa jener von Eusebios von Caesarea, Jamblichos und Libanios annähert, behauptet er, dass „s’il parle un langage qui date du règne de Constantin, il faut qu’il ait écrit son œuvre vers 330 – et pourquoi pas au cours l’année 333?“ (ebd., S. 255–256), ohne jedoch die Gründe seiner Wahl darzulegen. 25 Iul., or. I 22 (27b–28d Bidez) – darüber s. Ignazio Tantillo: La prima orazione di Giuliano a Costanzo. Introduzione, traduzione e commento. Roma 1997, S. 301–311 – und Iul., or. III 11– 13 (62b–67b Bidez). 26 Anderer Ansicht ist Tibor Szepessy: Le siège de Nisibe et la chronologie d’Héliodore. In: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 24 (1976), S. 247–276, bes. 255 Anm. 39, demnach „les concordances sont cependant dues, dans beaucoup de cas, non à une imitation stylistique, mais plutôt à la parenté ou identité des situations“. 27 Vgl. bes. Aristide Colonna: L’assedio di Nisibis del 350 d.C. e la cronologia di Eliodoro emiseno. In: Athenaeum 28 (1950), S. 79–87; Rudolf Keydell: Zur Datierung der Aithiopika Heliodors. In: Polychronion. Festschrift F. Dölger zum 75. Geburtstag. Heidelberg 1966, S. 345– 350; Pierre Chuvin: Chronique des derniers païens. La disparition du paganisme dans l’Empire romain, du règne de Constantin à celui de Justinien. 2. Auflage. Paris 1991, S. 321–325 (Appendice. La date des Éthiopiques d’Héliodore).
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Tatsächlich scheint es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Letzterer seine Erzählung einem Roman entnommen hat: Es ist zwar wahr, dass in der antiken Prosa die Beschreibung von Belagerungen häufig topisch und musterhaft literarische Modelle übernimmt, aber in diesen Fällen bildet das Pattern immer ein Geschichtswerk in stricto sensu ab (nicht zufällig übernimmt Julian selbst als exemplum das Schicksal des Xerxes und ahmt die Beschreibung der Belagerung von Plataiai und Mantineia durch Thukydides nach28). Es verwundert also nicht, dass Heliodor bei der Anfertigung seiner Erzählung auf Schriften eines Autors zurückgreift, der ihm, wie im Folgenden gezeigt wird, wohl auch ideologisch sehr nahe stand. Die Phantasie des Romanschriftstellers dürfte auch durch eine Behauptung des Julian aus der Oratio I beflügelt worden sein, nach der „༁π༁ρρει δ༁ ༁ Μυγδ༁νιος πελαγ༁ζων τ༁ περ༁ τ༁ τε༁χει χωρ༁ον, καθ༁περ ༁ Νε༁λος, φασ༁, τ༁ν Α༁γυπτον“ (22b Bidez) [die Überflutung durch den Mygdonios verwandelte den Boden um die Stadtmauer herum in ein Meer, wie man sagt, dass es der Nil in Ägypten tut]. Andererseits beabsichtigt der Verfasser der Aithiopika, der die Ereignisse in den Zeitraum zwischen sechstem und viertem vorchristlichen Jahrhundert legt,29 die Erzählung einem Geschichtswerk anzugleichen, indem er sich anmaßt, seiner Schrift den Schein der Wahrhaftigkeit zu geben. Dies kann man schon dem Titel
28 Aus diesem Grund scheint mir, auch abgesehen vom Grad der Zuverlässigkeit, den man dem julianischen Bericht beimessen will, die These derer unwahrscheinlich, die die Datierung Heliodors auf das dritte Jahrhundert um jeden Preis beibehalten wollen und so die Textstellen der beiden Reden als Nachahmung des Romans einstufen. Vgl. e.g. Weinreich: Der griechische Liebesroman (Anm. 2), S. 34–37; Tibor Szepessy: Die „Neudatierung“ des Heliodoros und die Belagerung von Nisibis. In: Actes de la XIIe Conférence Internationale d’Études Classiques „Eirene“ (Clúj-Napoca, 2–7 octobre 1972). Bucureşti 1975, S. 279–287; ders.: Le siège (Anm. 26); Cracco Ruggini: Leggenda e realtà degli Etiopi (Anm. 24), S. 167–170; Miklós Maróth: Le siège de Nisibe en 350 ap. J.-Ch. d’après des sources syriennes. In: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 27 (1979), S. 239–243; Christopher S. Lightfoot: Facts and Fiction – The Third Siege of Nisibis (AD 350). In: Historia 37 (1988), S. 105–125, hier S. 117–119; Massimo Fusillo: Il romanzo greco. Polifonia ed eros. Venezia 1989, S. 13–14; Ewen Bowie: The ancient readers of the Greek novels. In: The novel in the ancient world. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 87–106, hier S. 93–94 (wenn auch mit einigem Zögern). Die Überlegung von Szepessy: Le siège (Anm. 26), S. 267 – weil die beiden julianischen Texte Wiederaufnahmen von Demosthenes, Themistios und Libanios darstellen, „pourquoi serait-il inconcevable que l’auteur ait employé Héliodore également?“ – erscheint völlig unangebracht: Wenn in der Tat die Ämulation in einer Lobrede mit Modellen der ars rhetorica nicht verwundert (sowohl klassischen als auch zeitgenössischen), wäre die imitatio des Romangenres in einem Bericht, der historische Zuverlässigkeit beansprucht, widersinnig und ein unicum in der antiken Literatur. 29 S. bes. Marília Futre Pinheiro: Aspects de la problématique sociale et économique dans le roman d’Héliodore. In: Piccolo mondo antico. Le donne, gli amori, i costumi, il mondo reale nel romanzo antico. Hg. von Patrizia Liviabella Furiani, Antonio M. Scarcella. Napoli 1989, S. 15– 42.
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entnehmen, der der Historiographie entlehnt ist,30 sowie auch an der Aufnahme vieler Elemente Herodots und Thukydides’31 und vor allem am Einsatz bestimmter Erzählformen erkennen:32 1. wissenschaftliche oder als solche scheinende Erklärungen von Naturereignissen oder Träumen/Visionen;33 2. Beschreibung oder Nachstellung von Versammlungen, Prozessen und Empfängen von Gesandtschaften;34 30 John R. Morgan: Heliodoros. In: The novel in the ancient world. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 417–456, hier S. 421: „the author’s own subscript describes the novel […] combining a reference to the heroes’ names with the geographical form of title characteristic of works of history“. 31 Für einen Überblick über die vom Romanschriftsteller verwendeten literarischen Modelle s. Wilhelm Capelle: Zwei Quellen des Heliodor. In: Rheinisches Museum 96 (1953), S. 166–180; Fusillo: Il romanzo greco (Anm. 28), S. 28–57; Morgan: Heliodoros (Anm. 30), S. 436–440; Tim Whitmarsh: The Birth of a Prodigy: Heliodorus and the Genealogy of Hellenism. In: Studies in Heliodorus. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 93–124; David F. Elmer: Heliodoros’s “Sources”: Intertextuality, Paternity, and the Nile River in the Aithiopika. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 138 (2008), S. 411–450, hier 412–429. 32 Über die ‚historiographical pose‘ von Heliodor vgl. bes. John R. Morgan: History, Romance, and Realism in the Aithiopika of Heliodoros. In: Classical Antiquity 1 (1982), S. 221–265 und die bedeutende Beobachtung von Agapitos (Anm. 2), S. 131 über Photios Nachricht (s.o., Anm. 5): „It can be no coincidence that the Heliodoran codex follows upon the codices devoted to the historians Diodorus, Cassius Dio and Ktesias of Knidos. Thus, the Aithiopika is presented as a fictitious story of love […], but one which offers historical and paradoxographic material“. Andererseits hat Julian selbst, in seiner Polemik gegen die Novellengattung, die heidnischen Geistlichen dazu aufgerufen, ༁σα δ༁ ༁στιν ༁ν ༁στορ༁ας ε༁δει παρ༁ το༁ς ༁µπροσθεν ༁πηγγελµ༁να πλ༁σµατα (ep. 89b, 301b Bidez) abzulehnen; es ist auch bekannt, dass die Geschichte, die ‚Pseudo-Geschichte‘ und die erzählende Literatur sehr flüchtige Grenzen haben, vor allem in der Zeit der Spätantike: dazu vgl. vor allem Mario Mazza: Storia, pseudo-storia e narrativa in età imperiale. In: Il vero e l’immaginato. Profezia, narrativa e storiografia nel mondo romano. Hg. von Mario Mazza. Roma 1999, S. 81–125; ders.: Historia Fabularis. Le relazioni pericolose di Clio nella Tarda Antichità. Ebd., S. 127–150. 33 Vgl. I 18; II 16; II 28; III 7–8; Fusillo: Il romanzo greco (Anm. 28), S. 68–77. 34 Diese Elemente sind jedoch, auf Grund der „mistione di documentazione realistica e invenzione fantastica, nella quale i dati storici […] sono coloriti dalle esigenze narratologiche“, nur schwierig in eine bestimmte Epoche einzugliedern: Antonio M. Scarcella: Nomos nel romanzo greco d’amore. In: Giornale Italiano di Filologia 42 (1990), S. 243–266, bes. S. 253ff. (Zitat auf S. 261). Neben den Daten, die an die klassische Epoche erinnern, finden sich nämlich auch zahlreiche ‚Anleihen‘ aus der römischen Welt der imperialen und spätantiken Zeit: vgl. Louis Robert: Deux épigrammes de Philippe de Thessalonique. In: Journal des Savants 1982, S. 139– 162, hier S. 149–150 (apropos der ταυροκαθ༁ψια, worin sich Theagenes am Ende des Romans als Protagonist zeigt); Cracco Ruggini: Leggenda e realtà degli Etiopi (Anm. 24), S. 164 (apropos der Erwähnung der Axumiten); Antonio M. Scarcella: The social and economic structures of the ancient novels. In: The novel in the ancient world. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 221–276, hier S. 259ff; Gabriele Ziethen: Heliodor’s Aithiopika und die Gesandtschaften zu den Aithiopen. In: Klio 81 (1999), S. 455–490; Amphilochios Papathomas: Heliodors Aithiopika 9.26.1 als Reminiszenz der kaiserzeitlichen Institution der Sklavenanakrisis. In: Mnemosyne 63 (2010), S. 625–634. Für einige beispielhafte Auszüge vgl. Aeth. I 13–14; I 17; I 19–23; II 8–9; IV 19–21; VI 2; VII 3; VIII 7 und 9; IX 6; X 10ff.; X 22–27 und 33.
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3. genaue Darstellung der religiösen Institutionen;35 4. Ausarbeitung von Kriegsreden sowie die Beschreibung von Belagerungen und Schlachten;36 5. direkte Zitate aus schriftlichen Dokumenten (d.h. von mehreren Personen verfasste Briefe);37 6. Verwendung von ༁κφρ༁σεις und excursus geographischen und ethnologischen Charakters;38 7. Überlegungen zur Natur der Macht und dem Unterschied zwischen Monarchie und Tyrannis;39 8. zahlreiche gnomische Einschübe über die gesamte Erzählspanne. Diese Elemente führen dazu, dass die Erzählung Heliodors in die Nähe gleichzeitiger, sich an klassische Formen anlehnender Geschichtsschreibung rückt. Es ist also keineswegs verwunderlich, dass sich der Romanschriftsteller, um eine Belagerung zu schildern, an einem erst wenige Jahrzehnte vergangenen Ereignis orientiert. Dieses war auch seinem Publikum wohl vertraut, wie durch die Anspielung des Libanios in der Grabrede zu Ehren Julians bestätigt wird.40 In Anbetracht dieser Erwägungen erscheint eine Datierung der Schöpfung Heliodors in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts nicht nur plausibel, sondern zeigt sich als die wahrscheinlichste der bisher vorgeschlagenen Hypothesen. Bereits 1994 hat Glen Bowersock in Anlehnung an Conti Rossini auf die Übereinstimmung der Festlichkeiten des Hydaspes in Aeth. X und des Triumphs des Aurelian (274 n. Chr.) in der Historia Augusta hingewiesen. So hat er die Verbindungen zwischen dem Autor der Aithiopika und der übrigen literarischen Produktion Ende des vierten Jahrhunderts bekräftigt;41 Bowersock resümiert, „it would be hard to deny that the
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Weniger überzeugend erscheint hingegen der Versuch von Donald Lateiner: Abduction Marriage in Heliodorus’ Aethiopica. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 38 (1997), S. 409– 439, hier S. 421, in der Beschreibung der nächtlichen Entführung von Chariklea seitens einer bewaffneten Bande unter Führung von Theagenes (IV 17) ein Echo der dem Autor zeitgenössischen juristischen Debatte aufzuspüren. S. für alle den Fall des Heiligtums von Delphi in II 26 und II 34–III 6. Vgl. Aeth. I 29 bezüglich der Rede von Thyamis; über die Schlacht zwischen der persischen und der äthiopischen Armee s. IX 17–20 (abgesehen von den Darstellungen der Gefechte zwischen Piraten und Banditen); für die Belagerung von Syene s.o. Vgl. Aeth. II 10; II 31 und IV 8; V 9; VIII 3; IX 5 und X 34; X 2. Vgl. Aeth. I 5; V 13–14; VIII 1; VIII 14; VIII 16; IX 22; X 5. Diese kommen vor allem in Bezug auf die Figuren Thyamis, der sich als princeps civilis zeigt, als er vor Leidenschaft zu Chariklea nicht mit Blindheit geschlagen wurde, und Hydaspes, der als idealer Herrscher dargestellt wird, vor: vgl. e.g. Aeth. I 19–21; VIII 4–5; IX 21; X 10. Lib., or. XVIII 208, wo die Allusion auf ναυµαχ༁α ausreicht, um seinem Publikum die Belagerung von Nisibis in Erinnerung zu rufen: s. darüber Tantillo: Orazione (Anm. 25), S. 309–310. So erscheint mir der Einwand von Szepessy: Le siège (Anm. 26), S. 265 hinfällig, wonach das Zeugnis des Libanios als unabhängige Quelle an Wert verlieren würde, da es den julianischen Schriften entnommen sei: denn die Vertrautheit mit der Prosa des Kaisers, die wir für den Rhetor von Antiochia annehmen können, war nicht unbedingt gemeinsames Erbe. Glen W. Bowersock: Fiction as History. Nero to Julian. Berkeley u.a. 1994, S. 149–160. Vor allem die Erwähnung der camelopardali in der pompa Aureliani (HA Aur. 33, 4) erscheint von Bedeutung, da sie an die dem König Hydaspes (Aeth. X 27) von den Axumiten geschenkte
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author of the Historia Augusta had been inspired by his reading of Heliodorus“.42 Dass der Verfasser der Historia Augusta Griechisch konnte, ist nicht in Zweifel zu ziehen, und die Annahme, dass das Werk des Heliodor sich schnell in Rom verbreitete, bereitet keine Schwierigkeiten. Da die Historia Augusta wahrscheinlich gegen 400 zu datieren ist,43 muss der Roman folglich zwischen 358/359 (Entstehungszeit der zweiten Rede Julians zu Ehren Constantius’)44 und 400 verfasst worden sein;45diese Rekonstruktion wird auch durch die Beschreibung der schwerbewaffneten persischen Kavallerie im
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Giraffe (καµηλοπ༁ρδαλις) erinnert. Zudem s. Carlo Conti Rossini: Meroe ed Aksum nel romanzo di Eliodoro. In: Rivista degli studi orientali 8 (1919–1920), S. 233–239 (non vidi); Jacques Schwartz: Quelques observations sur des romans grecs. In: L’Antiquité classique 36 (1967), S. 536–552, hier S. 549ff. – wonach auch das Detail rund um die Goldketten mit denen Zenobia während des Triumphes (HA Aur. 34, 3 und Tyr. Trig. 30, 26) gebunden wurde von Aeth. IX 1–2 aufgenommen worden wäre; Johannes Straub: Aurelian und die Axumiten. In: Bonner Historiae Augustae Colloquium 1972/74. Bonn 1976, S. 269–289, hier S. 285–289. Bowersock: Fiction as History (Anm. 41), S. 156. Die Herkunft der Sammlung gibt noch immer Anlass zu heftigen Diskussionen: Der These von Ratti, der in einer Reihe von Beiträgen die Identifikation mit den verloren gegangenen Annales von Virius Nicomachus Flavianus senior bekräftigt (s. inter aliis Antiquus error. Les ultimes feux de la résistance païenne. Scripta varia augmentés de cinq études inédites. Turnhout 2010, S. 217–223, 239–248, 252–276, und ders.: Polémiques entre païens et chrétiens. Paris 2012, S. 139–148 und 154–164), stellen sich einerseits die Position von Alan Cameron: The Last Pagans of Rome. Oxford 2011 (Kap. 20) entgegen, der zu einer ‚hohen‘ Datierung zwischen den Jahren 375 und 380 rät, andererseits jene von Michel Festy: L’Histoire Auguste et les Nicomaques. In: Historiae Augustae Colloquium Bambergense. Hg. von Giorgio Bonamente, Hartwin Brandt. Bari 2007, S. 183–195, der den Autor des Werks in Nicomachus Flavianus iunior erkennt. Zu diesem Problem scheint mir jedenfalls die vorsichtigere Position von François Paschoud: On a recent book by Alan Cameron: The Last Pagans of Rome. In: Antiquité Tardive 20 (2012), S. 359–388, hier S. 380–385, vorzuziehen, der im Allgemeinen von einer Entstehung des Werks um 400 im Kreis der Symmachi-Nicomachi ausgeht. Vgl. Alessandro Pagliara: Retorica, filosofia e politica in Giuliano Cesare. Alessandria 2012, S. 53–63, der für eine Verfassung der Lobrede im Spätsommer 358 ist. Christian Lacombrade: Sur l’auteur et la date des Éthiopiques. In: Revue des études grecques 83 (1970), S. 70–89, hier S. 84 und 87, rät zu einer Datierung gegen Ende der Herrschaft von Constantius II. oder in den sofort darauffolgenden Jahren, zwischen 360 und 365; Morgan: Heliodoros (Anm. 30), S. 419, denkt hingegen an einen Zeitraum zwischen 350 und 375, da er die Ähnlichkeiten zu den julianischen Texten durch den Gebrauch einer gemeinsamen Quelle und nicht durch eine direkte Abhängigkeit verursacht sieht. Jedenfalls würde die Entstehung des Werks in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts auch die von Cracco Ruggini: Leggenda e realtà degli Etiopi (Anm. 24), S. 171 erhobene Korrespondenz zwischen den Aithiopika und der Expositio totius mundi erklären, eine Operette, die vermutlich gegen Ende des Reichs von Constantius II. verfasst wurde. In exp. 17 erhält das kleine Indien (bzw. Nubien) während eines persischen Angriffs militärische Hilfe der Exomia Regio (also des axumitischen Reichs); Cracco Ruggini schreibt dieses Detail einer Abhängigkeit der Expositio vom heliodorischen Werk zu, doch könnte sich das Phänomen auch leicht mit dem Umlauf derselben Traditionen im orientalischen Ambiente um die Mitte des vierten Jahrhunderts erklären; zu der vermeintlich syrischen Herkunft des anonymen Autors der Expositio vgl. Jean Rougé: Expositio totius mundi et gentium. Introduction, texte critique, traduction, notes et commentaire. Paris 1966, S. 27–38.
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neunten Buch des Romans bestätigt.46 Dieser Abschnitt wurde in der Forschung häufig diskutiert, die die Ähnlichkeit mit anderen literarischen Zeugnissen mit Blick auf die mächtigen Truppen schwerbewaffneter Reiter, die gerade in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts eine entscheidende Entwicklung durchmachten, unterstrich:47 insbesondere wurde auf Übereinstimmungen bei Heliodor und der von Julian (or. I 30 [37b–38a Bidez]; or. III 7 [57b–c]), Libanios (or. LIX 69–70), Ammianus Marcellinus (XVI 10, 8) und Claudianus (In Ruf. II 355–362) überlieferten Beschreibung hingewiesen, und damit der topische Charakter dieser Darstellung in der Prosa jener Zeit betont.48 Nicht zuletzt erscheinen die Beziehungen des Romanschriftstellers zur neuplatonischen Kultur des vierten nachchristlichen Jahrhunderts signifikant. Nach den ersten Beobachtungen Lacombrades, die das Augenmerk auf die stilistischen Parallelen zwischen der Prosa Heliodors und jener des Jamblichos und Julian legten,49 haben unterschiedliche Autoren dem Studium der Beziehungen zwischen den Aithiopika und der neuplatonischen literarischen Produktion wichtige Untersuchungen gewidmet. Auch wenn der Versuch Merkelbachs, den Roman als einen Mysterientext zu lesen, einen für Eingeweihte geschriebenen Sonnenhymnus mit eingefügten Verweisen auf Weissagungen und den Mithraskult, heute als überholt gilt und in seinen Grundzügen nicht mehr plausibel erscheint,50 tragen dennoch unterschiedliche Elemente dazu bei, den Text in die Nähe des neuplatonischen Milieus zu rücken. 46 Hld., Aeth. IX 14–15; s. auch ebd. § 18 (über die Blemmi). 47 Bowersock: Fiction as History (Anm. 41), S. 157–159; Pierre Louis Malosse: Les Éthiopiques d’Héliodore: une œuvre de l’Antiquité Tardive. In: Revue des études tardo-antiques 1 (2011– 2012), S. 179–199, hier S. 185–188. 48 Parallelen wurden bereits aufgezeigt von Lacombrade: Sur l’auteur et la date des Éthiopiques (Anm. 45), S. 84; s. jetzt Malosse: Les Éthiopiques d’Héliodore (Anm. 47), S. 185–188. 49 Lacombrade: Sur l’auteur et la date des Éthiopiques (Anm. 45), S. 75; zur Stützung seiner These stellt er einige, in Wahrheit jedoch wenig überzeugende, Betrachtungen an über die vermeintlichen Korrespondenzen zwischen dem kulturellen Universum, das aus dem Roman, und dem, das aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts aufscheinen sollte, und kommt zu dem Schluss, dass „le climat culturel et moral du roman ressemble à s’y méprendre à celui de la période prébyzantine …“ (ebd., S. 81). Zu den Berührungspunkten zwischen Heliodor und Jamblichos vgl. auch Gerald N. Sandy: Characterization and Philosophical Decor in Heliodorus’ Aethiopica. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 112 (1982), S. 141–167, hier S. 150, der die selbe Verwendung von ༁ντ༁θεος im De mysteriis Aegyptiorum von Jamblichos und in Aeth. IV 7 hervorhebt; zu diesem Thema s. auch unten. 50 Reinhold Merkelbach: Roman und Mysterium in der Antike. München, Berlin 1962, S. 234– 298; der Gelehrte, der das Werk um das Jahr 240 datiert hat, ließ sich von einigen Betrachtungen von Károly Kerényi: Die Griechisch-Orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung. Tübingen 1927, passim und bes. S. 144–150 anregen. Die Position von Merkelbach hat sofort heftige Kritiken hervorgerufen: vgl. Robert Turcan: Le roman ‚initiatique‘: à propos d’un livre récent. In: Revue de l’histoire des religions 163 (1963), S. 149–199, hier S. 195–198 zum Roman von Heliodor; Denes Kövendi: Heliodor’s Aithiopika. Eine literarische Würdigung. In: Die Araber in der alten Welt. Bd. III. Hg. von Franz Altheim, Ruth Stiehl. Berlin 1966, S. 136–197, hier S. 142–150, 163–165. In seinem wichtigen Aufsatz The Writes of Passage. Cultural Initiation in Heliodorus’ Aethiopica. In: Constructing Identities in Late
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Wie schon Morgan hervorgehoben hat, lässt die Beschreibung ägyptischer Gottesdienste neben ihrer literarischen Bedeutung auch Raum für eine allegorische Interpretation;51 das Gemisch von Wissen und Askese (der Enthaltung von Wein und Fleisch), wie von der Figur des Kalasiris vorgeschlagen, passt gut zum Bild der großen Philosophen der Spätantike. Die vielen δα༁µονες, die im Roman vorkommen, erzählen von jener heidnischen und inzwischen ‚dämonisierten‘ Welt, die der Neuplatonismus in sein eigenes Gedankengebäude zu übernehmen wusste.52
Antiquity. Hg. von. Richard Miles. London, New York 1999, S. 16–40, hat Tim Whitmarsh vor kurzem das Problem der Lektüre des Romans als Allegorie eines Initiationsritus auf eine neue Grundlage gestellt und beurteilt ihn nicht als bloße Darstellung von tatsächlich durchgeführten Kulten, sondern als Metapher eines Übergangsritus durch die verschiedenen Ebenen des Wissens bis hin zur Erreichung der wahren Weisheit. Die Reise der Protagonisten von Griechenland nach Äthiopien, über Ägypten, würde den progressiven Erwerb eines immer raffinierteren ‚alien wisdom‘ seitens der hellenischen Welt darstellen. Der Roman würde demnach das differente kulturelle Paradigma des spätantiken Hellenismus wiedergeben in Abgrenzung zum Hellenozentrismus der Archaik und Klassik; eine Annahme, die auch von der Wahl, Homer als Ägypter darzustellen, nach einer Tradition, die bereits Clemens Alexandrinus (Strom. I 15 [66, 1]) als sehr üblich bestätigt, bekräftigt würde. Wenn nun also die Auslegung von Whitmarsh sicher das Verdienst hat, den symbolischen Wert des Werks wieder zu betonen, der vermutlich von der jüngsten Geschichtsschreibung allzu drastisch verringert worden ist, erscheint die Idee, dass die Aithiopika „can be said to have created, in its syncretic polyphony, a specifically counter-hegemonic, centrifugal, anti-Hellenocentric ‚meaning‘“ (ebd., S. 32) vielleicht in ihrer Schlussfolgerung zu radikal. Obwohl Äthiopien als ideales Reich (dazu s.o., Anm. 39) und Wiege des Wissens dargestellt wurde, ist die gesamte Schrift mit den üblichen antibarbarischen topoi durchzogen und die Tatsache, dass am Ende der Erzählung nur durch die starke Beharrlichkeit der Gymnosophisten – die als stärkster Berührungspunkt zwischen dieser ,anderen‘ Welt und den Werten der hellenischen Kultur (zum Beispiel sind sie die einzigen, die sich auf Griechisch ausdrücken können) dargestellt wurden – menschliche Opfer abgeschafft werden, erscheint keineswegs zufällig. Dazu s. die interessanten Betrachtungen von John R. Morgan: The Emesan Connection: Philostratus and Heliodorus. In: Theios Sophistes: Essays on Flavius Philostratus’ Vita Apollonii. Hg. von Kristoffel Demoen, Danny Praet. Leiden, Boston 2009, S. 263–281, hier S. 267–268; zu den Gymnosophisten vgl. Patrick Robiano: Les gymnosophistes éthiopiens chez Philostrate et chez Héliodore. In: Revue des études anciennes 94 (1992), S. 413–428, der die gängige Meinung, wonach die heliodorische Darstellung von Philostratos Vita Apollonii stammen würde, ablehnt. 51 Morgan: Heliodoros (Anm. 30), S. 453–454; zum Thema und mit größerer Fülle an Details s. auch Sandy: Characterization and Philosophical Decor in Heliodorus’ Aethiopica (Anm. 49), S. 155–161 (auch für die allegorische Auslegung der homerischen Texte). 52 Über die Präsenz von Dämonen in der Rolle von Mittlern zwischen den Göttern und den Menschen (häufig mit negativer Konnotation) im Roman vgl. I 26; II 25; II 33; III 13; IV 7–8; IV 18–19; V 4; VI 8; VI 12. Zu den angedeuteten Themen s. im Allgemeinen Morgan: Heliodoros (Anm. 30), S. 453–454, und im Besonderen zur Figur Kalasiris Manuel Baumbach: An Egyptian Priest at Delphi. Calasiris as theios anēr in Heliodorus’ Aethiopica. In: Practitioners of the Divine. Greek Priests and Religious Officials from Homer to Heliodorus. Hg. von Beate Dignas, Kai Trampedach. Washington D.C. 2008, S. 167–183; zu den Beziehungen des Werks zum Neuplatonismus vgl. auch Robert Lamberton: Homer the Theologian. Neoplatonist Allegorical Reading and the Growth of the Epic Tradition. Berkeley u.a. 1986, S. 149–152.
Heliodor zwischen Historie und Legende
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Schließlich hat Meriel Jones jüngst auf den philosophischen Ursprung eines Großteils der im Roman vorkommenden Namensgebungen hingewiesen.53 Auch wenn diese Elemente den Text des Heliodor in die Nähe des im dritten Jahrhundert entstehenden Neuplatonismus bringen, ist für die korrekte Einordnung des Werkes die Übereinstimmung der durch Kalasiris in Aeth. III 16 gegebenen Beschreibung der ༁ληθ༁ς σοφ༁α und der in De mysteriis Aegyptiorum des Jamblichos geäußerten Theorie über die Wahrsagerei viel entscheidender. Kalasiris unterscheidet nämlich zwischen einem negativen Wissen, das trügerisch und irreführend ist, da es auf Zauberei und leerem Schein gründet – im Roman durch die Riten der Totenanrufung dargestellt, die von einer alten Ägypterin praktiziert werden (Aeth. VI 14–15)54 –, und dem ‚wahren priesterlichen Wissen‘ göttlichen Ursprungs, der Beobachtung der Himmelskörper zugewandt, mit dem Ziel, die Zukunft zu erfahren. ༁ µ༁ν γ༁ρ τις ༁στ༁ δηµ༁δης κα༁ ༁ς ༁ν τις ε༁ποι χαµα༁ ༁ρχοµ༁νη, ε༁δ༁λων θερ༁παινα κα༁ περ༁ σ༁µατα νεκρ༁ν ε༁λουµ༁νη, βοτ༁ναις προστετηκυ༁α κα༁ ༁π༁δα༁ς ༁παν༁χουσα, πρ༁ς ο༁δ༁ν ༁γαθ༁ν τ༁λος ο༁τε α༁τ༁ προιο༁σα ο༁τε το༁ς χρωµ༁νους φ༁ρουσα, ༁λλ᾽ α༁τ༁ περ༁ α༁τ༁ν τ༁ πολλ༁ πτα༁ουσα λυπρ༁ δ༁ τινα κα༁ γλ༁σχρα ༁στιν ༁τε κατορθο༁σα, φαντασ༁ας τ༁ν µ༁ ༁ντων ༁ς ༁ντων κα༁ ༁ποτυχ༁ας τ༁ν ༁λπιζοµ༁νων, πρ༁ξεων ༁θεµ༁των ε༁ρ༁τις κα༁ ༁δον༁ν ༁κολ༁στων ༁πηρ༁τις. ༁ δ༁ ༁τ༁ρα, τ༁κνον, ༁ ༁ληθ༁ς σοφ༁α, ༁ς α༁τη παρων༁µως ༁νοθε༁θη, ༁ν ༁ερε༁ς κα༁ προφητικ༁ν γ༁νος ༁κ ν༁ων ༁σκο༁µεν, ༁νω πρ༁ς τ༁ ο༁ρ༁νια βλ༁πει, θε༁ν συν༁µιλος κα༁ φ༁σεως κρειττ༁νων µ༁τοχος, ༁στρων κ༁νησιν ༁ρευν༁σα κα༁ µελλ༁ντων πρ༁γνωσιν κερδα༁νουσα, τ༁ν µ༁ν γη༁νων το༁των κακ༁ν ༁ποστατο༁σα π༁ντα δ༁ πρ༁ς τ༁ καλ༁ν κα༁ ༁τι ༁νθρ༁ποις ༁φ༁λιµον ༁πιτηδε༁ουσα […]. [Allein ihrer [scil. der Weisheit] sind zwei Arten: die eine ist für den Pöbel und wandelt sozusagen immer niedrig auf der Erde, sie hat mit Gespenstern zu thun und balgt sich mit Leichen, klebt an Kräutern und stützt sich auf Zauberformeln; ihr Endzweck ist niemals etwas Gutes, weder an sich, noch für den, der sie zu Rate zieht; in ihren Wegen geht sie meistenteils fehl; gelingt ihr einmal etwas, so ist es etwas Abscheuliches und Garstiges, bald giebt sie Dinge zu sehen, die nicht sind, bald täuscht sie gehegte Hoffnungen, bald verhilft sie zu unerlaubten Handlungen und ist ungezügelten Lüsten dienstbar. Die andere aber, mein Sohn, die wahre Weisheit, deren Namen dieser Bastard fälschlich trägt, um die wir Priester und Propheten uns von Jugend auf bemühen, blickt zum Himmel empor, verkehrt mit den Göttern und hat Teil an der Natur der mächtigeren Wesen; sie erforscht die Bewegung der Gestirne und gewinnt das Vorherwissen der Zukunft, steht diesen Jämmerlichkeiten des Erdenlebens fern und erstrebt alles um des Schönen und dessentwillen, was den Menschen nützt.] [übers. v. Th. Fischer]
Es ist aufschlussreich, dass auch Jamblichos, obgleich stärker philosophisch fundiert, die Idee vertritt, dass das Wissen um die Zukunft göttlichen Ursprungs sei. Der Doktrin des Porphyrios entgegengesetzt, der besonders in dem Brief an Anebo 53 Meriel Jones: Heavenly and Pandemic Names in Heliodorus’ Aethiopica. In: Classical Quarterly 56 (2006), S. 548–562; s. auch Marcelle Laplace: Les Éthiopiques d’Héliodore, ou la genèse d’un panégyrique de l’amour. In: Revue des études anciennes 94 (1992), S. 199–230 und Ken Dowden: Heliodoros: Serious Intentions. In: Classical Quarterly 46 (1996), S. 267– 285, die auf der platonischen Wiederaufnahme des heliodorischen Textes insistieren. 54 Wo der Akt als schändlich betrachtet wird, da er eine Verletzung der von der menschlichen Natur auferlegten Grenzen darstellt: „༁γ༁ µ༁ν […] σο༁ τ༁ πρ༁τα ༁φειδ༁µην, ༁ µ༁τερ, κα༁ παρανοµο༁σαν ε༁ς τ༁ν ༁νθρωπε༁αν φ༁σιν κα༁ το༁ς ༁κ Μοιρ༁ν θεσµο༁ς ༁κβιαζοµ༁νην κα༁ τ༁ ༁κ༁νητα µαγγανε༁αις κινο༁σαν ༁νειχ༁µην …“ (Aeth. VI 15).
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und in De Abstinentia die Mantik als dämonische Praxis definiert hat, welche dem Göttlichen und jeder Form der Erkenntnis, die der Weise erreichen solle, vollkommen fern sei,55 greift Jamblichos den positiven Wert des Wissens um die Zukunft auf, die er anders als Porphyrios nicht als Aktion bösartiger Dämonen, sondern als von den Göttern selbst vermittelt einschätzt.56 In dem von Jamblichos ausgearbeiteten System wird die Wahrsagerei so zu einer Form höherer Erkenntnis, die man mittels göttlicher Fürbitte erreicht und welcher sich der Theurg dank eines bewussten Gebrauchs heiliger Symbole nähern kann.57 Jamblichos löst die theoretischen Knoten seines Vorgängers, für den die Mantik, da vom Menschen hervorgerufen, die reine göttliche Transzendenz ‚verunreinigen‘ würde, und behauptet dagegen: die ༁ρχ༁ τ༁ς µαντικ༁ς ist vielmehr überhaupt nichts Menschliches, sondern etwas Göttliches, übernatürlich, von oben, vom Himmel herabgesendet und präexistiert, ungeworden, ewig und ursprünglich (vor allem Gewordenen). […] daß sie weder von Körpern noch von körperlichen Zuständen ihren Ursprung nimmt, auch nicht von der (sinnlich wahrnehmbaren) Schöpfung und von den in der Schöpfung waltenden (immateriellen) Energien, ferner aber auch nicht von der (geistigen) Veranlagung des Menschen oder von den hieraus sich ergebenden Fähigkeiten (des menschlichen Intellekts oder der menschlichen Seele) und endlich auch nicht von irgendeiner von außen her erst hinzuerworbenen Kunstfertigkeit, die sich mit Rücksicht auf irgendeine Seite des menschlichen Lebens damit befaßt (hat). Das Wesentliche an der Mantik geht vielmehr durchaus nur auf die Götter zurück, wird von den Göttern allein eingegeben, kommt in göttlichen Werken oder Zeichen zur Vollendung und enthält in sich göttliche Visionen und der (wahren) Erkenntnis dienende Gesichte.58
55 In Anlehnung an die von seinem Lehrer Plotinos bereits formulierten Ansichten, hielt Porphyrios die Wahrsagerei für entweder eine rein menschliche Handlung oder eine dämonische Erscheinung, jedenfalls jedoch für völlig fremdartig gegenüber der reinen göttlichen Transzendenz und daher der Aufmerksamkeit eines Philosophen unwürdig: vgl. Mario Mazza: Sileat omnibus perpetuo divinandi curiositas. Sulle basi culturali della repressione religiosa nella Tarda Antichità. In: Corruzione, repressione e rivolta morale nella Tarda Antichità. Atti del Convegno Internazionale (Catania, 11–13 dicembre 1995). Hg. von Rosario Soraci. Catania 1999, S. 67–103. 56 Der Wahrsagerei wurde das gesamte III. Buch der Abhandlung gewidmet, darüber s. im Allgemeinen: Beate Nasemann: Theurgie und Philosophie. In: Jamblichs De mysteriis. Stuttgart 1991; Jamblique. Réponse à Porphyre (De mysteriis), texte établi traduit et annoté par HenriDominique Saffrey et Alain Philippe Segonds, avec la collaboration de Adrien Lecerf. Paris 2013. Für eine Einführung in das Thema, das natürlich weiterer Vertiefung bedürfte, s. Clemens Zintzen: Mystik und Magie in der neuplatonischen Philosophie. In: Rheinisches Museum 108 (1965), S. 71–100 (wo bereits eine Parallele zwischen myst. IV 2 und der eben zitierten Textstelle von Heliodor angedeutet wird: s. ebd., S. 92 Anm. 75); Polymnia Athanassiadi: Dreams, Theurgy and Freelance Divination: The Testimony of Jamblichus. In: Journal of Roman Studies 83 (1993), S. 115–130; Sergio Knipe: Filosofia, religione, teurgia. In: Filosofia tardoantica. Storia e problemi. Hg. von Riccardo Chiaradonna. Urbino 2012, S. 253–272. 57 Vgl. e.g. Iambl., myst. II 7; II 10; III 13; III 25 und 28–31; IV 7 und 13; VI 4. 58 Iambl., myst. III 1: „ο༁δ᾽ ༁λως ༁νθρωπικ༁ν ༁στι τ༁ ༁ργον, θε༁ον δ༁ κα༁ ༁περφυ༁ς ༁νωθ༁ν τε ༁π༁ το༁ ο༁ρανο༁ καταπεµπ༁µενον, ༁γ༁ννητ༁ν τε κα༁ ༁༁διον α༁τοφυ༁ς προηγε༁ται […] ༁ς ο༁τε ༁π༁ σωµ༁των ༁στ༁ν ༁ρµωµ༁νη ο༁τε ༁π༁ τ༁ν περ༁ το༁ς σ༁µασι παθηµ༁των, ο༁τε ༁π༁ φ༁σε༁ς τινος κα༁ τ༁ν περ༁ τ༁ν φ༁σιν δυν༁µεων, ο༁τε ༁π༁ τ༁ς ༁νθρωπ༁νης παρασκευ༁ς ༁ τ༁ν περ༁ α༁τ༁ν ༁ξεων, ༁λλ᾽ ο༁δ᾽ ༁π༁ τ༁χνης τιν༁ς ༁ξωθεν ༁πικτ༁του περ༁ τι µ༁ρος τ༁ν ༁ν τ༁ β༁༁
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Es ist also nicht der Mensch mit seiner intellektuellen Tätigkeit, der die göttliche Mitteilung erregt,59 sondern es sind die Götter selbst, die spontan dem Theurg ihre eigenen Zeichen senden, ohne sich mit ihnen zu vermischen, und dadurch die eigene Transzendenz als solche bewahren. ༁λλ༁ µ༁ν α༁ γε τ༁ν ༁στρων φορα༁ πλησι༁ζουσι µ༁ν τα༁ς κατ᾽ ο༁ραν༁ν ༁ιδ༁οις περιφορα༁ς, ο༁ τ༁π༁ µ༁νον ༁λλ༁ κα༁ τα༁ς δυν༁µεσι κα༁ τα༁ς το༁ φωτ༁ς διαδροµα༁ς· κινο༁νται δ༁ ༁π༁περ ༁ν ο༁ κατ᾽ ο༁ραν༁ν θεο༁ κελε༁ωσιν. Τ༁ γ༁ρ ε༁αγ༁στατον κα༁ ༁κρον το༁ ༁༁ρος, ༁πιτηδε༁ως ༁χον ༁ξ༁πτεσθαι ε༁ς π༁ρ, ༁µα τε ༁πινε༁ουσιν ο༁ θεο༁ κα༁ ε༁θ༁ς ༁νακα༁εται. ༁༁ν δ༁ τις κα༁ νοµ༁ζ༁ τ༁ν ο༁ραν༁ων τιν༁ς ༁πορρο༁ας ༁νδ༁δοσθαι ε༁ς τ༁ν ༁༁ρα, κα༁ ο༁τος ο༁κ ༁λλ༁τρια δοξ༁σει τ༁ν δρωµ༁νων ༁ν τ༁ θε༁༁ τ༁χν༁ πολλ༁κις. κα༁ ༁ ༁νωσις δ༁ κα༁ ༁ συµπ༁θεια το༁ παντ༁ς κα༁ ༁ ༁ς ༁φ᾽ ༁ν༁ς ζ༁ου συγκ༁νησις τ༁ν πορρωτ༁τω µερ༁ν ༁ς ༁γγ༁ς ༁ντων, τ༁ν τ༁ν σηµε༁ων το༁των ποµπ༁ν ༁κ θε༁ν ༁νθρ༁ποις κατεπ༁µπει, δι༁ το༁ ο༁ρανο༁ µ༁ν πρ༁τως ༁πειτα δι༁ το༁ ༁༁ρος ༁κφαινοµ༁νην το༁ς ༁νθρ༁ποις ༁ς ο༁༁ν τε µ༁λιστα λαµπρ༁τατα. δ༁λον δ༁ ο༁ν δι༁ π༁ντων τ༁ν ε༁ρηµ༁νων κα༁ το༁το γ༁γονεν, ༁ς ༁ργ༁νοις µ༁σοις πολλο༁ς ο༁ θεο༁ χρ༁µενοι τ༁ σηµε༁α το༁ς ༁νθρ༁ποις ༁πιπ༁µπουσι, δαιµ༁νων τε ༁πηρεσ༁αις κα༁ ψυχ༁ν κα༁ τ༁ς φ༁σεως ༁λης χρ༁µενοι π༁σ༁ τε το༁ς περ༁ τ༁ν κ༁σµον ༁κε༁νοις ༁κολουθο༁σι, κατ༁ µ༁αν ༁ρχ༁ν ༁ξηγο༁µενοι κα༁ ༁νι༁ντες τ༁ν ༁π᾽ α༁τ༁ν κατιο༁σαν κ༁νησιν, ༁π༁περ ༁ν ༁θ༁λωσιν. α༁το༁ δ༁ ο༁ν χωριστο༁ π༁ντων κα༁ ༁πολελυµ༁νοι τ༁ς σχ༁σεως κα༁ συντ༁ξεως τ༁ς πρ༁ς τ༁ν γ༁νεσιν ༁γουσι π༁ντα ༁ν τ༁ γεν༁σι κα༁ φ༁σει κατ༁ τ༁ν ο༁κε༁αν βο༁λησιν. Der Umschwung der Gestirne endlich steht den ewigen (intellegiblen und unsichtbaren) Kreisbahnen (der intellegiblen Götter) am Himmel nahe, nicht nur räumlich, sondern auch in seinen Energien und Lichtausstrahlungen; die (sichtbaren) Gestirne aber bewegen sich nur so, wie es die Götter am Himmel (die Gestirngötter in Übereinstimmung mit den intellegiblen Göttern) anordnen (und drücken so durch die beständig wechselnden Stellungen zueinander die Zukunftsbestimmung sichtbarlich aus). Auch geht die oberste und leichteste Luftschicht augenblicklich in Feuer auf, sowie es die Götter befehlen (und gibt uns auf diese Weise durch Sternschnuppen, Meteore und Blitze Zeichen), da sie sehr geeignet ist, Feuer zu fangen. Wenn man daher annimmt, daß gewisse Emanationen des Himmlischen (Göttlichen) in die (tieferen) Luftschichten erfolgen, so urteilt man in einer Weise, die dem, was in der göttlichen Kunst (der Thëurgie) oft vorkommt, nicht fremd ist. Auch die Einheitlichkeit und Sympathie des Weltalls und die wie bei einem einzigen und einheitlichen Lebewesen erfolgende Zusammenbewegung der voneinander am weitesten entfernten Teile, als seien sie einander nahe, bewirkt dieses Herabsenden der Zeichen vonseiten der Götter zu den Menschen, das (aus der Region der intellegiblen Götter jenseits der Fixsternsphäre) zunächst durch das Himmelsgewölbe (die Region der sichtbaren Gestirngötter) und dann auch die Luft den Menschen die größtmögliche Klarheit sichtbar macht. Aus all dem Vorgetragenen ist also klar geworden, daß die Götter den Menschen die Zeichen unter Verwendung vieler Mittelglieder zusenden, indem sie sich der Dienstfertigkeit der Dämonen, der Seelen (von Lebewesen, besonders von Tieren) und der gesamten Natur bedienen und alles, was ihnen rings um den Kosmos Gefolgschaft leistet, in einheitlicher Beherrschung führen und die von ihnen (den Göttern selbst) ausgehende Bewegung dorthin lenken, wohin immer sie wollen. Sie selbst also, von allem getrennt und von jedem Verhältnis
διαπραγµατευοµ༁νης· τ༁ δ༁ π༁ν κ༁ρος α༁τ༁ς ༁ν༁κει ε༁ς το༁ς θεο༁ς κα༁ ༁π༁ τ༁ν θε༁ν ༁νδ༁δοται, θε༁οις τε ༁ργοις ༁ σηµε༁οις ༁πιτελε༁ται, θε༁µατ༁ τε ༁χει θε༁α κα༁ θεωρ༁µατα ༁πιστηµονικ༁“ (übers. v. Th. Hopfner). S. auch §§ 17–18 und X 4. 59 Vgl. Iambl., myst. II 11 und III 20–24 über die Rolle der Seele. Auf die absolute göttliche Transzendenz kommt Jamblichos, in Bezug auf die Opferfunktion, auch im V. Buch zurück, sowie in VII, 2, indem er über die ägyptische Theologie zusprechen kommt.
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Laura Mecella und jeder Verbindung mit der Schöpfung unabhängig, treiben doch alles in der Schöpfung und (uns umgebenden) Natur nach ihrer eigenen Willensentschließung allein. 60
Die von Jamblichos vertretene Lehre unterscheidet sich kaum von der Kalasiris, auch wenn diese selbstverständlich stark vereinfacht ist. Zudem verwundert es nicht, dass sich der Romanschriftsteller aus Emesa, auch aufgrund seiner religiösen Neigung, den theosophisch-mystischen Positionen Jamblichos’ Schule von Pergamon enger verbunden fühlte als anderen neuplatonischen Strömungen, die der Richtung Plotinos’ treu geblieben sind.61 Darüber hinaus passen die im Roman vorhandenen ‚neupythagoreischen‘ Elemente gut zu der von Jamblichos so beständig vorangetriebenen „pitagorizzazione del sapere filosofico“, wie Daniela Patrizia Taormina in ihrem Beitrag treffend definiert.62
60 Iambl., myst. III 16 (übers. v. Th. Hopfner). Über die Horoskope und die Himmelskörper s. auch I 18; III 15; VII 3; das Buch VIII; IX 1–6. Daher fällt der Einwand von Sandy: Characterization and Philosophical Decor in Heliodorus’ Aethiopica (Anm. 49), S. 161–164, fort, der, obwohl er einige Analogien zwischen den Erklärungen von Kalasiris und De mysteriis aufdeckt, vor allem in der allgemeinen Verweigerung der Zauberei und der falschen Abbilder als Medium zwischen dem Übernatürlichen und dem Menschen, behauptet, dass „ultimately, Calasiris’ views and those of Iamblichus on foreseeing the future are bound to differ, because Calasiris is defending astrology rather than theurgy. Indeed, Iamblichus, in rebutting his opponent, seems to deny the very thing that Calasiris endorses“ (ebd., S. 162–163). 61 Zu den unterschiedlichen Strömungen des Neuplatonismus des vierten Jahrhunderts s. für eine allgemeine Einführung Karl Praechter: Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. In: Genethliakon für Carl Robert. Berlin 1910, S. 103–156 (auch in ders.: Kleine Schriften. Hildesheim, New York 1973, S. 165–216); Elena Gritti: Orientamenti e scuole nel neoplatonismo. In: Filosofia tardoantica. Storia e problemi. Hg. von Riccardo Chiaradonna. Urbino 2012, S. 67–83, hier 72–75; Riccardo Chiaradonna: Platonismo e aristotelismo. Ebd., S. 85–102, bes. 85–96; ders.: Tolleranza religiosa e neoplatonismo politico tra III e IV secolo. In: Tolleranza religiosa in età tardo antica: IV–V secolo. Hg. von Arnaldo Marcone, Umberto Roberto, Ignazio Tantillo. Cassino 2014, S. 37–79; Maria C. De Vita: Giuliano imperatore filosofo neoplatonico. Milano 2011, S. 38–43. Die alte Vorstellung einer klaren Dichotomie zwischen einem stärker an den aristotelischen Rationalismus gebundenen und von Plotinos befürworteten Neuplatonismus und seiner Durchführung in Riten, die an die Theurgie der Schule von Jamblichos gebunden sind, ist heute in ihrer Radikalität nicht mehr vertretbar angesichts der Wichtigkeit, die auch Jamblichos und seine Anhänger, unter ihnen Julian, den aristotelischen Studien beimaßen; doch steht außer Frage, dass die von Jamblichos geprägte Ausrichtung durch einen klaren Rutsch in Richtung Ritualität und jene heiligen Praktiken charakterisiert war, die Plotinos mied (für eine Einführung in die Problematik s. Daniela P. Taormina: Jamblique, critique de Plotin et de Porphyre. Quatre études. Paris 1999). Auch unter Jamblichos’ Anhängern selbst bestanden unterschiedliche Orientierungen: neben der Schule von Pergamon sei beispielsweise zumindest an die syrische Schule erinnert, die von Theodoros von Asine gegründet wurde. 62 Daniela P. Taormina: Platonismo e Pitagorismo. In: Filosofia tardoantica. Storia e problemi. Hg. von Riccardo Chiaradonna. Urbino 2012, S. 103–127, hier 113–121, und früher schon Dominic J. O’Meara: Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Antiquity. Oxford 1989 (bes. vgl. Kap. 2 zu Jamblichos); s. generell Jamblichos’ Β༁ος Πυθαγορικ༁ς. Daher ist Weinreichs Meinung (Der griechische Liebesroman [Anm. 2], S. 36), anfechtbar, wonach der Roman von einem dem Neuplatonismus des vierten Jahrhunderts gänzlich fremden ‚neupythagoräischen Spiritualismus‘ beherrscht wäre.
Heliodor zwischen Historie und Legende
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Die Hinwendung zum Kult in Delphi und die dem Gott Helios zugestandene Vorherrschaft in einem der Form nach noch traditionellen Pantheon, die die Kritik im Allgemeinen als Auswirkung jener neuen, unter den Severern entstandenen religiösen Sensibilität wertet und die sich im Laufe des dritten Jahrhunderts verstärkt, könnte dagegen das Ergebnis jener Heliolatrie sein, welche Julian in seinen Schriften vorantrieb, und die dann auch in den unmittelbar auf den Tod des Apostaten folgenden Jahren von den ihm nahestehenden paganen Kreisen übernommen wurde.63 Erst kürzlich hat Maria Carmen De Vita aufgezeigt, wie die Sonnentheologie des Julians, deutlich erkennbar vor allem im Hymnos auf Helios,64 einige der theoretischen Grundlagen des Jamblichos übernommen hat, welche durch die Überlegungen der Gelehrten von Pergamon vermittelt wurden.65 Die radikal transzendenten Aspekte wurden dabei entschärft, um sie den pastoralen Bedürfnissen der neuen paganen Kirche anzupassen. Auf jeden Fall kann nicht bezweifelt werden, dass in den philosophisch-religiösen Vorstellungen des Kaisers Helios eine bedeutende Rolle einnimmt. Die Bestätigung dieser „nuova forma di religione pagana, un Ellenismo solare dalla struttura sincretistica“66 in einem inzwischen weithin christianisierten Reich war sicher ein ehrgeiziges Ziel, das dann durch den frühzeitigen Tod seines Schöpfers endgültig aufgegeben werden musste; dass aber die Schriften des Jamblichos
63 Wie auch von Morgan (The Emesan Connection [Anm. 50], S. 280) hervorgehoben: „the Emesan subtext […] would make […] good sense as a rearguard reassertion of paganism from around the time of Julian the Apostate, who himself wrote a Hymn to the Sun“; hingegen erscheinen die Gründe, weswegen diese Annahme von Münscher: Heliodoros (Anm. 20), S. 21 kategorisch ausgeschlossen wird, nicht klar. 64 Für eine Einführung in das Werk s. Giuliano imperatore. Alla madre degli dei e altri discorsi. Introduzione di Jacques Fontaine, testo critico a cura di Carlo Prato, traduzione e commento di Arnaldo Marcone. Milano 1987, S. 95–169 und 291–320. Der Sonnenkult schien bereits in weiteren zwei Reden aus dem selben Jahr 362 auf: vgl. den Hymnos an die Göttermutter (s. e.g. § 7: ༁ Μ༁γας ༁λιος, ༁ σ༁νθρονος τ༁ Μητρ༁ κα༁ συνδηµιουργ༁ν α༁τ༁ τ༁ π༁ντα κα༁ συµπροµηθο༁µενος κα༁ ο༁δ༁ν πρ༁ττων α༁τ༁ς δ༁χα …) und der autobiografische Mythos in der Rede Gegen den Kyniker Herakleios (dazu vgl. die akkurate Analyse von Maria C. De Vita: Giuliano e l’arte della ‚nobile menzogna‘ (Or. 7, Contro il Cinico Eraclio). In: L’imperatore Giuliano. Realtà storica e rappresentazione. Hg. von Arnaldo Marcone. Firenze 2015, S. 119– 148). Dies war ein Aspekt von Julians Denken, der den Zeitgenossen nicht entging: vgl. e.g. Eun. fr. 28, 5 Blockley. 65 Maria C. De Vita: Il Bene/Sole nell’esegesi neoplatonica: Giamblico, Giuliano e l’Inno A Helios Re. In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica 2 (2013), S. 275–295, bes. S. 280ff. Zu Jamblichos’ Erbe in Julians Schriften vgl. die immer noch gültigen Ausführungen von Arnaldo Marcone: L’imperatore Giuliano, Giamblico e il Neoplatonismo (A proposito di alcuni studi recenti). In: Rivista Storica Italiana 96 (1984), S. 1046–1052 und mit Freude an Details Jean Bouffartigue: L’Empereur Julien et la culture de son temps. Paris 1992, S. 331–359. 66 De Vita: Il Bene/Sole (Anm. 65), S. 282; detaillierter zum Thema dies.: Giuliano imperatore (Anm. 61), S. 139–153, 199–202, 315–330 und passim; zur Distanziertheit des Kaisers gegenüber dem Mithraskult s. hingegen Tommaso Gnoli: Giuliano e Mitra. In: Antiquité Tardive 17 (2009), S. 215–234.
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und seines fernen, aber treuen Anhängers Julian dem gebildeten Publikum vor allem orientalischer Herkunft wohl bekannt waren, zeigt zum Beispiel die Niederschrift eines kleinen Traktates wie De diis et mundo des Saturninius Secundus Salustius.67 Heliodor könnte folglich die intensive Debatte, die um die Position der neuplatonischen Schule von Pergamon und die Schriften des Kaisers entstanden ist, aufgenommen und auf diese Weise den eigenen erzählerischen Ansprüchen angepasst haben. Hiermit soll natürlich nicht behauptet werden – wie es in der Forschung getan wurde –, dass es Absicht des Romanautors gewesen sei, ein schlüssiges philosophisches Modell vorzustellen.68 Ganz im Gegenteil bildet, wie Gerald Sandy herausgearbeitet hat, das feine theoretische Gerüst der Schrift nur eine der vielen facies des Werkes, ohne die es nichtsdestoweniger unmöglich wäre, das ganze Universum der Aithiopika zu begreifen.69 Dass andererseits der Roman des Heliodor gleich dem des Achilleus Tatios wohl nicht ans große Publikum, sondern „ad un Leserkreis assai più selezionato“ gerichtet war, ist schon seit geraumer Zeit, auch auf Basis linguistischer Untersuchungen, hervorgehoben worden;70 die Präsenz von Elementen philosophischer Couleur, Reflex eines regen kulturellen Lebens, an dem ein gebildeter Schriftsteller wie Heliodor sicher teilgenommen hat, verwundert also nicht.71 Alles in allem war Philippos in seiner Auslegung dem Geiste des Heliodor weit weniger fern, als es auf den ersten Blick erscheint.
67 Für die Probleme der Datierung und Zurechnung der Abhandlung ist desweiteren nützlich: Giancarlo Rinaldi: Sull’identificazione dell’autore del Περ༁ θε༁ν κα༁ κ༁σµου. In: Koinonia 2 (1978), S. 117–152; vgl. aus neuerer Zeit, auch für eine Analyse der philosophischen Ansichten, Jan Stenger: Hellenische Identität in der Spätantike. Pagane Autoren und ihr Unbehagen an der eigenen Zeit. Berlin, New York 2009, S. 320–333. Für die Ausgaben des Textes s. Arthur D. Nock: Sallustius. Concerning the Gods and the Universe. Cambridge 1926 und Gabriel Rochefort: Saloustios. Des dieux et du monde. Paris 1960. Ausgerechnet Salustius, ein enger Freund des Kaisers, war der bereits zitierte Hymnos auf Helios gewidmet; zur Gefolgschaft der Gelehrten am julianischen Hof s. jetzt Matilde Caltabiano: La comunità degli Elleni: cultura e potere alla corte dell’imperatore Giuliano. In: Antiquité Tardive 17 (2009), S. 137–149. 68 Vgl. Johannes Geffcken: Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums. Heidelberg 1929, S. 87–89, für den „die Erzählung […] eine neuplatonische Tendenzdichtung“ ist (ebd., S. 88). 69 Vgl. Sandy: Characterization and Philosophical Decor in Heliodorus’ Aethiopica (Anm. 49), S. 141, nach dem die neuplatonisierenden Thesen von Kalasiris „constitute an aspect of the aged priest’s characterization rather than a statement of coherent philosophical doctrine. Thus philosophy functions in the Aethiopica as decor rather than as message or clef“; und weiter: „I see the philosophical component as literary embellishment, as decorative overlay rather than as thematic underpinning […]“. 70 Giuseppe Zanetto: La lingua dei romanzieri greci. In: Giornale italiano di filologia 42 (1990), S. 233–242, hier S. 239ff. (Zitat auf S. 242); s. zudem Susan A. Stephens: Who Read Ancient Novels? In: The Search for the Ancient Novel. Hg. von James Tatum. Baltimore 1994, S. 405– 418; Bowie: The ancient readers of the Greek novels (Anm. 28), S. 88 und 105–106. 71 Für die Lobpreisung der Kultur vgl. e.g. Aeth. II 33 (wo Charikleas dialektische Fähigkeit gepriesen wird), und die gesamte Darstellung der Gymnosophisten. S. auch oben (Anm. 51).
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3. Die hier untersuchten Elemente erlauben es, durch die Wendungen der Erzählung eine Weltanschauung zu erfassen, die völlig mit den literarischen Hauptströmungen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts übereinstimmt. Diese chronologische Rekonstruktion stimmt mit dem von Symeon Logothetes wiedergegebenen Hinweis überein, dem zufolge Heliodor das Bischofsamt zur Zeit Theodosius I. übernommen habe. Daraus würde, zieht man auch die von Sokrates überlieferten Angaben in Betracht, folgen, dass die Aithiopika in Heliodors Jugend verfasst wurden, der Autor ein unter Julian und den Valentinianern aktiver Romanschriftsteller war, er dann in fortgeschrittenem Alter zum Christentum übertrat und zwischen 379 und 395 das Bischofsamt innehatte. Eine Entstehungszeit während der 60er und 70er Jahre des vierten Jahrhunderts hätte unter anderem den Vorteil, mit dem neuen Klima religiöser Toleranz übereinzustimmen, das von Valentinian I. nach der erbitterten Verfolgung der Paganen durch Constantius II. und der flüchtigen Parenthese des Apostaten eingeläutet wurde. Wie weithin bekannt, hat der Kaiser 371 auf die Bitte des Prokonsuls von Achaia, Vettius Agorius Praetextatus, die Ausübung mystischer Kulte nicht weiter zu verbieten, da dieses den Griechen das Leben ‚unmöglich‘ (༁β༁ωτον) machen würde, mit einer Verfügung, ebenbürtig dem modernsten Relativismus, geantwortet, die allen die colendi libera facultas gewährte.72 Dieser religiöse Frieden sollte schon bald durch die Unnachgiebigkeit des Theodosius, des Christianissimus, zerstört werden, unter dem die kaiserliche Politik eine ganz andere Richtung nahm; aber gerade in diesem kurzen versöhnlichen Klima der Siebzigerjahre könnte der Roman, der noch die kulturelle Atmosphäre der Zeit Julians abbildet, entstanden sein.73 Wenn es folglich so scheint, dass die Angaben aus den Berichten von Sokrates und Symeon Logothetes dem Werk eine bessere Kontextualisierung geben, so ist 72 Der Appell von Praetextatus an den Kaiser wird von Zosimos IV 3, 2–3 wiedergegeben. Für die Maßnahme von Valentinian s. CTh 9.16.9: „Imppp. Valentinianus, Valens et Gratianus AAA. ad Senatum. haruspicinam ego nullum cum maleficiorum causis habere consortium iudico neque ipsam aut aliquam praeterea concessam a maioribus religionem genus esse arbitror criminis. testes sunt leges a me in exordio imperii mei datae, quibus unicuique, quod animo inbibisset, colendi libera facultas tributa est.“ Wie ersichtlich wird, befreit der Gesetzestext die haruspicina von jeglicher Beziehung zu maleficia und legt fest, dass sie, wie jede andere von den maiores erlaubte religiöse Praktik, nicht strafrechtlicher Natur ist. Scheinbar weniger flexibel zeigt sich das Verhalten von Valens, der im Jahre 370 die Beratung der mathematici (CTh 9.16.8) verbot; doch s. zur Ähnlichkeit der religiösen Politik von Valentinian und Valens gegenüber den Heiden die aufschlussreichen Seiten von Noel Lenski: Failure of Empire. Valens and the Roman State in the Fourth Century A.D. Berkeley 2002, S. 211–218. 73 An das „pagan revival instituted by Julian“ als „the only remaining historical context for the composition of Aithiopika“ denkt nun auch John Hilton: The cult of Neoptolemos at Delphi in Heliodoros’ Aithiopika. In: Acta Classica 55 (2012), S. 57–68 (Zitat auf S. 64–65), auf Grundlage der Analyse der Prozessionsbeschreibung, die zu Ehren von Neoptolemos in Delphi durchgeführt und im Roman beschrieben wird.
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doch deren Authentizität mehr als zweifelhaft. Die Angabe ༁π༁ Θεοδοσ༁ου des byzantinischen Historiographen scheint eher als das Ergebnis der fälschlichen Zuschreibung, nach der der Autor des an Theodosius den Großen gerichteten alchemistischen Carmen unser Heliodor wäre. Diese könnte auch durch das am Ende der Aithiopika angegebene Patronym des Romanverfassers begünstigt worden sein,74 die damit zum Ursprung der ‚Legende‘ eines Heliodor aus Emesa, der zu Zeiten des Theodosius I. lebte, wurde. Zu bezweifeln ist auch die andere Angabe bezüglich der Übernahme des Bischofsamtes, wie sie zum ersten Mal bei Sokrates erscheint. Schon der angebliche Sitz in Trikka weckt Zweifel: Die männliche Hauptfigur des Romans Theagenes stammt aus Thessalien (s. e.g. Aeth. II 34),75 und dieser Landstrich war in der kollektiven Vorstellung des Altertums als Land der Magier und Wundertaten bekannt; folglich hat vielleicht der Inhalt des Romans selbst – durchtränkt mit Bezügen zu Magie und Totenbeschwörung, Astrologie und Zahlenkunde – die Phantasie der Nachwelt dazu verleitet, den Mann aus Emesa mit einem Land der Zauberer und Hexen in Verbindung zu bringen. Außerdem scheint die Maßnahme selbst, deretwegen der Bischof Heliodor zitiert wird – also das Gebot des Zölibats der Geweihten –, kein Zufall zu sein. Während es sich einerseits mit dem Thema der Enthaltsamkeit, die im Roman gelobt wird,76 verbinden lässt, so erscheint es andererseits auch als ‚Buße‘ für die erotischen Wünsche und freizügigen Gedanken vorstellbar, die die Lektüre der Aithiopika unter den Jugendlichen nach Aussage seiner Verleumder hervorgerufen hatte.77 Mit Hilhorst ist die Behauptung des Sokrates, dass ein Bischof in seiner Jugend einen Roman verfasst habe, entirely conceivable. Auch stellt die Tatsache, dass ein Heide zum Christentum übergetreten ist, unter den Schriftstellern der Spätantike
74 So auch Cracco Ruggini: Leggenda e realtà degli Etiopi (Anm. 24), S. 163 Anm. 103; Morgan: Heliodoros (Anm. 30), S. 421; Robiano: Pour en finir (Anm. 17), S. 156. 75 Eine Verbindung, die bereits dargestellt wurde von Robiano: Pour en finir (Anm. 17), S. 150. 76 Dazu s. im Besonderen Ilaria Ramelli: Les vertus de la chasteté et de la piété dans les romans grecs et les vertus des chrétiens. Les cas d’Achille Tatius et d’Héliodore. In: Passions, vertus et vices dans l’ancien roman. Actes du colloque de Tours, 19–21 octobre 2006. Hg. von Bernard Pouderon, Cécile Bost-Pouderon. Lyon 2009, S. 149–168, hier S. 162–165 (die Sokrates’ Zeugnis volle Glaubwürdigkeit zuspricht). 77 Einige Kommentatoren haben zudem das im Abschnitt vorkommende λ༁γεται als ein Indiz der geringen Zuverlässigkeit der Nachricht betrachtet; so bemerkt Szepessy: Neudatierung (Anm. 28), S. 279 mit Anm. 4, dass, wenn „Sokrates sich auf bloßes Hörensagen beruft, und mit einem fein distanzierenden λ༁γεται den Trikkaer Bischof dem Romanschriftsteller gleichsetzt […] Sokrates das Wort λ༁γεται nicht blindlings, sondern absichtlich und mit voller Bewußtheit angewendet hat“. Skeptisch über die vom Kirchenhistoriker tradierte Nachricht zeigt sich auch Carolina Cupane: Il romanzo. In: Lo spazio letterario del Medioevo 3. Le culture circostanti. Bd. I: La cultura bizantina. Hg. von Guglielmo Cavallo. Roma 2004, S. 407–453, hier 410– 414.
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alles andere als einen Einzelfall dar.78 Dennoch erscheint in diesem Fall der strahlende Glanz der Hochachtung und des Ansehens, die ihm als kirchlichem Würdenträger verliehen werden, als Ergebnis eines beabsichtigten Legitimationsprozesses zur Stärkung eines sehr beliebten Autors in der christlichen Welt, der wegen des zweideutigen Charakters seines Werkes einer Rehabilitation bedurfte. Wie Szepessy aufgezeigt hat, ist es wahrscheinlich, dass der Ausgangspunkt dieser Metamorphose die reale Existenz eines Bischofs in Trikka zwischen Ende des vierten und Beginn des fünften Jahrhunderts ist, der auch Heliodor hieß und Kirchenreformator war:79 Gerade diese Homonymie hat wahrscheinlich neben der zeitlichen Nähe, die hier aufgezeigt wurde, zur Überlagerung der beiden Personen geführt und so den Mythos des Bischofs und Romanschriftstellers entstehen lassen. Nicht zufälligerweise hat die byzantinische Kultur den gleichen Prozess der ‚Christianisierung‘ an der Figur des Achilleus Tatios durchgeführt, den die Suda im zehnten Jahrhundert als ༁π༁σκοπος kennt.80 * Aufs Ganze gesehen hat der große Ruhm, den Heliodor in byzantinischer Zeit erlangte, dazu geführt, dass sich um ihn wegen fehlender biographischer Angaben eine große Anzahl unterschiedlicher legendenhafter Berichte bildete. 78 Anton Hilhorst: Was Philo read by pagans? The Statement on Heliodorus in Socrates Hist. Eccl. 5.22. In: The Studia Philonica Annual 4 (1992), S. 75–77 (Zitat auf S. 77). Es sei dennoch am Rande bemerkt, dass das hohe Niveau der literarischen Ausarbeitung, die im Roman geboten wird, sich nur schwer mit der Vorstellung verbinden lässt, dass die Entstehung des Werks in die Jugend fällt; daher und weil eine Datierung des Romans in das Zeitalter der Valentinianer vorzuziehen ist, bin ich der Ansicht, dass man die Geburt des Autors zumindest in die dreißigervierziger Jahre anheben muss. 79 Szepessy: Le siège (Anm. 26), S. 247–249; s. auch Jacques Schamp: Photios historien des lettres. La Bibliothèque et ses notices biographiques. Paris 1987, S. 278: „pour qui relit Socrate sans prévention, il apparaît bien qu’aux yeux de l’auteur du document remployé par l’historien, les mesures prises à Tricca faisaient figure d’innovation récente“. Contra, inter aliis, Lacombrade: Sur l’auteur et la date des Éthiopiques (Anm. 45), S. 70–89, wonach auch die weitere von Nikephoros Kallistos Xanthopoulos gelieferte Nachricht, wenn auch nicht wahr, so doch sehr gut passend sei, denn sie stimme zusammen mit „en tous points avec l’âme ondoyante d’Héliodore, la mentalité des derniers Hellènes, comme avec la conjoncture évoquée“ (ebd., S. 88); Morgan: Heliodoros (Anm. 30), S. 420–421 (der nicht unbedingt an einen bischöflichen Auftrag, der für das kleine Zentrum Trikka „becomes more credible as the date gets later“, sondern viel eher an ein unbestimmtes „high office in the Thessalian church around 400“ denkt); Malosse: Les Éthiopiques d’Héliodore (Anm. 47), S. 181 und 196–197. Isoliert – auch weil sie wenig überzeugend ist – die Position von Rattenbury: Introduction (Anm. 19), S. VII– XV und Ilaria Ramelli (I romanzi antichi e il cristianesimo: contesto e contatti. Madrid 2001, S. 125–142) –, die Sokrates’ Nachricht als gänzlich glaubwürdig betrachten, obwohl sie eine Datierung der Figur in das Zeitalter der Severer akzeptieren: sie ordnen also dem dritten Jahrhundert auch den vermeintlichen Zeitraum des Episkopats und der Kirchenreform zu. 80 Suda s.v. ༁χιλλε༁ς Στ༁τιος (Α 4695): „γ༁γονεν ༁σχατον χριστιαν༁ς κα༁ ༁π༁σκοπος.“ Klar ist die Nachricht von Heliodors Nachleben bestimmt.
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Während es der Vergleich mit der literarischen und philosophischen Produktion der Zeit sowohl im Osten als auch im Westen schlüssig macht, die Entstehungszeit der Aithiopika in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts (vielleicht in den 60er oder 70er Jahren) anzusiedeln, so weist kein historisch nachweisbares Ereignis auf die Herrschaft Theodosius I. und einen möglichen Übertritt zum Christentum hin. Nur die historische Kontextualisierung und die genaue Bestimmung der Entstehungszeit des Romans machen es möglich, die versteckten, aber erkennbaren Bindungen zu verstehen, die Heliodor mit der Kultur seiner Zeit vereinen.
INTERTEXTUALITÄT UND INTERVISUALITÄT BEI HELIODORUS* Giuseppe Zanetto Die Aithiopika beginnen mit der detaillierten Beschreibung der Szene, die sich dem Blick der ägyptischen Piraten bietet. Die Piraten, auf der Höhe des über der Küste liegenden Hügels angekommen, erkunden zuerst mit den Augen die unter ihnen liegende Meeresstrecke; dann widmen sie sich dem Strand. Und hier fügt sich die Ekphrasis ein: Denn diese Stelle hat alle Eigenschaften einer ekphrastischen Passage, auch wenn es sich um die absolut subjektive Perspektive der Personen handelt, ohne die Intervention weder des Autors noch eines internen Erzählers, der seinen Platz einnimmt.1 Der Schriftsteller beschränkt sich darauf, das Bild mit Worten zu entwickeln, das sich in die Netzhaut der Piraten einprägt.2 Und das, was die Piraten sehen (der Wortschatz insistiert auf dem Umfang des Sehens: τ༁ θέ༁, θέατρον)3, ist eine verwirrende Massaker-Szene. Die wichtigsten Elemente, die verschiedentlich von der Rhetorik der Stelle beeinflusst sind, sind die folgenden: – das Gewirr der Körper, einige erst seit Kurzem gestorben, andere am Sterben und zuckend (σπαιρόντων) – die Wahrnehmung eines in einen Streit ausgearteten Banketts, wie Folgendes augenscheinlich macht: a) Tische voll mit Essen. Einige wurden auf den Boden geworfen und sind in die Hände der Gefallenen geraten (welche diese offensichtlich als Waffen benutzt haben); andere Tische wurden noch als Schutz verwendet; b) umgeworfene Mischkrüge, die aus den Händen derjenigen gefallen sind, die trinken wollten oder die sie anstatt von Steinen als Wurfgeschosse benutzen wollten; c) Becher, die als Wurfgeschosse verwendet wurden; *
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Für die deutsche Übersetzung meines Beitrags war mir Frau Franca Füger Nobili von großer Hilfe; ich möchte aber auch Christian Rivoletti und Stefan Seeber meinen Dank aussprechen, die mir auf vielerlei Arten geholfen haben, meinen Text besser zu machen. Shadi Bartsch: Decoding the Ancient Novel: The Reader and the Role of Description in Heliodorus and Achilles Tatius. Princeton 1989, S. 46; Tim Whitmarsh: Written on the Body: Ecphrasis, Perception and Deception in Heliodorus’ Aethiopica. In: Ramus 31 (2002), S. 111– 125, hier S. 118; Ruth Webb: Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice. Farnham 2009, S. 181. John R. Morgan: Reader and Audiences in the Aethiopica of Heliodoros. In: Groningen Colloquia on the Novel 4 (1991), S. 85–104, hier S. 86. Bartsch: Decoding the Ancient Novel (Anm. 1), S. 114; John J. Winkler: The Mendacity of Kalasiris and the Narrative Strategy of Heliodoros’ Aithiopika. In: Yale Classical Studies 27 (1982), S. 93–158, hier S. 97.
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d) die Art der Wunden, die auf verschiedenste Weisen beigebracht (mit Beilen, Steinen, Fackeln, Knüppeln), meistens jedoch durch Pfeile verursacht wurden. Es handelt sich also um eine ungewöhnliche und überraschende Szenerie, welche zwei scheinbar konträre und unvereinbare Situationen kombiniert, das Bankett und das Blutbad: das Tableau ist aus einer ausgesuchten Reihe von widersprüchlichen Kombinationen (Wein und Blut, Libation und Blutbad, usw.) aufgebaut. Heliodorus, Aithiopika 1, 1, 1–6 ༁π༁ τ༁ν πλησίον α༁γιαλ༁ν τ༁ θέ༁ κατήγοντο. κα༁ ༁ν τ༁ ༁ν α༁τ༁ τοιάδε […] ༁ δ༁ α༁γιαλός, µεστ༁ πάντα σωµάτων νεοσφαγ༁ν, τ༁ν µ༁ν ༁ρδην ༁πολωλότων, τ༁ν δ༁ ༁µιθνήτων κα༁ µέρεσι τ༁ν σωµάτων ༁τι σπαιρόντων, ༁ρτι πεπα༁σθαι τ༁ν πόλεµον κατηγορούντων. ༁ν δ༁ ο༁ πολέµου καθαρο༁ τ༁ φαινόµενα σύµβολα, ༁λλ’ ༁ναµέµικτο κα༁ ε༁ωχίας ο༁κ ε༁τυχο༁ς ༁λλ’ ε༁ς το༁το ληξάσης ༁λεειν༁ λείψανα, τράπεζαι τ༁ν ༁δεσµάτων ༁τι πλήθουσαι κα༁ ༁λλαι πρ༁ς τ༁ γ༁ τ༁ν κειµένων ༁ν χερσ༁ν ༁νθ’ ༁πλων ༁νίοις παρ༁ τ༁ν µάχην γεγενηµέναι· ༁ γ༁ρ πόλεµος ༁σχεδίαστο· ༁τεραι δ༁ ༁λλους ༁κρυπτον, ༁ς ༁οντο, ༁πελθόντας· κρατ༁ρες ༁νατετραµµένοι κα༁ χειρ༁ν ༁νιοι τ༁ν ༁σχηκότων ༁πορρέοντες τ༁ν µ༁ν πινόντων τ༁ν δ༁ ༁ντ༁ λίθων κεχρηµένων· τ༁ γ༁ρ α༁φνίδιον το༁ κακο༁ τ༁ς χρείας ༁καινοτόµει κα༁ βέλεσι κεχρ༁σθαι το༁ς ༁κπώµασιν ༁δίδασκεν. ༁κειντο δ༁ ༁ µ༁ν πελέκει τετρωµένος, ༁ δ༁ κάχληκι βεβληµένος α༁τόθεν ༁π༁ τ༁ς ༁αχίας πεπορισµέν༁, ༁τερος ξύλ༁ κατεαγώς, ༁ δ༁ δαλ༁ κατάφλεκτος, κα༁ ༁λλος ༁λλως, ο༁ δ༁ πλε༁στοι βελ༁ν ༁ργον κα༁ τοξείας γεγενηµένοι. κα༁ µυρίον ε༁δος ༁ δαίµων ༁π༁ µικρο༁ το༁ χωρίου διεσκεύαστο, ο༁νον α༁µατι µιάνας, κα༁ συµποσίοις πόλεµον ༁πιστήσας, φόνους κα༁ πότους, σπονδ༁ς κα༁ σφαγ༁ς ༁πισυνάψας, κα༁ τοιο༁τον θέατρον λ༁στα༁ς Α༁γυπτίοις ༁πιδείξας. […] wandten sie sich dem nahen Strand zu. Hier bot sich ihnen folgendes Bild. […] Der ganze Strand war übersät mit eben Erschlagenen: die einen waren schon tot, die andern lagen, noch mit ihren Gliedern zuckend, im Sterben, ein Beweis, daß die Schlacht erst vor kurzem geendet hatte. Das war aber, wie man sehen konnte, keine offene Feldschlacht gewesen. Mit den Spuren des Kampfes mischten sich traurige Reste eines Schmauses, der so unglücklich geendet hatte: Tische noch voll von Speisen, andre auf der Erde in den Händen mancher Erschlagenen, die diese bei dem Kampf als Schilde gebraucht hatten – denn er war improvisiert –, wieder andere, die so manchen deckten, der gedacht hatte, sich darunter zu verbergen, umgestürzte Krüge, den Händen beim Trinken entglitten, oder statt Steinen zum Wurf gebraucht. Denn überraschend war das Unheil hereingebrochen, daher hatte man zu ungewohnten Mitteln gegriffen und die Becher als Geschosse verwandt. Da lagen sie nun; dieser mit dem Beil verwundet, jener mit einem Kiesel vom felsigen Gestade getroffen, der dritte mit einer Keule erschlagen, ein anderer von einer brennenden Fackel versengt, der eine so, der andre so: die meisten aber waren das Opfer von Pfeil und Bogen geworden. In unzähligen Formen hatte ein Dämon das Verderben über einen kleinen Raum gestreut, Wein und Blut, Mahl und Kampf, Trunk und Mord, Trankopfer und Gemetzel vereinigt und das Ganze wie ein Bühnenbild vor die ägyptischen Räuber hingestellt.4
Die Geschichte nimmt dann Fahrt auf mit der Gefangennahme von Charikleia und Theagenes durch Thyamis und seine Bande und mit den verschiedenen Missgeschicken, denen die zwei Hauptpersonen begegnen. Am Schluss des 5. Buches, wenn die lange, rückblickende Erzählung von Kalasiris – im 2. Buch angefangen – zu 4
Für Heliodorus benutze ich den griechischen Text von Héliodore: Les Éthiopiques (Théagène et Chariclée). Texte établi par R. M. Rattenbury et T. W. Lumb, et traduit par J. Maillon. Paris 1935, und die deutsche Übersetzung von Horst Gasse: Heliodor, Die Abenteuer der schönen Charikleia. Aus dem Griechischen von Horst Gasse. Köln 2008.
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Ende geht, wird die anfängliche Szene wieder eingefangen, dieses Mal nicht als Beschreibung, sondern in Erzählform. Kalasiris, der Augenzeuge gewesen ist, erklärt wie die Sache gelaufen ist, d.h. wie es passieren konnte, dass ein Bankett sich in ein Blutbad verwandelte. Das Standbild wird durch eine erzählte Reihe ersetzt, was offensichtlich für den Leser sehr wertvoll ist. Die Erklärung von Kalasiris löst nämlich die Aporien und die scheinbaren Unstimmigkeiten der anfänglichen Ekphrasis. Nach Kalasiris hat sich die Geschichte wie folgt abgespielt: – während des Banketts bricht ein Streit zwischen Peloros und Trachinos aus und die Piraten unterstützen den einen oder den anderen; – Trachinos versucht Peloros mit dem Mischkrug zu treffen, aber der Andere kommt ihm zuvor und verwundet ihn tödlich; – eine rasende Rauferei entsteht; jede Waffe ist gut: Hölzer, Steine, Fackeln, aber auch die Mischkrüge und die Tische; – die zwei Verliebten bleiben nicht untätig: Theagenes treibt sein Unwesen mit dem Schwert, vor allem aber Charikleia sät den Tod, indem sie Pfeile aus dem Schiff abfeuert, die nie ihr Ziel verfehlen; – am Ende bleiben nur Theagenes und Peloros übrig, die in einen Nahkampf verwickelt werden. Charikleia kann nicht einschreiten, weil sie befürchtet, den Geliebten zu treffen, aber sie treibt Theagenes an, welcher das Schwert schwingt und dabei mit einem glatten Hieb den Arm von Peloros abschneidet. Dieser flieht. Heliodorus, Aithiopika 5, 32, 1–4 τί ༁ν ༁δε༁ν τ༁ ༁ντε༁θεν, ༁ Ναυσίκλεις; θαλάττ༁ προσείκασας ༁ν το༁ς ༁νδρας α༁φνιδί༁ σπιλάδι κατασεισθέντας, ο༁τως ༁λόγιστος ༁ρµ༁ πρ༁ς ༁φραστον α༁το༁ς ༁γειρε τάραχον, ༁τε ο༁ν༁ κα༁ θυµ༁ κατόχους γεγενηµένους. ο༁ µ༁ν γ༁ρ ༁ς το༁τον ο༁ δ༁ ༁ς ༁κε༁νον ༁ποκλίναντες ο༁ µ༁ν α༁δε༁σθαι τ༁ν ༁ρχοντα ο༁ δ༁ µ༁ καταλύεσθαι τ༁ν νόµον ༁θορύβουν. κα༁ τέλος ༁ µ༁ν Τραχ༁νος ༁πανατείνεται ༁ς τ༁ κρατ༁ρι πατάξων τ༁ν Πέλωρον, ༁ δέ, προπαρεσκεύαστο γάρ, ༁γχειριδί༁ φθάνει διελαύνων τ༁ν µαζόν. κα༁ ༁ µ༁ν ༁κειτο καιρί༁ βεβληµένος, το༁ς λοιπο༁ς δ༁ ༁σπονδος ༁τέτατο πόλεµος ༁παιόν τε συµπεσόντες ༁λλήλους ༁φειδ༁ς, ο༁ µ༁ν ༁ς ༁παµύνοντες τ༁ ༁ρχοντι ο༁ δ༁ ༁ς το༁ Πελώρου σ༁ν τ༁ δικαί༁ προασπίζοντες. κα༁ ༁ν ο༁µωγ༁ µία ξύλοις λίθοις κρατ༁ρσι δαλο༁ς τραπέζαις βαλλόντων κα༁ βαλλοµένων. ༁γ༁ δ༁ ༁ς πορρωτάτω χωρίσας ༁µαυτ༁ν ༁πί τινος λόφου θέαν ༁κίνδυνον ༁µαυτ༁ κατένεµον. ο༁ µ༁ν ο༁δ༁ Θεαγένης ༁πόλεµος ༁ν ο༁δ༁ ༁ Χαρίκλεια, τ༁ γ༁ρ συγκείµενα πράττοντες ༁ µ༁ν ξιφήρης θατέρ༁ τ༁ πρ༁τα µέρει συνεµάχει παντάπασιν ༁νθουσι༁ντι προσεοικώς, ༁ δ༁ ༁ς συνερρωγότα τ༁ν πόλεµον ε༁δεν ༁π༁ τ༁ς νε༁ς ༁τόξευεν ε༁σκοπά τε κα༁ µόνου το༁ Θεαγένους φειδόµενα. κα༁ ༁βαλλεν ο༁ καθ’ ༁ν τ༁ς µάχης µέρος, ༁λλ’ ༁ντινα πρ༁τον ༁δοι το༁τον ༁νήλισκεν, α༁τ༁ µ༁ν ο༁χ ༁ρωµένη ༁λλ༁ ༁༁δίως πρ༁ς τ༁ν πυρκαϊ༁ν το༁ς ༁ναντίους κατοπτεύουσα, τ༁ν δ༁ ༁γνοούντων τ༁ κακ༁ν κα༁ δαιµονίους ε༁ναι τ༁ς πληγ༁ς ༁νίων ༁πονοούντων. Was meinst du, Nausikles, gab es darauf für eine Szene! Dem Meer, das plötzlich an einem Riff emporbrandet, glich die mit einem Mal aufbrausende Gesellschaft; eine solche alle Vernunft mißachtende Erregung hatte die vom Wein und von Entrüstung erhitzten Männer erfaßt und ein unbeschreibliches Durcheinander hervorgerufen. Die einen schlugen sich auf diese, die anderen auf jene Seite; die einen schrien, man schulde dem Hauptman Ehrerbietung, die andern, man dürfe sich nicht über das alte Recht hinwegsetzen. Schließlich holte Trachinos aus, um Peloros mit dem Mischkrug einen Schlag zu versetzen, doch dieser war darauf gefaßt, kam ihm zuvor und stieß ihm den Dolch in die Brust. Zu Tode getroffen lag er am Boden, die andern waren in einen erbitterten Kampf verwickelt und schlugen im Handgemenge ohne Schonung
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Giuseppe Zanetto aufeinander los, die einen, um für ihren Führer Rache zu nehmen, die andern, um Peloros und das Recht zu schützen. Es war ein einziges Keuchen und Stöhnen von Männern, die sich mit Stöcken, Steinen, Krügen, Feuerbränden und Tischen bewarfen. Ich aber zog mich so weit wie möglich zurück und wählte mir einen Hügel, um von dort ohne Gefahr dem Schauspiel zuzusehen. Theagenes hingegen beteiligte sich am Kampf, ebenso Charikleia. Das Schwert in der Hand, stritt er anfangs, wie wir es besprochen hatten, auf der Seite der einen Partei mit scheinbar größtem Enthusiasmus, und Charikleia sandte, als sie den Ausbruch des Kampfes bemerkte, vom Schiff herab ihre wohlgezielten Pfeile, die nur den Theagenes verschonten. Dabei zielte sie nicht auf einen bestimmten Teil der Kämpfenden, sondern streckte jeden nieder, den sie gerade erblickte. Sie selbst war nicht zu sehen, sie konnte aber im Scheine der Fackeln ihre Gegner leicht erspähen. Da sie nicht wußten, wer ihnen das Verderben sandte, glaubten manche, die Geschosse kämen von den Göttern.
Die Kommentatoren loben immer wieder Heliodorus’ Findigkeit, denn er verwendet sehr geschickt die odysseische Technik der Runderzählung: Beginn in medias res und dann flash back, welcher die Vorgeschichte wieder einholt, bis zu dem Punkt, wo die rückblickende Erzählung sich mit der des Anfangs zusammenfügt und die zwei diegetischen Linien sich vereinen.5 Man kann übrigens über das narratologische Niveau hinausgehen und Betrachtungen anstellen, die den poetischen Entwurf tiefgreifender berücksichtigen. Die Ekphrasis eines Bildes ist eine Anfangsform, die in der Erzählliteratur der Kaiserzeit sehr häufig verwendet wird.6 Die bekanntesten Fälle sind die Romane von Achilles Tatius und Longus. Besonders auffällig ist Longus’ poetischer Einstieg in die Erzählung. Bei ihm wird die Geschichte als die Übertragung eines Gemäldes dargestellt, dessen Sinn dem Verfasser von einem Exegeten erklärt worden ist.7 Das Bild, welches tatsächlich existiert, beinhaltet also die Geschichte und ist die Quelle und der Garant ihrer Wahrheit. Das Schreiben ist dann die Kunst, das Bild ins Wort zu verwandeln, d.h. dessen Sinn von einem visuellen in ein erzählendes Medium zu konvertieren. In den Aithiopika existiert das Anfangsbild nur in der Wahrnehmung der Personen. Es befindet sich also innerhalb der Geschichte und nicht außerhalb von ihr. Als dann die Piraten (d.h. die Wahrnehmenden und also die Schöpfer der graphé) zu agieren beginnen, belebt sich die graphé, indem sie zur Erzählung wird. Und die durch die Auflösung des Bildes erzeugte Erzählung setzt sich von Passage zu Passage fort bis zur Erklärung des Bildes selbst. Eine sehr raffinierte Erfindung, aber auch eine Katze, die sich in den Schwanz beißt: Bild und Schrift verlaufen ineinander wie in einem Spiel von einander reflektierenden Spiegeln. Die Wahrheit der Geschichte scheint also zwischen zwei Quellen zu hängen, die sich deren Grundlage zuschieben. Dies ist aber nur die erste Ebene, der äußerste Rahmen. Heliodors Schreiben basiert aber, wie wir wissen, auf einer ständigen und vielfältigen Überlagerung von 5
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Massimo Fusillo: Il romanzo greco: polifonia ed eros. Venezia 1989, S. 28–32; Tim Whitmarsh: The Birth of a Prodigy: Heliodorus and the Genealogy of Hellenismus. In: Studies in Heliodorus. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 93–124, hier S. 97–98. Bartsch: Decoding the Ancient Novel (Anm. 1), S. 40–42; Helen Morales: Vision and Narrative in Achilles Tatius’ Leucippe and Clitophon. Cambridge 2004, S. 37–38. Longus, Pr. 1–3.
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Darstellungsebenen.8 Wie die Gelehrten bemerkt haben, begegnet in der Anfangsszene in großem Maße intertextuelles Spiel.9 In einer vor Kurzem erschienenen Abhandlung überprüft Mario Telò das Verhältnis zwischen der Ekphrasis von Heliodorus und der Szene des Freiermordes, der im 22. Gesang der Odyssee erzählt wird.10 Wenden wir uns nochmals, sehr kurz, der homerischen Erzählung zu, indem wir aufmerksam auf die Schlüsselpassagen hören: – Odysseus trifft Antinoos am Hals, als er den Becher hält und bereit ist zu trinken. Der Becher fällt aus Antinoos’ Hand, ein Bächlein Blut fließt herab und mischt sich mit dem Wein, der Fuß schlägt den Tisch um, Brot und Fleisch fallen zu Boden (V. 8–21); – die Freier untersuchen die Wände des Megaron, finden aber keine Schilde und Speere (V. 24 π༁ντοσε παπτα༁νοντες ༁υδµ༁τους ποτ༁ το༁χους); – Eurymachos, nachdem er vergeblich versucht hat, Odysseus zu beruhigen, fordert die Genossen auf, die Schwerter zur Hand zu nehmen, sich mit Hilfe der Tische gegen die Pfeile zu schützen und gemeinsam Odysseus anzugreifen (V. 74–76); – Odysseus trifft Eurymachos, der nach hinten auf den Tisch fällt, wobei er die Speisen und den Becher auf den Boden wirft und mit den Füßen den Sitz umwirft (V. 84–88); – die Rauferei setzt sich mit verschiedenen Episoden fort; Athena löst Panik unter den Freiern aus, die fliehen wie ein von den Geiern verfolgter Vogelsturm; der Boden schwimmt von Blut (V. 302–309); – Phemios und Medon, nachdem sie Mitleid verlangt und erhalten haben, sitzen beim Altar des Zeus und blicken erschrocken umher (V. 380 π༁ντοσε παπτα༁νοντες); – auch Odysseus schaut (V. 381 πάπτηνεν) im Saal auf der Suche nach einigen Überlebenden umher; aber er sieht alle Freier in Blut und Staub: sie liegen da wie ans Ufer gezogene Fische (V. 381–389). Telò verdeutlicht einige Verbindungspunkte zwischen der von Heliodorus beschriebenen Szene und dem Text der Odyssee:11 – die als provisorische Waffen verwendeten Tische, Mischkrüge und Becher verweisen auf Odyssee 22, 74–75 φάσγανά τε σπάσσασθε κα༁ ༁ντίσχεσθε
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Tim Whitmarsh: Beyond the Second Sophistic. Adventures in Greek Postclassicism. Berkeley u.a. 2013, S. 45. 9 Emile Feuillâtre: Études sur les Éthiopiques d’Héliodore: contribution à la connaissance du roman grec. Paris 1966, S. 105; Tim Whitmarsh: Narrative and Identity in the Ancient Greek Novel. Cambridge 2011, S. 108. 10 Mario Telò: The Eagle’s Gaze in the Opening of Heliodorus’ Aethiopica. In: American Journal of Philology 132 (2011), S. 581–613. 11 Ebd., S. 585–586.
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τραπέζας / ༁༁ν ༁κυµόρων [Reißt eure Schwerter heraus, benützt auch die Tische als Schutzwehr gegen die Pfeile des schnellen Verderbens] (so sagt Eurymachos den Genossen);12 – das Bild der aus der Hand der Speisenden gefallenen Mischkrüge verweist auf Odyssee 22, 17–18 ༁κλίνθη δ’ ༁τέρωσε, δέπας δέ ο༁ ༁κπεσε χειρ༁ς / βληµένου [Er aber sank auf die Seite, der Becher entfiel seinen Händen, tödlich war er getroffen] (Tod des Antinoos); – das furchtbare, wirre Durcheinander von Wein und Blut, Feier und Gemetzel (welches eine Art von Refrain in der Beschreibung des Heliodorus ist) findet sich in Odyssee 22, 9–12 ༁ τοι ༁ καλ༁ν ༁λεισον ༁ναιρήσεσθαι ༁µελλε, / χρύσεον ༁µφωτον, κα༁ δ༁ µετ༁ χερσ༁ν ༁νώµα, / ༁φρα πίοι ο༁νοιο· φόνος δέ ο༁ ο༁κ ༁ν༁ θυµ༁ / µέµβλετο [Der (d.h. Antinoos) war eben dabei seinen Becher mit doppelten Henkeln, den schönen, goldnen, zu heben und schwang ihn wirklich bereits mit den Händen; trinken wollt er vom Wein; denn er sorgte sich nicht im Gemüte, dass es ein Morden jetzt gäbe]; die Wortsequenz ο༁νοιο φόνος, mit den zwei oxymorischen Elementen die im gleichen Vers nacheinander folgen, offenbart diese unangenehme Überlappung. Die Präsenz des odysseischen Hypotextes wird durch die Erzählung von Kalasiris in 5, 32 bestätigt: Charikleia schießt Pfeile nach rechts und links und sät Mord, genau wie dies auch Odysseus im Megaron von Ithaka tut.13 In der Analyse von Telò gewinnt das Gleichnis große Bedeutung, das in Odyssee 22, 381–389 die Erzählung des Freiermordes beschließt.14 Nach dem Gemetzel schaut Odysseus um sich, um festzustellen, ob jemand dem Tod entronnen ist, aber das sich ihm bietende Schauspiel ist das der leblosen Körper der Freier, die wie ans Ufer gezogene Fische aufeinander liegen. Nachdem er den Gebrauch des Verbs παπτα༁νω (V. 381) diskutiert hat, das den typischen Blick des Plünderers, des in jede Richtung Beute suchenden Mörders beschreibt, verbindet Telò das Gleichnis der Fische mit anderen Stellen, in welchen Odysseus einem Raubvogel gleichgestellt wird: mit dem von Penelope im 19. Gesang erzählten Traum des Adlers und der Gänse und dem in den Versen 299–309 des 22. Gesangs entwickelten Gleichnis der Geier. Zu diesem Spiel der Verweise gehört auch die Beschreibung der goldenen Schnalle des Odysseus, der Schnalle, die an seinem Mantel angebracht war, als er in Richtung Troja aufbrach. Es sind die Verse 227–231 des 19. Gesangs: πάροιθε δ༁ δαίδαλον ༁εν· ༁ν προτέροισι πόδεσσι κύων ༁χε ποικίλον ༁λλόν, ༁σπαίροντα λάων· τ༁ δ༁ θαυµάζεσκον ༁παντες, ༁ς ο༁ χρύσεοι ༁όντες ༁ µ༁ν λάε νεβρ༁ν ༁πάγχων α༁τ༁ρ ༁ ༁κφυγέειν µεµα༁ς ༁σπαιρε πόδεσσι.
12 Für die Odyssee benutze ich die deutsche Übersetzung von Anton Weiher: Homer, Odyssee. Übertragung von Anton Weiher, Einführung von Alfred Heubeck. 8. Auflage. München, Zürich 1986. 13 Telò: The Eagle’s Gaze (Anm. 10), S. 586 Anm. 14. 14 Ebd., S. 587–594.
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Doch vorne war sie ein Kunstwerk: packte ein Hund mit den vorderen Füßen ein fleckiges Hirschkalb; dieses zappelte, er aber biß es; da staunten sie alle, wie er das Kälbchen würgend zerbiß und dies mit den Füßen zappelnd versuchte ihm doch zu entrinnen – und war doch von Golde.
In dieser Ekphrasis koexistieren visuelle Sensibilität und erzählerische Suggestion: der Hund, der das Hirschkalb anschaut und es nicht fliehen lässt, obwohl jenes sich heftig bewegt und aufzuckt, ist eine Vorweg-Darstellung von Odysseus, der nach dem Gemetzel die toten, von den Zuckungen der Agonie geschüttelten Freier wie sterbende Fische am Ufer anschaut (λάω kann nämlich auch “anschauen” bedeuten). Heliodorus’ Plünderer, die von der Hügelspitze die leblosen (und noch zuckenden) Körper der hier und dort am Strand liegenden Räuber (in einer Art ‚Meeres-Stillleben‘) anschauen, sind auf dem Modell – sowohl erzählerisch als auch visuell – des ‚Räubers‘ Odysseus aufgebaut. Das grundlegende Ziel dieses Verfahrens ist nach Telò die Absicht, die Erzählung im Sinne des von Homer Suggerierten zu verbreitern, den Roman schon von Beginn an als eine Neuauflage der Odyssee vorzuschlagen.15 Und es gibt auch in einer metatextuellen Perspektive den Versuch, die eigene Schrift als eine ‚plündernde‘ Kunst vorzustellen: die nach dem Muster von Odysseus konzipierten Piraten sind ihrerseits ein Modell des Schriftstellers, welcher sich anschickt, das homerische Epos zu plündern, indem er es nach seiner Wahl ausraubt.16 Soweit Telò. Aber der intertextuelle Vergleich kann uns noch ein bisschen weiter bringen. Wir haben gesehen, dass in der Odyssee der Ekphrasis der Schnalle mit der Szene des Hundes und des Hirschkalbs die Erzählung des Gemetzels (das drama) folgt und dann – vermittelt durch Odysseus’ Augen – die graphé der Folgen des Gemetzels. In seiner variierten Nachahmung ändert Heliodorus die Reihenfolge: die graphé des von den Augen der Piraten aufgenommenen Blutbades geschieht vor der Erzählung des der Stimme von Kalasiris anvertrauten drama. Die Inversion verdankt sich nicht nur dem Wunsch, ein differenzierendes Element einzuführen, sondern hat eine tiefe Bedeutung: sie will den Wert eines vom literarischen Gedächtnis geadelten Bildes zur Geltung bringen. Das ‚Bild‘ des Gemetzels besitzt also nicht nur die flüchtige Konsistenz eines subjektiven Eindrucks, sondern verankert im Text eine echte Präsenz der homerischen Tradition. Es kann als incipit für deren objektive Kraft gelten; und umgekehrt bestätigt die Anfangsstellung seine eigene Bedeutung. Dadurch erscheint die von Heliodorus verwendete Anfangsformel der von Longus verwendeten im Grunde sehr ähnlich. Nun kann man sich fragen, ob die graphé des Massakers ihre Darstellungskraft nur dem literarischen Gedächtnis, also dem intertextuellen Spiel, verdankt, oder ob 15 Ebd., S. 593: „The laborious process of narrative decipherment through the pirates’ deviant focalisation is coupled with a demanding exercise in intertextual decoding, which calls upon the reader’s imagination and cunning to reassemble the fragments of the Homeric hypotext by discovering clues, then connecting and supplementing them“. 16 Ebd., S. 583: „I contend that Heliodorus builds on the ecphrastic dimension of the fish simile occurring at the end of the slaughter of the suitors to represent his novel’s relationship with the Odyssey in terms of predatory poetics“.
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nicht das visuelle Gedächtnis eingreift. Das hat sich Aldo Tagliabue gefragt, der diesem Problem eine breite Studie gewidmet hat.17 Tagliabues Meinung ist, dass die heliodorische Wieder-Ausarbeitung des odysseischen Modells auch von einer ikonographischen Suggestion inspiriert wird. Seiner Meinung nach begegnet also neben der Intertextualität die Intervisualität. Tagliabue geht von Telòs Beitrag aus, dessen Schlussfolgerungen er im Wesentlichen akzeptiert; er vermerkt aber, dass zwischen der Stelle bei Heliodorus und dem epischen Modell, außer offensichtlichen Ähnlichkeiten, auch einige Unterschiede zu finden sind: – die Verwendung der Tische als Waffen erscheint nicht bei Homer, bei dem die Tische nur als Schutz gebraucht werden (Odyssee 22, 74–75); – das Gleiche gilt für die Verwendung der Mischkrüge und der Becher als Wurfgeschosse: ein impliziter Kommentar von Heliodorus unterstreicht die Singularität und die Neuerung dieser Praxis (Aithiopika 1, 1, 4 τ༁ γ༁ρ α༁φνίδιον το༁ κακο༁ τ༁ς χρείας ༁καινοτόµει κα༁ βέλεσι κεχρ༁σθαι το༁ς ༁κπώµασιν ༁δίδασκεν [Denn die Plötzlichkeit des Übels definierte Nützlichkeit neu und lehrte sie das Trinkgeschirr als Wurfgeschoss zu verwenden]). Der Freiermord hat seine eigene ikonographische Geschichte, die nicht sehr reich, aber doch durchwegs interessant ist: das Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae listet etwa 15 Kunst-Erzeugnisse auf, von denen die ältesten auf das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückgehen.18 Der Fokus der Darstellung ist immer auf das Gefecht zwischen Odysseus und den Freiern gerichtet: vor dem Hintergrund des Banketts schießt der Held Pfeile und die Freier versuchen, sich den Hieben zu entziehen. Die sympotische Dimension der Szene ist ein durchgehender Zug: das Massaker der Freier erscheint als ein ‚schlecht beendetes Bankett‘; die Einrichtung und die Utensilien des festlichen Gelages, d.h. die Tische, die Triklinien, die Mischkrüge, die Becher, sind gut sichtbar. Aber auch deren unpassender, nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch ist sichtbar. Die Kunsthistoriker denken, dass diese ikonographische Konstanz auf einen Prototyp zurückgeführt werden kann, d.h. auf eine mustergültige Malerei klassischer Zeit, die Jahrhunderte lang als Modell gedient hat.19 Es könnte diejenige sein, die Pausanias behauptet, in Korinth gesehen zu haben: Pausanias 2, 3, 3 ༁τι γε δ༁ κα༁ ༁πόλλωνος ༁γαλµα πρ༁ς τ༁ Πειρήν༁ κα༁ περίβολός ༁στιν, ༁ν δ༁ α༁τ༁ γραφ༁ τ༁ ༁δυσσέως ༁ς το༁ς µνηστ༁ρας ༁χουσα τόλµηµα.
17 Aldo Tagliabue: Heliodorus’ Aethiopica and the Odyssean Mnesterophonia: an Intermedial Reading. In: Transactions of the American Philological Association 145 (2015), S. 445–468. 18 Odette Touchefeu-Meynier: Mnesteres II. In: LIMC VI (1992), S. 631–634. Über die Datierung dieser Kunst-Erzeugnisse vgl. auch Alessandro Poggio: Il fregio della mnesterofonia a Trysa. In: Lo sguardo archeologico. I normalisti per Paul Zanker. Hg. von Francesco De Angelis. Pisa 2007, S. 63–76, hier S. 66 („Gli esempi pervenuti di mnesterofonia non sono molti, e comunque non anteriori al V secolo a.C.“). 19 Jean A. Pasquier: Il massacro dei pretendenti. In: Ulisse: il mito e la memoria. Catalogo della mostra (Roma, 22 febbraio – 2 settembre 1996). Hg. von Bernard Andreae, Claudio P. Presicce. Roma 1996, S. 396–432, hier S. 423.
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Bei der Quelle Pirene gibt es ferner noch eine Statue und einen heiligen Bezirk des Apollon; in diesem befindet sich ein Gemälde, welches das Unternehmen von Odysseus gegen die Freier darstellt.
Eine Spur dieser Ikonographie überlebt noch bis ins späte Altertum; Tagliabue nennt insbesondere drei Sarkophage, die vom Anfang des dritten Jahrhunderts n. Chr. stammen.20 Zwei sind attischer Herkunft: in allen drei ist der Gebrauch der Tische als Waffen offensichtlich. Man kann nicht ausschließen, dass Heliodorus sie kannte. Wir können uns übrigens eine genauere Vorstellung von der Standard-Ikonographie des Freiermordes im klassischen Zeitalter dank eines attischen skyphos und zwei Krateren großgriechischer Herstellung machen. Der skyphos ist vom Penelope-Maler dekoriert und etwa um 440 v. Chr. zu datieren.21 Die A-Seite zeigt Odysseus, dem zwei Mägde folgen, und der im Begriff ist, einen Pfeil nach rechts zu schießen, d.h. zur B-Seite der Vase; hier sind drei Freier abgebildet, die während des Symposiums überrascht werden. Zwei befinden sich auf dem Bett: einer, mit durchstochenem Rücken, versucht, sich den Pfeil aus dem Leib zu ziehen; der andere streckt das imation wie zur Verteidigung vor; ein dritter Freier liegt auf dem Boden und verschanzt sich hinter einem Tisch. [s. Abb. 1, A-Seite und B-Seite] Der erste der zwei Kratere, apulisch, ist vom Hearst-Maler dekoriert und geht zurück auf 420/10 v. Chr.;22 ein übrig gebliebenes Fragment zeigt den oberen Teil von sieben in einem wilden Gefecht beschäftigten Figuren. Odysseus’ Bild ist nicht erhalten (es muss den linken Rand der Szene ausgefüllt haben); in der Mitte greift Telemachos einen Freier an, indem er ihn an den Haaren zieht, er wird seinerseits von einem anderen Freier angegriffen, der eine Kottabos-Stange in die Hand nimmt. Weiter rechts ergreift ein bartloser, durch einen Pfeil getroffener Junge einen Tisch, bereit zu schlagen; am äußeren Rand schützt sich ein bärtiger Mann mit einem Teppich, während ein Pfeil über seinen Kopf fliegt. Links versucht ein anderer Bärtiger, sich mit einem Tisch zu schützen, aber ein Pfeil hat ihn schon getroffen [s. Abb. 3]. Der zweite ist ein kampanischer Krater (aus Capua), dekoriert vom Ixion-Maler und etwa auf 330 v. Chr. zu datieren.23 Unter allen Darstellungen des Freiermordes, die auf uns gekommen sind, ist diese am ungewöhnlichsten und dramatischsten. Rechts die drei Angreifer: Odysseus ergreift den Bogen und wird dabei von Telemachos (zu seiner Linken, durch den Schild geschützt) und von Eumaios (weiter oben) unterstützt. Die Freier, die vier Fünftel der Szene belegen, bilden ein eindrucksvolles Gewirr von Körpern in den verschiedensten Positionen; der sympotische Zusammenhang wird deutlich durch die kline zum Ausdruck gebracht. Auf dieser liegen einige leblose Körper, während andere Freier gerade versuchen, von der kline herab die Hiebe zu erwidern. Andere befinden sich am Boden, stehend oder auf den 20 Sie entsprechen den Nummern 22–24 in LIMC VI (1992), S. 633–634. 21 Attischer rotfiguriger Skyphos; Berlin, Staatliche Museen F 2588; Nummer 9 in LIMC VI (1992), S. 632. 22 Apulischer rotfiguriger Krater; Basel, Antikenmuseum, Sammlung Cahn HC 272; Nummer 11 in LIMC VI (1992), S. 632. 23 Kampanischer rotfiguriger Krater; Paris, Museum des Louvre CA 1724; Nummer 13 in LIMC VI (1992), S. 632.
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Knien. Zwei Freier gebrauchen die Tische als Schilde, viele ergreifen Vasen oder Becher, bereit, sie als Wurfgeschosse zu verwenden. [s. Abb. 2] Tagliabue bemerkt, dass all diese Darstellungen als Thema das Gefecht zwischen Odysseus und den Freiern haben, d.h. die vorausgehende Handlung (den Teil des 22. Gesangs, der dem drama entspricht), und nicht das Endergebnis (das in dem Gleichnis der Fische enthaltene und als graphé definierbare ‚Stillleben‘). Übrigens sind die Berührungspunkte mit der Szene der Aithiopika offensichtlich. Besonders interessant sind zwei Elemente, die sowohl in der Ikonographie (freilich nicht auf dem skyphos) als auch im Roman wiederkehren, aber in der homerischen Erzählung fehlen. Das erste ist der Gebrauch der Tische als Wurfgeschosse: bei Homer dienen die Tische als Schutz (oder zumindest ist dies die von Eurymachos an die Genossen gegebene Empfehlung), aber nicht als Waffe. Das zweite ist die Verwendung von Mischkrügen und Bechern als Wurfgeschossen: dies wird in der odysseischen Szene nicht erwähnt; denn die Freier haben Schwerter und werden zu einem späteren Zeitpunkt vom Ziegenhirten Melanthios mit Waffen beliefert.24 Tagliabue kommt zu dem Schluss, dass das Massaker der Aithiopika als Modell nicht nur den Text des Freiermordes, sondern auch seine ikonographische Tradition hat. Ich glaube, dass man diesem Schluss zustimmen kann, umso mehr als, wenn wir Pausanias glauben, eine dem Endmoment des Freiermordes inspirierte ikonographische Linie existierte. Als er über Plataiai spricht, beschreibt Pausanias die im Tempel der Athena Areia vorhandenen Malereien: eine davon, ein Werk des Polygnotos, stellt Odysseus „nachdem er die Freier vernichtet hat“ dar. Pausanias 9, 4, 2 γραφα༁ δ༁ ε༁σιν ༁ν τ༁ να༁ Πολυγν༁του µ༁ν ༁δυσσε༁ς το༁ς µνηστ༁ρας ༁δη κατειργασµ༁νος […] Im Tempel sind Malereien: eine, von Polygnotos, stellt Odysseus nach der Tötung der Freier dar.
Die Stelle ist interessant, weil sie bezeugt, dass in der Malerei auch der Szene nach dem Gemetzel Raum gegeben wurde, d.h. einer Situation von ‚Stillleben‘, die dem Gleichnis der Fische in der Odyssee und der anfänglichen Ekphrasis der Aithiopika entspricht. Heliodorus könnte also auch diese andere ikonographische Linie berücksichtigt haben. Fassen wir vorläufig zusammen. Die graphé des Massakers erklärt sich zunehmend als eine Überblendung von Ebenen, Suggestionen, Erinnerungen. Sie ist zunächst das, was die Piraten sehen, d.h. ein Bild innerhalb der fabula, subjektiv und ungewiss. Sie ist aber auch die Wiederaufnahme des odysseischen Freiermordes, eine Wiederaufnahme, in welcher sowohl Intertextualität als auch Intervisualität eine Rolle spielen: die homerische Stelle, die durch unmißverständliche Zitate evoziert wird, lässt ihre eigene Kraft auf die Erzählung übergehen, und das visuelle Gedächtnis der ikonographischen Tradition, das deutlich in Details zitiert wird, die 24 Vgl. auch Pasquier: Il massacro dei pretendenti (Anm. 19), S. 424: „La pittura invece insiste più del poema sui vasi rovesciati e rinforza l’immagine del banchetto tragico mettendo nelle mani dei Pretendenti alcuni pezzi di questo vasellame invece delle armi“.
Intertextualität und Intervisualität bei Heliodorus
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den homerischen Text korrigieren, versieht die Szene mit einer zusätzlichen Bedeutung. Hinter dem Blick der Piraten gibt es den Blick Homers: das, was Homer sieht und was die Griechen in Homer gesehen haben. Ein anderer – und letzter – Schritt muss noch getan werden. Das Thema des in ein Blutbad degenerierten Symposiums, welches seinen Prototyp in der Odyssee hat, findet Anwendung auch vor Heliodorus sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst. Man kann also nicht ausschließen, dass in der Szene der Aithiopika auch eine sekundäre Erinnerung aktiviert wird. Ein Beispiel ist die Erzählung von der Tötung der Tyrannen in Plutarchs De genio Socratis. Als die als Komasten verkleideten Verschworenen den Saal betreten, in welchem Archias und Philippus, die zwei Hauptpersonen der philospartanischen Oligarchie, speisen, bricht die Rauferei los: Archias, durch den Wein benebelt, kann nicht aufstehen und wird sofort umgebracht; Philippus, auf der kline liegend, verwendet die Becher als Wurfgeschosse, aber er wird zu Boden geworfen und umgebracht. Die Erzählung ist schnell und auf das Wesentliche konzentriert, erläutert aber gut den plötzlichen Wechsel der Situation und den verzweifelten Widerstand der überraschten Tischgäste. Plutarch, De genio Socratis 597ab τ༁ν δ༁ Φίλιππον ༁τρωσε µ༁ν Χάρων παρ༁ τ༁ν τράχηλον, ༁µυνόµενον δ༁ το༁ς παρακειµένοις ༁κπώµασιν ༁ Λυσίθεος ༁π༁ τ༁ς κλίνης χαµα༁ καταβαλ༁ν ༁νε༁λε. Philippus, am Hals von Charon verwundet, versuchte, sich mit den neben ihm postierten Bechern zu verteidigen; aber Lysitheos warf ihn vom Bett nieder und machte ihn am Boden fertig.
Der interessanteste Text ist aber eine Stelle in den Imagines von Philostratus. Indem er das Bild mit dem Titel Kassandra beschreibt, zeigt der Autor eine absolut ähnliche Szene zu derjenigen der Aithiopika:25 ein ins Blutbad verwandeltes Bankett, Blut mit Wein vermischt, über die Tafeln fallende leblose Tischgäste, die die Mischkrüge in den Zuckungen des Todeskampfes umwerfen (bedeutungsvoll der Gebrauch des Verbs σπαίρω). Die Szene ist stärker von der Epik als der Tragödie inspiriert: sie ist im Wesentlichen eine bildhafte Darstellung des tödlichen Banketts, das Agamemons Schatten im Gespräch mit Odysseus in der Nekyia ins Gedächtnis zurückruft (auch mit einigen Bezügen auf den Freiermord des 22. Gesangs). Nach dem ersten beschreibenden Teil wendet sich der Rhetor an seinen Lieblings-Ansprechpartner, den Knaben, und macht ihn darauf aufmerksam, dass die Darstellung als ein drama angesehen werden kann (und in diesem Fall liefert sie die Synthese einer komplexen Geschichte); doch kann sie auch als eine graphé angesehen werden und dann hat sie viel mehr zu sagen und anzubieten. Philostratus, Imagines 2, 10, 1 (= Kassandra) Ο༁ κείµενοι κατ’ ༁λλος ༁λλο το༁ ༁νδρ༁νος κα༁ τ༁ ༁ναµ༁ξ τ༁ ο༁ν༁ α༁µα κα༁ ο༁ ༁κπνέοντες ༁π༁ τραπεζ༁ν κρατήρ τε ο༁τοσ༁ λελακτισµένος ༁π༁ ༁νδρός, ༁ς πρ༁ς α༁τ༁ σπαίρει, κόρη τε χρησµ༁δ༁ς τ༁ν στολ༁ν ε༁ς πέλεκυν ༁µπεσούµενον ༁αυτ༁ βλέπουσα—τ༁ν ༁γαµέµνονα ༁κοντα ༁κ Τροίας ༁ Κλυταιµνήστρα δέχεται τούτ༁ τ༁ τρόπ༁ ο༁τω µεθύοντα, ༁ς κα༁ τ༁ν Α༁γισθον θαρσ༁σαι τ༁ ༁ργον. ༁ Κλυταιµνήστρα δ༁ πέπλου τέχν༁ τιν༁ς ༁πείρου τ༁ν ༁γαµέµνονα 25 Ein Vergleich zwischen der Ekphrasis des Heliodorus und der Stelle von Philostratus wird auch von Winkler: The Mendacity of Kalasiris (Anm. 3), S. 101 Anm. 13 vorgeschlagen.
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Giuseppe Zanetto περισχο༁σα πέλεκυν ༁ς α༁τ༁ν ༁κεν ༁µφήκη το༁τον, ༁ς κα༁ τ༁ δένδρα α༁ρε༁ τ༁ µεγάλα, τήν τε το༁ Πριάµου κόρην καλλίστην νοµισθε༁σαν τ༁ ༁γαµέµνονι χρησµούς τε ༁πιστουµένους ༁δουσαν ༁ποκτείνει θερµ༁ τ༁ πελέκει. κα༁ ε༁ µ༁ν ༁ς δρ༁µα ༁ξετάζοµεν, ༁ πα༁, τα༁τα, τετραγ༁δηται µεγάλα ༁ν σµικρ༁, ε༁ δ’ ༁ς γραφήν, πλείω ༁ν α༁το༁ς ༁ψει. Dahingestreckte, jeder in einem anderen Winkel des Männersaales, Blut mit Wein vermischt und Verröchelnde über Tische gekrümmt und der Mischkrug hier, mit dem Fuß umgestoßen von einem Mann, der neben ihm in Todeszuckungen liegt, dazu eine Jungfrau im Kleid einer Prophetin und ein Beil anstarrend, das auf sie herabsausen wird. So empfängt Klytaimnestra den Agamemnon bei seiner Rückkehr aus Troia, ihn, der so trunken ist, daß selbst Aigisthos seine Untat wagte. Klytaimnestra aber, die Agamemnon tückisch in ein riesiges Tuch verwickelt hatte, schmetterte dies zweischneidige Beil auf ihn, das sogar die großen Bäume fällt; auch die Tochter des Priamos, die Agamemnon als die Schönste galt und Göttersprüche sang, von keinem geglaubt, tötet sie mit dem noch warmen Beil. Und wenn wir dies, mein Sohn, als Schauspiel fassen, so ist eine große Tragödie mit wenigem aufgeführt, wenn aber als Gemälde, so wirst du darin noch mehr sehen.26
In welchem Sinne sagt die Malerei mehr als das Drama aus? Verschiedene Antworten sind möglich,27 aber die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die graphé den Nutznießer tiefer einbezieht, ihn zwingt, sich mit der Szene auf einem sowohl mentalen als auch sinnlichen Niveau zu messen, indem er angeregt wird, parallele Szenerien sich ins Gedächtnis zu rufen, die aus dem Schatz der eigenen Erfahrungen und eigenen Erlebnisse entstanden sind. Der Nutznießer der graphé wird innerhalb der Bilderwelt aufgesaugt, deren innere Dynamik nicht ganz von der äußeren Dynamik des Beobachters getrennt werden kann. Auch die am Anfang der Aithiopika enthaltene graphé ‚sagt mehr‘: sie bezieht die primären Nutznießer, die Piraten, ein, indem sie sie in Bewegung setzt (und gleichzeitig die Erzählung veranlasst) und bezieht den sekundären Nutznießer ein, den Leser, indem er zur Nutznießung des Romans geführt wird.
26 Ich benutze hier die deutsche Übersetzung von Otto Schönberger: Philostratos, Die Bilder. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Otto Schönberger. München 1968. 27 Jaś Elsner: Philostratus Visualizes the Tragic: Some Ecphrastic and Pictorial Receptions of Greek Tragedy in the Roman Era. In: Visualizing the Tragic. Drama, Myth, and Ritual in Greek Art and Literature. Essays in Honour of Froma Zeitlin. Hg. von Chris Kraus u.a. Oxford 2007, S. 309–337, hier S. 331.
Intertextualität und Intervisualität bei Heliodorus
Abbildung 1a: Attischer rotfiguriger Skyphos; Berlin, Staatliche Museen F 2588 (A-Seite)
Abbildung 1b: Attischer rotfiguriger Skyphos; Berlin, Staatliche Museen F 2588 (B-Seite)
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Giuseppe Zanetto
Abbildung 2: Kampanischer rotfiguriger Krater; Paris, Museum des Louvre CA 1724
Abbildung 3: Fragmente eines Apulischen rotfigurigen Kraters; Basel, Antikenmuseum, Sammlung Cahn HC 272
DIE ENZYKLOPÄDISCHEN EXKURSE IN HELIODORS AITHIOPIKA: DIE NATURALIS HISTORIA DES ÄLTEREN PLINIUS UND DAS MIRABILE DER ZEUGUNG CHARIKLEAS Judith Hindermann EXKURSE IN HELIODORS AITHIOPIKA Als auffälliges narratologisches Charakteristikum des antiken Romans wurden Exkurse1 schon früh in den Blick genommen. Die deskriptiven Passagen ausserhalb der Haupthandlung galten in der älteren Forschung zunächst als unnötige Digressionen, welche die Geduld des Lesers strapazieren und ihren Ursprung im Wunsch der rhetorisch gebildeten Autoren haben, ihr umfassendes Wissen zu demonstrieren.2 In der aktuellen Forschung werden Exkurse hingegen meist als kunst- und bedeutungsvolles Netz von Vor- und Rückverweisen auf den Plot gedeutet, die diesem über die love-story hinaus tieferen Sinn verleihen.3 Andere Untersuchungen neueren Datums weisen eine rein intratextuelle Lesart zurück und postulieren, dass der Roman als Gattung genuin digressiv und nicht-linear sei und eine Interpretation der Exkurse mit Fokus auf die Haupthandlung daher zu kurz greife.4 Die in Heliodors Aithiopika besonders häufig auftretenden Exkurse unterscheiden sich sowohl in Länge und Inhalt als auch in ihrer Funktion und Verankerung im Textganzen stark voneinander. Die meisten dienen dazu, die Vorgeschichte der Hauptfiguren aufzurollen, sind also narratologischer Art. Es handelt sich dabei um
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Im folgenden Beitrag wird mit dem Terminus ‚Exkurs‘ jede Abweichung vom linear erzählten Plot der Haupthandlung bezeichnet. Zur Abgrenzung gegenüber der ‚Rückblende‘ und der ‚Ekphrasis‘ siehe weiter unten im Kapitel. Die Frage, was ein Exkurs ist bzw. welche Terminologie dafür verwendet werden soll, wurde in der Forschung je nach Untersuchungsziel unterschiedlich beantwortet. Vgl. dazu weiter unten (Anm. 20). So z.B. Ben E. Perry: The Ancient Romances. A Literary-Historical Account of Their Origins. Berkeley, Los Angeles 1967, S. 119. Shadi Bartsch: Decoding the Ancient Novel: The Reader and the Role of Description in Heliodorus and Achilles Tatius. Princeton 1989, S. 3–6 (mit einer Übersicht über die ältere Forschung); Tim Whitmarsh: Narrative and Identity in the Ancient Greek Novel. Cambridge 2011, S. 235–242; Alain Billault: La création romanesque dans la littérature grecque a l’époque impériale. Paris 1991, S. 268–274; John J. Winkler: The Mendacity of Kalasiris and the Narrative Strategy of Heliodoros’ Aithiopika. In: Yale Classical Studies 27 (1982), S. 93–158. Wiederabgedruckt in: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 286–350, hier S. 293–295; 305–307; 314–315. Massimo Fusillo: Il romanzo greco. Polifonia ed eros. Venezia 1989, S. 68–77; Billault: La création romanesque (Anm. 3), S. 265–301.
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größere Rückblenden, die der in medias res Erzählweise geschuldet sind.5 Charakteristisch für diese Art von Exkurs ist eine deutliche Markierung als Einschub in den Text. Damit verbunden ist häufig ein Wechsel der Erzählmedien oder eine Verschachtelung der Erzählinstanzen6 sowie ein Verweis auf die narratologische Metaebene. Die Romanfiguren wissen und kommunizieren explizit, dass sie sich außerhalb des Kerns der Geschichte begeben.7 Heliodor lässt seine Erzähler z.B. begründen, warum sie ihre Vorgeschichte zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt nachliefern, und zeigt die Reaktionen der Romanfiguren auf das Erzählte.8 Mit resümierenden Schlusssätzen erfolgt jeweils die Rückkehr zum Hauptstrang der Erzählung.9 Der zweite Typ von Exkurs bei Heliodor ist die statisch-deskriptive Ekphrasis, also eine Beschreibung, die dem Publikum einen Gegenstand lebendig vor Augen stellt (༁νάργεια).10 Sie zielt insbesondere auf den visuellen Aspekt, z.B. eines Schmuckstücks oder Kunstwerks.11 Der dritte Typ von Exkurs, der ‚enzyklopädische oder naturwissenschaftliche12 Exkurs‘, auf den der folgende Beitrag fokussiert, ist inhaltlich definiert. Er vermittelt dem Leser Wissen, das für die Handlung der Geschichte des Liebespaares und 5
Vgl. dazu John R. Morgan: Heliodoros. In: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 417–456, hier S. 440–445 mit weiterführender Literatur. Insbesondere der Anfang des Romans mit dem plastischen Tableau von Protagonisten, Räubern und Leichen wurde sehr oft analysiert. Siehe z.B. Winkler: The Mendacity of Kalasiris (Anm. 3), S. 290–294; Michael J. Anderson: The ΣΩΦΡΟΣΥΝΗ of Persinna and the Romantic Strategy of Heliodorus’ Aethiopica. In: Classical Philology 92 (1997), S. 303–322, hier S. 304–309. 6 Z.B. Hld. 2,6–11: Die tote Thisbe trägt eine Wachstafel (2,6,2) bei sich. Deren Inhalt wird dem Leser aber mit der Begründung vorenthalten, dass Theagenes erst Chariklea suchen will, bevor er sie liest. Knemon erzählt daraufhin Theagenes und Chariklea mündlich von Thisbe (2,8,4). Erst danach lesen die drei gemeinsam die Tafel, die einen Brief von Thisbe an Knemon enthält (2,10,1–4). Auf diesen Brief reagiert Knemon, indem er der toten Thisbe mündlich antwortet und ihr die rhetorische Frage stellt, was sie mit dem Brief bezwecke (2,11,1–2). 7 Z.B. Hld. 2,23–24: Knemon bittet Kalasiris um eine Geschichte (2,23,5), unterbricht ihn aber bald und verlangt, dass er sich auf die Haupthandlung konzentrieren und nicht davon ablenken soll (2,24,4). Kalasiris erklärt darauf, warum er einen Umweg nimmt (2,24,5). Weitere Beispiele sind 2,30,1; 3,1,1; 3,2,3. 8 Z.B. Hld. 1,18,1: Chariklea und Theagenes weinen über Knemons Geschichte. 2,25,7: Knemon zuckt zusammen, als er den Namen Thyamis hört, schweigt aber, um die Erzählung des Kalasiris nicht zu stören. Weitere Beispiele sind 2,32,3; 4,3,4; 5,1,4. 9 Z.B. Hld. 1,9,1–1,17,6: Exkurs über Knemons Stiefmutter, insbesondere 1,14,1–2, als Knemon versucht, seine Erzählung zu unterbrechen und Theagenes dagegen protestiert. Weitere Beispiele sind 1,21,3–1,22,7; 3,4,11; 3,5,2. Vgl. auch die Geschichte der Thisbe in Buch 2, die durch ihren Brief eingerahmt wird (Anm. 6). 10 Zur Terminologie Ruth Webb: Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice. Farnham u.a. 2009. Vgl. Hld. 3,4,7, wo Knemon auf die Wirkung von Kalasiris’ Ekphrasis verweist. 11 Z.B. Hld. 3,3,4–8: Beschreibung von Theagenes’ Auftritt mit Mantel (darauf abgebildet der Kampf der Lapithen gegen die Kentauren), Mantelschnalle (mit Athene und Gorgo) und edlem Pferd; 3,4,2–6: Beschreibung von Chariklea mit Gürtel und Frisur im Wagen. 12 So benannt von Hans Rommel: Die naturwissenschaftlich-paradoxographischen Exkurse bei Philostratos, Heliodoros und Achilleus Tatios. Stuttgart 1923, S. 59–64.
Die enzyklopädischen Exkurse in Heliodors Aithiopika
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der assoziierten Figuren nicht zwingend notwendig ist und Themen aus der ganzen Breite der Welt abdeckt. Dazu zählen zoologische,13 geographische,14 technische und astrologische,15 psychologische und medizinische,16 religiöse und ethnographische17 sowie geologische Phänomene,18 die, wie quellenkritische Studien und Untersuchungen zu Heliodors Vorbildern zeigen,19 ähnlich auch von anderen antiken Autoren behandelt werden. Auffällig ist dabei zum einen das große Spektrum an enzyklopädischem Wissen, das Heliodor seinen Lesern bietet, zum anderen dessen Einbettung ins Romanganze. Das Wissen, das dem Leser via Romanlektüre vermittelt werden soll, ist nicht nur sorgfältig ausgewählt, sondern bewusst mit einzelnen Romanfiguren als Vermittlern verknüpft. Ziel des vorliegenden Beitrags ist dabei nicht der Nachweis, welche Autoren oder Werke für diese Passagen im Einzelnen vorbildhaft waren. Vielmehr soll anhand des wichtigsten naturwissenschaftlichen Exkurses der Aithiopika, der wundersamen Zeugung der Protagonistin (Hld. 4,8), untersucht werden, wie die dargebotenen Wissensinhalte im Roman in ihrer Gesamtheit zu beurteilen sind. Anders als die narratologischen Exkurse und die Ekphraseis fügen sich die enzyklopädischen Exkurse nahtlos in den Text ein und werden nicht durch Hinweise der Erzählerfiguren aus dem Textfluss herausgehoben oder als Digressionen markiert. Sie sind unmittelbar mit der Gegenwart der Erzählung verknüpft, da sie Gegenstände, Orte oder Ereignisse näher erläutern, so dass der Zuhörer die gelehrten Elemente automatisch der referierenden Romanfigur zuschreibt. Diese Nähe geht so weit, dass bei manchen Stellen der gewählte Begriff ‚Exkurs‘ nicht mehr passend ist, da sich die deskriptiven Passagen völlig in die Erzählung integrieren.
13 Hld. 1,18,3: Warum der Hahn am Morgen kräht; 3,8,1–2: Wirkung des Blickes von Vogel und Schlange; 2,22,4: Vogel trauert über den Verlust seiner Jungen; 6,1,2: Begegnung mit einem Krokodil; 6,3,2–3: Flamingo und Phoenix; 9,18: Elefant; 10,27: Giraffe (καµηλοπάρδαλις). 14 Hld. 2,28: Nil und Nilschwellen; 2,26,1–4: Beschreibung von Delphi; 5,17,1–3: Kalydonische Meerenge; 8,1,2–3: Philai; 9,22,5–6: Nilfest in Syene; 10,5,1–2: Meroë. 15 Hld. 1,28,2–1,29,2: Künstliches Tunnelsystem in Schatzhöhle; 2,24,6–7: Astrologische Berechnung, Einfluss der Sterne aufs Schicksal; 9,8,1–2: Reparatur und Kollaps des Damms in Syene; 9,22,3–4: Flussstandsmessung und Sonnenuhr in Syene. 16 Hld. 3,7,2–5: Böser Blick; 1,15,8; 3,10,5; 4,7,5–7: Diagnose und Heilung der Liebeskrankheit. 17 Hld. 1,5,2–4: Lebensweise der Hirten in den Sümpfen Ägyptens; 1,30,6: Verhalten der Barbaren; 2,34: Änianer; 3,13,1–2: Götter und Dämonen; 3,16,3–4: Ägyptische Magie und Astronomie; 8,16,4: Troglodyten; 9,9,2–9,10,1: Kult des Nils, Osiris, Isismysterien; 9,15: Ausrüstung und Kampfart der persischen Panzerreiter; 9,19,1–2: Kampfestaktik der Bewohner des Zimtlands; 10,7; 10,9,6–7: Menschenopfer in Äthiopien. 18 Hld. 2,30,3; 5,13,3–4: Edelsteine; 8,11,2.8–10: Wunderstein Pantarbe (παντάρβη). 19 Z.B. Erwin Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer. 3. Auflage. Leipzig 1914, S. 485–488; Rommel: Exkurse bei Philostratos (Anm. 12); Émile Feuillâtre: Études sur les Éthiopiques d’Héliodore. Paris 1966; John R. Morgan: History, Romance, and Realism in the Aithiopika of Heliodoros. In: Classical Antiquity 1 (1982), S. 221–265, hier S. 233–250; Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 436–440; Matthew W. Dickie: Heliodorus and Plutarch on the Evil Eye. In: Classical Philology 86 (1991), S. 17–29 mit Verweis auf ältere Forschung.
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Diese Problematik der Abgrenzung stellt sich jedoch auch bei jeder anderen Wahl von Termini und soll daher nicht im Zentrum stehen.20 Betrachtet man das ganze Textvolumen, machen die wissensvermittelnden Exkurse nur einen kleinen Teil des Romans aus. Bedeutung gewinnen sie nicht in erster Linie durch ihre Quantität oder ihren Umfang, sondern durch ihre Position im Text, da sie an narratologisch besonders bedeutsamen Stellen zur Begründung der Motivation und der Charakterisierung der Protagonisten erscheinen. Eine Konzentration findet sich insbesondere im zweiten bis fünften Buch in Zusammenhang mit den beiden Figuren Kalasiris und Chariklea, und im neunten und zehnten Buch, das im an mirabilia reichen Äthiopien spielt. Insbesondere der ägyptische Priester Kalasiris, der über weite Strecken als Erzähler21 fungiert, wird durch zahlreiche Exkurse als allwissende Figur inszeniert.22 So verwendet er nicht nur Tiergleichnisse23 und zahlreiche gelehrte Homer-Zitate,24 sondern aus seinen Mund vernehmen wir auch die Gründe der Nilflut und die Funktionsweise des Bösen Blickes. Desweiteren referiert er über das Wesen von Göttern und Dämonen, die Abstammung Homers, die ägypischen Weisheitslehren sowie über den Wellengang im Ionischen Meer.25 Eine wichtige Funktion dieser Wissensakkumulation um die Figur des Kalasiris ist es, ihm Autorität als Liebeslehrer zu verleihen und das wissenschaftliche Fundament für ein weiteres Wunder, nämlich das Entstehen der Liebe zwischen den Protagonisten, zu legen. Kalasiris stellt das Sichverlieben in den Kontext von übertragbaren Krankheiten und der Heilung und Versteinerung von Menschen durch Tiere.26 Dieselbe Strategie findet sich auch im Roman des Achilles Tatius, wo in Kleitophons Liebeslehre an seine künftige Geliebte Leukippe Verweise auf Fauna und Flora zentraler Bestandteil der Argumentation sind.27 Bei Heliodor dienen die 20 Vgl. z.B. Bartsch: Decoding the Ancient Novel (Anm. 3), S. 145, welche mit dem verwendeten Begriff der ‚Ekphrasis‘ an Grenzen stösst. Morgan: History, Romance, and Realism (Anm. 19) bezeichnet dieselben Textstellen als ‚Realia‘, was auch nicht immer passt. 21 Kalasiris ist (mit Unterbrechungen) der Erzähler von Hld. 2,24 bis 5,33. 22 Siehe z.B. Hld. 3,14,1 (༁ θειότατε). Ebenso Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 441: „Most encyclopedic material is allocated to Kalasiris as part of his characterisation as an Egyptian wise man.“ Zur problematischen Figur des Priesters im antiken griechischen Roman, die zwischen religiösem Eifer und parodistischer Respektlosigkeit oszilliert, siehe Romain Brethes: Hommes sacrés, sacrés hommes: fonction du prêtre dans le roman grec. In: Les Hommes et les Dieux dans l’ancien roman. Actes du colloque de Tours, 22–24 octobre 2009. Hg. von Cécile BostPouderon, Bernard Pouderon. Lyon 2012, S. 87–99. 23 Z.B. Hld. 2,22,4. 24 Z.B. Hld. 2,21,5; 2,22,5; 3,12,2; 3,13,3. 25 Hld. 3,7,2–5: Böser Blick; 2,28: Nil und Nilschwellen; 3,13,1–2: Götter und Dämonen; 3,16,3– 4: Ägyptische Magie und Astronomie; 3,14: Herkunft Homers, dazu Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 436–437; 5,17,1–3: Kalydonische Meerenge. Via Kalasiris vernehmen wir auch den Bericht des Apollopriesters Charikles über verschiedene Edelsteine (5,13,3–4) und über das Volk der Änianer (2,34). 26 Hld. 3,7,2–3,8,2. 27 Siehe dazu Judith Hindermann: Eros und Wissensvermittlung im Garten. Zum Exkurs im griechischen Roman (Achilles Tatius: Leucippe und Cleitophon, Longus: Daphnis und Chloe) und in der ‚Buntschriftstellerei‘ (Aelian: De natura animalium; Varia historia). In: Gymnasium 120
Die enzyklopädischen Exkurse in Heliodors Aithiopika
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naturwissenschaftlichen Ausführungen der Erhöhung und Beglaubigung der Liebesgeschichte durch den Erzähler und Liebeslehrer Kalasiris, der das Wesen des Eros theoretisch erörtert und als Beleg Beispiele aus der Natur anführt. Wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, wird man dem sophistischen Roman daher mit dem modernen Anspruch auf eine Trennung zwischen Wissenschaft bzw. der Tradierung von Wissen und der erotischen Erzählung nicht gerecht.28 DIE TRADIERUNG VON WISSEN IN ROMAN UND ENZYKLOPÄDIE Die griechischen Romane sind heutigen Lesern gleichzeitig fremd und vertraut. Vertraut ist der populäre Plot der Liebesgeschichte, die boy-meets-girl Thematik mit glücklichem Ausgang, die zeitlos und eingängig ist. Ungewohnt hingegen sind die zahlreichen belehrenden Partien, welche das Voranschreiten der Handlung verzögern.29 Insbesondere die naturwissenschaftlichen Exkurse im Roman Heliodors wurden in der Forschung daher zum Teil harsch kritisiert. Dabei gilt es zu bedenken, dass diese Urteile späterer Leser oftmals geprägt sind durch anachronistische Erwartungen an ein literarisches Genre, zu dem keine antike Definition existiert. ‚Roman‘30 ist eine Gattungsbezeichnung, die in der Antike und Spätantike nicht verwendet und erst von Späteren auf das überlieferte Textcorpus rückprojiziert wurde. Im Unterschied zu anderen literarischen Gattungen wie dem Epos, dem Drama und der Lyrik sind zudem kaum theoretische Überlegungen antiker Gelehrter vorhanden,31 die erhellen könnten, welche Erwartungen Zeitgenossen an den Inhalt eines ‚Romans‘ hatten. Empfanden Heliodors Leser die enzyklopädischen Exkurse wirklich als langweilige und retardierende Unterbrechung der Liebesgeschichte und als rhetorische Etüden sophistisch gebildeter Autoren, die mit ihrem
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(2013), S. 343–360. Zu Kalasiris als Liebesexperte siehe auch Winkler: The Mendacity of Kalairis (Anm. 3), S. 320–325. Vgl. die Aussage der Suda (A 4695), wonach Achilleus Tatios neben seinem Roman Leukippe und Kleitophon auch einen Traktat über die Himmelssphäre, einen Traktat über die Etymologie und ein polygraphisches Werk über berühmte Männer geschrieben habe – und alle diese wissenschaftlichen Werke im Stil seiner Liebesgeschichten verfasst seien. Siehe dazu Hindermann: Eros und Wissensvermittlung (Anm. 27). Wobei auch Romanautoren späterer Zeiten mit der Integration von Wissensblöcken in eine Romanhandlung experimentierten, man denke etwa an Thomas Manns Zauberberg als Beispiel eines Bildungsromans, bei dem Bildung nicht nur das Themas des Romans ist, sondern auch dem Leser vermittelt werden soll. Zum Terminus ‚Roman‘ und den antiken Gattungsvorstellungen Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung. 3. Auflage. Darmstadt 2006, S. 19–20; Thomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt. Mainz a. R. 1980, S. 15–18; Consuelo Ruiz-Montero: The Rise of the Greek Novel. In: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 29–85; Heinrich Kuch: Gattungstheoretische Überlegungen zum antiken Roman. In: Philologus 129 (1985), 3–19; Morgan: History, Romance, and Realism (Anm. 19), S. 226. Gesammelt und interpretiert bei Kuch: Gattungstheoretische Überlegungen (Anm. 30), S. 9– 12; Ruiz-Montero: The Rise of the Greek Novel (Anm. 30), S. 32–37.
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Wissen prahlen wollten?32 Oder schätzten sie den vermittelten Stoff in seiner Fülle und Breite als Abbild der Natur und des Weltwissens?33 Erfüllten die eingefügten Fakten das Kriterium der utilitas, das zentral ist für wissensvermittelnde Texte,34 oder waren sie allgemeinbekanntes Gemeingut, das der Plausibilisierung einer fiktiven Erzählung diente?35 Erschien Heliodors Lesern der Text als lehrreich oder primär als unterhaltend bzw. wurde zwischen diesen beiden Anliegen überhaupt unterschieden? Über diese und andere Fragen, welche die Leserschaft bzw. die Rezeption antiker Romane betreffen, lässt sich nur spekulieren.36 Starre Gattungsgrenzen jedoch, die spätere Forscher zwischen erzählenden Prosaformen der Antike errichtet haben, sind wenig hilfreich. Zu diesen modernen Gattungen, die in der antiken Literaturtheorie nicht oder nur schwach verankert sind, zählen neben dem ‚Roman‘ (mit seinen vielen thematischen Subklassifizierungen als Reise-, Liebes-, idealistischer, utopischer, sophistischer, satirischer Roman etc.)37 etwa auch die ‚Enzyklopädie‘,38 die ‚Paradoxographie‘39 oder die ‚Buntschschriftstellerei‘.40 Durch diese Termini werden oftmals Parallelen zwischen antiken Texten verdeckt, die sich gleichzeitig dem Nutzen (prodesse) und dem Vergnügen (delectare) verschrieben haben.41
32 Perry: The Ancient Romances (Anm. 2), S. 118–119 („to display their sophistical wares“). 33 Bartsch: Decoding the Ancient Novel (Anm. 3), S. 155 („interesting and of genuine educational worth“). 34 Marco Formisano: Late Latin encyclopaedism. Towards a new paradigm of practical knowledge. In: Encyclopaedism from Antiquity to the Renaissance. Hg. von Jason König, Greg Woolf. Cambridge 2013, S. 197–215, hier S. 201. 35 Morgan: History, Romance, and Realism (Anm. 19), S. 234. 36 Zur Leserschaft der antiken Romane siehe Berber Wesseling: The Audience of the Ancient Novels. In: Groningen Colloquia on the Novel 1 (1988), S. 67–79; Susan A. Stephens: Who Read Ancient Novels? In: The Search for the Ancient Novel. Hg. von James Tatum. Baltimore. London 1994, S. 405–418; Ewen Bowie: The Ancient Readers of the Greek Novels. In: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 87–106. 37 Vgl. dazu die Übersicht bei Kuch: Gattungstheoretische Überlegungen (Anm. 30), S. 3–7; Ruiz-Montero (Anm. 30), S. 29–31. 38 Zur Entwicklung des Begriffs und des Konzepts der ‚Enzyklopädie‘ siehe Aude Doody: Pliny’s Encyclopedia. The Reception of the Natural History. Cambridge, New York 2010, S. 1–10; 42–58; Formisano: Late Latin encyclopaedism (Anm. 34), S. 197–215. 39 Siehe dazu Otta Wenskus, Lorraine Daston: Paradoxographoi. In: Der Neue Pauly. Bd. IX. Stuttgart 2000, Sp. 309–314. 40 Mit ‚Buntschriftstellerei‘, einem durch die deutsche Altphilologie geprägten Terminus, wird die Aneinanderreihung verschiedener Notizen bzw. Exzerpte zu einem oder zu verschiedenen Themen bezeichnet. Von der großen Zahl buntschriftstellerischer Werke, deren Existenz in den Vorworten von Gellius’ Noctes Atticae (pr. 5–9) und der Naturalis historia von Plinius dem Älteren (NH pr. 24–25) belegt ist, sind jedoch nur wenige erhalten. Siehe dazu Peter Steinmetz: Untersuchungen zur römischen Literatur des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Wiesbaden 1982, S. 275–291. 41 Siehe Steinmetz: Untersuchungen zur römischen Literatur (Anm. 40), S. 275. Zu den Grenzen antiker Prosa siehe auch Doody: Pliny’s Encyclopedia (Anm. 38), S. 15–18; 21–23; 30. Zum Verhältnis von sophistischem ‚Roman‘ und ‚Buntschriftstellerei‘ siehe Hindermann: Eros und Wissensvermittlung (Anm. 27).
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Der Fokus auf Normen und Vorstellungen einer einzigen literarischen Gattung greift bei der Interpretation der enzyklopädischen Exkurse in Heliodors Aithiopika m.E. zu kurz. Das Wissen, das der Autor in seinem Roman vermittelt, kann man als enzyklopädisch bezeichnen, weil es ganz verschiedene Wissenschaftszweige abdeckt und in seiner Essenz eine Beschreibung der Welt darstellt. Es ist gleichzeitig paradoxographisch, weil es viele mirabilia referiert, und buntschriftstellerisch, da Fakten nicht systematisch geordnet, sondern nach dem Prinzip der varietas dargeboten werden. Nach antiker Vorstellung bedeutet diese lose Form jedoch nicht, dass damit keine didaktische Absicht verbunden ist. Die Buntheit (ποικιλία) der Vermittlung ist vielmehr ein Mittel, um Monotonie und Ermüdung der Leser zu vermeiden.42 Mit gleichem Recht kann man das naturwissenschaftliche Wissen in Heliodors Roman als Exkurs respektive bei deskriptivem Fokus als Ekphrasis bezeichnen, weil es in Zusammenhang mit der Liebes- und Abenteuergeschichte des Protagonistenpaars referiert wird, und nicht losgelöst in eigener Gestalt und um seiner selbst willen. Ebenso problematisch wie der Ausschluss naturwissenschaftlicher Elemente aufgrund von modernen Erwartungen an die Gattung des Romans ist die grundsätzliche Unterscheidung und Wertung von spezialisierter, experimenteller Wissenschaft und generellem, enzyklopädischem Wissen.43 Dahinter steht explizit oder implizit die These einer Dekadenz der Wissenskultur, gemäß der die griechische Welt systematisch theoretische Wissenschaft betrieb, während die Römer bloß Interesse an praktischer Anwendung und an Kompilationen gezeigt hätten.44 Das Schreiben über mirabilia ist in dieser Lesart Zeichen des Niedergangs des Wissens und Ausdruck verlorener libertas der Bürger,45 panem et circenses zur Betäubung des Volkes.46 Diese Idee einer Dekadenz der Wissenskultur wirkt sich über wissenschaftsgeschichtliche Studien hinaus auch auf die Interpretation weiterer literarischer Gattungen und Werke aus. So wurde in der Forschung nicht nur Heliodors 42 Vgl. dazu Judith Hindermann: Aelian und die ποικιλία: Ordnung und Unordnung in De natura animalium. In: Rheinisches Museum 159,1 (2016), 71ff. 43 Vgl. Doody: Pliny’s Encyclopedia (Anm. 38), S. 14–39 zur Abgrenzung von „science and encyclopedism“. 44 Olof Gigon: Plinius und der Zerfall der antiken Naturwissenschaft. In: Arctos 5 (1966), S. 23– 45, hier S. 44: „Die antike Naturwissenschaft ist daran zugrunde gegangen, dass sie schliesslich in zwei Derivate entgegengesetzter Art zerfiel: hier in kosmische Erbaulichkeit und amüsante Mirabilia, dort in dürre Handbücher für den praktischen Gebrauch.“ Siehe auch Valérie Naas: Imperialism, Mirabilia and Knowledge: Some Paradoxes in the Naturalis historia. In: Pliny the Elder: Themes and Contexts. Hg. von Roy K. Gibson, Ruth Morello. Leiden, Boston 2011, S. 57–70, hier S. 60; Doody: Pliny’s Encyclopedia (Anm. 38), S. 21–23. Vgl. dagegen Mary Beagon: The Curious Eye of the Elder Pliny. In: Pliny the Elder: Themes and Contexts. Hg. von Roy K. Gibson, Ruth Morello. Leiden, Boston 2011, S. 71–88, hier S. 79–88 und Mary Beagon: The Elder Pliny on the Human Animal. Natural History Book 7. Oxford 2005, S. 14 zum Wert der mirabilia. 45 Naas: Imperialism, Mirabilia and Knowledge: (Anm. 44), S. 59; 65–70; dies.: Le projet encyclopédique de Pline l’Ancien. Rome 2002, S. 243–393; Trevor Murphy: Pliny the Elder’s Natural History. The Empire in the Encyclopedia. Oxford 2004, 18–22. 46 So Naas: Imperialism, Mirabilia and Knowledge (Anm. 44), S. 70.
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„Büchergelehrsamkeit“47 und mangelnde Autopsie der naturwissenschaftlichen Fakten kritisiert, auch die Romanfigur des Kalasiris wurde als Lügner und Scharlatan entlarvt und gleichzeitig die Relevanz und Richtigkeit der von ihm vermittelten mirabilia in Frage gestellt.48 Dass diese Deutung des Romans nicht die einzig mögliche ist und dass das Wissen, das Heliodor in seinem Roman vermittelt, durchaus ernst genommen wurde, zeigt die Rezeption von Heliodors Aithiopika im 11. und 12. Jahrhundert. Bei den byzantinischen Gelehrten rangierte der Roman in der Beliebtheit knapp vor Achilleus Tatios’ Leukippe und Kleitophon und stand als wissensvermittelndes, stilbildendes und moralisches Werk in hohem Ansehen.49 Michael Psellos (11. Jh.) lobt die ethischen, naturwissenschaftlichen und theologischen Exkurse Heliodors und setzt sich ausführlich mit einer astrologischen Passage (Hld. 2,24,6–7) auseinander.50 Eustathios von Thessalonike (12. Jh.) und Michael Glykas (12. Jh.) rekurrieren auf Heliodors Ausführungen über den Nil (2,28) und über das Krähen von Hähnen (1,18,3). Auch Johannes Eugenikos (15. Jh.) preist Heliodors Roman als Quelle der Lebensweisheit und des wissenschaftlichen Wissens, v.a im Bereich der Länderbeschreibung und der Kriegskunst.51 Auch bei Plinius’ Naturalis Historia, die als Enzyklopädie avant la lettre formal einem anderen Genre zugeordnet wird, sind ganz ähnliche Diskussionspunkte in Rezeption und Forschung auszumachen wie bei der Interpretation des sophistischen Romans. Wir finden zum einen wie bei Heliodor den Vorwurf der Büchergelehrsamkeit und mangelnder Wissenschaftlichkeit an die Adresse des Autors sowie
47 Rohde: Der griechische Roman (Anm. 19), S. 485; Rommel: Exkurse bei Philostratos (Anm. 12), S. 64; Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 435; ders.: History, Romance, and Realism (Anm. 19), S. 234: „[...] little more than a half-digested farrago of familiar motifs, and it seems reasonably clear that it is not based on any specialist or firsthand knowledge.“ 48 Ebd., S. 429: „Kalasiris [...] duping Charikles with pseudo-scientific lore about the evil eye“, ebenso S. 443; Dickie: Heliodorus and Plutarch (Anm. 19), S. 21–24; 29; Bartsch: Decoding the Ancient Novel (Anm. 3), S. 154–155. Zu Wissen und Funktion der komplexen Erzählerfigur Kalasiris siehe Winkler: The Mendacity of Kalasiris (Anm. 3), S. 307–350. 49 Hans Gärtner: Charikleia in Byzanz. In: Antike und Abendland 15 (1969), S. 47–69; Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 422–424; Panagiotis A. Agapitos: Narrative, rhetoric, and ‚drama‘ rediscovered: scholars and poets in Byzantium interpret Heliodorus. In: Studies in Heliodorus. Cambridge Philological Society. Supplementary Volume XXI. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 125–156. 50 Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 424; Gärtner: Charikleia in Byzanz (Anm. 49), S. 55; 58–59. 51 Να༁ µ༁ν κα༁ γνωµολογίαις ο༁κ ༁λίγαις µεταξ༁ χρηστα༁ς κα༁ τ༁ βί༁ λυσιτελέσι κα༁ παραδείγµασιν ༁ναγκαίοις κα༁ µερ༁ν γ༁ς τ༁ν ༁πικαιροτέρων περιηγήσεσι κα༁ πολεµικ༁ν στρατηγηµάτων ༁κθέσεσι σεσοφούργηται (Zeile 11–14) – „Ja gewiss hat es darin viele nützliche und für das Leben vorteilhafte Lehrsprüche und wichtige Beispiele und Beschreibungen der zentralen Erdteile sowie Zusammenstellungen der Lehre über die Kriegskunst.“ Der gr. Text ist abgedruckt in Hans Gärtner: Johannes Eugenikos Protheoria zu Heliodors Aithiopika. In: Byzantinische Zeitschrift 64 (1971), S. 322–225, hier S. 324; Siehe auch Gärtner: Charikleia in Byzanz (Anm. 49), S. 64–65.
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die Kritik an der Vermittlung von mirabilia.52 Andererseits hatte die Naturalis Historia großen Einfluss auf die Fortentwicklung der Naturwissenschaften und wurde seit der Antike über einen langen Zeitraum hinweg als wissensvermittelndes Werk konsultiert und geschätzt.53 Wie auch bei der Interpretation der antiken Romane wurde in jüngerer Zeit die Quellenkritik, welche in der älteren Forschung dominierte, durch die Suche nach einem verborgenen Sinn und einer kohärenten Motivation des ganzen Werks abgelöst. Hinter Plinius’ Enzyklopädie wurde u.a. eine imperialistisch-konservative Agenda mit Rom als Zentrum vermutet und postuliert, dass Plinius’ Inventarisierung der Natur die Perspektive des Eroberers widerspiegle, der die materielle Welt gefüllt mit Gegenständen sieht, die es zu katalogisieren gilt. Die Enzyklopädie wird in dieser Deutung nicht nur zum Abbild der römischen Militärmacht, sondern dient gleichzeitig als Instrument der moralischen Erziehung der römischen Bürger.54 Die Vermittlung von Wissen ist also nicht objektiv und neutral, sondern erfolgt aus der Optik der römischen Herrschaft auf ihrem Höhepunkt der Macht.55 Die zahlreichen mirabilia der Welt werden von Plinius nicht nur aus Interesse am Spektakulären vermittelt, sondern verweisen zurück auf Rom, welches im Zentrum der Oikumene und der Naturalis historia steht. Wissenswertes aus der ganzen Welt wird überliefert, um nach außen die Größe Roms zu demonstrieren und nach innen Phänomene der Stadt zu erklären.56 Adressat und Empfänger des ganzen Werks ist daher nicht zufällig der künftige Kaiser Titus, der über alles wacht, die fremden mirabilia beglaubigt und seinen Bürgern – so hofft Plinius in seinem Vorwort – in der Lektüre vorangehen soll.57 Für die Interpretation der enzyklopädischen Exkurse bei Heliodor sind zwei Aspekte aus diesen neueren Interpretationsansätzen von Plinius’ Naturalis historia relevant. Erstens die Idee, dass die Vermittlung enzyklopädischen Wissens im Kontext eines Machtdiskurses zu interpretieren ist. Wissen über die Welt kann also nicht 52 Erste Kritik findet sich schon im zweiten Jahrhundert nach Christus bei Gellius Noctes Atticae 9,4,12–16; siehe dazu Beagon: Human Animal (Anm. 44), S. 19. 53 Siehe Doody: Pliny’s Encyclopedia (Anm. 38), S. 11–39; Naas (Anm. 44), S. 60; Beagon: Curious Eye (Anm. 44), S. 86–88; Beagon: Human Animal (Anm. 44), 35–37; Charles G. Nauert: Humanists, Scientists, and Pliny: Changing Approaches to a Classical Author. In: American Historical Revue 84 (1979), S. 72–85. 54 Vgl. Nicholas Ph. Howe: In Defense of the Encyclopedic Mode: on Pliny’s Preface to the Natural History. In: Latomus 46 (1985), S. 561–576, hier S. 571: „nationalistic encyclopedia“; Oleg Nikitinski: Plinius der Ältere: Seine Enzyklopädie und ihre Leser. In: Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. Hg. von Wolfgang Kullmann, Jochen Althoff, Markus Asper. Tübingen 1998, S. 341–360, hier S. 345; Naas: Imperialism, Mirabilia and Knowledge (Anm. 44), S. 61–65; dies.: Le projet encyclopédique (Anm. 45), S. 418–421; 426–432; Andrew Fear: The Roman’s Burden. In: Pliny the Elder: Themes and Contexts. Hg. von Roy K. Gibson, Ruth Morello. Leiden, Boston 2011, S. 21–34. 55 Fear: The Roman’s Burden (Anm. 54), S. 25. 56 Naas: Imperialism, Mirabilia and Knowledge (Anm. 44), S. 62–63; Beagon: Human Animal (Anm. 44), S. 19; 21–26; Murphy: Pliny the Elder’s Natural History (Anm. 45), S. 19; 23. 57 Plin. NH pr. 33. Siehe dazu Ruth Morello: Pliny and the encyclopaedic addressee. In: Pliny the Elder: Themes and Contexts. Hg. von Roy K. Gibson, Ruth Morello. Leiden, Boston 2011, S. 147–165, hier S. 165; Murphy: Pliny the Elder’s Natural History (Anm. 45), S. 197–215.
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nur eine dekorative, intratextuelle oder Authentizität verleihende Funktion haben, wie in bisherigen Studien zu Heliodor postuliert wurde, sondern seinen Trägern und Vermittlern auch Macht verleihen und Aussagen über kulturelle Wertigkeiten ermöglichen. Damit verbunden ist zweitens die Frage der geographischen Lokalisierung von mirabilia in Zentrum und Peripherie. Während bei Plinius die Stadt Rom eindeutig als Mitte des Reiches und als Dreh- und Angelpunkt alles Wissens konzipiert ist, ist bei Heliodor die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen Barbarei und Zivilisation weit komplexer. Auch hier sind die Ansätze der neueren Enzyklopädie-Forschung erhellend, die zeigen, dass das Sammeln von Wissen oft mit einer Vermessung und Ordnung und entsprechender Hierarchisierung der Welt einhergeht. DIE ZEUGUNG DER CHARIKLEA (HLD. 4,8,2–6) Im Mittelpunkt von Heliodors Aithiopika, im vierten Buch, steht nicht zufällig ein naturwissenschaftliches Phänomen, welches als Movens das ganze Romangeschehen überhaupt in Gang setzt und bei einer linearen Erzählabfolge am Anfang des Romans stehen müsste. Dieses mirabile wird im zehnten und letzten Buch im Rahmen der Anagnorisis-Szene ein zweites Mal aufgegriffen und damit betont. Dass es sich dabei nicht um eine unnötige Doppelung oder gar einen Fehler Heliodors handelt, wie früher postuliert wurde, ist heute unbestritten.58 Die Zeugung der Chariklea interessierte die Interpretatoren weit mehr als alle anderen wundersamen Episoden des Romans und wurde daher mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert.59 Ein detaillierter Vergleich der Passage mit Plinius’ Naturalis historia ist bislang allerdings unterblieben, obwohl diese den 58 So noch Oswald A.W. Dilke: Heliodorus and the colour problem. In: Parola del passato 35 (1980), S. 264–271, hier S. 264. Dagegen: Anderson: The ΣΩΦΡΟΣΥΝΗ (Anm. 5), S. 316; Winkler: The Mendacity of Kalasiris (Anm. 3), S. 287–288; Anja Bettenworth: Die doppelte Andromeda. Eine umstrittene Wiederholung in Heliodors Aithiopika und ihr Einfluss auf die Deutung des Romans. In: Rheinisches Museum 156 (2013), S. 194–211, hier S. 204. 59 Im Kontext der Bedeutung von Hautfarbe in der Antike: Dilke: Heliodorus and the colour problem (Anm. 58); Sujata Iyengar: Shades of Difference. Mythologies of Skin Color in Early Modern England. Philadelphia 2005, S. 19–22. Zur Inspiration durch bildliche zeitgenössische Andromeda-Darstellungen: Froma I. Zeitlin: Landscapes and Portraits: Signs of the Uncanny and Illusions of the Real. In: The Construction of the Real and the Ideal in the Ancient Novel. Ancient Narrative, Supplementum XVII. Hg. von Michael Paschalis, Stelios Panayotakis. Groningen 2013, S. 61–87. Inspiration durch rhetorische Problemstellungen mit Verweis auf Plutarch und Quintilian: Michael D. Reeve: Conceptions. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society NS 35 (1989), S. 81–112, hier S. 83. Über die narrative Komprimierung in Persinnas Brief und die Geburt der Heroin als hermeneutischen Schlüssel für ihren übernatürlichen Charakter: John Hilton: An Ethiopian paradox. Heliodorus, Aithiopika 4.8. In: Studies in Heliodorus. Cambridge Philological Society. Supplementary Volume XXI. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 79–92. Über kulturelle Identität: Tim Whitmarsh: The Birth of a Prodigy: Heliodorus and the Genealogy of Hellenism. Ebd., S. 93–124. Über die narrative Einbettung der Episode in den ersten vier Büchern und über die Bedeutung des Eros im Brief der Persinna: Anderson: The ΣΩΦΡΟΣΥΝΗ (Anm. 5).
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ausführlichsten Beleg für den Andromeda-Effekt bietet und zudem das Thema Äthiopien aufgreift. Im Kontext der Frage nach den enzyklopädischen Exkursen bei Heliodor interessiert besonders, welches Wissen über Reproduktion und Vererbung der Autor bei seinen zeitgenössischen Lesern voraussetzen konnte und auf welche Weise er das zentrale mirabile in einen geographisch und kulturell definierten Machtdiskurs integriert. Der Vergleich mit den übrigen vollständig erhaltenen griechischen Romanen macht deutlich, dass die Zeugung und Geburt der Hauptfiguren vor Heliodor in drei von vier Werken kein Thema war. Die vornehmen Protagonisten stammen selbstverständlich von ihren leiblichen Eltern ab. Anthia und Habrokomes bei Xenophon (1,3,1–2), Chaireas und Kallirhoë bei Chariton (1,1,5–7) und Leukippe und Kleitophon bei Achilleus Tatios (1,4,2–5) wachsen daheim als Kinder ihrer Eltern auf und verlieben sich als Jugendliche ineinander. Ihre Irrfahrten beginnen erst später an der Schwelle zur Pubertät, ihre Kindheit wird nicht näher beschrieben. Einzig Daphnis und Chloe werden als Kinder ebenfalls ausgesetzt und erst als Erwachsene wieder mit ihren Eltern vereint.60 Bei Heliodor ist der Fall jedoch weit komplexer als bei Longos, der die Liebesgeschichte von Daphnis und Chloe lokal konzentriert auf Lesbos spielen lässt und zugunsten des bukolischen Settings auf die gattungstypischen Fernreisen des Paars verzichtet. Da Heliodor die Herkunft seiner Heroin nach Äthiopien verlegt, sie dennoch als weiß imaginiert,61 muss er erklären, woher diese Farbe stammt, wenn beide Eltern schwarz sind und ein Ehebruch außer Frage steht. Der Autor lässt zu diesem Zweck die Mutter Persinna eine in ein Tuch eingestickte Nachricht an ihre Tochter und darüber hinaus an einen weiteren Kreis möglicher Finder verfassen: 5 ༁πειδ༁ δέ σε λευκ༁ν ༁πέτεκον, ༁πρόσφυλον Α༁θιόπων χροι༁ν ༁παυγάζουσαν, ༁γ༁ µ༁ν τ༁ν α༁τίαν ༁γνώριζον ༁τι µοι παρ༁ τ༁ν ༁µιλίαν τ༁ν πρ༁ς τ༁ν ༁νδρα προσβλέψαι τ༁ν ༁νδροµέδαν ༁ γραφ༁ παρασχο༁σα κα༁ πανταχόθεν ༁πιδείξασα γυµν༁ν, ༁ρτι γ༁ρ α༁τ༁ν ༁π༁ τ༁ν πετρ༁ν ༁ Περσε༁ς κατ༁γεν, ༁µοιοειδ༁ς ༁κείν༁ τ༁ σπαρ༁ν ο༁κ ε༁τυχ༁ς ༁µόρφωσεν. 6 ༁γνων ο༁ν ༁µαυτήν τε ༁παλλάξαι το༁ µετ’ α༁σχύνης θανάτου, πεπεισµένη τ༁ν σ༁ν χροι༁ν µοιχείαν ༁µο༁ προσάψουσαν (ο༁ γ༁ρ πιστεύσειν ο༁δένα λεγούσ༁ τ༁ν περιπέτειαν) κα༁ σο༁ τ༁ ༁κ τ༁ς τύχης ༁µφίβολον χαρίσασθαι θανάτου προδήλου ༁ πάντως ༁νόµατος νόθου προτιµότερον· (Hld. 4,8,5–6).62 5 Nachdem ich dich weiß geboren hatte, eine glänzend helle Farbe, die beim Stamm der Äthiopier nicht auftritt, habe ich den Grund erkannt, dass ich während der Vereinigung mit meinem Mann das Bild der Andromeda vor Augen hatte und anschaute, und sie auf diesem ganz nackt gezeigt wurde, denn Perseus führte sie eben erst vom Felsen herab, und daher hatte der Keim unglücklicherweise die gleiche Farbe wie diese angenommen. 6 Ich beschloss also, mich vor 60 Siehe dazu Fridolf Kudlien: Kindesaussetzung im antiken Roman: Ein Thema zwischen Fiktionalität und Lebenswirklichkeit. In: Groningen Colloquia on the Novel 2 (1989), S. 25–44, hier S. 39–42. 61 Hld. 4,8,5: ༁πρόσφυλον Α༁θιόπων χροι༁ν – „eine Farbe, die beim Stamm der Äthiopier nicht auftritt“; 10,14,3: κα༁ χροι༁ ξέν༁ τ༁ς Α༁θιοπίδος – „eine Farbe, die fremd ist für eine Äthiopierin“. 62 Zitiert nach Héliodore: Les Éthiopiques (Théagène et Chariclée). Texte établi par R. M. Rattenbury et T. W. Lumb, et traduit par J. Maillon. Paris 1935. Die deutschen Übersetzungen sind hier und im Folgenden meine eigenen.
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Judith Hindermann der Schande zu schützen und einem schmachvollen Tod zu entziehen, überzeugt davon, dass deine Farbe mich des Ehebruches bezichtigen würde (denn niemand würde mir diese Erklärung glauben), und dich einem unsicheren Schicksal auszusetzen, das einem sicheren Tod oder dem Namen eines Bastards vorzuziehen ist.
Die Königin denkt von Anfang an kosmopolitisch, da sie sich vor dem ganzen Menschengeschlecht und nicht nur vor dem möglichen Finder oder ihrer Tochter rechtfertigen will.63 Und tatsächlich: Das ausgesetzte Kind verlässt über verschiedene Stationen Äthiopien. In Delphi, dem Zentrum der griechischen Welt und der Weisheit, erhält der Priester Kalasiris das Tuch schließlich von Charikleas erstem Ziehvater Charikles und übersetzt es für Knemon und damit für alle griechischen Zuhörer aus dem Äthiopischen.64 Die mehrfach gestufte Erzählsituation mit verschiedenen Erzählerfiguren und Medien ist typisch für eine Rückblende auf die Vorgeschichten von Figuren bei Heliodor und gehört somit dem ersten Typ von Exkursen an. Gleichzeitig referiert das Tuch jedoch ein naturwissenschaftliches Problem, das den Charakter der Chariklea als Wunder, als mirabile, definiert, und ist somit dem Typ der enzyklopädischen Exkurse zuzurechnen. Chariklea ist ein ausgesetztes Königskind, ein verbreitetes mythisches Motiv, das Heliodor in modifizierter Form in seinen Roman einbaut. Wichtigster Unterschied zu den bekannten Mythen über ausgesetzte Kinder ist ihr Geschlecht,65 welches das Wundersame der ganzen Erzählung akzentuiert. Mit Chariklea wird ein weiblicher Säugling seiner heimischen Umgebung entrissen und in einem sozial niedrigeren Milieu von Tieren oder Hirten aufgezogen. Anders als männliche Säuglinge66 wie Romulus und Remus, Ödipus, Kyros II., Ägisth oder Paris wird Chariklea auch nicht deshalb ausgesetzt, weil sie die Dynastie bedrohen könnte, sondern weil ihre Hautfarbe weiß ist. Heliodor ergänzt das bekannte Mythem der Aussetzung zudem mit der Begründung, warum Chariklea überhaupt ausgesetzt werden musste: Persinna hat während des Akts mit ihrem Gatten das Bild einer hellhäutigen Frau, der mythischen Heroine Andromeda,67 betrachtet und dadurch die Hautfarbe ihres ungeborenen Kindes in ein unerwünschtes Weiß verwandelt. Die Zeugung der Chariklea wird zwar wie bei anderen Aussetzungsgeschichten auch in einen märchenhaft-magischen Kontext gerückt, indem die Königin ein Traumbild erwähnt, das ihren Gatten Hydaspes aufgefordert hatte, mit ihr zu schlafen und damit eine 63 Hld. 4,8,2: πρός τε α༁τ༁ν ༁λον τ༁ν τ༁ν ༁νθρώπων βίον – „und vor all den Menschen, die da leben“. 64 Siehe dazu Hld. 2,26,1–4 (Delphi); 4,8,1 (Übersetzung). 65 Hld. 2,31. In der antiken Komödie finden sich ebenfalls ausgesetzte Mädchen, z.B. in Terenz Heautontimoroumenos 627–644. Siehe dazu Kudlien: Kindesaussetzung (Anm. 60), S. 31–32; 35–36. 66 Weitere Beispiele ausgesetzter und von Tieren gesäugter Knaben referiert Aelian Varia historia 12,42. 67 Andromeda ist die Tochter des Königs Kepheus von Äthiopien, ihre Hautfarbe ist bei den antiken Autoren und auf bildlichen Darstellungen meist weiß; schwarz imaginiert ist sie zu rhetorischem Zweck in Ovids Ars amatoria 1,53; 2,643–44. Vgl. dazu Dilke: Heliodorus and the colour problem (Anm. 58), S. 266–267; Bettenworth: Die doppelte Andromeda (Anm. 58), S. 203.
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zehnjährige Phase der Unfruchtbarkeit zu beenden.68 Das Traumbild hat aber gleichzeitig auch eine rationale Funktion, weil es von Hydaspes verlangte, am hellen Mittag ein Kind zu zeugen, und dadurch erklärt, warum Persinna im Schlafzimmer das Wandbild der völlig nackten Andromeda (πανταχόθεν ༁πιδείξασα γυµν༁ν) überhaupt so gut sehen konnte. Die Erklärung der Königin, auf welche Weise schwarze Eltern ein weißes Kind zeugen können, geht auf die Idee des „Sichversehens“ zurück und ist breit belegt. Die Vorstellung, dass sich durch den Blick im Moment der Zeugung Eigenschaften auf das ungeborene Kind übertragen können, findet sich erstmals bei Empedokles im fünften Jahrhundert vor Christus und in Folge u.a. bei antiken medizinischen Autoren wie Galen und Soran.69 Am ausführlichsten diskutiert wird die Vorstellung in der Naturalis Historia des Älteren Plinius, wo die Vererbung von Eigenschaften von Eltern auf Kinder durch die bloße Kraft der Gedanken diskutiert und als wahr bestätigt wird. Plinius widmet sich dem Thema im Kontext des siebten Buches, seiner Anthropologie. Nach der Abhandlung über die Stellung des Menschen innerhalb der Natur (NH 7,1–5) und der Aufzählung bemerkenswerter Völker (NH 7,6–32) geht Plinius zu sonderbaren Umständen von Geburten einzelner Menschen über (NH 7,33– 62). Dazu zählen Mehrlings- und Missgeburten ebenso wie Dauer und Symptome von Schwangerschaften. Sechs Kapitel widmet er dabei im größeren Kontext der Zeugung dem Phänomen der Ähnlichkeit. Wie Heliodor bietet Plinius sowohl eine theoretische Erklärung für ein Phänomen (NH 7,52) als auch eine Illustration anhand von exempla (NH 7,50–51; 53–56). Jedes dieser Beispiele bietet einen wundersamen Nukleus für eine Geschichte, die Plinius zu einer vollständigen Erzählung ausführen könnte: 51 Indubitatum exemplum est Nicaei, nobilis pyctae Byzanti geniti, qui, adulterio Aethiopis nata matre nihil a ceteris colore differente, ipse avum regeneravit Aethiopem. 52 Similitudinum quidem inmensa reputatio est et in qua credantur multa fortuita pollere, visus, auditus, memoria haustaeque imagines sub ipso conceptu. Cogitatio etiam utriuslibet animum subito transvolans effingere similitudinem aut miscere existimatur. Ideoque plures in homine quam in ceteris omnibus animalibus differentiae, quoniam velocitas cogitationum animique celeritas et ingenii varietas multiformes notas inprimunt, cum ceteris animantibus inmobiles sint animi et similes omnibus singulisque in suo cuique genere. (Plin. NH 7,51–52).70 51 Ein unzweifelhaftes Beispiel ist das des berühmten Boxers Nicaeus, der in Byzanz geboren war, dessen Mutter aus einem Seitensprung mit einem Äthiopier entstanden war, sich aber in 68 Hld. 4,8,4: ༁ναρ α༁τ༁ το༁το κελεύειν ༁ποµνύµενος – „er schwor, dass ihn ein Traum dazu aufgefordert hatte“. 69 Aetius De Placitis 5,12; Galen De theriaca 11,14,253 Kühn; Soran Gynaecia 1,39. Siehe die ausführliche Diskussion dieser und zahlreicher weiterer Belegstellen bei Dilke: Heliodorus and the colour problem (Anm. 58), S. 265–266; Reeve: Conceptions (Anm. 59); Beagon: Human Animal (Anm. 44), S. 212–215; Kudlien: Kindesaussetzung (Anm. 60), S. 38; Hilton: An Ethiopian paradox (Anm. 59), S. 85–86; Bettenworth: Die doppelte Andromeda (Anm. 58), S. 195– 196. 70 Zitiert nach C. Plinius Secundus d.Ä.: Naturkunde, Lateinisch-Deutsch. Buch VII. Anthropologie. Hg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. München 1975. Die deutschen Übersetzungen sind hier und im Folgenden meine eigenen.
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Judith Hindermann ihrer Farbe nicht von den anderen unterschied, der aber selbst dann seinen äthiopischen Großvater wieder hervorbrachte. 52 Die Überlegungen zu den Ähnlichkeiten sind sehr zahlreich und man glaubt, dass viel Zufälliges einen Einfluss hat: das Sehen, Hören, die Erinnerung und Sinneseindrücke bei der Empfängnis. Man denkt auch, dass ein Gedanke, der den Sinn eines Elternteils plötzlich durchfliegt, die Ähnlichkeit bewirken oder vermischen kann. Daher gibt es auch beim Menschen mehr Unterschiede als bei allen anderen Lebewesen, da ja die Geschwindigkeit der Gedanken und die Schnelligkeit des Geistes und die Unterschiedlichkeit des Verstandes vielgestaltige Formen einprägt, während die übrigen Lebewesen geistig unbeweglich und allen insgesamt und jedem einzelnen in ihrer Art ähnlich sind.
Ähnlichkeit oder bestimmte Kennzeichen und Male können Generationen und Standesgrenzen überspringen. Da es verschiedene Thesen zum Entstehen von Ähnlichkeit gibt, muss ein bestimmtes Aussehen nicht automatisch auf einen moralischen Fehltritt hinweisen. Bei den römischen Exempla (NH 7,53–55) äußert Plinius keinen Verdacht und die Prägung durch Sinneseindrücke oder der Sprung von äusserlichen Aussehensmerkmalen gelten als legitime Erklärungen für das Aussehen von Kindern. Einzig beim Seitensprung des Äthiopiers, des Großvaters des Boxers Nicaeus, wird Ehebruch explizit als Grund dafür genannt, dass ein Kind mit anderer Hautfarbe zur Welt kommt als jener der Eltern. In Persinnas Bekenntnis finden sich beide Traditionen vereint: Mit ihrer Begründung der Impression während der Empfängnis bewegt sie sich im Rahmen des damaligen Wissens, gleichzeitig ist ihr die alternative These der Farbveränderung durch Ehebruch bekannt.71 Heliodor lässt Persinna also als Trägerin von naturwissenschaftlichem Wissen auftreten, negiert dessen Überzeugungskraft aber sogleich wieder. Die rationale Erklärung, die Heliodor Persinna in den Mund legt, ist für die Äthiopier aus dem Mund einer Frau nicht glaubwürdig. Aus Furcht, dass man ihr nicht glaubt und sie der Unkeuschheit und des Ehebruchs anklagt,72 gibt Persinna ihr einziges, lang erwartetes Kind lieber weg und setzt es so der Todesgefahr aus. Dennoch soll die legitime Abkunft des Mädchens dokumentiert sein. Als Kommunikationsmittel wählt die Königin ein typisch weibliches Medium. Persinna stickt die unaussprechliche Wahrheit in ein Tuch ein, das sie dem Kind als Erkennungszeichen, als gnorisma, mitgibt.73 Persinna stellt darin das naturwissenschaftliche Phänomen als generell bekannt dar, ohne zu belegen oder zu erklären, woher sie dieses Wissen hat.74 Die Furcht der Mutter, dass ihre rationale Erklärung in ihrem Umfeld auf Unglauben stößt, wird in der Anagnorisis-Szene im zehnten Buch bestätigt durch die
71 Ebenso Bettenworth: Die doppelte Andromeda (Anm. 58), S. 205. 72 Weibliche Untreue ist ein häufiges Thema im antiken Roman, siehe dazu Anderson: The ΣΩΦΡΟΣΥΝΗ (Anm. 5), S. 314–315. 73 Siehe Hilton: An Ethiopian Paradox (Anm. 59), S. 83. Zur Botschaft von Mutter an Tochter als Warnung vor Ehebruch und Mahnung zur Keuschheit siehe Anderson: The ΣΩΦΡΟΣΥΝΗ (Anm. 5), S. 312–316. 74 Ebenso Hilton: An Ethiopian Paradox (Anm. 59), S. 85: „Persinna’s exposition is severely understated. What is missing is the kind of rational explanation of the phenomenon that is provided by Kalasiris, for example, in the case of the ‚evil eye‘ that afflicts Charikleia (3,7–8).“
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unwillige Reaktion des Königs Hydaspes.75 Dem weitgereisten ägyptischen Priester Kalasiris hingegen, dem sich Persinna anvertraut hat, ist das Phänomen des Farbwechsels vertraut. Er glaubt der Erklärung der Königin und macht sich auf die Suche nach dem ausgesetzten Mädchen.76 Eine weitere Bestätigung durch einen fremden77 Weisen, durch den obersten Gymnosophisten Sisimithres, erfährt das mirabile der Zeugung am Ende des Romans.78 Um den misstrauischen König zu überzeugen, fügt der Priester in seiner Rolle als Richter weitere Details der Zeugung an und lässt schließlich zum Beweis das Bild der Andromeda herbeibringen. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre die Präsentation des Portraits nicht nötig, da schon ein Gedanke während der Zeugung ausreicht, um das Aussehen eines Kindes zu prägen. Dass Heliodor Sisimithres das Bild dennoch vorführen lässt, ist der narrativen Situation vor Gericht und dem dramatischen Ende geschuldet.79 Er erklärt damit nicht nur, warum Chariklea von weißer Hautfarbe ist, sondern demonstriert, dass sie einem tatsächlich existierenden Abbild gleicht, was Beleg für Persinnas eheliche Treue und die Legitimität der gemeinsamen Tochter ist. Zudem steht die Enthüllung des Bildes in der Tradition der Ekphrasis von Kunstgegenständen, die auch bei Longos und Achilleus Tatios in narrativ bedeutsamen Situationen verwendet werden.80 Das Bild ist aber auch deshalb wichtig, weil darauf die Vereinigung zweier Kulturen abgebildet ist: Der Grieche Perseus rettet die Äthiopierin Andromeda.81 Dadurch wird dem äthiopischen Königshof die mythische Folie des aktuellen Geschehens plastisch vor Augen geführt. Mit der Rückkehr der griechischäthiopischen Chariklea und des griechischen Theagenes beginnt eine neue Herrschaft. Während der äthiopische König Hydaspes das mirabile zuerst nicht fassen kann, muss er angesichts der vorgeführten gnorismata und des Bildes die naturwissenschaftlich-rationale Erklärung der Herkunft seiner Tochter anerkennen. Der Mythos vom ausgesetzten Königskind nimmt Stellung zur Frage des Einflusses von Erbanlage und Umwelt: Die Erbanlagen schlagen trotz des niedrigen
75 Hld. 10,14,5: λευκ༁ν γ༁ρ π༁ς ༁ν Α༁θίοπες ༁µφότεροι παρ༁ τ༁ ε༁κ༁ς ༁τεκνώσαµεν – „wie konnten wir beide gegen jede Wahrscheinlichkeit, da wir beide Äthiopier sind, eine weiße Tochter bekommen?“ Ebenso 10,14,3. 76 Hld. 4,12. 77 Die Gymnosophisten stammen ursprünglich aus Indien und werden bei anderen antiken Autoren dort lokalisiert, nicht in Äthiopien. Siehe dazu Tibor Szepessy: Die Aithiopika des Heliodoros und der griechische sophistische Liebesroman. In: Beiträge zum griechischen Liebesroman. Hg. von Hans Gärtner. Hildesheim u.a. 1984, S. 432–450, hier S. 437; Morgan: History, Romance, and Realism (Anm. 19), S. 237. 78 Hld. 10,14,1–15,2. 79 Vgl. dazu auch Bettenworth: Die doppelte Andromeda (Anm. 58), S. 200. Da mit Andromeda eine weiße Vorfahrin in der äthiopischen Königsfamilie belegt ist, bräuchte es (analog zum Fall des bei Plinius geschilderten Boxers Nicaeus) den Umweg über das Portrait nicht. Eine Erklärung mit dem Generationensprung würde ausreichen. 80 Zeitlin: Landscapes and Portraits (Anm. 59), S. 73–81; Bartsch: Decoding the Ancient Novel (Anm. 3), S. 40–79. 81 Vgl. dazu Anderson: The ΣΩΦΡΟΣΥΝΗ (Anm. 5), S. 321; Bettenworth (Anm. 58), S. 202– 203.
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Milieus, in dem das Kind aufwächst, durch, so dass das Kind zu seinem angestammten Recht und Platz in der Gesellschaft zurückfindet.82 In Heliodors Aithiopika ist der Fall wiederum komplizierter: Da dessen generelle Stoßrichtung nicht wie bei den übrigen griechischen Romanen zirkulär, sondern linear ist,83 kehrt das Paar am Ende der Erzählung nicht an den Ort des Beginns zurück, sondern lässt sich in Äthiopien nieder. Dennoch ist nicht klar, ob Chariklea am Schluss nun eine Äthiopierin ist, die in ihre Heimat zurückfindet, oder eine Griechin, die sich in der Fremde niederlässt. Oder weiter gefasst: Wird Äthiopien wirklich zu einem idealen Griechenland oder wird es zu einem zivilisierteren Äthiopien?84 WISSEN IM ZENTRUM UND IN DER PERIPHERIE ODER: WARUM ÄTHIOPIEN? Plinius der Ältere beginnt seine Abhandlung über merkwürdige Völkerstämme (NH 7,6–32) mit den Äthiopiern, die als Chiffre für etwas Wundersames gelten, dessen Existenz man sich nicht vorstellen kann, weil man es noch nie gesehen oder erlebt hat.85 Dass mirabilia normalerweise weit weg vom Zentrum lokalisiert werden, ist Teil ihrer Anziehungskraft. Durch die Distanz bleiben sie vage, erregen Erstaunen und Verwunderung.86 Erst wenn man sie nach Rom bringt – physisch oder durch Erzählung – werden eine vertiefte Auseinandersetzung und Rückschlüsse auf die eigene Umgebung möglich: Quis enim Aethiopas ante quam cerneret credidit? Aut quid non miraculo est, cum primum in notitiam venit? Quam multa fieri non posse prius quam sunt facta iudicantur? (Plin. NH 7,6). Wer hat nämlich an Äthiopier geglaubt, bevor er sie gesehen hat? Oder was ist kein Wunder, wenn man zum ersten Mal davon hört? Von wie vielen Dingen glaubt man, dass sie nicht geschehen können, bevor sie sich ereignet haben?
Indem Heliodor seine Protagonisten in Äthiopien enden lässt, bringt er den griechischen Lesern das Land der mirabilia näher. Wie in der Forschung festgestellt wurde, sind die Aithiopika einzigartig in der antiken Literatur, was ihre Aufmerksamkeit bezüglich Sprache und Kommunikation über die Kulturgrenzen hinweg anbelangt. Da der Roman in ganz verschiedenen Gegenden der Oikumene spielt, greift Heliodor anlässlich der Begegnungen seines Protagonistenpaars die Thematik sprachlicher Barrieren immer wieder auf, vor allem im ersten und zehnten Buch. So interessiert sich der Autor etwa dafür, wie sich Chariklea und Theagenes in der 82 Vgl. z.B. Herodot: Historien 1,114–116 über Kyros II. 83 Siehe dazu Whitmarsh: The Birth of a Prodigy (Anm. 59), S. 98 mit Verweisen auf die ältere Literatur zum Thema. 84 Vgl. John R. Morgan: Narrative Doublets in Heliodorus’ Aithiopika. In: Studies in Heliodorus. Cambridge Philological Society. Supplementary Volume XI. Hg. von Richard Hunter. Cambridge 1998, S. 60–78, hier S. 75. 85 Siehe auch Plin. NH 7,21–23 über weitere Wunderdinge Indiens und Äthiopiens. 86 Siehe Naas: Imperialism, Mirabilia and Knowledge (Anm. 44), S. 63–65; Beagon: Curious Eye (Anm. 44), S. 79–80.
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Fremde verständlich machen können und erwähnt Dolmetscher sowie gebrochen Griechisch oder absichtlich in einer fremden Sprache sprechende Personen.87 Gleichzeitig greift Heliodor auch das Thema kultureller Barrieren auf und scheut dabei nicht vor stereotypen Zuschreibungen und der traditionellen Antithese zwischen Hellenen und Barbaren zurück.88 So lehnt z.B. der Grieche Theagenes überheblich die Proskynese vor der persischen Königin Arsake ab,89 die ihm von der Kupplerin Kybele mit dem Argument angepriesen wird, dass Arsake, obwohl persischen Blutes, von ausgesprochen griechischer Gesinnung sei.90 Arsakes barbarisches Wesen verrät sich jedoch dadurch, dass sie – wie auch andere Barbaren – ihren Leidenschaften hilflos ausgeliefert ist und zwischen unkontrollierter Lüsternheit und zorniger Rachsucht schwankt.91 Griechentum dagegen steht in den Aithiopika oftmals für Selbstkontrolle, Vertrauenswürdigkeit, Schlauheit und Rechtlichkeit. Der äthiopische Priester Sisimithres z.B. vertraut die junge Chariklea dem ihm unbekannten Charikles nur deshalb an, weil er ihn aufgrund seiner Verhaltensweise als wahren Griechen erkannt hat, und der griechische Held Theagenes besiegt seinen barbarischen Kontrahenten dank seiner Schlauheit im Ringkampf.92 Neben diesem Preis griechischer Tugenden finden sich im Roman jedoch auch zahlreiche Stellen, die für eine andere Position sprechen und Ägypten oder Äthiopien Griechenland vorziehen. So lokalisiert nicht nur Heliodor selbst seine Herkunft ganz am Ende des Romans mit einer Sphragis an den Rand der hellenistischen Welt.93 Auch im Verlauf des Buchs finden sich zahlreiche Stellen, die für eine Bevorzugung Ägyptens oder Äthiopiens sprechen. Insbesondere Äthiopien wird als ideal-utopisches Land, als besseres Griechenland interpretiert,94 da es mit seinen
87 Schon ganz am Anfang des Romans (Hld. 1,3,1–2) wird das Thema der Verständigung aufgegriffen: Chariklea spricht zu den Räubern, aber keiner versteht oder beachtet sie. Erst in 1,7,3 bekommt das Paar mit Knemon einen Übersetzer. Eine Zusammenstellung und Deutung diverser Stellen zum Thema Kommunikation findet sich bei Winkler: The Mendacity of Kalasiris (Anm. 3), S. 297–298; Morgan: History, Romance, and Realism (Anm. 19), S. 258–260. 88 Vgl. dazu Heinrich Kuch: A Study on the Margin of the Ancient Novel: ‚Barbarians‘ and Others. In: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 209–220, hier S. 216–220. 89 Hld. 7,19,2. 90 Hld. 7,12,5–6; 7,14,2. 91 Hld. 7,19,7–7,22,2; 8,9,4–6. Zum Vergleich zwischen Arsake und Chariklea siehe Morgan: Narrative Doublets (Anm. 84), S. 65–66; Renate Johne: Women in the Ancient Novel. In: The Novel in the Ancient World. Hg. von Gareth L. Schmeling. Leiden u.a. 1996, S. 151–207, hier S. 198–199; Brigitte Egger: Zu den Frauenrollen im griechischen Roman: Die Frau als Heldin und Leserin. In: Groningen Colloquia on the Novel 1 (1988), S. 33–66, hier S. 54. Auch sonst sind Barbaren den Emotionen stärker ausgesetzt: 1,30,6–7; 7,29,1. 92 Hld. 2,31,5; 10,31,5–10,32,2. Vgl. dazu Morgan: Narrative Doublets (Anm. 84), S. 72–77; Kuch: Margin of the Ancient Novel (Anm. 88), S. 218. 93 Hld. 10,41,4. Heliodor schreibt, dass er aus Emesa (im heutigen Syrien) stamme und ein Abkömmling des Helios sei. Siehe dazu Whitmarsh: The Birth of a Prodigy (Anm. 59), S. 96–97. 94 Siehe zur literarischen Tradition des idealisierten Äthiopiens Tibor Szepessy: Die Aithiopika des Heliodoros und der griechische sophistische Liebesroman. In: Beiträge zum griechischen
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vorbildlichen politischen Institutionen seinen Bewohnern und dem vereinten Paar einen sicheren Hafen bietet.95 Die Aithiopika sind in dieser Deutung nicht hellenozentrisch, sondern kosmopolitisch imaginiert.96 Dieselbe Ambivalenz in der Einschätzung der Kulturen zeigt Heliodor auch bei der Charakterisierung seiner Protagonistin. Einerseits beweist sie, dass nurture nature schlägt: Chariklea lernt als Kind nicht nur schnell die griechische Sprache und nimmt den Griechen Charikles selbstverständlich als Ziehvater an, sie beteuert auch dezidiert, dass sie keinen barbarischen, sondern einen griechischen Ehemann haben möchte.97 Von der Außenwelt wird sie aufgrund ihrer Haltung, Sprache und Erscheinung als Griechin wahrgenommen und im Roman mehrfach als solche bezeichnet.98 Ihre Rückkehr in die angestammte Heimat am Ende des Romans wiederum bewirkt nicht, dass sie wieder zur Barbarin wird, sondern hat umgekehrt eine Zivilisierung der Äthiopier zur Folge. Die wissenschaftliche Erklärung ihrer Herkunft stößt nun auch bei ihrem äthiopischen Vater auf Zustimmung und als Krönung wird dank ihres Lebenslaufs der barbarische Brauch der Menschenopfer abgeschafft.99 Gleichzeitig ist Chariklea die bei weitem komplexeste Heldin der erhaltenen Romane. Sie überschreitet aufgrund ihrer Schlauheit und Raffinesse nicht nur die traditionell vorgegebenen weiblichen Handlungsspielräume, sondern zeigt sich ihrem Partner Theagenes intellektuell überlegen.100 Ihr ebenbürtiger Partner ist der schlaue Ägypter Kalasiris, nicht der harmlose junge Grieche, den sie als Verlobten in ihre Heimat mitbringt. Sie ist die treibende Kraft der Reise und erreicht dank ihrer an Odysseus erinnernden außerordentlichen Schlauheit,101 dass sie am Ende an den Ort gelangt, an den sie möchte. Mit dem mirabile ihrer Zeugung begründet Heliodor also weit mehr als die Hautfarbe. Chariklea ist der lebendige Beweis für ein Wunder eines fremden Landes, das zur Präsentation nach Griechenland gelangt, sich dann aber, statt vom Zentrum erobern zu lassen, freiwillig zurück an die Peripherie begibt, griechische Elemente mit sich führt und dadurch ihr Herkunftsland verändert.
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Liebesroman. Hg. von Hans Gärtner. Hildesheim u.a. 1984, S. 432–450, hier S. 435–438; Morgan: Narrative Doublets (Anm. 84), S. 75; Whitmarsh: The Birth of a Prodigy (Anm. 59), S. 98–99; Murphy: Pliny the Elder’s Natural History (Anm. 45), S. 83. Vgl. z.B. Hld. 10,2,1 (die weisen Gymnosophisten als Berater des Königs); 10,10,3–4 (vor Gericht sind alle gleich). Siehe dazu Whitmarsh: The Birth of a Prodigy (Anm. 59), S. 98–99. Hilton: An Ethiopian Paradox (Anm. 59), S. 90–91. Hld. 2,33,1–3 (Spracherwerb); 1,25,5 (Ehemann). So in Hld. 7,11,4; 7,12,4; 8,3,2; 8,3,5; 8,17,3; 10,7,5. Kalasiris wiederum sieht aus wie ein Grieche, ist aber Ägypter: 2,21,4–6. Vgl. dazu Whitmarsh: The Birth of a Prodigy (Anm. 59), S. 101. Hld. 10,39–40. Siehe Winkler: The Mendacity of Kalasiris (Anm. 3), S. 344–346. Johne: Women in the Ancient Novel (Anm. 91), S. 194–199; Egger: Frauenrollen im griechischen Roman (Anm. 91), S. 43; Morgan: Heliodoros (Anm. 5), S. 451–452. Thomas Paulsen: Inszenierung des Schicksals. Tragödie und Komödie im Roman des Heliodor. Trier 1992, S. 42–53, hier S. 45–46; 51–52.
Die enzyklopädischen Exkurse in Heliodors Aithiopika
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FAZIT Die Beurteilung der enzyklopädischen Exkurse in Heliodors Aithiopika war in der bisherigen Forschung oft von modernen Vorstellungen über Wissen und Wissenschaft sowie von gattungsspezifischen Erwartungen an den Roman geprägt. Wie im vorliegenden Beitrag gezeigt wurde, birgt ein Blick über die modernen Gattungsgrenzen hinweg jedoch die Chance, Parallelen zwischen antiken Prosaformen zu entdecken, die gleichzeitig unterhalten und belehren wollen. So verfolgen Plinius der Ältere und Heliodor bei der Darlegung von mirabilia ungeachtet der literarischen Gattung die gleiche Strategie. Beiden geht es darum, mittels mirabilia die Neugierde ihrer Leser zu stimulieren und sie mit neuem Wissen zu versorgen. Indem die beiden Autoren über entlegene Dinge am Rand der Oikumene berichten, machen sie gleichzeitig Aussagen über die eigene Kultur. Enzyklopädisches Wissen trägt in beiden Werken einen Machtaspekt in sich, indem es explizit oder implizit von einem Zentrum der Normen und einer Peripherie des von der Norm Abweichenden ausgeht. Das Volk der Äthiopier ist als Paradebeispiel des Entlegenen ein ideales Feld, um eine möglichst große kulturelle Distanz vorzuführen und die eigenen Bräuche zu hinterfragen. In Heliodors Roman konzentriert sich das Aufrufen von Wissen vor allem auf die Figuren Kalasiris und Chariklea, die dadurch als intelligent und gebildet ausgezeichnet werden. Mit der Vielzahl von naturwissenschaftlichen Exkursen, die sich um die Figur des Kalasiris ranken, schlägt Heliodor einen Bogen zum Nukleus der ganzen Geschichte, der Zeugung und Aussetzung der Chariklea. Mit dem mirabile seiner Protagonistin bringt Heliodor wie Plinius ein Wunder vom Rand der Oikumene ins Zentrum der Weisheit, nach Delphi, und eröffnet damit den Diskurs um die geographische Positionierung von Wissen. Anstelle der klassischen Dichotomie zwischen Hellenen bzw. Römern und Barbaren zeigt er unterschiedliche Kulturen, die in einer Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Mirabilia dienen nicht der Befriedigung platter Neugierde, sondern sind Lernbeispiele der Natur, an denen sich die Menschen weiterentwickeln können. Chariklea vereint durch das mirabile ihrer Herkunft verschiedene Kulturen und Wissenstraditionen und bringt damit vielleicht auch die griechischen Leser dazu, ihre eigenen Sitten zu hinterfragen.
II. HELIODORUS ITALICUS: DIE AUFNAHME DER AITHIOPIKA IN DER ITALIENISCHEN LITERATUR DER SPÄTRENAISSANCE UND DES BAROCK
,MALE O BENE, NON SO‘. TORQUATO TASSO UND HELIODORS AITHIOPIKA Marc Föcking 1. ZUM PLATZ DER AITHIOPIKA IN DER POETIK DES SPÄTEN CINQUECENTO Als 1534 die erste Edition, 1544 die erste lateinische und 1556 die erste italienische Übersetzung von Heliodors Aithiopika im Druck erschienen1, hätte diese Publikation eines antiken Prosaromans kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt erfolgen können. Nach dem Druck des griechischen Texts der aristotelischen Poetik 1498 war in den 1540er Jahren die Aristotelisierung der Dichtungstheorie in vollem Gange: Francesco Robortellos lateinische Version mit ausführlichem Kommentar erschien 1548 in Florenz, gefolgt in schneller Folge von weiteren Ausgaben, Kommentierungen und poetologischen Systematisierungen wie Bernardo Segnis italienischer Paraphrase (1549f.), Maggis Explicationes (1550), Scaligers Poetices libri septem (1561), Minturnos Poetica toscana (1563), Castelvetros Poetica d’Aristotele (1570) oder Alessandro Piccolominis Übersetzung ins Italienische (1572) und seinen Annotationi (1575)2, zu denen sich Hunderte von nicht minder umfangreichen Poetiken zu einzelnen Gattungen, besonders zum Epos gesellen: etwa Giraldi Cinzios Discorsi intorno al comporre de i Romanzi, delle commedie, e delle tragedie (1554), Pignas I romanzi (1554) oder Torquato Tassos Discorsi dell’arte poetica e in particolare sopra il poema eroico (1587) und die Discorsi del poema eroico (1594). Bei allen Differenzen im Einzelnen teilen die meisten (bis auf die eher wenigen platonischen Positionen) dieser Werke die Grundannahme der Verbindlichkeit aristotelischer Präzepte für jede Art von Dichtung, die Gültigkeit der Gattungseinteilungen Tragödie, Epos und Komödie und die Mustergültigkeit der von Aristoteles benannten Beispieltexte – vor allem Homer für das Epos, dem die Kommentare einhellig Vergils Aeneis an die Seite stellen. Da Heliodors Aithiopika
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Zu den verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen im Cinquecento siehe Franz L. A. Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie. Erster Theil Griechische Schriftsteller. Leipzig 1830, S. 131f. Zu den Poetiken des Cinquecento siehe die klassische Studie von Bernhard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance. II Bde. Chicago 1961, und Baxter Hathaway: The Age of Criticism: The Late Renaissance in Italy. Ithaca, New York 1962. Ferner The Cambridge History of Literary Criticism. Vol. III: The Renaissance. Hg. von Glyn P. Norton. Cambridge 1999, und Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin, New York 2006.
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aus dem dritten bis vierten nachchristlichen Jahrhundert naturgemäß nicht bei Aristoteles auftauchen, aber auch strukturell dem aristotelischen Epenmodell im Gegensatz zu Vergils Aeneis nicht verrechenbar sind, bleibt Heliodors Roman in den meisten auch nach seiner ersten modernen Publikation publizierten Aristoteleskommentaren und Poetiken des 16. Jahrhunderts unerwähnt. Auch in den poetologischen Texten der vierbändigen Ausgabe der Trattati di retorica e poetica del Cinquecento3 lassen sich nur sehr geringe Spuren finden. Ungünstig war der Zeitpunkt des Erscheinens der Aithiopika aber auch, weil neben der Dominanz der aristotelischen Poetik die durch sie losgetretene poetologische Auseinandersetzung um die Regelkonformität von Ariosts Orlando Furioso und des ‚romanzo cavalleresco‘ ohne den Rekurs auf die Aithiopika und ihre Erzählmodelle auskommen konnte. In den von Klaus W. Hempfer untersuchten Quellen der Diskussionen um den Orlando Furioso erscheint Heliodors Roman kein einziges Mal, wiewohl sich die Verteidiger Ariosts etwa in Hinsicht auf die Digressionstechnik des Orlando Furioso durchaus mit Heliodor hätten munitionieren können.4 Aber nicht dieser wird zu einer Autorität in der Diskussion um den Orlando Furioso, sondern nach wie vor Homer und Vergil – sei es, um die Konformität des Furioso zu beweisen, sei es, um wegen Nicht-Konformität seine Defekte zu demonstrieren. Es gibt im Cinquecento offensichtlich keinen Ansatz, der den ‚romanzo cavalleresco‘ auf andere antike Bezugstexte beziehen würde; und wenn sich die Begründungsstrategie in Richtung der „Modernität“ des Furioso verlagert, dann kommen ausschließlich volkssprachliche „romanzi francesi, provenzali e spagnuoli“ in den Blick – so bei Giraldi Cinzio.5 Dass sich der ‚romanzo‘ wie das ‚poema eroico‘ aus derselben Quelle ritterlicher Protagonisten und ihrer Waffentaten speist, leitet Giraldi Cinzio aus der Etymologie von ‚romanzo‘ selbst ab: Da „appresso i Greci Ρ’༁µε [sic]“ „Stärke“ heiße und die Lateiner daher meinen, „che sia venuta la voce Roma, per la fortezza immensa del popolo romano io stimo ch’altro non sia dire opera di romanzi, che Poema & compositione di Cavalieri forti“.6 Da das „cavalleresco“ so schon in „romanzo“ steckt, wäre „romanzo cavalleresco“ einen Tautologie. Heliodors Aithiopika sind mit ihrem adoleszenten, definitiv unkriegerischen Protagonistenpaar Chariklea und Theagenes kein ‚romanzo‘ in diesem Sinne und damit im poetologischen Diskurs des Cinquecento gattungsmäßig heimatlos.7 Einschlägige und weitreichende Versuche, die Aithiopika zur Legitimierung des ‚romanzo‘ im italienischen sechzehnten Jahrhundert heranzuziehen, 3 4 5 6 7
Siehe Trattati di retorica e poetica del Cinquecento. IV Bde. Hg. von Bernhard Weinberg. Bari 1970ff. Siehe Klaus W. Hempfer: Diskrepante Lektüren. Die Orlando Furioso-Rezeption im Cinquecento. Historische Rezeptionsforschung als Heuristik der Interpretation. Stuttgart 1987. Giambattista Giraldi Cinzio: Risposta di Giovambattista Giraldi Cinzio a Messer Giovambattista Pigna. In: ders: Scritti critici. Hg. von Camillo Guerrieri Crocetti. Mailand 1973, S. 249. Ders.: Discorsi di M. Giovambattista Giraldi Cinzio (…) intorno al comporre de i Romanzi, delle comedie, e delle Tragedie. Venedig: Giolito, 1554, S. 5. So heimatlos wie schon im Gattungssystem der Antike, in dem es für fiktionale Prosaerzählungen keine Bezeichnung gibt, siehe Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung. München 2001, S. 19–20.
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lassen sich nicht beobachten8 – der antike Prosaroman ist „an uncodified marginal genre (…) [which] situates its plots in an everyday ‚bourgeois‘ reality – however theatrical that reality might be“.9 Wenn, wie in der Forschung zur Rezeption der Aithiopika immer wieder zu lesen ist, gerade mit dem 16. Jahrhundert die Fortune des antiken Liebesromans beginnt, dann ist das nur unter massiven Rezeptionserschwerungen und nur knapp oberhalb der Wahrnehmungsschwelle des poetologischen Mainstreams geschehen. Dass Heliodor in den poetologischen Diskussionen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts breit als nur knapp hinter Homer und Vergil rangierender Dichter gelesen worden ist, wie Fusillo annimmt10, kann auf jeden Fall ausgeschlossen werden. Nicht aber, dass er tatsächlich gelesen worden ist, denn sonst hätte Lorenzo Ghinis italienische Aithiopika-Übersetzung kaum vier kurz hintereinander erschienene Auflagen bei dem renommierten Drucker Giolito in Venedig (1556, 1559, 1560, 1568), eine in Genua 1582, drei weitere „ricorrette“ bei Giolito (1586, 1587, 1588) und drei in Venedig (1611, 1623, 1636) erzielt. Zieht man die 1557 von Geronimo Bossi unter dem Titel I primi cinque canti d’Eliodoro (Milano, Borgio), die nach Oeftering11 trotz des Titels nichts mit Heliodor zu tun haben, ab, kamen in Italien im Laufe von achtzig Jahren dreizehn Auflagen der Übersetzung auf den Markt.12 2. TASSOS POETOLOGISCHE BESCHÄFTIGUNG MIT HELIODOR Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass Heliodor in einzelnen und durchaus prominenten Poetiken des sechzehnten Jahrhunderts genannt wird – in Scaligers Poetices libri septem, in Patrizis Della Poetica und in Tassos Discorsi bzw. Del poema eroico und seinen Briefen zur Gerusalemme liberata. In diesen Erwähnungen geht es vor allem um zwei Probleme, um die Discours-Verfahren epischer Erzähltechnik und die Frage nach der geeigneten Stoffwahl des Epikers. Durchgehend positiv bewertet wird Heliodor vor allem im ersten Fall, denn Patrizi lobt Heliodor im Verein mit „valenti dicitori“ der recht heterogenen Reihe Demosthenes, Cicero, Herodot, Livius, Lukan und Boccaccio für die Qualität der Enargeia: Sie hätten dem Leser
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Entgegen der Auffassung von Sebastian Möckel: Zwischen Muster und Anverwandlung. Übersetzungen des antiken Liebesromans in der Frühen Neuzeit. In: Übersetzung und Transformation. Hg. von Hartmut Böhme, Christof Rapp, Wolfgang Rösler. Berlin, New York 2007, S. 137–155. 9 Massimo Fusillo: Epic, Novel. In: The Novel. Vol. II: Forms and Themes. Hg. von Franco Moretti. Princeton, Oxford 2006, S. 32–56, hier S. 43. Zu den Gattungsmerkmalen des antiken Romans siehe Holzberg: Der antike Roman (Anm. 7), S. 20–23, zur Aithiopika S. 134–142. 10 Massimo Fusillo: Aethiopika (Heliodorus, Third or Fourth Century). In: The Novel. Vol. II: Forms and Themes. Hg. von Franco Moretti. Princeton, Oxford 2006, S. 131–137, hier S. 137. 11 Siehe Michael Oeftering: Heliodor und seine Bedeutung für die Litteratur. Berlin 1901, S. 56. 12 Siehe Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie (Anm. 1), S. 132; Oeftering: Heliodor (Anm. 11), S. 50f.
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die beschriebenen Gegenstände „avanti à gli occhi poste“.13 Scaliger lobt Heliodor für die Einflechtung von Episoden in die Haupthandlung, für die damit erreichte Spannung und „varietas“ und für die Zurückhaltung von später nachgeholten Informationen. Die entsprechende, von Vergil in der nachgeholten Jugendgeschichte Camillas eingesetzte Technik beobachtet Scaliger auch bei Heliodor und empfiehlt dem Epen-Autor, die „Aethiopica historia Heliodori“ aufmerksam als „pro optimo exemplari sibi proponendum“ zu lesen.14 Dennoch bezieht sich diese Modellhaftigkeit nur, wie wir sehen werden, auf die Dispositio, nicht auf die Inventio der Aithiopika. Tassos Rekurs auf Heliodor in seinem Brief an Scipione Gonzaga vom 20. Mai 1575 greift dieses Lob der Dispositio-Technik auf, allerdings mit leichtem Zweifel, ob Heliodor tatsächlich an Vergil heranreicht: Il lasciar l’auditor sospetto, procedendo dal confuso al distinto, dall’universal a’ particolari, è arte perpetua di Virgilio; e questa è una delle cagioni che fa piacer tanto Eliodoro, et è molte volte usata (male o bene, non so) in questo libro.15
Problematischer – und weit weniger euphorisch als in der Forschung dargestellt16 – stellt sich in den poetologischen Auslassungen Tassos und anderer die Ebene der Inventio dar. Patrizi, der als Platoniker der aristotelischen Mimesis-Fixierung gegenüber per se kritisch eingestellt ist, lehnt ganz besonders die „imitazione favolosa“, also Erzählungen erkennbar fingierter Handlungen ab, die er bei Heliodor, aber auch bei Apuleius oder insgesamt in mythologischen Erzählungen sieht. Die „favola“ sieht sich bei ihm aus dem Bereich des „proprium“ der Dichtung ausgeschlossen – und das trifft auch Heliodor: Se adunque la Mitologia, e i Mitologi, furono diversi dalla poesia, e dei poeti, per necessità consegue, che non ogni favola sia poesia. E così lo scritto di Eliodoro, né quello di Achille Tatio non saranno poesie.17
Aber auch in der aristotelischen Theorie der Dichtung als Mimesis bleibt das „inversosimile“ der „favola“ ein Problem, und daher steckt in Guastavinis Kommentierung der Vorgeschichte Clorindas im zwölften Buch der Gerusalemme liberata von 1590 durchaus poetologisches Sprengpotential: „La fintione di questa favola è
13 Francesco Patrizi da Cherso: Della Poetica. La deca disputata. Ferrara: Vittorio Baldini, 1586, S. 65. 14 Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band III. Hg., übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Luc Deitz. Stuttgart, Bad Cannstatt 1995, S. 22 (Buch 3, Kap. 95: Praecepta in unoquoque genere poematum. Heroica). 15 Torquato Tasso: Lettere poetiche. Hg. von Carla Molinari. Parma 1995, S. 80. 16 So bei Albin F. Forcione: Cervantes, Aristotle, and the ‚Persiles‘. Princeton 1970, S. 66–68; Walter Stephens: Tasso’s Heliodorus and the World of Romance. In: The Search for the Ancient Novel. Hg. von James Tatum. Baltimore, London 1994, S. 67–87, hier S. 68 (mit Bezug auf Forcione); Fusillo: Epic, Novel (Anm. 9), S. 44 (mit Bezug auf Stephens). 17 Patrizi: Della Poetica (Anm. 13), S. 66.
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prima di Eliodoro nel 4. dell’Istoria Etiopica“.18 Wir werden sehen, wie sich Tasso als skrupulöser Aristoteliker um dessen Entschärfung bemüht hat. Tasso selbst hat einen etwas anderen Blick auf die inhaltlichen Aspekte der Aithiopika in Relation zu denen des Poema eroico. In den Discorsi dell’arte poetica e in particolare sopra il poema eroico schreibt er: Bench’io non nieghi che poema eroico non si potesse formare di accidenti meno magnifici, quali sono gli amori di Florio, e quelli di Teagene e di Cariclea, in questa idea, nondimeno, che ora andiamo cercando del perfetto poema, fa mestieri che la materia sia in se stessa nel primo grado di nobiltà e di eccelenza. In questo grado è la venuta d’Enea in Italia.19
Die von Scaliger (und in geringerem Maße) Tasso selbst angesetzte Vergleichbarkeit zwischen Heliodor und Vergil in Hinblick auf Dispositio-Verfahren wird zurückgenommen, sobald es um die Inventio geht: Scaliger fordert, dass „totum vero argumentum petitur e vita civili“, und dieses öffentliche Leben bestimmen Könige, Helden und Kämpfe („regibus atque heroibus“), alles andere dient nur der „varietas“.20 Wenn Scaliger hier die Aithiopika auch nicht mehr erwähnt, ist doch klar, dass der Roman diese Bedingung des Epos nicht erfüllt. Tasso ist etwas weniger kategorisch: Wenn auch nicht ausgeschlossen aus dem Poema eroico, sind doch Liebesgeschichten wie die Charikleas und Theagenes „meno magnifico“ und entbehren das für ein vollkommenes Epos geforderte Maß an „nobiltà“ und „eccelenza“. In den Discorsi del poema eroico von 1594 präzisiert Tasso, dass im „perfettissimo poema“ die Liebeshandlung zurückzutreten habe hinter einer „nobilissima azione“ wie etwa der „venuta di Enea in Italia“,21 Handlungen also, die die „autorità dell’istoria“22 auf ihrer Seite haben. Da sich in Tassos Logik die „istoria“ allein mit historischen Großereignissen wie Kriegen oder Staatsgründungen – also wie bei Scaliger23 dem Bereich des historisch-politisch Öffentlichen der „vita civile“– befasst, können die privaten Liebeswirren des hellenistischen Liebesromans kein vordringliches Thema des Poema eroico sein. 3. DIE AITHIOPIKA IN DER GERUSALEMME LIBERATA (XII) Giulio Guastavini hat schon 1590 bemerkt, dass die Geschichte der Herkunft Clorindas, die ihr alter Diener Arsete erzählt, kurz bevor Clorinda in einer Under coverAktion den Belagerungsturm der Christen in Brand steckt und im anschließenden Zweikampf mit Tancredi zu Tode kommt, der der Herkunft Charikleas aus den 18 Torquato Tasso: La Gerusalemme liberata di Torquato Tasso. Con le annotationi di Scipione Gentili e di Giulio Guastavini. Genua: Giuseppe Pavoni, 1617, S. 19 (EA 1590). 19 Torquato Tasso: Scritti sull’arte poetica. II Bde. Hg. von Ettore Mazzali. Turin 1977. Bd. I, S. 15. 20 Scaliger: Poetices libri septem (Anm. 14). Bd. III, S. 22 (Buch 3, Kap. 95: Praecepta in unoquoque genere poematum. Heroica). 21 Tasso: Scritti sull’arte poetica (Anm. 19). S. 206. 22 Ebd., S. 15. 23 Scaliger: Poetices libri septem (Anm. 14). Bd. III, S. 22 (Buch 3, Kap. 95: Praecepta in unoquoque genere poematum. Heroica).
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Aithiopika ähnelt.24 Tasso selbst, der ansonsten sehr auskunftsfreudig ist, äußert sich nicht zur Quelle der Herkunft Clorindas, der ihr Diener Arsete offenbart, sie sei die auf wundersame Weise mit weißer Hautfarbe geborene Tochter des christlichen Äthiopier-Königs Senapo. Ihre Mutter, „bruna sì, ma il bruno il bel non toglie“25, hatte vor dem Bild des Heiligen Georg, der im Kampf gegen den Drachen eine „Vergine bianca“ rettet, gebetet und eine „candida figlia“ geboren. Aus Angst vor der Eifersucht ihres Mannes, so berichtet Arsete, tauschte sie ihre Tochter gegen ein schwarzes Baby aus und vertraute sie dem muslimischen „eunuco“ Arsete (GL S.273, XII, 18) an, der sie unter Gefahren nach Ägypten brachte, sich aber der im Traum empfangenen Aufforderung des Heiligen Georg, das Kind zu taufen und als Christin zu erziehen, widersetzte. Erst angesichts des finalen Kampfes Clorindas gegen Tancredi und eines neuen Traumbildes des Heiligen Georg enthüllt er der Amazone ihre königliche wie christliche Herkunft. Guastavini erkannte darin eine Reformulierung des Berichts der äthiopischen Königin Persinna, den der Priester Kalasiris aus den eingestickten Schriftzeichen im Stirnband Charikleas entziffert: Unser Geschlecht stammt göttlicherseits von den Göttern Helios und Dionysos, von den Heroen Perseus und Andromeda und ferner von Memnon ab. Mit Darstellungen aus deren Leben schmückten seinerzeit die Erbauer unseren königlichen Palast. (…) Als ich dich gebar, ein weißes Kind, also von einer Hautfarbe, die den Äthiopiern nicht eigen ist, war mir die Ursache klar: während der Umarmung meines Gatten hatte ich meine Augen auf das Bildnis der nackten Andromeda geheftet, das zeigte, wie Perseus sie vom Felsen herabführt, und durch diesen unseligen Umstand hatte mein Kind die Hautfarbe der Heldin bekommen.26
Aus Angst um das Leben der Tochter, die der Vater Hydaspes für die Frucht eines Ehebruchs hätte halten können, setzt Persinna das Kind aus und hofft, so wenigstens dessen Leben zu retten.27 Trotz gravierender Unterschiede zwischen der zielstrebigen muslimischen Kämpferin Clorinda, die die Kenntnis ihrer christlichen Herkunft nur Stunden überlebt, und der passiven Chariklea, für die die Herkunft Schlüssel zum happy ending ihrer Liebesgeschichte mit Theagenes wird28, lassen sich die semantischen Ähnlichkeiten, aber auch die narratologischen Parallelen dieser als Binnenerzählung ge-
24 Tasso: La Gerusalemme liberata (Anm. 18), S. 19. 25 Torquato Tasso: Gerusalemme liberata. Hg. von Anna M. Carini. Mailand 1961, S. 274 (XII, 21). Im Fließtext abgekürzt mit GL. 26 Heliodor: Die Abenteuer der schönen Chariklea. Übertragen von Rudolf Reymer. Mit einem Essay zum Verständnis des Werkes und einer Bibliographie von Otto Weinreich. Reinbek bei Hamburg 1962, S. 76. 27 Zur dieser Episode der Aithiopika siehe Elizabeth McGrath: The Black Andromeda. In: Journal of the Warburg and Courteauld Institutes 55 (1992), S. 1–18; Anja Bettenworth: Aus einer anderen Welt: Europäische Mythen und afrikanische Identität. In: Andere Welten. Akten des 2. Forschungstags des Jungen Kollegs der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hg. von Anja Bettenworth u.a. Paderborn 2009, S. 29–49; dies.: Die doppelte Andromeda. Eine umstrittene Wiederholung in Heliodors Aithiopika und ihr Einfluß auf die Deutung des Romans. In: Rheinisches Museum 156 (2013), S. 194–211. 28 Zu diesen inhaltlichen Differenzen siehe Stephens: Tasso’s Heliodorus (Anm. 16), S. 69f.
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stalteten Anagnorisis kaum übersehen. Trotz seiner eher kritischen Position zu Heliodor hat Tasso auf eine signalhafte Episode der Aithiopika zurückgegriffen, wiewohl er den Roman auch ganz seiner klassizistischen Epen-Poetik hätte opfern können. Das aber geschieht – möglicherweise geschuldet durch die steigende Popularität des Textes in der Spätrenaissance – nicht, fordert aber gleichzeitig umfangreiche Strategien der Rechtfertigung, Motivierung und Modifikation der HeliodorEpisode.29 Ich möchte versuchen, diesen Strategien Tassos durch die Isolierung der verschiedenen Schichten, die in Clorindas Herkunftsgeschichte in Gerusalemme XII übereinanderliegen, nachzugehen. „Ethiopia“ markiert in der Geographie der Antike wie des Romanzo cavalleresco und des Poema eroico der Renaissance den Extrempunkt süd-östlicher Ferne. In De Chorographia des Pomponius Mela markierten die „Aethiopes“ das Ende der bekannten Welt im Süd-Osten und gleichzeitig das Ende des dritten und letzten Buches.30 Die „Aethiopes“ bewohnen nach der antiken, aber bis in die Renaissance gebräuchlichen Einteilung der Erde in Wärme- und Sonnenstands-Zonen das nahe dem Äquator (und damit der wegen glühender Hitze unüberschreitbaren „zona perusta“) liegende „clima Merois“31, was der „terra Mereon“ bei Pomponius Mela entspricht.32 Diese traditionelle Extremposition33, die auch Petrarcas „Wunder“Canzone „Qual più diversa et nova“ (Rerum Vulgarium Fragmenta Nr. 135) kennt34, findet sich auch bei Ariost und Tasso, allerdings ohne die sagenhaften Menschen-Wesen und Monstren der antiken, mittelalterlichen, aber auch noch rinascimentalen Vorstellung von Äthiopien35: Im Orlando Furioso bilden „di Spagna
29 Damit wird in diesem Beitrag nicht auf die in der Forschung zu Clorinda bevorzugten konkurrierenden weiblichen Rollenbilder und Identifikationsmuster abgehoben, sondern auf die poetologische Frage nach Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Aithiopika-Rezeption in einem renaissance-klassizistischen Umfeld. Zur gender-zentrierten Forschung siehe etwa Valeria Finucci: Performing Maternity: Female Imagination, Paternal Erasure, and Monstrous Birth in Tasso’s Gerusalemme Liberata. In: The Manly Masquerade: Masculinity, Paternity, and Castration in the Italian Renaissance. Hg. von Valeria Finucci. Durham 2003, S. 119–158. Irmgard Scharold: Vom Wunderbaren zum Phantas(ma)tischen: Zur Archäologie vormoderner Phantastik-Konzepte bei Ariost und Tasso. München 2011, S. 417–418, untersucht vor allem Tassos Verwendung des rinascimentalen Monster-Diskurses und der Posttridentinischen Bildverwendung; für die affektpoetischen Aspekte der Clorinda-Figur siehe Teresa Staudacher: Volendo far la favola affettuosa. Affektpoetik und Heidendarstellung bei Torquato Tasso. Wiesbaden 2013, S. 344–359. 30 Pomponius Mela: Kreuzfahrt durch die antike Welt. Hg. und übersetzt von Kai Brodersen. Darmstadt 1994, S. 183–187 (III, 85). 31 Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX. Hg. von Wallace M. Lindsay. Oxford 1911, Neudruck 1957, Bd. III, 42,2. 32 Mela: Kreuzfahrt durch die antike Welt (Anm. 30), S. 178. 33 Siehe Rudolf Simek: Erde und Kosmos im Mittelalter. München 1992, S. 110f. 34 Siehe Marc Föcking: ‘Stranio climaȀ. Petrarca e l’amore per la geografia. In: Quaderni petrarcheschi XIV (2004), S. 15–43. 35 Siehe etwa Rudolf Witkower: Die Wunder des Ostens: Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer. In: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Hg. von Rudolf Witkower. Köln 1984, S. 87–150 (EA. 1942), und Peggy Grosse: Am Rand. Wundervölker
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e di Libia e d’Ethiopia“36 die Ausdehnung zwischen extremem Westen und äußerstem Osten; bei Tasso ist es die zwischen den „più freddi cerchi del nostro mondo“ im Norden und den „Etiopi accesi“ (GL S. 324, XIV, 28) im Süden. Die Bevölkerung Äthiopiens ist in der Epengeographie der Renaissance weniger monströs als vor allem Reservoir für Kriegstruppen – und zwar für die Seite der heidnischen „Mori d’Africa“ und die der unter Karl dem Großen kämpfenden Christen. Die Bewohner des im Inneren Ostafrikas gelegenen „Ethiopia“ stellen im Orlando Furioso XIII, 82, heidnische Kämpfer, die ebenfalls „Etiopia“ genannte ostafrikanische Region zwischen Nil und Rotem Meer aber ist christlich: Poi volse agli altri Etiopi le penne che contra questi son di là dal Nilo. Alla città di Nubia il camin tenne Tra Dobada e Coalle in aria a filo. Quei cristiani son, quei saracini.37
So sieht Astolfo die Trennlinie auf seinem Flug über Ostafrika. Ihren christlichen und sagenhaft reichen38 König Senapo, der als Strafe für seine Hybris, das irdische Paradies erreichen zu wollen, blind geworden ist und von Harpyien gequält wird, kann Astolfo Linderung verschaffen und zum Eingreifen mit 100.000 Soldaten auf Seiten König Karls bewegen.39 Ariost weiß natürlich, dass der Apostel Philippus in Apostelgeschichte 8, 26–40, den Kämmerer der Kandake, Königin der Äthiopier, getauft hat, und er kennt die Legenden des „Prete Ianni“, nach der die Äthiopier von einem christlichen König regiert werden. Der Ariostsche „Senapo“ ist dieser im Westen bekannte „Presto o Preteianni“40, der im Furioso in ein dichtes Netz aus bis auf Marco Polo zurückreichenden Reisebeschreibungen41, Märchen und Legenden eingebunden ist und so stark sagenhafte Züge aufweist.42
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zwischen Fantasie und Wirklichkeit. In: Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik. Nürnberg 2015, S. 227–249. Ludovico Ariosto: Orlando Furioso. Hg. von Lanfranco Caretti. Turin 1992, Bd. I, S. 338 (XIII, 82). Zur Geographie des Furioso siehe Massimo Rossi: La geografia del Furioso. Sul sapere geografico alla corte estense. In: Lucrezia Borgia. Storia e mito. Hg. von Michele Bordin, Paolo Trovato. Firenze 2006, S. 97–137. Ariosto: Orlando Furioso (Anm. 36), S. 1013 (XXXIII, 101). Den unermesslichen Goldreichtum der Äthiopier kennt schon Mela: Kreuzfahrt durch die antike Welt (Anm. 30), S. 179. Ariosto: Orlando furioso (Anm. 36), S. 1013–1021 (XXXIII, 101–127) und S. 1137f. (XXXVIII, 27f.). Ebd., S. 1015 (XXXIII, 106). Das von Ariost mitgeteilte Ondit „ove al battesmo loro usano foco“ (ebd., S. 1014, XXXIII, 102) etwa stammt aus Marco Polos Millione, der das Volk des Prete Ianni noch in Asien lokalisiert, siehe den Kommentar in Ariosto: Orlando furioso (Anm. 36), S. 1014. Zu Ariosts Senapo siehe Albert Russel Ascoli: Ariosto’s Bitter Harmony. Crisis and Evasion in the Italian Renaissance. Princeton 1987, S. 264–268. Zu Astolfos Flug zum Prete Ianni siehe Enrico Cerulli: Il volo d’Astolfo nell’Etiopia. In: Rendiconti dell’Accademia dei Lincei ser. VI, Bd. VIII (1932); zu Ariosts diesbezüglichen Quellen siehe Pio Rajna: Le fonti dell’Orlando Furioso. 2. Auflage. Firenze 1902, S. 528–530. Zur
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Tasso kann so zunächst sowohl den traditionellen Stellenwert Äthiopiens in der Epengeographie als auch den dort herrschenden Äthiopierkönig – „Senapo“ bei Ariost – nutzen, um Elemente von Heliodors Aithiopika in die Handlungsebene der Gerusalemme liberata zu integrieren. Wenn so Heliodors Hydaspes zum schon bei Ariost auftretenden Äthiopierkönig Senapo in Gerusalemme liberata XII, 21, werden kann, ist er aber doch ganz im Sinne von Tassos Orientierung des Poema eroico an der „autorità dell’istoria“43 von aller Legendenbildung befreit, mit der Ariost den Senapo des Orlando Furioso umgibt. Das führt zum zweiten Motivationsstrang, dem der Historisierung und Demystifizierung des Äthiopierkönigs Senapo und seines Hofes. Auffälligerweise kleidet Tasso die Geschichte intertextuell in eine biblische Lexik ein, wenn er in Anklang an das Hohelied Salomos I, 4 „Nigra sum, sed formosa“ die Königin als „bruna […] sì, ma il bruno il bel non toglie“ (GL S.274, XII, 21) bezeichnet. Und anstatt auf mittelalterliche Reisebeschreibung und Legenden greift Tasso auf den aktuellen Bericht des portugiesischen Priesters Francisco Alvarez zurück, der 1520–1523 das Reich des „Prete Ianni“ David II. (der europäische Name für Lebna Dengel, † 1540) aus der Dynastie der Salomoniden44 besuchte und nach seiner Rückkehr nach Portugal einen ausführlichen, von Ramusio 1550 auf Italienisch gedruckten Reisebericht verfasste.45 Tasso kannte diesen Bericht, wie David Quint zeigt46, denn er zitiert ihn wörtlich in einem erst 1892 von Solerti publizierten Text namens Dubbi e risposte intorno ad alcune cose e parole concernanti alla Gerusalemme liberata, um die in Gerusalemme liberata XII, 25, nach der Geburt Clorindas unterbliebene Taufe als mit dem Usus der äthiopischen Kirche konform auszuweisen.47 Die Geschichte von der äthiopisch-christlichen Herkunft ist voller Details aus Alvarez’ Bericht über diese christlichen Brüder im Rücken des muslimischen Gegners: Neben den Usancen, Kinder erst Wochen nach ihrer Geburt zu taufen (Jungen 40,
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Figur des Priesters Johannes im Mittelalter siehe Lew Nicolai Gumilev: Searches for an Imaginary Kingdom. The Legend of the Kingdom of Prester John. Cambridge u.a. 1987. Zum äthiopischen Christentum siehe Alois Grillmeier: Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Bd. II/IV: Die Kirche von Alexandrien mit Nubien und Äthiopien nach 451. Unter Mitarbeit von T. Hainthaler. Freiburg 1990, S. 301– 397. Tasso: Scritti sull’arte poetica (Anm. 19), Bd. I, S.16. Die sich auf einen illegitimen Sohn Salomos und der Königin von Saba zurückführende Dynastie herrschte seit 1262 bis zum letzten Kaiser Haile Selassie. Siehe dazu Manfred Kropp: Die traditionellen äthiopischen Königslisten und ihre Quellen. In: IBAES – Internetbeiträge zur Ägyptologie und Sudanarchäologie V (2005): Genealogie. Realität und Fiktion von Identität. Hg. von Martin Fitzenreiter. Berlin 2005 (http://www.ibaes.de, 7.8.2015). Giovan Battista Ramusio: Viaggio in Etiopia di Francesco Alvarez. Bologna 2009. David Quint: Epos and Empire. Politics and Generic Form from Vergil to Milton. Princeton 1993, S. 234–237. „ti diè non battezzata;/né già poteva allor battesmo darti,/ché l’uso no ’l sostien di quelle parti“ (GL S.275, XII, 25). Tasso begründet das in den „Dubbi“ unter Rückgriff auf Alvarez: siehe Ramusio: Viaggio in Etiopia (Anm. 45), S. 75, der schreibt: „Battezzano li maschi dopo XL, le femene dopo LX , e se inanzi muoiono vanno senza battesimo“. Die „Dubbi“ sind abgedruckt in Torquato Tasso: Appendice alle Opere in prosa di Torquato Tasso. Hg. von Angelo Solerti. Florenz 1892, S. 164–165.
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Mädchen 60 Tage), ist für unseren Kontext besonders die Ausstattung der kaiserlichen Räume mit dem Bild des Heiligen Georg als Drachentöter von Belang: D’una pietosa istoria e di devote Figure la sua stanza era dipinta. Vergine, bianca il bel volto e le gote Vermiglia, è quivi presso un drago avinta. Con l’asta il mostro un cavalier percote: Giace la fèra nel suo sangue estinta. (GL S.274, XII, 23)
Tatsächlich erwähnt Alvarez mehrfach den Heiligen Georg als Namenspatron äthiopischer Kirchen, und er war mehr als irgendein Schutzheiliger, sondern Schutzpatron der äthiopischen Orthodoxie und ihrer Herrschergeschlechter, die ihren Ursprung auf Salomo, die Königin von Saba und den heiligen Georg zurückführten.48 Berühmt ist etwa die Felsenkirche Beta Giorgios von Lalibela, einem Kirchenkomplex, den Kaiser Gebra Maskal Lalibela nach der Rückeroberung Jerusalems durch Saladin 1187 als „Neues Jerusalem“ in den Fels hauen ließ.49 Viele dieser Kirchen waren, wie Alvarez schreibt, mit „apostoli e patriarchi, e tutto il vecchio testamento, e san Giorgio a cavallo“50 ausgemalt. Ganz ähnlich macht auch Tasso den alttestamentarischen Bezug durch Zitate aus dem Hohelied Salomos in der Beschreibung der Mutter Clorindas deutlich (GL S. 274, XII, 21). Einschlägig für die Bilder des Heiligen Georg war ein mehrere Jahre am Hof Davids II. lebender venezianischer Maler namens Niccolò Brancaleone.51 Tatsächlich hat die Kunstgeschichte nachgewiesen, dass Brancaleone (ca. 1460–nach 1526) die Ikonographie des Heiligen Georg zu Pferde über einem sich am Boden windenden Drachen und einer befreiten Jungfrau aus dem Westen nach Äthiopien importiert hat. Als Ikone in Kirchenräumen, Buchmalereien und Votivgegenständen hat er sie erst im frühen 16. Jahrundert bis weit in die äthiopische Kirchenkunst der Gegenwart heimisch gemacht.52 Die Informationen über den Heiligen Georg als in Äthiopien verehrten Heiligen aus Alvarez’ Reisebeschreibung boten im Verein mit der für „San Giorgio a cavallo“ in der christlichen Ikonographie geläufigen Bildgestaltung des Heiligen als Drachentöter und Jungfrauenretter die historiographisch legitimierte Basis für den Rückgriff auf die ebenfalls mit dem – legendären – Äthiopien der Aithiopika in Verbindung stehende Erzählung der Empfängnis Charikleas, die ja vor einem Bild des die weiße Jungfrau Andromeda vor einem Meerungeheuer rettenden Perseus geschieht. Alvarez’ Erwähnung der in Äthiopien üblichen St.Georgs-Ikonographie 48 Zur sich bis auf Salomon und die Königin von Saba zurückbeziehenden genealogischen Tradition der äthiopischen Kaiser siehe Kropp: Die traditionellen äthiopischen Königslisten (Anm. 44), S. 23. 49 Siehe David W. Philippson: Ancient Churches of Ethiopia. New Haven 2009. 50 Ramusio: Viaggio in Etiopia (Anm. 45), S. 51. 51 Ebd., S. 293. Zu Brancaleone siehe Marilyn E. Heldman: A Transformed Tablet and an Ethiopian Triptych. In: Studia Aethiopica. Hg. von Verena Böll u.a. Wiesbaden 2004, S. 443–452. 52 Siehe Stanislaw Chojnacki: Major Themes in Ethiopian Painting (Äthiopische Forschungen). Hg. von Ernst Hammerschmidt. Wiesbaden 1983, S. 376–98; zum Nachleben der Georgs-Ikonographie Jacques Mercier: Ethiopian Art History. In: Ethiopian Art. The Walters Art Museum. Hg. von Gary Vikan. London 2001, S. 56.
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als Reflex der Gründungsmythen des Äthiopischen Kaisertums konnte für Tasso also deren Parallelschaltung mit dem Perseus/Andromeda-Mythos im Palast des äthiopischen Königs bei Heliodor motivieren. Und das umso leichter, als der Mythos von Perseus und Andromeda in der Literatur und Kunst des 16. Jahrhundert häufig mit christlichen Kämpfern wie dem Erzengel Michael oder dem Heiligen Georg kombiniert worden ist. In Badius Ascensius’ Georgius (1510) etwa kann man die Überblendung der Perseus- mit der Georgslegende53 ebenso beobachten wie in der von Papst Paul III. für die Engelsburg 1545 in Auftrag gegebenen Sala del Perseo oder einem Emblem auf Georg von Lignitz von Nikolaus Reusner 158154:
Abbildung 1: „Principis boni imago“, aus: Nicolaus Reusner: Emblemata Partim Ethica et Physica. Frankfurt a. M.: Sigmund Feyerabend, 1581, S. 254.
Damit ist aber noch nicht geklärt, wie Tasso die Verwandlung der unheldischen Liebenden Chariklea in die amazonenhafte Kämpferin Clorinda motiviert, um so seinen eigenen Reserven gegenüber der nicht in höchstem Maße epentauglichen Liebesgeschichte zwischen Chariklea und Theagenes Rechnung zu tragen. Die 53 Badius Ascensius: Georgius. S.l., 1510, Fol. XI: „Ore deam referens, Helenaque simillima virgo/Stabat ut Andromeda monstris exposta marinis“. 54 Zur Kombination von Perseus-Mythos und Georgslegende in der Ikonographie des 16. Jahrhunderts siehe Anne-Lott Zech: ‚Imago boni Principiis‘. Der Perseus-Mythos zwischen Apotheose und Heilserwartung in der politischen Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts. Münster 2000, zur Sala del Perseo und zum Emblem auf Georg von Lignitz, ebd., S. 220ff.
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Richtung deutet bereits Scaliger an, der ja in seiner Poetik Vergils Dispositio-Technik in der Nachreichung der dann von Diana erzählten Geburtsgeschichte der Amazone Camilla in Aeneis XII, 535ff., mit Heliodors Aithiopika verglichen hatte.55 Wenn Vergils Camilla, die ebenfalls von den frühen Kommentatoren der Gerusalemme als Modell für Clorinda gerade wegen der Nähe von Dianas und Arsetes Erzählungen der Flucht mit dem Kind benannt worden ist56, als Vorbild für die in einem Epos homerischer Nachfolge unabdingbare Position der Amazone dient, dann übernimmt er damit in bewußter Nachahmung Vergils auch deren ideologische Position der Gegnerin: Wie Camilla als „aspera virgo“ (Aeneis XI, 664)57 auf der Seite des Turnus gegen Aeneas kämpft, ist Clorinda seit dem ersten Gesang als „pagana“, „bella e guerriera“ (GL S.14f., I, 47–48), also als standhafte Gegnerin der Kreuzfahrer präsent. Dass diese dann in die Position Charikleas eintreten kann, ist einerseits durch Scaligers narratologische Annäherung der Camilla- an die Chariklea-Erzählung vorbereitet, andererseits aber führt von Heliodors Chariklea selbst eine Spur zur Amazone Penthesilea, denn diese kämpft mit Memnon – bei Heliodor Vorfahre des äthiopischen Königs Hydaspes – auf der Seite der Trojaner: Eoasque acies et nigri Memnonis arma. Ducit Amazonidum lunatis agmina peltis Penthesilea furens mediisque in milibus ardet.58
Dass Heliodor Chariklea trotz entsprechender genealogischer Möglichkeiten dennoch nicht zur amazonenhaften Heroine gemacht hat, liegt – abgesehen von der Gattungsdifferenz zum Epos – Histoire-intern an dem Bild, das ihre Mutter bei der Zeugung fixiert hat: das der Jungfrau Andromeda, wie es bei Heliodor ausdrücklich heißt. Diese der antiken Naturphilosophie vertraute Theorie der Telegonie, dass visuelle Eindrücke während der Zeugung oder Schwangerschaft das Aussehen des Kindes bestimmen,59 hat auch zu Tassos Zeiten und darüber hinaus noch Gültigkeit. So schreibt Giambattista della Porta in De magia naturalis 1558: Heliodoro finge la sua bellissima historia da questo principio, che la moglie del re di Etiopia partorì Charichia sua figlia bianca, per esse nella sua camera, dove col marito giaceva, la favola dipinta in un quadro di Andromeda.60 55 Scaliger: Poetices libri septem (Anm. 14). Bd. III, S. 22 (Buch 3, Kap. 95: Praecepta in unoquoque genere poematum. Heroica). 56 So Guastavini in Tasso: La Gerusalemme liberata (Anm. 18), S. 19, zu GL XII, 35: Da Virgilio nel 11. dell’Eneide, la dove Metabo con la piccola bambina Camilla sua figliola fuggiva la persecuzione de’Volsci. 57 Vergil: Aeneis. Hg. von Johannes Götte. München, Zürich 1983, S. 492. 58 Ebd., S. 32 (Aeneis I, 489–491) 59 Siehe dazu etwa Bettenworth: Die doppelte Andromeda (Anm. 27), S. 193–196, ausführlich Max Küchler: Schweigen, Schmuck und Schleier. Freiburg, Göttingen 1986, S. 445–455, ferner Jochen Schulte-Sasse: Einbildungskraft/Imagination. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. von Karlheinz Barck. Stuttgart, Weimar 2001. Bd. II, S. 88–120, hier S. 95–98, und im vorliegenden Band den Beitrag von Judith Hindermann: Die Naturalis Historia des Älteren Plinius und das mirabile der Zeugung Charikleas. 60 Giambattista Della Porta: Della magia naturale di Signor Gio. Battista della Porta Napoletano libri XX, tradotti dal Latino in volgare (…) dal Signor Pompeo Sarnelli. Napoli: Antonio
‚Male o bene, non so‘. Torquato Tasso und Heliodors Aithiopika
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Wenn Clorinda anders als Chariklea Jungfrau und Kriegerin ist, dann kann Tasso das mit Scaliger und Vergil nicht nur intertextuell und mit Heliodor genealogisch, sondern nun auch auf der Histoire-Ebene der Gerusalemme liberata naturphilosophisch begründen: Das Schlafzimmer der namenlosen Mutter Clorindas ist geschmückt mit dem Bild der „vergine, bianca il bel volte e le gote“ und des „cavalier“, der den Drachen tötet (GL S.274, XII, 23). Anders als Charikleas Mutter Persinna, die bei der Zeugung ausschließlich auf „das Bildnis der nackten Andromeda“ blickt,61 sind bei Tasso beide Figuren, Jungfrau und Ritter, gleichermaßen Quelle der Telegonie Clorindas, die so „vergine“ und „guerrera“ – und als Schützling des Heiligen Georg prädestiniert zur Erlösung – ist. Indem Arsete Clorinda gleichzeitig ihre königliche wie christliche Herkunft offenbart, doppelt Tasso die bei Heliodor einfache Anagnorisis und hebt sie auf die Ebene des Genus grande, gehört für ihn doch die „agnizione, cioè un passar da l’ignoranza a la notizia di persone prima conosciute e poi dimenticate, o sia semplice come quello d’Ulisse“ zum Grundbestand von Tragödie wie Poema eroico.62 Rückgebunden an die historische Untermauerung durch Alvarez’ Reisebeschreibung tilgt Tasso den fabulösen Charakter der Heliodorschen Herkunftsgeschichte Charikleas und kann ihr klassizistisch transformiertes und den Traditionsbeständen des Vergilischen Epos wie des aristotelisch geprägten Poema eroico bis zur Unkenntlichkeit angepasstes Grundgerüst zum integralen Bestandteil der Gerusalemme liberata machen. Allerdings scheint Tasso mit dem Ergebnis der Transformation dennoch nicht zufrieden gewesen zu sein. Als er mit noch einmal gewachsenen Skrupeln poetologischer wie ideologischer Art63 an die Revision der Gerusalemme liberata zur Gerusalemme conquistata (1593) ging, scheint es ihm wichtig gewesen zu sein, die Aithiopika-Bezüge noch unkenntlicher zu machen und noch enger an die verbürgte Geschichtsschreibung heranzuführen, ganz im Sinne der eigenen Programmatik der
Bulifon, 1677, S. 73 (II, xx). Die Telegonie-Thematik in der Clorinda-Episode ist zwar für Kommentatoren des frühen 17. Jahrhunderts wie F. Birago: Dichiarationi et Avertimenti Poetici, Istorici, Politici, Cavallereschi, Morali sulla Gerusalemme Conquistata del Signor Torquato Tasso. Mailand: Benedetto Somasco, 1616, S. 369, selbstverständlich, doch in der modernen Forschung erst von Ranieri Varese: Clorinda nata dalla ‚imaginazione‘. In: Torquato Tasso e la cultura estense. Bd. II. Hg. von Gianni Venturi. Florenz 1999, S. 801–814, wiederentdeckt worden. Daran anknüpfend finden sich weitere Belege für die Akzeptanz der Telegonie vom 16. bis 18. Jahrhundert bei Scharold: Vom Wunderbaren zum Phantas(ma)tischen (Anm. 29), S. 416–418, mit anschließenden Überlegungen zur Bildverwendung in Tassos Clorinda-Episode. Parelli kommt in Unkenntnis naturphilosophischer Telegonie zu dem Schluss, Clorinda sei durch eine Art ‚immaculata conceptio‘ als weißhäutiges Kind geboren, siehe Antonella Parelli: La ‚divina‘ Clorinda. In: Studi Tassiani XXIX (1991), S. 45–76. Zur nachantiken Nachwirkung Franz K. Stanzel: Telegonie – Fernzeugung: Macht und Magie der Imagination. Wien u.a. 2008. 61 Heliodor: Die Abenteuer der schönen Chariklea (Anm. 26), S. 76. 62 Tasso: Scritti sull’arte poetica (Anm. 19), S. 163. 63 Zu den poetologischen wie ideologischen Grundlagen der Revision siehe Claudio Gigante: Tasso. Rom 2007, S. 346–385.
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Gerusalemme-Revision: „Per questa ragione io, nella riforma della mia favola, cercai di farla più simile al vero, che non era prima, conformandomi in molte cose all’istoria“.64 Abgesehen von der kompletten Streichung der Episode von Olindo und Sofronia, die stark an die drohende Tötung Charikleas und Theagenes’ durch Arsake65 erinnert, tilgt er in der Revison des XII. Gesangs der Liberata (der zum XV. der Conquistata wird) den Ariost-Bezug, indem er den Namen „Senapo“ durch „David“66 ersetzt und damit die Rolle des tatsächlichen, historischen Herrschers der äthiopischen Dynastie der Salomoniden, wie von Alvarez benannt, herausstreicht.67 Zum anderen tilgt oder verwischt Tasso erkennbare Details des antiken Romans: Arsete bringt Clorinda nicht mehr – wie Charikles in der Aithiopika oder Arsete in der Liberata – nach Ägypten, sondern über „Thebe a Cirene“68, so dass der Ägypten-Bezug verschleiert wird. Und schließlich: Wo Arsete in der Liberata auf der Flucht zwischen einer Räuberbande und einem Fluss eingeschlossen wird (GL S.277, XII, 34), steht er in der Conquistata „quinci da l’acque (…), quinci dal rio“.69 Tasso hat auf die Räuber möglicherweise deshalb verzichtet, weil er in ihnen ein typisches Element des hellenistischen Liebesromans, mit dem Heliodor immer wieder das happy ending der Liebenden aufschiebt, erkannt hat.70 Kurz vor dem Beginn der Karriere Heliodors als Modellautor des barocken Prosaromans zeigen Tassos Gerusalemme liberata wie conquistata in aller Deutlichkeit, welche Schwierigkeiten das renaissance-klassizistische Epos mit dem hellenistischen Liebensroman haben musste und welche umfangreichen Strategien notwendig waren, um – wenn auch begrenzte – Elemente dieser fremden Gattung zu integrieren.
64 Torquato Tasso: Del giudizio sovra la Gerusalemme liberata da lui medesimo riformata. In: Opere di Torquato Tasso colle controversie sopra la Gerusalemme Liberata. Florenz: Stamperia di S.A.R. per li Tartini, e Franchi, 1724. Bd. IV, S. 132 (zitiert nach Varese: Clorinda nata dalla ‚imaginatione‘ [Anm. 60], S. 804). 65 Cfr. Heliodor: Die Abenteuer der schönen Chariklea (Anm. 26), S. 154–166. 66 Torquato Tasso: Gerusalemme conquistata. Hg. von Luigi Bonfigli. Bari 1934, Bd. II, S. 53. 67 Die Vorgeschichte Clorindas wird also anders als Varese: Clorinda nata dalla ‚imaginatione‘ (Anm. 60), S. 803, und Staudacher: Volendo far la favola affettuosa (Anm. 29), S. 356, in der Gerusalemme conquistata durchaus modifiziert. 68 Tasso: Gerusalemme conquistata (Anm. 66), Bd. II, S. 56. 69 Ebd., S. 56 (XV, 34). 70 Zur Funktion der Räuber im antiken Liebesroman siehe Holzberg: Der antike Roman (Anm. 7), S. 21, und als Element der Abenteuer-Zeit Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt a. M. 1989, S. 11.
DIE AITHIOPIKA IM ITALIENISCHEN ROMAN DES 17. JAHRHUNDERTS1 Guido Arbizzoni Nach einer kurzen Zeit großer Beliebtheit geriet der italienische Barockroman schnell in Vergessenheit und wurde aus dem Kanon literarischer Gattungen ausgeschlossen: bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwähnt Girolamo Tiraboschi in seiner viele zweit- und drittrangige Autoren berücksichtigenden Storia della letteratura die Romane des 17. Jahrhunderts lediglich, um deren Ausschluss aus seinem Kanon kundzutun. Darunter war auch der einzige Roman, von dem er nur seines europaweiten Erfolgs wegen spricht, was ihn allerdings des negativen Urteils nicht enthebt: Cominciò anche in questo secol l’Italia ad essere inondata da infiniti romanzi, ma tutti scritti secondo l’infelice gusto che allora regnava. Io perciò non gitterò il tempo nel ragionarne, e solo dirò di uno nulla miglior degli altri, e che nondimeno tra gli stranieri, che talvolta insultano al reo gusto degl’Italiani, fu accolto con plauso, e anche nel nostro secolo è stato più volte tradotto. Esso è il Caloandro fedele di Giannambrogio Marini […]2
Mehr als ein Jahrhundert später erscheint Romanzieri e romanzi del Cinquecento e del Seicento des Carducci-Schülers Adolfo Albertazzi.3 Er untersucht – eigene 1 2
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Ich bin Frau Elsbeth Gut Bozzetti (Università di Urbino Carlo Bo) für ihre Übersetzung des Textes aus dem Italienischen sehr dankbar. Das Zitat ist Teil einer Ergänzung zu Buch 3, Kap. IX, die erst in der „vom Autor revidierten und ausgearbeiteten zweiten Auflage des Werks“ erscheint („seconda edizione modenese riveduta corretta ed accresciuta dall’autore“, Modena: Presso la Società tipografica, 1787–1794). Ich zitiere aus Girolamo Tiraboschi: Storia della letteratura italiana. Bd. IV. Milano: Per Nicolò Bettoni e comp., 1833 S. 570. Mir scheint symptomatisch, dass in der ersten Auflage des Werks (Modena: Presso la Società tipografica, 1772–1782) der barocke Roman nicht einmal einer solchen abwertende Bemerkung für würdig gehalten wird. Adolfo Albertazzi: Romanzieri e romanzi del Cinquecento e del Seichento. Bologna 1891. Mit folgenden Worten schlägt Giosuè Carducci die Arbeit von Albertazzi für den Vittorio-Emanuele-Preis vor: „Il dottor Adolfo Albertazzi […] ha con ricerche nuove e sue affrontato una materia del tutto intentata, o solo toccata di passaggio, nelle storie letterarie. […] La parte più rilevante del libro è la seconda, perché nel Seicento la copia dei romanzi è grande […] e l’Albertazzi dà notizie bibliografiche, che poco lasciano a desiderare, di 79 narratori e di 148 narrazioni romanzesche a stampa. […] Da questo riferimento chiunque abbia conoscenza anche lieve della letteratura italiana, intende subito che l’Albertazzi ha da vero, ciò che oggi dicesi spesso e non sempre molto propriamente, riempito una lacuna della storia letteraria nostra. Chi legga poi il libro di lui e ripensi come i romanzi specialmente del secolo decimosettimo non si trovino facilmente, né anche nelle più ricche biblioteche dello stato e siano di ponderosa lettura, quegli potrà equamente giudicare il valore dell’opera laboriosa, coscenziosa ed onesta di questo
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schriftstellerische Ambitionen den geschichtlichen und philologischen Studien unterordnend – eine Vielzahl unbekannter und vergessener Autoren im Umkreis einer Gattung der italienischen Literatur, die noch Asor Rosa als „in jenen zwei Jahrhunderten alles andere als ergiebig“4 bezeichnen wird. Der Ansatz einer neugierigen Bestandsaufnahme von Fundstücken, die ungeachtet abstrakter Betrachtungen hinsichtlich ihrer Qualität in sich gerechtfertigt waren, entledigte sich im übrigen nie einer Haltung ironischer Überheblichkeit gegen die Barockromane, die als Repräsentanten eines hoffnungslos degenerierten Geschmacks angesehen wurden. Erst in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts fasste meines Erachtens eine weniger voreingenommene Lesart Fuß, die der Originalität einer ‚neuen‘ Gattung gegenüber aufgeschlossener war. Ich kann hier natürlich keinen vollständigen bibliographischen Überblick geben, möchte aber zumindest jene verlegerischen Initiativen anzeigen, die mir bedeutend scheinen für ein neues, fachkritisches Interesse am Barockroman und nicht nur an einer generellen Aufwertung des Jahrhunderts. Beginnen möchte ich mit dem Hinweis von Giovanni Getto, in einem Barockroman seien Erzählmotive zu finden, die nicht unwesentliche Züge im Handlungsgeschehen der Promessi sposi angeregt haben könnten (wenn sie nicht sogar das ‚Manuskript‘ darstellen, von dem in der Introduzione von Manzonis Roman die Rede ist);5 anzuzeigen ist sodann die umfassende Studie zum Romanzo veneto nell’età barocca6, die eine Aufteilung der Gattung nach geografischen Eigenheiten einleitete und später in Davide Conrieris weit ausholendem Beitrag zum ligurischen Roman7 ein pendant fand. Zu nennen sind weiters: das dem neuen Seicento gewidmete Kapitel von Martino Capucci im Verlag Vallardi8 (1966); das breit angelegte Profil zum Roman von Claudio Varese im Band Seicento der Storia della letteratura italiana in der Edition Garzanti9; die von Albert N. Mancini erstellte Bibliographie, wesentlicher Beitrag zur Definition des Originaltexte, Übersetzungen in
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giovine scrittore“ (Ceneri e faville. Serie terza. Bologna 1942 [Edizione Nazionale delle Opere di Giosué Carducci, XXVIII], S 169–71). Die Studie wird später umgearbeitet und verdichtet zu Kapitel zwei und drei des ersten Teils von Adolfo Albertazzi: Il romanzo. Milano (1902), S. 39–134. Alberto Asor Rosa: Albertazzi, Adolfo. In: Dizionario biografico degli Italiani. Bd. I. Roma 1960, S. 671. Giovanni Getto: Echi di un romanzo barocco nei Promessi sposi. In: Lettere italiane 12 (1960), S. 141–167; es handle sich um den Roman von Pace Pasini: Historia del cavalier perduto. Venezia: Per Francesco Valvasensis a istantia delli Turrini, 1644. Zuerst veröffentlicht im Sammelband: Barocco europeo e Barocco veneziano. Hg. von Vittore Branca. Firenze 1963, S. 177–204; Giovanni Getto: Barocco in prosa e in poesia. Milano 1969, S. 319–348. Davide Conrieri: Il romanzo ligure dell’età barocca. In: Annali della Scuola Superiore Normale di Pisa. Classe di Lettere e Filosofia. 3, 4 (1974), S. 925–1139. Martino Capucci: La prosa narrativa. In: Il Seicento. Hg. von Carmine Jannaco, Martino Capucci. 2. Auflage. Milano 1966, S. 475–536. Claudio Varese: Teatro, prosa, poesia. In: Storia della letteratura italiana. Bd. V: Il Seicento. Hg. von Emilio Cecchi, Natalino Sapegno. Milano 1967, S. 519–928. Speziell zum Roman S. 619–761.
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Fremdsprachen, italienische Übersetzungen fremdsprachiger Romane umfassenden corpus10; die Anthologie von Martino Capucci, ein nachgerade kühnes Unterfangen, denn sollte es eine Gattung geben, die nicht in Einzelteile zerstückelt werden kann ohne Gefahr zu laufen, den Sinnzusammenhang des Erzählmechanismus einzubüßen, ist es die des Barockromans; dennoch erfüllt die Anthologie11 den Zweck, Neugier und Aufmerksamkeit zu wecken; die Studie von Marco Fantuzzi, die anhand der Trilogien von Giovan Francesco Biondi und Girolamo Brusoni12 die barocken Erzählmechanismen exemplifiziert; ein Sammelband mit Aufsätzen von Alberto Mancini13; ein von Marco Santoro14 herausgegebener Sammelband und schließlich die Beiträge einer 1985 in Lecce abgehaltenen Studientagung.15 In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts scheint der Forschungseifer hinsichtlich des Barockromans zu erlahmen; im Gegenzug erlauben die inzwischen gesicherten literaturkritischen Erkenntnisse neue Ausgaben vollständiger Texte, bis hin zu dem ozeanischen Roman, den bereits Tiraboschi als den in ganz Europa erfolgreichsten erwähnte.16 In dieser Bibliographie taucht immer wieder der Name Heliodor auf, wenn auch meist in allgemeinen Zusammenhängen und unterschiedslos unter die Autorennamen der überkommenen antiken Romane gemischt, die zusammen mit der neueren Tradition des epischen Ritterromans als Vorbilder des neuen Prosa-Romans genannt werden.17
10 Albert Mancini: Il romanzo del Seicento. Saggio bibliografico. In: Studi Secenteschi 11 (1970), S. 205–274 und 12 (1971), S. 443–498. 11 Romanzieri del Seicento. Hg. von Martino Capucci. Torino 1974. 12 Marco Fantuzzi: Meccanismi narrativi nel romanzo barocco. Padova 1975. Die ‚Muster‘, auf denen die Untersuchung basiert, sind Giovan Francesco Biondi: L’Eromena. Venezia: Appresso Antonio Pinelli, 1624; ders.: La donzella desterrada. Venezia: Appresso Antonio Pinelli, 1627; ders.: Il Coralbo. Venezia: Appresso Gio. Pietro Pinelli, 1632 sowie Girolamo Brusoni: La gondola a tre remi. Venezia: Per Francesco Storti, 1657; ders.: Il carozzino alla moda. Venezia: Appresso Gio. Recaldini, 1658; ders.: La peota smarrita. Venezia: Per Gasparo Storti, 1662. 13 Albert N. Mancini: Romanzi e romanzieri del Seicento. Napoli 1981. 14 La più stupenda e gloriosa macchina. Hg. von Marco Santoro. Napoli 1981 (Mit Beiträgen von Martino Capucci, Davide Conrieri, Franco Lanza, Albert N. Mancini, Marco Santoro). 15 Sul romanzo secentesco. Atti dell’Incontro di studio di Lecce (29 novembre 1985). Hg. von Gino Rizzo. Galatina 1987 (Mit Beiträgen von Alessandro Marchi, Davide Conrieri, Gino Rizzo, Martino Capucci, Laura Coci, Marzio Pieri, Mario Proto, Antonio Mangione). 16 Giovanni Ambrogio Marini: Il Calloandro fedele. 2 Bde. Hg. von Anna M. Pedullà. Alessandria 2011–2012. Von den vorherigen modernen Editionen vollständiger Romane seien erwähnt: Girolamo Brusoni: La gondola a tre remi. Hg. von Franco Lanza. Milano 1971; Federico Donno: L’Amorosa Clarice. In: Federico Donno: Opere. Hg. von Gino Rizzo. Lecce 1979, S. 197–312; Giuseppe Artale: Il Cordimarte. Hg. von Marzio Pieri. Parma, Università degli studi – Archivio barocco 1990; Luca Assarino: La Stratonica. Hg. von Roberta Colombi. Lecce 2003; Ferrante Pallavicino: Il principe ermafrodito. Romanzo. Hg. von Enrico Maria Guidi. Urbino 1991; Ferrante Pallavicino: Il principe ermafrodito. Hg. von Roberta Colombi. Roma 2005. 17 Vgl. Quinto Marini: La prosa narrativa. In: Storia della letteratura italiana. V: La fine del Cinquecento e il Seicento. Roma, Salerno 1997, S. 1024.
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Es empfiehlt sich also zurückzugehen bis auf die Zeit, in der die Gattung noch lebte, und zunächst zu dem wichtigsten theoretischen Text zum Barockroman, der Lettre von Pierre-Daniel Huet.18 Hier, in der Frühgeschichte des modernen Romans, genießen die Aithiopika von Heliodor größtes Prestige: Heliodor hat seine Vorgänger übertroffen, schreibt Huet, dans la disposition du sujet, comme en tout le reste. Jusqu’alors on n’avoit rien veu de mieux entendu, ni de plus achevé dans l’art romanesque, que les aventures de Theagene et de Cariclée. […] On y remarque beaucoup de fertilité et d’invention. Les évenemens y sont frequens, nouveaux, vray-semblables, bien arrangez et bien débrouïllez. Le dénouëment en est admirable; il est naturel, il sort du sujet et rien n’est plus touchant, ni plus pathetique.19
Die größten Vorbehalte äußert er bezüglich des Stils: zwar wird er von Photios gelobt, Huet jedoch findet ihn „trop affecté, trop figuré et trop poëtique. Il se plaist dans les descriptions; il s’y jouë et n’en peut sortir“.20 Schlussendlich aber hat Heliodors Roman servi de modele à tous les faiseurs de romans, qui l’ont suivi et on peut dire aussi veritablement qu’ils ont tous puisé à sa source, que l’on a dit que tous les poëtes ont puisé à celle d’Homere.21
Auf einen italienischen Blick zurückkehrend (die enge Verflechtung zwischen italienischem und französischem Barockroman ist bekannt und durch viele wechselseitige Übersetzungen erwiesen) stellen wir fest, dass Francesco Saverio Quadrio in seinem Vorhaben einer universellen Systematisierung der Literaturen aller Zeiten und Länder den Wortlaut Huet’s in Bezug auf den Roman von Heliodor unverändert übernimmt. Seine Storia e ragione d’ogni poesia (1739–52) widmet eine Sektion der Gattung ‚Roman‘ (unter die jede Form ‚langer‘ Erzählung fällt, sei sie in Versen oder in Prosa), der urspünglich als Interpret der Ritterwelt galt, deren Gestalten sich der ritterlichen Sendung folgend die Aufgabe stellen, difendere gli oppressi, le vedove, gli orfani, le dame, di procurare la libertà de’ cammini e la distruzion della tirannia e di abbattere per fine e sterminare que’ ridotti o castelli che servivano di ritirata a’ cattivi.22
Im Lauf der Zeit hätten sich dann unziemliche Themen in den Roman eingeschlichen: Nel vero e’ bisogna confessare che in una gran parte di essi, così in greca lingua che d’ogni altra nazione composti, poco riguardo si ha avuto all’onestà de’ costumi per quella malizia de’ tempi ne’ quali nacquero. Onde furono a ragione accusati d’ispirare sregolate passioni e di 18 Lettre de Monsieur Huet à Monsieur De Segrais de l’origine des romans. 2. Auflage. Paris: Chez Sebastien Mabre-Cramoisy, 1672 (Die erste Ausgabe wurde 1670 gedruckt als Vorwort zu: Zaïde, histoire espagnole par M. de Segrais [Madame de la Fayette] avec un Traité de l’origine des romans par M. Huet. II Bde. Paris: Claude Barbin 1670–1671). Dessen moderne italienische Übersetzung: Trattato sull’origine dei romanzi. Hg. von Ruggero Campagnoli, Yves Hersant. Torino 1977. 19 Lettre de Monsieur Huet (Anm. 18), S. 52–54. 20 Ebd., S. 55. 21 Ebd. 22 Francesco S. Quadrio: Della storia e della ragione d’ogni poesia. IV. Milano: Nelle stampe di Francesco Agnelli, 1749, S. 306–307.
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corrompere sovente assai l’innocenza. […] Bisogna però ancor dire il vero: hacci ancor de’ romanzi, massimamente moderni, dove non un’espressione si troverebbe, che ferir potesse le più caste orecchie, né un’azione vi sarebbe descritta che offender potesse il più guardingo pudore. Bensì sono essi indiritti ad insegnare per tutto nelle favolose storie che ci raccontano, come al vero valore una sincera religione accompagnar si debba, dalla divina beneficenza precisamente le felici vittorie e le guadagnate lodi riconoscendo e non da propria virtù, e come verso ciascuno si debbe ognora lealtà, carità e pietà usare.23
Angesichts dieser Ausgangslage wird verständlich, dass in einer systematischen Sichtung der einzelnen, dieser Gattung und ihren Untergruppierungen zuzuschreibenden Texte in der Aufzählung der „scrittori de giusti romanzi amorosi“24 Heliodors Aithiopika unter den griechischen Romanen ein Ehrenplatz eingeräumt wird und dass er, Huet’s Wortlaut (einschließlich der Parallele zu Homer) zitierend, hochgelobt und vor dessen Bemerkungen zum Gebrauch der Maschinerien und eines zu blumigen Stiles in Schutz genommen wird.25 Nach der Inhaltsangabe unterstreicht Quadrio seine Qualitäten als „romanzo […] leggiadro in uno ed onesto e pieno d’ottimi ammaestramenti“, der es verdiene, nicht nur in der Originalsprache verbreitet zu werden.26 Es folgt eine Auflistung der Übersetzungen ins Lateinische und in die wichtigsten europäischen Sprachen. Der Erfolg der Aithiopika zur Zeit des Barockromans speist sich aus den Übersetzungen in die Nationalsprachen, der von Jacques Amyot ins Französische27, von Leonardo Ghini „con molta eccellenza“28 ins Italienische.29 Während die italienische Übersetzung ohne theoretische Paratexte erscheint, ist der Übersetzung von Amyot eine wichtige und ausgiebig analysierte30 Prämisse vorangestellt, aus der es sich lohnt, einige Anregungen zu referieren. Heliodors Roman wird zunächst dargestellt als Vorbild einer Lektüre zur ‚Zerstreuung‘, von der eine ideale Menschheit eher absehen sollte, ohne die die reale Menschheit aber nicht
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Ebd., S. 322. Ebd., S. 410. Ebd., S. 413. Ebd., S. 415: „Come fu impresso di fatto in Basilea nel 1534, in 4°, nella stamperia Hervagiana, colla prefazione di Vincenzo Obsopeo, che lo aveva riscattato da un soldato il quale lo aveva rubato nel saccheggiare la Biblioteca del re Mattia Corvino“. L’histoire Aethiopique de Heliodorus, contenant dix livres, traitant des loyales et pudiques amours de Theagenes thessalien et Chariclea Aethiopienne, Nouvellement traduite de grec en françoys. Paris: pour I. Longis Libraire [colophon: imprimé à Paris, par Estienne Groulleau], 1547. Kommentierte Neuedition: Héliodore: L’Histoire Aethiopique. Traduction de Jacques Amyot. Édition critique établie, présentée et annotée par Laurence Plazenet. Paris 2008. Quadrio: Della storia e della ragione (Anm. 22), S. 416. Historia di Heliodoro delle cose etiopiche. Nella quale fra diversi, compassionevoli avenimenti di due amanti, si contengono abbattimenti, discrittioni di paesi, e molte altre cose utili e dilettevoli a leggere. Tradotta dalla lingua greca nella thoscana da messer Leonardo Ghini. Venezia: Appresso Gabriel Giolito de’ Ferrari, 1556. In Italien z.B. Sergio Cappello: La prefazione di Amyot all’Histoire Aethiopique di Eliodoro. In: Studi in memoria di Giorgio Valussi. Alessandria 1992, S. 125–146. Im Appendix der Text des Vorwortes. Cfr. M. Fumaroli: L’âge de l’éloquence. Rhétorique et ‚res literaria‘ de la Renaissance au seuil de l’époque classique. 3. Auflage. Genève 2003, S. 495.
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auskomme, denn in Momenten besonderer geistiger Anspannung könne es von Nutzen sein user de quelque divertissement pour le destourner de ses tristes pensées, ou bien de quelque refrechissement pour puis après le remettre plus alaigre et plus vif à la consideration ou action des choses d’importance.31
Unter diesen Büchern, die angesichts der menschlichen Schwachheit von Nutzen sind, heben sich die Aithiopika durch eine Reihe von Qualitätsmerkmalen von den neuerdings zur ‚Unterhaltung‘ auf französisch geschriebenen Büchern ab, denn sie seien si mal cousuz et si esloignez de toute vraysemblable aparence qu’il semble que ce soient plutost songes de quelque malade resuant en fievre chaude, qu’invention d’aucun homme d’esprit et de iugement.32
Hingegen bereite die Geschichte der Liebe zwischen Chariklea und Theagenes ein nicht ganz nutzloses Vergnügen, denn der Leser finde darin oultre l’ingenieuse fiction […] de beaux discours tirez de la philosophie naturelle et morale, force ditz notables et propoz sentencieux, plusieurs belles harengues où l’artifice d’eloquence est très bien äemployé et partout les passions humaines paintes au vif avec si grand honnesteté que l’on n’en sçauroit tirer occasion ou exemple de mal faire.33
Und endlich gebe es eine originelle Disposition des Erzählstoffes car il commence au milieu de son histoire, comme font les poëtes heroiques: ce qui cause de prime face un grand esbahissement aux lecteurs et leur engendre un passioné desir d’entendre le commencement et toutesfois il les tire si bien par l’ingenieuse liaison de son conte que l’on n’est point resolu de ce que l’on trouve tout au commencement du premier livre iusques a ce que l’on ait leu la fin du cinquiesme. Et quand on en est la venu, encore a l’on plus grande envie de voir la fin, que l’on n’avait auparavant d’en voir le commencement, de sorte que tousiours l’entendement demeure suspendu, iusques à ce que l’on vienne à la conclusion, la quelle laisse le lecteur satisfait, de la sorte que le sont ceux qui à la fin viennent à iouir d’un bien ardemment desiré et longuement atendu.34
Neben diesen Vorzügen merkt Amyot den seiner Meinung nach einzigen Makel von Heliodors Roman an, nämlich das Fehlen der grandeur, denn der männliche Held Theagenes vollbringe nie heroische Taten, „nuls memorables exploits d’armes“.35 Man ist geneigt zu sagen, Amyots Worte enthalten bereits in nuce das Rezept künftigen Erzählens: die dispositio von Heliodors Roman angewandt auf eine inventio, die weniger ausschließlich ‚amorosa‘ ist und für den Helden auch die Zurschaustellung kriegerischer und politischer Fähigkeiten vorsieht. Wenn dem als Vergleichspunkt die Ritterromane gegenüberstehen, müsste deren kriegerischer Stoff von allem Wunderbaren, Magischen und Fantastischen befreit und nach einer 31 32 33 34 35
L’histoire Aethiopique (Anm. 27), c. A2r. Ebd., cc. A2v-A3r. Ebd., c. A3r. Ebd. Ebd.
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auf Achronie und flash back statt auf Verkettung vieler Erzählfäden (entrelacement) basierenden Organisation behandelt werden. Andererseits scheint die dispositio von Heliodors Roman in den Poetiktraktaten durchgängig mit der des Heldenepos’ gleichgesetzt zu werden, vor allem was den Auftakt in medias res angeht: So z.B. in den Poetices libri septem von Giulio Cesare Scaligero, die 1561 zum ersten Mal in Lyon erschienen. Hier lesen wir in Kapitel 95 von Buch III, in dem die praecepta in unoquoque genere poematum dargestellt werden, beginnend bei den heroica: Nequaquam ab ovo ut monet Horatius incipiendum. Hoc primum praeceptum esto […]. Altera lex: non recto tramite ducendam narrationem, ne taedium pariatur. […] Hanc disponendi rationem splendidissimam habes in Aethiopica historia Heliodori. Quem librum epico poetae censeo accuratissime legendum ac quasi pro optimo exemplari sibi proponendum.36
In ähnlicher Weise spricht auch Tasso von einer Wechselbeziehung zwischen Heldengedicht und Heliodors Roman, ganz allgemein in den Discorsi del poema eroico37, detaillierter in der an Scipione Gonzaga gesandten lettera poetica, die er während der römischen Überarbeitung der Gerusalemme Liberata verfasste. Darin erwähnt er das Vorbild Heliodor nicht nur bezüglich der spezifischen Nachahmung einer Episode, sondern vor allem im Hinblick auf allgemeinere Fragen des Aufbaus der Erzählung: Il lasciar l’uditor sospetto, procedendo dal confuso al distinto, dall’universale a’ particolari, è arte perpetua di Virgilio; e questa è una delle cagioni che fa piacer tanto Eliodoro, et è molte volte usata (male o bene, non so) in questo libro. Siale ora per essempio Erminia, della quale e de gli amori della quale s’ha nel terzo canto alcuna ombra di confusa notizia; più distinta cognizione se n’ha nel sesto; particolarissima se n’avrà per sue parole nel penultimo canto, che s’io non m’inganno… Ma dove trascorro? Vostra Signoria il vedrà.38
In seinem Kommentar zur Poetica des Aristoteles schreibt Paolo Beni wiederum den ordo artificiosus der Aithiopika der Nachahmung Homers zu: Nec fortasse alia de causa Heliodorus in Aetiopica historia (ut nomine tenus est historia, re accedit ad fabulam) eundem artificiosum ordinerm coluit, nisi ut Homerum imitaretur.39
Zugrunde liegt dem allem ganz offensichtlich das Gebot der Ars poetica des Horaz: nec gemino bellum Troianum orditur ab ovo: semper ad eventum festinat et in medias res non secus ac notas auditorem rapit.40
36 Ich zitiere aus: Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band III. Hg., übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Luc Deitz. Stuttgar, Bad Cannstatt 1995, S. 20–22 (Buch 3, Kap. 95: Praecepta in unoquoque genere poematum. Heroica). 37 Torquato Tasso: Discorsi dell’arte poetica e del poema eroico. Hg. von Luigi Poma. Bari 1964, S. 108. 38 Torquato Tasso: Lettere poetiche. Hg. von Carla Molinari. Milano, Parma 1995, S. 80–81. 39 Pauli Benii […] In Aristotelis poeticam commentarii. Venetiis: Apud Io. Guerilium, 1622, S. 194. 40 Horaz: Ars poetica, 147–149.
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Diese Zitate zeigen, dass vom Gesichtspunkt der dispositio aus kein Unterschied gemacht wird zwischen Prosa- oder Verserzählung, wie Aristoteles nahelegt, demzufolge Poesie aus der Nachahmung resultiert und nicht aus dem Vers. Die generelle Angleichung zwischen incipit in medias res des Heldenepos und incipit von Heliodors Roman, die laut Scaligero und Tasso perfekt deckungsgleich scheinen, ist einige Bemerkungen wert. Zunächst: das Heldenepos sieht eine Protasis mit Vorankündigung des Themas vor: Es ist nicht unwichtig, von Anfang an zu wissen, dass die Rede ist von dem ‚Peleiden Achilleus‘, den ‚Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troia Zerstörung‘41; oder von: ‚Von Krieg singe ich und dem Helden, der als erster von Troias Küste durch Schicksalsspruch, ein Flüchtling, nach Italien kam und zum Gestade Laviniums‘42 oder ‚den Feldherrn sing' ich und die frommen Waffen so des Erlösers hohes Grab befreit‘43. Alle Personen sind, wenn auch durch Paraphrasen gekennzeichnet, sofort erkennbar, jeder Leser kennt zumindest in groben Zügen ihre Taten (und ist daher imstande, die Tragweite der dichterischen Erneuerung der dispositio im Vergleich zur chronologischen Geradlinigkeit der geschichtlichen Erzählung zu bewerten). Die handelnden Personen des Epos oder Ritterromans verfügen über eine Geschichte und vorgegebene Merkmale, und Horaz lehrt, dass diese nicht preisgegeben werden dürfen: si forte reponis Achillem, impiger, iracundus, inexorabilis, acer, iura neget sibi nata, nihil non adroget armis. Sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino. perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes. 44
Heliodors Roman hingegen erzählt von erfundenen Personen, über die niemand etwas weiß, bevor er deren Abenteuer im Roman gelesen hat: Heliodor bemüht sich in keiner Weise um orientierende einleitende Angaben, wodurch er den Leser in dieselbe Lage versetzt wie die Gruppe der Straßenräuber, die von der Anhöhe aus den Weg überwachend plötzlich eine unerwartete Szene beobachten, deren Anlass und handelnde Personen ihnen völlig unbekannt sind (der Leser wird im Verlauf der Erzählung stufenweise mit ihnen vertraut werden, wobei der Autor eine direkte Bekanntmachung schuldig bleibt).45 41 Für die Odyssee benutze ich folgende deutsche Übersetzung: Homer: Odyssee. In der Übertragung von Johann H. Voß. Mit einem Nachw. von Ute Schmidt-Berger. Mannheim 2012. 42 Vergil: Aeneis. Übersetzt und hg. von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart 2012. 43 Torquato Tasso: Das befreite Jerusalem. Übersetzt von Johann D. Gries. Berlin 1855. 44 Horaz: Ars poetica, 120–124. 45 Die Namen der Protagonisten werden vom Autor selbst nicht genannt, dem Leser aber auf indirekte Weise bekannt gegeben. In Paragraph 8 des ersten Buches macht sich die bisher nur als bildhübsches Mädchen bekannte junge Frau in der Nacht Luft und klagt über das Unglück, das über sie hereingebrochen ist, und ruft, in Angst vor Zukünftigem: „Ma se alcuno vorrà disonestamente di me godere, quel che non ha mi ha fatto pur Teagene, io con un laccio mi torrò davanti a tal vituperio“. Erst an diesem Punkt kann der Erzähler den Protagonisten beim Namen nennen, ihn antworten lassen und den Namen der Heldin bekannt geben: „Teagene l’interrompe dicendo: ‚Deh taci dolce vita mia Carichia ...‘“ und so den Leser darüber informieren, dass es
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Ein solches incipit wird einige Zeit später von Udeno Nisiely (Benedetto Fioretti) mit Zensur belegt: sì egregio scrittore forma un principio al suo libro tanto improviso, anzi ex abrupto, e senz’alcuno preambulo e alcuna preparazione conciliatrice di benevolenza o di attenzione o di docilità, sicché rimango stupito di tale inavedutezza e mal soddisfatto di simil cominciamento.46
Darin klingt die Erinnerung an eine rethorische Vorschrift an, die zum Beispiel von Quintilian aufgenommen und wiederholt wurde: Causa principii nulla alia est, quam ut auditorem, quo sit nobis in ceteris partibus accomodatior, praeparemus. Id fieri tribus maxime rebus inter auctores plurimos constat, si benevolum, attentum, docilem fecerimus.47
Wenige Seiten weiter, das positive Urteil von Adrien Turnèbe über die dispositio des Stoffes in Heliodors Roman zitierend, schlägt Fioretti eine feinere Unterscheidung vor: Se ragiona della semplice narrazione o della disposizione, io gli renunzio la disputa, se del puro principio i poeti anch’essi conforme al nostro prescritto stabilimento, prima dolcemente propongono e invocano e dopo simili preoccupazioni preparatorie e lusinghiere procedono alla narrazione, il qual ordine manca in Eliodoro,48
wobei er präzisiert, dass die anderen antiken Romanautoren sich korrekter verhalten haben: più nobilmente e più aggradevol principio inventarono gli altri, Achille Tazio, Eustazio, Longo Sofista, Apuleio49
Diese Art incipit, absolut originell auch im Vergleich mit anderen antiken Romanen, erscheint als charakterisierendes Merkmal von Heliodoros Roman und seine Wiederaufnahme kann als deutlicher Hinweis auf die Wahl eines narrativen Vorbildes betrachtet werden. In der Geschichte des europäischen Barockromans, vor allem des französischen und des italienischen, spielt der Roman Argenis von Barclay eine wichtige Mittlerrolle. Zum ersten Mal im Jahr 162150 in lateinischer Sprache herausgegeben, war er einer der größten editorischen Erfolge, sowohl in unzähligen Druckausgaben der lateinischen Originalfassung, als auch in zahllosen Übersetzungen in die europäischen Hauptsprachen (auf Italienisch in den zwei konkurrierenden Fassungen von
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sich um ein keusches Liebespaar handelt (Zitate aus der Übersetzung von Ghini, Historia di Heliodoro delle cose ethiopiche [Anm. 29], S. 11). Proginnasmi poetici di Udeno Nisieli. Bd. IV. Firenze: Nella stamperia di Zanobi Pignoni, 1638, S. 53. Quintilian: Institutio oratoria, 4, 1, 5. Proginnasmi poetici (Anm. 46), S. 53. Ebd. Ioannis Barclaii: Argenis. Parisiis: apud Nicolaum Buon, in Via Iacobæa, sub signis S. Caludij, & hominis siluestris, 1621. Zum Verhältis des Argenis zum griechischen Roman ist weiterhin hilfreich: Lice Bardino: L’Argenis’ di John Barclay e il romanzo greco. Palermo 1939.
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Francesco Pona [1629]51 und Carl’ Antonio Cocastello [1630]).52 Hier das incipit, das erkennbar das der Aithiopika nachahmt: Nondum orbis adoraverat Romam, nondum Oceanus decesserat Tibri, cum ad oram Siciliae, qua fluvius Gelas maria subit, ingentis speciei iuvenem peregrina navis exposuit,
in der Übersetzung des Pona lautet er: Non aveva il mondo per anco adorato Roma, né l’Oceano per anco avea cesso gli onori al Tebro, quando a’ confini della Sicilia, dié fuori uno straniero vasello un giovine in sopraumane sembianze, là ’ve appunto il fiume Gela mette capo nel mare...
Wie in Heliodor gibt es eine allgemein gehaltene zeitliche Angabe, eine ins Detail gehende geografische Verortung, ein vollkommen unvorbereitetes Geschehen, in dem bisher unbekannte Personen agieren, deren Identität und Stand sich indirekt, über von anderen Personen gelieferte Informationen im Lauf der Lektüre klären wird. Was den italienischen Barockroman betrifft, soll an einigen Beispielen gezeigt werden, dass sich die Romane, die sich im Ganzen mehr an das Vorbild der Aithiopika anlehnen, sofort an der Typologie des incipit zu erkennen sind. Eine vollkommene Kopie, die sich unmittelbar als poetologische Absichtserklärung erweist, ist das incipit der Dianea von Giovan Francesco Loredano: Non era ancora adorata in Oriente la Luna, né l’imperio dell’Asia aveva ricevuto il comando dalla tirannide d’un solo quando in un’isola del mar Carpazio approdò una rinforzata galea […] si vide di subito uscirne una bellissima donna, che tormentata non so se più dagli incommodi del mare o dalle passioni del cuore a pena poteva esser sostenuta dalle braccia d’un cavaliero che l’accompagnava. 53
Diesem Beispiel können zahlreiche andere Anfänge von Barockromanen zur Seite gestellt werden, wie z.B. der von Erosmando e Floridalba von Prospero Bonarelli: Erano già d’una orribile e procellosa notte poche ore passate, quando […] scopriron da lungi i naviganti all’apparir del sole l’alte cime de’ monti dell’isola disabitata […] e tuttavia costeggiandola s’appresentò alla vista loro, nel voltar d’una punta un lagrimevole spettacolo d’un’altra nave che naufragata pur dianzi stavasi colà sul lido sepolta nella sabbia […]. Qui poscia gettato il palischermo in acqua, scesero in quello alcuni marinari e con essi un vecchio molto onorato con un giovinetto di sedici anni…;54
die Gare de' disperati von Giovan Ambrogio Marini: Giungeva appunto in sul più fervido meriggio il sole, quando l’appassionato Cavalier della Morte […] giunse sull’erto d’un monticello, cui dintorno numerosa schiera di folti pini facea ghirlanda […]. Corse egli col guardo giù per lo colle e spinselo per la pianura, che a piè di
51 L’Argenide di Giovanni Barclaio tradotta da Francesco Pona. Venezia: Per Gio. Salis ad instantia di Paolo Frambotti, 1629. 52 L’Argenide di Giovanni Barclaio tradotta da Carl’ Antonio Cocastello. Torino: Per li HH.di Gio.Domenico Tarino, 1630. 53 Giovan F. Loredano: La Dianea. Venezia: Appresso Giacomo Sarzina, 1635, S. 1. 54 Prospero Bonarelli: Delle fortune d’Erosmando e Floridalba. Bologna: Per Nicolò Tebaldini, 1642, S. 1.
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quello da una parte per lungo tratto si prostendeva. Vide nel mezzo di essa torreggiare ampia cittade…55
oder Cordimarte von Giuseppe Artale: Due cavalieri di ventura, mentre inviavansi verso Crisocera, s’incontrarono nel fiume Eagro che, scendendo dal monte Rodope, corre a terminare il suo viaggio nel muscoso letto apparecchiatogli dall’angusto Bosforo […]. Quivi giunti scorsero che loro era vietato il guado, sì che tenendo il cammino col corso dell’acque incominciavano nuovo sentiero presso la sponda intumidita del fiume, allor che gran fremito d’armi dentro d’una vicina selva risonante loro percosse repentinamente l’orecchio…56
Ich mache auf diesen Anfangstypus aufmerksam und unterscheide ihn, denn er ist nicht der einzig mögliche; andere Romane haben einen langsameren Auftakt, mit unmittelbarer Nennung der Namen der Hauptpersonen und Vorstellung der Ausgangssituation. Dies ist zum Beispiel der Fall in dem Roman, der als der Stammvater der italienischen Mode des Prosaromans gilt, Eromena von Giovan Francesco Biondi: Catalampo, re di Mauritania ebbe da Algidosia, figliuola del re de’ Numidi sua moglie, una bella benché troppo numerosa prole, perché la legge della primogenitura, inviolabile in quel regno, non era liberale a’ secondi nati che della spada e del cavallo. L’ultimo d’essi fu un bambino di estrema bellezza…57
Das schließt aber nicht aus, dass sich in Biondis Roman – insbesondere mit Blick auf die gesamte Trilogie (die bekanntlich La donzella desterrada und Coralbo umfasst)58 – die Erzählfäden um den linear verlaufenden Haupterzählstrang verschlingen und häufig Personen in Nebenhandlungen die Vorgeschichte von Situationen erzählen, in welche die Hauptpersonen geraten (Vorbild der Erzählung ist das Ritterepos, allen voran der Orlando Furioso). Können Biondis drei Romane als ein einziger Erzählstrang aufgefasst werden (dieselben Personen treten in einem sich über Generationen erstreckenden Geschehensablauf auf), so ist zu bemerken, dass der Auftakt des zweiten Romans (La donzella desterrada) voll und ganz dem Heliodorschen Typus zuzuordnen ist: Cedeva la scura notte il campo ad una fosca aurora, lasciandosi in retroguardia per tema del sole i crepuscoli e l’ombre, quando i marinai veduta terra, cangiarono le paure della continovante fortuna in altre d’opinione e d’effetto maggiori. Era la nave dalla lunga ripercussione affatto guasta […]. Trovavasi fra gli altri passeggieri un attempato cavaliere, che venerabile di canutezza e d’aspetto era il solo che fra tente grida era stato cheto…59
Es besteht keine Verbindung zum Ausgang der Eromena, und erst sehr spät wird der Zusammenhang mit dem vorhergehenden Roman ersichtlich, wenn man in dem 55 Giovanni A. Marini: Le gare de’ disperati. Milano: A spese di Gio. Battista e Gioseppe Corvo, 1644, S. 1–2. 56 Giuseppe Artale: Cordimarte. Hg. von Marzio Pieri (Anm. 16). 1. Auflage. Venezia: Per Francesco Storti, 1660, S. 15. 57 Giovan F. Biondi: L’Eromena. Venezia: Appresso Antonio Pinelli, 1624, S. 1. 58 Die Weiterführungen der Eromena: Giovan F. Biondi: La donzella desterrada. Venezia: Presso Antonio Pirelli, 1627; ders.: Coralbo. Venezia: Presso Gio. Pietro Pinelli, 1632. 59 Biondi: La donzella desterrada (Anm. 58), S. 1–2.
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unbekannten, dem Schiffbruch entkommenen Grafen den Gesandten des Königs von Sardinien erkennt, der mit Eromena nach Polimero, der Hauptfigur aus dem ersten Roman, suchen soll: in diesem Fall ersetzt das Erinnern des vorhergehenden Romans die Erzählung der Vorgeschichte in flash back. Natürlich zeigt sich die Anlehnung des italienischen Barockromans an das Vorbild Heliodor nicht nur im Auftakt des Romans. Sie kommt besonders auch in der inneren Strukturierung der Erzählung zum Ausdruck, wo die erzählerischen Kunstgriffe des Griechen sich mit denen aus der Tradition der Ritterepen verbinden. Dies ist der Fall in den episodenhaften Begegnungen, die gelegentlicher Information über die Vorgeschichte bedürfen, was mittels Erzählung innerer Erzähler geschieht, die sich auch vervielfachen und unterschiedliche Versionen des Geschehens geben können. Im Unterschied zu den Ritterromanen betrifft in Heliodor und den am stärksten nach seinem Vorbild ausgerichteten Romanen die vollkommene Unkenntnis der Vorgeschichte vor allem die Hauptpersonen selbst, was dazu führt, dass der Leser mit größter Spannung auf die graduelle Preisgabe der Information wartet und über die unablässigen Launen des Schicksals ins Staunen gerät. Was die Nebenerzählungen betrifft, so denke ich bezüglich der Aithiopika zum Beispiel an die Geschichte von Thisbe, im ersten Buch erzählt von Knemon, dem Opfer ihrer List bis zu dem Punkt, an dem er selbst zum Protagonisten der Erzählung wird und, im weiteren Verlauf, in der Erzählung zweiten Grades, wiederum von Knemon, der jedoch berichtet, was er von anderen gehört hat; dann in direkter Erzählung fortgeführt, als Thisbe ermordet in einer Grotte gefunden wird; die Situation klärt sich dank der Angaben auf einem Täfelchen, das Thisbe bei sich trägt; die Angaben werden ergänzt durch die Erzählung des Termeti, der sich in sie verliebt hat; erst im sechsten Buch, als der Händler Nausikles endlich verrät, dass er der Liebhaber Thisbes war, der sie zur Insel Thyamis gebracht habe, kommt die Erzählung zum Abschluss.60 Einzelne Episoden des Geschehens kehren in vielfachen Erzählungen wieder, in ausführlicher oder geraffterer Form, immer wenn ein neuer Zeuge sie zum Besten gibt (was den Zweck hat, im Interesse des Lesers die Erzählfäden wieder zu verknüpfen). Thisbe wird auch mit anderen Personen verwechselt: zufällig wird sie von Termiti in derselben Grotte versteckt, in der auch Chariklea versteckt war, sodass sie, als ihr Leichnam gefunden wird, zunächst für Chariklea gehalten wird, worüber Theagenes in Verzweiflung gerät. Später wird Chariklea von Nausikles für Thisbe ausgegeben, um sie den Gelüsten Mitranes zu entreißen, und Knemon ist aufs äußerte erschreckt, da er glaubt, seine Widersacherin lebend wiederzufinden.61 Viele Personen der Aithiopika treten unter falschen Namen und Identitäten auf und der Leser lernt nur nach und nach deren jeweiligen Status kennen: angefangen natürlich bei den Protagonisten selbst, die der Leser, ohne ihre wahre Situation zu kennen, gleich als keusche Liebende kennenlernt, wohingegen viele sie für Geschwister halten62; Thyamis selbst, einer der ersten Gegenspieler des Protagonistenpaares, wird für einen Straßenräuber gehalten; dann 60 Die kurze Zusammenfassung bezieht sich auf folgende Passagen: I, 9–17; II, 3–14; VI, 1–3, 8. 61 II, 4 und V, 1–8 62 Als solche geben sie sich bei Thyamis aus (I, 21) und daraufhin bei Arsake (VIII,13).
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wird schrittweise sein edler Charakter erkennbar und man erfährt von seiner priesterlichen Herkunft.63 Fälschungen bezüglich des eigenen Status’ gibt es seitens der Personen, um sich Gefahren und Hinterlist zu entziehen: in dieser Situation befinden sich auch die Protagonisten, als Chariklea vorgibt, den Heiratsplänen Thyamis zuzustimmen und Theagenes darüber in Verzweiflung gerät, da er glaubt, die Geliebte wolle ihn verlassen um sich in Sicherheit zu bringen, was ihm Charikleas Vorwürfe einbringt.64 Es ist also eine Erzählung, deren Handlungsfortgang großteils ihren Figuren anvertraut ist, die sich gegenseitig über den Kenntnisstand jedes einzelnen informieren und den der anderen vervollständigen (was mittels sehr vieler Dialoge geschieht). Auch die weit ausladenden Beschreibungen sind vorwiegend Augenzeugen überlassen, wie im Fall der Prozession der Änianer, über die der zufällige Erzähler Calasiris hinweggehen möchte, während sein Zuhörer Knemon eine genaue Beschreibung einfordert,65 oder der Calasiris in den Mund gelegten wissenschaftlichen Abschweifung über die Überschwemmungen des Nils.66 Des weiteren trifft man auf Erzählungen nach dem Verschachtelungs-Prinzip, so etwa wenn Calasiris zu Beginn der sehr weit ausholenden Rekonstruktion der Vorgeschichte, die sich über die Bücher II bis V erstreckt, die Erzählung des Charicles wiedergibt, der seinerseits das berichtet, was er von der unbekannten Person erfuhr, welche die wunderschöne Chariklea seiner Obhut anvertraut hat. Mit dem fünften Buch und Calasiris’ letzter Erzählung kommt die vielschichtige Exposition der Vorgeschichte zum Abschluss und verknüpft sich erzählerisch mit der Anfangssituation: von da an folgt die Erzählung einem geradlinigen chronologischen Verlauf. Es sind also die ersten fünf Bücher der Aithiopika, die ein extrem verschlungenes erzählerisches Vorbild liefern, bestehend aus einer schrittweisen Ergänzung der Angaben durch die Erzählungen unterschiedlichster Personen: eben dieses Muster macht sich der Barockroman zu eigen und füllt es mit modernen Stoffen (was bereits in den Bemerkungen des französischen Übersetzers Amyot anklang, der das Fehlen der grandeur und den Verzicht auf die Darstellung militärischer Tugenden seitens des Helden beklagte).67 Die auffälligste Neuerung des Barockromans (beginnend bei Argenis) besteht darin, dass er eine engere Verknüpfung mit der geschichtlichen Wirklichkeit seiner Zeit herstellt, entweder indem die Geschehnisse durch Versetzung an weit entfernte Orte und unbestimmte Zeiten verschleiert werden (wobei sie gut erkennbar bleiben oder sogar sichtbar gemacht werden durch ‚chiavi‘, durch die den Protagonisten der Zeitgeschichte die Romanhelden übergestülpt werden); oder indem die Erzählung um komplexe dynastische Geschehen und 63 Von Anfang an weist Knemon auf Thyamis wahre Natur hin in der Absicht, seine Gefangenen Chariklea und Theagenes zu beruhigen (I,19), aber erst sehr viel später kommt es zur vollen Enthüllung (VII,2). 64 I, 22–25. 65 III, 1. 66 II, 28. 67 In Wirklichkeit liefert Theagenes einige Beweise; er beteiligt sich zum Beispiel an dem Tumult, der auf dem von Trachinos befehligten Piratenschiff ausbricht, und tötet Peloros im Gefecht (V, 33).
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Machtkämpfe unter Regierenden kreist, fortlaufend kommentiert durch Überlegungen politischer Natur, wobei das Moderne daran die häufigen Anspielungen an die Pflichten der ‚Staatsräson‘ sind. Hier könnte eine Klammer zur viel diskutierten Beziehung zwischen Geschichtsschreibung und Roman aufgemacht werden: da sie zu weit führen würde, beschränke ich mich auf einen epigrafischen Hinweis und zitiere einige Sätze aus der Widmung an den Leser, die Giovan Battista Manzini seinem Cretideo voranstellt: L’estremo desiderio ch’ho sempre auto di scrivere un’istoria, mi ha fatto componer una favola. Senza i favori de’ gabinetti reali non si ponno sapere i consigli, l’arti e i fini degli uomini e de’ negozi grandi, e senza questa cognizione l’istoria non è altro che un nudo e freddo racconto d’accidenti fortuiti. 68
Unter dem Anschein einer märchenhaften Erzählung will der Roman jedoch die arcana principis enthüllen, wie der Zeitgenosse Tomaso Tomasi bezeugt, der in einem Dialog mit seiner Feder versucht ist, die Tätigkeit des Schriftstellers aufzugeben: Chi non stupisce, ancora, agli applausi coi quali venne accolta dal mondo la gentilissima Argenide del Barclai, qual dama che, con bizarra invenzione, travestita sotto i manti della favola celava la verità dell’istoria, e tra le piacevolezze di ben intrecciate peripezie teneva avvolti i più reconditi arcani della politica? 69
Abschließend seien einige Überlegungen zu einem italienischen Roman angefügt, der nicht ohne den Ehrgeiz eines siegreichen Wettstreits vielleicht am stärksten am Heliodorschen Vorbild ausgerichtet ist: der Roman Dianea von Giovan Francesco Loredano, der bereits wegen der Ähnlichkeit seines incipit mit dem der Aithiopika (und des Argenis) erwähnt wurde. Ich zeichne kurz den Handlungsverlauf des ersten Buches nach und zeige Überschneidungen in der Erzählstruktur, die Loredano allenfalls durch Wiederholung verkompliziert hat: Eine Galeere rettet sich an eine Insel des Karpathischen Meeres vor dem Schiffbruch. Ein Herzog (wie er allgemein definiert wird) hofiert eine Prinzessin, die ihn abweist und von einem Ritter beschützt wird. Ein Überfall von Seeräubern wird gemeldet, die Prinzessin kann mit ihrem Beschützer (Celardo, der erste Name, der verraten wird) das Weite suchen. Sie flüchtet sich in eine Grotte, während Celardo auf Erkundung geht. Der Herzog, der ihr gefolgt ist, wird von einem Ritter angegriffen, der ihn wie tot am Boden liegend zurücklässt. Celardo eilt einem Alten zu Hilfe, der sich als verkleideter junger Mann herausstellt, Oleandro, und seine Geschichte erzählt (unrechtmäßig abgesetzter König von Marokko, liebt Arianna, wird aber von Arelinda geliebt, die gegen ihn intrigiert). Die Erzählung kehrt zur Prinzessin zurück, die von einer geheimnisvollen Dame ins Innere der Grotte geführt
68 Giovan B. Manzini: Il Cretideo. Bologna: Per Giacomo Monti, 1637, c.a3r. 69 Tomaso Tomasi: Gli ultimi tratti d’una penna che muore. Hg. von Marco Gabucci. Firenze 2011, S. 134–135. Für eine vertiefte und artikulierte Diskussion der Thematik verweise ich auf den Aufsatz von Clizia Carminati: Narrazione e storia nella riflessione dei romanzieri secenteschi. In: Narrazione e storia tra Italia e Spagna nel Seicento. Hg. von Clizia Carminati, Valentina Nider. Trento 2007, S. 37–108.
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wird, von wo man in ein prachtvolles Wohngemach gelangt. Die Dame ist die Herzogin von Bel Prato und erzählt die Geschichte der Prinzessin Dianea (Tochter des Königs von Zypern, sie ist versprochen, liebt aber den Prinzen von Kreta, der unter dem falschen Namen Diaspe am Hof weilt; wegen dynastischer Rivalitäten kann sie ihn nicht heiraten; sie ist wunderschön und weckt das Begehren all derer, die sie kennen, was eine ganze Serie von Treuebruch auslöst und sie dazu zwingt, sich in der geheimen Grotte des Palastes zu verstecken). Die Prinzessin erzählt ihrerseits ihre Geschichte (sie ist Floridea, Tochter des Königs von Negroponte, auch sie Opfer von Hofintrigen: sie liebt Viralto, Herzog von Filena, aber Prodirto stellt ihr nach; wie Chariklea mit Thyamis heuchelt sie Einverständnis, aber Prodirto hat sie mit sich auf ein Schiff geschleppt, das vom Unwetter nach Zypern getrieben wird). Hier führt die Erzählung Florideas an den Anfang des Romans zurück: diese Vorgehensweise wiederholt sich im weiteren Verlauf vom Blickpunkt jeder der beiden Personen, die mit Floridea die Szene betreten haben, wobei eine von ihnen (der böse Prodirto, Florideas Verfolger) in seiner Erzählung die Wahrheit verfälscht. Die erzählerische Funktion der Grotte als Ort des Verstecks und der Begegnung in beiden Romanen fällt sofort ins Auge. In der Dianea ist sie der Ausgangspunkt der drei ungern gesehenen Liebesbeziehungen zwischen Dianea, Prinzessin von Kreta, und Astidamo, Prinz von Kreta; Oleandro, König von Marokko, und Arianna, Prinzessin von Numidia; Viralto, Herzog von Filena, und Floridea, Prinzessin von Negroponte. Der glückliche Verlauf der jeweiligen Liebesgeschichte wird ständig von Widernissen und Unwettern hinausgezögert (ich habe acht Meeresstürme inklusive Schiffbruch oder zumindest Verlust der vereinbarten Route gezählt). Die drei Erzählstränge verflechten sich dank Interferenz zweitrangiger Figuren in einem Strudel von Begegnungen und Trennungen mehrfach miteinander, alle erzählerischen Potentialitäten sollen ausgeschöpft werden: systematische Erzählung in flash back, jedesmal wenn sich Personen begegnen, die nichts voneinander wissen, wodurch der Leser indirekt über den Fortgang der offen gebliebenen Situation ins Bild gesetzt wird. Man kommt nicht umhin zu beobachten, wie in dem auf die Spitze getriebenen Kombinationsspiel jene Wahrscheinlichkeit verloren geht, die der durchaus komplexen Erzählhandlung der Aithiopika übereinstimmend zugesprochen wird.70 In der Dianea entwickelt sich die Handlung allein am Faden des glücklichen Zufalls entlang, durchgängig treten die Personen zur rechten Zeit am rechten Ort auf, ohne dass Loredano sich bemüht, dies erzählerisch weiter zu rechtfertigen. Wie kann Viralto, den wir als Gefangenen der Trakhen zurückgelassen hatten, genau rechtzeitig kommen, um Floridea der Gewalt des Prodirto zu entreißen? Ganz einfach, der Zufall wollte, dass er „fuggito da coloro che lo guardavano, era là capitato per caso“.71
70 Man vergleiche dazu das Urteil Huets, der Heliodor die Fähigkeit zusprach, das komplexe Erzählgefüge der Aithiopika wahrscheinlich und gut auflösbar erscheinen zu lassen (s.o. Anm. 19). 71 Loredano: La Dianea (Anm. 53), S. 293.
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Zahlreiche Entsprechungen zu Heliodors Roman werden auch in erzählerischen Mikrosequenzen sichtbar. Es seien nur einige genannt: wie in den Aithiopika anlässlich der Prozession der Änianer, an die sich Charicles72 erinnert, möchte Ossiride in der Dianea über die Einzelheiten eines Volksfestes hinweggehen, aber Celardo besteht auf einer eingehenden Beschreibung (eine Abschweifung wird also auf dieselbe Art eingeführt); die von Calasiris erdachte List, mit der er Chariklea den Begierden des Piraten Trachinos entzieht, wird in gleicher Weise von der Herzogin Bel Prato angewandt, um Dianea den Fängen des Piraten Traute73 zu entreißen: beide machen den Statthalter des Piraten eifersüchtig, was eine allgemeine Schlägerei zur Folge hat. Eine eindeutige Kopie der Aithiopika ist, an entgegengesetzter Stelle, auch der Abschluss der Dianea, wenn die Heldin gleichen Namens, genau wie Chariklea zu Beginn von Heliodors Roman, den blutleeren Körper des schwer verletzten Geliebten im Schoß hält: in der Dianea ist dies der äußerste Moment der Sorge, auf die Heilung und Heirat folgen. Allerdings rührten Astidamos Wunden vom Zweikampf mit dem verfeindeten König der Trakhen her, zu dem er ihn um des Sieges im Krieg gegen Zypern willen herausgefordert hatte: dass Loredano seinem Protagonisten (und auch seinem Roman) damit jene epische Färbung geben wollte, deren Fehlen in Heliodors Roman Amyot bedauert, wird von der mehr als deutlichen Übernahme des entscheidenden Duells zwischen Tancredi und Argante in der Gerusalemme Liberata unterstrichen. Eine vergleichende Lektüre der Textstellen, die das Ende des Zweikampfes erzählen (es gäbe durchaus noch weitere Stellen), wird genügen. Bei Tasso lautet sie: Renditi – grida – e gli fa nove offerte, senza noiarlo, il vincitor cortese. Quegli di furto intanto il ferro caccia e su ’l tallone il fiede, indi il minaccia. Infuriossi allor Tancredi, e disse: Così abusi, fellon, la pietà mia? – Poi la spada gli fisse e gli rifisse ne la visiera, ove accertò la via. Moriva Argante […] [Tancredi] Al fin isviene; e ’l vincitor dal vinto non ben saria nel rimirar distinto.74
Bei Loredano heißt es in perfekter Entsprechung: Astidamo […] disse: „Cedimi, o generoso, poiché la Fortuna vuole che tu sia vinto“. Il Trace abusando quella gentilezza che gli faceva dono della vita conficcò la spada in una coscia, trapassandogliela affatto. Infuriossi Astidamo e gridando: „Quest’è il premio della mia pietà?“, gli pose il ferro nella visiera dell’elmo, che non poté resistere alla fortezza d’un braccio mosso da giustissimo sdegno. Moriva il Trace…
72 S.o. Anm. 65. 73 Heliodorus: Aithiopika, V, 29; Loredano: La Dianea (Anm. 53), S. 291. 74 Torquato Tasso: Gerusalemme Liberata. Hg. von Fredi Chiappelli. Mailand 1982, S. 771–773 (XIX, 25–28).
Die Aithiopika im italienischen Roman des 17. Jahrhunderts
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Astidamo non avendo più potere per reggersi caddé anch’egli moribondo, non lasciando distinzione per conoscere il vincitore dal vinto.75
Die Dianea zeichnet sich außerdem (hier sei an Huet's Urteil über den zu affektierten und poetischen Stil der Aithiopika erinnert) durch eine zügige Erzählweise aus, die der scharfsinnigen Synthese vor der ausführlichen Beschreibung den Vorzug gibt. Im Willen, die Phantasiegeschichte mit aktualisierenden Betrachtungen politischer und moralischer Natur zu überlagern, wird die Erzählung ständig mit Überlegungen durchzogen, die der gewählten lakonischen Grundfärbung gemäß oft zu politischen Maximen und Verhaltensregeln werden, wie in dem indirekt geäußerten Gespräch zwischen Diaspe und Dianea, das ihnen aus der Vertracktheit ihrer Liebesgeschichte heraushelfen soll: I prencipi non regolarsi che col timore presente… nelle consulte vincer sempre quel parere ch’è circondato d’una moltitudine di soldati […] operar con poca prudenza coloro che necessitano con i loro capricci gli animi alla disperazione […] il soverchio zelo e la soverchia modestia esser così pregiudiziali quanto un eccesso di temerità…,76
oder in den politischen Betrachtungen Oleandros, der das usurpierte Reich wieder zurückgewinnen will: L’ozio il pessimo di tutti i mali. Non deversi trascurare quegli anni che fuggono a momenti. Difficilmente gli animi invecchiati a qualche comando promovono novità. Quanto più si tarda a pretendere tanto più si perde di ragione.77
Man hat des öfteren angemerkt, dem Barockroman fehle die feierliche Untermauerung durch Theorien (wie sie das Heldengedicht genießt): aber präsentiert man ihn (wie Giovan Battista Manzini im Vorwort zu seinem Cretideo, in der Druckausgabe von 1637) als „la più difficile […] e ’n conseguenza la più stupenda e gloriosa machina che fabbrichi l’ingegno […] superiore alla storia e all’epopea“, und schreibt man ihm „tutti i meriti della poetica, la più laboriosa e nobil operazione della quale è il regolar la favola epopeica che di tutte l’altre […] è la più riguardevole e meravigliosa“ zu,78 so mag es hilfreich sein, diese Aussagen zumindest implizit durch das Vorbild des antiken Romans, insbesondere dessen von Heliodor, abgesichert zu wissen, wobei ein Wettstreit der beiden sicher zum Vorteil des modernen ausgehen wird.
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Loredano: La Dianea (Anm. 53), S. 317. Ebd., S. 46–47. Ebd., S. 15. Giovan B. Manzini: Il Cretideo (Anm. 68), c.a3v.
TRA PASSIONE ROMANZESCA ED EVOCAZIONE REGALE: NOTE SULLA FORTUNA FIGURATIVA DELLE ETIOPICHE DI ELIODORO NELLA FRANCIA DEL SEICENTO Gabriele Quaranta Il British Museum di Londra ospita, accanto ai capolavori più noti, anche una stupefacente collezione di orologi, tra cui alcuni splendidi esemplari francesi prodotti verso la metà del XVII secolo a Blois, allora celebre per i propri laboratori meccanici. Uno di questi orologi era contenuto in una scatola di manifattura parigina decorata a smalto e oro1 con scene tratte dalle Etiopiche di Eliodoro: sul coperchio Cariclea porge a Teagene la fiaccola sacra, mentre un cupido scocca tra i due la freccia d’amore; sul retro, la Fuga da Delfi, con sullo sfondo la falce di luna che illumina la nave fenicia pronta a salpare. All’interno della scatola altre due scene: il Giuramento di Teagene, che al cospetto di Calasiri promette di rispettare la castità di Cariclea fino al matrimonio, e l’Incontro dei due innamorati dopo le mille peripezie egiziane. Altre cinque, piccole scenette decorano il bordo della scatola: Teagene e Cariclea sul lido egizio, mentre arrivano i pastori-briganti, Cariclea confortata da Calasiri, Teagene coppiere di Arsace, Morte della serva Cibele, Teagene e Cariclea prigionieri di Arsace. Un orologio molto simile è conservato anche al Patek Philippe Museum di Ginevra, ma mostra all’interno della scatola l’episodio del Ricongiungimento di Cariclea con i genitori e quello delle Nozze, oltre che differenti scenette sul bordo2. In entrambi i casi, tuttavia, le immagini principali non sono delle creazioni originali ma derivano da una serie di dipinti di Charles Poerson, di cui restano oggi tre esemplari, due conservati in collezione privata e uno al Louvre3. 1
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London, British Museum, inv. 1978.1002.774, Scatola da Orologio, oro e smalto, 1625–1675, modificata nel 1761. Il meccanismo, prodotto a Blois, è andato perduto quando la scatola da orologio è stata trasformata in piccolo scrigno: resta quindi il solo contenitore, attribuibile alla manifattura parigina di Pierre Ier Huad, cfr. Charlotte Gere et al.: The Art of the Jeweller. A Catalogue of the Hull Grundy Gift to the British Museum. Vol. I-II. London 1984, pp. 51–53. Segnalava l’opera Mylène Sarant: Ambroise Dubois et les Éthiopiques d’Héliodore au XVIIe siècle. In: Histoire de l’Art 46 (2000), pp. 25–37, qui pp. 32–34. Ginevra, Patek Philip Museum, inv. S. 200, manifatture di Blois, R. Vauquier, S. Champion, circa 1655. Parigi, Louvre, inv. RF.1974–16, Partenza di Teagene e Cariclea, olio su rame, diametro cm. 20,5 (identificato spesso anche come Ratto di Elena). Su questi dipinti cfr.: Charles Poerson. 1609–1667. A cura di Barbara Brejon de Lavergnée, Nicholas de Reyniès, Nicolas Saint-Fare Garnot. Paris 1997, pp. 78–80, tavv. 3–4; ma la corretta interpretazione del soggetto spetta a Clémentine Gustin-Gomez: Charles Poerson. 1609–1667. Mémoire de Maîtrise, Université Paris IV-Sorbonne, 1993, pp. 43–48.
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Gabriele Quaranta
L’ispirazione a fonti pittoriche o grafiche è tipica della produzione artigianale del XVI e XVII secolo: dipinti e incisioni fornirono decine di modelli per la creazione di smalti, intagli e quant’altro potesse impreziosire oggetti di lusso come scatole da orologi, cofanetti, veri e propri pezzi di mobilio. Gli artigiani non esitavano a ricorrere a fonti diverse, spesso giustapponendole: le immagini principali dei due orologi, ad esempio, derivano dai dipinti di Poerson, ma quelle minori, sul bordo, vennero tratte invece dall’apparato illustrativo delle Etiopiche pubblicate a Parigi presso Samuel Thiboust nel 1623. Con il titolo Les Amours de Théagène et Chariclée, histoire Étiopique d’Héliodore, il volume offriva la traduzione approntata da Jean de Montlyard, arricchita da un notevole corredo iconografico: ben cinquantuno incisioni tratte da modelli forniti da un cospicuo numero di artisti, tra cui figurano i nomi dei principali illustratori di quegli anni, Michel Lasne, Daniel Rabel, Crispin de Passe. L’edizione del 1623 dovette avere un buon successo di vendita, se venne ristampata già nel 1626, ma ben più vasta fu la fortuna che ebbero le sue illustrazioni. Esse infatti non furono utilizzate soltanto dagli orologiai ma, già all’indomani della pubblicazione, erano state adottate come modello dai tessitori delle manifatture parigine. Il mercato antiquario ha infatti visto passare nel corso degli ultimi anni alcuni arazzi, databili agli anni Venti del Seicento, prodotti a Parigi e raffiguranti scene delle Etiopiche, tutte ispirate alle illustrazioni del 1623. Ne conosciamo almeno quattro: Sisimitri affida Cariclea a Caricle4, Teagene e Cariclea sorpresi dai briganti sul lido egizio5, Teagene serve alla tavola di Arsace6, Nozze di Teagene e Cariclea7. È a questi arazzi che fanno rifermento nel 1627 gli inventari post-mortem del tessitore François de La Planche, quando ne registrano i cartoni: “8° – huit pièces de l’Histoire de Théagène et Chariclée, (garnie de leur bordure en papier) : 200 liv(res)”8. I pezzi oggi conosciuti costituiscono dunque la metà della serie originaria, che comprendeva otto panni documentati nel medesimo inventario non solo 4
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Parigi, Galerie Chevalier, n. 8408, luglio 1992, lana e seta, h. m. 3,05 x l. 1,60; colgo qui l’occasione per ringraziare Mme de Pazzis-Chevalier per la gentilezza con cui ha messo a disposizione la propria documentazione. Lana e seta, m. 3,05x2,90, pubblicato in Dominique Chevalier, Nicole de Pazzis-Chevalier: Tapisseries Françaises des XVIIe et XVIIIe siècles. Brive 1989, cat. 3. Francia, collezione privata. Misure non pervenute ma formato pressoché quadrato identico a quello dell’arazzo precedente. Ne abbiamo reperito una foto presso Galerie Chevalier-Paris, Documentation. Lana e seta, m. 3,05x3,74, pubblicato in Chevalier, de Pazzis-Chevalier (nota 5), cat. 4. Questo arazzo era citato anche da Mylène Sarant: L’iconographie des Éthiopiques d’Héliodore au XVIIe siècle. Mémoire de Maîtrise, Université Paris IV-Sorbonne, 1997, p. 87, che ne proponeva l’identificazione con una serie perduta, prodotta dall’atelier di Papersak e commissionata il 14 agosto 1636 da un sieur de Mousset, come riportato da Heinrich Göbel: Wandteppiche und ihre Manufakturen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Vol. II, 1. Leipzig 1928, p. 327. Inventaire après-décès de François de la Planche, Août 1627. In: Jules Guiffrey: Les Manufactures parisiennes de tapisseries au XVIIe siècle. Hôpital de la Trinité, Grande Galerie du Louvre, Savonnerie, Faubourg Saint-Marcel, Faubourg Saint-Germain, Gobelins. Nogent-le-Rotrou 1892, p. 91.
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dai cartoni ma anche da una serie tessuta completa9. Ignoriamo tuttavia quali altri episodi fossero raffigurati. Anche la pittura decorativa ebbe modo di trarre ispirazione dalle incisioni del 1623. Un ciclo di ben quattordici dipinti su legno, conservato nei depositi del Musée de Tessé a Le Mans10, non fa che replicare alcune di quelle incisioni, introducendovi però anche delle varianti che di fatto trasformano alcune scene in episodi differenti: il Racconto delle avventure di Cnemone (Etiopiche III,5) diventa ad esempio un Dialogo notturno tra Calasiri e Cariclea (Etiopiche IV,5)11. Provenienti da un edificio ottocentesco, dove erano montati in una boiserie non originale e completati da tre immagini allegoriche sul soffitto12, i dipinti di Le Mans lasciano svanire le loro tracce già alla metà del XIX secolo: non sappiamo quindi chi li avesse commissionati né dove fossero installati in origine. Sono opera di un ignoto pittore locale, di cui ritroviamo la mano in altre opere dello stesso Musée de Tessé, e andrebbero datati sullo scorcio degli anni Trenta o forse anche un poco più tardi13. L’artista qui al lavoro era personalità di mediocri capacità, ma la quantità
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Ibid., p. 89: “Ensuit six tantures qui sont aux mains du Sr. Raphael de la Planche, fils du défunt […] 4° Une tanture de huit pièces, Histoire de Théagène et Cariclée, rehaussée de soye: 3.000 liv(res) ; de 3 aunes de haut, 20 aunes de cours”. Serge Nikitine, Damien Castel, Philippe Bouton: Une série de peintures récemment découverte rue Gougeard au Mans. In: La Province du Maine 89, 5ème série, t. I, fasc. 4, (octobre-décembre 1987), pp. 439–450. Il ciclo, conservato al piano terra dell’edificio al 13, rue Gougeard, entrò al Musée de Tessé per donazione il 6 maggio 1987: il tema dei dipinti fu riconosciuto, ma non la derivazione iconografica dalle illustrazioni dell’edizione Thiboust 1623. Per una discussione più ampia mi permetto di rimandare alla mia tesi dottorale, cfr. Gabriele Quaranta: L’Arte del romanzo. Temi letterari nella pittura francese del Seicento (dal regno di Enrico IV alla reggenza di Anna d’Austria). Tesi dottorale, Sapienza Università di Roma, Université Paris 1 PanthéonSorbonne, 2013, pp. 105–106. Gli episodi sono i seguenti: Sisimitri affida Cariclea a Caricle; Teagene riceve da Cariclea la fiaccola sacra; Il sogno di Calasiri (l’unico di formato cruciforme, nell’allestimento di 13, rue Gougeard si trovava sulla cappa del caminetto); Calasiri visita Cariclea; Dialogo notturno tra Calasiri e Cariclea (che deriva da Calasiri e Cnemone, Etiopiche II); Il giuramento di fedeltà (che però deriva dall’illustrazione di Etiopiche VII, Calasiri e Cnemone promettono a Cariclea di ritrovare Teagene); Teagene e Cariclea s’imbarcano per l’Egitto; Cariclea veglia Teagene ferito sul lido egizio; Teagene e Cariclea catturati dai briganti; Teagene ritrova Cariclea nella grotta dei briganti; Teagene e Cariclea vengono catturati da Mitrane; Idaspe e Persinna; La Prova della graticola (questi due ultimi sono probabilmente il risultato del taglio di un unico pannello, come d’altronde è unica la scena nel modello incisorio); Cariclea riconosciuta dai genitori. Questi tre pannelli rappresentano figure allegoriche di Virtù derivate da una serie di dipinti di Simon Vouet per il Palais Cardinal (1637–1638) e oggi a Versailles. Nonostante la prossimità stilistica non è possibile affermare che il ciclo delle Etiopiche e i tre pannelli allegorici fossero accostati fin dall’origine nel medesimo apparato decorativo. Il pittore è da ricercare nell’ambito degli ateliers locali. Il suo stile, ancora fortemente influenzato da stilemi fiamminghi, è accostabile a quello di due dipinti, l’Assunzione della Vergine e l’Estasi di san Francesco, già attribuiti a Simon Guillebault (1636–1708) e conservati anch’essi presso il Musée de Tessé (cfr. Elisabeth Foucart-Walter: Le Mans. Musée de Tessé. Peintures françaises du XVIIe siècle. Paris 1982, pp. 74–77, cat. 52–53), ma la cui attribuzione all’artista
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degli episodi raffigurati e le dimensioni dei pannelli (1,25x1,85m circa) non lasciano dubbi sulla originaria funzione del ciclo, senz’altro destinato a lussuosa decorazione di una qualche dimora nobiliare della regione. Con i dipinti di Le Mans, in effetti, entriamo in un altro, specifico ambito della produzione artistica del Seicento. Se la diffusione presso il pubblico di una saga letteraria trova buona testimonianza non solo nelle fortune editoriali ma anche nella produzione artigianale, che ne diffonde ad ampio raggio immagini ed episodi, la fortuna nel contesto della grande pittura – e in particolar modo in quella a carattere decorativo – permette di valutare in maniera approfondita anche i fenomeni di appropriazione o re-interpretazione attuati dal pubblico, e con essi le eventuali valenze ideologiche, politiche, morali di cui alcuni testi venivano caricati14. A differenza degli oggetti di uso comune, per quanto lussuosi, e finanche degli arazzi – sottomessi a una fatale mobilità che li esclude spesso dalla documentazione e raramente ci permette di stabilirne l’effettivo ruolo decorativo – i cicli pittorici caratterizzano in forme più stabili gli ambienti che decorano. La scelta dei loro temi era spesso oggetto di accurata progettazione, anche in un contesto come quello francese che nel XVII secolo appare dominato da un’irrefrenabile impulso alla moltiplicazione delle immagini, dei soggetti, dei dettagli decorativi, quasi in preda ad un generalizzato, fragoroso horror vacui. Un contesto inoltre oggi depauperato della maggior parte delle testimonianze, rimpiazzate da decorazioni più tarde, disperse, frammentate, in molti casi totalmente perdute. Pure in un panorama così ostico, resta tuttavia affascinante tentare una lettura della ricezione dei temi letterari in campo pittorico e decorativo, anche perché essi costituiscono una parte importante dei soggetti chiamati ad occupare le pareti di dimore regali e nobiliari. I protagonisti di queste storie dipinte venivano dai testi più celebri e amati dal pubblico: il Furioso, la Liberata, il Pastor Fido, innanzitutto, ma anche l’Astrée di Honoré d’Urfé, il Don Quijote e altri romanzi di quegli anni, come l’Ariane di Desmaret de Saint-Sorlin15. L’elenco sarebbe in realtà assai più entrato all’Académie nel 1687 è senz’altro da ridiscutere. Per un aggiornamento su Simon Guillebault cfr. David Brouzet: Simon Guillebault (Le Mans, vers 1636 – Le Mans, vers 1708). Peintre méconnu du XVIIe siècle. In: Les Cahiers d’Histoire de l’Art 6 (2008), pp. 44–55; Simone Marandet: Simon Guillebault (Le Mans, 1636 – Le Mans, 1709). Un dessein à ajouter mais une peinture à soustraire. In: Les Cahiers d’Histoire de l’Art 7 (2009), p. 131. 14 Dopo i pionieristici studi di Rennselaer W. Lee, la fortuna artistica dei temi tratti dalla letteratura post-classica ha suscitato un crescente interesse. Tra i lavori più recenti andranno citati quantomeno Giovanni Careri: Gestes d’amour et de guerre. La Jérusalem Délivrée. Images et affects (XVIe-XVIIe siècle). Paris 2005; John Unglaub: Poussin and the poetic of painting. Pictorial narrative and the legacy of Tasso. Cambridge 2006; L’Arioste et les Arts. A cura di Michel Paoli, Monica Preti. Paris 2012; Christian Rivoletti: Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando Furioso in Francia, Germania e Italia. Venezia 2014. 15 Sullo specifico contesto francese andranno citati senz’altro i lavori dedicati a Eliodoro e al genere della pastorale da Sarant: L’iconographie des Éthiopiques (nota 7); ead.: Histoires d’amours pastorales. Iconographie de la Pastorale narrative dans les arts du XVIIe siècle. Thèse de Doctorat nouveau régime, Université Paris-IV Sorbonne, 2005. Tra gli interventi più recenti
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lungo e complesso dei pochi nomi qui elencati, e ci dovremo limitare solo a un rapido accenno prima di concentrarci sulla ricezione pittorica del romanzo di Eliodoro: giusto il tempo di notare come un altro orologio francese della metà del XVII secolo riporti sulla propria scatola un intero “ciclo” con la Storia di Clorinda, ricco di scene addirittura rarissime sia in pittura che nella grafica, come l’episodio dell’elmo sbalzato via durante la prima battaglia sotto le mura di Gerusalemme, o l’immagine della saracena colpita a morte durante il fatale duello notturno16. Ma questo splendido oggetto giunge in realtà alla fine di un percorso artistico durato più di mezzo secolo, e iniziato con i dipinti di Ambroise Dubois per il Cabinet de la Reine a Fontainebleau, dove verso il 1606 Maria de’ Medici si metteva in scena nelle vesti dell’invitta saracena: e lo faceva rinunciando alla fonte tassiana originaria per rivolgersi invece a una sua riscrittura in chiave romanzesca, la Hierusalem Assiégée data alle stampe nel 1599 da Antoine de Nervèze17. L’eroina di de Nervèze, guerriera bella e coraggiosa, ma anche perfetta donna di mondo, amante fedele e punto di riferimento politico nella Gerusalemme cinta d’assedio, consentiva alla sovrana di mostrarsi in ben più sfaccettate vesti di quanto non lo permettesse l’umbratile e sfuggente amazzone tassiana18. Tuttavia proprio tale evocazione avrebbe lanciato gli eroi della Liberata sul palcoscenico della rappresentazione regale, dove essi sarebbero stati presenti per ben un trentennio in un gioco di raffigurazioni, citazioni, varianti, voluti travisamenti19. Maria de Medici avrebbe fatto ancora ricorso al Tasso, scegliendo Sofronia quale proprio alter ego di regina reggente, nella decorazione del Grand Cabinet del Louvre, tra 1613 e 1614. Non stupisce quindi che poco dopo (1617–1619) il giovane Luigi XIII volle marcare la propria autonomia dalla regina madre mettendo in scena
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il breve saggio di Jean-Claude Boyer: Donner de la jalousie à l’Arioste et au Tasse. In: RomeParis 1640. Transferts culturels et renaissance d’un centre classique. A cura di Marc Bayard. Roma, Paris 2010, pp. 39–64. Mi permetto però di rinviare qui anche alla mia tesi dottorale Quaranta: L’Arte del romanzo (nota 10). London, British Museum, Orologio e scatola, smalto e oro, Manifatture di Blois (Blaise Foucher), 1645–1655, cfr., David Thompson: Watches. London 2008, pp. 42–43. La scena del duello notturno, in particolare, risulta rarissima nella pittura monumentale: assai tardi (siamo nel 1734) Charle van Loo la dipinge nel ciclo per il Pregadio della Regina in Palazzo Reale a Torino, in forme mitologizzate, allusive e del tutto distanti dal narrato tassiano. Assai più cogente la drammatica versione riscontrabile tra i disegni di Antonio Maria Viani, che ai primi del Seicento progettava un vasto ciclo – forse mai realizzato – per la residenza gonzaghesca di Goito: cfr. I segni dell’Arte. Il Cinquecento da Praga a Cremona. A cura di Giulio Bora. Roma 1997, p. 391. Colombe Samoyault-Verlet: Ambroise Dubois à Fontainebleau. Paris 1987 (Le petit journal des grands expositions 170). Su tale lettura del ciclo bellifontano mi permetto di rimandare a Gabriele Quaranta: Le Tasse françois. Textes et images pour la réinterrprétation de la Jerusalem Délivrée en France au temps de Marie de Médicis. In: Interfaces – Image, Texte, Language 37 (2017), pp. 31-54. Quaranta: L’Arte del romanzo (nota 10), pp. 49–66, 73–83, 141–216: qui si rimanda in generale per la tradizione dei temi tassiani presso la corte di Francia a cui si farà riferimento nelle righe seguenti, mentre segnaleremo in nota solo specifici rimandi bibliografici.
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dei ballets de cour in cui tanto Clorinda quanto Armida giocavano un ruolo del tutto negativo e privo di possibilità di redenzione20. Più tardi, all’inizio degli anni Trenta, il suo ministro Henri de Fourcy, avrebbe commissionato invece a Simon Vouet una Storia di Armida, destinata a decorare il proprio castello di Chessy ma anche a fornire modelli per gli arazzi della Corona, in cui si recuperava, nel segno di una rinnovata “ortodossia” tassiana, una lettura positiva e conciliante tanto della seducente maga quanto della sua storia: si era all’indomani dell’esilio di Maria de’ Medici e della crisi che aveva scosso in profondità la casa reale francese, e il ministro intendeva probabilmente far passare un messaggio di riconciliazione dinastica, utilizzando un codice ben conosciuto a corte quale era appunto quello delle storie tratte dal Tasso21. Anche la fortuna figurativa delle Etiopiche nasce a Fontainebleau negli anni di Enrico IV e Maria de’ Medici, e ancora una volta grazie al pennello di Ambroise Dubois, vero e proprio fondatore dell’iconografia “eliodoriana”: ma torneremo a parlare di questa prima apparizione più avanti. Poiché infatti, seguendo appunto l’esempio del nostro autore, abbiamo voluto incominciare il nostro discorso in medias res, sarà bene ora procedere piuttosto a ritroso, seguendo le tracce dei rari cicli dipinti giunti fino a noi, dei loro pittori, dei loro committenti. Intorno al 1635, il potente Sovrintendente alle Finanze Claude de Bullion aveva fatto decorare con un ciclo tratto dalle Etiopiche la Sala Grande e l’antistante Vestibolo al primo piano del suo castello di Wideville. I dodici dipinti su tela, oggi perduti ma testimoniati chiaramente dall’inventario post-mortem del finanziere22, vengono generalmente attribuiti a Simon Vouet, nonostante l’assenza di prove documentarie. Il pittore e il ministro erano assai legati, Vouet ne aveva decorato la dimora parigina e fu certamente all’opera anche in due distinti luoghi nel castello: nella galleria con annessa voliera, in seguito anch’essa perduta, e nella “grotta”, sorta di padiglione-ninfeo collocato dirimpetto al castello23. Soprattutto però esiste un ciclo di arazzi prodotti a Parigi e d’indiscutibile origine vouettiana, generalmente interpretato come Storia di Teagene e Cariclea e documentato oggi sostanzialmente in due serie, una al Musée des Beaux-Arts di 20 Margaret McGowan: L’art du ballet de cour en France. 1581–1643. Paris 1963, p. 101, 115; Mark Franko: Jouer avec le feu. La subjectivité du roi dans la Délivrance de Renaud. In: La Jérusalem Délivrée du Tasse. Poésie, peinture, musique, ballet. A cura di Giovanni Careri. Paris 1999, pp. 159–177; Careri: Gestes d’amour (nota 14), pp. 204–216. 21 Gabriele Quaranta: Deux générations à côté du pouvoir. Quelques remarques sur les arts chez les De Fourcy. In: Livraisons d’Histoire de l’Architecture 26 (2013), pp. 105–122; id.: Tra la Corte e l’Accademia. Il micro-contesto di alcuni entourages nobiliari all’epoca di Luigi XIII: il caso dei De Fourcy. In: Le virtuose adunanze. La cultura accademica nei secoli XVI e XVII. A cura di Clizia Gurreri, Ilaria Bianchi. Roma 2016, pp. 79-92. 22 Catherine Gauchery-Grodecki: La construction du Château de Wideville et sa place dans l’architecture française du dernier quart du XVIe siècle. In: Bulletin Monumental 87 (1978), pp. 157–158. 23 Vouet. A cura di Jacques Thuillier, Barbara Brejon de Lavergnée, Denis Lavalle. Paris 1990, pp. 120–121, 129. Barbara Brejon de Lavergnée: Le décor de Simon Vouet pour la volière du château de Wideville. Deux nouveaux dessins. In: Dessins français aux XVIIe et XVIIIe siècles. A cura di Pierre-Nicolas Saint-Fare-Garnot. Paris 2003, pp. 105–113.
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Chateaudun l’altra al Museum of the Legion of Honour di San Francisco, a cui si aggiungono singoli esemplari conservati in varie collezioni. L’elaborazione di questi arazzi da parte del pittore stesso è attestata da una serie di disegni preparatori, uno dei quali compare sul medesimo foglio che reca uno studio per le Storie di Ulisse che Vouet realizzò nella residenza parigina di Claude de Bullion24: queste, proprio come la Storia di Armida del castello di Chessy e altre decorazioni intraprese per importanti ministri della Corona, vennero anch’esse tradotte in arazzo, secondo una logica che prevedeva la diffusione delle invenzioni vouettiane non solo attraverso l’ormai sperimentato medium della stampa, ma anche attraverso la raffinata e preziosa arte della tessitura25. Così si ritiene generalmente che questi arazzi vouettiani riproducano almeno sei dei dodici dipinti di Wideville26, anche se i commentatori sono concordi nel sottolineare la grande libertà con cui Vouet agì nei confronti del testo di Eliodoro27. Essi pongono in effetti dei notevoli interrogativi di ordine iconografico. Una troppo anziana Persinna abbandona Cariclea aiutata da ancelle e dignitari, invece che in gran segreto. La scena del cosiddetto Ritrovamento di Cariclea si confonde facilmente con l’analogo episodio narrato, ad esempio, nel Pastor Fido, inserendo anche il topos del ritrovamento dell’infante da parte di un pastore sulle rive di un fiume. Il Giuramento di Teagene avviene in una casa di campagna, della quale si intravvede anche la stalla retrostante, in assenza di Calasiri. Infine Teagene e Cariclea nella foresta, con tanto di cane da caccia, potrebbero essere facilmente confusi con Venere e Adone, Cefalo e Procri oppure, ancora dalla tragicommedia guariniana, con Silvio e Dorinda. Certamente occorre tenere in considerazione l’origine sovente assai complessa di tali tappezzerie: l’Incontro tra Cariclea e Persinna, ad esempio, riprende un modello usato anche per una Visitazione, oggi presso l’abbazia di Notre-Dame de Melleray (Loire-Atlantique)28, mentre la scena della Cattura sul lido egizio mostra, nell’esemplare conservato a Parigi, Hôtel de Sully, personaggi differenti rispetto a quelli di Châteaudun e San Francisco, segno dell’accostamento di cartoni diversi. Tuttavia si pone la questione se ciò sia davvero dipeso dalla libertà redazionale 24 Paris, Ecole Nationale Supérieure des Beaux-Arts, M.1282. Sugli arazzi si veda in generale Barbara Brejon de Lavergnée: Inventaire général des dessins de l’Ecole Française. Simon Vouet. Paris 1987, pp. 92–95. 25 Denis Lavalle: Simon Vouet et la tapisserie. In: Vouet (nota 23), pp. 512–516. 26 Brejon de Lavergnée: Inventaire général (nota 24), p. 88. Si ritiene che l’estensione originaria del ciclo tessuto sia stata di otto pezzi: dei due mancanti però si ignorano i soggetti. Va ricordato che tale ciclo era sconosciuto ai grandi repertori dell’arte tessile francese stesi da Guinfrey, Fenaille o Göbel. 27 Lo rilevava in generale Sarant: L’iconographie des Éthiopiques (nota 7), mentre focalizzati sulla questione della raffigurazione dei personaggi africani, del tutto assente in Vouet, sono gli interventi più recenti: Jonathan Crewe: Drawn in color. Aethiopika in European painting. In: Word and Image 25, 2 (2009), pp. 129–142; Joaneath Spicer: Heliodorus’s An Ethiopian Story in Seventeenth-Century European Art. In: The Image of the Black in Western Art. Vol. III, 1: From the ‘Age of Discovery’ to the abolition. Artists of Renaissance and Baroque. A cura di David Bindman, Henri L. Gates Jr. Cambridge (Mass.) 2010, pp. 307–335. 28 Brejon de Lavergnée: Inventaire général (nota 24), p. 94.
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dell’artista – peraltro assai meno sbrigliata in altre simili decorazioni – o piuttosto se la storia narrata non sia tutt’altra: tanti erano i romanzi allora in circolazione platealmente basati sull’intreccio di Eliodoro. Ci si potrebbe domandare allora se davvero tali arazzi riproducano il ciclo dipinto a Wideville, sul cui soggetto non sembra invece che possano esservi dubbi. In effetti, tornando al castello, quel che più interessa qui è che, mentre al piano terra dell’edificio si trovavano soggetti decisamente più tradizionali, come i Mesi e le carte geografiche nel Vestibolo, le Stagioni e le nature morte con fiori nel Salone della Stufa, o il Baccanale nella camera di Claude de Bullion, le Etiopiche fossero state scelte come soggetto per la decorazione dell’ambiente principale del castello: qui infatti si apriva l’appartamento d’apparato, destinato all’eventuale visita del sovrano, ma soprattutto qui si trovava anche un dipinto raffigurante le ricezione del ministro tra i ranghi dell’Ordre du Saint-Ésprit, il momento più importante di una lunga e faticosa carriera, in cui egli appariva ritratto accanto al re medesimo29. Nonostante la perdita di tutto il ciclo e dunque l’impossibilità di verificare sul dato oggettivo, l’impressione è che il romanzo di Eliodoro figurasse per ben altre ragioni che un’adesione alla pur diffusa moda corrente, o una semplice affermazione di gusti letterari: altri dovevano essere i motivi di una così ragguardevole collocazione. Da questo punto di vista un caso altrettanto complesso e interessante è quello della galleria dell’Hôtel de Montréal ad Avignone dove, tra 1634 e 1638 – e dunque sostanzialmente nello stesso giro di anni in cui si decorava Wideville – Paul de Fortia (1586–1661), signore di Montréal nel Contado Venassino, commissionava a Nicolas Mignard un ciclo di ben diciotto dipinti, di cui soltanto uno è oggi conosciuto grazie a un’assai più tarda incisione30. In questo caso l’interesse nasce dalla collocazione tanto geografica quanto icnografica del ciclo. Siamo innanzitutto ad Avignone, singolare enclave papale in territorio francese, nella dimora di un aristocratico che ostentava la propria fedeltà alla corona: dopo una vita senza clamori, ormai cinquantenne, brigò per ottenere il permesso di ar-
29 Sulla carriera di Claude de Bullion si veda Yves Le Guillou: L’enrichissement des surintendants Bullion et Bouthillier ou le détournement des fonds publics sous Louis XIII. In: XVIIe siècle 211, 2 (2001), pp. 195–213. 30 André Félibien: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellents peintres anciens et modernes (1666–1668). À Paris chez la veuve de Sebastien Marbre-Cramoisy, Imprimeur du Roy, ruë Saint Jaques, aux Cicognes, 1688, avec privilège de sa majesté. Vol. IV, p. 218; ripreso poi da Antoine-Nicolas Dezallier d’Argenville: Voyage pittoresque de Paris, ou Indication de tout ce qu'il y a de plus beau dans cette grande ville en peinture, sculpture et architecture. Vol. IV. Paris: De Bure l'aîné, 1749, p. 68; sulla dispersione del ciclo cfr. Adrien Marcel: Mignard d’Avignon. Peintre et Graveur (1606–1666). In: Mémoires de l’Académie de Vaucluse 31 (1931), pp. 1–109, qui p. 103, dove cita le Petites Affiches de Paris. Paris 1775, p. 34. Sull’unica stampa oggi conosciuta Boyer: Donner de la jalousie (nota 15), p. 44 e fig. 4; infine Quaranta: L’Arte del romanzo (nota 10), pp. 231–235.
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mare una galera della flotta mediterranea, che avrebbe poi coraggiosamente capitanato contro gli spagnoli nella battaglia di Vado (1 settembre 1638), riportando gravissime ferite31. In secondo luogo, siamo all’interno di una galleria, ambiente di rappresentanza la cui decorazione virava generalmente su altri soggetti, dalla mitologia alla storia – erano diffusissime in quegli anni le gallerie con ritratti di illustri, sul modello del Museum Iovianum – più raramente sulla letteratura32. Tutto ciò lascia pensare che anche le motivazioni di Paul de Fortia andassero oltre il puro interesse letterario e che vi fosse piuttosto l’esplicita volontà di evocare un tema percepito come peculiare, un tema dal significato forse “politico”. La nobiltà francese dei primi decenni del Seicento poteva in effetti leggere Eliodoro in chiave squisitamente ideologica, oltre che meramente letteraria, e una tale interpretazione del romanzo diventa evidente quando assume le forme concrete delle immagini che decoravano le dimore di tale, specifico pubblico di lettori: tenteremo di chiarirlo attraverso l’esame di un ultimo esempio, decisamente più fortunato degli altri fin qui evocati, perché giunto fino a noi sostanzialmente intatto e dunque leggibile anche nelle valenze conferite dalla collocazione e dalla disposizione dei soggetti. Torniamo allora là da dove siamo partiti, a Blois, o meglio nelle sue immediate vicinanze. Nel castello di Cheverny, all’inizio degli anni Trenta del Seicento, il pittore Jean Mosnier realizzò diversi cicli decorativi, molti dei quali tratti da opere letterarie: l’Astrée di Honoré d’Urfé (perduto), il Don Quijote di Cervantes (conservato in parte), Les Amours des Déesses di Jean Puget de la Serre e, appunto, le Etiopiche33. La dimora era stata edificata tra 1625 e 1629 dal conte Henri Hurault, personaggio dal profilo assai contrastato, che ai primi del secolo aveva visto repentinamente tramontare il suo astro a corte: un’anonima ode celebrativa, datata 1633 e giunta fino a noi in forma manoscritta, cita chiaramente le decorazioni della dimora ispirate a Ovidio, alle pastorali e ai romanzi34.
31 P.-Louis Lainé: Archives généalogiques et historiques de la noblesse de France. Vol. II. Paris 1839, p. 34. 32 Tra la ormai vasta bibliografia sulle gallerie francesi segnaliamo essenzialmente Gérard Sabatier: Politique, histoire et mythologie. La galerie en France et en Italie pendant la première moitié du XVIIe siècle. In: La France et l’Italie au temps de Mazarin. A cura di Jean Serroy. Grenoble 1986, pp. 240–243 e, per quanto riguarda le gallerie di ritratti, da ultimo Friedrich Polleros: La galerie de portraits entre architecture et littérature. Essai de typologie. In: Les grandes galeries européennes. XVIIe-XIXe siècle. A cura di Claire Constans, Mathieu da Vinha. Paris 2010, pp. 67–90. 33 Sul castello di Cheverny è disponibile solo una vecchia monografia di Madeleine Blancher-Le Bourhis: Le Château de Cheverny. Paris 1950. Per un aggiornamento mi permetto qui di rimandare al mio saggio: Gabriele Quaranta: Pagine e immagini. Le ekphraseis di Antoine de SaintAmant e di Adrien de Monluc e gli esordi figurativi del Quijote nei dipinti di Jean Mosnier a Cheverny. In: Rivista on-line di Storia dell’Arte 12 (2010), pp. 55–76. Su Cheverny e le sue decorazioni, oggetto anch’essi della mia tesi dottorale, una monografia è in preparazione. 34 BNF, Ms. fr. 12491, ff. 131–132: Sur le Bastiment et les yssues du Chasteau de Cheverny, en 1633, vv. 37–42.
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La Chambre du Roi, che ospita il ciclo tratto da Eliodoro, è un ambiente di notevole opulenza decorativa che tramanda l’immagine affascinante e ormai rara di un interno dell’epoca di Luigi XIII. Certamente si tratta di un assetto in parte non originale. I due cicli pittorici – le Etiopiche inserite nelle boiseries, e le Storie di Perseo nel soffitto – ben si accordano con il ristretto catalogo di Jean Mosnier35, pur mostrando interventi di bottega, ma altri elementi ci ricordano che l’edificio ebbe vita travagliata, subendo numerose trasformazioni. Vanno infatti tralasciate innanzitutto le tappezzerie con Storie di Ulisse – tratte dai citati modelli di Simon Vouet – che vennero installate a Cheverny soltanto nel XIX secolo. In secondo luogo va tenuto presente che anche le boiseries furono pesantemente rimaneggiate, con ridipinture, dorature e manomissioni: la porta della parete est venne spostata, causando un’interruzione della sequenza narrativa proprio tra i dipinti tratti da Eliodoro36. Il Ciclo di Perseo si svolge in undici pannelli tra soffitto, caminetto e sovrapporta. Di questi ultimi, uno è da tempo perduto, ma doveva raffigurare l’apertura della storia, poiché manca l’episodio della seduzione di Danae da parte di Giove trasformato in pioggia d’oro. D’altronde l’altro sovrapporta allude anch’esso a una sorta di “antefatto”, cioè alla violenza che Poseidone usò contro Medusa nel tempio di Atena e che causerà la sua trasformazione da splendida fanciulla in orribile mostro. Inoltre è proprio dal versante del sovrapporta perduto che il ciclo si sviluppa nella forma attuale, incominciando con la scena in cui Danae e il piccolo Perseo vengono cacciati da Acrisio. I dipinti successivi mostrano Perseo che sottrae alle Graie l’unico occhio, al fine di conoscere la dimora delle Gorgoni, l’Uccisione di Medusa, dal cui sangue nasce Pegaso, la Trasformazione di Atlante in montagna e la Liberazione di Andromeda, che occupa il pannello circolare. Accanto, nell’ultimo dipinto del soffitto, Perseo conduce la fanciulla libera verso le nozze. Queste vengono evocate, sul caminetto, dal pannello superiore del fianco sinistro. La cappa è occupata invece dall’episodio in cui Perseo, assistito da Atena, pietrifica Fineo e i suoi alleati, venuti a turbare i festeggiamenti, mentre il fianco destro chiude il ciclo ancora con Atena che, dopo aver riaccompagnato Perseo fino a Serifo, s’invola tra le nubi. Ai pannelli mitologici si alternano gli stemmi degli Hurault – il segno araldico della “ombra di sole” raggiante – e i loro monogrammi, accompagnati da teste di Dioniso, rami di palma, corone comitali e Giochi di Putti che sembrano evocare altri momenti del mito, o addirittura volgerli in burla, come quelli del piccolo pannello della cappa, colti mentre “mimano” la drammatica scena soprastante. 35 Su Jean Mosnier si veda da ultimo Hélène Lébedel-Carbonnel: Pour Jean Mosnier. Une Adoration des Mages inédite en l’Eglise Saint-Nicolas de Blois. In: Mémoires de la Société de Sciences et Lettres du Loir-et-Cher 65 (2010), pp. 57–66, con bibliografia precedente. 36 Il duello dei figli di Calasiri sotto le mura di Tebe si frappone oggi ai due episodi dedicati alle vicende nella grotta dei pastori, ma la sequenza risulta ancora corretta nella descrizione fatta nel 1850 da Anatôle de Montaiglon: Les Peintures de Jean Mosnier de Blois au château de Cheverny. Paris 1850, pp. 16–17. Lo spostamento della porta è confermato anche da elementi strutturali: la mancata rispondenza con l’ingresso antistante, lo scarto con la decorazione del fregio sottostante il soffitto, infine la presenza in pianta di un’apertura contigua tamponata e ora non praticabile.
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Attraverso il caminetto, quest’atmosfera preziosa si allarga anche al lambris che, arricchito da sornione maschere di Bacco coronate di pampini, ospita appunto il secondo ciclo decorativo, dedicato alle avventure di Teagene e Cariclea. Queste si stendono anche sui battenti delle due porte, per giungere a illustrare ben ventotto episodi37. È stato già acutamente notato che il ciclo si svolge secondo una perfetta sequenza narrativa che non ritroviamo nel testo del romanzo38. Il movimentato intreccio architettato da Eliodoro è stato qui districato e la trama ricomposta per creare un continuum facilmente leggibile, che permette di seguire la storia dei due innamorati dal principio fino alla lieta conclusione. Jean Mosnier ha operato nel senso di una traduzione ampia del romanzo, evitando a volte l’inserimento di episodi assai raffigurati dei primi capitoli per concedere spazio sufficiente all’integrità della storia, con un gusto per la narrazione e per il montaggio di spunti iconografici e fonti differenti che è un tratto tipico dell’artista, poiché traspare anche dai pochi pannelli superstiti del ciclo del Don Quijote, dipinto nello stesso castello: e si tratta, in questo caso, della più antica redazione pittorica del romanzo di Cervantes oggi conosciuta, precedente anche le prime edizioni illustrate39. Jean Mosnier aveva dipinto anche un altro ciclo tratto dalle Etiopiche nel palazzo vescovile di Chartres, per monsignor Léonor d’Estampes-Valençay, che aveva rapporti di parentela con Henri Hurault, e c’è davvero da dolersi di non poter confrontare i dipinti di Cheverny con quest’altra redazione, andata perduta40. Tuttavia, prima che con altre serie del medesimo soggetto è proprio con la storia di Perseo della stessa stanza che il ciclo chiede di essere messo in rapporto. Già i primi commentatori ottocenteschi avevano sottolineato che i due temi sono tenuti insieme da un legame di tipo narrativo: le avventure di Cariclea prendono avvio perché la fanciulla, figlia della regina di Etiopia, è nata bianca in quanto 37 Sul battente d’ingresso: Persinna al cospetto del dipinto con Andromeda; Sisimitri affida Cariclea ai suoi servitori; Sisimitri incontra Caricle e gli dona i gioielli di Cariclea; Sisimitri affida Cariclea a Caricle. Sulla parete Ovest: Cariclea da a Teagene la fiaccola per il sacrificio; Calasiri visita Cariclea malata d’amore; Fuga di Teagene e Cariclea; Calasiri, Teagene e Cariclea attendono d’imbarcarsi sulla nave fenicia; Incontro a Zacinto col pescatore Tirreno; Battaglia sul lido egizio. Parete Nord: Cariclea veglia Teagene ferito; I pastori-briganti interrogano Teagene e Cariclea; Teagene e Cnemone durante l’assalto alle isole dei pastori. Parete Est: Tiami uccide Tisbe; Teagene e Cnemone trovano il corpo di Tisbe; Duello dei figli di Calasiri sotto le mura di Menfi (nell’assetto originario questo pannello seguiva e non precedeva il vano della porta). Battente Est: Teagene e Cnemone ritrovano Cariclea nella grotta dei pastori; Teagene e Cariclea, sotto mentite spoglie, lasciano le isole dei pastori; Calasiri ritrova Cariclea presso Nausicle; Calasiri offre un sacrificio a Mercurio e dona l’anello a Nausicle. Ancora sulla parete Est: Calasiri e Cariclea assistono alla scena di negromanzia. Parete Sud: Teagene al cospetto di Arsace; Teagene imprigionato e la vecchia Cibele; (sui montanti del caminetto:) Cariclea sopravvive al rogo sotto le mura di Menfi; Teagene e Cariclea nelle mani di Bagoas; Teagene e Cariclea catturati dagli etiopi; Teagene e Cariclea al cospetto di Idaspe. Di nuovo sulla parete Ovest: Riconoscimento di Cariclea al cospetto del dipinto di Andromeda. 38 Blancher-Le Bourhis: Le Château de Cheverny (nota 33), pp. 62–63. 39 Gabriele Quaranta: Don Chisciotte nel castello di Cheverny. Un ciclo dipinto del Seicento francese. In: Critica del Testo 9, 1–2 (2006), pp. 675–697; id.: Pagine e immagini (nota 33), pp. 55–76. 40 Félibien: Entretiens sur les vies (nota 30), p. 651.
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l’immagine della Liberazione di Andromeda, che decorava la camera reale, ha influito sul suo concepimento41. In realtà si può riconoscere fra i due cicli un rapporto ancora più stretto. La scelta del mito di Perseo per una Chambre du Roi infatti non è casuale: come hanno ampiamente dimostrato gli studi di Françoise Bardon e Marie-France Wagner, dalla metà del Cinquecento Perseo diviene in Francia una diffusa figura del sovrano, adottata a più riprese tanto dagli ultimi Valois, quanto da Enrico IV e soprattutto da Luigi XIII42. Con quest’ultimo anzi, e probabilmente per intervento di ambienti gesuiti, l’identificazione del re di Francia con l’eroe diviene immagine nodale e privilegiata, in particolare nel corso degli anni Venti e in occasione delle entrate trionfali che accoglievano il giovane monarca durante i suoi numerosi spostamenti nelle province del Sud e dell’Ovest, per reprimere focolai di ribellione ugonotta o nobiliare: La Frãce est l’Andromede que la Iustice du Ciel a attachée pour ses pechez, & le monstre qui la veut ruiner, est la rebellion : Le Roy en est le Persée, vray fils de Iupiter […] lequel doibt estouffer les sousleuemens de ce monstre religionaire
sottolineava, ad esempio, il canonico Pierre Saxy nel descrivere le immagini realizzate per l’ingresso in Arles, il 29 ottobre 162243. Il tema appariva però con frequenza anche in ambito lirico e teatrale, con una fortuna che sopravvivrà alla sua eclissi nelle cerimonie regali, per apparire ancora nell’Andromède di Corneille (1650). Ora, il medesimo Luigi XIII aveva visto la luce in quella Chambre Ovale del castello di Fontainebleau, che alla fine del primo decennio del secolo sarebbe stata decorata proprio con le immagini delle Etiopiche dipinte da Ambroise Dubois: quindici grandi tele narravano tra le pareti e il soffitto i primi cinque libri del romanzo, sottolineando gli episodi esaltanti il destino matrimoniale e regale dei protagonisti. Inizialmente attribuito anch’esso alla volontà di auto-rappresentazione di Maria de’ Medici come “femme forte”, nelle vesti della coraggiosa Cariclea44, questo ciclo fu commissionato in realtà dalla coppia regale ed è portatore di un forte messaggio di promozione dinastica. Luisa Capodieci ha recentemente sottolineato come gli emblemi e le allegorie del Delfino, che accompagnavano la decorazione, ne rivelassero il significato encomiastico45, ribadito anche da quella che è la vera prima 41 Blancher-Le Bourhis: Le Château (nota 33), pp. 62–63, che riprende Montaiglon: Les Peintures (nota 36), p. 19. 42 Françoise Bardon: Le portrait mythologique à la Cour de France sous Henri IV et Louis XIII. Mythologie et politique. Paris 1974; Marie-France Wagner: Du héros au roi. Le théatre du Persée français. In: Andromède ou le héros a l'épreuve de la beauté. A cura di Françoise Siguret, Alain Laframboise. Paris 1996, pp. 427–481. 43 Lo trovo in Wagner: Du héros au roi (nota 42), pp. 427–481. 44 Samoyault-Verlet: Ambroise Dubois (nota 17); Sarant: Ambroise Dubois (nota 1). 45 Facciamo qui riferimento all’intervento di Luisa Capodieci in occasione del convegno internazionale di studi Autour d’Henri IV (Parigi, INHA-Louvre, dicembre 2011). Cogliamo l’occasione per ringraziare qui la professoressa Capodieci per il generoso e prezioso scambio di idee sull’argomento.
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edizione illustrata del romanzo, Les adventures amoureuse [sic] de Théagène et Chariclée, un’edizione “per sole immagini” – senz’altro testo, cioè, che non qualche verso esplicativo delle vignette – edita nel 1613 e dedicata esplicitamente al giovanissimo Luigi come strumento per la propria educazione morale46. Ma potremmo aggiungere che, in effetti, la Corona concretizzava nella decorazione della Chambre Ovale quanto proposto trent’anni addietro dal medesimo Jacques Amyot, che aveva voluto legare le Etiopiche da lui stesso tradotte per la prima volta al suo Projet d’une éloquence royale, scritto attorno al 1579, in cui Eliodoro diveniva il fondamentale modello retorico per l’instaurazione di un nuovo potere regale fondato sulla persuasione dell’eloquenza più che sulla costrizione della forza47. Enrico IV, raffigurato allora come l’Ercole gallico che tiene i sudditi avvinti alle catene dell’eloquenza promanante dalla propria bocca, una volta di più decideva di rilanciare l’eredità dei Valois, come aveva inteso fare qualche anno prima al castello di Saint-Germain-en-Laye attraverso una monumentale raffigurazione pittorica de La Franciade di Pierre de Ronsard. A differenza dell’ostico poema ronsardiano, che non sembra essere mai stato replicato altrove, le romanzesche Etiopiche godevano invece di ampio successo editoriale, e avrebbero funzionato assai meglio nella diffusione di un tale portato ideologico. Non è un caso infatti che il ciclo di Dubois abbia goduto di una immediata fortuna, testimoniata dalle numerose copie documentate o ancora conservate48. Più tardi, come abbiamo visto, le incisioni dell’edizione Thiboust 1623 si sarebbero imposte come modello alternativo, ma ancora nel 1654 François Petit, signore di Passy, commissionava sei dipinti da copiare sui modelli bellifontani e da destinare al proprio cabinet: imitando cioè nel proprio piccolo le stanze del sovrano di cui si sentiva fedele servitore49. Una tale lettura delle Etiopiche dipinte da Dubois è tanto più interessante, perché andrebbe nel medesimo senso adombrato dai dipinti di Cheverny: qui i due cicli 46 Pierre Valet: Les adventures amoureuse [sic] de Thagenes et Cariclée, sommairement descrite et representée par figure, dediée au Roy, par Pierre Valet, son brodeur ordinaire, avec privilège du Roy. À Paris, chez Pierre Valet, rue du Four ou sur le Pont Marchant chez Gabriel Tavernier, 1613. L’esemplare dell’Arsenal (BnF, 8°-BL-17073) porta anche una nota manoscritta: “Il paroit que Pierre Valet n’a été que le Dessinateur de ces stampes, nous ignorons l’Auteur des vers qui se trouvent au bas de chacune. Ils forment un petit abrégé du Roman de Théagène et Chariclée”. 47 Florence Plazenet: L’ébahissement et la délectation. Réception comparée et poétiques du roman grec en France et en Angleterre aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1997, pp. 140. 48 Sulle copie attualmente conosciute cfr. Magali Bélime-Droguet: Théagène mettant le feu à l’autel avec la torche de Chariclée, ou Le Sacrifice. In: Henri IV à Fontainebleau. A cura di Vincent Droguet. Paris 2010, pp. 108–109, cat. 61. Altre tele sono passate sul mercato antiquario. Cfr. ad esempio: Importants tableaux anciens, vente, Paris, Drouot-Richelieu, salles 5–6, 6–17 décembre 2003: lot. 68, École de Fontainebleau, vers 1600, atelier d’Ambroise Dubois, Scène de l’histoire de Théagène et Chariclée: chariclée et le pirate Trachin (tela, 152x230cm); lot. 69, École de Fontainebleau, vers 1600, atelier d’Ambroise Dubois, Scène de l’histoire de Théagène et Chariclée: L’embarquement (tela, 152x230cm). 49 Sylvain Kerspern: La peinture du XVIIe siècle en Brie. Thèse Doctorale, Université Paris 1, 1990, pp. 116–117.
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– mitologico e romanzesco – sarebbero stati accostati non solo e non tanto per il semplice legame narrativo, quanto piuttosto perché entrambi potevano essere letti in chiave di evocazione regale e con un esplicito riferimento al sovrano regnante. Concretizzando quanto auspicato dalla corona alla fine degli anni Dieci, è molto probabile che parte della nobiltà trovasse nella raffigurazione delle Etiopiche e dei loro protagonisti una forma indiretta ma del tutto eloquente di evocazione, e quindi anche di celebrazione, del monarca e dell’istituzione che esso rappresentava: un motivo più che valido per spingere anche i committenti di Wideville, Avignone e forse pure Chartres a riservare al romanzo di Eliodoro un ruolo centrale nell’economia decorativa delle proprie dimore. Ad ogni modo, sembra evidente che fu proprio un’operazione del genere che venne realizzata nel caso di Cheverny, dove la Chambre du Roi propone una doppia evocazione del sovrano, raffigurando allegoricamente attraverso uno dei due cicli un tema politico classico – Perseo – riproposto nella sua esatta consistenza mitografico-narrativa, e invece alludendo esplicitamente, con l’altra serie di dipinti – le Etiopiche – di natura questa volta romanzesca, alla nascita e alla persona del sovrano regnante, Luigi XIII stesso. Ma non solo. Il testo di Eliodoro è infatti molto esplicito riguardo alla decorazione del palazzo dei re etiopi: “I nostri progenitori” narra Persinna, madre di Cariclea sono Helios e Dioniso fra gli dei, Perseo e Andromeda fra gli eroi e dopo di essi Memnone. Coloro che, secondo le circostanze, contribuirono alla costruzione del palazzo reale lo abbellirono con le immagini di questi dei e di questi eroi: ma mentre le pitture che rappresentano tutti gli altri e le loro imprese si trovano nelle stanze degli uomini e nelle gallerie, le camere da letto sono ornate con gli amori di Andromeda e Perseo50.
Il mito di Perseo, che influirà sul concepimento di Cariclea, era dunque il tema decorativo della camera reale dei sovrani di Etiopia: esattamente come è il tema decorativo della camera reale del castello di Cheverny, dove inoltre le boiseries ostentano innumerevoli teste di Dioniso accompagnate al simbolo del sole (Helios), emblema araldico di casa Hurault, quasi a voler completare i riferimenti ai temi decorativi del palazzo etiope. Questa Chambre du Roi sembra dunque voler riproporre concretamente il luogo del libro di Eliodoro. L’evocazione politica sfocia così in una vera e propria operazione di ri-creazione metaletteraria, in cui la realtà sfuma nel romanzo e ne assume le forme.
50 Eliodoro: Le Etiopiche. A cura di Aristide Colonna. Torino 1987, IV-8.
III. HELIODORUS GERMANICUS: DIE REZEPTION DER AITHIOPIKA IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM
HELIODOR AUF ABWEGEN – JOHANNES ZSCHORNS AITHIOPIKA-ÜBERSETZUNG UND IHRE FRÜHE DRUCKGESCHICHTE Seraina Plotke / Stefan Seeber Die Aithiopika gelten allgemein als Gründungsurkunde des (früh)neuzeitlichen Romans – und Heliodorus Homericus1 hat den Status eines Gründervaters, im 16. Jahrhundert ebenso wie aus der Sicht der modernen Forschung: „Blessing be upon you, Heliodorus, for bringing the novel into full intellectual maturity and for showing what this newfangled genre could be in the hands of a master“.2 Die erste französische Übersetzung der Aithiopika fertigt 1547 kein Geringerer als Jacques Amyot an,3 dessen Proesme du translateur die französische Romanpoetik in der Folge für mehr als ein Jahrhundert wesentlich prägt.4 Die 1552 in Basel edierte lateinische Übersetzung von Stanislaw Warschewiczki wird von einer Empfehlung Melanchthons begleitet, der das Werk dem Verleger Johannes Oporinus mit den Worten ans Herz legt, die Aithiopika seien eine „oratio […] nitida & non tumida“, wobei ebenso ihre „uarietas, consiliorum, occasionum, euentuum & adfectuum“ angepriesen wird mit den „uitae imagines multas“, die darin enthalten seien. Entsprechend ist Melanchthon der Überzeugung: „Itaque a multis eam legi utile est, & uarietas lectores inuitare potest.“5
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Martin Crusius: Aethiopicae Heliodori Historiae Epitome […]. Frankfurt: Jobin, 1583, Widmungsbrief, S. 10 (Marginalie). Der griechische Erstdruck erfolgte 1534 in Basel bei Johann Herwagen. Steven Moore: The Novel. An Alternative History. Beginnings to 1600. London, New York 2011, S. 100. Der Erstdruck des Textes (erschienen bei Groulleau 1547) liegt als Neuedition vor: Héliodore: L’ Histoire Aethiopique. Traduction de Jacques Amyot. Édition critique établie, présentée et annotée par Laurence Plazenet. Paris 2008. Vgl. zu Amyot Antoine Berman: Jacques Amyot, traducteur français. Essai sur les origines de la traduction en France. Hg von Isabelle Berman, Valentina Sommella. Paris 2012. Für eine detaillierte Analyse des Proesme-Programms vgl. Laurence Plazenet: Jacques Amyot and the Greek Novel. The Invention of the French Novel. In: The Classical Heritage in France. Hg. von Gerald Sandy. Leiden 2002 (BSIH 109), S. 237–280, zu Amyots Wirkung vgl. außerdem z. B. Donald Stone Jr.: Amyot, the Classical Tradition, and Early French Fiction. In: Res Publica Litterarum 2 (1979), S. 319–325 oder Günter Berger: Legitimation und Modell. Die Aithiopika als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189. Stanislaw Warschewiczki: Heliodori Aethiopicae Historiae libri decem […]. Basel: Oporinus, 1552, fol. [A4r].
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Der Name Johannes Zschorn hingegen spielt in der Wahrnehmung der Aithiopika kaum eine Rolle, selbst in der germanistischen Forschung hat er verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erfahren.6 Zschorn übersetzt die Aithiopika 1559 aus dem Lateinischen ins Deutsche, und seine Übertragung erfährt zahlreiche Nachdrucke bis weit ins 17. Jahrhundert hinein: Die Popularität auf dem Buchmarkt steht augenscheinlich im Widerspruch zu der völligen Vernachlässigung der deutschen Aithiopika in der zeitgenössischen poetologischen Diskussion und in der modernen Forschung. Letztere hat Zschorns Text lange Zeit als „Volksbuch“ behandelt,7 das keinen Einfluss auf den gelehrten Diskurs oder die weitere Rezeption Heliodors im deutschen Sprachraum zu nehmen vermochte. Deshalb wird es im Folgenden darum gehen, in einem ersten Schritt die auszeichnenden Spezifika von Zschorns Übersetzung und ihrer paratextuellen Einhegung herauszuarbeiten; dabei steht sein poetologischer Anspruch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In einem zweiten Schritt gilt es, die frühe Druckgeschichte der deutschen Aithiopika nachzuverfolgen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf das Buch der Liebe gelegt wird, in dem der Frankfurter Verleger Sigmund Feyerabend 1587 dreizehn Romane versammelt, die einen
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Ausnahmen bilden die Beiträge von Werner Röcke (Identität und kulturelle Selbstdeutung. Transformationen des antiken Liebesromans in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Göttingen 2009, S. 403–41 sowie Erzähltes Wissen. ‚Loci communes‘ und ‚RomanenFreyheit‘ im Magelonen-Roman des Spätmittelalters. In: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Hg. von Horst Brunner, Norbert R. Wolf. Wiesbaden 1993 [Wissensliteratur im Mittelalter 13], S. 209–226) sowie Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke vnd vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Abenteuerromans in Spätmittelalter und früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Günter Berger, Stephan Kohl. Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86 und die Beiträge von Jutta Eming (Geschlechterkonstruktionen im Liebes- und Reiseroman. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren. Berlin 1999 [Beihefte zur ZfdPh 9], S. 159–181 und Historia und Episteme in der Aethiopica Historia. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Baisch, Jutta Eming. Berlin 2013, S. 83–100 sowie A Philological Bastard’s Revenge. On Adventure and Knowledge in Theagenes und Charikleia. In: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne. Hg. von Jutta Eming, Ralf Schlechtweg-Jahn. Göttingen 2017, S. 255–273) und Sebastian Möckel (Abenteuer und Initiation. Einübung in Familie im antiken Liebesroman der Frühen Neuzeit. In: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec, Claudia Nitschke. Frankfurt 2009, S. 57–77 sowie Zwischen Muster und Anverwandlung. Übersetzungen des antiken Liebesromans in der frühen Neuzeit. In: Übersetzung und Transformation. Hg. von Hartmut Böhme. Berlin, New York 2007 [Transformationen der Antike 1], S. 137–155) sowie Barbara Lafond-Kettlitz: De l’amour courtois à ‚l’amour marié‘. Le roman allemand (1456–1555). Bern 2005 (Collection Contacts. Etudes et documents 61). Vgl. beispielhaft die Etikettierung durch den Herausgeber des Neudrucks: Peter Schäffer: Vorwort. In: Heliodorus Emesenus: Aethiopica Historia. In der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559. Hg. u. eingel. von Peter Schäffer. Bern 1984 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jh.s 30), S. 7*–56*, hier z. B. S. 32*.
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Querschnitt durch die Romangeschichte bis zur jüngsten Zeit darstellen. Diese Kanonisierung der Aithiopika bedeutet den frühen Höhepunkt der Rezeptionsgeschichte von Zschorns Übersetzung und soll deshalb besonders beleuchtet werden. JOHANNES ZSCHORNS ÜBERSETZUNG Paratexte Zschorn ist insgesamt mit drei Übersetzungen in Erscheinung getreten, die allesamt in kurzer Abfolge bei Messerschmidt in Straßburg erschienen sind: 1558 wird sein Türcken Büchlin gedruckt, im Jenner 1559 dediziert er seine Chronica oder Keyserbüchlein, im August desselben Jahres seine Übersetzung der Aithiopika. In allen Werken bricht der Westhofener Schulmeister mit dem Usus der üblichen Art zeitgenössischer volkssprachiger Widmungsvorreden und dediziert seine Arbeit Freunden oder, wie im Fall der Aithiopika, Verwandten. In allen drei Vorreden arbeitet der Übersetzer zudem mit biographischen Informationen und verweigert sich der gängigen Topik, die er auf ein absolutes Minimum reduziert: Das Türcken Büchlin hat ihm demnach ein Freund anvertraut, da er weitgereist in den im Text behandelten Regionen und mit den entsprechenden Sprachen vertraut sei, denn er habe „derselben land etlich gesehen / [sei] darinn gewesen / auch mehr sprachen dann Teutsch (ohn rhuom geredet) gelernet“ (Türcken Büchlin, A2v), in der Chronica wiederum thematisiert er seine schlechte Gesundheit, die wohl auch zu seinem frühen Ableben im Jahr 1560 geführt hat.8 Den Einstieg in die Widmungsadresse der Aithiopika bildet ein Witz: „Freuntliche liebe vetteren / man sagt vnnd ist ein sprichwort / so weitter Brueder / Schwesteren Vettern vnd Schwaeger von einander sind / so vil lieber sie einander haben“ (AH A2r)9 – und Johann ist so weit weg von Hans und Bartholomeus, dass sie „ihn ohn zweiffel nit hassen“ (ebd.): Westhofen und Eilenburg in Sachsen liegen gut 650 Kilometer auseinander. Er hat die Vettern seit zwanzig Jahren nicht gesehen und kann sie auch jetzt nicht besuchen kommen „aus schwäche meines leibs / und hindernus des weiten wegs“ (AH A3r). Stattdessen sendet er dieses Buch, denn er weiß, dass andere Bücher von ihm („etliche opuscula“ [AH A2v]) bereits den Weg nach Sachsen gefunden haben. Er schickt die gerade fertig gewordene Übersetzung mit besten Grüßen, nur eben nicht per Post, sondern per Druckerpresse. Das ist der Auftakt zu einer viergeteilten Widmungsadresse, in der die biographischen Bezüge den Gesamteindruck bestimmen, aber bei weitem nicht die einzige Information darstellen, die Zschorn bietet. So nennt er im zweiten Teil die Aithiopika gleich zwei Mal eine „Poetische Histori“ (AH A3r und A3v), ihren Inhalt preist er moralisch-didaktisch als Exempel züchtigen Lebens unter widrigen Umständen 8 9
Vgl. zum Todesdatum Wilhelm Teichmann: Johannes Zschorn von Westhofen. Ein Beitrag zur elsässischen Literaturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts. Straßburg 1905, S. 7. Der Erstdruck ist nach der Ausgabe von Schäffer (Anm. 7) zitiert unter Angabe der Sigle AH (Aethiopica Historia).
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an, topisch ist der Verweis auf das breite Publikum, das der Roman anvisieren kann: Die moralia dienen „hohem vnd niederm stand/ Alten vnd Jungen“ (AH A3r). „Poetische Histori“ scheint zumindest für moderne Augen auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich zu sein (Amyot spricht übrigens von der „fabuleuse histoire“, was in dieselbe Richtung geht),10 denn entweder haben wir es mit einer historia oder mit einer Dichtung zu tun. Zschorn spielt hier offenkundig auf das an, was die frühe Romantheorie in Anlehnung an Aristoteles als Vorteil des argumentum gegenüber der historia betont:11 Der Roman kann über die Grenzen hinausgehen, die der historia gesetzt sind, er kann Wahrheiten angenehm vermitteln und ist nicht immer unbedingt an die Fakten gebunden, er muss nur plausibel, das heißt in sich geschlossen, argumentieren. Wichtig ist zum zweiten, dass das romanhafte Erzählen kein Selbstzweck ist; die „art du mensonge“,12 die Lüge steht auf diese Weise im Dienst der Wahrheit und ist dadurch legitimiert. Der dritte Teil der Vorrede widmet sich der Übersetzung selbst. Zschorn gibt an, den lateinischen Text als Vorlage genutzt zu haben, und das kann 1559 nur die Übersetzung Warschewiczkis sein, die bereits zwei Neudrucke erfahren hatte, als er sich der Aithiopika annahm.13 In seinen Überlegungen überstrahlt die Rolle des Übersetzers und seines Urteils den Roman, um den es eigentlich geht: Das ich aber dise Poetische Histori / vnnd nichts anders für mich genummen / thuot dis / das mich für guot angesehen (die weil sie aus dem Griechischen ins Latein transferiert ist) sie sey auch werdt in das Teutsch zuobringen / welches ich aus einfeltigem verstandt mein vermögen gethan (AH A3v)
– nicht die topischen Freunde und Gönner, nicht das allgemeine Urteil bringt Zschorn dazu, die Übersetzung anzufertigen, ihm persönlich erscheint der Text wert, übersetzt zu werden, das muss reichen. Das wirkt durchaus provozierend, bedenkt man, dass mit Murners Aeneis,14 Sieders Apuleius15 und Schaidenreissers 10 Jacques Amyot: Le Proesme du Translateur. In: Héliodore: L’ Histoire Aethiopique (Anm. 3), S. 157–164, hier S. 160. 11 Vgl. wiederum Amyot: Le Proesme du Translateur (Anm. 10), S. 159 mit Hinweis auf die klassische Rechtfertigung des argumentum. 12 Vgl. Gerhard Penzkofer: L’art du mensonge. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1998 (Romanica Monacensia 56), S. 25. 13 Vgl. dazu Michael Oeftering: Heliodor und seine Bedeutung für die Litteratur. Berlin 1901 (Litterarhistorische Forschungen 18), S. 45; erst 1596 legt Commelinus auf der Basis von Warschewiczkis Text eine verbesserte Neuübersetzung ins Lateinische vor, diese zweisprachige, griechisch-lateinische Ausgabe ist die Basis der gelehrten Heliodorrezeption des 17. Jahrhunderts (Hieronymus Commelinus: Heliodori Aethiopicorum Libri X. Collatione Mss. Bibliothecae Palatinae & aliorum, emendati & multis in locis aucti. Heidelberg: Commelinus, 1596). 14 Thomas Murner: Vergilii Maronis dreyzehen Bücher von dem tewren Helden Enea. Straßburg: Grüninger, 1515. Zu Murners Übersetzung vgl. z. B. Carola Redzich: … in zeiten des fridens ein gelerte gab. Zu Thomas Murners Übertragung der Aeneis (1515) und ihrer Widmungsvorrede an Kaiser Maximilian I. In: JOWG 17 (2008/2009), S. 107–121, hier S. 109. 15 Johann Sieder: Ain Schoen Lieblich, auch kurtzweylig gedichte Lucij Apuleij von ainem gulden Esel […]. Augsburg: Weissenhorn, 1538. Zu Sieder vgl. z. B. Birgit Plank: Johann Sieders Übersetzung des Goldenen Esels und die frühe deutschsprachige Metamorphosen-Rezeption. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 92).
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Odyssea16 schon drei antike Texte in deutscher Übersetzung im Druck vorliegen, die eine Tradition begründen helfen könnten und auf die auch Zschorn sich berufen könnte. Stattdessen stehen die deutschen Aithiopika rein auf ihren Übersetzer bezogen und in einer Art literaturgeschichtlich luftleerem Raum: Noch nicht einmal der Name des Autors, Heliodor, fällt17 und Ausführungen zu den leitenden Prinzipien der Übersetzung sowie ihrer Intention sucht man in der Vorrede vergebens. Am Ende der Widmungsadresse findet sich sodann, biographische und metapoetische Elemente kombinierend, eine Apologie der Vorrede: „Were aber das etwan ein Zoilus diese Epistolam Dedicatoriam euch oder mir / Per Petulantiam vel Arrogantiam auffzwacken wolt“ (A3vf.). Damit setzt die konditionale Überlegung ein, in der Zschorn sodann ausführt, dass die Vettern in Eilenburg keinerlei zusätzlicher Ehrung bedürften und dass auch sein Werk nicht von ihm beworben werden müsse. Da die adressierten Vettern jenseits dieser Widmung niemals in Erscheinung getreten sind und da Zschorn nicht zu denjenigen literarischen Größen seiner Zeit gehört, die auf Werbung verzichten können, fällt es schwer, den Hinweis auf die Homergeißel anders als ironisch gebrochen zu lesen, dies vor allem deshalb, weil sie sich doch eher auf den Roman Heliodors als auf eine Vorrede von Johannes Zschorn konzentrieren müsste: Immerhin imitiert Heliodor das große epische Vorbild und zitiert Homer zu jeder sich bietenden Gelegenheit, selbst der ordo artificialis der Aithiopika ist eine Hommage an den Meister.18 So scheint es, dass Zschorn hier mit einer möglichen Homer-Kenntnis seiner Rezipienten spielt, wenn er gerade nicht den Roman, sondern dessen oberflächlich gesehen völlig unbedeutende Vorrede ausgerechnet vor dem Homeromastix zu schützen versucht. Eingeweihte werden den Scherz verstehen, wer nicht weiß, wer die Homergeißel war, wird über das unbekannte Fremdwort hinweglesen und nur die vermeintlich topische Selbstverteidigung des Übersetzers zur Kenntnis nehmen. Diese Aufstellung der Vorrede ist, gelinde gesagt, unkonventionell. Zschorn muss Warschewiczkis Praefatio und Melanchthons Lob des Heliodor in der – seiner Übersetzung zu Grunde liegenden – lateinischen Ausgabe des Textes von 1552 gelesen haben. Seine eigene Vorrede erscheint als das Gegenstück zu Warschewiczkis Paratext: Wo der Übersetzer ins Lateinische eine politisch-didaktische Rechtfertigung seiner Arbeit sucht, schreibt Zschorn atheoretisch, polemisch, im
16 Simon Schaidenreisser: Odyssea. Das seind die aller zierlichsten und lustigsten 24 bücher des [...] Homeri, von der 10 jährigen irrfahrt des [...] Ulyssis. Augsburg: Weissenhorn, 1538. Zu Schaidenreisser vgl. z. B. Regina Toepfer: inn vnserer sprach von new gleich erst geboren. Deutsche Homer-Rezeption und frühneuzeitliche Poetologie. In: Euphorion 103 (2009), S. 103–130. 17 Da Zschorn gegen die lateinische Vorlage die Autornennung sowohl auf dem Titel (Heliodori Aethiopicae Historiae libri decem) als auch in der Vorrede ersatzlos streicht, bleibt das Werk de facto anonym und nur mit dem Namen seines Übersetzers verbunden. 18 Dénes Kövendi: Heliodors Aithiopika. Eine literarische Würdigung. In: Die Araber in der alten Welt. Hg. von Franz Altheim, Ruth Stiehl. Bd. III: Anfänge der Dichtung. Der Sonnengott. Buchreligionen. Berlin 1966, S. 136–197 beleuchtet die homerischen Grundlagen der Aithiopika.
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Stil des subabsurdum. Gegen Melanchthons Argument der Attraktivität der Aithiopika setzt er das Interesse am Übersetzer, die in der lateinischen Ausgabe eingefügten biographischen Angaben zu Heliodor übergeht er, indem er den Roman sogar anonymisiert.19 Auch im Vergleich zum Proesme der französischen Übersetzung ist Zschorns Text unterkomplex und geradezu ostentativ einfach gestrickt. Deutlich zeigt sich, dass er nicht der üblichen Rezeption der Aithiopika zuarbeitet, auf die seine Vorgänger abzielen, sondern es ihm in seiner Vorrede um etwas Anderes geht: Augenscheinlich hat er ein Publikum im Sinn, das mit Historien bzw. frühneuhochdeutschen Prosaromanen vertraut ist, ihm will er den Text anempfehlen und auf diese Zielgruppe erscheint seine Vorrede zugeschnitten. Daran rückzubinden ist auch das Titelblatt des Erstdruckes, das in ähnlicher Weise den Anschein erweckt, einen gewöhnlichen Prosaroman zu bieten, und ebenfalls verzichtet, den Namen Heliodors zu nennen: Erwähnt werden der Titel Aethiopica Historia sowie die Namen der Protagonisten, zudem betont das Blatt die Werte, die dem Leser vermittelt werden sollen, wobei auch die Unterhaltung nicht zu kurz kommt, immerhin hat man es mit einer „schoene[n] vnnd Liebliche[n] Historie“ zu tun.20 Auch der weitere Aufbau des Drucks bestätigt diesen Eindruck: An die Vorrede schließt sich eine im Kolumnentitel als Register betitelte Inhaltszusammenfassung der Aithiopika an (Ein kurtzer Innhalt dieser Historien durch alle Buecher vnnd Capitel, A4v). So liefert Zschorn eine anonymisierte Kurzform der Geschichte und gerade kein Register, wie er es in der lateinischen Vorlage finden konnte, die eine (wenn auch selektive) Verschlagwortung des Romaninhalts betreibt.21 Wir können darin das Bemühen des Übersetzers (oder seines Verlegers) erkennen, die ‚Schwelle‘22 zum Text möglichst niedrig zu gestalten, um den Einstieg in die Lektüre zu erleichtern – Zschorn bietet knappe Zusammenfassungen, die es erlauben, sich ein Bild vom komplexen Handlungsgang der Aithiopika zu machen, ohne sich in Details zu verlieren oder auf die fremd klingenden Namen der Protagonisten achtgeben zu müssen.
19 Vgl. Stefan Seeber: Grüße nach Eilenburg. Johannes Zschorns Vorrede zu seiner AithiopikaÜbersetzung (1559). In: Parodie und Verkehrung. Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Seraina Plotke, Stefan Seeber. Göttingen 2016 (Encomia Deutsch 3), S. 89–110 zu parodistischen Aspekten von Zschorns Vorrede. 20 So lautet der Titel im bei Paul Messerschmidt 1559 veröffentlichten Erstdruck: AETHIOPICA HISTORIA. Ein schoene vnnd Liebliche Histori / von einem großmuetigen Helden aus Griechenland / vnd einer vber schoenen Junckfrawen / eines Koenigs dochter der schwartzen Moren (der Jüngling Theagenes / vnnd die Junckfraw Chariclia genant) darinn Zucht / Erbarkeit / Glück vñ Vnglück / Freud vnd laid / zů sampt vil gůter leren beschriben werden. Aus dem Griechischen ins Latin / vnnd yetzundt newlich ins Teutsch bracht / gantz kurtzweilig vnd nutzlich zů lesen. 21 Vgl. zum lateinischen Register z. B. Margaret A. Doody: The True Story of the Novel. New York 1997, S. 238. 22 In seiner einschlägigen Studie zu Phänomenen der Paratextualität bezeichnet Gérard Genette diese als ‚Schwellen‘, franz. seuils (Gérard Genette: Seuils. Paris 1987, dt: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt 1989).
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Bereits an dieser Inhaltsangabe zeigt sich zudem, dass Zschorn den umfangreichen Text Heliodors23 zusätzlich zur Einteilung in zehn Bücher noch in kleinere Abschnitte untergliedert hat, ohne dass sich dafür eine Vorlage in der lateinischen Edition Warschewiczkis finden würde. Die griechischen Aithiopika bieten zwar 272 kurze Leseeinheiten,24 doch diese sind in der lateinischen Übersetzung nicht übernommen. Ohne auf das griechische Vorbild zurückzugreifen, unterteilt Zschorn seinen Text in 76 Einzelkapitel mit Überschrift und einer knappen Inhaltszusammenfassung des Folgekapitels, um den Roman leichter lesbar und zugänglicher zu gestalten. Nach Titelblatt, Vorrede und Register stellt die Gliederung in die 76 Kapitel mit ihren kurzen Inhaltsangaben ein weiteres Mittel zur Verständnissicherung der Aithiopika dar. Über die Abschnitte verteilt finden sich zudem 384 Marginalien,25 die den Text kommentieren, unbekannte Begriffe erläutern, die Binnengliederung vertiefen oder kritisch das Geschehen kommentieren. Augenfällig ist der Versuch, den Rezipienten Fremdes und Ungeläufiges dadurch näherzubringen, dass es mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont verbunden wird, wie beispielsweise im Fall der Kybele, bei der eine Marginalie auf die Sage vom Teufel von Schiltach anspielt: Um die Schlechtigkeit der Kybele zu illustrieren, die als Kammerzofe ihrer verheirateten Herrin dabei helfen will, Theagenes zu verführen, erklärt der paratextuelle Kommentar ihr Verhalten nicht nur für verwerflich (etwa auf cxxxjv, cljr, clijr), es heißt zudem: „Die alt war vnmuessig wie der teufel zuo Schiltach“(cxxxvijv). So verweist Zschorns Marginalie auf den Brand des Württemberger Städtchens Schiltach im Jahr 1533 und auf die in diesem Zusammenhang erfolgte Hexenverbrennung, die in einer Reihe von Flugschriften verarbeitet worden ist.26 Indem der Paratext den Handlungsgang an einen regional bekannten Kriminalfall knüpft, wird ein Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten gestiftet. Alles in allem legen sich die Paratexte wie ein Korsett um den eigentlichen Text, insofern tritt der Erstdruck von Zschorns Aithiopika als bewusst leserlenkende Kombination aus Text und Schwellen zum Text vor seine Rezipienten. Bemerkenswerterweise geht Zschorn mit seinem Bemühen um die angemessene Rezeption in den Fußstapfen Heliodors selbst. Auch für die griechischen Aithiopika hat John R. Morgan festgehalten, dass es sich um einen „particularly directive 23 Vgl. dazu Tim Whitmarsh: Narrative and Identity in the Ancient Greek Novel. Cambridge 2011, S. 109 und S. 111. 24 Zur griechischen Abschnittsunterteilung vgl. Otto Weinreich: Verzeichnis der Kapitelanfänge. In: Heliodor: Aithiopika. Die Abenteuer der schönen Chariklea. Ein griechischer Liebesroman. Übertragen von Rudolf Reymer. Mit einem Nachwort von Otto Weinreich. Zürich 1950, S. 381f. 25 Eine systematische Erfassung der Marginalien legt Schäffer (Anm. 7), S. 20*–24* vor. 26 Siehe dazu weiterführend: Hans Harter: Der Teufel von Schiltach. Ereignisse, Deutungen, Wirkungen. Mit einer Quellendokumentation. Schiltach 2005 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Schiltach 2). Für den Brand am Gründonnerstag 1533 wurde eine Dienstmagd aus Oberndorf am Neckar verantwortlich gemacht, die kurz vor dem Ereignis aus Schiltach weg und nach Hause geschickt worden war. Man warf ihr vor, der Teufel habe sie fliegend nach Schiltach gebracht, um den Brand zu legen, so dass ihr Alibi, in Oberndorf gesehen worden zu sein, nicht ausreichte (vgl. ebd., S. 9).
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text“ handle, „armoured against misreading and minutely scripting the responses of its implied reader“.27 Zschorn nimmt dieses Bemühen des Textes auf und verstärkt es, indem er den Erzählebenen des Romans eine zusätzliche, paratextuelle Kommentatorstimme hinzufügt. Noch stärker als in seiner Vorlage vorgegeben legt er dabei Wert auf Aspekte des Wissens und der Wissensvermittlung, geht es ihm um ein Verständlichmachen eines potentiell schwer zugänglichen Werkes, das er seinen Leserinnen und Lesern nahebringen will. Dazu gehört auch, das Lesetempo zu beeinflussen,28 zugleich wird die immersive Wirkung, die besonders die Romankritik Heliodor immer wieder zuspricht, durch die Paratexte durchbrochen – nimmt man Zschorns Einhegung ernst und liest alle Kommentare mit, verlässt man in unregelmäßiger Folge die Ebene des erzählten Geschehens, wird man immer wieder mit dem Umstand konfrontiert, dass der rezipierte Text eine „Poetische Histori“ ist, und versenkt man sich nicht so leicht in die Handlung der Aithiopika: Deren Status als Literatur bleibt stets bewusst. Übersetzung Zschorns Art der Bearbeitung seiner Vorlage zeigt sich jedoch nicht allein darin, dass er die Paratexte als Korsett verwendet, um den fremden Text für das Publikum aufzubereiten. Mindestens ebenso wichtig ist die eigentliche Übersetzung selbst, die sich bei näherer Durchsicht als bis ins Detail durchdachte Auseinandersetzung mit dem Prätext erweist. Zschorn folgt nicht dem griechischen, sondern dem lateinischen Text,29 überträgt diesen aber nicht wortgetreu, sondern verändert ihn und setzt neue Schwerpunkte. Allerdings greift er dabei weder die Tektonik des Werkes an noch ändert er die narratio vom ordo artificialis zum ordo naturalis, wie dies Martin Crusius in der Inhaltsangabe der Aithiopika in seiner Epitome tut, um den Handlungsgang übersichtlicher nacherzählen zu können.30 Neben Detailänderungen stechen zwei prinzipielle Bearbeitungstendenzen Zschorns ins Auge: Zum einen streicht er die bei Heliodor prominent verwendeten ekphrastischen Darstellungen, wo immer es möglich ist, zum anderen reduziert er markierte Homerzitate und direkte Homerbezüge in etwa demselben Maße. Für beide Tendenzen muss hier ein exemplarischer Textausschnitt in der Gegenüberstellung von lateinischer und früh-
27 John R. Morgan: Reader and Audiences in the Aithiopika of Heliodoros. In: Groningen Colloquium on the Novel 4 (1991), S. 85–103, S. 99. 28 Zum Konnex von Marginalien und Lesetempo allg. vgl. William E. Slights: The Edifying Margins of Renaissance English Books. In: Renaissance Quarterly 42, Heft 4 (1989), S. 682–716. 29 Zu den Differenzen zwischen Heliodor und Warschewiczkis Übersetzung vgl. z. B. Victor Skretkowicz: European erotic romance. Philhellene Protestantism, Renaissance translations and English literary politics. Manchester, New York 2010, S. 129–132. 30 Martin Crusius: Aethiopicae Heliodori Historiae Epitome […], Frankfurt: Jobin, 1584, S. 15– 17. Zschorn bietet allerdings an dem Punkt im fünften Buch, an dem die Handlung das im Eröffnungsbild Dargestellte einholt, eine eigene Marginalie, die erklärt, dass man jetzt das eingangs Beschriebene wieder aufgreife (cjr).
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neuhochdeutscher Fassung genügen: Die berühmteste Stelle, die Ekphrasis vorführt, findet sich im dritten Buch in dem Moment, als Knemon, von Kalasiris’ Bericht heftig affiziert, Theagenes und Chariklea vor sich zu sehen glaubt. Kalasiris wird von der Begeisterung seines Zuhörers selbst wiederum dermaßen mitgerissen, dass er seine Vorstellung für Realität hält: Warschewiczki
Zschorn
Illi ipsi, Theagenes & Chariclia, exclamauit Cnemon. Vbi nam terrarum sunt isti? ostende: dicebat, per deos obtestans, Calasiris, conspici eos a Cnemone arbitratus. Ille autem: Videre me, inquit, pater etiam absentes putabam: adeo illos proprie, & quales uisos noui, animoque retineo, tua narratio expressit […] Sed o dulcem deceptionem, o suauem opinionem, quomodo me in spem sustulisti, cum te uidere charissimos, & ostensurum esse expectarem, Cnemon? (56A)
Cnemon sprach / mir ist als wann ichs also sehe. Dar auff Calasiris sagt / ich bitt dich durch die goetter / sag mir doch an welchem ort der weldt sie sind / zeig mirs doch / du hast mich vertroest ich werde sie bald sehen / Ach wie ein suesser betrug ist das / wie hast du mich in hoffnung bracht / da du mir von anfang vnsers gespraechs verheissen hast / mir noch heut meine aller liebste zuosehen lassen […]. (liijr).
Der programmatische Unterschied liegt in der Übersetzung des Ausrufs: „Illi ipsi, Theagenes et Chariclia“, der mit: „mir ist als wann ichs sehe“ wiedergegeben ist. Zschorns Cnemon ist sich der Selbsttäuschung bewusst, Warschewiczkis Cnemon hingegen ist enthusiasmiert und ohne Distanz, so sehr, dass seine Affiziertheit Kalasiris anzustecken vermag – und genau diese Affektation streicht Zschorn: Er mildert ab, ohne den Sinn zu ändern. Ähnliche Streichungen finden sich durch den ganzen Text hindurch, und auch Homeranspielungen versucht Zschorn zu reduzieren: Umfangreich diskutiert das Alter Ego des Erzählers,31 Kalasiris, in der lateinischen Fassung beispielsweise die vermeintliche ägyptische Herkunft Homers,32 Zschorn streicht diese Ausführungen ersatzlos und greift auch sonst immer wieder ein, um Homerbezüge zu vermindern oder ganz zu eliminieren. Indem er so verfährt, kürzt Zschorn nicht einfach nur, er modifiziert die Sinnstruktur des Textes. Dies geschieht in der Übersetzung analog zur Wirkung der paratextuellen Kommentatorinstanz, es handelt sich also um eine nicht explizit thematisierte, aber dennoch umfassende Überarbeitung der Romananlage auch auf der Ebene der Übersetzung. Der Eingriff in das poetologische Ökosystem der antiken
31 Vgl. zu Kalasiris etwa Thomas Paulsen: Inszenierung des Schicksals. Tragödie und Komödie im Roman des Heliodor. Trier 1992 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 10), S. 184 und Manuel Baumbach: An Egyptian Priest at Delphi. Calasiris as theios aner in Heliodorus’ Aethiopica. In: Practitioners of the Divine. Greek Priests and Religious Officials from Homer to Heliodorus. Hg. von Beate Dignas, Kai Trampedach. Washington 2008 (Hellenic Studies 30), S. 167–183, hier S. 183. 32 Vgl. zu dieser Passage Joachim F. Quack: Gibt es eine ägyptische Homer-Rezeption? In: Odyssee-Rezeptionen. Hg. von Andreas Luther. Frankfurt 2005, S. 55–72, hier S. 63 mit weiteren Literaturhinweisen. Die Stelle findet sich bei Warschewiczki: Heliodori Aethiopicae (Anm. 5), 62A.
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Vorlage ist weitreichend. Denn der griechische Roman ruht auf einem genau austarierten Gleichgewicht aus Epos- und Dramabezügen33 (die als etablierte, aristotelisch gewürdigte Gattungen dem Roman Dignität leihen sollen) im Wechselspiel mit innovativen, ‚eigenen‘ Ideen Heliodors. So wechselt der antike Autor in seiner Rezipientenlenkung beständig zwischen Immersionsanspruch und der Forderung an seine Rezipienten, die Aithiopika metafiktional zu reflektieren – damit schafft er ein literarisches Spiel von ungemeiner Sogwirkung. Alle diese Ebenen macht Zschorns Bearbeitung problematisch: Gegen das Wechselspiel von Immersion und Reflexion stellt er eine paratextuelle Erklärungsebene, gegen das gattungslegitimierende Zitat von Autoritäten bringt er eine Vereinfachung und Vereinheitlichung auf, die Heliodors Anlage zwar nicht aushebelt, aber doch in ihrer Wirkmacht begrenzt. Der innovative Roman wird so gleichsam gewöhnlich gemacht, er wird als eine Prosahistorie der Zeit im Stile einer Magelone oder eines Wickramschen Romans inszeniert.34 Zschorn sichert seinem Werk damit günstige Aufnahme in den zeitgenössischen Leserkreisen genau solcher Romane, und die Druckgeschichte seiner Aithiopika spricht in dieser Hinsicht für sich. Nach der editio princeps von 1559 mit vermutlich bis zu zwei Nachdrucken35 im selben Jahr finden sich weitere Drucke aus den Jahren 1580, 1587, 1597, 1601, 1624, um 1630, 1641 und ein nicht sicher datierbarer Druck aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts,36 hinzu kommt ein 33 Vgl. auch John R. Morgan: Heliodorus. In: Narrators, Narratees, and Narratives in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative. Hg. von Irene de Jong, René Nünlist, Angus Bowie. Bd. I. Leiden, Boston 2004 (Mnemosyne Suppl. 257), S. 523–543, hier S. 526 zur „dramatic illusion“ von Heliodors Erzählkonzeption. 34 Mit Wickrams Von guoten und boesen Nachbaurn (1556) teilen Zschorns Aithiopika zudem die ungewöhnliche Widmung an Verwandte bzw. Freunde: Wickram dediziert das Buch „Dem Ersamen Kunstliebhabenden Caspar Hanschelo / burger und des Goldtschmidt handtwercks zuo Colmar / meinem lieben gevattern“ (Georg Wickram: Von guoten und boesen Nachbarn. Hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1969 [Georg Wickram. Sämtliche Werke IV], S. 5, Z. 1–3), im Jrr reitend Bilger (1555) bedenkt Wickram wiederum seinen Vetter Georg Tüffe mit einer Widmung (Georg Wickram: Der irr reitende Pilger. Hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1972 [Georg Wickram. Sämtliche Werke VI], S. 5, Z. 1f.). Dass Zschorn die ebenfalls in Straßburg, wenn auch nicht bei Messerschmidt, sondern bei Knobloch gedruckten Werke Wickrams kannte, liegt nahe, ist aber nicht zu beweisen. 35 Thomas Veitschegger: Das Buch der Liebe (1587). Ein Beitrag zur Buch- und Verlagsgeschichte des 16. Jahrhunderts. Mit einem bibliographischen Anhang. Hamburg 1991, S. 76 geht von insgesamt drei 1559 erschienenen Auflagen der Aithiopika aus, die nicht erhalten sind. 36 Bodo Gotzkowski: ‚Volksbücher‘. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Bd. II: Die Drucke des 17. Jahrhunderts, mit Ergänzungen zu Band I. Baden-Baden 1994 (Volksbücher 2, Bibliotheca bibliographica Aureliana 142), S. 74 datiert um 1680, Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zu Theorie und Technik des barocken Romans. Diss. masch. Göttingen, 1955, S. 158 auf ca. 1660. Teichmann: Johannes Zschorn (Anm. 8), S. 10 kennt einen weiteren Druck von 1559, ebenfalls von Messerschmidt in Straßburg gefertigt, in dessen Vorrede die Überlegenheit der Aithiopika gegenüber Tristan und Amadis betont wird (eine ähnliche Aussage bietet die Vorrede Bassées zum Druck von 1580). Nur bibliographisch zu erschließen ist ein Druck von 1562, der in Frankfurt erschienen sein soll, vgl. Veitschegger: Das Buch der Liebe (Anm. 35), S. 77.
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verloren gegangener, nur bibliographisch erschließbarer Druck von 1562.37 Zschorn benimmt sich durch die Voraussetzungen, auf denen dieser Erfolg fußt, aber zugleich der Chance, poetologisch innovativ auf die Entwicklung der Gattung des Romans einzuwirken. Der Blick auf die französische Heliodortradition, die durch Amyots Proesme der Gattungsgenese des vormodernen Romans entscheidende Impulse gegeben hat,38 zeigt, was möglich gewesen wäre, von Zschorn aber – wohl bewusst – nicht geleistet worden ist. DIE AITHIOPIKA IM BUCH DER LIEBE (1587) Bevor auf Sigmund Feyerabends Buch der Liebe und seine prominente Positionierung der Aithiopika in der Mitte der Sammlung einzugehen ist, sei kurz ein Blick auf den zweiten belegten Druck von Zschorns Übersetzung geworfen, von Nikolaus Bassée 1580 in Frankfurt verantwortet,39 und es ist wahrscheinlich, dass gerade diese Ausgabe Feyerabend einige Jahre später als Vorlage seines Abdrucks gedient hat.40 Anders als Zschorn weist Bassée auf dem Titelblatt Heliodor als Autor der Aithiopika aus und hebt damit das Konzept auf, das Werk allein auf Inhalt und Übersetzer zu reduzieren, den Autor aber zu verschweigen. Auch der Widmungsbrief Bassées an Bartholomäus Schönkapp,41 der die Dedikation Zschorns an seine Vettern ersetzt, zeigt ein anderes Programm des neuen Herausgebers im Vergleich zur ersten Ausgabe: Bassée identifiziert Heliodor als „alten vnd beruehmten Scribenten“ (a ijr). Dann betont er den Wert seines Werkes, gerade auch vor dem Hintergrund, dass man zeitgenössisch ja auch die Getichte von dem Tristrant / Amadiß / etc. zu lesen wirdig achtet: wie viel mehr sind der alten Historien / so vor etlichen vnd tausendt jaren bey vnsern Vorfahrn / vnd frembden fuernemmen Nationen / fuer gut geachtet zu lesen / vnd in billichem wert zu halten (a iijv).
Bassée rekapituliert sodann den Weg der byzantinischen Handschrift in den Westen und in den Druck: Vnd damit ich eigentlich von disem Buechlein kuertzlich allhie meldung thue / hat solchs wolverschienener jaren ein Soldat oder Landsknecht / vnter weiland dem Durchleuchtigen Hochgeborn Fuersten vnnd Herrn / Herrn Casimiro Marggrauen zu Brandenburg / etc. hochloeblicher Christlicher gedaechtniß / im Land zu Vngern / vn den Reliquijs, vnd gleich vbergeblibenen brocken der stattlichen / vnd mit grossem vnkosten erzeugten Bibliotheca, deß auch weiland Großmaechtigen Koenigs Mattiasch / etc. zu handen bekommen / vnd weil solchs Buch in 37 Vgl. dazu Veitschegger: Das Buch der Liebe (Anm. 35), S. 76f. 38 Vgl. z. B. Günter Berger: Legitimation und Modell: Die Aithiopika als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189. 39 [Johannes Zschorn]: Heliodori Historia Aethiopica […]. Frankfurt: Bassée, 1580. 40 Vgl. dazu auch Veitschegger: Das Buch der Liebe (Anm. 35), S. 86f. 41 Bartholomäus Schönkapp war von 1575 bis 1617 Kanzlist der fürstbischöflichen Schreibstube in Würzburg, d. h. während der Amtszeit des Julius Echter von Mespelbrunn; seit 1585 war er zudem Keller von Dettelbach (vgl. zu ihm Barbara Schock-Werner: Die Bauten im Fürstbistum Würzburg unter Julius Echter von Mespelbrunn 1573–1617. Struktur, Organisation, Finanzierung und künstlerische Bewertung. Regensburg 2005, bes. S. 153).
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Seraina Plotke / Stefan Seeber Gold gebunden gewesen / mit sich in Teutschland / vnd gen Onoltzbach gebracht / da es denn ferrners dem hochgelehrte Herrn Vincentio Obsopoeo seligen zukommen / vnd also in Teutschland erst in Truck verfertiget worden. Vnd hat den solchs Opusculum, so bald es durch den Truck / wie erstgemeldt / an den tag kommen / allen Gelehrten / vnd der Griechischen Sprach verstendigen dermassen gefallen / daz sie oeffentlich schreiben vnd ruehmen doerffen / wie sie in Griechischer Sprach keinen lieblichern vnd luestigern Autorem nie nit gesehen noch gelesen. (a iijvf.)
Über diese Ausführungen werden die Aithiopika an genau die gelehrte Diskussion angebunden, die Zschorn ausgeblendet hatte, denn der Manuskriptraub wird auch in der griechischen42 und in der lateinischen (A iiv) Ausgabe in den Vorreden erwähnt, die Bassée augenscheinlich konsultiert hat. Zudem wird der Autor mit seiner großen Bedeutung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung dort (mit je unterschiedlicher Gewichtung) verhandelt. So beschwört Bassée auch mit Bezug auf Obsopoeus und Melanchthon zusätzliche Dignität für seinen Gegenstand herauf, den er „nit fuer ein lauter Geticht / sondern fuer eine Historien“ (a iiijv) hält, die an der Seite von Herodots Werk stehen kann. Zuletzt wendet sich Bassée der Frage nach der Übersetzung selbst zu. Er ist bei der „vorigen Version deß Johann Zschorn“ (a vr) geblieben, die ausreiche, obwohl keine Übersetzung an das griechische Original herankomme – immerhin werde der moralische Wert transportiert und Bildung vermittelt (a iiijv): Bassée spricht Zschorns Übertragung damit nicht die Wirkung beim Publikum ab, nur unterscheidet sich ihr Gewicht von dem des Ausgangstextes, da die Übersetzung die Poetik und ihre Implikationen nicht abbildet und den Text auf die utilitas reduziert, die er zu bieten vermag. Offenkundig vertraut Bassée zudem auf die paratextuelle Begleitung und Umrahmung, die Zschorn etabliert hat, denn er übernimmt sowohl die Inhaltsangabe als auch die Kapiteleinteilung und die Marginalien. Ergänzend fügt er illustrierende Holzschnitte an den Kapitelanfängen hinzu, so dass jede der 76 Einheiten mit einem ornativen Bild versehen ist.43 Mittels der Illustrationen verstärkt Bassée Zschorns Bemühen um einen niedrigschwelligen Zugang zum Text, der durch die Bebilderung zusätzlich aufgelockert erscheint. Damit unterstreicht er die bereits in der Widmung artikulierte Intention, Heliodor vor allem denjenigen zugänglich zu machen, die sich nicht mit dem Originaltext auseinandersetzen können. Zschorns Text wird so, bereinigt um das erratische Vorwort des Erstdrucks, als Heliodor für die NichtLateinkundigen endgültig etabliert. Mit Bassées Wiederabdruck der Übersetzung Zschorns ist die Basis für Sigmund Feyerabends Aufnahme der Aithiopika in sein Buch der Liebe gegeben, einer Sammlung von Texten, die der Verleger 1587 zur Frankfurter Buchmesse vorlegte. 42 Zum Raub des Textes aus der Bibliothek des Matthias von Ungarn vgl. die Anmerkungen von Obsopoeus in der Epistola dedicatoria, [a 2v]. In: [Vincentius Obsopoeus]: Historiae Aethiopicae libri decem, nunquam antea in lucem editi. Basel: Johann Herwagen, 1534. Siehe dazu auch Florian Gelzer: Der Einfluss der französischen Romanpraxis auf die Romane Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130), S. 119–139, hier S. 121. 43 Vgl. auch Schäffer (Anm. 7), S. 49*.
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Der Folioband ist prächtig gestaltet und mit 378 Holzschnitten verziert,44 von denen zumindest einer mit dem Monogramm Jost Ammans versehen ist.45 Er wendet sich augenscheinlich an ein zahlungskräftiges Publikum mit Sammelinteresse. Auf rund 400 Folioblättern bietet Feyerabend nämlich eine Art Sampler, indem er dreizehn Prosaromane in deutscher Sprache vereint, die alle – wie der Titel schon verspricht – das Thema der Liebe ins Zentrum stellen. Sämtliche Texte erzählen die Geschichten von Liebespaaren, die mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen haben und immer wieder getrennt werden, wobei einige mit einem Happy End abschließen, andere wiederum nicht. Fast alle dieser Erzählungen haben in der betreffenden frühneuhochdeutschen Textform vor ihrer Veröffentlichung im Buch der Liebe schon eigenständige Druckausgaben erhalten.46 Die stoffliche Herkunft der Texte, die Feyerabend mit diesem Druck gemeinsam vorlegt, ist heterogen. Erstens handelt es sich um Prosabearbeitungen von Erzähltexten, die schon im Hochmittelalter beliebt waren, wie beispielsweise die vierte, mit Ein wunderbarliche vnnd fast lustige Histori, von Herr Tristrant vnd der schönen Isalden [...] 47 betitelte Geschichte oder die Ritterliche History / Deß Hochberühmbten vnd Thewren Ritters, / Herrn Wigoleis vom Rade [...],48 welche den Abschluss des Bandes bildet. Zweitens werden Romane gegeben, die im 14. oder 15. Jahrhundert in der Romania entstanden sind und in ihren frühneuhochdeutschen Übersetzungen bereits eine Erfolgsgeschichte im Druck erlebten, wie der mit Ein fast schöne vnd kurtzweilige Histori, von der schönen Magelona [...]49 überschriebene zweite Text oder die neunte Erzählung Historia vnd Geschicht von Melusina [...].50 Drittens wiederum sind Werke aufgenommen, die überhaupt erst im 16. Jahrhundert und ohne fremdsprachige Vorlage erstellt worden sind wie Ein schöne kurtzweilige vnnd liebliche Histori, von dem Edlen vnd Thewren Ritter Galmyen [...],51 an dritter Stelle gegeben, oder der achte Text über Gabriotto und Reinhart mit dem Titel Ein schöne Histori, von sorglichem anfang vnd außgang der brinnenden Libe [...],52 beide stammen vom Kolmarer Schriftsteller Jörg Wickram. Eine Ausnahme bildet Zschorns Aithiopika-Übersetzung, von Feyerabend mit dem Titel Ein schöne vnd liebliche Histori, von einem großmütigen Helden auß Griechenland, vnd einer vberschönen Jungfrawen, eines Königs Tochter der schwartzen Moren (der Jüngling Theagenes, vnd die Jungfraw Chariclia, genannt) [...] 53 versehen, die als siebte Erzählung genau in der Mitte steht und damit gleichsam das Herz des Bandes darstellt. Als einzige stammt sie aus der Antike, zudem aus der griechischen, die mit 44 Die Zählung folgt Veitschegger: Das Buch der Liebe (Anm. 35), S. 185. Es finden sich zahlreiche Bildwiederholungen, der Grundstock der Illustrationen umfasst 98 Bilder. 45 Gemäß Flood trägt nur ein Bild das Monogramm Ammans (vgl. ebd., S. 186). 46 Vgl. ebd., S. 12. 47 Sigmund Feyerabend: Buch der Liebe. Frankfurt: Carl Feyerabend, 1587, 78v. 48 Ebd., 382r. 49 Ebd., 31v. 50 Ebd., 262v. 51 Ebd., 44v. 52 Ebd., 229r. 53 Ebd., 179v.
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dem Zusammenbruch des byzantinischen Reichs und der vollständigen Eroberung Konstantinopels durch die Türken in Mitteleuropa gerade erst wieder entdeckt wurde. Nicht nur aufgrund dieser Textauswahl,54 sondern allein schon wegen seiner Aufmachung stellt das Buch der Liebe ein bemerkenswertes Produkt der Mediengeschichte dar. Bereits die graphische Ausstattung des Bandes lässt Schlüsse hinsichtlich der konzeptionellen Überlegungen zu, welche die Herstellung des Drucks geleitet haben. Was die paratextuelle Rahmung und die graphische Anlage der einzelnen Romane angeht, ist als besonders markanter Punkt hervorzuheben, dass Feyerabend nicht nur die Einleitungen der Texte, wie sie in früheren Druckausgaben präsentiert wurden, weggelassen, sondern sämtliche Angaben zu Autoren und Übersetzern der Werke getilgt hat. Die dreizehn im Band vereinigten Geschichten sind verfasserlos und herkunftslos nebeneinander gestellt, sie haben damit ihre durch die ursprüngliche Provenienz gegebene Charakteristik verloren.55 Gerade für Zschorns Heliodor-Übersetzung bedeutet dies, dass sie unterschiedslos unter die anderen Romane gemischt ist, ihrer antiken Ursprünge gleichsam beraubt. Umgekehrt wird sie damit aber auch quasi eingemeindet, von ihrer herkunftsmäßigen Qualität her den übrigen Texten gleichgestellt: Sie wird als Teil des frühneuzeitlichen volkssprachlichen Prosaerzählens geboten, ungeachtet ihres differenten Herkommens. Zu dieser egalisierenden Vereinheitlichung der Texte im Buch der Liebe gehören insbesondere auch die Darstellungsmittel des Layouts. So sind sämtliche Romane in übereinstimmender Weise zweispaltig und reich illustriert präsentiert, eingeteilt in kurze Kapitel, die mittels einer knappen Inhaltsangabe des Folgenden – in der Art eines Leads – die Lektüre bestimmen. Im Fall der Aithiopika sind sowohl die Kapiteleinteilung als auch die komprimierten Inhaltsanzeigen aus Zschorns Straßburger Erstdruck übernommen, die schon dort Heliodors Text strukturieren. Die vielen Marginalien der Zschornschen Ausgabe hingegen hat Feyerabend nicht berücksichtigt, sie hätten das graphische Konzept des Buchs der Liebe offenkundig gesprengt. Auch die unzähligen in den Textverlauf integrierten Holzschnitte tragen in mehrfacher Weise zur Homogenisierung und Uniformierung der dreizehn Romane bei. Allein die Tatsache, dass sämtliche Werke in analoger Weise illustriert sind, indem die Bilder – in der Regel alle zwei bis drei Seiten – auf eine der mottoartigen 54 Zu den einzelnen ins Buch der Liebe aufgenommenen Texten und deren Druckgeschichte siehe ausführlich Veitschegger: Das Buch der Liebe (Anm. 35). 55 Einen egalisierenden Charakter haben insbesondere auch die stereotyp wirkenden Kopfzeilen, die den Druckseiten einen einheitlichen Charakter verleihen, sie lauten: 1. Vom Kayser Octaviano / Seinem Gemahel vnd Sönen; 2. Ein lustige Histori / Von der schönen Magelona; 3. Ein schöne Histori / Vom Edlen Ritter Galmy; 4. Ein schöne Histori / von Herr Tristrant; 5. Histori von der Lieb / Camilli vnd Emilie; 6. Ein schöne Histori / Von Florio und Bianceffora; 7. Ein schöne Histori / Von Theagene vnd Chariclia; 8. Ein schöne Histori / Von Gabriotto und Reinhart; 9. Ein Wunderbarliche Geschicht / Von der Edlen Melusina; 10. Der Ritter vom Thurn; 11. Ritter Pontus / Von Adelichen Tugenden; 12. Warhafftige Geschicht / Von Herzog Herpin; 13. Ritterliche History / Herrn Wigoleis vom Rade.
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Inhaltsangaben der Kapitel folgen, gleicht die Romane aneinander an. Darüber hinaus kommen die wenigsten Abbildungen unikal im Druck vor.56 Thomas Veitschegger hat errechnet, dass das Gros der Holzschnitte mehrfach im Buch der Liebe verwendet ist, einzelne bis zu zwölf Mal innerhalb des Foliobands.57 Dies ist deshalb möglich, weil die Darstellungen oft wenig spezifisch sind, so dass sie mühelos für verschiedene Romane benutzbar waren. Außerdem finden sich eine ganze Reihe inhaltlicher Motive in mehreren Werken gleichermaßen, so dass Holzschnitte, die derartige Sachverhalte illustrieren, ebenfalls unschwer wiederholt eingesetzt werden konnten. Welches Ansinnen der Verleger Feyerabend mit seiner Zusammenstellung der Romane verfolgte, insbesondere welches Publikum er für sein Buch der Liebe gewinnen wollte, dies lässt sich anschaulich anhand des zweifarbig gedruckten Titelblatts verdeutlichen, das ein Paradebeispiel für die mediengeschichtlichen Entwicklungen der damaligen Buchkultur darstellt. Im Lauf des 16. Jahrhunderts haben sich die Titelseiten von den unscheinbaren Deckblättern der Inkunabeln weg zu zentralen, marktstrategisch wirksamen Werbeträgern entwickelt, die dem potenziellen Käufer sämtliche Informationen lieferten, welche heute auf Titel, Klappentext, Kataloganzeigen etc. verteilt sind.58 Da man Bücher noch nicht gebunden (und geschnitten) kaufte – also auch kein Blättern im Band vor dem Erwerb vorgesehen war –, war es von Vorteil, wenn die Titelseite möglichst viele Angaben enthielt, um den etwaigen Kunden zur Anschaffung des Drucks zu animieren. Das Titelblatt des Buchs der Liebe zeigt eine klare Struktur und ist mehrgliedrig aufgebaut, wobei nicht nur das Layout, sondern auch die Verwendung von Rotdruck zur Übersichtlichkeit beiträgt. Besonders prominent herausgestellt wird die erste allgemeine Inhaltsangabe nach der eigentlichen Überschrift, die ihrerseits graphisch wenig pointiert ist. So heißt es unmittelbar nach der eher unscheinbaren Nennung des Titels Buch der Liebe zentriert gedruckt „Inhaltendt:“, und in zunächst überdimensionalen Lettern, die sich mehr und mehr verkleinern, sobald der Leser werbewirksam in den Bann des Textes gezogen worden ist, werden angepriesen: Herrliche Schöne Historien Allerley Selten und newen Exempel / darauß menniglich zu vernemen / beyde was recht ehrliche / dargegen auch was unordentliche Bulerische Lieb sey / Wie so gar wunderbarlicher weiß / die so wol hohes als nidern stands Personen offtermals eyngenommen / Auch mit was seltzamen Abenthewren / und grosser Leibs und Lebens gefahr / sie solch ihr fürnemmen ins Werck gericht / biß ihnen endtlich durch Glücks schickung / zum theil ein frölich gewündscht endt / zum theil aber ein erbärmlicher außgang erfolget.
56 Ganz abgesehen davon, dass viele auch schon in anderen Drucken Feyerabends verwendet wurden (Veitschegger: Das Buch der Liebe [Anm. 35], S. 184). 57 Ebd., S. 185. 58 Vgl. etwa Ursula Rautenberg: Printer’s and publisher’s devices and the title-page in Germany, Venice, the Netherlands and Basle. In: L’Erasmo. Trimestrale della civilità Europea 25 (2005), S. 14–20; dies.: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig. Quantitative und qualitative Studien. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 62 (2008), S. 1–105.
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Gleich zum Auftakt werden damit – über die Schriftgröße graphisch hervorgehoben – zentrale Signalwörter präsentiert, die alles Weitere einordnen. Die gesammelten Romane werden als „Historien“ bezeichnet, womit ein Terminus der antiken Rhetorik aufgegriffen wird, der in der Poetologie des Mittelalters eine essentielle Rolle spielte und für die Entwicklung der Romanpoetik bis ins 18. Jahrhundert in seiner Relevanz gar nicht überschätzt werden kann.59 Auch die Epitheta „herrlich“ und „schön“ bieten Charakterisierungen der im Buch der Liebe vereinigten Texte, die für die Bewertung des Prosa-Erzählens im 16. Jahrhundert ausschlaggebend und in den Titeln der einzelnen Romane auch mehrfach wieder aufgegriffen sind. Sie betreffen sowohl den Inhalt als auch die Form der annoncierten Texte, zielen einerseits auf ständische Aspekte, was im Verlauf des Titelblatts mehrfach wieder aufgegriffen wird, andererseits auf die höfische Unterhaltung. Dem Gebot der Neuheit, die als positiv konnotiertes Merkmal des Erzählens auch über den Begriff der ‚Novelle‘ Eingang in die frühneuzeitliche Poetologie gefunden hat, wird mittels des Attributs der „newen Exempel“ Rechnung getragen – über Letzteres ist der Aspekt des Lehrhaften bemüht, der im Weiteren noch ausführlicher bedient wird. Die Kennzeichnungen „Selten, gar wunderbarlicher weiß“ oder auch die Bestimmung der „seltzamen Abenthewren“ sollen ebenfalls das Interesse der potenziellen Rezipienten wecken, indem das Besondere und Unalltägliche der folgenden Geschichten hervorgehoben wird. Eine explizit lehrhaft-moralische und auch standespolitische Sichtweise ist über die differenzierende Bewertung der „recht ehrliche[n ... und] unordentliche[n] Bulerische[n] Lieb“ thematisiert. Mit ihr ist ein Kernpunkt des Bandes angesprochen, da die Unterscheidung von recht- und unrechtmäßiger Liebe in den versammelten Texten insofern immer wieder ausgestellt wird, als nur diejenigen Erzählungen, die standeskonforme und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entsprechende Liebesbeziehungen schildern, zu guter Letzt auch glücklich ausgehen. Gerade die Geschichte von Theagenes und Chariklea spiegelt diesen Gesichtspunkt in elementarer Weise wider, da sich das hochadlige Liebespaar durch Keuschheit vor der Ehe, Aufrichtigkeit und absolute Treue auszeichnet. Dieser Aspekt wird im Weiteren vertieft, indem der Wortlaut des Titelblatts festhält: Wie dann solchs auß den Exempeln der unschuldigen Princessin / Keysers Octaviani Gemahel / sampt der keuschen Hertzogin in Britannien / welche beyde bey höchster unschuldt zu dem grimmigen Todt deß Fewers verurtheilt / Aber doch endtlich durch Gottes deß gerechten Richters versehung ihre unschuldt hell an Tag kommen / So auch unzehlich viel anderer hohen stands Personen / als Königin / Fürstin / Grävin / und vom Adel / deren diese Historien meldung thun / augenscheinlich zu ersehen.
Über den Rekurs auf die Protagonistinnen der ersten und der dritten Erzählung des Bands lenkt Feyerabend den Fokus auf herrschaftliche Frauen, die er als Käuferinnen wohl besonders adressieren möchte. Feststeht, dass sich den aufwändig illustrierten Folioband nur leisten kann, wer über genügend finanzielle Mittel verfügt. 59 Siehe grundlegend: Joachim Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984.
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Adlige Damen, die sich in den diversen aristokratischen Heldinnen der Romane spiegeln konnten, gehörten offensichtlich zum gewünschten Käufer(innen)kreis des Verlegers. Auch die hochgeborene Chariklea der Zschornschen Übersetzung von Heliodors Aithiopika, die ebenfalls unschuldig auf dem Scheiterhaufen landet, passt bestens zu den explizit pointierten Frauenfiguren. Graphisch abgehoben sind auf der Titelseite weitere Überlegungen zum Inhalt des Foliobands, layout- und farbtechnisch in vier Abschnitte gegliedert, die in der Art von Spiegelstrichpunkten Sinn und Zweck des Drucks fernerhin erläutern. So wird in einem ersten zusätzlichen Absatz konstatiert: Demnach / welcher gestallt die vom Adel / und andere so zu Hof seyn / Ritterschafft uben / oder sonst nach hohen Ehren streben / sich zu verhalten / damit sie bey grossen Potentaten gnad und gunst erwerben / so auch bey menniglich Lob und Preiß erlangen mögen.
Neben den adligen Damen kommt eine zweite Klientel in den Blick, nämlich die Hofleute, denen der Verleger verspricht, im Buch der Liebe Angaben und Richtlinien hinsichtlich des angemessenen Verhaltens in der höfischen Gesellschaft zu finden. Damit ist eine Zwecksetzung des Foliobands genannt, die in der Literatur des 16. Jahrhundert in Form der Hofmannstraktatistik einige Prominenz erreicht hat: Als Beispiel hervorzuheben ist zuvorderst der 1528 gedruckte Libro del Cortegiano von Baldassarre Castiglione.60 Auch das Buch der Liebe bringt den Nutzen – so kündigt es zumindest das Titelblatt an –, Handreichungen in Sachen Lebenswandel am Hof zu geben und den geneigten Leser in Fragen des höfischen Benehmens quasi zu schulen. Die Protagonisten der in den Folioband integrierten Werke werden damit zum Spiegel der ins Auge gefassten Käufer stilisiert. Was im Leben der adressierten Rezipienten im Vordergrund steht, dies werde sichtbar anhand der „herrlichen schönen Historien“, so lautet das literarische Programm des Verlegers. Entsprechend hält der nächste Gliederungspunkt auf dem Titelblatt fest: Ferner / wie in allen weltlichen Händeln / bevorab in Liebsachen und Ritterspielen / das Glück so gar wanckelmütig und unbestendig / und jetzt durch offentliche gewalt / dann mit heimlichen
60 Vgl. etwa die Edition: Baldesar Castiglione: Il libro del Cortegiano. Hg. von Walter Barberis. Turin 1998. Castigliones Text ist bereits im 16. Jahrhundert gleich zweimal ins Deutsche übersetzt worden: Hofman / Ein schon holdselig Buoch / in Welscher sprach der Cortegiano / oder zuo Teutsch der Hofman genannt / Welches seinen ursprung und anfang / an dem Fürstlichen Hof zu Urbino empfangen / lustig zulesen / Etwa in Italiänischer Sprach durch Graf Balthasern Castiglion beschriben worden. Nunmals in schlecht Teutsch / durch Laurentzen Kratzer Mautzaler zu Burckhausen transferiert. München, 1565; Der Hofmann / Deß wolgebornen Graven / Herren Balthasars von Castiglion. In vier Bücher abgetheylt / darinnen gantz lieblich und zierlich begriffen und verfaßt / wie ein rechtschaffner und Adelicher Hofmann in allen stucken soll beschaffen sein / wie er sich im Dienst seines Fürsten / auch im Conversiern mit seines gleichen verhalten solle. Item ein gantz zierliche und eygentliche Beschreibung / einer Adelichen Tugentlichen HofFrauen. Allen Liebhabern und Fürderern der wahren Höflicheit / fürnemlich aber allen Ehr und Tugentliebenden vom Adel / nit allein lieblich / sonder auch nutzlich zulesen. Jetzunder unserm allgemeynen Vatterland zum beßten / in unser Teutsche Sprach Transferiert und gebracht: Durch Johann Engelbert Noyse, Dillingen, 1593.
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Seraina Plotke / Stefan Seeber Tücken der Tugendt und Frömbkeit zu zusetzen pflegt / und dadurch von ihrem guten fürsatz abwendig zu machen vermeynet.
Das moralische Ansinnen ist hier expliziert und auf die frühneuhochdeutschen Begriffe der „Tugendt und Frömbkeit“ gebracht. Sie beide gilt es hochzuhalten in allen Wirren des Daseins, wie sie dem edelmännischen und vornehmen Leben blühen – „in allen weltlichen Händeln / bevorab in Liebsachen und Ritterspielen“ –, wovon die dreizehn Prosaromane des Buchs der Liebe Beispiel geben. Dies bestätigen die weiteren Überlegungen, die eher aus graphischen als aus inhaltlichen Gründen einen getrennten Absatz erhalten haben und die Paarformel der „Tugendt und Frömbkeit“ wörtlich wieder aufgreifen: Letzlich / wie in solchen Fällen / Tugendt und Frömbkeit / ire Nachfolger und Liebhaber / ungehindert allerhand anstöß und widerwertigkeit / allwegen herauß zu reissen / und endlich mit grossen freuden in Ehrenstandt zu bringen und setzen pflegen.
Zu guter Letzt bringt Feyerabend die Zwecksetzung seines Liebesroman-Samplers nochmals konzentriert auf den Punkt, wobei er als geschäftstüchtiger Verleger den intendierten Käuferkreis neuerlich ausdrücklich umwirbt: Aller hohen Standts personen / Ehrliebenden vom Adel / züchtigen Frauwen und Jungfrauwen Auch jederman in gemein so wol zu lesen lieblich und kurtzweilig / als liebs und leyds nahe verwandtschaft / Glücks und Unglücks wunderbarliche wechssel / und dann die kräfftige Hülff Gottes in nöten hierauß zu erkennen / und in dergleichen fällen sich desto bescheidener zu verhalten / fast nützlich und vorträglich.
Überdeutlich wird hier, dass das Buch der Liebe als Spartenprodukt des sich etabliert habenden Buchmarkts begriffen werden muss, das sich an eine spezifische Klientel richtet und diese entsprechend auf dem Titelblatt umschwärmt. Die Protagonisten der Prosaromane und ihre Schicksale werden dabei enggeführt mit der ins Auge gefassten Käuferschicht: Schließlich sind auch die Figuren der Erzählungen vornehmlich „hohen Standts personen“, sind „Ehrliebende[] vom Adel“. Wenn Feyerabend hier – eher konzedierend – festhält, dass die versammelten Geschichten „Auch jederman in gemein so wol zu lesen lieblich und kurtzweilig“, dann denkt er mit Sicherheit an das finanzkräftige Stadtbürgertum, das als Kundschaft nicht ausgeschlossen werden soll und das sich – in aufstrebender Weise – durchaus auch in den wohlgesitteten Akteuren der Prosaromane spiegeln konnte und wollte. Bei den Heldinnen im Buch der Liebe handelt es sich programmatisch um „züchtige[] Frauwen und Jungfrauwen“; sie werden in den Erzählungen dadurch ausgezeichnet, dass ihre Geschichten glücklich ausgehen, wobei auch in diesen Fällen meist „die kräfftige Hülff Gottes“ notwendig ist für das gute Ende. Werden die ständisch-moralischen Vorgaben nicht eingehalten, dann zeigt sich das Schicksal weniger gnädig, und es kommt zum Bruch der Beziehung, oft sogar zum Tod der Protagonisten. Dann handelt es sich um „unordentliche Bulerische Lieb“, wie es von Feyerabend weiter oben auf der Titelseite prominent prononciert ist. Damit ist ein Punkt thematisiert, der dem Verleger offensichtlich nicht ganz unproblematisch erschien, der Umstand nämlich, dass der eine oder andere Prosaroman Passagen enthält, die moralisch anstößig sind, in denen – wie etwa im Trist-
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rant – die Protagonisten, mit denen der Leser mitfiebert und sich mit ihnen identifiziert, sogar Ehebruch begehen. Abgesehen davon konnte schon Erzählen von der Liebe als solches dahingehend bewertet werden, dass es die Rezipienten überhaupt erst auf unehrbare Gedanken bringt. Diesem Gedanken begegnet Feyerabend in einem – nicht in allen erhaltenen Exemplaren eingebundenen – vierseitigen Widmungsschreiben an die hessische Landgräfin Hedwig, die als adlige Frau zum Kern des fokussierten Kundenkreises gehörte. In diesem Einleitungsbrief thematisiert der Verleger ausführlich die Macht des Cupido im Weltenlauf, mit der man sich im Grunde genommen schon aus erzieherischen Gründen auseinanderzusetzen habe. Greifbar wird also auch hier das Programm, am positiven Beispiel von sittsamen und ehrbaren Akteuren die Vorbildhaftigkeit treuer und keuscher Liebe vorzuführen, im Falle der „unordentliche[n] Bulerische[n] Lieb“ – zu der nicht nur der Ehebruch, sondern auch die ständische Mesalliance gehört – das Scheitern eines derartigen Verhaltens vor Augen zu stellen. Dass sich gerade Heliodors Protagonisten bestens für ein solches Vorhaben eigneten, liegt auf der Hand. Sie bilden in idealer Weise ab, wie sich Standhaftigkeit und stete Treue durch zahlreiche Abenteuer und Wirrnis hindurch zu behaupten vermögen, um zu guter Letzt mit einem glücklichen Ende belohnt zu werden. Auch wenn die Aithiopika dank Zschorns Übersetzung überhaupt erst wenige Jahre vor der Veröffentlichung von Feyerabends Buch der Liebe für das volkssprachliche Publikum entdeckt wurden, bilden sie doch geradezu den Prototyp einer Liebesgeschichte, in der sich die moralisch integren Figuren durch sittsames Wohlverhalten noch in den schwierigsten Lebenslagen auszeichnen. Genau in der Mitte des Bands präsentiert, können sie daher mit Fug und Recht als Kern und Herzstück der Feyerabendschen Sammlung gelten.
TRANSFORMATION STATT TRANSLATION: PLURALE HELIODOR-IMITATIO AM BEISPIEL VON EXORDIALTOPIK IM DEUTSCHSPRACHIGEN ROMAN DES 17. JAHRHUNDERTS Andreas Keller Als lingua franca ermöglichte das Latein den europäischen Gelehrten unterschiedlicher Zunge zwar das freie Kommunizieren von Wissensinhalten, gleichzeitig aber fungierte es auch als ein Herrschaftsinstrument für durchaus zentralistische Zwecke: im Sinne einer imperialen Kollektivierung regionaler Diversitäten blieb das antike Idiom langfristig mit dem universalistischen Machtanspruch von weltlichen und geistlichen Eliten gekoppelt. Kaiser und Papst erhoben im Zuge der translatio, einer juristisch verstandenen Übertragung der antiken Reichsgewalt mit allen Befugnissen, einen großflächigen Verfügungsanspruch, nicht nur in der landesherrlichen Verwaltung (translatio imperii), sondern indirekt auch im Bereich der Wissenschaften (translatio studii) und Künste (translatio artium). Eine solche herrschaftssprachliche Hegemonie lässt „Translation“ im Sinne der lingualen „Übersetzung“ – also ein bilaterales symmetrisches Kommunikationsverfahren zwischen zwei Kulturen oder Sprachen – noch lange als verzichtbare Größe erscheinen.1 Die volkssprachliche Umsetzung und Verbreitung von Sachinformation bzw. die gezielte Ansprache monolingualer Personenkreise und damit die Handlungsbefähigung des Laien in den genannten Bereichen bleiben vor allem im deutschen Sprachraum tatsächlich bis weit in das 17. Jahrhundert hinein wenig ausgeprägt. Die Gelehrtenwelt verschafft sich lediglich im 16. Jahrhundert eine Optimierung des 1
Vgl. unter dem Aspekt eines „Fremdsprachenbewusstseins“ und mit weiteren Verweisen: Peter von Moos: Epilog. Zur Bedeutungslosigkeit fremder Sprachen im Mittelalter. In: Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8. bis 16. Jahrhundert). Akten der 3. deutsch-französischen Tagung des Arbeitskreises „Gesellschaft und Individuelle Kommunikation in der Vormoderne“ (GIK) in Verbindung mit dem Historischen Seminar der Universität Luzern, Höhenscheid (Kassel) 16.11.–19.11.2006. Hg. von Peter von Moos. Wien 2008, S. 687–712; zu den seltenen Fällen von ihrerseits durchaus affirmativ bzw. hegemonial angelegten Übersetzungen bzw. Diglossien vgl. Christine Stridde: Textsymbiosen. Latein und Volkssprache im Spannungsfeld von Gebrauchsituation und Gebrauchsfunktion. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 133 (2001), S. 421–442; Almut Schneider: ... in tiutsche sprâche rihten. Argumentationsmuster bei der Herausbildung einer eigenständigen deutschen Sprache und Literatur vom 8. bis ins 16. Jahrhundert. In: Abgrenzung-Eingrenzung. Komparatistische Studien zur Dialektik kultureller Identitätsbildung. Hg. von Frank Lauterbach u.a. Göttingen 2004, S. 228–282; ferner: Herfried Münkler: Sprache als konstitutives Element nationaler Identität im Europa des späten Mittelalters. In: Was heißt hier ‚fremd‘? Studien zu Sprache und Fremdheit. Hg. von Dirk Naguschweski, Jürgen Trabant. Berlin 1997, S. 115–135.
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sprachlichen Zugriffs auf ihre Gegenstände durch die Wiederbelebung („Renaissance“) eines klassischen, unverderbten Latein. Die elitäre Isolierung des Wissenstransfers bleibt davon jedoch unberührt. 1. PARZELLIERUNG UND RELATIVIERUNG SPRACHHOMOGENER VERFÜGUNGSGEWALT Die Praxis eines sprachlich-imperialen Universalismus stößt allerdings bereits seit dem 13. Jahrhundert in Italien, wenig später auch in Frankreich oder England auf Widerstand. Hier gewinnt der Begriff der natio – aktuell lediglich ein Mittel zur verwaltungstechnischen „Binnendifferenzierung“2 im Sinne von Landsmannschaften bei Konzilen, Universitäten oder Messen – zunehmend auch ein politisches Profil und nähert sich damit dem neuzeitlichen Verständnis von Nation als einem selbst bestimmten Handlungsverband in einem geographisch definierten Handlungsraum an. Tritt nun noch ein so tatkräftiger wie machtbewusster Territorialregent hinzu, der sich auf die juristische Formel rex est imperator in regno suo beruft, so erwachsen für Kaiser und Reich durchaus binnenterritoriale Gegenkräfte. Stellten bereits die Vorstöße von Dante und Petrarca im 14. Jahrhundert das kaiserliche translatioVerständnis in Frage,3 so wehrt sich bald auch Frankreich besonders tatkräftig gegen eine „transnationale Stellung von Reich und Kirche“.4 Der römisch-deutsche Imperator sieht sich zunehmend zu restaurativen Bemühungen um die gesamteuropäische universitas christiana veranlasst. Je mehr die frühmittelalterliche Einheit von imperium und ecclesia dann zerfällt, desto stärker etablieren sich einzelne und als solche rasch konkurrierende Interessensubjekte bzw. -kollektive.5 Diese aber erheben nun aus ihrer territorialen Sicht heraus den Anspruch, nicht nur in politischen und kirchlichen, sondern etwa auch in bildungsrelevanten Angelegenheiten zu verhandeln und zu entscheiden. Im 2
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Den treffenden Begriff bietet Herfried Münkler an: Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des 1. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 54–86, hier S. 59. In seinem Werk De Monarchia (um 1316) spricht Dante dem deutschen Kaiser das Recht auf die Gesamtherrschaft im Sinne der römisch-antiken Cäsarennachfolge ab, diese komme allein und ausschließlich dem römischen Volk zu. Vgl. hierzu: Klaus Garber: Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen. Implikationen und Perspektiven. In: Nation und Literatur (Anm. 2), S. 1–55, hier S. 11ff. Vgl. Jörn Garber: Trojaner, Römer, Franken, Deutsche. In: Nation und Literatur (Anm. 2), S. 108–163, hier S. 137f. Vgl. Günter Lottes: Faktoren und Konstellationen europäischer Kulturraumbildung von der Reformation bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: Brennpunkte kultureller Begegnungen auf dem Weg zu einem modernen Europa. Identitäten und Alteritäten eines Kontinents. Hg. von Cornelia Klettke, Ralf Pröve. Göttingen 2011, S. 9–25; Merio Scatolla: Autorität und Pluralisierung in den politischen Lehren des 17. Jahrhunderts. In: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Hg. Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller, Wulf Österreicher. Berlin u.a. 2013, S. 391– 426.
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Sinne eines gemeinschaftlichen Bewusstseins ziehen sie hierfür natürlich ihre Landessprache vor:6 es ist das gemeinsame und einheitliche Idiom, das als Differenzmittel nach außen, aber auch als Reflexionsmedium nach innen identitätsstiftend wirkt. Indem die stilistisch entsprechend optimierten Vernakularsprachen im praktischen Gebrauch zunehmend aufrücken, relativiert sich die antike Sprachdominanz. Aktuelle, das politische Kollektiv betreffende Fragen diskutiert die mit ihm identische Sprechergemeinschaft auf der Basis einer deutlich wachsenden regionalen Sprachkompetenz. In Verbindung mit der Dynamik einer territorialen Souveränität bedeutet das natürlich umgekehrt auch die nachhaltige Exklusion von anderssprachigen Gruppen.7 Was im europäischen Rahmen insgesamt abläuft, wiederholt sich dann im kleineren Maßstab auch im deutschen Bereich. Nach dem Verlust der italienischen und französischen Gebiete oblag es dem Kaiser, das Verbliebene als ‚Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation‘ zu festigen und den europäischen Universalismus nun ebenfalls durch die Idee einer autochthonen Nation im Sinne einer ethnisch begründeten Gemeinschaft zu ersetzen. Allerdings wollte der autoritär verordnete und zumeist künstlich beschworene „Reichspatriotismus“8 vor dem Hintergrund der traditionell sehr starken Parzellierung des ‚deutschen‘ Reichs keine allzu große Wirkung zeigen. Die verschiedenen Reichsstände, vor allem die zunehmend selbstbewussten Fürstentümer, erblickten hier die greifbare Chance einer realen Souveränität und beriefen sich lieber auf den historischen Pluralismus der germanischen
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Vgl. hierzu die Fallstudien aus verschiedenen landessprachlichen Bereichen in: Latein und Nationalsprachen in der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller. Wiesbaden 1998; ferner: Gerda Haßler: Identität durch Sprache. Der Diskurs zur Apologie der Vernakularsprachen bis zum 18. Jahrhundert. In: Brennpunkte kultureller Begegnungen (Anm. 5), S. 47–69. Hier nun erhält ‚Übersetzung‘ als multilinguales bzw. multilaterales Verfahren seine kulturgeschichtliche Bedeutung, vgl. Peter Burke: The renaissance translator as go-between. In: Renaissance go-betweens. Cultural exchange in early modern Europe. Hg. von Andreas Höfele, Werner von Koppenfels. Berlin 2005, S. 17–31; Jan-Dirk Müller: Übersetzung in der Frühen Neuzeit. Zwischen Perfektionsideal und einzelsprachlicher Differenzierung. In: Übersetzung und Transformation. Hg. von Hartmut Böhme, Christof Rapp, Wolfgang Rösler. Berlin, New York 2007; Peter Burke: Cultures of translation in Early Modern Europe. In: Cultural Translation in Early Modern Europe. Hg. von Peter Burke, Ronni Po-Chia Hsia. Cambridge 2007, S. 7–38, in Übersetzung von Stefan Edei und Christina Lutter: Peter Burke: Übersetzungskulturen im frühneuzeitlichen Europa. In: Übersetzungen. Hg. von Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen. Bielefeld 2012 (zugl. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6, Heft 2 [2012]), S. 17–50. Vgl. mit weiteren Hinweisen: Wilhelm Kühlmann: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung. In: ders.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt, Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 84–103; Joachim Bahlcke verweist darauf, dass der „Reichspatriotismus“ vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten stark wurde: Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. München 2012, S. 5.
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Stämme bzw. auf den aktuellen Erfahrungshorizont diplomatischer Spielräume als auf eine weitgehend artifizielle Reichseinheit.9 Es waren dann natürlich die Reformationsereignisse bzw. die sich anschließende Konfessionalisierung, die nun die entsprechenden Spannungsverhältnisse verstärkten: die Forderung nach religiöser Selbstbestimmung in ‚sub-nationalen‘ Herrschaftsräumen erzeugte eine Abgrenzungskomponente von denkbar großer Dynamik. Eine reichsübergreifende ‚nationale‘ Lösung des kirchlichen Reformproblems schien nach 1518 aufgrund der unterschiedlichen Zustimmungslage in den Territorien zu den Wittenberger Thesen – ganz abgesehen von der außenpolitisch bedingten Schwäche (Türkenkriege) des Reichsoberhaupts – kaum noch möglich. Der Augsburger Religionsfrieden beschließt nunmehr die kirchenrechtliche Konsequenz des cuius regio – eius religio und sanktioniert damit die partikulare Autonomie. Die Territorien verschiedener Konfessionalität grenzen sich durch die jeweils eigene Regelung der Glaubensfragen, durch unterschiedliche Verwaltung und Erziehungsinstitutionen voneinander ab und behaupten diese Grenzen mit allen Mitteln – bis hin zur militärischen Konfrontation. Mit der Befriedung 1648 etablieren sich dann endgültig die von der Zentralgewalt weitgehend emanzipierten Herrschaftssubjekte. Der Landesherr positioniert sich als ein souveränes Machtzentrum und festigt dies durch eigene Bündnispolitik nach außen wie durch Sozialdisziplinierung nach innen. Allerdings erschien es geboten, die administrativen, diplomatischen oder eben auch militärischen Aktivitäten zusätzlich mit publizistischen bzw. literarischen Mitteln zu flankieren. Im Sinne der notwendigen realpolitischen Akzeptanz hieß es die Binnennation als neue politische Entität, als Handlungsfaktor im Bewusstsein der betroffenen ‚Staatsvölker‘ wie auch dem ihrer Gegner entsprechend zu profilieren. Den ersten Schritt hierzu hatte ja bereits die reformatorische Theologie im 16. Jahrhundert geleistet, indem sie die religiöse Elementarlehre in der Landessprache verfügbar machte bzw. die faktische Abkoppelung vom kollektivistischen Latein erfolgreich zugunsten einer ‚internen‘ Verständigung über Heilsfragen initiierte. Und nicht nur die gelehrten Theologen bleiben weiterhin gefragt: die realgeschichtliche Entwertung der universalen Strukturen zugunsten einer pragmatischen Territorialherrschaft verläuft jetzt auch über die weltlichen Diskurse. Neben der im 16. Jahrhundert schon deutlich regional ausgerichteten Landesgeschichtsschreibung10 finden die Fragen vor allem in den juristischen Abhandlungen ihre argumentative
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Vgl. hierzu die Beiträge in: Föderationsmodelle und Unionsstrukturen. Über Staatenverbindungen in der frühen Neuzeit vom 15. zum 18. Jahrhundert. Hg. von Thomas Fröschl. Wien 1994; bzw. den Forschungsaufriss bei Bahlcke: Landesherrschaft (Anm. 8). Zur dezentralen Konkretion im kulturellen Bereich: Handbuch der kulturellen Zentren der Frühen Neuzeit. Hg. von Wolfgang Adam, Siegrid Westphal. Berlin u.a. 2012. 10 Vgl. systematische Fragen und exemplarische Untersuchungen in: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hg. von Franz Brendle u.a. Stuttgart 2001; Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume. Hg. von Johannes Helmrath, Albert Schirrmeister, Stefan Schlelein. Berlin, Boston 2013.
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Legitimation: Rechtshistoriker des 17. Jahrhunderts wie Hermann Conring,11 Veit Ludwig von Seckendorff, Samuel Pufendorf oder auch Gottfried Wilhelm Leibniz12 negieren in protestantischer Tradition den theologisch fundierten Universalreichsbegriff und dessen römische Orientierung und setzen dagegen eine germanischdeutsche Rechts- und Verfassungsentwicklung, die sich gleichwertig zu der einer jeden anderen Nation vollzogen habe. Vor allem den territorialen Teilgewalten komme dabei das Recht zur eigenverantwortlichen Entscheidung über die eigenen Angelegenheiten zu. Die Fürsten sind lediglich ‚ungleiche Verbündete‘, nicht aber ‚Untertanen‘ des Kaisers. Das Reich bildet zwar eine Einheit, dieser aber entspricht gleichrangig auch die Vielheit ihrer Teile. Neben der wissenschaftlichen Publizistik13 und der öffentlichen Rede14 ist es dann vor allem auch die Poesie, die nun ihrerseits die neuen ‚Regional-Nationen‘ in der großen Bandbreite verschiedener Öffentlichkeiten zu etablieren versucht. Das reiche Arsenal der oratorischen Evidenz, die höchst eigenen Lizenzen der Fiktion, der Imagination und Spekulation sind den faktenbasierten Wissenschaften mit ihrer Verpflichtung auf Logik und Kausalität dabei durchaus überlegen: zum praktischen Einsatz kommen hier etwa die körperhaft konkrete Prosopopöie, die bezugreiche Allegorie oder die stimulative Emblematik – allesamt Instrumentarien, die ein verwickeltes diplomatisches Geschehen oder das prospektiv politisch Mögliche weitaus anschaulicher und griffiger vor Augen stellen können als etwa ein rechtshistorischer Traktat. Im genus demonstrativum erscheinen einzelne Landschaften ganz figural und geradezu haptisch als Elsisia (für Schlesien), Brunetta (für Brandenburg), Surbosia (für Preußen) oder Sesemin (für Meißen), jeweils leicht über das Anagramm zu identifizieren. Schon 1520 hatte der Schlesier Franz Faber eine Boehemia, ein lateinisches Epos über die Hussitenaufstände veröffentlicht, das auch die Situation in dem seinerzeit zu Böhmen gehörigen Schlesien behandelt bzw. das Verhältnis zu Habsburg berührt. Johann Helwigs Nymphe Noris (1650) entfaltet nach den Kriegen der ersten Jahrhunderthälfte selbstbewusst die Geschichte, die
11 Vgl. als informativen Überblick: Dietmar Willoweit: Kaiser, Reich und Reichsstände bei Hermann Conring. In: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Michael Stolleis. Berlin 1983, S. 321–334. 12 Vgl. Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken. Hg. von Friedrich Beiderbeck, Stephan Waldhoff. Berlin 2011; Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz’ politisches Denken in seiner Zeit. Hg. von Friedrich Beiderbeck, Irene Dingel, Wenchao Li. Göttingen 2015. 13 Vgl. hierzu mit Blick auf Tacitus, die Arminius-Figur und die Tradition der „Ursprungserzählungen“: Herfried Münkler, Hans Grünberger, Kathrin Meyer: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Berlin 1998. 14 Vgl. zur Gattung der oratio historica am Beispiel der Niederlande: Katharina Graupe: Oratio historica. Reden über Geschichte. Untersuchungen zur praktischen Rhetorik während des spanisch-niederländischen Konfliktes im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin u.a. 2012.
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Verfassung und die politische Situation der Freien Reichsstadt Nürnberg.15 Auch in der Romanproduktion des späten 17. Jahrhunderts begegnet eine derartige nominelle Verweistechnik, etwa bei Menantes, der seiner Der europäischen Höfe Liebes- und Heldengeschichte (1705) sogar einen hilfreichen Schlüssel für die Namensdeutung beigibt: „Mevvartes“ steht somit für „Temeswar“, „Minecacia“ für „Caminiec in Polen“, „Napolia“ für die Republik „Polen“. Werner Rieck verwies bereits darauf, dass sich bei Hunold auch im Studentenroman entsprechende Lokalbezüglichkeiten zeigen. So erscheinen u.a. die Städte Leipzig („Pleißathen“), Hamburg („Elbiolis“) oder Dresden („Dresano“) als lokale Identitätsträger aufgerufen und dargestellt. Die späteren Romane Eberhard Werner Happels bestehen auffälligerweise immer aus einem Doppeltitel, der ein „landes- und kontinentspezifisches Adjektivattribut mit einem Namen“ verbindet.16 Anonyme Romane sind dagegen überschrieben als Der Bäyrische Max (1692) oder als der Sächsische Wittekind (1693).17 Georg Daniel Speers (1636–1707) Schelmenroman vom Ungarischen oder Dacianischen Simplicissimus (1683) zeigt ebenfalls schon in seinem Titel an, wo er das Muster Grimmelshausens nun zu lokalisieren gedenkt. Somit unterstützen entsprechend markierte Publikationen nicht zuletzt eine gesonderte Identität bzw. die Vorstellung einer eigenen Historizität, vor allem aber die spezifische Darstellung der separaten politischen Lage und die Formulierung entsprechender Handlungsziele.18 2. ÜBERSETZUNG UND TRANSFORMATION ALS HILFREICHE INSTRUMENTARIEN DER PLURALISIERUNG In dieser bedeutenden Phase der reichsweiten Parzellierung in handlungsermächtigte Binnensprachgemeinschaften gewinnt dann aber auch die linguale ‚Übersetzung‘ schnell eine wachsende Relevanz. Poeten und Gelehrte greifen auf die umfassende europäische Überlieferung, insbesondere aber auf die jeweils geeigneten Werke der Antike zurück. Bei situativem Bedarf können die in der Anderssprachigkeit abgelegten Formen und Wissensgehalte nun akquiriert und lokal implantiert
15 Die Bukolik bietet hier in Sachen Regionalbezug einen sehr aufschlussreichen Parallelfall zum höfisch-historischen Roman. Basierend auf einem Vortrag des Verf. anlässlich des Jahrestreffens der „Renaissance-Society of America“ (Berlin, März 2015) erfolgte diesbezüglich eine entsprechende Parallelstudie: Andreas Keller: Renaissance Nymphs as Intermediaries in Religious, Territorial and Political Areas of Tension. In: Nymphs in Renaissance art and literature. Hg. von Karl Enenkel, Anita Traninger. Leiden, Boston 2017. 16 Werner Rieck: Zur Vielfalt deutscher Romanliteratur zwischen Barock und Frühaufklärung. In: Studia Germanica Posnaniensia 24 (1999), S. 23–36, hier S. 25. 17 Vgl. Stefanie Stockhorst: Happels Romane in ihrer Zeit. In: Eberhard W. Happel: Der insulanische Mandorell (1682). Hg. von dies. Berlin 2007, S. 648–653, hier S. 649f. 18 Vgl. zu entsprechenden Phänomenen in Flugschriften, Messrelationen, Zeitungen u.a. Textsorten: Johannes Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750. Göttingen 2013.
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werden.19 Übersetzung erfolgt etwa in der Absicht, einen als zweckdienlich erachteten Text und seine Inhalte aus dem entlegenen Fremdkulturzusammenhang zu lösen und in die aktuelle Rezeptions- und Interessengemeinschaft zu überführen, auch und gerade um hier für einen effizienten Zuwachs an praktischer Information und Kompetenz für den Laien zu sorgen – mit unmittelbarem Blick auf dessen Beteiligung an den Fragen des öffentlichen Lebens. Insbesondere aber gilt dies nun für die Romanproduktion nach 1650.20 Bereits der „Teutsche Tranßlator“ des Amadis-Romans hatte sich 1569 diesbezüglich zu seiner „tranßferrierung“ dieses Buchs aus dem Französischen geäußert: es sei eben die „grosse liebe gegen dem Vatterlandt“, die ihn in seinem „fürnemen für zufaren angemant“.21 Ein Autor wie Dietrich von dem Werder orientiert sich mit seinen Ariost-, Tasso- oder Loredano-Übersetzungen zwar auch an deren Antikenrezeption, nutzt aber im Blick auf das heimische Publikum hier durchaus freizügig die Spielräume der Übersetzung:22 Das „Räthselgedicht“ der Loredanschen Dianea (1644) biete bspw. „unter vielen anmuthigen Fügnussen“ vor allem eben „Hochwichtige Staatsachen, Denklöbliche Geschichte, und klugsinnige Ratschläge“, die aber nun „vermittels der Majestätischen Deutschen Sprache Kunstzierlich verborgen“ wurden, also dem Leser zur eigenen Dechiffrierung und Sensibilisierung in den betreffenden Angelegenheiten anheim gestellt seien.23
19 Hier kann nur knapp auf diese Fragen hingewiesen werden, vgl. das Forschungsprojekt des Verf. am ZfL (Berlin) im Bereich „Übersetzungen im Wissenstransfer“ (2014–2016), dessen Ergebnisse in Kürze vorliegen werden: Andreas Keller: Selbstübersetzung in der Frühen Neuzeit. Moderne Individualität im sprachlichen Wissenstransfer (in Vorbereitung). 20 Vgl. den immer noch gültigen Grundriss bei: Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blankenburg. Stuttgart 1972, bes. S. 1–28 (zum „Geschicht=Gedicht“) bzw. S. 53–95 (theoretische Ansätze der Zeit). Forschungen zu regionalpolitischen Strategien in den Romanen der Zeit stehen aber noch weitgehend aus. Vgl. allgemein zu poetologischen Fragen der Epik im 17. Jahrhundert: Ernst Rohmer: Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ‚carmen heroicum‘ in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998; jüngst, aber leider ohne jede binnenregionale Perspektivierung: Spielregeln barocker Prosa. Historische Konzepte und theoriefähige Texturen ‚ungebundener Rede‘ in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Thomas Althaus, Nicola Kaminski. Bern 2012. 21 [Anonym]: Newe Historia/ Von dem Amadiß auß Franckreich Vorrede Des Teutschen Tranßlatoris/ An den Läser. Zitiert nach: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. von Hartmut Steinecke, Fritz Wahrenburg. Stuttgart 1999, S. 34–38, hier S. 34 bzw. S. 38. 22 Dass auch der neulateinische Roman entsprechend politische Züge annehmen kann, zeigt: Isabella Walser: Im Namen des Fürsten und des Volkes. Die politische Dimension des Neulateinischen Romans. In: Der Neulateinische Roman im Kontext seiner Zeit – The Neo-Latin Novel in Its Time. Hg. von Stefan Tilg, Isabella Walser. Tübingen 2013, S. 211–227. 23 Giovanni F. Loredano, Diederich von dem Werder: Dianea oder Räthselgedicht. FaksimileDruck der Ausgabe von 1644, Nürnberg: Endters. Hg. u. eingeleitet von Gerhard Dünnhaupt. Bern 1984 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 22). Andere Beispiele der in Deutschland zunächst die Eigenproduktion dominierenden Übersetzungspraxis europäischer Vorbilder wären ähnlich zu betrachten, etwa Werke Hans Ludwig von Kuffsteins (1582–1656), Johann Wilhelm von Stubenbergs (1619–1663) oder auch die Versepen Wolf Helmhardt von Hohbergs (1612–1688).
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Eine politische Partikularisierung bedeutet umgekehrt natürlich auch die Vervielfachung der Betrachterstandpunkte im Reichsgebiet, die in einer unmittelbaren Verbindung mit der zeitgleichen Pluralisierung bzw. Funktionalisierung der Antikenrezeption steht:24 „Renaissance“ ist kein flächendeckender Automatismus. Neben dem Prozess des rein sprachlichen Transfers im Sinne von ,Übersetzung‘ (‚Translation‘) erfolgt etwa auch der bezeichnenderweise viel häufigere Fall einer ‚Reformulierung‘ der Vorlage im Sinne der ‚Transformation‘, bietet diese doch noch weit größere Freiheiten, das Material den lokalen Erfordernissen gefügig zu machen.25 Zunächst geschieht dies natürlich auf der unmittelbaren Ebene der elocutio (Sprachgebung), dann aber auch in dem umfassenden Verfügungsbereich der übersetzereigenen inventio (Erweiterung bzw. Auslassung von Sachverhalten) bzw. der dispositio, der „grammatischen“ Substitution bzw. Umpositionierung im Rahmen der antiken Werkeinheit. Für die jeweils als Zusammenhang überlieferten Konstrukte galt hier keine Unantastbarkeit, der rigorose Umgang gemäß einem gegenwärtigen Verwendungszweck erschien vollkommen statthaft. Somit generiert das ‚Überschreiben‘ eines rezipierten Textes im Sinne der umstandsbedingten Veränderung26 immer auch neue, ja durchaus ‚originale‘ Texte. Diese aber richten sich dann weniger nach den normativen Vorgaben der Vorlagen, sondern nehmen – nach einem funktionalen bzw. dezidiert ‚strategischen‘ Textbegriff – gezielt ihren aktuellen Adressaten ins Visier. Das neue Produkt repräsentiert ganz wörtlich einen ‚Standpunkt‘: es ist raumgenau wie zeitpunktbezogen terminiert und damit passgerecht ausgelegt auf eine spezifische Kommunikationssituation. Und genau dies lässt sich nun anhand der Heliodor-Rezeption ganz besonders anschaulich aufzeigen. Das auffällige Faktum vorneweg: Heliodor-Übersetzungen im deutschsprachigen Raum bleiben bekanntlich eher selten: Stanislaus Warschewiczkis Übersetzung der Aithiopika ins Lateinische (Basel 1552) und Johannes Zschorns Übersetzung ins Deutsche (Straßburg 1559) sollten für gut 200 Jahre die einzigen bleiben.27 1584 publiziert Martin Crusius eine lateinische Nacherzählung mit Anmerkungen. Aus den kritisch gesichteten Quellen der Palatina geschöpft erscheint dann 1596 noch eine zweisprachige Ausgabe bei Hieronymus Commelinus in Heidelberg. Dafür aber finden sich nun zahllose gattungsprägende Transformationen der Aithiopika im 17. Jahrhundert, die das antike Idiom nicht nur durch die Landessprache ersetzen, sondern auch die formalen Vorgaben des Prototyps in 24 Vgl. hierzu die Beiträge in: Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock. Beiträge zum 12. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreis für Barockforschung im Frühjahr 2006 in Wolfenbüttel. Hg. von Ulrich Heinen. Wiesbaden 2011. Vgl. vor allem die reichen Erträge des SFB 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“. 25 Vgl. die verschiedenen Beiträge in: Übersetzung und Transformation. Hg. von Hartmut Böhme, Christof Rapp, Wolfgang Rösler. Berlin, New York 2007, insbes. grundsätzliche Überlegungen zur Frage von ‚Translation‘ und ‚Transformation‘: Klaus Reichert: Das Fremde als das Eigene. Übersetzung als Transformation und Selbstsetzung. Ebd., S. 1–18. 26 Hier wäre das „self-fashioning“ bzw. „re-fashioning“ zu diskutieren, vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance self-fashioning. From More to Shakespeare. Chicago 1980. 27 Vgl. die Beiträge von Seraina Plotke/Stefan Seeber und Sylvia Brockstieger im vorliegenden Band.
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denkbar freier Weise verändern, um es damit passgerecht für lokale Fragen und das lokale Publikum aufzubereiten.28 Alle Abweichungen avancieren somit zum aussagekräftigen Indikator, die poetologische Singularität des jeweiligen ästhetischen Produkts steht in direkter Entsprechung zur politischen Vereinzelung des territorialen Realkonstrukts. Ein solcher Vorgang der poetologischen Dissoziation und Emanzipation von einem gattungsgeschichtlichen ‚Hauptstrang‘ vollzieht sich mit voller Kraft jedoch erst nach 1648, als im Zuge der Territorialisierung nun offenbar ‚Staatsromane‘ in kleinerem Maßstab erforderlich werden. Insbesondere gilt dies nach dem nächsten bedeutsamen Konfliktereignis, als nämlich 1672 die straff zentralistisch geführte Nation Frankreich das durch Machtzersplitterung wie Verfassungsdebatten geschwächte Deutsche Reich militärisch herausfordert. Die durchaus unterschiedlichen Reaktionen in den deutschen Territorien, vor allem das jeweilige Bündnisverhalten bzw. das jeweils stark abschattierte Bekenntnis zur Reichseinheit, spiegeln sich nicht zuletzt auch in den verschiedenen, jeweils regional zu identifizierenden Heliodor-Adaptionen. Die genauen Modalitäten dieses graduell verlaufenden Transfers des antiken Prätextes über dessen verschiedene linguale Phänotypen bis hin zur freien Anverwandlung – also ein territorialgeschichtlich als ‚Akkulturation‘ zu fassender Aneignungsvorgang – können hier offen bleiben. Gerade im Falle Heliodors ist davon auszugehen, dass Text und Romanschema seiner Aithiopika zumeist eher mittelbar rezipiert wurden, d.h. die Autoren orientierten sich an bereits vorangehenden Transmutationen aus dem französischen oder englischen Raum.29 Gelehrte Dichter, wie etwa Philipp von Zesen, rezipieren ihren Heliodor natürlich auf Lateinisch oder auch Griechisch. Man bezog sich also nicht unbedingt auf die einzige deutsche Übersetzung Zschorns. Derartige Fragen erscheinen wie gesagt eher zweitrangig, geht es doch hier weniger um eine positivistisch-generative Einflussgeschichte, als um die Registratur von aussagekräftigen Textzeugen in ihrer lokalen Streubreite.30 28 Zum Verständnis von Geschichte als Prozess finden sich erste Ansätze auch im 16. Jahrhundert, die sich tatsächlich bereits auch auf Zschorns Heliodor-Rezeption im Zusammenhang mit einer intentionalen „Collage“-Technik beziehen lassen: Werner Röcke: Antike Poesie und ‚neuwe zeit‘. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der Frühen Neuzeit. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 337–354. 29 Vgl. etwa Barclays Argenis in der Opitz’ Übersetzung (1626–1631). Vgl. zu anderen möglichen intertextuellen Bezügen und einer „Tradition des reformierten hellenistischen Romans“ (S. 138): Florian Gelzer: Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17. Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008, S. 119–139; zur Frage der „sekundären“ Übersetzung vieler antiker Romane in der Frühen Neuzeit: Sebastian Möckel: Zwischen Muster und Anverwandlung. Übersetzungen des antiken Liebesromans in der Frühen Neuzeit. In: Übersetzung und Transformation. Hg. Hartmut Böhme, Christof Rapp, Wolfgang Rösler. Berlin, New York 2007, S. 137–155, hier zu Heliodor S. 141. 30 Vgl. zur Wirkung auf europäische bzw. deutsche Autoren die knappen Bemerkungen ohne eine vertiefte Textanalyse bei: Michael Oeftering: Heliodor und seine Bedeutung für die Litteratur. Berlin 1901, spez. S. 87–92; ferner: Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman. 2. Auflage. Zürich, Stuttgart 1962; Hans Geulen: Erzählkunst der Frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer
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Wichtig sind das jeweilige Ergebnis, die spezifische Textgestalt und die durch die Modellierung der Vorgabe gewonnene Identitätsfunktion. Die Romanautoren produzieren aus lokalen Beweggründen in der Heliodor-Schablone31 und entwickeln als autochthone Sprecher mit Stringenz, Überzeugungskraft und Direktansprache eine territorialspezifische Aussage. Die muttersprachliche Lesergemeinschaft eines politischen Kollektivs wird in ihrem Idiom, in ihrem Lokalverständnis und ihrer Geschichte angesprochen und mit entsprechender Zielorientierung versehen. Die antiken Zusammenhänge erscheinen dagegen entfärbt, entkräftet und schließlich sogar völlig getilgt durch das akute ‚hier und heute‘.32 3. HELIODOR-REZEPTION ALS PRAKTISCHE CHANCE SINGULÄRER POSITIONSBILDUNG Zu fragen bliebe also, wo die auktorialen Umformungen der Heliodor-Vorgabe im territorialpolitisch so stark zersplitterten Reichsverband jeweils auftreten.33 Rasch wird man hier fündig: Beispiele aus dem braunschweigischen, böhmischen, schlesischen, preußischen, siebenbürgischen, fränkischen oder alemannischen Raum zeigen eine geradezu multi-areale Transformation des antiken Prototyps. Zu analysieren wäre, wie die Bearbeiter damit jeweils auf die entsprechenden textemanenten Rahmenbedingungen reagieren, d.h. welche dynastischen Traditionen bzw. diplomatischen Konstellationen sie jeweils bedienen, aber auch mit welchen konfessionellen Mustern sie arbeiten, ob sie diese etwa offensiv zu stärken oder eher irenisch auszugleichen gedenken. Insgesamt wäre zu klären, welchen dynamischen Grad das jeweils vorgestellte Geschichtsbild bzw. eine gegebene Situationsanalyse aufweist und welcher konkrete Handlungsappell damit möglichweise für das Publikum in einer aktuellen Krisenlage verbunden ist. Der Adressat des Textes ist ja durchaus ein realpolitischer Entscheidungsträger, ob nun als Fürst, Diplomat oder Militär, als Landadliger, Stadtbürger oder Angehöriger bäuerlicher Landstände, als Gelehrter
Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975, S. 47–188; Gerhard Penzkofer: ‚L’art du mensonge‘. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1998, bes. S. 107–128 zur Wirkung Heliodors Aithiopika als „Prototyp des Barockromans“ auf Scudéry u.a. und Hinweisen zur „Motivik“ (mit Hinweisen auf weitere Forschung). 31 Vgl. eine minutiöse Sichtung der verschiedenen Ebenen und Elemente der antiken Vorlage: Victor Hefti: Zur Erzählungstechnik in Heliodors Aithiopica. Wien 1950. 32 Was Peter Hess über Harsdörffer sagt, kann generell, auch und gerade für die Frage der Transformation gelten: „Die Interpretation einer Textvorlage steht nicht im Zentrum der Überlegungen, lediglich die antizipierte Rezeption des übersetzten Textes. Kommunikative Situation und intendierte Wirkung des übersetzten Textes allein bestimmen die Wahl der Übersetzungstechnik.“ (Peter Hess: Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie bei Georg Philipp Harsdörffer. In: Daphnis 21 (1992), S. 9–26, hier S. 19 bzw. S. 25). 33 Wilhelm Voßkamp: ‚Dichtender Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens.‘ Heliodor und der galante Roman in Deutschland. In: Lesbarkeiten. Antikerezeption zwischen Barock und Aufklärung. Hg. von Dietrich Boschung. Würzburg 2010, S. 137–152.
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oder als Vertreter einer Glaubensgemeinschaft: er soll im Sinne des genus deliberativum seine Situation (tua res agitur) überdenken und auf der Grundlage entsprechender Einsicht praktisch handeln. Nur wenige, kursorisch gestreifte Beispiele mögen im Folgenden das große Spektrum sichtbar machen und das Forschungsproblem der Heliodor-Rezeption präziser profilieren. Allen Funden gemeinsam ist natürlich der traditionsstiftende erzähltechnische Einstieg in medias res. Aber obwohl alle Fassungen dies grundsätzlich respektieren, zeigt sich allein im Blick auf die Exordialtopik34 ein weitaus detaillierteres Grundmuster, das die Verfasser im Einzelfall dann in höchst aufschlussreicher Varianz modifizieren. Ein erkennbar von Heliodor begründeter Katalog verschiedener Topoi ist mit erstaunlicher Konstanz in seinen zahllosen Metamorphosen zu verfolgen. Zunächst: der Sonnenaufgang. Der Sonnenaufgang ist offenbar mehr als nur ein atmosphärisches Handlungsinitial:35 als allererstes Ereignismoment bildet er den apersonalen Einstieg in die Fiktion, koppelt dabei aber das Folgende an eine kosmische Weltordnung. Als Aussageformel ermöglicht der Sonnenaufgang dem Autor, bereits hier eine tendenzielle Koordinate zu setzen, die sich dann mit der fortgeführten Romanhandlung zu einer Bewertung der faktischen Lage in der Gegenwart verbindet. Wie synchronisiert der Autor damit, so ist zu fragen, das künftige Handeln in der Fiktion des Romans, das Handeln in der politischen Ereigniswelt des angesprochenen Lesers, möglicherweise aber auch das menschliche Handeln generell? Die aufgehende Sonne am Ende der dunklen und bedrohlichen Nacht ist zunächst positiv im Sinne der Hoffnung zu verstehen, als kraftvoller Neuansatz und Auftakt einer gradualen Problemlösung. So kann eine suggestive Wendung zum Besseren bereits hier als Stellungnahme des Verfassers zu den im Folgenden dann erst verschlüsselt dargelegten politischen Vorgängen gelesen werden, als der zu erwartende Aufgang einer neuen, guten Ordnung. Christlich besetzt erscheint hier die Erlösung von Sünde und Verfehlung, auch mit der heilsgeschichtlichen Nuance des Lebens nach dem Tod.36 Damit stünde die Christianisierung bzw. in
34 Vgl. zu Exordium und Anfangsproblematik: Klaus Schöpsdau: Exordium. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. III. Tübingen 1996, Sp. 136–140; Albrecht Koschorke: System. Die Ästhetik des Anfangsproblems. In: Grenzwerte des Ästhetischen. Hg. von Robert Stockhammer. Frankfurt 2002, S. 146–163; Sarah Leuzinger: Heroische Anfänge. Narrative Anfangskonstruktionen in Dietrichs Flucht und der Heldenbuchprosa. Würzburg 2015 (darin zu grundlegenden Fragen des Anfangs: S. 11–73). 35 Vgl. zu Heliodors Aithiopika und anderen antiken Romanen in der Perspektive des neuen und „übernationalen“ (S. 236) Helioskultes im 3. Jahrhundert: Reinhold Merkelbach: Roman und Mysterien in der Antike. München, Berlin 1962, bes. S. 234–298; zum Sonnenaufgang und der Helios-Motivik als Anfangstopos seit dem 17. Jahrhundert vgl. Volker Klotz: Muse und Helios. Über epische Anfangsnöte und -weisen. In: Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Hg. von Norbert Miller. Berlin 1965, S. 11–36, hier S. 24–36; bzw. kurz dazu: Voßkamp: Dichtender Geschichtsschreiber (Anm. 33), S. 140. 36 Synonymische Vorräte finden sich in reicher Anzahl von Harsdörffer gesammelt unter „Morgen/Morgenröthe“ in: Georg P. Harsdörffer: Poetischer Trichter [...]. III. Theil. Nürnberg: Endtner, 1663, S. 351 bzw. ebd. „Sonne“, S. 428–430. Vgl. auch die komparatistisch angelegten
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kleinerem, historisch versetztem Maßstab auch die konfessionelle Reform eines Territoriums bereits im Fokus, während der ‚Heide‘, also der theologisch noch fehl gehende Freund und Mitpatriot, in tiefem Schlaf – also in der falschen Ordnung und Gottferne – verharrt: Die wunderschöne Morgenröhte/ welche dem Silberbleichen Monde seinen Schein zu rauben sich bemühete/ war aus ihrem Lager kaum hervor gekrochen/ da erwachete Herkules vom Schlaffe/ stieg seiner gewonheit nach/ sanfte aus dem Bette/ daß sein Freund Ladisla dessen nicht gewahr wurde/ legte sich auf die Knie/ und betete in herzlicher andacht seinen Christlichen Morgen-Segen.37
So zeigt es Andreas Heinrich Bucholtz in seinem Herkules-Roman, während Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen dies bereits im Untertitel seiner Banise expliziert, der „das blutig= doch muthige Pegu“ als seinen Bezugsbereich benennt, „dessen hohe Reichs=Sonne bey geendigtem letztern Jahr=Hundert an dem Xemindo erbärmlichst unter= , an dem Balacin aber erfreulichst wieder auffgehet.“38 Die hier in großer Gefahr schwebende Geliebte aber ist ein „Stern“, der bei erfolgreicher Rettung für die verzweifelten Untertanen „leicht wiederum zu einer Sonne werden könnte.“ Das ist keineswegs selbstverständlich oder beliebig, denn es geht auch umgekehrt: bei Anton Ulrich in der Aramena (1669–1673) geht die Sonne nämlich unter, und das mit allem Zubehör des locus terribilis, mit dem „Gesause des kalten Windes“ oder dem „Heulen der Nachteulen“.39 Allerdings ist die Nacht nun auch eine Schutzinstanz, da die Fortbewegung in der bedrohlichen Lage nur während der Dunkelheit geraten erscheint. Der später folgende Sonnenaufgang birgt neue Gefahr, Verrat und Überfall. Diese Inversion aber zielt nun vor allem auch auf die psychische Verfasstheit des Hauptakteurs, der als Vertreter der menschlichen Spezies schlechthin und deren genereller Schwächen auftritt. Mit der vorübergehenden Degradierung des Helden und dessen Verweis in eine ohnmächtige und schutzlose, also nicht heroische Handlungssphäre artikuliert der Autor die eingehende Warnung vor einer Tendenz des Niedergangs, der Umnachtung und der Verlusterfahrung, in der Orientierung und Urteilskraft zunehmend schwinden müssen. Größte Verliebtheit versetzt den Betroffenen nämlich in einen labilen Zustand des „auser sich selbst“-Seins (S. 2), wodurch er den drohenden Gefahren kaum standhalten dürfte. Das verantwortliche Handeln ist durch melancholia bzw. acedia gehemmt, Betrachtungen zum Naturbild bei: Walther Killy: Elemente der Lyrik. 2. Auflage. München 1972, S. 5–9. 37 Andreas H. Bucholtz: Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules und der Böhmischen Königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte. In acht Bücher und zween Teile abgefasset und allen Gott- und Tugendliebenden Seelen zur Christ- und ehrlichen Ergezligkeit ans Licht gestellet. Braunschweig: Zilliger, Gruber, 1659/60. 38 Heinrich A. von Zigler und Kliphausen: Die Asiatische Banise […]. Leipzig: Gleditsch, 1689. Vgl. die historisch-kritisch edierte und kommentierte Ausgabe des Erstdrucks, hg. von Werner Frick, Dieter Martin, Karin Vorderstemann. Berlin, New York 2010. 39 Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig-Lüneburg: Die durchleuchtige Syrerinn Aramena. 5 Teile. Nürnberg: Johann Hofmann, 1669–1673. Nachdruck: Bern, Frankfurt a. M. 1975–1983, hier Bd. I (1669), S. 1.
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kleinmütige Zweifel an der Tugendhaftigkeit der zu befreienden Geliebten wechseln mit dem nur zeitweiligen Vertrauen auf die Hilfe der göttlichen Sphäre. Es steht zudem offen, ob es auch beim Helden wahre Liebe ist, hier jedoch sollte die dunkle Nacht das Feuer des Verliebtseins nur noch stärker anfachen. Zu denken wäre an neuplatonische bzw. naturmagische Vorstellungen von Licht und Finsternis, an Wandlungsprozesse von schwarz-verderblich zu hell-erlösend, an die fluidale Heilkraft der Liebe oder das „universale Pneuma“.40 Auch bei Rudolf Gasser in der Außforderung (1686–88)41 bricht zu Romanbeginn die Nacht herein, hier noch zusätzlich verstärkt mit einem finsteren Wald als „verwirrte[m] Irr=Garten“ (S. 1), der nun sinnbildlich die Verlorenheit und Desorientierung eines Ritters intensiviert.42 Dieser ist nämlich in seinem ‚Atheismus‘ befangen, dabei aber durchaus noch für den (katholischen) Glauben zu retten. Somit handelt es sich hier nicht um eine zu überwindende individualkörperliche Befangenheit oder gar kosmische Stärkungen im neuplatonischen Sinne, sondern ausschließlich um den rettenden Idealkörper der alleinseligmachenden Kirche, zu dem der Betroffene (zurück) zu finden hat. Gassers Text ist tatsächlich einer der selteneren katholischen Romane43 und weist als lokale Invektive im eidgenössischen Raum nun einen klaren konfessionspolitischen Impetus auf, der dann bald auch die Neu-geflochtene Zucht-Ruthe (1696) des reformierten Theologen Gotthard Heidegger zu spüren bekommen sollte.44 Im katholisch regierten Schlesien stellt sich dagegen für einen protestantischen Romanautor das umgekehrte Problem: es gilt die Rechte der Lutheraner in einem habsburgisch dominierten Territorium zu wahren. Dies aber kann nur gelingen, wenn alle Reichsfürsten konstruktiv zusammenwirken. Deshalb entsteht in Daniel Casper von Lohensteins Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrman (1689) 40 Vgl. Ion P. Culianu: Eros und Magie in der Renaissance. Frankfurt a. M., Leipzig 2001, bes. S. 137–209. 41 [Rudolf Gasser]: Außforderung Mit Aller-demütigst gebottnem Vernunft-Trutz An alle Atheisten, Machiavellisten, gefährliche Romanen, und falsch-politische Welt-Kinder Zu einem Zwey-Kampff Auff dem Plan kurtzweiliger Dichtung, mit dem Schwerdt, der sonderbaren Beweißthumben: Also ein Gedichte, mit Warheit-besprengte Historia Von Philologo einem Portugesischen Cavalieren, Und Carabella einer Käyserin in China. Durch V.P.F. Rudolphum Suitens. Zug: Müller, 1686–1688. Zitiert nach dem Exemplar HAB (Wolfenbüttel). 42 Vgl. zum Topos des Waldes als Sinnverwirrung: Friedrich Gaede: Leibniz’ Möglichkeit und literarische Antizipation. In: Antizipation in Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz. Hg. von Friedrich Gaede, Constanze Peres. Tübingen 1997, S. 83–99, darin: Der Wald oder das Hyletische als Initiations- und Antizipationsraum (S. 94–99), bzw. zum Topos entsprechend auch bei Grimmelshausen: Friedrich Gaede: Die Macht des Möglichen. Leibniz, Grimmelshausen und die Entfaltung des Romans. In: Simpliciana 29 (2007), S. 25–40, hier S. 34. 43 Der katholische Bereich ist hier in Bezug auf territoriale Identität tatsächlich immer noch stark unterbelichtet. Vgl. bereits die wegweisenden Arbeiten von Dieter Breuer, vor allem: Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 (mit Fallstudien zu Contzen und Bidermann und ihrer „poetischen historia“ in der „Funktion der argumentativen Festigung der den neuen Staat tragenden Gesinnung“, S. 217). 44 Vgl. Ursula Hitzig: Gotthard Heidegger. 1666–1711. Winterthur 1954, bes. S. 46–56.
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nun exordial die historisch zu vergleichende Situation im antiken Rom (erzählte Handlungszeit) vor den Augen des Lesers. Unter Verzicht auf epische Einleitungskulissen thematisiert der Autor zunächst den in seiner Zerstörungskraft so eindringlich dargelegten wie ursächlich reflektierten Bürgerkrieg. Die conclusio der kurzen Abhandlung stellt Harmonie und Einigkeit als Richtwert für ein starkes und friedliches Reich in den Vordergrund. Dabei sei eine „einhäuptige“ und „glimpfliche Herrschaft“ viel eher die Garantie für allseitige Wohlfahrt als eine „stets blutende Freiheit“.45 Das „zwistige Vaterland“ ist nur „unter einem Hute zubefriedigen“. Die Sonne aber geht hier zunächst symbolisch auf, indem Augustus prototypisch als der erlösende Friedenskaiser erscheint, der „den Reichthum seines güldnen Reichs“ ermöglicht und im Einvernehmen mit allen Teilen des Imperiums für dessen Dauer und Stabilität gesorgt habe. Dieses ideale Reich allerdings unterdrückt seine Provinzen mit Hilfe von militärischen Statthaltern, die „nach der Schärffe der Römischen Gesetze“ rigoros durchgreifen bzw. Macht allein „nach dem Wahne“ ihrer „lüsternen Begierden“ ausüben. Und als sich im germanischen Bereich dann lokale Regenten unter ihrem „Hertzog Hermann“ zu einem konspirativen Treffen versammeln, signalisiert die untergegangene Sonne eine welthistorische Umbruchssituation: Die Sonne trat gleich in die Wage/ und war selbigen Tag schon zu Golde gegangen/ nach Mitternacht/ solte auch gleich der volle Mond eintreten/ als Hertzog Herrmann die Grossen in dem Häyn der Göttin Tanfana einleiten ließ. (S. 7)
Die nun anstehende Kulthandlung der Germanen ist zwar heidnisch, dabei aber ganz markant aufgewertet als ein Gottesdienst des Wortes und der inneren Andacht, der in deutlichem Gegensatz steht zu einem solchen des prunkvollen Gebäudes, der anzubetenden Heiligenbilder und des sinnenbetörenden Weihrauchs. Damit erteilt bereits das Exordium ganz entschieden der protestantischen Lehre den heilsgeschichtlichen Vorzug: der Raum ist ein von dem Feuer andächtiger Seelen erleuchtetes Heyligthum; wie die Sonne alle düstere Wohnungen mit ihrem eigenen Glantze erleuchtet und herrlich macht; also daß ohne die Gegenwart des grossen Auges der Welt alle gestirnte Himmels=Kreyse düstern/ in Abwesenheit einer wesentlichen Gottheit alle von Rubin und loderndem Weyrauch schimmernde Tempel irdisch sind. (S. 8)
Die Sonne erhält hier die Qualität des wahren Glaubens, der in dem folgenden Romangeschehen dann den Sieg über die degenerierte Macht erbringen wird – sofern das Gebot der Einigkeit auch in der Verschiedenheit gewahrt bleibt.
45 Vgl. Daniel C. von Lohenstein: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrman [...]. Leipzig: Gleditsch, 1689. Nachdruck: Hildesheim, New York 1973, S. 5–11. Vgl. dazu: Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992, S. 127–147 (zu Heliodor und der „Auflösung“ seines „Romanschemas“).
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Auch in Ernst Jakob von Autorffs Olorena (1694)46 ist es im Exordium bereits Mitternacht: Die Nacht ist „halb vergangen“, die Sterne sind sichtbar, die Sonne aber leuchtet für die andere Erdseite: ein moderner Ansatz des Kopernikanischen Weltbildes, die Erde erscheint als Kugel mit einer komplementär zu bewertenden anderen Hälfte. Diese ist aber bewohnt von anderen Völkerschaften, die jedoch mit gleichem Recht und in natürlichem Wechsel ebenso das Sonnenlicht erhalten. Die erzählerische Fokussierung einer Phase der Abgewandtheit („Weltbeherrschung“ durch die Nacht, vgl. S. 1) evoziert eine labile Schwebe im Zeitenlauf zwischen Untergang und Aufgang – durchaus gefahrenvoll und damit der Zeitpunkt für eine dann auch unmittelbar eintretende Katastrophe: ein Brand in der Burg mit dem unaufhaltsam drohenden Tod der schlafenden Geliebten. Auch hier ermöglicht die Nacht zunächst ein Psychogramm des Helden: mit Hilfe von Traum und Halbschlafbildern, der peinigenden Arbeit des imaginationsstarken Unterbewussten und der Ununterscheidbarkeit von Realität und Irrealität diagnostiziert der Autor eine fortgeschrittene Handlungs- und Entscheidungsbeeinträchtigung des überanstrengten Carloreno, der immerhin als Substitut für den realen Herzog Karl von Lothringen steht, also für einen wichtigen Entscheidungsträger im polnisch-österreichischen Konflikt, bei dem Konzentrationsunfähigkeit und Defizienz fatale Auswirkungen hätten. Der Sonderzustand des reduzierten Helden auf dem Weg aus der Kaiserlichen Burg in die „Behausung“ wird eingehend geschildert: der Kämpfer ist schlafbedürftig, die quälende Unruhe des Geistes aber verhindert die so notwendige Ruhe des Körpers. Er befindet sich damit außerhalb des kosmischen Metrums, in deutlicher Asynchronie mit der Weltordnung. Selbst wenn er zu schlafen versucht, überwältigt ihn die mächtig aktive „Einbildung“: er ist verliebt, die seelisch-visuelle Dauerpräsenz der Geliebten im wachen wie im schlafenden Zustand stört die Psyche des Individuums und führt zur inneren Zerrüttung: Daher eine verliebte Gemüths=Entzückung wol mit recht eine Zerstörerin der Ruhe/ ein Henckerin des Gemüthes/ und eine Feindin aller Selbst=Zufriedenheit zu nennen ist (S. 2).
Der Leib verharrt also in Starre, „das Gemüthe“ aber liegt „zu Felde im süssen Liebesstreite“. Die Schönheit erscheint übergroß, verstärkt aber auch das Problem, nämlich das angebetete Wesen wieder zu erlangen, also zu retten. Die Geliebte erfährt bereits hier eine Bezugsetzung mit dem sie derzeit beherrschenden Staat (hier die polnische Adelsrepublik), der nämlich „ihren freyen Willen hemmet“ (S. 3) und somit die Vereinigung unterbindet. Als Morpheus dem Helden schließlich gnädig ist, geht es im Traum weiter: der Boden bricht ein und entzieht ihm die ersehnte Schöne. Eine plötzliche Unruhe mit „Feuer“-Rufen, Trommeln und Bewegungen verdankt sich wiederum der erzählten Realität: der Brand auf der Kaiserburg, der Aufenthaltsort der Geliebten, reißt Carloreno als Ausdruck höchster Gefahr in das Geschehen zurück. 46 Ernst J. von Autorff: Die durchlauchtigste Olorena Oder Warhafftige Staats= und Liebes=Geschichte dieser Zeit/ Welche wegen sonderlicher Glücks=Fälle/ und des/ wider die zwey mächtigsten Staaten von Europa/ bewehrten Heldenmuths/ des unglücklichen CARLORENO merckwürdig ist/ Zu vergönneter Gemüths=Ergötzung in Druck befördert von Talander. Leipzig: Weidmann, 1694.
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Ein schlichtes Versatzstück wie der Tageszeitenwechsel kann somit eine psychische, politische oder auch eschatologische Prädisposition der jeweiligen Helden, ihre entsprechende Handlungsmotivation und sogar ihre Zurechnungsfähigkeit zum Ausdruck bringen. Gerade die konfessionspolitischen Aspekte geraten hier wirkungsvoll in Frontstellung. Der transformierende Autor kann schon an dieser Stelle die entsprechende Über- oder Umschreibung der Vorlage nutzen, um mit prognostischen Bewertungen seiner fiktiven Protagonisten aufzuwarten – was bei Schlüsselgestalten dann ja umgehend auch ein politisches Votum über ihre konkrete und faktische Handlungspotenz bedeutet. In der Surbosia (1676) des Königsbergers Michael Kongehl etwa herrscht die Nacht mit terribler Szenerie, um gerade die Verzagtheit, den Pessimismus und die Angst eines hier als bürgerlicher Protagonist wohl erstmals selbst in den Roman eintretenden Autors auszudrücken, die sich real auf die militärische Bedrohung durch König Ludwig XIV. von Frankreich bezieht.47 Dieser tritt dann auch (verschlüsselt) in der nächsten Szene prompt als habgieriger und gewissenloser Räuber in Aktion. Erzähltechnisch gelingt es dem Autor damit, das noch geschehensferne (die Szene ereignet sich im umkämpften fränkischen Raum) und eher verhaltene Publikum im preußischen Herzogtum aufzurütteln und von der Dringlichkeit des politischen Handelns in der aktuellen Situation zu überzeugen: in diesem Falle nämlich, angesichts der bedrohlichem Allianz Frankreichs mit dem polnischen König, gälte es den rettenden Kurfürsten in Berlin stärker zu unterstützen.48 Der Tageszeitenwechsel birgt also in sich bereits eine ungeheure Varianz der thematischen Bezugsbereiche. Aber der Topos ist bei Heliodor ja nur ein einzelnes exordiales Element, es gibt deren noch mindestens drei weitere: zunächst die Überfallsituation, verbunden mit Eigentumswechsel und Verheerung bzw. Zerstörung von Objekten, aber auch mit der physischen Beeinträchtigung einzelner Protagonisten. Beim antiken Autor wird der exordiale Kampf bekanntlich schon als Resultat sichtbar, ex effectibus erscheint in den ersten Zeilen eine sichtbar gestörte Ordnung. Diese aber ist nun zweitens gekoppelt mit dem Statuswechsel der gezeigten Personen von ‚souverän‘ zu ‚gefangen‘. Das dritte aber wäre die schon angedeutete Geschlechterpaarung: ein Mann und die ihm bestimmte Frau sind sich in großer Liebe zugetan. Bei Heliodor treten zunächst beide Partner simultan präsent auf, später erscheinen sie der Erzählstrategie gemäß dann auch anteilig in absentia, es folgen aufschlussreiche und funktional determinierte Stationen des gemeinsamen oder einsamen Leids. Die Bindung und das Liebesverhältnis sind explizit benannt als narratives Trägerprinzip und Movens. Thematisiert werden die Bedürfnisse und Interessen der Liebenden, ohne aber – etwa in Rücksicht auf den Leser – bereits 47 Michael Kongehl: Surbosia// das ist Geschichtsmässiges Helden Gedicht/ darin unter allerhand Gemüths-Belustigungen/ auch einige Krieges-Händel die sich seither in Ober- und Niederdeutschland zugetragen/ enthalten und verblühmter Weise/ erzehlet werden. Von einem Mitglied der Löblichen Blumen-Gesellschaft. Nürnberg: Felßecker, 1676. 48 Vgl. hierzu Andreas Keller: Michael Kongehl (1646–1710). ‚Durchwandert ihn/ gewiß! ihr werdet anders werden ...‘. Transitorische Textkonstitution und persuasive Adressatenlenkung auf der Basis rhetorischer Geneseprinzipien im Gesamtwerk des Pegnitzschäfers in Preußen. Berlin 2004, S. 548–592.
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hier eine entsprechende Vorgeschichte zu liefern. Die resultierende Verwirrungssituation erzeugt mit dem Erklärungsbedarf des Unerklärten eine starke Sogwirkung und damit Spannung – eine exordiale Strategie, auf die auch keiner der Nachfolger verzichten wird. Alle oben angesprochenen Rezipienten Heliodors aktivieren die genannten Komponenten in ihrem Exordium vollständig, wenn auch natürlich ganz in ihrem eigenen Sinne. Die Überfallsituation bietet etwa eine formidable Passform, wenn im aktuellen realgeschichtlichen Militärkonflikt unrechtmäßige Gebietsübernahmen zu beklagen sind, ein gewaltsam von Räubern entführter Liebespartner steht dann für ein konkretes Territorium, wie bspw. die fiktive Prinzessin ‚Surbosia‘ für das reale Herzogtum ‚Preußen‘ (‚Borussia‘), das dem polnischen König zum Opfer fällt.49 Andererseits aber kann ein Autor hier auch eine Problematik diskutieren, die er für wesenhaft hinsichtlich der Binnenstruktur eines Gemeinwesens, ja als konstitutive Basis des Staates schlechthin betrachtet,50 indem er der Paarung zweier Menschen nicht nur eine ‚außenpolitische‘ Bezugsebene, sondern auch eine ‚innenpolitische‘ Stoßrichtung verleiht. So gibt Johann Gorgias,51 ein im osmanisch beherrschten Siebenbürgen höchst erfolgreicher Autor, an dieser sensiblen Stelle ein äußerst drastisches Beispiel: in seinem Roman Frontalbo (1685)52 pervertiert er nämlich Heliodors exordiale Einführung des erhabenen heroischen Liebespaares. Statt zweier junger schöner und einander treu verehrender Idealgestalten, die sich selbstlos unterstützen, flieht hier ein nackter, geschundener und aus tausend Wunden blutender Jüngling vor einer rasenden alten Furie, die ihm nicht nur die erkennbaren Wunden selbst und zwar vorsätzlich zugefügt hat, sondern nun auch noch zum entscheidenden Vernichtungsschlag ausholt: mit Schlangenhaaren, Warzen, feuerroten kotspritzenden Augen und einem „glühendem Eisen in der Hand“ ist sie der „Teufel“ selbst und schlägt auf den Sterbenden ein, dass „die Funken herumb sprungen/ als wie sie den Schmieden umb die Köpffe zu fliegen pflegen.“ Sie schreit: Du Schelm! Du Mörder! Du Schinder! Wilt Du mich darumb verachten/ weil ich alt bin/ und nicht mehr bei mir schlaffen/ die ich dich doch zu einem reichen Manne gemacht habe? Siehe
49 „Und obwol dieses eine erdichtete Historie ist: [...] Unter den geliebten Prinzessinnen/ werden in dergleichen Schriften zuweiln Königreiche und Länder/ welche ihre werber zu haben pflegen/ oder sonst Tugenden/ Künste/ Aemter/ Güter und andere sachen/ die man verlanget/ verstanden: sind es also nicht allemal Liebesgeschichten/ dafür man sie ansihet.“ So Sigmund von Birken: Vorrede. In: Herzog Anton Ulrich: Die durchleuchtige Syrerinn Aramena (Anm. 39), fol. )( )( iijr. 50 Lohenstein tat dies mit der Tugend der Eintracht zur Vermeidung des verderblichen Bürgerkriegs. 51 Vgl. zur Biographie: Horst Fassel: Johann Gorgias. Ein Siebenbürger in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Südostdeutsche Vierteljahrsblätter 36 (1987), S. 125–131. 52 Johann Gorgias: VERIPHANTORS Betrogener FRONTALBO, das ist: Eine Liebes= und klägliche TraurGeschicht/ welche sich mit dem FRONTALBO, und der schönen ORBELLA, begeben/ Worinnen auch zu ersehen ist/ wie es die Weibische Männer/ und Männische Weiber zu machen pflegen/[…]. S.l. [ca. 1685], Nachdruck: Bonn 1985.
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Andreas Keller ich will dir deinen Kopf zerspalten/ und dein Gehirn in Butter rösten/ und solches den Hunden zu fressen geben.“
Aber es kommt noch schlimmer: Zur Versicherung du Ertz-Schelm daß du mich nicht zu beherrschen habest/ will ich dir deine Mannschaft nehmen/ gleich wie ich dir die Hosen habe genommen/ damit du dich nicht rühmen könntest/ du seyst mein Mann.
Das grausame Vorhaben misslingt lediglich, weil sie ein ungeeignetes Werkzeug, nämlich ein rostiges Messer benutzt, das kaum noch die notwendige Schärfe aufweist. Das aber ist nun die Verkehrung der Welt, ausgedrückt mit dem Vokabular aus Heliodors Exordium: „Worinnen auch zu ersehen ist/ wie es die Weibische Männer/ und Männische Weiber zu machen pflegen“. Wenn die vom Staat (bzw. der Kirche) zugewiesenen Geschlechterrollen aufgekündigt werden, muss das Gemeinwesen zusammenbrechen, ein Topos wie er im 17. Jahrhundert etwa auch in der Satire Johann Beers erscheint.53 Statt der Helden erscheinen hier also Versager, statt liebevoller Pflege und gegenseitiger Akzeptanz in staatstragender Harmonie sadistische Raserei und Zerstörung. Der schwache Mann und die handlungsmächtige Frau stehen hier im verderblichen Kampf gegeneinander, was die gesellschaftliche Ordnung als Basis des Staates aus dem Gleichgewicht bringen muss. Ein Hinweis, der nicht nur an einzelne Leser ergeht, sondern auch an die zuständigen Stellen, für entsprechende Disziplinierungsmaßnahmen zu sorgen.54 Neben der Zurechtweisung der unteren und mittleren Stände sorgt der Roman gattungsgemäß natürlich auch für die Erziehung des Souveräns. Die Aramena des braunschweigischen Herzogs Anton Ulrich steht hierfür programmatisch: „Geschichtgedichte“, so der Vorredner und Koautor Sigmund von Birken, sind rechte Hof= und Adelsschulen/ die das Gemüte/ den Verstand und die Sitten recht adelich ausformen/ und schöne Hofreden in den mund legen. Sie lehren/ durch vorstellung des unbestands menschlichen glükswesens/ der liebes= und lebensgefärden/ der gestrafften tyranney und untugend/ der vernichtigten anschläge/ und anderen eitelkeiten/ wie man das gemüte/ von den gemeinen meinungen des adel-pöbels läutern/ und hingegen mit Tugend und der wahren Weißheit adeln müsse.55
Statt sozialer Rollenverkennung der Untertanen treten hier nun die universalen oder gar kosmischen Herausforderungen auf den Plan: Der Fürst als Autor unterrichtet sich hier selbst, zusammen mit seinem bürgerlich-gelehrten Redakteur, und das in 53 Vgl. hierzu: Andreas Keller: ‚Confuse‘ oder ‚artige‘ Ordnung? Zum Spannungsverhältnis von forensischer Disposition und adressatenorientierter Dissimulation der oratorischen Kunst bei Johann Beer am Beispiel der Weiber=Hächel (1680). In: Johann Beer. Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter 1655–1700. Beiträge zum internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern 2003, S. 517–573. 54 Die Aspekte „verschaffter Reichtum“ bzw. die ‚genommenen Hosen‘ als männliches Herrschaftszeichen (‚wer hier die Hosen anhat‘) als Preis für eine Mesalliance bzw. als Zeichen der Schwäche könnten natürlich auch realgeschichtlich als ein politisch-diplomatisches Zugeständnis von eher verderblicher Natur gedeutet werden. 55 Sigmund von Birken: Vorrede. In: Herzog Anton Ulrich: Die durchleuchtige Syrerinn Aramena (Anm. 39), fol. iiijr.
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der gebotenen Breite verschiedenster Themenfelder wie freie Rede, Diplomatie, Rechts- und Militärwesen, Genealogie, Geschichte und allgemeine Regierungspraxis. Hier zeigt sich das wachsende Bewusstsein einer Binnenregion als politisches Gebilde eigenen Rechts, indem nicht nur für die Sozialdisziplinierung, nicht nur für die gelehrte Selbstvergewisserung über Geschichte und Sonderstellung des Territoriums gesorgt wird, sondern vor allem auch für die konstitutionelle Bündelung aller notwendigen Potenzen bzw. Kompetenzen in der zentralen Machtinstanz. Es geht um die hohe Aufgabe der entsprechenden Schulung des Spitzenpersonals, des von Gott gesetzten, vom bürgerlichen Instruktor aber konkret in seine Verantwortung einzuweisenden Souveräns. Im realpolitischen Prozess der Territorialisierung stellt sich natürlich immer wieder das Problem der Religion. Es geht um das vom Landesherrn oder der Gemeinschaft angenommene bzw. praktizierte Bekenntnis. Nur noch rudimentär bzw. in sinnbildlicher Ersetzung steht dahinter auch die Frage der Christianisierung generell, die doch auf den besonderen poetologischen Zwiespalt aller dieser Romane schlechthin verweist: es gilt den christlichen Anspruch mit der unabweislich heidnischen Vorlage zu versöhnen.56 In diesem Sinne hat bereits Philipp von Zesen in seinem Assenat-Roman höchst selbstbewusst die Lizenz formuliert, wie er den biblischen Prätext mit Heliodor in eine Symbiose zu bringen gedenkt:57 Mit nicht-heiligen/ ja unheiligen Liebesgeschichten hat man sich lange genug belustiget; mit weltlichen übergenug ergetzet. Darzu hat der Grieche Heliodor zuerst die feder gespitzt. So gehet die gemeine rede. Die Spanier und Wälschen seind ihm gefolget: und diesen die Franzosen/ mit den Englischen. Endlich haben sich aus die Hoch= und Nieder=deutschen eingefunden. Aber nun sollen diese letzten in den Nicht=heiligen und weltlichen/ die ersten sein in den Heiligen. Hierzu veranlaßet die hiesige feder. Hierzu wird sie ihnen eine Vorgängerin; indem sie diese heilige Stahts= lieb= und lebens=geschicht fliessen lesset.58
Andreas Heinrich Bucholtz klärt das Problem, indem er im Exordium einen Medienwechsel vornimmt: statt der sonst üblichen Schilderung der Sachlage (Überfall, Betroffene, Reaktionen) setzt er ein Gebet. Dieses aber benennt am Anfang der Geschehnisse alle fraglichen Aspekte. Wie bereits oben erwähnt, spricht der junge, noch vor seinem heidnischen Freund erwachte Herkules, der in der Morgenröte seinem Schöpfer Dank entbietet und die Zukunft, also die nun anbrechende fiktive 56 Vgl. am Beispiel Anton Ulrich auch „die Erosion christlicher Dogmen“ und die „Idee der natürlichen Religion“: Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der Römischen Octavia von Herzog Anton Ulrich. ‚der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt.‘ Würzburg 2004 (bes. S. 49–64). 57 Zur Orientierung Zesens an Heliodor vgl. als materialreiche Untersuchung zu den Einflüssen Heliodors auf den deutschen Roman generell: Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zu Theorie und Technik des barocken Romans. Dissertation, Universität Göttingen, 1955 (Neudruck 1997); ferner Sandra Krump: Von der Heiligen Schönheit. Zesens Assenat und die Romandiskussion des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 26 (1997), S. 691–713. 58 Philipp von Zesen: Assenat. Das ist Derselben und des Josefs Heilige Stahts- Lieb- und Lebensgeschicht […]. Amsterdam: Hagen, 1670, Vorrede „Dem Deutschgesinten Leser“, S. v; vgl. zur Frage des Quellenbezugs und der „nakte[n] Wahrheit dieser sachen“: Evelyn Eckstein: Fussnoten. Anmerkungen zu Poesie und Wissenschaft. Münster 2001, S. 54–72.
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Romanzeit im Duktus der Bitte bereits vorskizziert: das Gebet thematisiert die gestörte Ordnung, das feindselige Nichtchristentum und die Hoffnung auf Überwindung und Erlösung. Statt des Ritter- oder Räuberbluts ist es hier das Blut des Heilands, das im Exordium fließt, wenn auch nur memorialiter. Die Nutzung der heidnischen Schablone erfolgt quasi heilsorientiert, die auf Erfüllung angelegte Vorgabe steht für den Erweis der providentia des christlichen Gottes. Der neuzeitliche Roman wäre damit die Überwindung des gattungsgebenden Heidentums eben mit dieser Gattung, mit der inhaltlichen Neugestaltung des formalen Erbes. In meditativ mystischer Versenkung gibt dieser Passus die Tonart für den gesamten Text vor, ja färbt das folgende Profangeschehen mit metaphysischer Erwartung ein. Anstelle von Exegese oder Dogmatik, anstelle von klerikaler Performanz tritt bei Bucholtz das fromme, seinen Schöpfer unmittelbar anrufende Individuum. Es erscheinen keine Priester oder geistliche Autoritäten. Ähnlich wie Lohenstein aber unterstreicht Bucholtz auf seine Weise die notwendige Einigkeit der Reichsfürsten, eben unter voller Respektierung der protestantischen Konfession und Glaubenspraxis. Und was bei Bucholtz das Gebet, ist bei Zigler-Kliphausen der Fluch: Die Asiatische Banise zeigt die Überfallsituation auch nicht konkret, sondern im fiktionalen Optativ: Prinz Balacin erhält den allerersten und sehr umfangreichen Absatz im Roman, um „Blitz, Donner und Hagel“ auf die Stadt und den Tyrannen zu wünschen. Erst dann tritt der Erzähler in Funktion, um mitzuteilen, dass soeben die Sonne aufgeht. Hierin aber liegt ein weiteres Beispiel für einen narrativen Kunstgriff: die Ersetzung einer auktorialen Erzählpassage durch ein Gattungszitat. Neben dem Gebet oder eben der Fluchrede des Prinzen ist es dann bei Michael Kongehl das vollständig hineinzitierte Eklogenexordium bzw. das imitierte agitatorische Flugblatt. Der verzweifelt klagende Schäfer in der aussagereichen Landschaft des locus terribilis ist mit dem wirkungsvollen Duktus des Bestiariums verschränkt, das ganz wie in der zeitgenössischen Publizistik üblich mit den Kriegsteilnehmern und der Krisenlage bekannt macht.59 Die mediale Kombinatorik hat für den Leser höchste Appellfunktion, die Drastik resultiert hier aus der Montage realer Aktualitätspartikel (wie etwa exakt datierter militärischer Ereignisse der ‚Echtzeit‘), bleibt aber vom Darstellungswert im Rahmen des Heliodorschen Schemas: es geht schlicht um die Mitteilung eines Überfalls und dessen desolate Folgen. Eine gänzlich andere Wertigkeit aber hat der Überfall bei Rudolf Gasser, der ihn in Gestalt einer Jagdszene als selbstverschuldeten Unfall des Helden transformiert. Der Erzähltext setzt unmittelbar ein mit dem Ritter, der einen Hirsch jagt und schließlich erlegt. Sein Pferd aber stürzt dabei tödlich und er selbst wird schwer verletzt: ALso ward in einem Augen=blick/ sambt dem schnellen Hirschen/ auch das stoltze Pferd gestürtzet; der arme Hirsch zwar von dem tollen Ritter nach der Waid=Kunst verwundet/ das gute Pferd aber/ von seinem eignen/ nach dem Gwild gar zu hitzig=vereifferten Herren/ zu Tod gerennet. (S. 1)
59 Vgl. Keller: Michael Kongehl (Anm. 48), S. 540–547.
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So kann der Jäger sich nur unter Mühe durch den nächtlichen Wald schleppen, und der Verlust der Jagdunternehmung (totes Pferd, verletzter Reiter) ist weit größer als ihr Nutzen (erlegtes Wild). Die Lage zeigt sich verwirrend, der Rückweg zur Gesellschaft kaum noch möglich, und eine drastische Verschlimmerung der Schenkelwunde ist unter den drohenden Strapazen zu befürchten. Die entsprechende Aussicht auf eine kalte Nacht mit grimmigen Untieren sorgt für weitere Entmutigung, aber der Waidmann will sich „diesem argen Glück in die Armb“ werfen, um die „unerkante Bahn/ zu erwünschtem Außgang zu erforschen“ (S. 2). Zunehmend aber wird dem sonst so kühnen Ritter bang, sein Heldenmut droht ihn gänzlich zu verlassen, bis er sich schließlich „in dieser so wunderlich= und schnell=zugefallner Begebenheit aller entherzt“ findet (S. 3). Zu keinem Entschluss mehr fähig, dämmert ihm langsam, wie er das bißhero ihme nur schmeichelnde Glück so offt verthättiget und beschirmet/ und die jenige für dessen leichtsinnige Verlümbder geachtet/ die selbiges der Unbeständig= und verrätherischen Treulosigkeit etwan beschuldet. (S. 3f.)
Er lästert und verflucht jedoch „nach sträfflich= und thorechtistem Mißbrauch der unsinnigen verblendten Menschen“ (S. 4) sein Schicksal, das dann auch prompt „billiche Rach“ übt, indem sich die Galle im Körper wegen des Wutanfalls schmerzlichst ausbreitet und die Wunde „mit zuschlagender Hitz entzündet“ (S. 4). Verstärktes Leiden wandelt den Zorn in neue, noch stärkere Angst, „auch wurde sein starckes Hertz mit solcher Forcht urplötzlich umbringet/ dergleichen er seinen Lebtag niemals verkostet und verspühret“. (S. 4) Existentielle Verzweiflung übermannt ihn schließlich, und jede Rettung scheint völlig fern. Gestützt auf einen Stock schleicht er „wie ein Blinder daher“ (S. 5), mit unerträglich anwachsendem Hunger, Durst und Wundschmerz, immer noch gänzlich ohne die geringste Aussicht auf Ruhe. Es folgen weitere, ähnlich intensivierte Leidenserfahrungen, die Lage verschärft sich, ohne dass der Ritter zur Einsicht gelangt. Als er dann doch schließlich „in sich selbsten kehrt“, trotz größter physischer Schwäche sogar mit einem Bären (S. 24) kämpft und diesen erlegt, erwächst ihm plötzlich eine neue, bislang aber völlig ungekannte Zuversicht. Eine derart eindringliche, graduell bis zu ihrem höchsten Umschlagpunkt gesteigerte Darlegung eines zur ‚Einsicht‘ gelangenden Subjekts, die der Leser synchron natürlich mitvollziehen soll, wirft nun auch die Frage nach der von den Texten jeweils geforderten Rezeptionshaltung auf. Bei Heliodor scheint diese (abgesehen von der spannungserzeugenden Umstellung der Ereignisfolge) eher undeterminiert. Die moderne Fassung aber orientiert sich deutlich am ‚impliziten Leser‘ und zieht hier einen psychologischen und sozialen Bezugsrahmen ein. Spannung und Unterhaltung sind zwar zur Dissimilierung der Moraldidaxe in einem ausgewogenen Verhältnis von prodesse und delectare aktiviert, auch die Verschlüsselung von politischen Konstellationen in derartigen Romanen ist mehr als nur eine Vorsichtsmaßnahme wegen möglicher Sanktionen, nämlich eine Steigerung des Leserinteresses über die Beanspruchung seiner aktiven Mithilfe (Sachwissen, Freude über erkannte Analogien). Aber dabei bleibt es nicht. Der energische Romangegner Gotthard Heidegger verurteilt in diesem Sinne nämlich den finalen Sog, der zum
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‚entmachteten‘ Leser führe, zu einem Rezipienten, der einfach nur das ganze Buch ‚verschlingt‘: Denn solche Bücher sein also geschoben/ daß man sie nicht hin und her lesen / sonder das gantze Drama in seiner Ordnung durchlauffen muß: sie seyn eingerichtet nach deß Menschen meisterlosen / Curieusen Appetit/ hat einer angefangen (ich rede von den Einfältigeren) so kriegt er bald lange Zähne/ wird als in einem Netz verstrickt/ daß er alles versaumt und biß zu Ende fortfahret.60
Allerdings arbeiten nicht nur die geistlichen (Bucholtz, Zesen, Gasser), sondern auch die weltlich-politischen Romane deutlich mit einer stationenweisen Vertiefung der anstehenden Fragen, mit einer graduellen Sinngebung im Sinne einer ‚Grammatik‘ des ganzen Textes, was einem rein ergebnisorientierten Lektüreprozess entgegenwirkt.61 In der besonderen Verknüpfung von Episoden bzw. durch die ‚vertikalen‘ paradigmatischen Diskurse in emblematischen Strukturen entsteht eine konsekutive Sinndisposition, eine besondere Reihung und Kombination von Aussagen, die der auktorialen Intention folgt. Zu fragen wäre jeweils insgesamt, also nicht nur in Bezug auf das Exordium, zu welchem Gesamtbild die spezifische Kombination der Geschehnisse jeweils leitet. Im Falle Gassers analysiert Franz Eybl62 die explizit bereits in den Vorreden erläuterte Haltung, die der Leser bei der Lektüre dieses Textes einzunehmen hat. Es geht um ein „Lesemodell“, das noch „in der alten Form der gegenreformatorischen Meditationslektüre wurzelt.“ Ein immer wieder im Text genanntes (fiktives) „Buch“, das „alle Argumente des Glaubens gegen die Vernunft“ enthalte, ein „Buch=Spiegel“ oder „Spiegel=Buch“, erzeigt sich zum Ende des langen Textes dann als das konkrete Buch selbst, das der Leser in Händen hält. Dieses soll er im Dreischritt der ignatianischen Meditation (memoria, intellectus, voluntas)63 zwecks tieferer Einsicht in die katholische Lehre durchlaufen. Der Unterschied von seinem „Büchlein“ zu den „eigentlichen Romantzen“ sei – so Gasser – wie „Feuer und Wasser“, da der Wortlaut erst durch einen allegorischen „Schlüssel“ (so auch der Titel des dem 2. Teil beigegeben Hinweistextes) zu öffnen sei, um „neben der Ersättigung der Curiosität“ auch den eigentlichen Inhalt („Kern“) in seinem wahren,
60 Zitiert nach: Romantheorie. Hg. von Steinecke, Wahrenburg (Anm. 21), S. 89. 61 Krump: Von der Heiligen Schönheit (Anm. 57), spricht von „Wissen, nicht als bloße Anhäufung von Gelehrsamkeit, sondern als zielgerichtete Erkenntnis“ im Assenat Zesens (S. 697), auch von der „kosmische[n] Harmonie“ über die „Auseinandersetzung mit dem Chaos“ (S. 705). 62 Vgl. hierzu auch Franz Eybl: Poesie und Meditation. Zur Vorredenpoetik des Bartholomäus Christelius. In: Oberdeutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Hg. von Dieter Breuer, Wolfgang Brückner, Hans Pörnbacher. München 1984, S. 255–276. 63 Das Modell variiert u.a. die übungstechnischen Vorgaben des Hugo von St. Viktor (lectio, meditatio, oratio).
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nämlich geistlichen Nutzen zu erkennen. (Teil 2, Vorrede). Die Auflösung der Fiktion erfolgt mit dem Verweis auf die Wirklichkeit des Lesers und dessen Direktunterweisung in der katholischen Lehre.64 Entsprechend fungiert nun natürlich auch die besondere Eindringlichkeit der Exordialszene der Außforderung.65 Den Hirschen getötet, verstockt und verblendet von Gott entfernt, durch Reue aber zurückgekehrt: in allegorischer Lesart stünde hier eine Hubertusgeschichte zu Beginn des katholischen Romans, der sich eben gegen „Atheisten, Machiavellisten, gefährliche Romane und falsch-politische Welt-Kinder“ wendet. Der ebenso im Titel angekündigte „Zwey-Kampff“ wiederholt sich dann noch auf einer weiteren Ebene, indem der atheistische Ritter, der geltungssüchtige ‚Materialist‘ und ‚Machiavellist‘, nun auf einen frommen Einsiedler trifft, mit dem er sich so lange streitet, bis er von den höheren Gütern überzeugt ist, seinen Weg macht und schließlich erkennt, dass er der Sohn des Kaisers von China ist. Realpolitisch geht es bei Gasser um hoheitliche Fragen lokaler Konfessionalität: „Großgünstigster Leser/ lieber und redlicher Eydgenoß/ mit dir rede ich eygendlich vor allen anderen“, so appelliert der Schweizer Kapuziner 1698 in seinen Ausführungen zur Haupt-Frag Ob in Glaubens Streittigkeiten, Richter seye, das WortGottes oder die Kirche-Christi?66 Das Problem sei, so Gasser, daß sich in unserer Eydgenoßschafft zwo gantz wiedrige Religionen befinden/ deren die eindt sich Römisch=Catholisch zu sein rühmet/ die andere aber Evangelisch sich selbsten nennet.
Neben dem „großen Seelen=Schaden“ aber bringe diese „Entzweyung“ auch „unserer lieben Eydgenoßschafft/ und dero allgemeinen politischen Wolstand“ den schlimmsten Nachteil. Die Eidgenossenschaft, genauer gesagt der reformiert gewordene Kanton Glarus, ist hier der territoriale Bezugspunkt.67 1695 fordert Gasser seine Landsleute 64 Vgl. hierzu Franz Eybl: Katholizismus und Barockroman. Der Vernunft-Trutz (1686/88) des Kapuziners Rudolph von Schwyz. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. von Dieter Breuer. Wiesbaden 1995, S. 673–682. 65 Vgl. als Versuch über den „visuellen Erzählstil“ (S. 178) der Vorlage: Winfried Bühler: Das Element des Visuellen in der Eingangsszene von Heliodors Aithiopika. In: Wiener Studien 10 (1976), S. 177–185. Ob der bei Heidegger genannte „Hirsch“ hier ein Reflex der Gasser-Kontroverse ist, wäre zu prüfen. Vgl. Gotthard Heidegger: MYTHOSCOPIA ROMANTICA oder Discours von den so benanten Romans. Zürich: Gessner, 1698. Nachdruck: Bad Homburg u.a. 1969; zitiert nach: Romantheorie. Hg. von Steinecke, Wahrenburg (Anm. 21), S. 91. 66 Rudolf Gasser: Haupt-Frag Ob in Glaubens Streittigkeiten, Richter seye, das Wort-Gottes oder die Kirche-Christi? Colmar: Decker, 1698, Vorrede (o.P.). Zu Gasser liegt wenig Forschung vor: vgl. Ludwig Hirzel: Ein schweizerischer Roman aus dem 17. Jahrhundert und sein Verfasser. Bern 1893; Leutfried Signer: Pflege des Schrifttums in der Schweizer Provinz. In: Die schweizerische Kapuzinerprovinz. Ihr Werden und Wirken. Festschrift zur vierten Jahrhundertfeier des Kapuzinerordens. Hg. Magnus Künzle. Einsiedeln 1928, S. 337–373, bes. S. 348ff.; Eybl: Katholizismus und Barockroman (Anm. 64), sieht in Gassers Roman den „gescheiterten Versuch“, hier „mit avancierten literarischen Mitteln als Gegenstück zur zeitgenössischen Romanproduktion einen dezidiert katholischen Barockroman zu schaffen“ (S. 674). 67 Wenn man vom größeren, möglicherweise aber emblematisch ausgelegten Bezugsraum China absieht, da hier ja auch deutlich das Missionswerk der Jesuiten in Fernost thematisiert wird.
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auf, die „wahre Römische Religion zu umbfangen/ und anzunemmen“,68 was ja ohne weitere Probleme möglich sei, da jeder aufgrund „der in ewrem Landt zugelassenen Freystellung“ eine eigene Entscheidung treffen könne, ganz ohne Furcht um den Wohnort (also ohne Gefahr einer Vertreibung oder Auswanderung). Mit seinem ehrgeizigen Projekt, ein gebildetes elitäres Publikum vom falschen Glauben abzubringen,69 setzt sich der Autor natürlich vor allem der Polemik des derzeit herrschenden calvinistischen Gegners aus, womit sich auch die diskursive lokalpolitische Konstellation der Romanproduktion zu erkennen gibt. In der Leyr Thyri (1707)70 sollen nämlich die „altfränkische[n] Possen“ des „Pater Rudolf Gasser“ von einem J.C.A. „zerschmetteret und abgefertiget“ werden. Denn der Mönch habe ja nicht nur „die Pfeffer=Buden mit seinen Romanzischen Schrifften erfüllt“ (S. 2), sondern auch mit seinen „Rathschlägen“ in „Glaubens=Sachen“ höchst irreführend gewirkt. Bezeichnenderweise orientiert sich ein Argumentationsstrang an der so beklagenswert überproportionalen Wahrnehmung antiker Texte seitens der Katholiken: weil das Tridentinum die Laien-Lektüre der Heiligen Schrift verbiete, treibe man die Leser den heidnischen Autoren ja geradezu in die Arme, so dass ihnen die christliche Wahrheit verschlossen bleiben müsse: Ihr habet trefflich Studiert/ verstehet den CICERONEM und ULPIANUM PERFECT, aber Paulum/ der in aller Einfalt zureden verspricht/ sollt ihr nicht verstehen! Es wurde euch niemand Tueschen/ mit den SUPPOSITITIIS CICERONIS &c. Ihr kennet und mercket seinen STYLUM, aber Gottes euers Seligmachers Wort sollet ihr nicht mercken/ und von dem ALCORAN nicht zuentscheiden wissen! Daß ANNALES TACITI auf der Welt seyen/ ist euch unverborgen/ aber das ein geschriebnes Wort Gottes vor handen/ soll über eueren CAPTUM seyn! (Vorwort o.P.)
Demnach sollen die „fleischlichen Leute“, also die katholischen „Layen“ (resp. profani), eben „alberne Schafe bleiben“. Weil sie auf diese Weise ihre Seele in „Compromiss und Verlag“ gegeben hätten, seien sie nun ein geistliches „Nichts“. Ein politisches „Nichts“ aber seien sie zudem, da es nämlich allein die Reformation gewesen sei, die den weltlichen Handlungsspielraum eröffnet habe, ohne den der Papst auch weiterhin in alles Politische, insbesondere aber in die Territorialfragen hineinregieren würde. Hier entzündet sich die konfessionelle bzw. auch politische Vgl. zu den Schweizer Hintergründen: Thomas Lau: „Stief=Brüder“. Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656–1712). Köln u.a. 2008, bes. S. 121–142 (zur katholischen Eidgenossenschaft: „Katholische Identität und eidgenössischer Diskurs“). Vgl. zur Historiographie des Kantons Glarus: Bernhard Stettler: Aegidius Tschudi. ‚Vater der Schweizergeschichte‘. In: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hg. von Franz Brendle, Dieter Mertens u.a. Stuttgart 2001, S. 123–133. Tschudi lebte 1505 bis 1552, nicht zu verwechseln mit Gassers Gegner in Glarn, dem Pfarrer Anton Tschudy. 68 Rudolf Gasser: Ein kostbahrer Schatz/ das ist: Fünfzehen gute Rathschläg eines wahren Freunds der Evangelischen Glarneren [...]. Zug: Rooß, 1695, Zitat S. 222. 69 Er beabsichtigt keine unterhaltsame Unterweisung für die Ungebildeten, nicht für „Herrn Omne“, wendet sich aber auch nicht an die bereits Frommen zur Ertüchtigung, sondern an die geschulten Leser, die aber noch am falschen Glauben hängen. 70 Die Leyr Thyri. Das ist: Altfränkische Possen/ Mit welchen Pater Rudolf Gasser In seiner ... schmähsüchtigen Wahrheits=Sonne ... zerschmettert und abgefertigt von J.C.A. S.l. 1707. (HAB), Zitate aus „Vorred“ o.P. Vgl. auch Prytaneum sacrum (1700) u.a.
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Kontroverse also ganz konkret an der Frage des Nutzens bzw. Verderbens der antiken Literatur bzw. deren Transformation für aktuelle Zwecke. Der Calvinist stellt die Übersetzung des christlichen Haupttextes unmissverständlich über die Lektüre heidnisch-römischer Autoren und ihrer Gattungen. Verhilft nun also eher die Beschränkung auf die verdeutschte Hl. Schrift zur Seligkeit (resp. politische Mündigkeit!) oder ist es deren ‚mediale‘ Erweiterung durch antike Vorgaben, also die Lektüre umgewandelter und somit ‚erbaulich‘ eingerichteter Fremdtexte? Rudolf Gasser plädiert für die Indienstnahme aller verfügbarer Medien: er betrachtet Seelsorge als plurales Rezeptionsproblem und preist daher die Vielfalt der literarischen Möglichkeiten, mit deren Hilfe sich ein Autor an die verschiedenen Individuen („so vil Köpff/ so vil Sinn“) wenden könne, um Erfolg zu haben: es gebe eben keine „für alle Köpff rechtgeschnittene/ und wol=dienende Kappen“. (III. Teil, Zuschrifft o.P.) Seine Romane zielten auf „Annembligkeit“, aber eben auch auf „geistliche[n] Seelen=Nutzen“, und der kirchliche Zensor Johann Jakob Schmid attestiert ihm 1687, dass auch im dritten Romanteil „kein eintziger Streich oder Wurff wider die Göttliche Schrifft/ H.H. Vätter oder allgemeinen H. Römischen Kirchen Einstimmung und gute Sitten“ auszumachen sei. Der katholische Ordinarius akzeptiert das Werk als ein poetisches Instrument der theologischen „Vernunft“, indem es dem Leser „die Begirde (den Außtrag zu vernemmen) mit ziehrlicher Redens=Arte und annemblichister Vorbringungs=Maniere gantz anflammet.“ (16.11.1685, Widmung o.P.) Damit steigern die Heliodor-Rezipienten neben der politischen bzw. konfessionspolemischen Implikation tatsächlich auch eine seelsorgerische Komponente, um den Rezipienten im Rahmen seiner heilsgeschichtlichen Einbindung zu ermahnen und zu erbauen. Es ist dies weit mehr als nur die bei Heliodor festgestellte, der christlichen eben ähnliche „Moral- und Tugendlehre“,71 die schon Melanchthon gerühmt hatte,72 aber auch weit mehr als nur ein stoisches Ideal der „Gelassenheit“ und „Affektunterdrückung“.73 Die geistlichen Transformationen der antiken Vorlage bieten mehr als den schlichten Sieg des Guten, mehr als die schlichte Dichotomie zwischen göttlicher providentia und der geschulten bzw. praktizierten Handlungsfreiheit des menschlichen Willens.74 Es geht um die eingehende Frömmigkeit 71 Lindhorst: Philipp von Zesen (Anm. 57), zitiert nach Neudruck, S. 20. 72 Vgl. Michael Hanstein: Caspar Brülow (1585–1627) und das Straßburger Akademietheater. Lutherische Konfessionalisierung und zeitgenössische Dramatik im akademischen und reichsstädtischen Umfeld. Berlin, Boston 2013, S. 268. 73 Lindhorst: Philipp von Zesen (Anm. 57), zitiert nach Neudruck, S. 16. 74 Chariklea macht bei Heliodor in der Exordialszene in ihrer Erregung explizit Apoll für das Unglück verantwortlich, wenngleich sie dieses gleichzeitig auch als Bestrafung des bisherigen Handelns versteht. Theagenes muss sie zur Gottesfurcht ermahnen. Die göttliche Sphäre kommt aber weiter nicht zur Sprache, die kurze Szene hat lediglich die Funktion ein Stück Vorgeschichte einzuholen. Allerdings basiert das gesamte Geschehen auf dem göttlichen Plan Apolls. Vgl. auch die christliche Vereinnahmung von Personen und Handlungen, etwa mit der Allegorie auf die christliche Seele (‚duldend wie Chariklea‘) bzw. die christliche Kirche (Standfestigkeit) bei Kaspar Brülow (Chariclia), dazu Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 72), S. 267 bzw. Regina Toepfer im vorliegenden Band. Auch Johann Conrad Dannhawer geht in seiner Predigt Panegyrikus Uranius Christi (Straßburg 1664) ähnlich vor. Hierauf verweist ohne
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des Individuums mit Bezug auf die politische Gemeinschaft, deren Frieden nicht zuletzt von dem rechten Bekenntnis bzw. der rechten Glaubenspraxis ihrer Mitglieder abhängt. Hier wäre zunächst abzubrechen. Im vorliegenden Zusammenhang galt es nur einige wenige Beobachtungen vorzustellen, die aber vielleicht schon eine gewisse Richtung weisen, wie nun eine Synopse solcherart Texte anzulegen wäre. Eine detaillierte Ausarbeitung im jeweiligen territorialen Kontext unter Einbeziehung umfassender Materialien wäre ein lohnendes Projekt. Auffällig aber bleibt schon jetzt: die jeweils vorgegebene Einzelfunktionsstelle (Sonnenaufgang, Geschlechterpaar, Überfall) wird als verbindlich akzeptiert, dann aber völlig frei mit neuen Inhalten besetzt, die sich auf wichtige Schlüsselthemen beziehen: Benennung der Gefahr für das Kollektiv, Klärung der Handlungskompetenz des jeweils verantwortlichen Subjekts, Zielrichtung notwendiger Aktivitäten. Besonders interessant erscheint das Wechselspiel zwischen einem erstarkenden Territorial- und dem zunehmend verblassenden Reichsbewusstsein natürlich an den Rändern. Dort zeigen sich durchaus spezifische Optionen: die antihabsburgisch motivierte Eidgenossenschaft im Süden oder die Niederlande im Nordwesten distanzieren sich bereits im 16. Jahrhundert ganz entschieden vom Reichsverband, aber auch im Osten zeigen sich Emanzipationsbewegungen gemäß den eigentümlichen Herrschaftsstrukturen in Mitteleuropa. Frühe Romane, die wie der Herkules 1659/60 das Reich noch als Einheit mit dem Kaiser an der Spitze vor Augen haben, sind zunehmend seltener und im Duktus zurückhaltender. Bucholtz sah noch die „Liebe zum Vaterlande“ im Sinne des Alten Reichs, diese habe den „Christlichen Teutschen Herkules“ in seiner Seele gebildet und außgebrütet/ wie dann ohn Zweifel unser Teutschland mannichen tapffern Held und Fürsten auch zu jenen Zeiten gezeuget / deren Lob der Unteutschen Neid/ und Mangel der Geschicht Schreiber unterdrücket/ und der Vergessenheit gewidmet hat. (Erinnerung an den Leser, S. 3f.)
Deutschland als Ganzes steht bei Bucholtz aber weiterhin im kulturellen Defizit gegenüber der Antike, ebenso gegenüber dem gegenwärtigen Italien oder Frankreich. Der Roman gilt dem Autor als Kompensat. Noch sieht er sich im Kampf gegen den Barbarismus-Vorwurf, aber auch gegen antike Historiker, die sich offenbar seinerzeit schon weigerten aufzuzeichnen, was die Deutschen bereits früh geleistet hatten. Allerdings setzt der Protestant Bucholtz die Schwerpunkte Böhmen und Schweden, die als Koalition (Vettern) erscheinen, ja sogar totgeglaubte böhmische Könige (Notesterich) leben noch. Damit sind die Interessen der lutherischen Reichsstände als Komponente deutlich eingebracht, das Bekenntnis zum katholischen Kaiser bleibt an Bedingungen geknüpft. Ferner aber treten auch „wendische“ oder „pannonische“ Räuber als Opponenten der Akteure auf den Plan, womit die östlichen Machtstrukturen Europas deutlich als Gefahr für die Einheit des Reichs eingestuft werden. Das bezieht sich auch auf die Regionen, die formal noch dazu vertiefte Analyse bereits Lindhorst: Philipp von Zesen (Anm. 57), zitiert nach Neudruck S. 15 bzw. S. 25; vgl. dazu auch Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 72), S. 266.
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gehören bzw. durch ethnische (Mischbevölkerung) Faktoren an das Reich gebunden sind, durch politische (Lehnsherrschaft) aber wiederum auf Abstand gehen. Tatsächlich ist die angesprochene Reichsdistanz hier besonders stark, steht doch für die Gebiete im slawisch-deutschen Siedlungsbereich stets auch der polnische, ja bisweilen sogar der schwedische König als politische Bezugsadresse vor Augen.75 Hier zeigen sich labile bzw. dynamisch wechselnde Zugehörigkeiten, hier bieten sich für ein Territorium wie Schlesien oder das Preußenland gewisse Entscheidungsspielräume. Der Pluralismus geht somit rasch in Richtung Partikularismus, ja Separatismus. Damit kommen den Autoren hier ganz besondere Funktionen als Moderatoren oder gar Agitatoren zu. Bekannt sind die entsprechenden Befürchtungen des bereits genannten schlesischen Juristen Daniel Caspar von Lohenstein, das Reich könne ‚zerfallen‘.76 Um dies zu zeigen, aber auch um abschließend anzudeuten, wie eine Verlängerung der im Exordium angelegten topischen Fixpunkte zum Scopus des Textes insgesamt führen kann, wäre in aller Kürze nochmals auf die genannte Durchlauchtigste Olorena zu verweisen. Diese gibt sich als „warhafftige Staats= und Liebes=Geschichte dieser Zeit“ aus, „welche wegen sonderlicher Glücks=Fälle/ und des/ wider die zwey mächtigsten Staaten von Europa/ bewehrten Heldenmuths/ des unglücklichen CARLORENO merckwürdig ist“. Es geht um die Konflikte zwischen dem Kaiser, den Reichsfürsten sowie der schwedischen und der polnischen Krone, wie sie sich vor allem nach den französischen Provokationen der 1670er Jahre zuspitzten. ‚Olorena‘ steht für ‚Eleonora‘, die Schwester des habsburgischen Kaisers Leopold. Nach dem Ableben des polnischen Königs 1673 ist sie als dessen Witwe eine begehrte Heiratskandidatin für schwedische, französische und brandenburgische Anwärter, aber auch der polnische Adel hatte seine Pläne. Eleonora selbst bevorzugt Herzog Karl von Lothringen (Carloreno), der jedoch unterliegen muss. Die so ins Zentrum des Romans gerückte polnische Königswahl von 1669 soll die drastische Abhängigkeit Polens von ausländischen Mächten herausstellen. Die drohende französische Orientierung der Adelsrepublik motiviert den deutschen Kaiser, sich erneut und noch fester mit der polnischen Krone zu verbinden, „König Uldewig von Gallien“ scheut nämlich nicht „schädliche Rathschläge mit einigen ungetreuen Fürsten, die ihn in das Römische Reich lockten/ auch ihme selbst einige Festungen einräumeten“ (Vorwort). Die Gefahr aus der Sicht des Romanautors besteht offen-
75 Vgl. neben den Vorgängen in Schlesien eine ähnlich gelagerte, aber in lokaler Ausprägung sich durchaus markant unterscheidende Problematik im Herzogtum Preußen, hier herausragend der Königsberger Ratsherr und Bürgermeister Michael Kongehl, der sein Gemeinwesen in einem Spannungsfeld zwischen brandenburgischem Absolutismus, polnischer Ständerepublik und dem am ‚dominium‘ über das ‚baltische Meer‘ interessierten Schweden kritisch und pragmatisch zu positionieren versucht, dazu: Keller: Michael Kongehl (Anm. 48). 76 Vgl. einige Aspekte bei: Otto Woodtli: Die Staatsraison im Roman des deutschen Barock. Frauenfeld, Leipzig 1943; vor allem aber: Elida M. Szarota: Lohenstein und die Habsburger. In: Colloquia Germanica 1 (1967), S. 263–309; dies.: Lohensteins Arminius als Zeitroman. Sichtweisen des Spätbarock. Bern, München 1970; Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik (Anm. 45).
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bar in der bourbonischen „Ehrsucht/ welche nach einer fünfften Monarchie schwanger gienge“. Die Reichseinheit ist durch die Ambitionen des französischen Königs auf die Kaiserkrone also mehrfach bedroht: durch dessen Einflussnahme auf einzelne Reichsfürsten, aber auch durch die gezielte Schwächung des Hauses Habsburg im Ostseeraum. Tatsächlich engagiert sich Frankreich nach dem Pyrenäenfrieden mit Spanien nun vermehrt jenseits der Weichsel, Ludwig XIV. will Schweden und später eben Polen stärken, um eine schlagkräftige Allianz gegen den Kaiser zu schmieden. Die Lösung in der Perspektive des Romans wäre ein starker Kaiser Leopold bzw. ihm treu ergebene Reichsfürsten. Die Präferenz des polnischen Adels, die Wahl Michaels, entspricht nicht den französischen Wünschen, der neue polnische König muss sich deshalb im eigenen Interesse verstärkt an Habsburg orientieren. Als er aber schon 1673 stirbt, kann Ludwig den bourbonisch gesinnten und mit einer Französin verheirateten Jan Sobieski auf den Thron bringen. Der Romanverlauf stellt mit verschlüsselten, aber leicht realpolitisch lesbaren Liebes- und Eheverhältnissen die Ereignisse nach, um das vollkommen inakzeptable und reichsgefährdende Vorgehen Polens herauszustellen, das sich aus der habsburgischen Kooperation zu lösen versucht, um sich mit dem kaiserfeindlichen Bourbonen einzulassen.77 Der Herzog von Lothringen wird als Gegenfigur idealisiert und als so kaisertreuer wie einsatzbereiter Feldherr verklärt. Mit ihm baut der Roman eine exemplarische Identifikationsfigur auf, an der sich reichstreue Kräfte orientieren sollen. Vor allem aber weitet der Roman den Schauplatz räumlich sehr weit aus und beleuchtet auch die kausal vernetzten Vorgänge in Ungarn und Südosteuropa, um deren markante Wirkung auf die Politik des Hauses Habsburg zu zeigen und damit die bedrohlichen Entwicklungen für die (teilweise mitschuldigen, weil abtrünnigen) Regionen des Reiches aufzudecken.78
77 Das deutsch-polnische Verhältnis zeigt etwa auch die Durchläuchtigste Polnisch VENDA (1702), ein „Curieuser Staats= und Liebes=Roman“, der unter Einführung der Alten Teutsch= und Polnischen Geschichte/ Die Veränderungen und Staats=Begebenheiten itziger Zeiten kurtzbündig und anmuthig zum Nutz und zur Belustigung“ beschreibt, dabei aber kritisch einen deutschen und polnischen Diskurs feststellt, der sich um die Legende des Langobardenkönigs Rüdiger und der polnischen Königstochter Venda ranke. Das Romangeschehen intendiert als realhistorisches Ziel die friedensorientierte Versöhnung beider Völker. Vgl. hierzu Keller: Michael Kongehl (Anm. 48), S. 596–598. 78 Die genaue Entschlüsselung des Romangeschehens mit Bewertung der einzelnen politischen Kräfte, Koalitionen und Konflikte steht noch aus. Vgl. die Hinweise bei Keller: Michael Kongehl (Anm. 48), S. 593–596.
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4. FUNKTIONSWEISE UND FOLGEN SINGULARISIERENDER SITUATIONSANALYSEN Unsere lediglich stichprobenartig angelegten Erhebungen in einem durchaus noch unüberschaubaren Quellenfundus dürften aber bereits deutlich die narratologische Kompetenz des 17. Jahrhunderts aufzeigen, sich antike Vorgaben souverän zunutze zu machen. Es finden sich dispositorisch grundverschiedene, inhaltlich völlig disparate oder gar konträre, aber einzeln jeweils gleichrangig agierende Verhältnisbildungen zum ursprünglich griechischen Prätext. Die Heliodor-Vorgabe fungiert offenbar als ein flexibler Produktionsrahmen, der zwar eine normative Folge von Erzähleinheiten vorgibt, dann aber deren nahezu beliebige Transformation für alle nur erdenklichen Zwecke gestattet. Die Berufung auf das Original als Bezugsobjekt von hoher Autorität und Dignität steht außer Frage und bleibt auch bei aller Freiheit offenbar nötig. Es ist wohl gerade die Vertrautheit des Publikums mit der Eingangsszene, die zunächst eine hohe rezeptive Akzeptanz garantiert, darüber hinaus aber auch für unbekannte Inhalte sensibilisiert. Der gebildete Rezipient hat sein Vergnügen daran, Entsprechungen, aber auch Inkongruenzen mit Heliodor zu erkennen, der literarhistorisch weniger bewanderte Leser findet dagegen eine mitreißende Geschichte, die ihn als Betroffenen anspricht und aktiviert. In Rücksichtnahme auf einen bestimmten Grad der Wiedererkennbarkeit steht es dem jeweiligen Verfasser – abgesehen von der vernakularen Sprachgebung (elocutio) – weitestgehend frei, das Strukturmuster der Vorlage nach Maßgabe einer intentionsbedingten inventio ‚neu‘ anzureichern. Zudem aber obliegt es seinem ingenium, auch auf der Ebene der dispositio das vorgefundene Syntagma aufzubrechen und gerade hier besonders großzügig mit Umstellungen, Straffungen oder Dehnungen, vor allem aber aussagekräftigen Neukombinationen zu wirtschaften. Schon Zschorns Übersetzung im 16. Jahrhundert wies ja bereits leserorientierte Eingriffe und Zusätze wie Titelerweiterungen, Kapitelzuschnitt und Marginalien auf. Hieraus resultiert nun ein ganz besonderes Verhältnis zwischen ‚Original‘ und ‚Rezeptionsprodukt‘, das kaum noch im Sinne einer Abhängigkeit bzw. mit ‚Renovation‘ oder gar ‚Renaissance‘ adäquat zu etikettieren sein dürfte. Das ‚Wiederbelebte‘ wird als eigene Entität ja geradezu ‚abgetötet‘, indem es völlig aufgeht in einer neuen Form. Es handelt sich eher um eine Art konsumtiver Inanspruchnahme einer Ressource, ein Verfahren, das wiederum auch gegen eine creatio ex nihilo abzugrenzen wäre, denn das vorangehende textgenetische ‚Abarbeiten‘ als Voraussetzung für das Entstehen des aktuellen Textes bleibt ja in seinen Spuren erkennbar. Das neue Produkt kann aus pragmatischen Gründen der Vorlage nicht entbehren, diese jedoch bleibt eine Art Matrix, ein im Vorgang aufzubrauchender Katalysator und Impulsgeber. Die Hilfskonstruktion kann nach Erstarkung eines selbständigen Konstrukts entfallen, ohne sie jedoch gäbe es keinen ‚innovativen‘ Text. Eine substantielle Weiterbeschäftigung bzw. ein explizit geführter Dialog mit der Vorlage
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ist ebensowenig zu erkennen wie eine aus der Transformation möglicherweise resultierende neue Sichtweise auf das „Original“.79 Die Termini imitatio80 und aemulatio81 wären hier also eher kritisch zu reflektieren, das Folgeprodukt scheint keinen Wert mehr auf den qualitativen Abgleich mit seinem Bezugstext zu legen. Hier ließe sich möglicherweise eine gewisse Analogie zu einer Form der gelehrten ‚Selbstübersetzung‘ in der Frühen Neuzeit diskutieren: Poeten können aufgrund des Primärerwerbs stilistischer Formen in Latein zunächst auch ihre eigenen Texte viel leichter im antiken Idiom erstellen: hier stehen ihnen die Früchte ihrer Klassikerlektüre zu Gebote – ein reicher Vorrat an gängigen Topoi, präzisen Ausdrücken (abstracta) und Formvorgaben, den ihre Muttersprache noch nicht zu bieten scheint.82 Mit dem fremdsprachlich prästabilisierten Ausdrucksvermögen steigert man im Übertrag dann aber auch die Leistungsfähigkeit der eigenen Sprache. Nationalprodukte entstehen somit über das Vehikel der lateinischen Auxiliarversion, die als Konstruktion an den anerkannten Autoritäten angelehnt ist und somit Qualität verbürgt. Es handelt sich eben noch nicht um eine originale, kreative oder inspirierte Dichtkunst in der Nationalsprache im modernen Sinne, sondern um ein aufwendiges gelehrtes Textgewinnungsverfahren. So schreibt auch der Romanautor im gefestigten und erfolgsgarantierenden Formenapparat Heliodors leichter als vor dem weißen Blatt in Erwartung eines raptischen furor poeticus mit dem zusätzlichen Risiko, den Leser vielleicht durch allzu Innovatives zu verstören und zu befremden. Man ist demnach versucht, von einer ‚zerstörenden Ingebrauchnahme‘ der Vorlage zu sprechen: der „Heliodorus redivivus“ wäre dann eher ein „Heliodorus deletus“. Die ‚produktive‘ Dekonstruktion als besondere Variante, die Antike zu überwinden, weist nicht zuletzt aber auf eine spezifische Kompetenz des 17. Jahrhunderts, in der sich ein eigentümliches Selbstbewusstsein der Moderne ankündigt. Nicht die unantastbar idealisierte Ferne, sondern der konkrete Bedarf eines publizistischen Instruments in der aktuellen Territorialpolitik bestimmt das Vorgehen. Es ist das in seiner neuen Funktionalität selbstbewusst verbrauchte Angebot, dessen Eigentümlichkeit transformiert und damit nahezu vollständig ‚überschrieben‘ wird. Genau deshalb gibt es wohl auch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein nur e i n e
79 Eine Betrachtung etwa im Sinne der Allelopoiese erscheint nicht geboten, vgl. die Forschungen des SFB 644: Allelopoiese – Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels. Jahrestagung 2014 des SFB 644 „Transformationen der Antike“, Humboldt-Universität zu Berlin, 04.12.2014–06.12.2014. 80 Gregor Vogt-Spira: Imitatio als Paradigma der Textproduktion. Problemfelder der Nachahmung in Julius Caesar Scaligers Poetik. In: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Hg. von Ludger Grenzmann u.a. Göttingen 2004, S. 247–272. 81 Vgl. Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. von Jan-Dirk Müller u.a. Berlin, New York 2011. 82 Vgl. mit einigen Hinweisen zur Frühen Neuzeit bereits: Leonard Forster: Dichten in fremden Sprachen. München 1974, bes. S. 21–78. Vgl. in Kürze hierzu die Monographie des Verf.: Selbstübersetzung in der Frühen Neuzeit. Die Genese moderner Individualität im lingualen Wissenstransfer.
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Übersetzung (‚Translation‘), dafür aber Dutzende von ‚Transformationen‘ des Heliodor. Das Original bzw. ein vernakularsprachliches Äquivalent erscheinen zweitrangig, eine rein sprachliche Übertragung (wörtlich oder sinngemäß) reizlos und funktionsschwach gegenüber der leistungsfähigeren und thematisch flexibleren Darstellungspräzision einer solchen ‚Transformation‘: vom Geschlechterdiskurs zur Fürstenerziehung, vom Reichseinheitsappell bis zur inneren Mission, von höfischer Konvention und Rollennorm bis zu territorialer Diplomatie und Bündnisstrategie, von quasi parlamentarischer Zukunftsberatung bis hin zum differenzierten Mediendiskurs ist praktisch alles nur Erforderliche darstellbar.83 Der entwickelte (höfisch-)historische Roman im deutschen Bereich bietet auf diese Weise ein bislang ungekanntes Mittel, in das gegenwärtige Geschehen reflexiv wie initiativ einzugreifen. Hier steht ein effizientes Werkzeug zur Verfügung, eine translatio imperii auf die nächst kleinere Ebene der Territorialstaaten voranzutreiben: Neue Zentralgewalten als historische Handlungseinheiten lassen sich in narrativer Evidenz legitimieren, eben mit dem von Heliodor vorgegebenen Muster. Der entsprechend generierte Text fungiert dann als ein effizient in das Außertextliche wirkender ‚Transmissionsriemen‘, womit sich nicht zuletzt die großen Anteile der Literatur im Staatsbildungsprozess der Vormoderne zu erkennen geben. 5. BINNENNATIONEN, ROMANE UND MONADEN: ÜBER DEN STELLENWERT DER LITERATUR IN DER KONKRETEN REICHSPOLITIK Vor diesem Hintergrund müssen nun globale Untersuchungskategorien wie das ‚Heroische‘, das ‚Galante‘, das ‚Höfische‘ bzw. ‚Bürgerliche‘ oder gar das ‚Barocke‘ in ihrer gänzlichen Bezugslosigkeit zum historischen Material erscheinen. Letzteres erschließt sich weit präziser bzw. authentischer in der Parallellektüre mit den auf die politische Praxis gerichteten Diskursen der Zeit. Vor allem wäre hier nochmals auf Gottfried Wilhelm Leibniz und die Theorien zur aktuellen Situation des Deutschen Reichs zurückzukommen.84 Der Universalgelehrte zieht nämlich zwischen der historischen Ereignisfolge und der narrativen Geschehensdarbietung enge Verbindungen, die genauer zu verfolgen sich lohnen dürfte. Leibniz betrachtet ‚Roman‘ und ‚Geschichte‘ nicht nur als adäquate, sondern auch als korrespondierende Phänomene.85 Das Postulat einer systematisch orientierten, ja sogar kausalen
83 Die oben genannten Aspekte im Spannungsfeld der realhistorischen Staatsbildung wären in einem komparativen Großprojekt anhand der vollständigen Romantexte nachzuzeichnen. Mit einer solchen Einzeltextanalyse, aber vor allem auch mit Hilfe der Paratexte und den entsprechenden lokalpolitischen Akten ließe sich darstellen, wie die Autoren jeweils versuchen, mit ihrem Medium die Konsolidierung neuer Körperschaften zu unterstützen. 84 Vgl. Heinz Duchardt: Leibniz und das ‚Modell‘ des römisch-deutschen Reiches. In: Umwelt und Weltgestaltung (Anm. 12), S. 43–55, bzw. Wolfgang Burgdorf: Securitas publica. Gottfried Wilhelm Leibniz, Reichsverfassung, Reichsreform und Politik. Ebd., S. 57–79. 85 Leibniz spricht im Blick auf die Weltgeschichte sinngemäß etwa vom ‚Roman des menschlichen Lebens, der sich vollständig im Verstande Gottes zusammen mit einer Unendlichkeit an-
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Bezugsetzung der beiden Größen ohne eine trennende Hierarchie im Sinne von Faktizität vs. Fiktionalität wertet zunächst die Poetik als Disziplin, dann aber auch ihre (von der Theologie sichtbar noch geschmähten) Produkte als ‚geschichtsmächtig‘ auf. Es geht in verschiedene Richtungen: der Roman gilt nicht nur als reaktive Abbildlichkeit von Geschichte mit reiner Unterhaltungsfunktion, sondern steht als vorbildlicher und wirkungsmächtiger Impulsgeber in unmittelbarer Verbindung mit den historischen Ereignissen. In diesem Sinne erhebt sich zum Schluss unserer Überlegungen die These, dass der vielfach thematisierte neue Binnenstaat – also das territorium clausum – nach Leibniz als Monade, der Roman aber als das ihr zukommende Perzeptionsinstrument zu betrachten wäre.86 Der Roman sorgte demgemäß für die verstehende Abbildung der Außenwelt, also für die Zusammenführung der Vielheit in das Begriffsvermögen der Individualität.87 1686 diskutiert Leibniz im Discours de la Métaphysique die Frage nach Individuum und Standort und spezifiziert dies als Frage der „Substanz“ bzw. deren eigener „Darstellung“ von „Welt“. Dies ließe sich leicht auf die Territorialisierung und die nunmehr dargelegte Problematik der resultierenden politischen Einzelstandpunkte übertragen: Vielmehr ist jede Substanz wie eine Welt für sich, gleichsam ein Spiegel Gottes oder vielmehr des gesamten Universums, das sie nach ihrer Weise und Eigentümlichkeit ausdrückt, sowie etwa eine und dieselbe Stadt je nach den verschiedenen Standorten, die der Betrachter wählt, sich verschiedenartig darstellt. Auf diese Weise wird das Universum gewissermaßen so viele Male vervielfältigt, als es Substanzen gibt, und ebenso mehrt sich der Ruhm Gottes im selben Maße, als es eine Vielheit von einander ganz verschiedener Darstellungen seines Werkes gibt. Ja, man kann sogar sagen, daß jede Substanz in gewisser Weise den Charakter der unendlichen Weisheit und Allmacht Gottes in sich birgt und ihn, soweit sie dessen fähig ist, nachahmt. Denn alle Ereignisse des Universums, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, sind in ihr, wenn auch nur verworren, ausgedrückt, worin gewisse Ähnlichkeit mit einem unendlichen Bewußtsein oder einer unendlichen Erkenntnis liegt. Da ferner alle andren Substanzen diese eine ebenfalls auf ihre Weise ausdrücken und sich mit ihr in Übereinstimmung setzen, so kann man sagen, daß sie ihre Macht auf alle andren erstreckt und somit auch hierin die Macht des Schöpfers nachahmt.88
derer Romane findet‘, vgl. hierzu: Heinrich Schepers: Leibniz. Wege zu seiner reifen Metaphysik. Berlin 2014, S. 255–269, hier S. 264f.; ferner: Jürg Wagner: Barockraum und Barockroman. Studien zu Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig Aramena. Zürich 1971, S. 151, dort auch weitere Beobachtungen zum Kontakt zwischen Leibniz und Anton Ulrich. 86 Es wäre das jeweilige Territorium, das als Individualität zur Betrachtung anstünde und weniger der einzelne Held des Romans, vgl. Wagner: Barockraum und Barockroman (Anm. 85), bes. S. 152–155. Vgl. hierzu ferner zu Leibniz: Friedrich Beiderbeck: Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das politische Denken von G.W. Leibniz. In: Pluralität der Perspektiven (Anm. 12), S. 155–173, u.a. zum „Föderativprinzip“ in Leibniz’ Caesarius Fürstenerius (1677), S. 160–162; Friedrich Beiderbeck: Zur Kontextualisierung der politischen Schriften von G.W. Leibniz. Eine Einführung. In: Umwelt und Weltgestaltung (Anm. 12), S. 11–40, bes. S. 13. 87 Und damit im Sinne der auf zukünftiges Handeln verweisenden „Antizipation“, vgl. zum „antizipatorischen Vermögen“ mit Verbindungen zur Literatur: Friedrich Gaede: Leibniz’ ‚unmerkliche Perzeptionen‘ als Quelle poetischer Antizipation. In: Morgen-Glantz 8 (1998), S. 297–311. 88 Gottfried W. Leibniz: Discours de la Métaphysique. Zitiert in der deutschen Übersetzung von Artur Buchenau, in: Gottfried W. Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie.
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Hier erhält die von Leibniz intensiv verhandelte Problematik des „Blickpunkts“ als „Gesichts-Punct“ (point de vue, punctum visus) eine durchaus spezifische Bedeutung: es geht um den festgesetzten Ort, von dem aus die Monade die Welt (und zwar in Berücksichtigung aller historischer Zeitstufen) „perzipiert“, in dem sich die Welt fokussiert und re-präsentiert. Ein solcher aber ist hier nichts anderes als der auktoriale Standpunkt, der wiederum dem rhetorisch-intentionalen Darstellungszentrum des Romans entspricht:89 Im fiktionalen Text realisiert sich eine spezifisch standortgebundene Abbildung der (objektiv identischen) Welt, die für andere Monaden dann entsprechend verschieden aussehen muss. Das Universum erscheint im Auge des poetischen Konstrukts! In der Monadologie (1714) diskutiert Leibniz als eine weitere wichtige Größe auch die Beziehung der Substanz zu gleichrangigen Alteritäten, also die Relation und damit die Relativität der singulären Wahrheit als Bild von Welt. Gott hat nämlich „alle erschaffene Dinge nach einem jedweden/ und ein jedwedes nach allen andern eingerichtet und verfasset“: solches verursachet/ daß eine jede einfache Substanz gewisse Relationen hat/ durch welche alle die anderen Substanzen ausgedrucket und abgebildet werden/ und daß sie folglich ein beständiger lebendiger Spiegel des ganzen großen Welt-Gebäudes sei.90
Gilles Deleuze folgend, ließe sich hier die „Falte“ im Sinne einer ‚trennenden‘91 Grenze zwischen innen und außen ansetzen, zwischen Fassade und geschlossenem Raum, zwischen Materie und Seele. Die Faltungen der Materie und die Faltungen der Seele verlaufen getrennt, weisen aber Korrespondenzen auf, die sich über die abbildende Prozessualität der „Perzeption“ erklären lassen. Zwischen dem Innenraum als geistig bestimmter Monade und dem Außenraum der physischen – und damit immer auch der faktischen, d.h. ‚historischen‘ – Gegebenheiten vollzieht sich die „Inflexion“ als spezifische Perzeptionsaktivität. Für unseren Zusammenhang hieße das: der Roman stünde als Katalysator, als aktive ‚Einfaltung‘ der komplexen Wirklichkeit, als griffige (Re)Konstruktion der Welt zwischen beiden Sphären. Der Text selbst fungiert als eine Architektur aus Falte und Körper, er kann zeigen, verdecken, bergen, aber auch erzeugen, suggerieren und verstärken. Nach Deleuze sind die Faltungen der Materie ausschließlich mit der Kompetenz des „Sehens“ konnotiert, während die „Falten der Seele“, die hinter der Schwelle eigene Innenräume bilden, stets in Verbindung mit „Lesen“ zu bringen sind, also mit einer Praktik der Textrezeption. Deleuze paraphrasiert nun Leibniz, der das Lesen als „die innere Tat Übersetzt von Artur Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen hg. von Ernst Cassirer. 3. Auflage. Hamburg 1966, 9. Kapitel, S. 144f. 89 Vgl. zu dem Versuch, „die Leibnizsche Monadologie in der Substanz als eine Poetologie zu lesen“, allerdings ohne auf den Roman als Gattung zu sprechen zu kommen: Erich Kleinschmidt: Faltungen. Monadische Konstruktivität und barocke Ausdruckskultur. In: arcadia 41 (2006), S. 2–13, hier S. 7. 90 Gottfried W. Leibniz: Monadologie, Kap. 3, § 57. Zitiert nach: Gottfried W. Leibniz: Monadologie. Übersetzt von Heinrich Köhler. Frankfurt, Leipzig 1996, S. 5–70. 91 Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Übersetzt von Ulrich J. Schneider. Frankfurt 1995, S. 61.
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in der privilegierten Region der Monade und zugleich als die Tat Gottes in der ganzen Monade selbst“ verstehe.92 Leibniz expliziert dies mit der Umschreibung von „relativ“ und „föderativ“ gleichgeordneten Verstehensinstanzen: §. 61. [...] Weil GOtt bei verfassung des ganzen Welt-Baues einen jeden Teil desselben und insonderheit eine jede Monade/ deren Natur repraesentativisch oder so beschaffen ist/ daß sie die Dinge in der Welt abzuschildern fähig ist/ in Betrachtung gezogen hat; so ist nichts vermögend/ die Monade dergestalt einzuschränken/ daß sie nur einen Teil von denen existierenden Dingen abschildern sollte; ob es gleich an dem ist/ daß diese Abschilderung in der Zergliederung des ganzen Welt-Gebäudes nur undeutlich oder verwirret und keineswegs deutlich oder distinct sein kann/ als nur in einem kleinen Teile derer Dinge/ das ist/ in denenjenigen/ welche in Absicht auf eine jedwede von denen Monaden entweder die nächsten/ oder die allergrößten sind; allermaßen sonst eine jede Monade eine Gottheit sein müßte. Daß die Monaden ihre gewisse Schranken haben/ solches kommet nicht von dem Objekt/ sondern von der Modification der Erkenntnis des Objekts her. Die Monaden streben alle auf eine undeutliche Art nach dem unendlichen/ sie sind aber nach den Graden der deutlichen Empfindungen oder Perzeptionen eingeschränket und von einander unterschieden.93
Deleuze greift hier gerne auf das Bild von Fassade und Innenraum zurück, letzterer etwa erscheint ihm als Gebetsraum, Bibliothek oder auch als camera obscura: bei dieser aber besteht ja durchaus ein direkter Kontakt nach draußen, der Lichtstrahl transportiert („Inflexion“) ja das Außen ins Innen und bildet es ab. Das Modell der camera obscura ließe sich somit emblematisch auf die Konstellation von Geschichte und Roman anwenden. Der Roman wäre dann für die Monade ein diesseits der fokussierenden Schwelle bzw. Lichteinfallsöffnung (die in ihrer funktionalen Selektion und Bündelung der Romanautor besetzen würde) entstehendes Abbild auf der Innenseite der ansonsten „fensterlosen“ Substanz. Der Romanautor stünde somit an privilegierter Stelle: er initiiert ja mit der Textgenese den Perzeptionsvorgang, der die welt-bildende Aktivität der Monade erst ermöglicht. Realpolitisch übersetzt hieße das: der Roman verschafft dem territorium clausum das nötige Anschauungsmaterial, er macht es in konfrontativer Entgegenstellung zum ‚Spiegel des Universums‘, zu einer ‚Welt für sich‘. Das Territorium kann seine eigene Position kognitiv erkennen und ggf. als Körper dann aktiv optimieren. Die Frühe Neuzeit böte emblematisch sogar noch das komplementäre Gegenstück, nämlich die reaktive Rückprojektion aus dem Innen in das Außen: Das mit Foedera betitelte Emblem des Andreas Alciatus (Paris 1542), dem Territorialfürsten Herzog Massimiliano Sforza gewidmet, zeigt als pictura eine Kammer, in deren Mitte sich eine Sitz- oder Liegegelegenheit befindet, auf der eine Laute zu sehen ist. Auffällig erscheinen die riesenhaften runden Öffnungen in der dicken Wand der ansonsten fensterlosen Kammer, sind diese doch funktional als klang-amplifizierende Schallöcher zu lesen. Hier zeigt sich im – ergänzenden – Gegensatz zur camera obscura und ihrem optischen Prinzip der Einfaltung nun also das akustische der ‚Ausfaltung‘, das von innen nach außen weisende der weltkonstituierenden Aussage bzw. Tat. Es geht um praktische Politik, foedera (=Bündnisse) sind durch-
92 Ebd., S. 55. 93 Gottfried W. Leibniz: Monadologie (Anm. 90), Kap. 3, § 61.
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dachte Handlungsvereinbarungen bzw. -vorgaben zwischen monadisch zu verstehenden Territorien. Politik funktioniert demnach wie die Lichtabbildung, nur eben umgekehrt, als der diplomatische Weg von einem in seiner Eigenart definitiv verborgenen Innenraum, den man sich als Kabinett, als das fürstliche arcanum mit territorialpolitischen Konzepten vorzustellen hätte, nach außen: durch den verstärkten raumgreifenden, vom Gestus her aber pazifizierenden Schall. Der Fürst zupft im rechten Maß, gemäß dem aptum, die Saiten, deren harmonischer Klang sich dann zur allgemeinen Wohlfahrt des Territoriums bzw. der einträchtigen Territorienvernetzung (Relationsbildung) ausbreiten soll. Demnach wäre auch die Politik des Souveräns als Produkt der Monade zu sehen, die dann als ordnende Wirkkraft in den Kosmos ausstrahlt. Es wäre die Seele des souveränen Fürsten und der Körper seines Territoriums, die das Universum im Sinne einer Universalharmonie der verschiedenen monadischen Entitäten befrieden könnten. Auch hierfür stünde der Roman, der aber vorher als lichtabbildliche Transformation, als perzeptive Einschreibung der Wirklichkeit in die Seele des Regenten, eben als „Adels=Schul“ (Birken) zu wirken hätte. Mit dem höchst anspruchsvollen, auf Heliodor aufruhenden, poetologisch aber durch die Kompetenzen verschiedener Stände und Disziplinen raffiniert verfeinerten Romankonzept erwächst dann eine ungekannt produktive Verbindung von historischer Realität und poetischer Gattung. Mit dem ‚höfisch-historischen‘ Konstrukt bietet sich ein Medium, das sich aufgrund der vielen möglichen ‚Einfaltungen‘ des ‚Weltgebäudes‘ durchaus zu einem wirkungsvollen Instrument der Weltreflexion bzw. auch -‚manipulation‘ hätte entwickeln können. Dazu aber sollte es nicht mehr kommen: die Gottschedsche ‚Schwulstkritik‘ würde dann im Namen der ‚Aufklärung‘ das von Philologen, Juristen und Theologen gemeinsam entwickelte Modell mit einem Handstreich beseitigen. Wo die Antike in Form ihrer kollektivierenden Sprache, ja in Form ihrer normativen Gattungsvorgaben zugunsten eines modernen Erkenntnisinstruments mit vitalen pluralistischen Wirkungsoptionen gerade überwunden schien, opponiert nun der dogmatische Klassizist gegen die ‚Lohensteinische Schreibart‘ und erneuert das strenge Gebot einer zu imitierenden antiken (rsp. französischen) Norm. Ein vor preußischer Zwangsverwaltung geflohener Purist entwertet das gemeinschaftlich bereits Erreichte mit der Verpflichtung auf das starre Ideal der nationalen Gleichschaltung. Das defizitäre Bewusstsein gegenüber dem zentralistischen Frankreich und dessen klassisch-antiker Rückbindung sollte dann die kulturpolitische Tilgung aller dezentralen Originalitäten bewirken, die sich ja gerade auch im politischen Bereich durchaus hätten Beachtung verschaffen können. Der poetisch übersetzte Pluralismus nach dem Leibnizschen Modell der harmonia mundi, der den sprachgetragenen mittelalterlichen Universalismus zu überwinden sich anschickte, war damit verspielt. Immerhin hatte es kurz vor der bald neuerlich einsetzenden Machtkonzentration im ‚preußischen‘ 18. Jahrhundert noch die erkennbare Chance für einen gelehrten, politisch engagierten Föderalismus im deutschen Sprachraum gegeben.
HELIODOR-REZEPTION IM DEUTSCHEN DRAMA DES 17. JAHRHUNDERTS DER GATTUNGSTRANSFER DER AITHIOPICA DURCH CASPAR BRÜLOW UND JOHANN JOSEPH BECKH Regina Toepfer Heliodors umfangreicher Roman weist trotz seiner narrativen Komplexität eine gewisse Affinität zu einem Bühnengeschehen auf. An mehreren Stellen der Aithiopica benutzt der antike Autor Theatervokabular und macht so auf die Nähe von epischer und dramatischer Handlung aufmerksam. Den Beginn des Romans schildert er aus der Perspektive eines Zuschauers, der sich über die seltsame Kulisse eines mit bewaffneten Toten und reichen Requisiten übersäten Schlachtfeldes wundert. Plötzliche Wendungen und Schicksalsschläge deutet Heliodor als Eingriffe eines deus ex machina und vergleicht die Geschichte der treuen Liebenden, Chariklea und Theagenes, wiederholt mit einem Theaterspiel. Auf diese Weise werden der Inszenierungscharakter und die implizite Theatralität des Romans offen gelegt, wobei die umfangreichen Redepartien auch in formaler Hinsicht an ein Drama anschlussfähig erscheinen.1 Die Autoren des 17. Jahrhunderts könnten sich also auf Heliodor selbst berufen, um ihre Dramatisierung der Aithiopica zu legitimieren, wäre eine solche Bearbeitung antiker Stoffe nicht längst gängige Praxis.2 Durch die humanistische Antikenrezeption wurden nicht nur vergessene Werke wiederentdeckt, sondern wurde auch die antike Gattung des Dramas neubelebt. Entscheidende Voraussetzung für die literarische Rezeption der Aithiopica bildeten die humanistischen Editionen, Kommentare und Übersetzungen des hellenistischen Romans, die seit der Mitte des 16.
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Zu dem theatralen Potential und dramatischen Einflüssen bei Heliodor vgl. Sylwester Dworacki: The Aethiopica of Heliodorus against the background of literary tradition. In: Studies in ancient literary theory and criticism. Hg. von Jerzy Styka. Kraków 2000 (Classica Cracoviensia 5), S. 121–129; ders.: Theatre and drama in Heliodorus’ Aethiopica. In: Eos 84 (1996), S. 355– 361; Thomas Paulsen: Inszenierung des Schicksals. Tragödie und Komödie im Roman des Heliodor. Trier 1992 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 10). Zur Dramatisierung antiker Sujets im 16. Jahrhundert vgl. z.B. Wilhelm Abele: Die antiken Quellen des Hans Sachs. Cannstatt 1897–1899.
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Jahrhunderts publiziert worden waren.3 Zudem folgten die Dramatiker den poetischen Leitlinien, die Horaz und Aristoteles formuliert hatten,4 und suchten die griechischen und römischen Autoren zu imitieren oder gar zu überbieten.5 Bei der dramatischen Heliodor-Rezeption konvergierten inhaltliche und formale Interessen an der antiken Literatur, was zu einer produktiven Auseinandersetzung führte. Der Gattungstransfer der Aithiopica beschränkte sich daher nicht auf eine Überführung der epischen Erzählung in dramatische Handlung, vielmehr waren starke Eingriffe in die Handlungskonzeption erforderlich, um die verschachtelte Erzählung bühnenkonform zu gestalten. Die Problematik einer angemessenen Übertragung, mit der sich alle Übersetzer antiker Literatur beschäftigen mussten, stellte sich bei den Dramatikern in einer verschärften Weise. Sie mussten die spezifische Rezeptionssituation ihres Zielpublikums, den theatralen Kontext, stets im Blick behalten. Wie die frühneuzeitlichen Autoren diese Herausforderung meisterten und Chariklea und Theagenes in zeitgenössische Bühnenfiguren verwandelten, soll an den deutschsprachigen Dramen von Caspar Brülow (1614) und Johann Joseph Beckh (1666) untersucht werden. Brülow und Beckh waren nicht die einzigen Autoren, die Heliodors Roman im 17. Jahrhundert dramatisierten. Viermal wurden die Aithiopica im deutschen Sprachraum für die Bühne adaptiert, wobei drei Stücke innerhalb weniger Jahre entstanden.6 Der Altdorfer Lehrer Wolfgang Waldung publizierte 1605 in Nürnberg seinen Aethiopicus Amor castus, dem drei Jahre später in Frankfurt/Oder die Tragicocomoedia Nova, Ex Historia Aethiopica Heliodori des protestantischen Pfarrers Johannes Scholvin folgte. 1614 erschien Caspar Brülows Chariclia bei Anton Bertram in Straßburg, wo das Stück im Juli desselben Jahres am Akademietheater aufgeführt worden war.7 Wie die beiden früheren Heliodor-Dramen ist das Spiel in 3
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Nach der griechischen Erstausgabe von Heliodors Roman im Jahr 1543 erschienen 1552 eine lateinische und schon 1559 eine deutschsprachige Übersetzung. Vgl. Heliodor: ΑΙΘΙΟΠΙΚΗΣ ༁ΣΤΟΡΙΑΣ ΒΙΒΛΙΑ ∆ΕΚΑ. Basel: Johannes Herwagen d.Ä., 1534 (VD16 H 1673); Heliodor: Aethiopicae Historiae libri decem […]. Übers. von Stanislaw Warschewiczki. Basel: Johann Oporinus, 1552 (VD16 H 1675); Heliodor: Aethiopica Historia. Übers. von Johannes Zschorn. Straßburg: Paul Messerschmidt, 1559 (VD 16 H 1677). Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982; Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 2008. Zum ambitionierten Anspruch eines frühneuzeitlichen Dramatikers, die antiken Tragiker zu übertreffen, vgl. Regina Toepfer: „Feci novum!“ Zur Poetik von Thomas Naogeorgs HamanusTragödie und ihrer deutschen Übersetzung von Johannes Chryseus. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. von Jan-Dirk Müller u.a. Berlin, New York 2011 (Pluralisierung & Autorität 27), S. 449–485. Einen Überblick über die dramatischen Bearbeitungen bietet Michael Hanstein: Caspar Brülow (1585–1627) und das Straßburger Akademietheater. Lutherische Konfessionalisierung und zeitgenössische Dramatik im akademischen und reichsstädtischen Umfeld. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 185), S. 270f. Vgl. Caspar Brülow: Chariclia Tragico-Comoedia, Fortunæ Inconstantiam: Varias Easque Mirabiles Vitæ Humanæ imagines […]. Straßburg: Anton Bertram, 1614. – Zum Straßburger Akademietheater vgl. Adolf Schmidt: Zur Geschichte der Straßburger Schulkomödie. In: Euphorion 5 (1898), S. 48–58; Günter Skopnik: Das Straßburger Schultheater. Sein Spielplan und
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lateinischer Sprache verfasst, doch wurde es von einem Anonymus zeitnah ins Deutsche übertragen,8 um dem Straßburger Publikum ein besseres Verständnis der Theateraufführung zu ermöglichen. Paratexte und Ausstattung lassen darauf schließen, dass die deutsche und die lateinische Version für den gemeinsamen Vertrieb bestimmt waren.9 In einem zeitlichen Abstand von einem halben Jahrhundert folgte 1666 in Dresden noch eine weitere Dramatisierung, die erstmals in der Volkssprache konzipiert wurde: die Erneuerte Chariclia Comoedi von Johann Joseph Beckh. Ob dieses Stück ebenfalls aufgeführt wurde, ist nicht bekannt. Beckh selbst erklärt, dass er sein Drama zwar nicht zu diesem Zweck geschrieben habe, doch grundsätzlich mit einer Inszenierung einverstanden wäre. Sowohl die schriftliche Konzeption als auch die performative Darbietung hält Beckh für eine Herausforderung. Heliodors Histori betrachtet er als „eine von den vornehmsten und schweresten in eine Comœdi zu bringen“, deren Aufführung eine besondere Schauspielkunst erfordere.10
seine Bühne. Gelnhausen 1934; Martin Sommerfeld: Das Straßburger Akademietheater und die Wende von der Renaissance zum Barock. In: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 12 (1933), S. 109– 134. – Das Drama wurde 1644 in Stettin anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Stettiner Pädagogiums noch einmal inszeniert, vgl. Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 271f. 8 Vgl. Caspar Brülow: Chariclia. Eine sch=ne lehrhaffte Tragico-Comoedia/ […]. Straßburg: Anton Bertram, 1614 (VD17 23:277888W). – Zu den Übersetzungen der Straßburger Schuldramen vgl. Günter Skopnik: Das Strassburger Akademietheater und seine Übersetzungen lateinischer Dramen im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Elsass-Lothringischen Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Straßburg 9 (1936), S. 68−86. – Skopniks Urteil über die deutschen Versionen fällt ambivalent aus. Einerseits betont er, die enge Anlehnung an den lateinischen Ausgangstext, andererseits meint er, überall „eine Verengung und Verdumpfung des Lutherdeutschs“ (S. 84) wahrzunehmen. Die Übersetzungen erhöben nicht den Anspruch, „losgelöst von dem Urbild künstlerisch gewertet zu werden.“ (S. 77) Obwohl Skopnik das „Absinken in prosaische Formlosigkeit“ bedauert, weist er auch auf das große Entwicklungspotential der deutschen Sprache gegenüber „dem toten Latein“ (S. 84) hin. Den deutschen Übertragungen misst er zudem eine besondere Bedeutung für die Aufführungen bei und vermutet, dass der lateinische Text auf der Grundlage der deutschen Übersetzung bearbeitet worden sei, damit der geschriebene deutsche und der gesprochene lateinische Text im Umfang nicht allzu stark voneinander abwichen (vgl. S. 82). – Ein detaillierter Vergleich zwischen Brülows lateinischer Chariclia und deren deutscher Übersetzung wäre lohnend, kann in diesem Beitrag jedoch nicht geleistet werden. 9 In der deutschen Ausgabe, die wie die lateinische im Oktavformat gedruckt ist, fehlen ein einleitendes Vorwort und andere erschließende Angaben. Beide Drucke bieten zu Beginn eine knappe Charakterisierung der 43 auftretenden Personen, ihrer Geschichte und der jeweiligen Beziehungskonstellation. 10 Vgl. Johann J. Beckh: Erneuerte Chariclia […]. Dresden: Christian Bergen, 1666 (VD17 3:006393F), Sign. )(5r–v.
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DIE GESTALTUNGSPRINZIPIEN IN CASPAR BRÜLOWS CHARICLIA Der Name Caspar Brülows (1585–1627) ist eng mit der Straßburger Akademie und ihrem Theater verbunden. In seiner 2013 erschienenen Dissertation beschreibt Michael Hanstein Brülows Biographie als „Karriere eines Aufsteigers: Vom pommerschen Pfarrersohn zum Straßburger Universitätsprofessor und Meistersänger“.11 Bekannt geworden ist Brülow durch seine sechs – meist in einjährigem Abstand für eine Schulaufführung verfassten – Dramen: Andromede (1612), Elias (1613), Chariclia (1614), Nebucadnezar (1615), Julius Caesar (1616) und Mose (1621).12 Außerdem verfasste er Hexameter-Gedichte (Luther, 1617; Jonas, 1627) und zahlreiche Kasualgedichte. 1616 wurde Brülow zum poeta laureatus gekrönt. In dem allgemeinen Vorwort zur lateinischen Chariclia legt Brülow seine poetischen Grundsätze offen und setzt sich mit dem Problem des Gattungstransfers auseinander. Er thematisiert, dass Heliodor wegen seiner kunstvollen Erzähltechnik geschätzt wird, und zitiert die Würdigungen von Julius Scaliger und Martin Crusius.13 Als Dramatiker könne er die narrative Anlage jedoch nicht imitieren, ohne in einen Konflikt mit der Poetik des Aristoteles zu geraten. In Heliodors Roman erstrecke sich das Geschehen über mehrere Jahre und verschiedene Länder, wohingegen sich ein Drama nach Aristoteles auf einen Tag und einen Ort konzentrieren solle.14 Die Möglichkeit, die Einheit von Ort und Zeit durch Botenberichte zu wahren, lehnt Brülow aus dramaturgischen Gesichtspunkten ab. Im Theater wolle man nicht nur zuhören, sondern zuschauen. Um sowohl den antiken Gattungsnormen als auch den zeitgenössischen Publikumserwartungen zu genügen,
11 Vgl. Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 51. – Zur Biographie vgl. auch Willi Flemming: Brülow, Kaspar. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. II. Leipzig 1955, S. 664; Wilhelm Scherer: Brülow, Kasper. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. III. München, Leipzig 1876, S. 420f.; Michael Hanstein: Caspar Brülow. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon (VL 16). Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. I. Berlin, Boston 2011, Sp. 354–364; Wilhelm Kühlmann: Brülow, Caspar. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Begr. von Walther Killy. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. II. 2. vollst. überarb. Auflage. Berlin 2008, S. 227f. – Zur aktuellen Bibliographie vgl. Peter Andersen, Barbara Lafond: Brülow-Portal. http://brulow.unistra.fr/ (letzter Zugriff: 23.03.2015). 12 Zu Brülows Dramen vgl. Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 121–552; Barbara Lafond: Die religiöse Polemik im Moses von Caspar Brülow. In: Daphnis 9 (1980), S. 711–718; Hildegard Schaefer: Höfische Spuren im protestantischen Schuldrama um 1600. Caspar Brülow, ein pommerscher Gelehrter in Straßburg. Oelde i.W. 1935; Jean-Marie Valentin: Humanisme chrétien et baroquisation de la scène à Strasbourg (1581–1626). Caspar Brülow, le théâtre et la ville. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Hg. von Christine Caemmerer u.a. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 175–189. 13 Vgl. Brülow: Chariclia Tragico-Comoedia (Anm. 7), A6v–A7r. Vgl. auch Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 272f. 14 Zur Interpretation der Poetik in den Kommentaren des 16. Jahrhunderts, in denen die Einheit der Handlung quantitativ verstanden wird, vgl. Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin, New York 2006 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 83), bes. S. 196–199.
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unterscheidet Brülow zwischen Haupt- und Nebenhandlung. Während die Haupthandlung an einem Ort spiele und innerhalb eines Tages abgeschlossen werde, sei die Nebenhandlung nicht daran gebunden; die Episodien schüttelten das Joch jener alten Gesetze ab.15 Seine Chariclia bezeichnet Brülow als dramatische Mischgattung, als TragicoComoedia, was den zeitgenössischen Gattungskriterien entspricht.16 Nach Auffassung sowohl von Hans Sachs als auch von Martin Opitz entscheiden Inhalt und Ausgang über die Subgattung des Dramas: Kriege, Leid und Unglück würden in einer Tragödie, freudige Ereignisse und Glücksfälle in einer Komödie behandelt.17 Da die Chariclia viele leidvolle Passagen enthält, aber zuletzt ein gutes Ende findet, erscheint die Bezeichnung Tragico-Comoedia angemessen.18 Zudem ist ihr Personal gemischt zusammengesetzt: Neben dem für die Tragödie typischen hohen Personal, der Prinzessin, dem Fürsten und dem Königspaar, treten Personen niederen Standes auf: zahlreiche Räuber, einige Bedienstete und – bei Brülow ergänzend zu Heliodor – auch ein Hirt nebst seinem Knecht.19 Durch die Integration von komischen Elementen, seien es Prügelszenen in der bäuerlichen Welt oder bei den Räubern, setzt Brülow ein neulateinisches Dramenkonzept um, das Thomas Naogeorg 15 Vgl. Brülow: Chariclia Tragico-Comoedia (Anm. 7), A5v: „Cum actiones theatrales […] intra unam Solis Periodum, et unius loci spatium, teste Arist. lib. περ༁ τ༁ς ποιητικ༁ς, c. 5 absolui: […] ego […], quae hac in Historia aliorum à Catastrophe sunt dierum ac locorum, ad Episodia retuli […]: primùm quidem, veterum (quoad fieri posset) legibus, easdemque intelligentibus ut satisfacerem: deinde et ad nostri theatri me accommodarem spectatores, qui nihil ferè amplius nudè referri et narrari, sed exhiberi volunt omnia. […] episodijs interea legum illarum jugum excutientibus.“ – Zur Auffassung der Aristoteles-Kommentatoren in der Frühen Neuzeit, die Haupthandlung liefere nur das Grundgerüst, wohingegen die eigentliche Aufgabe des Dichters in der Ausgestaltung der Episoden bestehe, vgl. Kappl: Die Poetik des Aristoteles (Anm. 14), S. 199. – Nach Skopniks (Das Straßburger Schultheater [Anm. 7], S. 31) Ansicht ist Brülows „dramaturgische Organisation nicht mehr […] als ein plumper Taschenspielertrick, der den Leser über die inneren Schwächen des Dramas hinwegtäuschen soll“. 16 Vgl. Brülow: Chariclia Tragico-Comoedia (Anm. 7), A1r. – Zur frühneuzeitlichen Terminologie vgl. Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 14), S. 35–41. 17 Vgl. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bearb. von Matthias Lexer, Dietrich Kralik u. d. Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1935. Bd. XI, Abt. 1, Teil 1. München 1984, Sp. 1155 („Hans Saxe schreibet, wenn ein spiel traurig ausgehet, so ist es eine tragödie“); Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 30, Z. 5–11. – Zur frühneuzeitlichen Tragödienkonzeption vgl. auch Regina Toepfer: Biblische Tragödie. Die Enthauptung Johannes des Täufers in den Dramen Johannes Aals, Hans Sachs’ und Simon Gerengels. In: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos. Hg. von Manfred Eikelmann, Udo Friedrich. Berlin 2013, S. 161–184. 18 Die Definition einer Komödie wird innerhalb des Dramas zitiert, als Theagenes beim Wiedersehen seiner Geliebten in Memphis erklärt: „Dann dieser traurige Anfang// Bekompt ein fr=hlichen Außgang.“ (IV.2, J3v). Diese Interpretation ist freilich verfrüht, da dem Paar noch weitere Leiden bevorstehen. 19 Zum Stand als Gattungskriterium vgl. David E. R. George: Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. München 1972, S. 21f., 24f., 27–29.
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Mitte des 16. Jahrhunderts zum Ideal erhoben hat: Komische und tragische Elemente sollten gemischt werden, um das Publikum besser beeinflussen zu können. Der homogene Stil des antiken Dramas sei nicht mehr zeitgemäß, da durch einen Wechsel von Affekten größere Aufmerksamkeit erzeugt werde.20 Dass sich Brülow an den Bedürfnissen der Rezipienten orientiert, belegt sein lateinisches Vorwort; die antiken Gattungsnormen will er nur pro forma erfüllen, um sein Publikum nicht zu langweilen. Brülow stellt Heliodors Romanhandlung in seinem fünfaktigen Drama um und beginnt mit einem Monolog der äthiopischen Königin Persina.21 Sie bedauert, dass sie ihre neugeborene Tochter wegen ihrer weißen Hautfarbe vor vielen Jahren ausgesetzt hat, und wünscht sich nichts sehnlicher als deren Wohlergehen und Rückkehr. Jhr hoch geehrte G=tter mein! Durch ewer gantz gezirck ich bitt/ Jhr wollet doch zugeben nit/ Das meinem T=chterlein zur zeit Zu handen stoß Sorg/ angst noch Leyd Vnd wo sie anders noch im leben/ Wolt jhr es mir bald widergeben. (I.1, B4r)
Persinas Klage um die verlorene Tochter, die sie während der Abwesenheit ihres Mannes besonders vermisst, bildet das Leitmotiv des Dramas. Im zweiten Akt diskutieren die äthiopischen Räte, warum König Hydaspes gegen die Perser Krieg führen muss. Im dritten Akt spricht Persina mit ihrer Zofe über das große Unglück, das Kinderlosigkeit für Könige bedeutet. Im vierten Akt kehrt Hydaspes mit Kriegsgefangenen zu seiner Frau zurück, dankt den Göttern für den militärischen Erfolg und stimmt in die Unfruchtbarkeitsklage seiner Frau ein. Im fünften Akt erfährt das Königspaar, dass es sich bei den Gefangenen um seine leibliche Tochter und deren Bräutigam handelt.22 Persina, die sich schon beim ersten Anblick zu Chariclia hingezogen fühlte, kann die Identität ihrer Tochter belegen.23 Das im ersten Akt aufgeworfene Problem der Kinderlosigkeit ist gelöst, nachdem Chariclia und Theagenes als Erben eingesetzt wurden. Brülows Drama ist jedoch weit komplexer gestaltet, als nur die Anagnorisis von Eltern und Tochter zu darzustellen. Die Haupthandlung wird durch zahlreiche 20 Zu Naogeorgs Poetik vgl. Toepfer: „Feci novum!“ (Anm. 5), S. 453f. 21 Durch ihre Beschreibung des Sonnenstandes wird Heliodors Romanbeginn eingangs zitiert (I.1, B1r). 22 Ein Zugeständnis an die zeitgenössischen Moralvorstellungen stellt Brülows Umgang mit dem Keuschheitsmotiv dar. Im Fall einer verlorenen Jungfräulichkeit blieben die Gefangenen nicht von der Tötung verschont, sondern würden einer anderen Gottheit, nämlich Bacchus, geopfert werden (V, L7v). Die Keuschheit soll den Helden also nicht zum Nachteil gereichen. 23 Chariclias Abstammung wird nicht nur durch die Aussage eines Zeugen und ein Schriftband sowie einen Ring bestätigt, die ihr bei der Aussetzung mitgegeben wurden, sondern die Mutter erkennt ihre Tochter auch an einem schwarzen Hautfleck, der ihr allein bekannt ist (V, M3r). Damit ist die Beweisführung in Brülows Drama überzeugender motiviert als in der antiken Vorlage.
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Szenen unterbrochen, die die Ereignisse seit Chariclias Aussetzung in chronologischer Folge abbilden und sich immer stärker der dargestellten Gegenwart annähern. Während in Heliodors Roman die Vorgeschichte der schönen Jungfrau erst spät enthüllt wird, können die Rezipienten des Dramas ihren Weg von Anfang an verfolgen. Im ersten Akt werden in drei Episodien Chariclias Kindheit und Jugend dargestellt. Die komische Eingangsszene zeigt den ersten Pflegevater des Mädchens, den Hirten Mithridates, der sich mit seinem Knecht streitet und diesen für seine Nachlässigkeit verprügelt. In der zweiten Szene versorgt das Mädchen emsig seine Tiere und vertraut diese beim Abschied dem Hirten an. In der dritten Szene wird Chariclia ihrem griechischen Pflegevater Charicles übergeben und erhält von diesem ihren Namen. Die Episodien des zweiten Aktes erzählen von der Flucht aus Griechenland, zu der Calasiris Chariclia mit der Erzählung ihrer Geburtsgeschichte veranlasst. Nicht die Liebe zu Theagenes, sondern die Sehnsucht nach ihren Eltern treibt Chariclia zum Aufbruch, bei dem ihr Geliebter sie begleitet.24 Die Abenteuer auf der Reise werden auf die wichtigsten Elemente reduziert und auf der Bühne dargestellt: Die Reisenden werden von Seeräubern überfallen, die sich aufgrund ihres Begehrens nach der schönen jungen Frau gegenseitig töten. Am Ende des zweiten Aktes fallen Chariclia und Theagenes den Räubern um Thyamis in die Hände, der zu den zentralen Figuren in Heliodors Romaneingang gehört. Die Episodien des dritten Aktes stellen den Aufenthalt des Paares in der Räuberwelt dar. Sie begegnen dem Griechen Cnemon, der seinen antiken Vorgänger an Tapferkeit und Gelassenheit weit übertrifft, und werden Zeugen von Thisbes Tod. Wie im Roman trennen sich Chariclias und Theagenes’ Wege zeitweilig, doch erhält die junge Frau schnell neuen Beistand durch ihren väterlichen Beschützer Calasiris. In den zehn Episodien des vierten Aktes werden die Liebenden wieder vereint. Calasiris stirbt und Theagenes muss sich gegen das Begehren der Herrscherin von Memphis zur Wehr setzen. Detailliert und an den Dialogen der antiken Vorlage orientiert, beschreibt Brülow, wie Arsace immer stärker aus der Bahn geworfen wird, Theagenes unter Druck setzt und seine Braut auf den Scheiterhaufen bringt. Als die Liebenden schließlich im Auftrag von Arsaces Mann befreit und unmittelbar darauf von Äthiopiern gefangen gesetzt werden, begeht die Herrscherin Selbstmord. Der vierte Akt schließt mit der Ankunft der Gefangenen und des äthiopischen Königs bei Persina; dramatische Vergangenheit und Gegenwart fallen zusammen, weshalb im fünften Akt keine Episodien mehr eingebaut werden.25
24 Brülow sorgt dafür, dass der nach seiner Pflegetochter suchende Charicles nicht ganz aus dem Blick gerät (III.4, G2v–G3r), um die Handlungsfäden am Ende besser zusammenführen zu können. Diese Darstellung von parallelen Handlungsaktionen erinnert an die spätmittelalterliche Simultanbühne und wäre im Straßburger Akademietheater durch die Ober- und Hinterbühne gut umsetzbar. – Zu den Bühnenverhältnissen vgl. Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 36. 25 Am Ende betreten alle Vaterfiguren aus Chariclias Kindheit und Jugend noch einmal die Bühne. Der Auftritt von Charicles ist schon bei Heliodor vorgezeichnet und notwendig, um die edle Abstammung von Theagenes zu enthüllen. Brülow lässt auch den Hirten Mithrantes am
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Zusätzlich zur menschlichen Haupt- und Nebenhandlung integriert Brülow eine göttliche Parallelhandlung. Er lässt Venus, Cupido und Diana interagieren und kann mit ihrer Hilfe positive wie negative Handlungsweisen kommentieren. Im ersten Akt wollen Venus und Cupido die Menschen verführen und zur rasenden Liebe entflammen, wovor ein fleißiges Studium am besten schützt, wie die Liebesgöttin selbst bekennt, vor ihrer eigenen Macht warnt und Diana als Vorbild empfiehlt: Darumb wer der Lieb Grimm vnd Brand/ Entfliehen will in seinem Leben Der thu sich den KFnsten ergeben. Studier fleissig/ ernstlich arbeit/ Wie die Diana allezeit. (I.4, C5v)
Im zweiten Akt gelingt es Chariclias Schutzgöttin Diana, die Liebesgötter in die Flucht zu treiben.26 Am Ende des fünften Aktes tritt Diana noch einmal auf, preist die weibliche Hauptfigur für ihre Tugend und krönt sie mit dem Ehrenkränzlein. Brülow übernimmt nicht nur den Stoff der Aithiopica, sondern lässt sich auch in struktureller Hinsicht von Heliodors Erzählweise anregen, indem er verschiedene Zeitebenen auf der Bühne darstellt. Gleichzeitig berücksichtigt er die Gattungsanforderungen und den theatralen Rezeptionskontext; die komplizierte Romanhandlung wird auf zwei Haupterzählstränge reduziert, die jeweils dem ordo naturalis folgen, aber durch ihre Verschachtelung den ordo artificialis der antiken Vorlage imitieren.27 Dabei hütet sich Brülow davor, die Dramenhandlung durch die Integration der Geschichten sämtlicher Nebenfiguren zu kompliziert werden zu lassen.28 Markiert wird das Ende eines Aktes meist durch ein Chorlied, das in die Handlung eingebunden ist und unterschiedlichen Sprechinstanzen zugeordnet wird.29 Der erste Akt endet mit einem Lied des Volks von Delphi, das seiner Priesterin ein Opfer für Apollon bringt. Am Ende des zweiten Aktes lobt der Chor den Kriegsgott Mercur und bittet ihn um Kriegserfolg für König Hydaspes. Am Ende des dritten Aktes kommentiert der Chor das Geschehen, indem er die Wankelmütigkeit des Glücks thematisiert und das Leid beklagt, das Chariclia fern von ihrem Geliebten erduldet. Nur im vierten Akt weicht Brülow von der üblichen Systematik ab; das Chorlied grenzt nicht zwei Akte voneinander ab, sondern gehört als Leichengesang zum Trauerritual für Calasiris (IV.4, I6v–I7r). Das letzte Lied wird von Diana vorgetragen, die das Drama mit Chariclias Tugendkrönung symbolträchtig beschließt.
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Hof erscheinen, der für die Erziehung des Mädchens mit einem feisten Schwein, dem königlichen Mantel und einer goldenen Kette belohnt wird. Als er über die unpassende Kleidung in schallendes Gelächter ausbricht, löst sich die gesamte Spannung (V, M7r). Die Götterhandlung dient auch dazu, Komik zu erzeugen. Cupido fürchtet sich vor Diana, die ihn als „boßhafftes Leckerlein, rechtes Zwergle klein“ und „vnbestendge[n] Wetter han“ beschimpft und ihm Schläge auf sein Hinterteil androht (II.5, D6v). Zu den Strukturanalysen der Aithiopica von Crusius und Commelinus, auf die Brülow zurückgreifen kann, vgl. Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 280f. Zur Konzentration als Bearbeitungsprinzip vgl. ebd., S. 277f. Zu den Chorliedern vgl. ebd., S. 304f.
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Auch in inhaltlich-interpretatorischer Hinsicht setzt Brülow eigene Akzente, wobei er an typische Tendenzen der frühneuzeitlichen Heliodor-Rezeption anschließt und diese literarisch ausgestaltet. Schon in der griechischen Erstausgabe, der lateinischen und der deutschen Übersetzung der Aithiopica wird das Verhalten der antiken Hauptfiguren als vorbildlich gewertet. Die frühneuzeitlichen Leser sollen das Werk nicht nur zur Unterhaltung lesen, sondern lernen, dass tugendhaftes Verhalten belohnt und lasterhafte Menschen bestraft werden. Diese Auffassung wird in Brülows deutschem Drama ebenfalls vertreten und die moralische Essenz mittels der beliebten Spiegelmetapher bereits auf dem Titelblatt hervorgehoben. Die Chariclia wird sowohl als eine „sch=ne“ als auch eine „lehrhaffte TragicoComoedia“ beschrieben, darinnen deß GlFcks vnbest(ndigkeit/ vnd mancherley seltzame Zuf(ll Menschlichen Lebens/ wie auch die Belohnung der Gottes Forcht vnd reiner Keuscher Lieb: Jm gegentheil die ernste straff der Vnzucht/ gleichsam in einem Spiegel kl(rlich vorgebildet wirdt. (A1r)
Während Johannes Zschorn die Aithiopica in seiner volkssprachigen Übersetzung vor allem durch Randglossen in ein moralisches Lehrbuch verwandelt,30 sorgt Brülow für eine weitgehende Übereinstimmung von moralisatio und actio. Seine Hauptfiguren orientieren sich am zeitgenössischen Moralkodex und vermitteln durch Wort und Tat zentrale Verhaltenslehren.31 So schreibt der äthiopische Priester Sisimithres Chariclias überragender Schönheit nur eine untergeordnete Bedeutung zu und meint, ihr Aussehen sei wertlos, sofern sie sich nicht tugendhaft verhalte. Der Priester formuliert eine Handlungsmaxime, der die frühneuhochdeutsche Chariclia perfekt entspricht: „Fromb sein/ vnd arbeyten mit Fleiß/ Das ist deß Lebens beste speis.“ (I.2, B6r) Den bürgerlichen Moralvorstellungen des 16. Jahrhunderts entspricht die im Drama entworfene Gesellschaftsordnung. Ausdrücklich wird die junge Chariclia zum Gehorsam gegenüber ihrem Pflegevater Charicles gemahnt. Durch Analogiebildung wird das Verhältnis zu den Eltern religiös aufgeladen und mit dem Verhalten gegenüber Gott gleichgestellt: Wer seine Eltern ehrt mit fleiß/ Den ehrt vnd liebt Gott gleicher weiß. Vnd wer dieselben hilfft ernehren/ Dem thut er auch viel guts bescheren. Wo man aber auß argem Muth Den Eltern widerstreben thut/
30 Röcke betont, dass Zschorns enger Moralismus dem Romangeschehen fremd bleibe und das Handeln der Protagonisten seine Didaxe teils konterkariere. Vgl. Werner Röcke: Antike Poesie und newe Zeit. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der frühen Neuzeit. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien, Berichtsbände XIV), S. 337–354, hier S. 344f. 31 Zur Didaktisierung als Bearbeitungsprinzip vgl. auch Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 277.
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Regina Toepfer Da ergrimmet sein Zorn mit Brand/ Vnd laßt sie falln in Spott vnd Schand. (I.3, C3v)
In Brülows Chariclia wird die Eltern-Kind-Beziehung so stark aufgewertet, dass sie in eine Konkurrenz zur Liebesbeziehung gerät. Während Chariclias Flucht im antiken Roman durch ihre Liebe zu Theagenes motiviert ist, verzichtet der frühneuzeitliche Dramatiker auf alle Aussagen, in denen Chariclia gegen ihren Pflegevater aufbegehrt. Seine Hauptfigur bindet sogar ihre Liebeszusage an das Einverständnis der Eltern: Niemals werde sie einen anderen Mann als Theagenes heiraten, „Es sey dann (welchs ich nit meyn/) / Daß mein Eltern darwider sein /“ (II.3, D1v). Dieser unbedingte Gehorsam erklärt Chariclias Schweigen im fünften Akt. Anders als ihre antike Vorgängerin hat die frühneuhochdeutsche Prinzessin zwar keine Hemmungen, Theagenes ihren Eltern als ihren Bräutigam vorzustellen. Doch als der König nichts davon hören und sie mit einem ebenbürtigen Mann verheiraten will, widerspricht Chariclia nicht. Kritiklos respektiert sie den Wunsch ihrer Eltern, statt die Intensität ihrer Liebe zu beteuern. Diese Neugestaltung der Liebesbeziehung entspricht der zeitgenössischen Heiratspraxis und der lutherischen Ehelehre, dass die Eltern über das Leben ihrer Kinder zu entscheiden haben.32 Auch in anderer Hinsicht orientiert sich Brülow an gesellschaftlichen und religiösen Grundüberzeugungen der Frühen Neuzeit. Bei Heliodor zeigt sich die Intensität der Gefühle in der Bereitschaft der Protagonisten, für ihre Liebe zu sterben. Brülow behält ihren Selbstmordwunsch zwar bei, verurteilt ihn aber als gottlos. Theagenes tadelt seine Geliebte, dass sie mit ihren Worten Gottes Zorn errege, statt diesen durch ihr Flehen gnädig zu stimmen (III.1, F3r); niemand dürfe sich selbst töten (II.9, E7r).33 Wiederholt wird das Unglück des Paares religiös interpretiert. So argumentiert Cnemon wie ein protestantischer Prediger und fordert Chariclia auf, geduldig das Kreuz anzunehmen, das ihr von Gott auferlegt sei (III.1, F3v). Seine eigene Lebensgeschichte dient ihm als Exempel, dass man sich in sein Schicksal fügen und darauf vertrauen solle, dass Gott Freveltaten rächen werde. Immer wieder mahnen die männlichen Begleiter Chariclia zu Geduld und Gottvertrauen (vgl. z.B. III.6, G8r; IV.1, H8v). Gott werde ihr Gebet erhören und sie auf den rechten Weg führen.34 32 Fehlt das Einverständnis der Eltern, kann eine Ehe durch das städtische Ehegericht für nichtig erklärt werden. Vgl. Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn u.a. 1999, bes. S. 107–131; Lyndal Roper: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Aus dem Englischen von Wolfgang Kaiser. Frankfurt, New York 1999 (Geschichte und Geschlechter, Sonderbd.), S. 135–140. – Hanstein (Caspar Brülow [Anm. 6], S. 316) erkennt in Chariclias Kindheit ebenfalls Anspielungen auf die lutherische Soziallehre. 33 Allerdings gerät Theagenes selbst in eine Situation, in der er sich umbringen will, und muss von Cnemon zurückgehalten werden (III.5, G3r–G5r). 34 Ebenso tröstet Diana ihren Schützling, dass Gott diejenigen züchtige, die er liebe, um sie zur Tugend zu ermuntern (III.6, G8r–v). Chariclia und Theagenes stellen ihre Frömmigkeit unter Beweis, als sie bei ihrem Wiedersehen in Memphis Gott danken und ein gemeinsames Gebet anstimmen (IV.2, J3r–v). Ihr Gottvertrauen wird mit einem Fels in der Brandung verglichen, der dem von Regen und Wind gepeitschten Meer standhält (IV.4, J5v–J6r). Auch Chariclias
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och muß man dem Creutz halten still/ Dann dieses ist ja Gottes will. Vnd weils sein Will/ so soll vns allen Was er da thut/ auch wol gefallen Dann tragen wirs mit frischem Muht/ Letzlich es vns erfrewen thut. (IV.4, J6r)
Die Aufforderung zur Annahme des Kreuzes und zur Geduld im Leiden entspricht Luthers Soziallehre so stark, dass sich von einer Konfessionalisierung der Aithiopica sprechen lässt. In Brülows Drama sind weitere Aktualisierungen zu finden, etwa Anspielungen auf den frühneuzeitlichen Hexendiskurs, die Diskussionen um eine gerechte Kriegsführung oder die Exotisierung der Äthiopier.35 Während diese Motive jedoch nur punktuell von Bedeutung sind, durchzieht eine andere Bearbeitungsstrategie das gesamte Drama und ist für die Poetik des Werks kennzeichnend: die antike Stilisierung. Brülow greift nicht nur auf Heliodors Roman zurück, sondern integriert zahlreiche Anspielungen aus der antiken Mythologie, wobei er Zeit-, Sprach- und Gattungsgrenzen überschreitet. Die homerischen Epen dienen ebenso als Motivspender wie die römische Epik oder die griechischen und lateinischen Tragödien. Im Eröffnungsdialog vergleichen Persina und ihre Zofe Candia Chariclias Schicksal mit anderen ausgesetzten Kindern der antiken Mythologie, u.a. Ödipus, und hoffen auf ihr Überleben. Um Persina wegen der langjährigen Trennung von ihrer Tochter zu trösten, erinnert Candia an den Protagonisten der Odyssee, der nach langem Warten von seinem Leiden erlöst wurde: Der Held Vlysses war von hauß/ Doch wol auff zwantzig gantzer Jahr/ Darinn er mußt manche gefahr/ Außstehen/ vnd durch manch Elend/ Viel Abentheur bringen zu End/ Auß will der G=tter/ vnd zuhandt Der G=ttin Palladis beystandt. Biß das derselbe entlich doch/ Frisch vnd gesund ist kommen noch Zu den seinigen inns gemein. (I.1, B3r)
Errettung vom Scheiterhaufen und ihre gemeinsame Befreiung aus Arsaces Gewalt schreiben die Liebenden der Macht Gottes zu, der die Seinen stets aus größter Gefahr rette (IV.7, K7v). 35 So beschuldigt Arsace Chariclia, eine Hexe zu sein, und will sie verbrennen lassen (IV.7, K5r). Das Scheitern dieses Vorhabens wertet Thyamis als Unschuldsbeweis, während sich Arsace bestärkt sieht und durch Folter ein Geständnis erzwingen will. Chariclia verstehe sich auf Zauberei, könne Wetter machen und die Gestirne beeinflussen (IV.7, K6v–K7v). – Wie in der frühneuzeitlichen Heliodor-Rezeption üblich gilt Hydaspes als gerechter Herrscher, der auf einen feindlichen Angriff reagiert und sein Land verteidigt (IV, L4r–v), vgl. auch Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 320. – Dem Motiv der Hautfarbe misst Brülow mehr Bedeutung als Heliodor bei (I.1, B2r) und nutzt es zur Diskriminierung der Räuber (II.9, E7v) und der Äthiopier (IV.8, L1v), wohingegen die Sprache als Differenzkriterium keine Rolle mehr spielt, vgl. auch Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 282.
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Persinas Bedenken, ihre Tochter könne aufgrund der Gottlosigkeit der gegenwärtigen Welt Schaden nehmen, weiß Candia durch mythologische Referenzen zu entkräften. Jupiter strafe die Bösen, wie die Blendung Polyphems und die Verwandlung Lycaons zeigten (I.1, B3v). Die Darstellung von Chariclias Kindheit bei dem Hirten nutzt Brülow nicht nur, um Komik zu erzeugen, sondern auch für ein Lob des Landlebens, wobei er an Vergils Bucolica und Georgica anknüpfen kann.36 Chariclia entwirft ein idealisiertes Bild der Hirtenwelt und preist die einfache Lebensweise: „Wo man wohnt in den ein=den// Oder im Feld vnd Acker bawen// Da ist kein Geitz oder mißtrawen./ […] Vnschuldig lebet man dahin“ (I.2, B7r). Vor allem die neu konzipierten Szenen schmückt Brülow mit mythologischen Verweisen, die teils aus namentlichen Referenzen, teils aus strukturellen Korrespondenzen bestehen. So rühmen sich Venus und Cupido der Macht, die sie über Götter und Menschen besitzen, und erinnern daran, dass sie selbst Jupiter, Vulkanus, Apollon und andere Götter in Liebe entflammen konnten (I.4, C4v). Die Flucht des Liebespaares aus Delphi leitet Dianas Bitte ein, Chariclia möge endlich für ihre Frömmigkeit belohnt werden und zu ihrer trauernden Mutter heimkehren dürfen (II.2, C8r). Dieser Appell erinnert an den Beginn der Odyssee, als sich Athene bei Zeus für die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka verwendet.37 Die dritte Götterszene ist als eine rhetorische Theomachie gestaltet, in der sich Diana den Liebesgöttern überlegen erweist. Nachdem Cupido und Venus die Welt als einen Lustgarten dargestellt haben, legt Diana die negativen Folgen einer solchen Einstellung offen. Sie weist auf mehrere Heroen und Heroinen aus Ovids Metamorphosen hin, die durch ihr Begehren ins Unglück gestürzt seien: Iphis, Phyllis, Phaedra, Leander, Gnosia; auch den trojanischen Krieg führt Diana auf das verderbliche Wirken von Venus zurück (II.5, D6r).38 36 Zum literarischen Interesse der Frühen Neuzeit am Landleben vgl. Klaus Garber: Europäische Bukolik und Georgik. Eine Skizze. In: ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, S. 217–227; Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum ‚Lob des Landlebens‘ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981 (Hermaea 44). 37 Zu Heliodors Anspielungen auf die Odyssee vgl. auch Dworacki: Aethiopica (Anm. 1), S. 127– 129. 38 Brülow bereichert auch die von Heliodor adaptierten Szenen durch antike Anspielungen. Bevor Chariclia die Braut eines Seeräubers wird, will Theagenes zum Phineus und Eurytus werden und Calasiris die Rolle der Eris übernehmen (II.7, E1r–v). Die Forderung eines Seeräubers, Chariclia als Beute zu erhalten, weist sein Anführer zurück; auch der Bettler Iros hätte nicht dieselben Rechte wie Odysseus gehabt (II.8, E3r). Als Chariclia während des Kampfes der Räuber in eine Höhle gebracht wird, erinnert ihre Klage an Antigones letzte Rede bei Sophocles. Chariclia befürchtet, lebendig begraben zu werden und ein Grab als Ehebett zu erhalten (III.2, G1r). Auch die Klage des Theagenes, der seine Geliebte tot glaubt, weist intertextuelle Bezüge auf; wie Vergils Dido wirft er seinem Gesprächspartner Hartherzigkeit vor; Cnemon müsse vom Kaukasus gezeugt und von Tigern gesäugt worden sein, so wenig lasse er sich von Chariclias Schicksal rühren (III.5, G4r–v). Anspielungen auf Odyssee und Aeneis finden sich auch im weiteren Handlungsverlauf. So vergleicht sich der verkleidete Calasiris mit Odysseus, der als Bettler zum Schweinehirten Eumaeus kam (IV.1, H7v), und die unerkannt abgewiesene Chariclia beklagt sich mit Vergils Worten, dass der Geliebte ein steinhartes Herz besitze und von keinem Menschen, sondern einem Tiger geboren sei (IV.2, J2v). Zudem vergleicht Cybele
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Wie eng sich Brülow an weitere Werke der Antike oder der frühneuzeitlichen Antikenrezeption anlehnt, wird an seinem lateinischen Drama ersichtlich. Wie andere neulateinische Dramatiker übernimmt er zahlreiche Zitate, kombiniert diese miteinander und verleiht ihnen so einen neuen Sinn. In der lateinischen Chariclia finden sich Verse aus mehreren Dramen Senecas, aus Vergils Aeneis, dem Joseph des Aegidius Hunnius und dem Dialogus Veneris et Cupidinis, den Georg Sabinus auf der Grundlage von Lukian angefertigt hat. Eine solche Montagetechnik wurde im 16. und 17. Jahrhundert als kunstvolles poetisches Verfahren geschätzt und zeugte von der Gelehrsamkeit des Autors wie seines Publikums.39 Den volkssprachigen Rezipienten blieben solche wörtlichen Übernahmen aus verschiedenen Prätexten zwar verborgen,40 doch konnten ihnen die mythologischen Anspielungen ebenfalls Vergnügen bereiten und eine zusätzliche Sinndimension erschließen. Brülows Chariclia ist also nicht nur eine dramatische Adaptation von Heliodors Roman, sondern zugleich ein Spiegel lutherischer Sozialethik und antiker Mythologie. DIE GESTALTPRINZIPIEN IN JOHANN JOSEPH BECKHS ERNEUERTE CHARICLIA Gut fünfzig Jahre später fertigte Johann Joseph Beckh ein Drama an, das nicht auf einer neulateinischen Version basiert, sondern in deutscher Prosa verfasst ist: „Erneuerte Chariclia: Oder Die überaus anmuthige und zugleich wunderbahre Beg(bnFs/ der sch=nen Mohrenl(ndischen Princeßin Chariclien, mit Jhrem liebsten Theagenen.“41 Von Beckh (um 1635 – nach 1697) sind viele geistliche Lieder, mehrere Dramen und ein Schäferroman bekannt.42 Er besuchte die Straßburger Akademie, war als Rechtsberater und Notar tätig, lebte zeitweilig im Umfeld des Dresdner Hofs und war als Stadtschreiber in Eckernförde beschäftigt. Die Erneuerte Charic-
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den Tod mit „Erynnis“, „Megaera“ und dem „H=llhundt“, und Chariclia wünscht Arsace die Qualen von Sisyphus und Tantalus (IV.7, K5r–v). Zu Brülows Umgang mit seinen Prätexten, dem „Kumulieren oder Panschieren“ von Zitaten, vgl. Hanstein: Caspar Brülow (Anm. 6), S. 287–298, bes. S. 287. Zu dieser Besonderheit der frühneuzeitlichen Dramatik vgl. auch Nicola Kaminski: Dekonstruktive Stimmenvielfalt. Zur polyphonen imitatio-Konzeption in Frischlins Komödien Hildegardis Magna und Helvetiogermani. In: Daphnis 24 (1995), S. 79–133. Skopnik (Das Strassburger Akademietheater [Anm. 8], S. 79) hält die Streichung der gelehrten Anspielungen für ein zentrales Bearbeitungsprinzip bei der Übertragung der lateinischen Schuldramen ins Deutsche. Vgl. Beckh: Erneuerte Chariclia (Anm. 10), Sign. )(2r. Zu Beckhs Biographie und literarischem Werk vgl. Manfred Kremer: Johann Joseph Beckh. Leben und Werk. Frankfurt a. M. u.a. 2001; I.u.: Bekkh, Johann Joseph. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. XLVI. München, Leipzig 1902, S. 344.
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lia ist während seiner Dresdner Zeit entstanden. Welche Textgrundlage Beckh genutzt hat, bleibt offen;43 eine Abhängigkeit von Brülows Drama, die in der Forschung gelegentlich in Betracht gezogen wurde, ist nicht nachzuweisen. Mitte des 17. Jahrhunderts war die Geschichte der beiden Liebenden der Aithiopica bereits so bekannt, dass der griechische Romanautor nicht mehr auf dem Titelblatt genannt werden musste. In seinem Vorwort unterscheidet Beckh drei Themenkreise, die im Drama behandelt werden: Zuerst nennt er die Regierungsangelegenheiten, die König Hydaspes mit seinen Räten diskutiere. Dann führt er die Liebesthematik an, die sich um Chariclia und Theagenes drehe, zu der aber auch Arsace und ihre Kupplerin Kybele gehörten. Zuletzt erwähnt Beckh die Handlung um Alamod, die weit in die Gegenwart hineinblicken lasse. Durch ihn werde nicht eine Person in specie, sondern in genere dargestellt, wie es an vielen Orten, insbesondere an fürstlichen und gräflichen Höfen, aber auch in Reichsstädten zugehe.44 Beckhs thematische Dreiteilung strukturiert auch das Bild, das der Verleger Christian Berger dem Druck beigegeben hat (Abb. 1). Alamod und seine Begleiterin stehen im rechten Bildvordergrund und werden mit Theagenes und Chariclia parallelisiert, während Hydaspes im hinteren Fluchtpunkt abgebildet ist. Die Aufteilung dokumentiert, welche Bedeutung Alamod für Beckhs Drama hat. Seine Zwischenspiele sind die auffälligste Veränderung sowohl im Vergleich zu Heliodors Roman als auch zu Brülows Drama und könnten dazu geführt haben, dass Beckh seine Erneuerte Chariclia nicht als eine Mischgattung, sondern als „eine Comœdi“ bezeichnet.45 Das Wirkungspotential eines Dramas schätzt Beckh als beträchtlich ein:46 Nichts könne mehr zur Tugend oder zum Laster reizen als eine Komödie. Weil jeder Rezipient in seinen Anlagen gestärkt, ein tapferes Gemüt zur Tapferkeit angeregt, eine verliebte Seele noch verliebter gemacht werde, stuft er eine Komödie als gefährlich für junge Leute ein. Insbesondere Mädchen und junge Frauen sollten vor
43 Der Dramatiker beruft sich auf Heliodor und erklärt, dessen Plot wenig verändert, aber „viel andere RedensArth und Vorstellungen“ integriert zu haben. Vgl. Beckh (Anm. 10), Sign. )(5r. – Die von Heliodor abweichende Namensgebung und varierende Lokalisierung in Delphi und Memphis könnten darauf hinweisen, dass Beckh eine stark bearbeitete Vorlage und keine Edition oder Übersetzung von Heliodors Roman benutzte. 44 Vgl. Beckh: Erneuerte Chariclia (Anm. 10), Sign. )(4v–)(5r. – Im Vergleich zu Brülow hat Beckh das Bühnenpersonal reduziert; im Personenverzeichnis (Sign. )(8r) werden 17 Rollen – meist in ständischer Reihenfolge, vom Königspaar bis zu den Tagelöhnern, – aufgeführt. In der Liste fehlt Alamods Geliebte. 45 Vgl. ebd., Sign. )(2r. – Zur Instabilität von Gattungsbezeichnungen in der Frühen Neuzeit vgl. Washof: Die Bibel auf der Bühne (Anm. 16), S. 35f. 46 Im Vorwort an den geneigten Leser setzt sich Beckh mit den Problemen einer Aufführung auseinander. Viele Schauspieler seien so ungeschickt, dass man sie aus dem Theater treiben sollte. Sie verhielten sich wie Marktschreier, agierten viel zu übertrieben und sprächen zu laut. Eine angemessene Inszenierung stellt sich Beckh hingegen so vor, dass eine verliebte Person mit langsamen Gesten, traurigen Augen und sachten Schritten und ein König mit majestätischen Augen und heroischer Rede dargestellt werden. Vgl. Beckh: Erneuerte Chariclia (Anm. 10), Sign. )(3v.
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der aufwühlenden Wirkung eines Dramas geschützt werden, wohingegen ein rechtschaffener Mann Gutes und Böses anhören könne, ohne sein Gewissen zu belasten: Das ist eben der rechte Gifft/ wodurch junge Leute/ zumahlen das Frauenzimmer/ welches oftermahlen sich in (weiß nicht was) verliebet/ verfFrt werden/ und br(chte es keinen Schaden/ wann schon mancher Mann seine Frau/ oder ein Vater seine Kinder nicht in alle Comœdien gehen ließe […].47
Wie Brülow orientiert sich Beckh an dem Ideal, das Horaz in seiner Ars poetica vorgibt, und untergliedert sein Drama in fünf Akte bzw. Abhandlungen.48 Allerdings verzichtet Beckh darauf, Heliodors raffinierte Erzählweise nachzubilden. Sein Spiel folgt dem ordo naturalis und beginnt in Griechenland mit der Klage des Theagenes. Grund seines Leids ist nicht Chariclias fehlende Gegenliebe, sondern der ständische Unterschied, den Beckh ins Zentrum der Konflikthandlung stellt.49 Ein Fürst liebt eine vermeintliche Priestertochter, die ihm hierarchisch unterlegen ist. Auch Chariclia sieht im Standesunterschied ein Ehehindernis und meint, dass eine solche Beziehung zum Scheitern verurteilt sei. Sie wisse, daß die Liebe/ welche Hohe zu Niedern/ und diese zu jenen tragen/ niemahl/ oder doch selten wohl gerahtet/ die standhafftigste Liebe wird bey seines gleichen gefunden (I.2, A2r).
Mit der Offenbarung ihrer wahren Abstammung bietet Calasiris den Liebenden eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen.50 Die Einheit des Ortes sucht Beckh – anders als Brülow – nicht einzuhalten. Nicht nur zwischen den Akten, sondern auch zwischen einzelnen Szenen wechselt mehrfach der Schauplatz. Der zweite Akt beginnt mit einem Gespräch zwischen Calasiris und einem ehemaligen Mitgefangenen des Paares,51 in dem von den Reiseabenteuern berichtet wird: vom Aufbruch aus Griechenland, dem Kampf der Seeräuber, der Entführung durch Räuber und dem erneuten Überfall. Die nächsten Ereignisse in der Welt der Räuber werden nicht erzählt, sondern auf der Bühne dargestellt. Thyamis tötet Thisbe, weil er sie für Chariclia hält. Theagenes verwechselt die beiden Frauen ebenfalls, erhält aber seine Geliebte lebend zurück. Während Beckh die Haupthandlung meist stark kürzt, erweitert er das Geschehen um Thisbe und macht sich dabei das mythologische Potential ihres Namens zunutze: Chariclia tauscht mit der Toten die Kleidung (II.3, C8v–D1r), wodurch Calasiris in dieselbe 47 Vgl. ebd., Sign. )(4r. – Zur genderspezifischen Warnung vor Literatur in der Frühen Neuzeit vgl. Regina Toepfer: Vom Liebesverbot zum Leseverbot. Die deutsche Rezeption von Pyramus und Thisbe in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750) III. Beiträge zur dritten Arbeitstagung in Wissembourg, Weißenburg, März 2014. Hg. von Peter H. Andersen-Vinilandicus, Barbara Lafond-Kettlitz. Bern u.a. 2015 (Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A –120), S. 211– 234. 48 Vgl. Horaz: Ars Poetica (Anm. 4), V. 189. 49 Zum Motiv des Standesunterschieds vgl. auch Kremer: Johann Joseph Beckh (Anm. 42), S. 76f. 50 Theagenes freut sich über die Gegenliebe einer Prinzessin und willigt ein, mit ihr ins MohrenLand zu ziehen. Die Krone zähle mehr als das Mitgefühl mit Chariclias Pflegevater Charicles (I.3, A8v–B1r). 51 Beckh verdoppelt die Rolle Cnemons und zieht die Begegnung mit Calasiris vor.
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Situation wie Pyramus in Ovids Metamorphosen gerät: Er findet Chariclias Kleidung bei der Ermordeten und hält seinen Schützling daher für tot (II.4, D2r). Anders als Pyramus wird Calasiris jedoch schnell eines Besseren belehrt und findet die Vermisste wieder. Der dritte Akt spielt im Herrschaftsbereich der Arsace, wo Chariclia und Theagenes wieder vereint werden und durch das leidenschaftliche Begehren der Herrscherin und die Intrigen ihrer Dienerin erneut in Gefahr geraten. Bei Beckh wird Cybele nur als Kupplerin und Hure, nicht aber in der traditionellen Rolle des antiken Dramas als Amme bezeichnet. Die Handlung um die Nebenfiguren ist insgesamt stark reduziert; weder Cnemon noch Calasiris oder Charicles dürfen ihre Geschichten erzählen, selbst die Verwandtschaft zwischen Calasiris und Thyamis ist getilgt. Dagegen wird die Auseinandersetzung zwischen Arsace und Theagenes sehr detailliert geschildert. Mit vielen Komplimenten, Bitten, Flehen und Drohungen sucht die Herrscherin immer wieder, ihren Gefangenen gefügig zu machen. Ihre Verführungskünste setzt Beckh performativ überzeugend in Form eines Liebesliedes in Szene. Während er auf Chorlieder am Ende der Akte verzichtet, lässt er im Kontext der Werbungshandlung ein siebenstrophiges Lied erklingen. Arsace besingt die Qualen ihrer Liebe, droht mit Selbstmord, bittet Theagenes um Erbarmen und preist die eigene Schönheit: 1. So muß ich dann vor Liebe sterben/ Du hartes Demant Herz? Kan ich dann keine Gunst erwerben/ Und bin dir nur ein Scherz? So soll mir Stahl und Eysen Den Untergang noch weisen. […] 5. Ach! seh der Augen helle Strahlen/ Ach! seh den rothen Mund/ Seh wie die roosen-Wangen prahlen/ Der Marmelweiße Schlund Der sich die Kehle nennet/ Wie der vor Liebe brennet. 6. Ach Sch=nster laße dich bewegen Die Globen meiner BrFst/ Die leyder! offt von starken Schl(gen Von meiner Hand entrFst/ Und wegen vielen Seuffzen/ Nach deinem Munde geuffzen. (III.4, F3r–v)
Vergeblich fordert Cybele den Umworbenen auf, sich von der lieblichen Stimme bewegen zu lassen. Auf Theagenes wirkt Arsaces Vortrag wie der Gesang der Sirenen, dem er standhaft wie Odysseus widerstehen will (III.4, F4r). Punktuell stellt
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also auch Beckh Anschlüsse an die antike Mythologie her – wenn auch in weit geringerem Umfang als Brülow. Bei seiner Dramatisierung folgt Beckh der Empfehlung des Horaz, von grausamen Taten besser zu berichten, als diese auf der Bühne darzustellen.52 Zwar lässt Arsace Theagenes, als dieser seine Liebeszusage nicht einlöst, vor ihren Augen geißeln und kommt auch Cybele auf offener Bühne durch den Gifttrunk ums Leben, doch werden weder die geplante Verbrennung von Chariclia noch der Selbstmord Arsaces auf der Bühne dargestellt. Von jenem Ereignis berichtet ein Bote, wohingegen Arsace ihren Vorsatz zum Selbstmord nur ankündigt (III.9, G7v, H1r–v). Im vierten Akt wechselt die Handlung an den Hof des äthiopischen Königs, wo Brülows Drama seinen Ausgang genommen hat. Wie von Beckh im Vorwort ankündigt, werden dort Regierungsgeschäfte behandelt.53 Der König bittet seine Berater um eine Einschätzung, wie er auf die Eroberung der Stadt Siena durch Orondates reagieren soll. Diskutiert wird über mögliche Kriegsgefahren und eine geeignete Kriegsstrategie: den besten Zeitpunkt für eine Vergeltungsaktion, die militärische Vorbereitung, die Schlachtordnung und Befehlshierarchie, die Gefahr von Spionen sowie die Vor- und Nachteile von einer Unterstützung durch fremde Truppen. Im zweiten Aufzug ist Siena erfolgreich zurückerobert und werden Chariclia und Theagenes als Gefangene vorgeführt. Da Orondates bei der Belagerung entkommen konnte, setzt der Kriegsrat seine Diskussion fort und erörtert finanzielle Fragen. Im dritten Aufzug erfolgt erneut ein Zeitsprung: Orondates wird als Gefangener präsentiert, aber von dem großzügigen König wieder frei gelassen und als Statthalter eingesetzt, wohingegen Chariclia und Theagenes den Göttern als Dankopfer dargebracht werden sollen. Im vierten Aufzug wird Chariclias Identität enthüllt. Während der König sie als seine Tochter anerkennt, soll Theagenes weiterhin den Opfertod erleiden. Im Handlungsverlauf haben sich die hierarchischen Positionen der Hauptfiguren verkehrt. Der zu Beginn des Dramas aufgebaute Standeskonflikt wird im fünften Akt noch einmal verschärft, um dann endgültig überwunden zu werden. Hydaspes will Chariclia mit seinem Neffen Merobeus verheiraten, während Persina aufgrund der unterschiedlichen Hautfarbe der jungen Leute Bedenken hegt: „Ich verhoffe Sie sollen sich recht zusammen schicken/ Ob eines schon weiß/ das andere schwarz ist.“ (V.1, M8v) Mit Begriffen der Intersektionalitätsforschung lässt sich dies als eine Verschiebung von Ungleichheitskategorien beschreiben: die Bedeutung von class wird durch die Kategorie race überlagert.54 Merobeus betrachtet sich selbst als unterlegen; er hofft, dass die schöne weiße Prinzessin ihn als würdig genug erachtet, und ist besorgt, „Jhre zartesten Fingerlein mit meinen groben H(nden zu verunreinigen“ (V.1, N1v). Stellvertretend kämpft Theagenes mit dem Riesen, 52 Vgl. Horaz: Ars Poetica (Anm. 4), V. 179–188. 53 Zu den staatspolitischen Erörterungen, die die „Diskussion um den ‚modernen‘ Absolutismus wiederspiegeln“, vgl. Kremer: Johann Joseph Beckh (Anm. 42), S. 75f. 54 Zur Historisierung intersektionaler Kategorien vgl. Andreas Kraß: Einführung. Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Durchkreuzte Helden. Das Nibelungenlied und Fritz Langs Film Die Nibelungen im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. von Nataša Bedeković, Andreas Kraß, Astrid Lembke. Bielefeld 2014, S. 7–47.
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den sein Konkurrent dem König als Geschenk verehrt hat. Sein Sieg im Kampf nimmt den Sieg in der Liebe vorweg. Nach der Krönung seiner Tapferkeit offenbart sich Chariclia ihrer Mutter, die zu helfen verspricht. Anders als bei Heliodor und Brülow behauptet Beckhs Persina, das Paar habe sich vor seiner Abreise heimlich trauen lassen (V.3, N8r). Durch das plötzliche Erscheinen von Charicles wird die fürstliche Abstammung von Theagenes bekannt, so dass die Liebenden gemeinsam als Erben des Reiches eingesetzt werden können. Während der schwarze Merobeus den Verlust seiner weißen Braut bedauert, freut sich das Liebespaar über den guten Ausgang. Am Ende der Haupthandlung preist Theagenes in einer lyrischen Rede ihre gegenseitige Treue und freut sich über das Ende ihres Unglücks. Alle Akte enden mit einem Zwischenspiel, in dem die von Beckh neugeschaffene Figur Alamod mitsamt einigen Gefährten auftritt.55 Diese Szenen weisen nur punktuell Bezüge zur Geschichte um Chariclia auf und unterbrechen den Handlungsgang. Alamod hält den Rezipienten einen Spiegel vor und beschreibt, wie es gegenwärtig in der Welt zugeht. Mit Wortspielen, Übertreibungen und überraschenden Wendungen erzeugt er Komik und übt durch Übersteigerung gesellschaftliche Kritik. Auch die Zwischenspiele folgen einer klaren Dramaturgie, indem sie sich an den verschiedenen Lebensphasen eines Mannes orientieren. Im ersten Akt wünscht sich Alamods Vater, dass sein Sohn als Schüler unterrichtet wird. Er bewundert Alamods Lateinkenntnisse, die jedoch kaum über ein ita und ein non hinausreichen (B4v–B5r).56 Weder mit den artes liberales noch mit den höheren Fakultäten kann Alamod etwas anfangen; entweder kennt er die Disziplin nicht oder er hält sie für nutzlos. Aus der Dichtkunst leitet Alamod gar das Recht ab, seinen Lehrer verspotten zu dürfen: „Domine Praeceptor, est Licentia poëtica.“ (B7r) Nur die Politik weckt sein Interesse. Im zweiten Interludium berichtet Alamod vom lustigen Studentenleben, wo bis morgens um 9 Uhr studiert und danach mit den Kommilitonen „Herr[n] Salus und Herr[n] Prosit“ gefeiert werde. Ein fleißiges Studium in „Wirthsh(usern und Nunneversit(ten“ zu absolvieren, sei jetzt Mode (D6v–D7r). Im dritten Zwischenspiel wird das Motiv seiner Namensgebung entfaltet: Alamod ist zum Höfling, genauer gesagt zum Hofnarren, geworden, richtet sich stets nach der neusten Mode und handelt à la mode. Wie beliebig ein solches Verhalten ist, verdeutlicht Alamod an seinem Aussehen und seiner bunt zusammengewürfelten Kleidung; sobald er erkläre, dass seine Schuhe aus Spanien, der Hut aus Frankreich, die Hemden aus Holland, sein Bauch aus dem Schlaraffenland und seine schwarze Hautfarbe modern seien, werde er für schön gehalten (H2v). Alamod umgibt sich mit Bediensteten und täuscht französische Sprachkenntnisse vor,57 um als wichtig zu gelten. Seine Lebensweise erklärt er zur höfischen Regel: „an dem Hoff mFßen Politici seyn/ die
55 Nach Kremer (Johann Joseph Beckh [Anm. 42], S. 76) folgt das Zwischenspiel „dem Standardmuster der Alamode-Literatur des 17. Jahrhunderts“. 56 Allzu bereitwillig erfüllt der Vater Alamods Forderung, ihn als Ihr Excellenz Herr Sohn anzusprechen, was er zu Ihr Hexenlenz verballhornt (C2v). 57 Alamod gibt vor, seinen Vater nicht zu kennen, und beantwortet dessen Fragen mit Ouy (H4r).
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nach meiner Arth in Kleidungen/ in Sitten/ Geberthen/ Worten und im ganzen Leben Alamodisch seyn.“ (H6r)58 Das vierte Zwischenspiel greift die zuvor am Königshof verhandelte Kriegsthematik auf: Alamod wünscht, in den Krieg zu ziehen, doch ohne zu kämpfen. Von einer Aufforderung zum Duell kauft er sich frei, verzichtet lieber auf seine Kleidung und tanzt gar im Hemd mit einer Dame. Schließlich legt er sich freiwillig auf den Boden und stellt sich tot, nur um sich nicht mit Kavalieren schlagen zu müssen.59 Im letzten Zwischenspiel zieht Alamod ein Resümee seines bisherigen Lebens; weder das Studium noch das Leben am Hof oder der Krieg hätten ihm gefallen. Auf den Rat seines Vaters hin beschließt er, um eine alte, reiche Jungfer zu werben, und schreibt ihr einen Liebesbrief, in dem er die Hässlichkeit der Geliebten hymnisch rühmt und sie ohne Umschweife zum Beischlaf einlädt (O5r–v).60 Auch die Eheschließung bringt Alamod nicht das erhoffte Glück. Seine Frau stellt finanzielle Forderungen, legt seine Nachsicht als Schwäche aus und nimmt sich bei der ersten Gelegenheit einen Liebhaber. Als sie bei einem Stelldichein plötzlich ertrinkt, dankt Alamod dem Himmel für seine Erlösung – und hofft auf eine neue Ehe (P3r). Beckhs komischer Held erweist sich als unbelehrbar und kann die Rezipienten durch sein teils politisch-strategisches, teils naiv-tölpelhaftes Verhalten zum Nachdenken anregen. FAZIT Anknüpfend an antike und zeitgenössische Poetikvorstellungen wird Chariclias wechselhafte Geschichte in den deutschen Dramen des 17. Jahrhunderts neu organisiert. Die Dramatiker geben die kunstvolle Erzählweise der Aithiopica weitgehend auf und konzentrieren sich auf den Plot der Handlung. Der Gattungstransfer vom Roman zum Drama verschafft den Autoren poetische Gestaltungsfreiheiten, die Caspar Brülow und Johann Joseph Beckh für unterschiedliche Kürzungen und Erweiterungen nutzen. Ihre individuelle Akzentuierung wird besonders an den Figuren deutlich, für die es in Heliodors Roman keine Vorbilder gibt: Brülow ergänzt das Personal der Aithiopica um die römischen Götter Venus, Cupido und Diana, wohingegen Beckh den frühneuzeitlichen Hofnarren Alamod einführt.
58 Am Hof gälten völlig andere Regeln als bei den Bauern, stellt Alamod gegenüber seinem Vater klar: Trinksucht gelte als Tugend, Grobheit als Höflichkeit und eine Dienerschaft als Beleg für die eigene Bedeutung (H5r–H7v). 59 Obwohl Alamod die französische Mode durch Kleidung und Redefloskeln zu imitieren sucht, erfüllt er das höfische Ideal in keiner Weise, wie ein Cavalier konstatiert: „Behalte nur deine N(rrische Hosen an/ du bist eben ein Franzoß/ wie der Kwark eine Brathwurst“ (M4v). 60 Bemerkenswerter Weise erhält die Närrin Chariclias Codenamen, Phythia, der somit als Synonym für eine weibliche Geliebte verwendet wird. – Liebevoll apostrophiert Alamod die Erwählte als „mein Affenm(ulichen/ mein Schwein(uglichen und HasenFFßgen“ und versichert, die Liebe laufe „in meinem Ged(rme herumb/ gleich h(t ich Most und saure Milch hienein gesoffen“ (O6v–O7r).
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Die göttliche Parallelhandlung ermöglicht es Brülow, den mythologischen Gehalt zu potenzieren, das Geschehen allegorisch auszulegen und das Handeln der Figuren moralisch zu kommentieren. Beckh hingegen nutzt die eingeschobenen Zwischenspiele, um gesellschaftliche Missstände offenzulegen und durch satirische Überzeichnung zu kritisieren. In dieser Verschiedenheit zeigen die beiden Chariclia-Dramen das produktive Potential der frühneuzeitlichen Antikenrezeption, die stets durch den Standpunkt des Bearbeiters, den Gebrauchskontext und das Zielpublikum bestimmt wird. Obwohl Brülow für das Straßburger Akademietheater schreibt und Beckh im Kontext des Dresdner Hofes zu verorten ist, teilen beide eine Gemeinsamkeit: Sie wollen nicht nur unterhalten, sondern gesellschaftliche Werte vermitteln. Hinsichtlich dieser Wirkintention stimmen die beiden Dramatiker mit den frühneuzeitlichen Editoren, Übersetzern und Kommentatoren der Aithiopica überein. Ihre moralische Interpretation ist freilich kein Spezifikum der deutschen Heliodor-Rezeption, sondern für die frühneuzeitliche Literatur insgesamt charakteristisch.
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Abbildung 1: Johann Joseph Beckh: Erneuerte Chariclia […]. Dresden: Christian Bergen, 1666, Sign. )(1r
ALTE FORM UND NEUE GATTUNG. HELIODOR UND DIE ROMANPOETIK IM 18. JAHRHUNDERT Sylvia Brockstieger In Christoph Martin Wielands ‚comische[m] Gedicht‘ Der Neue Amadis1 von 1771 polemisiert der Erzähler gegen jenen Dichter […], / Der […] / Sein schwarzes Gehirn erschöpft, um sie [seine „Geschöpfe“, Anm. S.B.] durch eine Reyh / Von unerhörten Fährlichkeiten/ Zu Wasser und Land in ihr Verderben zu leiten, / Durch Räuber in wüsten Schlössern, Algierische Sclaverey, / Pest, Hungersnoth, Gefahr von wilden Leuten / Gegessen, oder von Heyden mit vielen Feyrlichkeiten / Dem Drachen geopfert zu werden; hernach in der Barbarey / Aus einem Fenster (zu dem der Held auf seidenen Stricken / Emporgestiegen, um Amors süße Frucht / Auf einer circassischen Dame verliebten Lippen zu pflücken) / Durch einen gewagten Sprung die Flucht / Ins Meer zu nehmen, wo ihn die Wellen unsanft wiegen, / Bis, da er nicht mehr kann, und just / Sein Requiem spricht, ein Boot zu Hülf ihm flieget. / Nun hoffen wir endlich mit ihm, sein Unstern sey besieget; / Er findet unverhofft sich an der schönen Brust, / Für die er alles dieß sei langen sieben Jahren / Erlitten, um derentwillen der Länder und Meere durchfahren. / Denn kurz, der Capitain, ein rosenwangichter Held,/ Ist – seine Prinzessin selbst, die seit der letzten Scheidung / Durch tausend Gefahren, worinn sie die halbe Welt / Zu sehn bekam, in dieser Verkleidung / Das Glück gehabt, der Favorit-Sultane / Des Kaysers zu Fez zu gefallen, von der sie […] / Sehr zärtlich behandelt worden, viel Gold und eine Tartane / Um heimlich zu fliehen empfangen, und so fort.2
Wieland kritisiert also – hinter der Maske des von ihm eingesetzten Erzählers – das Handlungsmodell des spätantiken Liebes- und Abenteuerromans zwischen Schiffbruch und Rettung, Gefangenschaft und Befreiung, Verkleidung und Wiedererkennen, das bekanntlich nicht nur bei Heliodor zur Anwendung kommt, aber vor allem über ihn als ‚Vater des spätantiken Romans‘ Eingang in die frühneuzeitliche Romanproduktion gefunden hat: einerseits über zahlreiche Übersetzungen in die europäischen Volkssprachen, andererseits über vielfältigste Adaptationen besagter topischer Strukturelemente sowie über deren Verschmelzung mit anderen Stofftraditionen. Die frühneuzeitliche Heliodorrezeption bewegt sich also zwischen reger, stoff- und schemanaher Übersetzungstätigkeit im eigentlichen Sinne sowie diversen 1
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Christoph M. Wieland: Der Neue Amadis. Ein comisches Gedicht in Achtzehn Gesängen. In: ders.: Werke. Bearb. von Hans-Peter Nowitzki. Hg. von Klaus Manger, Jan Philipp Reemtsma. Bd. IX, 1. Berlin, New York 2008, S. 409–680. Hier zitiert in der Fassung von 1771, Christoph M. Wieland: Der Neue Amadis. Ein comisches Gedicht in Achtzehn Gesängen. Bd. II. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1771, S. 34–36. Zur Kritik des Heliodor-Schemas an dieser Stelle vgl. auch Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 125), S. 408f.
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anderen Formen der Aktualisierung, Be- und Umarbeitung, beispielsweise im barocken höfischen Roman.3 Latente Weiterwirkung und markierte, offen unter Heliodors Flagge segelnde Rezeption existieren dabei zu einem historischen Zeitpunkt oft parallel, nebeneinander oder ineinander verwoben. Im 18. Jahrhundert wird diese Dynamik insofern besonders relevant, als die markierte Rezeption zunehmend in offen zur Schau gestellte Ablehnung umschlägt. Zwar ist von Anfang an ein topischer, an histoire und discours angreifender Lobund Tadelkatalog ständiger Begleiter des heliodorischen Wiederbelebungsprozesses, doch erlangt die Zurückweisung von angeblich erotischem Stoff, überrhetorisierter Sprache und alogisch konstruierten Handlungsabläufen nun eine ganz neue, nämlich produktive Qualität, die den Weg ebnet hin zu – zumindest dem eigenen Selbstverständnis der Zeit nach – gänzlich neuartigen Modellierungen der Gattung Roman. In diesem Sinne steht Wieland mit seiner Polemik also wahrlich nicht alleine da. Auch Friedrich von Blanckenburg äußert sich im „Vorbericht“ seines Versuch[s] über den Roman (1774) kritisch gegenüber jenen Romanen, in denen gewöhnlich die Heldinn ein tugendhaft Frauenzimmer ist, das der Verfasser durch allerhand Gefährlichkeiten zu Wasser und zu Lande herum führt, tausend Versuchungen, zuweilen gar gewaltthätigen Unternehmungen, aussetzt, und am Ende durch diese oder jene Peripetie krönt? Das Mägdchen muß Schiffbruch leiden, um zur Sclavinn gemacht zu werden; ihre Tugend wird auf die Probe gesetzt, entweder von einem Bassa oder Thersander […]. Die Romanen aller Nationen scheinen dies mit einander gemein zu haben: – daß Männer ihre Zeit, ihre Ruhe, ihre höhere Bestimmung, zuweilen ihre Gesundheit, oder so gar das Leben dem andern Geschlechte aufopfern […].4
Solche Texte seien weder der „Bildung des guten Geschmacks“ noch der „Ausbreitung guter Sitten“5 zuträglich. Mit ‚Bildung‘ ist hier ein zentrales Konzept, ja beinahe eine notwendige Bedingung der Gattung Roman im späteren 18. Jahrhunderts ausgesprochen, die die alte Form des sog. Heliodor-Schemas nicht mehr zu garantieren imstande sei; Blanckenburg illustriert dies sehr schön durch die Passivkonstruktionen, anhand derer er die Handlung beschreibt: Die Heldin wird vom Verfasser herumgeführt, wird Versuchungen ausgesetzt, erleidet Schiffbruch etc. Dem Bildungskonzept des 18. Jahrhunderts eignet dagegen (typischerweise) eine dezidiert aktive, entscheidungsmächtige Rolle des Subjekts und damit auch des Romanhelden.
3
4 5
Vgl. u.a. Wilhelm Voßkamp: ‚Dichtender Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens.‘ Heliodor und der galante Roman in Deutschland. In: Lesbarkeiten. Antikerezeption zwischen Barock und Aufklärung. Hg. von Dietrich Boschung, Erich Kleinschmidt. Würzburg 2010, S. 137–152; Volker Meid: Der höfisch-historische Roman und verwandte Romangattungen. In: ders.: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009, S. 537–590; Eberhard Lindhorst: Philipp von Zesen und der Roman der Spätantike. Ein Beitrag zu Theorie und Technik des barocken Romans. Göttingen 1955. Christian F. von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig: Liegnitz, 1774, a3rf. Ebd., a3v.
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Solche programmatischen Verabschiedungen einer alten, bislang äußerst wirkmächtigen Form fallen also in eine Zeit, in der sich zunehmend – in England bereits seit den 1740ern mit Henry Fielding und Samuel Richardson – ein neues Romanverständnis mit dem bürgerlichen Menschen, seiner Subjektivität und seiner Gefühlswelt als Dreh- und Angelpunkt der Handlung Bahn bricht. Doch sollte man – der produktiven poetologischen Kraft der Verabschiedung des Alten zum Trotze – all den programmatischen Beteuerungen eines Wieland, eines Blanckenburg und anderer nicht ohne weiteres Glauben schenken. All dies bedeutet nämlich nicht, dass mit der Emergenz der neuen Gattung des empfindsamen Romans, dann des Bildungsromans sowie mit dessen Aufnahme in die normative Gattungstaxonomie die alte Form vollständig obsolet würde. Das bereits den spätantiken Romantypus tragende Konzept der paideia des Romanhelden wirkt unterschwellig in den klassizistischen Bildungskonzepten weiter, und auch andere Strukturelemente wie der medias-in-res-Einstieg sind weiterhin präsent. Nicht zuletzt auch bei Christoph Martin Wieland lässt sich, neben all den polemischen Hieben und Stichen wie im eingangs zitierten Neuen Amadis, das Weiterleben des Heliodorschemas beobachten, sei es gleichsam zitathaft im Don Sylvio, im Agathon oder – dann aber ganz ohne Ironisierung – in den Verserzählungen und Versepen wie beispielsweise dem Oberon.6 Florian Gelzer hat schlüssig gezeigt, dass Wieland in diesen seinen Versepen, die zugleich Parodien der hohen Ependichtung darstellen, eine „Bilanzierung zentraler romanesker Gattungsstrukturen“7 vornimmt, indem er die Liebes- und Heldengeschichte mit Elementen des Ritterromans sowie der Robinsonade kombiniert. So wird Wielands Mischstil zur Plattform des produktiven Umgangs mit einem alten Schema im Dienste einer völlig anderen Gattung, des Versepos, „während sich der Roman selbst längst anderer Erzählformen bedient“8. Seit der Mitte des 18. Jahrhundert überlagern sich also, zusammenfassend gesprochen, die Arbeit an einer grundlegenden Neuausrichtung der Gattung Roman im Lichte der Aufklärung – verbunden mit der ostentativen Verabschiedung (vermeintlich) obsoleter alter Modelle – und die ungebrochene Präsenz besagter Schemata, und zwar – im drückenden Klima der Zurückweisung gewissermaßen – in noch stärker transformierter Form, als sie die dominant affirmative Heliodorrezeption des 16. oder 17. Jahrhunderts anzubieten hatte. Discours und histoire der Aithiopika tragen also in ebensolchem Maße Züge, die dem ‚Projekt Aufklärung‘ entgegenstehen, wie sie offenbar neuralgische Punkte besitzen, an denen die konzeptuellen Hebel der Aufklärung anzusetzen in der Lage sind – die also für die Bedürfnisse der Zeit weiterhin Reizcharakter besitzen. Diese Bedürfnisse können im Bereich gattungspoetologischer Überlegungen angesiedelt sein, aber auch das große, divers strukturierte Diskursfeld der Antikenrezeption betreffen oder für den Bereich von Übersetzungstheorie und -praxis relevant sein. Vor diesem Panorama des rezeptionsgeschichtlichen Umbruchs – zwischen latenter Nachwirkung, satirischer Zitation und polemischer Zurückweisung – muss 6 7 8
Vgl. Gelzer: Konversation (Anm. 2), S. 408f. Ebd., S. 413. Ebd., S. 413.
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es dennoch erst einmal überraschen, dass es doch in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwei Versuche gibt, den unklassischen, sophistisch-hyperrhetorisierten und moralisch diskutablen Heliodor (so die topischen Vorwürfe) in Form einer ‚echten‘ Übersetzung wiederzubeleben. An erster Stelle ist hier die Aethiopische Liebes- und Helden-Geschichte zu nennen, übersetzt von M.C.W. Agricola [i.e. Magister Christian Wilhelm Agricola] und zum ersten Mal publiziert im Jahr 1750, und zwar in Jena im Verlag Christian Heinrich Cunos.9 An zweiter Stelle, chronologisch gesehen, steht die Übersetzung von Johann Nikolaus Meinhard mit dem Titel Theagenes und Chariklea, ebenfalls direkt aus dem Griechischen übertragen und veröffentlicht 1767 in Leipzig in der Dyckischen Buchhandlung.10 Mit beiden Übersetzungen, dies an dieser Stelle nur eine Fußnote, hat sich auch Goethe zwischen 1802 und 1804 beschäftigt,11 derselbe Goethe, der ja bekanntlich auch Longos’ Daphnis und Chloe in Amyots Version intensiv studierte und bewunderte, was ihn wiederum in Konflikt mit dem philologischen Konsens der Zeit brachte.12 Nun handelt es sich bei diesen beiden Texten nicht um die einzigen Antikenromanübersetzungen, die im 18. Jahrhundert im deutschen Sprachraum kursieren. Neben Neuübersetzungen der bereits im 16. und 17. Jahrhundert in der Volksprache präsenten Viererspitze Aithiopika, Leukippe und Kleitophon, Daphnis und Chloe sowie Ismenius treten weitere, so die von Chaires und Kallirhoe (Chariton), Anthia und Habrokomes (Xenophon) und anderen.13 Es ist ein Desiderat, all diese Übersetzungen nachklassisch-spätantiker Prosatexte in einer Zeit der intensiven Fokussierung auf das klassische Paradigma auf ihre zeitgenössische Funktionalisierung im Spannungsfeld von romanpoetologischer Reflexion, Übersetzungstheorie und Antikendiskurs hin zu überprüfen, repräsentieren sie doch alle das Schema des antiken Liebes- und Abenteuerromans, das, da in besonders kunstvoller Weise in den Aithiopika durchgeführt, natürlich vor allem ausgehend von und zugespitzt auf Heliodor seinen Siegeszug durch die europäische Literatur der Frühen Neuzeit angetreten hatte. Beiden Übersetzungen ist gemein, dass sie einen expliziten Neuansatz in der Geschichte der deutschen Heliodorübersetzung formulieren: Beide legen die Zschorn-Übersetzung ad acta, deren Breitenwirkung im 16. und 17. Jahrhundert 9 M.C[hristian].W. A[gricola]: Aethiopische Liebes- und Helden-Geschichte. Jena: Cuno, 1750. 10 Johann N. Meinhard: Theagenes und Chariklea. Eine aethiopische Geschichte in zehn Büchern. 2 Bde. Leipzig: Dyck, 1767. 11 Gemäß dem Ausleihbuch der Weimarer Bibliothek entlieh Goethe beide Übersetzungen im genannten Zeitraum, vgl. Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Bd. I. Berlin 1949, S. 315f., Anm. 1. 12 Vgl. Thomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt. Übers. von Kai Brodersen. Mainz 1987 (Kulturgeschichte der antiken Welt 36), S. 264f. 13 Vgl. die Aufstellung der Übersetzungen in Franz L.A. Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie. Erster Teil: Griechische Schriftsteller. Leipzig 1830; zum römischen Roman, der im vorliegenden Zusammenhang eine untergeordnete Rolle spielt, vgl. Franz L.A. Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie. Zweiter Teil, erste Abteilung: Lateinische Schriftsteller A-L. Leipzig 1832; Franz L.A. Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie. Zweiter Teil, zweite Abteilung: Lateinische Schriftsteller M-V. Leipzig 1834.
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keinesfalls zu unterschätzen ist.14 Von dieser beachtlichen literarischen Leistung also findet sich entweder gar kein oder zumindest kein lobendes Wort – eine Tendenz, die generell im 18. Jahrhundert gegenüber den Errungenschaften der Literaturproduktion des 16. und 17. Jahrhunderts zu beobachten ist. Über den Übersetzer des 1750er Textes, M.C.W. Agricola, ist nicht viel bekannt, außer, dass er über den Heliodor hinaus eine Proserpina-Abhandlung verfasst hat. Johann Christoph Gottsched bezieht sich in der 1751er Ausgabe seines Versuch[s] einer Critischen Dichtkunst, die 1730 zum ersten Mal erschienen war, im Kapitel „Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen“ auf die Übersetzung Agricolas und legt sie seinen Lesern ans Herz, preist er doch auch die Kunstfertigkeit Heliodors aufs Höchste: Das vollkommenste Stück in dieser Art [gemeint ist ein ‚Stück‘ mit medias-in-res-Einstieg, Anm. S.B.] aber hat uns Heliodor, in seiner äthiopischen Historie von Theagenes und der Chariklea hinterlassen. Nichts ist züchtiger und tugendhafter, als die Liebes dieses Paares; und dies sollte billig allen Romanschreibern nach der Zeit zum Muster gedienet haben. Man könnte sagen, diese Ehrbarkeit hätte man der christlichen Religion zu danken, der Heliodor zugethan gewesen; und darinn er sich durch besondere Verdienste bis zur bischöflichen Würde geschwungen: wenn es nicht unzählige andere schmutzige Nachfolger gegeben hätte, die sich nicht weniger, als er, Christen genennet. Sein eigenes tugendhaftes Herz muss ihm also einen Abscheu vor allen Unflätereien gemachet haben. […] Seine Fabel indessen zeiget eine reiche Erfindungskraft; alles ist darinn abwechselnd, neue, unvermuthet, wahrscheinlich, wohl eingefädelt, und glücklich aufgelöset. Die Auswickelung ist so schön, als natürlich, und beweglich; ja aus der Sache selbst hergeflossen. Huetius tadelt seine gar zu gekünstelte Schreibart, und seine gar zu vielen Beschreibungen. Allein wir glauben dem Photius lieber, der die erste gelobt hat.15
Heliodor könnte eigentlich mit seiner ‚reichen Erfindungskraft‘ gerade Gottsched verdächtig sein; dem ist aber nicht so, da sich der Stoff stets im Rahmen des Wahrscheinlichen bewege – bekanntlich eine zentrale poetologische Kategorie der Debatten der Frühaufklärung, die auch im Literaturstreit zwischen Gottsched und den Schweizern Bodmer und Breitinger keine unerhebliche Rolle gespielt hat. Diskussionen über die Wahrscheinlichkeit des Stoffes sind dabei keineswegs neu, im Gegenteil: Sie sind eine wichtige Ingredienz der Rezeptionsgeschichte Heliodors, und nicht selten ist hierbei das verisimile in die Nähe der lügenhaften fabula gerückt worden. Gottsched hingegen vermag die Kategorie im Sinne der Aufklärung neu zu perspektivieren und in ein positives Licht zu stellen. Zudem erscheint ihm der heliodorische Handlungsverlauf keinesfalls alogisch: Neue Wendungen erhielten die Spannung, der Spannungsknoten selbst werde aus der Sache selbst und demnach der Natur nach gelöst. Dem ordo artificialis wird gleichsam ein ordo naturalis der Konfliktbewältigung untergeschoben. Naturnähe und Wahrscheinlichkeit sind in der Gottsched’schen Lesart die zwei zentralen Charakteristika der Aithiopika
14 Vgl. den Beitrag von Seraina Plotke/Stefan Seeber in diesem Band. 15 Johann C. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4. sehr vermehrte Auflage. Leipzig: Breitkopf, 1751, S. 510.
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schlechthin, die den aufklärerischen gattungspoetologischen Präferenzen entgegenkommen. Diese werden last but not least von den Leitwerten der Tugend und der Tugendvermittlung gekrönt. Gottscheds Sicht auf Heliodor schließt sich Agricola in der Vorrede zu seiner Übersetzung in weiten Teilen an, und wenn Agricola gleich eingangs darauf hinweist, dass ihn „einige der berühmtesten Lehrer der Universität Leipzig“ zu dem Projekt „ermahnet“16 hätten, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass Gottsched bei Agricolas Unterfangen ganz handfest seine Finger im Spiel hatte. Auch Agricola weist auf die Anlage und Einrichtung des ganzen Werks, die Verschiedenheit der Nebenhandlungen, die Kunst, durch die sie mit der Haupthandlung verbunden sind, die artigen Gemählde und Beschreibungen, die so stark ausgedruckten Leidenschaften, die vielen schönen Gedanken und die künstliche [im Sinne von kunstvolle, Anm. S.B.] Entwicklung des Knotens17
hin. Das ‚Knotenproblem‘ ist hier mit der Fokussierung der kunstvollen Ausgestaltung des Handlungsverlaufs zwar etwas anders perspektiviert als bei Gottsched, der ja gerade den natürlichen Gang der Dinge lobt, doch greifen die beiden Pole im Sinne einer künstlerisch erzielten und dabei täuschend natürlichen Handlungslogik durchaus ineinander. Mit Pierre Bayle und dessen Dictionnaire-Artikel zu Heliodor weist er zudem einerseits jene Kritiker in die Schranken, die eine gewisse Pervertierung der Tugend in der Ohrfeige-Szene erkennen, namentlich Gabriel Guéret mit seinem Parnasse Reformé, andererseits jene, die den Roman für anrüchig halten18 – Agricola impliziert also, dass im Roman gleichsam das genau richtige Maß an Tugend zur Darstellung gebracht werde. Und tatsächlich plädiert er zuletzt, nachdem er auf breiter Quellenbasis die Verfasser- und Datierungsfrage diskutiert hat, für eine Erziehung des Lesers hin zur Gelehrsamkeit und, ungleich wichtiger, zur Tugend nach dem Beispiel der Keuschheit der Protagonisten. Erzielt werde dieser Effekt durch die Lektüre des „traurigen Endes der Demaenete und der Verzweiflung der Arsaze“, wodurch der Leser „das Laster verabscheut, welchen beyden das allerunglücklichste Verhängnis zuzog“19. In der Rede von der Verzweiflung der Figuren und den oben zitierten „stark ausgedruckten Leidenschaften“ klingt von Ferne das dramenpoetologische Programm Gottscheds an, nämlich dass die ‚tragische Fabel‘ dann gut gebaut sei, wenn der „Poet“ einen „moralischen Lehrsatz wähle, den er den Zuschauern auf sinnliche Weise einprägen will“, was dann erreicht werde, wenn die „Gemüts-Bewegungen der Zuschauer auf eine der Tugend gemäße Weise“20 erregt werden. Diese gattungsübergreifende poetologische Affinität kann aufgrund der strukturellen Nähe des Heliodortextes zum dramatischen Modus – über den wir auch schon einiges gehört
16 17 18 19 20
Agricola: Aethiopische Liebes- und Helden-Geschichte (Anm. 9), )(2r. Ebd., )(3r. Vgl. ebd., )(3r–)(4rf. Ebd., )(3r. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (Anm. 15), S. 161f.
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haben – kaum mehr überraschen. Wieder wird ein im antiken Text angelegtes Strukturmoment unter den Bedingungen des Aufklärungsjahrhunderts neu belebt und für übergeordnete poetologische Debatten fruchtbar gemacht. ‚Aktualisierung‘ ist nicht zuletzt das Stichwort, das trefflich Agricolas Übersetzungsprogramm zu charakterisieren scheint. Er spricht explizit von einem „neuen deutschen Kleide“21, in das er Heliodor gehüllt habe, markiert damit natürlich die Ablösung von Zschorn (ohne ihn je zu nennen), alludiert aber m.E. auch an Gottscheds zielsprachlich orientierte Übersetzungsauffassung. Mit der Vorstellung einer reibungslosen Einpassung in den deutschen Sprachraum und in das aufklärerische Kulturgefüge korrespondiert einerseits der Geltungsanspruch, den Agricola dem Roman mit seiner gefühlsbasierten moraldidaktischen Dynamik und deren Nähe zu aktuellen gattungspoetologischen Debatten zugesteht, sowie andererseits der grundlegend apologetische Duktus der Vorrede, die sich eben wie eine Verteidigungsschrift des Romans gegen seine Kritiker liest. Augenfällig wird dieses Programm im Motto auf dem Titel: „I know there are, to whose foolish thoughts Those beauties seem faults.“22 Das Zitat stammt aus Popes Versessay An Essay On Criticism und ist im Prätext auf das Phänomen der künstlerischen Abweichung von den Regeln der Natur bezogen: „I know there are, to whose presumptuous Thoughts Those Freer Beauties, ev’n in Them, seem Faults“.23 Mit der intertextuellen Referenz auf die künstlerische Freiheit ist auf das komplexe, u.a. nicht ab ab ovo hergeleitete Erzählgefüge des Romans angespielt, das, weil es in Gottscheds und Agricolas Sicht schlüssig und ‚wie von selbst‘ funktioniert, möglicherweise nur als eine kleine, verzeihliche Abweichung von der Natur zu verbuchen ist. Indem Agricola die zeitgenössische Kritik nicht nur auf den Titel seiner Übersetzung setzt, sondern die gesamte Argumentation seiner Vorrede auf den Stimmen der Kunstkritiker aufbaut, impliziert er zugleich die ungebrochene Relevanz des Textes für die eigene Gegenwart: Über einen antiquarisch in ferne Zeiten gerückten Text müssten sich die Gemüter nicht allzu sehr erhitzen. Anders stellt sich das Bild nun in der 17 Jahre später erschienenen Übersetzung von Johann Nikolaus Meinhard dar. Als Motto dient ihm ein Zitat aus einem HorazCarmen (1,13) – „Felices ter et amplius, Quos irrupta tenet copula!“ –, das Eifersucht und potentielle Trennung der Liebenden thematisiert und somit auf die historische Stoffseite des Romans referiert, nicht auf die zeitgenössische Rezeptionsseite, über die Agricola die Relevanz des Textes für die eigene Gegenwart zu suggerieren imstande war. Nun ist es keinesfalls so, dass Meinhard sich als kompletter Antagonist Agricolas gerierte, der ein Konkurrenzmodell für die oben ausgeführten Übersetzungs- und Rezeptionsmodi anböte. Vielmehr haben wir es bei ihm mit einem ungleich komplexeren Argumentationsgefüge zu tun.
21 Agricola: Aethiopische Liebes- und Helden-Geschichte (Anm. 9), )(4r. 22 Ebd., Titel. 23 So auch in Johann J. Eschenburg: Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Bd. III. Berlin, Stettin: bei Friedrich Nicolai, 1789, S. 119.
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Johann Nikolaus Meinhard (1727 bis 1767) gilt als einer der Vorreiter der ‚Italianistik‘ in Deutschland. Ständig auf Reisen u.a. durch Italien, Frankreich und England widmete er sein Leben seinen großen Übersetzungsprojekten, von denen er nur einen Bruchteil auch wirklich in die Tat umsetzen konnte. Sein umfangreichstes Vorhaben stellte mit Sicherheit die Übersetzung der größten Meisterwerke sämtlicher antiker und neuerer Literaturen dar, von denen er nur (und dies womöglich primär aus marktstrategischen Gründen) die Aithiopika-Übersetzung, aber auch die Übersetzung von Henry Homes Grundsätzen der Kritik und Gabriel-Henri Gaillards Geschichte Franz I., Königs von Frankreich realisieren konnte. Neben kleineren übersetzerischen und literaturkritischen Arbeiten gelten als sein Hauptwerk die Versuche über den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter (Braunschweig 1763–1764), also kritische Abhandlungen zu den größten Dichtern Italiens, die von Auswahlübersetzungen begleitet werden. Er selbst drang allerdings zu Lebzeiten nur bis Ariost vor, eine von fremder Feder ergänzte Fassung erschien posthum.24 Meinhard ist sowohl auf dem Gebiet der Übersetzung als auch auf dem der Kritik wohlbeschlagen, und so nähert er sich seinem Gegenstand Heliodor aus der Perspektive des Kritikers, der die poetisch-ästhetische Geltung seines Textes vielleicht nicht gleich verwirft, so aber doch fundamental infrage stellt. Denn Heliodor hat ein Problem: Auch wenn sein schieres Alter und sein Status als Vater des Romans ihn prinzipiell zum Gegenstand der Beschäftigung machen, so krankt er schlicht an seinem Status als unklassischer Autor. Meinhard preist durchaus seine „zarte Einbildungskraft“, sein „mehr fein als stark empfindendes Herz“, diagnostiziert dann aber „Spuren von dem Geschmacke der Sophisten“, die er eindeutig als Dekadenzphänomen einordnet, hätten sie doch um die Zeit, da der Geschmack auch unter den Römern anfieng zu fallen, an die Stelle der natürlichen Schönheiten, und der edlen Simplicität, die uns in den ältern Autoren der Griechen so sehr einnehmen, den gehäuften Schmuck und die Schminke der falschen Beredsamkeit eingeführt.25
In der ‚edlen Simplicität‘ klingt unverkennbar Winckelmann an, dessen Bekanntschaft Meinhard während eines längeren Romaufenthalts auch wirklich machen durfte. Ihm und seinem Bild einer idealen, klassischen Antike stehen die Künsteleyen der Beredsamkeit [entgegen], die unzeitigen Figuren der Rede, die gleich Irrlichtern vor dem Leser her schimmern, die Phantome der Einbildungskraft, welche die Natur nicht
24 Vgl. Franz Muncker: Meinhard, Johann Nicolaus. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. XXI. München, Leipzig 1885, S. 232–234. Zu Meinhard siehe auch die noch grundlegende Dissertation von Johanna Schneider: Johann Nicolaus Meinhards Werk über die italienischen Dichter und seine Spuren in der deutschen Literatur. Phil. Dissertation, Phillipps-Universität Marburg, 1911; Helmut Rehder: Johann Nicolaus Meinhard und seine Übersetzungen. Urbana 1953; Christian Rivoletti: Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia. Venedig 2014, insbes. S. 171–182. 25 Meinhard: Theagenes und Chariklea (Anm. 10), *3r.
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erkennt, die Subtilitäten des Witzes, die der Vernunft widersprechen, die findet man wohl ohne Genie, aber nicht die schöne Natur, nicht das Wahre in jeder Gattung.26
Ich meine, dass Gattung hier einerseits als ontologische, andererseits aber auch als literarische Einheit gelesen werden kann: Hyperrhetorisierung und ein ‚Zuviel‘ an Einbildungskraft – Fehler, denen auch Heliodor „in gesuchten Antithesen, in rhetorischen Declamationen, in zu blühenden Beschreibungen“27 aufsitze – können nicht mehr modellbildend wirken, wenn dadurch der Blick auf das Wahre im Roman und damit seinen Kern verstellt wird. Allerdings zeichne sich Heliodor doch im Unterschied zu den anderen griechischen Romanautoren durch ein glückliches Händchen bei der Stoffwahl, der ‚Anlage der Fabel‘, aus, durch die unerschütterliche Aufrechterhaltung der Tugend (wie auch der Spannung) sowie durch die klare und ‚richtige‘ Zeichnung der Charaktere – auch dies ein zutiefst aufklärerisches Anliegen; außerdem behalte er trotz des kunstvollen Baus des Handlungsverlaufs stets die Wahrscheinlichkeit im Auge. Meinhard historisiert jedoch den Wahrscheinlichkeitsbegriff radikal: Er spricht explizit von dem, was damals unter Wahrscheinlichkeit verstanden worden sei, und negiert so implizit die Anschlussfähigkeit des antiken Konzepts für zeitgenössische Debatten.28 Diese Logik der Historisierung und Antiquarisierung der Heliodorischen Spielart der Antike hat Konsequenzen für Meinhards Übersetzungstechnik: So versagt er sich jedweden Eingriff in den Stoff des Romans, auch wenn er mit der seines Erachtens ungebührlichen Ausdehnung der ‚Fabel‘ trotz allen Lobs für die Techniken der Ver- und Entwicklung der Handlung nicht einverstanden ist. „Endzweck“, so seine Formulierung, der Übersetzung sei, „unsern Autor zu zeigen, wie er ist“29, also die Historizität des Dargestellten auszustellen. Er geht sogar so weit zu konstatieren, dass eben dadurch […] dieser Roman noch besonders schätzbar [ist], dass er uns eine Menge treuer Gemählde von der Denkungsart, den Gebräuchen, den Vorurtheilen, dem privaten Umgange, dieser alten Völker giebt, und uns oft mitten unter sie versetzt.30
Nicht die Aktualisierung des Alten, sondern seine lebendige Darstellung in all seiner Alterität ist das Ziel, Irritationen beim Leser über „Sitten und die Meynungen“ von Heliodors Figuren werden mit dem Verweis auf eine längst vergangene Zeit akzeptiert und einfach im Sinne eines historischen Lerneffekts umgewertet. Dementsprechend sei es Aufgabe des Übersetzers, den „Sinn“ des Autors und „die eigne Farbe seines Stils“, die zwischen Natürlichkeit und selbstbezüglicher Artifizialität changiere (was in seinen Augen kritikwürdig ist), möglichst genau abzubilden. Eine reine Wort-für-Wort-Übersetzung sei eine „bloße griechische Sprachübung“; dem Sinn komme man durch die Lektüre entsprechender Heliodorkommentare (Bourdelot, Commelin) und die darauf gewendete eigene Urteilskraft nahe.31 26 27 28 29 30 31
Ebd. Ebd., *3v. Vgl. ebd., *5rf. Ebd., **2v. Ebd., **3r. Ebd., *7rf.
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Diese ausgangssprachlich fokussierte Übersetzungsauffassung steht der zielsprachlich orientierten Agricolas diametral entgegen.32 Laut Meinhard sei erst jetzt für die deutsche Sprache die Zeit gekommen, den historischen Gegenstand adäquat zu erfassen, und so wischt er mit einer Handbewegung nicht nur Zschorn, sondern auch Agricola beiseite: Eine deutsche Übersetzung haben wir schon vor zweyhundert Jahren gehabt, die itzt ganz unbekannt ist. Aber unsre Sprache der damahligen Zeit, die zwar schon ihre stärckern Farben und ihren männlichen Charakter, aber noch nicht ihre feinen Tinten hatte, war noch nicht geschickt, ein Gemählde, wie dieses, zu kopieren. Doch eben so wenig erkennt man auch dieses Gemählde in einer neuern deutschen Übersetzung, die zu Jena herausgekommen ist.33
Gemeint ist die von Agricola. Die deutsche Sprache – ergänze: die deutsche Literatur – hat also ihre ganz eigene Fortschrittsgeschichte vorzuweisen und kann es jetzt im Kopiervorgang endlich mit dem antiken Original aufnehmen. Auch wenn einzelne Strukturmomente des antiken Textes nach wie vor ihre poetisch-ästhetische Gültigkeit haben und in begrenztem Umfang poetologisches Orientierungswissen bereitstellen, so gilt es eben nicht für den ganzen Text und vor allem nicht dann, wenn den Übersetzer als Kritiker die Gattungspoetik, ja das Wesen und die ‚Wahrheit‘ des Romans in der Gegenwart interessiert. Die Engländer mit ihrer „neue[n] Gattung von Romanen […], die eigentlicher Geschichten des menschlichen Herzens genennt werden können“34, hätten, so Meinhard, Heliodor abgelöst und dessen Gründervaterfunktion als ‚zweiter Homer‘ übernommen. Sein Roman wird in vergangene Zeiten gerückt, archaisiert und ins kulturelle Archiv verschoben, und auch seine Sprache besitzt keine größere, gar musterhafte Relevanz mehr. An seine Stelle tritt nun Wielands Agathon, der während Meinhards Übersetzungstätigkeit erscheint und diesen zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Im Agathon erkennt er „das Werk einer reichen, glänzenden, nach dem schönsten griechischen Ideal gebildeten Phantasie“, und so reifte der „Entschluss, unsern guten Heliodor, von unsrer Seite wenigstens, in sein entferntes Griechenland zurück zu schicken“, denn: Selbst in der Stärke eines Griechen, der Phantasie und der Empfindung ist er ihm nicht gleich; an Philosophie darf nicht gedacht werden. Aber wir besannen uns nachher, dass man auch neben größern Leuten seiner eignen Nation einen Fremden noch gerne sieht […]. Außerdem ist dieser Fremde hier der erste Erfinder der Kunst; und wenn man den breiten und tiefen Rhein, nachdem er durch den Zufluß unzählbarer Gewässer gewachsen, neben dem schönen Mannheim bewundert hat, so sieht man doch noch mit Vergnügen seinen kleinen Ursprung in den einfachen Alpen.35 32 Zu den Übersetzungsauffassungen im achtzehnten Jahrhundert vgl. Andreas Poltermann: Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte. Hg. von Brigitte Schultze. Berlin 1987 (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 1), S. 14–52; Josefine Kitzbichler u.a.: Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800. Berlin, New York 2009 (Transformationen der Antike 9). 33 Meinhard: Theagenes und Chariklea (Anm. 10), *3vf. 34 Ebd., *3v. 35 Ebd., **4rf.
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Die beiden Heliodorübersetzungen von Agricola und Meinhard erlauben uns also einen Einblick in das ‚Laboratorium Aufklärung‘, in dem die aufklärerischen Leitprinzipien, Orientierungsmuster und Literaturstrategien vielfältigen Aushandlungsprozessen unterworfen sind, und legen so auch das grundlegende Dilemma des Klassizismus offen, nämlich die Orientierung an einer als musterhaft geltenden Antike mit dem Fortschrittsbewusstsein der Moderne zu vereinbaren. Die divergierenden Übersetzungstechniken, also Ausgangssprachenorientierung versus Zielsprachenorientierung, spiegeln dabei die beiden basalen Verfahren des Zugriffs auf die Antike: Eingemeindung und Aktualisierung stehen der Fixierung der Alterität und der Archivierung gegenüber, wobei sich in diesem Dualismus zugleich auch zwei verschiedene Antiken gegenüberstehen: Agricola aus dem Gottsched-Umkreis kann den Roman ohne Probleme in den zeitgenössischen Sprach- und Kulturraum einpassen, weil sein epistemologisches Telos weniger in der Romanform als Gattung als vielmehr in den aufklärerischen Werten sowie allgemein-poetologischen Kategorien besteht, die er punktuell im antiken Beispiel vorgebildet sieht und die beispielsweise ähnlich auch in anderen Gattungen, namentlich dem Drama, umzusetzen wären. Der antike Einzelfall wird aufgrund seiner entsprechenden Vorprägung zum Vehikel, zum Medium aufklärerischer (oder eher frühaufklärerisch-gottschedischer) Wirkabsichten. Meinhard hingegen begegnet dem antiken Text mit einem systematisch-gattungspoetologischen Interesse, das unweigerlich von der eigenen Gegenwart informiert ist, und einem vom einzelnen Fall unabhängigen Antikeideal à la Winckelmann, das er im unklassischen Heliodor nicht wiederfindet. So bleiben nach dem gescheiterten Versuch, in für andere Gattungen durchaus bewährter Manier die Gattung Roman mithilfe eines zwar historisch lokalisierbaren, aber doch überzeitlich gültigen Antikebildes zu vermessen, nur Trümmer, gewissermaßen gattungspoetologische Einzelteile, zurück. Es sind genau solche Bausteine, die in transformierter und rekombinierter Form, aber immer noch erkennbar, im emphatisch als neu und modern beworbenen Agathon-Roman weiterleben, auch wenn dieser sich ‚öffentlich‘ vom heliodorischen Schema längst verabschiedet hat. Dann kann es kaum mehr überraschen, dass Wieland selbst in seiner eigenen Übersetzungstätigkeit zwischen Annäherung und Entfremdung, zwischen Ziel- und Ursprungssprachlichkeit schwankt.36
36 Mit Blick auf Wielands Übersetzungspraxis zwischen der Orientierung an Ziel- und Ursprungssprache hat Manuel Baumbach Wielands Lukian als „literarischen Hippokentauren“ bezeichnet, Manuel Baumbach: Annäherungen an Wielands Lukian. Zum wirkungs- und rezeptionsästhetischen Umgang mit Übersetzungen aus der Weimarer Klassik. In: Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Martin Harbsmeier u.a. Berlin, New York 2008 (Transformationen der Antike 7), S. 81–102, hier S. 98.
WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE UND DAS HELIODORISCHE ROMANSCHEMA Thomas Borgstedt 1. IN MEDIAS RES: DIE UMGESTALTUNG DER THEATRALISCHEN SENDUNG Man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass das heliodorische Romanschema in der Literatur der Moderne keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Vielleicht erinnern noch die actionreichen Eröffnungssequenzen der James-Bond-Filme an das alte medias-in-res-Schema. Sie geben in der Regel einen erklärungsbedürftigen Auftakt zum nachfolgenden abenteuerlichen Geschehen der Handlung. Dieses läuft aber dann gewöhnlich chronologisch ab und verzichtet auf nachholende Vorgeschichten. Und dass die Filme immer mit einer Art Hochzeitsparodie enden, lässt sich nur ähnlich oberflächlich auf das vormoderne Schema beziehen, wie das Happy-End-Schema insgesamt. Dass das heliodorische Erzählschema in der Moderne keine rechte Verwendung mehr findet, hat tieferliegende Gründe, die mit den metaphysischen Voraussetzungen des Schemas zusammenhängen. Die Hochphase seiner Bedeutung kam ihm in der Frühen Neuzeit zu, als es das entscheidende Strukturmodell für die Gestaltung der großen höfisch-heroischen Romane lieferte. Wesentlich war daran, dass der Gegensatz zwischen den abenteuerlich-verwickelten und mannigfach verrätselten Vorgeschichten einerseits und den triumphal inszenierten Schlussapotheosen aus multiplen Hochzeiten andererseits unmittelbar die ‚barocke‘ Illusionierungs- und Desillusionierungsästhetik zum Ausdruck zu bringen vermochte.1 Der frühneuzeitliche höfische Roman ist strukturell an das christliche Vorsehungsdenken der Zeit gekoppelt. Eine diesem Vorsehungsdenken verwandte Prädestinationsvorstellung liegt bereits in der Antike auch dem im stoizistischen Denken wurzelnden heliodorischen Romanschema zugrunde. Grundsätzlich vermag dies zu erklären, warum das Erzählmuster seit dem Zeitalter der Aufklärung als Modell dysfunktional geworden ist. Betrachtet man die bevorzugten Romanmodelle des 18. Jahrhunderts, so steht hierbei – folgt man Manfred Engel – die „Neubegründung des Wahrscheinlichkeitspostulats“ durch eine „stringente Handlungsorganisation“ und „psychologische
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Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 121), S. 127f.
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Vertiefung der Romanfiguren“ im Zentrum.2 Das Vorsehungsmotiv wird demgegenüber zunehmend für metaphysisch und unglaubwürdig gehalten. Folglich findet man kaum noch Beispiele für eine unmittelbare literarische Umsetzung des heliodorischen Romanmusters mit seiner traditionellen Vorsehungsordnung und den damit verbundenen heilsgeschichtlichen Prämissen. Eine Ausnahme und gleichzeitig eine Bestätigung dafür bildet im 18. Jahrhundert Christoph Martin Wieland mit seiner Geschichte des Agathon (1766/67). Wieland legt seinem Roman eine gleichsam parodistische Umkehrung wichtiger heliodorischer Merkmale zugrunde. So tritt an die Stelle des heroischen und moralisch-erbaulichen Charakters der Aithiopica ein dezidiert antiheroisches, epikureisch akzentuiertes Projekt. Das „Ende“ des heliodorischen Romanmodells im Zeitalter der Aufklärung scheint ein endgültiges zu sein. Denn auch für die Literatur der Moderne ist eine Aktualisierung des traditionellen Modells nicht mehr einfach umsetzbar. Systematische Studien dazu wären interessant. Umso erstaunlicher und wenig diskutiert ist die Tatsache, dass das heliodorische Modell in Johann Wolfgang Goethes epochemachendem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1795 eine entscheidende strukturbestimmende Rolle spielt. Goethes Meister scheint literaturgeschichtlich auf den ersten Blick eher auf die Zukunft vorauszudeuten, als dass er auf traditionelle Erzählvorbilder zurückwiese. Nicht diese standen meist im Blickpunkt des literaturgeschichtlichen Interesses, sondern sein prägender Charakter für die Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert. Goethes Roman wird zum unmittelbaren Vorbild der romantischen Künstlerromane von Ludwig Tieck, Novalis oder Clemens Brentano. In weiterer Perspektive wird er zum Muster des deutschen Bildungsromans, der für die deutschsprachige Literatur eine prägende Rolle gespielt hat. In beiden Fällen steht vor allem die Ausbildung des bürgerlichen Individuums und seiner Subjektivität im Zentrum des Interesses.3 Hinter dieser Entwicklung und ihrer Perspektivierung ist die Gedankenwelt der idealistischen Subjektphilosophie der Zeit zu erkennen. Der deutsche Roman des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich gerade in seiner Ausrichtung auf das Subjekt und seine Innerlichkeit vom Empirismus und vom Rationalismus der breiteren europäischen Entwicklungen. Für die nachfolgende, an den Wilhelm Meister anschließende deutsche Romantradition des Bildungs- und Künstlerromans ist im Gegensatz zu ihrem Vorbild meist keine strukturbestimmende Funktion des heliodorischen Romanmodells mehr festzustellen. Auch hier fehlen entsprechende Untersuchungen. Vielmehr dominiert das Interesse an der seelischen Entwicklung der jeweiligen Protagonisten, an ihrer
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Manfred Engel: Roman. In: Fischer Lexikon Literatur. III Bde. Hg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a. M. 1996, S. 1669–1709, hier S. 1685. Vgl. dazu stellvertretend: Wilhelm Voßkamp: Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 337–352; Ortrud Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman. Darmstadt 2007, S. 26–32.
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Künstlernatur und Außenseiterexistenz, für die das heliodorische Muster keine unmittelbare Funktion besitzt. Woher dann aber das Interesse Goethes? Und was leistet das Modell für seinen Roman? Im Wesentlichen scheint das heliodorische Erzählmuster dem Meister-Roman eine abenteuerliche Textur und Rätselstruktur zu verleihen. Eine solche wäre dem bloß chronologischen Fortgang der Bildungsgeschichte des Helden anders nicht so leicht zuzueignen gewesen. Diese Erzählstruktur verleiht dem Roman seine eigenwillige Ordnung. Sie hilft aber auch dabei, das Seelenleben des Protagonisten in seiner inneren Entwicklung zu entfalten. Das heißt, sie hilft beim Entwurf und bei der Erzählung einer komplexen Psychologie des Romanhelden, wie zu zeigen sein wird. Die Forschung zum Wilhelm Meister hat sich gerade wegen der langfristigen Konzentration auf das Modell des Bildungsromans eher wenig mit dem heliodorischen Erbe des Werks befasst. Erst in jüngerer Zeit hat sich das geändert. Felicitas Igel hat 2007 eine umfangreiche Untersuchung ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ im Kontext des hohen Romans vorgelegt, die bei Theodor Verweyen in Erlangen entstanden ist.4 Hier findet man systematisch zusammengestellt nahezu alle Entsprechungen und Parallelen, die für das Thema relevant sind. Gleichwohl bleiben manche Schwerpunktsetzungen und Schlussfolgerungen der Arbeit zu hinterfragen. Für Igel steht nicht nur das heliodorische Vorbild im Zentrum des Interesses. Sie möchte in der Hauptsache eine Abhängigkeit vom höfisch-historischen Roman des 17. Jahrhunderts nachweisen, insbesondere von Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel ab 1677 erschienenem Roman Die Römische Octavia. Es handelt sich um den wohl berühmtesten der deutschen höfischen Barockromane, der qua Gattungsmuster das heliodorische Schema in breitester Weise umsetzt. Ein letzter Band dieses monumentalen Romans kam noch 1762 heraus. Goethe erwähnt den Roman Anton Ulrichs ausgerechnet in Wilhelm Meisters Lehrjahren als Lektüre der Protagonistin im Kapitel der Bekenntnisse einer schönen Seele.5 Der Nachweis konkreter Bezüge zu diesem Werk fällt in Igels Dissertation allerdings durchgängig recht kleinteilig aus und wirkt – da die Bezüge oft nur punktuell sind – nicht immer überzeugend. Insofern stellt sich die Frage, worin der Gewinn einer solchen einzeltextbezogenen Ableitung letztlich liegt. Interessanter erscheint dagegen der Bezug auf das heliodorische Romanmodell insgesamt. In Anlehnung an Klaus Hempfer kann man anstelle eines Einzeltextbezugs von einem Bezug auf das heliodorische ‚Erzählsystem‘ sprechen.6 Diesbezüglich müsste die Frage dann lauten, welche Funktion ein solcher Bezug zu einer Zeit
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Felicitas Igel: Wilhelm Meisters Lehrjahre im Kontext des hohen Romans. Würzburg 2007. Johann W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: ders: Werke. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. VII. 10. Auflage. München 1981 (im folgenden zitiert als WML für Wilhelm Meisters Lehrjahre mit Seitenzahl), S. 360. In Anlehnung an Hempfers Begriff des „petrarkistischen Systems“; vgl. Klaus W. Hempfer: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hg. von Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle. München 1987, S. 253–277; sowie zahlreiche weitere Publikationen.
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haben konnte, als dieses heliodorische System als grundsätzlich dysfunktional aufgefasst wurde. Diesbezüglich erscheint die Antwort von Igel als allzu defensiv beziehungsweise traditionsfixiert. Letztlich hält sie an der Idee fest, Goethe habe mit der aktualisierenden und ausgesprochen innovativen Bezugnahme auf das alte Muster eine Aufwertung und Nobilitierung der Romangattung im allgemeinen bezweckt.7 Damit ist allerdings zu wenig gesagt, denn eine solche Zielsetzung erscheint allzu unspezifisch. Eine Aufwertung und Nobilitierung der Romangattung war auf sehr verschiedenen Wegen möglich und die intertextuellen Bezüge des Wilhelm Meister sind in dieser Hinsicht reichhaltig. Die Gattung des Romans wurde durch die Einbeziehung des Hamlet in die Wilhelm-Meister-Handlung weit eher aufgewertet, als durch einen veralteten Heliodor. Die Frage muss deshalb vielmehr lauten, welche spezifische Leistung das heliodorische Schema für das erzählerische Anliegen Goethes erbrachte. Mit poststrukturalistischem Akzent hat Cornelia Zumbusch die Technik der nachgeholten Vorgeschichten in den Romanen von Wieland, Goethe und Adalbert Stifter untersucht.8 Dabei bezieht sie die verwandelte Funktion der Vorgeschichten auf das im 18. Jahrhundert veränderte Geschichtsbewusstsein, auf die Wahrnehmung eines beschleunigten Zeitverlaufs und auf den Entwicklungsprozess des einzelnen Individuums im Modell des zeitgenössischen Bildungsromans. Sie stellt damit ebenfalls den grundlegenden Gegensatz der statischen Ordnungsvorstellung des vormodernen Musters gegenüber den historischen Entwicklungsmodellen der modernen Romane heraus.9 Zumbusch beschreibt als Konsequenz der Entwicklungsmodelle der Romane dann allerdings vornehmlich einen „Bruch zwischen natürlichen und kulturellen Ordnungen“,10 eine „notwendige[] Selbsttäuschung“ der Protagonisten bezüglich der eigenen Leidenschaften,11 eine entsprechende „Erinnerungsverweigerung“12 und somit vor allem eine libidinöse Verdrängungsstruktur des Bildungsprozesses. Dies liest die ‚Entwicklung‘ der Protagonisten der Bildungsromane kritisch im Sinn einer romantisch geprägten Verlustgeschichte. Fragen bezüglich der möglichen Leistungsfähigkeit beziehungsweise der Inkompatibilität des überkommenen, an traditionellen ordo-Strukturen orientierten heliodorischen Erzählmodells im Kontext des modernen Geschichtsbewusstseins der Bildungs- und Entwicklungsromane werden dabei nicht gestellt. 7 8
Vgl. das Fazit: Igel: Wilhelm Meisters Lehrjahre (Anm. 4), S. 703–709. Cornelia Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge. Vorgeschichten im Roman (Wieland, Goethe, Stifter). In: Poetica 43 (2011), S. 267–299. 9 Dass sich die individuelle Entwicklung des Protagonisten dabei „als stetige Entfernung von einer ‚ursprünglichen‘ Natur vollziehen soll“ (ebd., S. 271), hypostasiert diese Natur allerdings zu sehr als einen ursprünglichen und statischen Zustand. Die emphatisch auf ‚Entwicklung‘ zielenden Romane von Wieland und Goethe entwerfen dagegen gerade die Vorstellung einer Entwicklung des natürlich Gegebenen selbst. Goethes wenig späteres Konzept der Pflanzenmetamorphose ist ebenso ein Beispiel dafür wie der komplexe, an Naturvorstellungen orientierte Bildungsgedanke innerhalb des Wilhelm Meister. 10 Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge (Anm. 8), S. 286 unter Bezug auf die Gestalt der Mignon. 11 Ebd., S. 279 unter Bezug auf Wielands Agathon. 12 Ebd., S. 289 unter Bezug auf Agathon und Wilhelm Meister.
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2. MEDIAS-IN-RES-EINGANG UND NACHGEHOLTE VORGESCHICHTEN Der medias-in-res-Eingang von Wilhelm Meisters Lehrjahren ist auch deshalb markant, weil im erst über hundert Jahre später aufgetauchten Fragment der Erstfassung des Romans Wilhelm Meisters theatralische Sendung noch völlig anders verfahren wurde. Hier wurde Wilhelms Lebensgeschichte ab ovo erzählt.13 Genaugenommen traten sogar Wilhelms Großeltern noch vor ihm selber auf. Insofern stellt der medias-in-res-Eingang eine deutliche strukturelle Modifikation dar. Die ersten Sätze des Romans lauten nun: Das Schauspiel dauerte sehr lange. Die alte Barbara trat einigemal ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln wollten. Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin (...). (WML 9)
Der Roman beginnt kurz vor einem nächtlichen Rendezvous Wilhelms mit seiner Schauspielerin-Geliebten Mariane. Zunächst erwartet Marianes Gesellschafterin noch deren Eintreffen, die Umstände werden kurz eingeführt. Wie sich am Ende des Romans herausstellen wird, ist es eine entscheidende Nacht in Wilhelms Werdegang, denn Mariane gibt sich ihm hin und sein Sohn Felix wird in dieser Nacht gezeugt. Das Geschehen um die beiden Liebenden bildet das gesamte erste von acht Büchern des Romans. Eingearbeitet in dieses Erste Buch ist auch eine umfangreiche Vorgeschichte. Wilhelm erzählt seiner Geliebten Mariane und der alten Barbara an diesem Abend ausführlich die Geschichte seiner Begeisterung für das Theater. Diese reicht bekanntlich bis in seine Kindheit zurück, als er ein Puppenspiel geschenkt erhielt. Goethe fügt also die Geschichte von Wilhelms Theaterbegeisterung aus der Urfassung seines Romans als gesprächsweise erzählte Vorgeschichte in die medias-in-res-Szenerie ein, noch bevor man gemeinsam zu Bett geht. Gleichwohl ist hier ein wesentlicher Unterschied zum heliodorischen Modell festzuhalten. Die erzählte Vorgeschichte dient keineswegs dazu, ein mit der Eröffnungshandlung gestelltes Rätsel durch Rückblenden aufzuklären. Die Liebesszenerie ist in keiner Weise rätselhaft. Die rückblickende Erzählung hat eine völlig andere Funktion. Sie eröffnet den Blick auf die individuellen Charaktereigenschaften des Protagonisten. Am Ende des Romans formuliert eine Figur, als sie ihr Leben erzählen will, dies gleichsam sentenzenhaft, wenn sie sagt: „Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter“ (WML 443). Dies ist eine gänzlich moderne, psychologische Motivierung der individuellen Vorgeschichte, die weit entfernt ist von der heliodorischen, undurchsichtige Handlungszusammenhänge und ungelöste Rätsel aufzuklären. Doch der Wilhelm Meister arbeitet auch mit romanüberspannenden Rätselstrukturen. Roland Barthes hat solche Rätsel-Aufklärungsstrukturen als „hermeneutischen Code“ einer Erzählung bezeichnet.14 Das romanüberspannende Rätsel stellt
13 Johann W. Goethe: Werke. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. VIII. 10. Auflage. München 1981, S. 487; vgl. entsprechend auch Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge (Anm. 8), S. 281. 14 Roland Barthes: S/Z. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Frankfurt a. M. 1976, S. 23.
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sich im Wilhelm Meister erst mit dem überraschenden Schluss des ersten Romanbuchs. Als Wilhelm die Existenz seines Nebenbuhlers entdeckt, verlässt er Stadt und Geliebte ohne weitere Nachricht. Ihr weiteres Schicksal aufzuklären, wird ihn bis zum Schluss des Romans umtreiben. Erst als er im letzten Buch zufällig die alte Barbara wiedertrifft, erfährt er von der Geburt seines Sohnes, von der Treue Marianes und ihrem unglücklichen Tod (WML 472f.). Wie hat man den heliodorisierenden Eingang zu bewerten? Das Erste Buch enthält sowohl einen medias-in-res-Eingang als auch die nachgeholte Vorgeschichte zu Wilhelms Theaterleidenschaft. Beides – und eine Reihe anderer, auch vorausdeutender Motive des Ersten Buchs – zielt auf eine Charakterisierung der Hauptfigur des Romans. Dabei besitzt sogar die Liebe zur Schauspielerin Mariane eine diesbezügliche symbolische Valenz. So heißt es wörtlich: „(...) seine Leidenschaft zur Bühne verband sich mit der ersten Liebe zu einem weiblichen Geschöpfe“ (WML 11). Mariane symbolisiert geradezu seine Theaterleidenschaft. Das unaufgeklärte Rätsel des Romananfangs stellt sich am Ende des Ersten Buchs. Es ist die Frage nach dem Verbleib Marianes nach ihrer Trennung. Die Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden ist ein konstitutives Motiv heliodorischen Erzählens. Ein ähnliches Motiv spielt auch in Goethes Roman eine zentrale Rolle. Der mediasin-res-Eingang dagegen hat eine von Heliodor grundsätzlich verschiedene Funktion. Er ermöglicht es, das symbolisch signifikante Thema der Marianeliebe prominent am Romananfang zu platzieren. Die eher behäbige Kindheitsgeschichte Wilhelms wird dagegen herabgestuft und als mit Unterbrechungen erzählte Vorgeschichte in diese lebendige Szenerie eingefügt. Weder das medias-in-res noch die Vorgeschichte konstituieren einen hermeneutischen Code. Beide dienen vielmehr der komplexen Charakterisierung der Hauptfigur. 3. PSYCHOLOGISCHE ANALYTIK UND MYTHOLOGISCHES PERSONAL Goethes Wilhelm Meister hat einen wichtigen Stellenwert für die Analytik des Innerpsychischen in modernen Erzähltexten. Die Darstellung der individuellen Empfindungen und der subjektiven Innenwelt ist eine der wichtigsten erzählerischen Herausforderungen der Literatur des 18. Jahrhunderts. Sie führt unter anderem zur epochalen Konjunktur der Form des Briefromans.15 Man verließ sich zunächst bevorzugt auf Ego-Texte, um Einblicke ins Seelenleben zu gewinnen. Unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten waren es am ehesten solche introspektive Textsorten wie der Brief oder das Tagebuch, die das leisten konnten.16 Am Ende dieser 15 Stellvertretend für die reichhaltige Literatur: Gerhard Sauder: Briefroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke. Bd. I: A–G. Berlin, New York 1997, S. 255–257; Thomas O. Beebee: Epistolary Fiction in Europe. 1500–1850. Cambridge 1999; Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Hg. von Gideon Stiening. Berlin u.a. 2012 (Frühe Neuzeit 176). 16 Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson. In: Antike und Abendland 26 (1980), S. 138–157.
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Tradition steht auch Goethes Jugendroman, Die Leiden des jungen Werther. Er setzte in der erzählerischen Ausfaltung der Innenwelt neue Maßstäbe. Doch er misstraut letztlich im Gegensatz zu seinen Gattungsvorbildern bereits dem Medium des Briefes. In der Kommunikation zwischen den Liebenden – das heißt dort, wo sich die Wahrheit der inneren Empfindung am unmittelbarsten ausspricht – setzt er stattdessen auf die persönliche Begegnung der Liebenden und – als Steigerungserfahrung – auf die Begegnung mit der Poesie. Am intimsten begegnen sich Werther und Lotte in der Klopstock-Szene und bei der leidenschaftlichen Ossian-Lesung Werthers. Das ist – und ich gebe damit ein komplexes Argument verkürzt wieder – ein erzählerisches Novum in der Tradition des Briefromans. Und hier lässt sich eine Brücke vom Werther zum Wilhelm Meister schlagen. Die Poesie als Medium der psychischen Innenwelt und der Liebe bestimmt den Meister-Roman von Beginn an – mit dem Thema der Theaterleidenschaft, mit zahlreichen intertextuellen Bezügen auf große poetische Vorbilder, mit dem durchgängigen Einschub von Lyrik, also mit all dem, was die Romantiker am Wilhelm Meister begeistern sollte. Fortan ist es nicht mehr das Briefeschreiben, sondern die Poesie, die das Innenleben der Protagonisten am intensivsten zum Ausdruck bringt. Das Paradigma wandelt sich vom subjektiven und multiperspektivischen Briefroman zum auktorial erzählten Künstlerroman. Was genau ersetzt aber nun die Analytik des Innenlebens, das im Briefroman noch die Briefe der Liebenden verkörpert haben? Im Wilhelm Meister ist es eine Mythisierung des Innerseelischen auf verschiedenen Ebenen. Eine grundlegende Ebene bildet dabei die mythisch-traumatische Disposition des Helden. Hans-Jürgen Schings und andere haben diese herausgearbeitet: bedeutsam ist hier das Gemälde der Heilung des kranken Königssohns, das ein romanüberspannendes Syntagma generiert.17 Es handelt sich um eine seelische Heilungsgeschichte, die mit Wilhelms Bildungsgeschichte zusammenfällt. Verknüpft ist die Heilungsgeschichte mit seinem Verletzungstrauma. Dieses wird durch das Erlebnis des Verlusts der Geliebten im ersten Romanbuch konstituiert. Hier verlässt Wilhelm seine Geliebte Mariane aufgrund seiner fehlgeleiteten Eifersucht, wodurch er in durchaus tragischer Weise ihren späteren Tod herbeiführt. Auch seine folgenden Geliebten wird er jeweils verletzen. Es handelt sich dabei um ein durchlaufendes Motiv der Erzählung. Dieses Motiv wird durch einen symbolischen Bezug auf Tassos Gerusalemme liberata gleich im Ersten Buch ausdrücklich formuliert. Wilhelm berichtet hier von seiner jugendlichen Begeisterung für Tassos Epos. Angesichts der irrtümlichen Tötung Chlorindes durch Tankred formuliert Wilhelm, dass Tankred „vom Schicksal bestimmt sei, das, was er liebt, überall unwissend zu verletzen!“ (WML 27). Ebendies 17 Hans-Jürgen Schings: Agathon, Anton Reiser, Wilhelm Meister. Zur Pathologie des modernen Subjekts im Roman. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1984, S. 42–68; ders: Wilhelm Meisters schöne Amazone. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 29 (1985), S. 141–206; ders: Natalie und die Lehre des † † †. In: Jahrbuch des Wiener Goethevereins 89/91 (1985/87), S. 37–88; Volker Zumbrink: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen Wilhelm Meisters theatralische Sendung und Wilhelm Meisters Lehrjahre. Münster 1997 (Zeit und Text 10).
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prägt in der Folge auch Wilhelms weiteren Weg. Das Motiv repräsentiert zugleich seinen anfänglichen Schicksalsglauben, den es im Lauf seiner weiteren Entwicklung zu überwinden gilt. Eine zweite Ebene der erzählerischen Darstellung des Innerseelischen neben der syntagmatischen Heilungsgeschichte bildet das gesellschaftliche Setting der Handlung, das von der Theatergesellschaft über den Grafenhof bis zur Turmgesellschaft reicht. Dieses begleitet die innere Entwicklung Wilhelms und repräsentiert sie zugleich auf symbolische Weise. Mit diesem gesellschaftlichen Setting ist das entsprechend vielfältige Romanpersonal verknüpft. Ab dem Zweiten Buch handelt es sich dabei zunächst um die bunte Theatergesellschaft. Hier kommt aber bereits ein Weiteres hinzu, das die Forschung der letzten Jahrzehnte immer deutlicher aufgedeckt hat. Das Figurenarsenal, das Wilhelm durch den Roman hindurch begleitet, ist in eminenter Weise symbolisch aufgeladen beziehungsweise allegorisiert. Die Figuren in Wilhelms Umfeld erscheinen gleichsam als personifizierte Verkörperungen von Wilhelms Innenwelt.18 Sie bilden eine Art nach außen gestülpter Psychologie. Das Medium dieser symbolhaften Gestaltung des Personals aber ist die klassische Mythologie, mit anderen Worten: Wilhelms Begleiter sind Repräsentanten der antiken Götterwelt, die wiederum innere Seelenkräfte vertreten. Ich will das zentrale Tableau im Folgenden nur kurz benennen. Mit dem Beginn des Zweiten Buches tritt ein Bündel neuer Figuren in den Roman ein. Praktisch gleichzeitig tauchen Mignon, Philine, Friedrich und Laertes auf. Mit Philine tritt eine unverkennbare Verkörperung der Venus in die Handlung ein, die für oberflächliche Sinnlichkeit und Liebe einsteht. In ihrer Gesellschaft finden sich mit dem losen Knaben Friedrich und dem Fechtmeister Laertes sowohl eine Cupido- als auch eine Marsfigur, die das Venusgefolge komplettieren. Zugleich tritt die zentrale Figur der Mignon ins Blickfeld, zu der sich die rätselhafte Gestalt des Harfners gesellt. Gemeinsam sind sie Teil der von Friedrich Schlegel so genannten „Heiligen Familie der Naturpoesie“.19 Der Harfner erscheint dabei als Orpheusfigur, eine Verkörperung der dunklen, tragischen Züge der Poesie. Im Fall der Mignon hat Hannelore Schlaffer darauf hingewiesen, dass es sich in wesentlichen Aspekten um eine Verkörperung der Gestalt der Psyche handele. Auch Mignon ist aber eine Poesiefigur, die sowohl durch artistisches Können als auch durch eine tiefe innere Sehnsucht gekennzeichnet ist.20
18 Hellmut Ammerlahn: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Struktur, Symbolik, Poetologie. Würzburg 2003, S. 96–103. 19 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. II: Charakteristiken und Kritiken. München 1967, S. 146 (ursprünglich: Athenaeum. Hg. von August W. Schlegel, Friedrich Schlegel. Bd. I. Berlin: Friedrich Vieweg der Ältere, 1798, S. 178). 20 Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Stuttgart 1980; Rainer Kawa: Wilhelm Meister und die Seinigen. Studien zu Metamorphose und Spiegelung beim Figurenensemble der Lehrjahre. Der griechische Liebesroman von Johann Wolfgang von Goethe. Bucha bei Jena 2000, S. 60; Ammerlahn: Imagination und Wahrheit (Anm. 18), S. 305–346.
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Ein ähnlicher mythologischer Reigen zeichnet auch die Personenkonstellation am Ende des Romans aus. Wilhelms neue ‚Familie‘ im Umfeld der Turmgesellschaft repräsentiert ebenfalls eine Art Viergestirn der selben klassischen Gottheiten, die nun gleichsam gereift und erwachsen erscheinen. So kehrt die Götterquaternität aus Venus und Amor, Mars und Minerva am Ende des Romans in den Figuren der schönen Gräfin, des herangewachsenen Friedrich, Lotharios und Natalies wieder. Die Angehörigen seiner Zielfamilie repräsentieren damit auf allegorische Weise die seelische Entwicklung und Metamorphose, die Wilhelm im Roman durchgemacht hat. Im Blick auf das Vorbild Heliodors kommt es hier nur auf eines an: Wilhelms Bildungs- und Entwicklungsroman ist vordergründig ein abenteuerlicher Theater-, Künstler- und Liebesroman. Er ist darüberhinaus aber vor allem ein symbolischallegorisch-mythologischer Seelenroman. Was nun kann bei einem solchen Sujet das heliodorische Romanschema mit seinen Rätselstrukturen und seiner Vorsehungsbezogenheit noch leisten? Die Antwort, dass es zur Nobilitierung der Romanform beitrage, erscheint wenig plausibel. Der Wilhelm Meister ist derart angefüllt mit klassischen und modernen literarischen und künstlerischen Bezügen, Bezügen auf Epos und Tragödie, Tasso und Shakespeare, auf Lyrik und Erzählkunst und auf einen emphatischen Begriff der Poesie, dass der Rückgriff auf das Erzählschema des höfischen Romans hier nicht viel zur Aufwertung hätte beitragen können – eher im Gegenteil. 4. DIE HELIODORISCHEN ERZÄHLMUSTER Der Wilhelm Meister-Roman bedient sich trotz dieser Konstitution aber nun tatsächlich zahlreicher traditioneller Erzählmuster des heliodorischen Modells. Dies betrifft etwa die Verwendung eines romanübergreifenden Spannungsbogens rund um die Wiedervereinigung der getrennten Liebenden. In den spätantiken und den frühneuzeitlichen höfisch-heroischen Romanen bilden diese Spannungsbögen jeweils eine zirkuläre Struktur, die auf die Wiederherstellung einer ursprünglichen Ordnung bzw. einer initialen Liebe zielt. Eine solche zirkuläre Struktur widerspricht jedoch im Kern dem elementaren Entwicklungsgedanken des Goetheschen Romans. Fragt man sich, was ein solches Trennungs- und Wiedervereinigungs-Syntagma für diesen Roman leisten kann, so hilft eine kontrafaktische Überlegung. Die Bildungs- und Entwicklungsgeschichte des Protagonisten entfaltet sich chronologisch als eine stufenweise Emporentwicklung seiner Persönlichkeit. Eine solche lineare Entwicklung bietet erzählerisch wenig Prägnanz. Sie lässt an eine Art Stationendrama oder einen ‚Stationenroman‘ denken. Diesen Eindruck vermittelt tatsächlich die erste Fassung des Romans, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Demgegenüber verleiht der Erzählbogen des heliodorischen Modells dem Ganzen eine Rätsel- und Spannungskurve, die grundsätzlich Interesse und Unterhaltung generiert. Darüberhinaus erlaubt dieser Erzählbogen die Akzentuierung bestimmter
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symbolisch bedeutsamer Aspekte des Geschehens. Dies zeigt eine genaue Betrachtung des Trennungs- und Wiedervereinigungs-Syntagmas im Wilhelm Meister. Am Ende des Ersten Buches verlässt Wilhelm seine Mariane. Ihr weiteres Schicksal bleibt bis zum Ende des Romans ungewiss. Immer wieder meint er, Spuren von ihr zu entdecken oder sie irgendwo wiederzuerkennen, aber jedesmal täuscht er sich. Mariane ist folglich die verlorengegangene Geliebte, die ein Trennungs-Syntagma generiert. Anders allerdings, als im klassischen Liebesroman, wird Wilhelm sie nicht wiederfinden. Es setzt vielmehr im Roman der Gedanke der seelischen Fortentwicklung und Metamorphose ein, der die Goethesche Bildungsvorstellung prägt. Nachdem Mariane verschwunden ist, begegnet Wilhelm wie bereits geschildert seinem mythologischen Seelenpersonal. Darunter ist Mignon, die gleichsam sein verwundetes Herz personifiziert. Ihr Aggregatzustand ist von Beginn an derjenige der Sehnsucht und des Verlusts. Ihr Italienlied Kennt ihr das Land, wo die Zitronen blühn zeugt von dieser elementaren Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat. Nach dem Überfall durch die Räuber erblickt Wilhelm schließlich die schöne Amazone, die seine Wunde verbindet. Er erlebt diese Begegnung als eine epiphanieartige Erscheinung. Die unbekannte Schöne tritt fortan in die Rolle der verloren gegangenen Geliebten ein. Sie generiert ein weiteres erzählmächtiges Trennungs-Syntagma. Dieses ist nun zusätzlich mit einem hermeneutischen Code belegt. Die schöne Amazone ist nicht nur fort, die Identität dieser Dame ist zudem unbekannt und muss aufgedeckt werden. Dies geschieht erst am Ende des Romans im Kreis der Turmgesellschaft. Die schöne Unbekannte wird Wilhelms Braut Natalie sein. Indem er Natalie findet, vollzieht sich die Heilung des kranken Königssohns, verschwinden auch Mariane und Mignon. Insofern gibt es in Goethes Roman ein Wiederfinden der verlorenen Geliebten nur auf einer symbolisch höheren Ebene, in einem höheren, geläuterten seelischen Zustand, und er bedeutet das Wiederfinden einer verwandelten, einer anderen und neuen Geliebten. Das läuft dem ursprünglichen heliodorischen Muster vollkommen entgegen. Was dort die Wiederherstellung einer verlorenen göttlichen Ordnung repräsentierte, die Wiedervereinigung der Liebenden nämlich, wird hier zum erzählerischen Vehikel des Entwicklungsgedankens des modernen Bildungssubjekts. Es firmiert für eine moderne Dynamik, nicht mehr für eine vormoderne Statik. Ähnliches lässt sich für die nachgeholten Vorgeschichten des Romans feststellen, sofern diese tatsächlich dem hermeneutischen Code zuzurechnen sind und erzählerisch offene Fragen lösen. Dazu zählt beispielsweise nicht die Kindheitsgeschichte Wilhelms mit der Puppentheater-Episode, die ins Erste Buch eingefügt ist. Unsicher kann man sich sein bei der Bewertung der Bekenntnisse einer schönen Seele. Dieser eingeschobene autobiographische Text bildet das gesamte Sechste Buch des Romans. Es trennt die Theaterphase von der Begegnung mit der Turmgesellschaft. Es markiert somit den gewichtigsten Einschnitt der gesamten Erzählung. Die dort wiedergegebene Lebensgeschichte der Stiftsdame spiegelt in vielerlei Hinsicht Ereignisse des Romans und ist in hohem Maße symbolisch valent. Zugleich laufen darin die familiären Verbindungen von Wilhelms Zielfamilie zusammen – der schönen Gräfin und Friedrichs, Lotharios und Natalies. Diesbezüglich kann sie tatsächlich als eine Art hermeneutische Vorgeschichte erscheinen, obgleich zum
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Zeitpunkt, als sie eingeschoben wird, die Fragen noch gar nicht gestellt sind, die hier beantwortet werden. Auch hier haben wir gleichsam die bloße Hülle einer Vorgeschichte, die zwar durch symbolische Valenz ausgezeichnet ist, deren erzählerisch-hermeneutische Funktion aber nur nebenher zum Tragen kommt. Es gibt jedoch auch nachgeholte Vorgeschichten, die ganz traditionell funktionieren. So klärt der Bericht der alten Barbara Wilhelm endgültig über das Schicksal Marianes, über ihren Tod und seine Verantwortung dafür sowie über seine Vaterschaft zu Felix auf – ein wesentlicher Aspekt seiner Persönlichkeitsentwicklung (WML 472f.). Und die Erzählung über die Lebens- und Liebesgeschichte Augustins, des Harfners, unterrichtet über dessen Herkunft und Schicksal sowie über das der Mignon. Markanter noch ist ein anderes erzählerisch wichtiges Rätselmotiv des Romans, nämlich die Frage, von welchem Mädchen Wilhelm in der Nacht nach der Hamletaufführung in seinem Zimmer und Bett besucht wurde. Hier wird am Schluss Auskunft darüber gegeben, dass es Philine gewesen sei – die Verkörperung der sinnlichen Liebe. Man erfährt aber auch, dass Mignon – die Verkörperung seiner poetischen Seele – Wilhelm ebenfalls als Geliebten begehrt hatte. Sie hatte Philines Eindringen in Wilhelms Zimmer heimlich beobachtet. Mignon wiederholt damit Wilhelms eigenes traumatisches Erlebnis, als er seinen Nebenbuhler bei Mariane aus deren Haus treten sah. Die nachgeholte Erzählung dieser Zusammenhänge klärt nicht nur das erzählerisch kunstvoll geschürzte Rätsel um Wilhelms Liebesnacht. Sie gibt auch wichtigen Aufschluss über die seelische Entwicklung der Mignon im Verlauf der Begebenheiten. Es lässt sich festhalten, dass sowohl die Rätselfunktion des medias-in-res-Eingangs als auch die Auflösungsfunktion der nachgeholten Vorgeschichten nur rudimentär umgesetzt werden. Sie treten dabei in alternative Funktionen ein, die in der Regel der symbolischen Entfaltung der psychologischen Entwicklungsidee des Romans dienen. Zugleich bereichern sie die Handlungsführung durch verrätselnde, retardierende und spannungsgenerierende Momente. Die heliodorischen Erzähltechniken werden sehr stark zurechtgestutzt und angepasst. Sie verleihen dem psychologisch-pädagogischen Narrativ gleichwohl eine romanhafte Abenteuerlichkeit, wo die Werkidee leicht in ein didaktisch-abstraktes, spröde chronikalisches Erzählen hätte münden können. 5. SÄKULARISATION ALS SPRACHBILDENDE KRAFT ODER: TURMGESELLSCHAFT UND HÖFISCHER ROMAN? Eine letzte Adaptation heliodorischen Erzählens betrifft die Turmgesellschaft, deren Wirken das Finale des großen Romans prägt und deren Konstitution Generationen von Lesern irritiert und befremdet hat, angefangen bereits bei den Romantikern. Grund ist das aufklärerisch-rationalistische und pädagogische Menschheitsideal der Turmgesellschaft sowie ihr aristokratisch-elitärer Führungsanspruch. Forschungen der letzten Jahrzehnte haben das Konzept auf zeitgenössische Geheimgesellschaften wie die Illuminaten zurückgeführt, deren Mitglied Goethe
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selbst war.21 Die radikal subjektivistisch gesonnenen Frühromantiker standen dem Programm der aufklärerischen Geheimgesellschaft dagegen mit Ablehnung gegenüber. Aber schon Friedrich Schiller war die Turmgesellschaft als eine art deus ex machina und damit als „Maschine“ des Romans erschienen, worin er einen entscheidenden Bezug auf die epische Tradition erkannte: Der Roman, so wie er da ist, nähert sich in mehreren Stücken der Epopöe, unter andern auch darin, daß er Maschinen hat, die in gewissem Sinn die Götter oder das regierende Schicksal darin vorstellen.22
Beleuchtet man das Motiv der Turmgesellschaft aus der Sicht des heliodorischen Romanmodells, so zeigt sich dies deutlich. Umgesetzt erscheint hier jener Vorsehungsgedanke, der im heliodorischen Roman durch göttlich-schicksalhafte Leitung die Entwirrung aller Handlungsfäden, die poetisch gerechte Auflösung aller Konflikte und die Herbeiführung von Hochzeiten aller wichtigen Haupt- und Nebenfiguren des Romans bewirkt. Ganz in diesem Sinn ist die Turmgesellschaft in Goethes Roman von Beginn an an der pädagogischen Entwicklung Wilhelms beteiligt. Immer wieder greift sie gleichsam schicksalhaft in die Ereignisse ein. Sie spielt Schicksal, wie am Ende des Romans ebenfalls in rätsellösenden Vorgeschichten enthüllt wird. Insofern tritt die Turmgesellschaft im Wilhelm Meister unmittelbar in die Erzählfunktion der göttlichen Vorsehung ein. Gleichwohl ist diese Aussage zu relativieren. Das Wirken der Turmgesellschaft geriert sich in der Wahrnehmung des schicksalsgläubigen Wilhelm zwar schicksalhaft. Seiner Natur nach ist es das aber nicht. Dieses Wirken folgt vielmehr einer Pädagogik der Hilfe zur Selbsthilfe. Es will dazu anleiten, selbst durch Fehler klug zu werden. Die Pädagogik der Turmgesellschaft ist eine durch und durch aufklärerische. Dass eine derart eigentümliche Konstruktion wie die an den Geheimgesellschaften orientierte Turmgesellschaft im Roman eine so dominante Rolle einnehmen konnte, scheint nicht zuletzt mit dem Versuch zusammenzuhängen, dem heliodorischen Romanmodell in der äußeren Durchführung der Handlung und damit auch im apotheotischen Schluss zu entsprechen. Erst dies vervollständigte die Anlage des Gesamtromans und erlaubte einen Abschluss der abenteuerlich verwickelten Handlungsstränge in einem romanadäquaten Schlusstableau. Es stand andererseits aber dem konzeptionellen Ziel des Romans auch nicht im Weg. Die Persönlichkeitsentwicklung Wilhelms vom subjektiven Schwärmer zum gereiften Mann wurde in diesem Kontext auf ein philosophisch anspruchsvolles Niveau gehoben und in komplex ausbuchstabierten Facetten entfaltet und ans Ziel geführt. Man mag die Konzeption der Turmgesellschaft und des Romanschlusses insgesamt unbefriedigend finden. Sie scheint aber im Letzten nicht recht motivierbar zu sein, ohne dabei die Anwendung des heliodorischen Romanschemas mit in Betracht zu ziehen. Und dabei wäre sie auch nicht frei von Ironie. Goethe hat das heliodorische Erzählmodell im Wilhelm Meister modifiziert und nur in rudimentären Zügen durchgeführt, und er hat es in seiner erzählerischen 21 Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meister und das Erbe der Illuminaten. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 43 (1999), S. 123–147. 22 Schiller an Goethe, 8. Juli 1796. In: Goethe: Werke (Anm. 5). Bd. VII, S. 639–643, hier S. 640.
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Funktionalität radikal zurückgestutzt und verwandelt. Gleichwohl handelt es sich bei Wilhelm Meisters Lehrjahren um eine eindrucksvolle und erzählerisch ausgreifende Umsetzung dieses traditionellen Modells. War dem eine weiterführende Wirkung beschieden? Hat der Roman des 19. Jahrhunderts und der nachfolgenden Moderne daran angeschlossen? Ohne dies abschließend beantworten zu können, scheint dem eher nicht so zu sein. Der Wilhelm Meister war in Deutschland extrem wirkungsstark. Was die Romantiker und die nachfolgenden Erzähler des poetischen Realismus davon aufgriffen, waren die Thematiken des Künstlerromans, der Lehrund Wanderjahre, die Gattungsmischung, die symbolisch-phantastischen Züge. Was sie in geringerem Maß aufnahmen, war das heliodorische Erzählmodell. Um dies abschließend klären zu können, müsste die Frage nach dessen Nachwirkung insgesamt konsequenter untersucht werden. Dann erst wird sich mit größerer Gewissheit sagen lassen, ob das heliodorische Rumpfprogramm, das wir immer wieder in den Happy Endings des Hollywoodkinos oder etwas detailgenauer in den filmischen Abenteuern des britischen Geheimagenten vorgeführt bekommen, tatsächlich das letzte Überbleibsel jener großen Tradition ist: bei James Bond ist es ein atemberaubendes Action-Spektakel in bester medias-in-res-Nachfolge als Vorspann und eine erotisierte Hochzeitsparodie am Schluss. Unsere 1960er Jahre-Variante der stoizistischen Ordo-Vorstellung besteht dann darin, dass sich der staatstragende Tugendheld vor den ordnungstragenden Repräsentanten des Staates mit seiner jeweils wechselnden Begleiterin augenzwinkernd in ein individualistisch-hedonistisches Refugium zurückzieht.
pa l i ng e n e s i a Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft
Begründet von Rudolf Stark, herausgegeben von Christoph Schubert.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0552–9638
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Heliodor ist der Begründer des modernen Romans: Seine Aithiopika, die die Liebesgeschichte von Chariklea und Theagenes erzählen und die im 16. Jahrhundert wiederentdeckt werden, sind Vorbild für Generationen europäischer Autoren, die sich in imitatio und aemulatio üben. Dadurch ebnen die Aithiopika der neuen Gattung den Weg und tragen erheblich zu deren Praxis und Theorie bis in die Anfänge der Moderne bei. Die Autorinnen und Autoren nehmen den Heliodorus redivivus als europäisches Phänomen in den Blick und eröffnen neue, interdisziplinäre Sichtachsen auf die gelehrte und populäre Rezep-
tion der Aithiopika in der italienischen und deutschsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit. Außer der Druckgeschichte der Übersetzungen wird dabei die Langzeitwirkung des Werkes in Nachahmungen, Parodien und Überbietungen nachverfolgt, die sich von der Spätrenaissance über den Barock bis ins 18. Jahrhundert in die Geschichte des Romans, der Romanpoetik, des Epos und des Theaters sowie in die Kunstgeschichte einschreiben. Ergänzt werden diese Studien durch gräzistische Beiträge, die die noch offene Datierungsfrage und die intertextuelle Vernetzung des spätantiken Autors in der Literatur seiner Zeit neu beleuchten.
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